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German Pages 613 [616] Year 2017
Lydia Kossatz Zeichen im System
Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs Practical Theology in the Discourse of the Humanities Herausgegeben von Bernhard Dressler, Maureen Junker-Kenny, Thomas Klie, Martina Kumlehn und Ralph Kunz
Band 20
Lydia Kossatz
Zeichen im System
Eine ästhetische Poimenik in systemtheoretischer und semiotischer Perspektive
Zugl.: Rostock, Univ., Diss., 2016, unter dem Titel: Zeichen im System. Eine fundamental poimenische Untersuchung in systemtheoretischer und semiotischer Perspektive
ISBN 978-3-11-050050-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052075-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052027-9 ISSN 1865-1658 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort
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Editorischer Hinweis
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. Einleitung XIII . Verortung im praktisch-theologischen und poimenischen Diskurs XIII . Ziel der Untersuchung XV XVII . Reflexion über den Theoriezugriff . Aufbau der Untersuchung XIX . Systemtheorie und Semiotik – 1 zur Rezeption zweier praktisch-theologischer Theoriezugriffe . Systemtheorie und systemisches Denken – von der Rezeption zur 3 Theoriebildung .. Luhmannsche Systemtheorie und die Theologie 3 .. Die Rezeption von Systemtheorie und systemischem Denken 26 in der Praktischen Theologie ... Pastoraltheologie: Funktionale Kirchentheorie und Profession 31 ... Kirchentheorie: Kybernetik 1. Ordnung versus 34 Kybernetik 2. Ordnung ... Diakonik: Christlicher Dienst im Kontext gesellschaftlicher Funktionssysteme 42 ... Religionspädagogik: Zwischen Religion und Erziehung 44 ... Liturgik: Funktionale Gottesdiensttheorie 51 ... Religionssoziologie: Kommunikation über Gott 52 ... Fazit: Luhmannsche Systemtheorie und die Praktische Theologie 55 .. Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie 63 ... Systemische Therapie und Beratung 64 ... Konzepte systemischer Seelsorge 86 ... Fazit: Luhmannsche Systemtheorie und die 103 Poimenik . Semiotische Theorien – von der Rezeption zur Theoriebildung 113 .. Ecosche Semiotik und die Theologie 113
VI
Inhalt
..
Die Rezeption semiotischer Theorien in der Praktischen 130 Theologie ... Liturgik: „Inszenierung des Evangeliums“ 133 ... Homiletik: Semiotisierung des Hör- und Textverständnisses 152 ... Religionspädagogik: Vom Symbol über das Zeichen 162 zur Performanz ... Fazit: Ecosche Semiotik und die Praktische 171 Theologie
. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“ 179 . Kontextuelle Verortung von Luthers Formel 180 . Seelsorge als wechselseitiges Gespräch anwesender Glaubensgeschwister zum Zwecke des Trosts untereinander .. Seelsorge: Ein Modus der Vergegenwärtigung des 197 Evangeliums ad personam .. colloquium: Der seelsorgliche Ort der Performanz des Evangeliums 219
188
234 . Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System . „Welten im Kopf“: Die konstruktivistische Betrachtungsperspektive 243 .. Systemtheoretisch-konstruktivistische Sinnsicht: Beobachtete 246 Welt .. Semiotisch-konstruktivistische Sinnsicht: Bezeichnete Wirklichkeit 257 .. Fazit: Konstruktion von Wirklichkeitsräumen 272 . Interaktion: Ein kommunikativer Wahrnehmungsraum der Wirklichkeitsbildung 282 .. Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden 282 ... Interaktion: Ein präsentisches Kommunikationssystem 293 ... Die Grenze der Interaktion: Anwesenheit 313 324 ... Kommunikation auf der Wahrnehmungsbühne .... Wahrnehmung: Deutungsprozess im kulturellen Kontext 327 .... Interaktion: Kommunikationsraum der reflexiven Wahrnehmung 338
Inhalt
..
Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von 359 Sinnlinien ... Sinnhafte Kopplungen: Formbildungen im Medium der kulturellen Enzyklopädie 359 .... Enzyklopädischer Sinn: Möglichkeitsraum 360 der Interpretation .... Rahmende Kopplungen: Selektionsmuster zur Reduktion von Komplexität 384 ... Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen 414 .... Umcodierung: Erwartungsstrukturen und 415 ihre Irritation .... „Bruch“: Kommunikation im Angesicht 442 Christi
. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz . Kommunikationsmedium 490 . Zeit 496 . Raum 507 516 . Leib . Epilog: Ein Engel für Frau B. Literaturverzeichnis Internetadressen Sachregister
VII
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546 580
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479
Vorwort „Einfach nur mal reden…“ Immer noch gilt „das Gespräch“ als die dominierende Sozialform christlicher Seelsorge. Doch was geschieht, wenn Menschen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit aufeinandertreffen? Ist es notwenig, dass Seelsorgepartner während eines „Gesprächs“ körperlich anwesend sind und miteinander reden? Wie ereignet sich in diesem Geschehen das, was als Seelsorge bezeichnet wird? Diese Fragen zeigen, dass diese kleinste und „einfachste“ Kommunikationsform zugleich hochkomplex ist: Am seelsorglichen Zeitort sind leib-räumliche Formen zu einer Partitur verflochten, deren je neu zu bestimmende Inhalte Deutungsräume schaffen, die jede seelsorgliche Begegnung zu einem einmaligen Ereignis performieren. Es ist zum einen die Lust, dieses Kommunikationsgeschehen zu fassen und das zu beschreiben, was die „Gesprächspartner“ in Kommunikation verwickelt, und zum anderen der Reiz, im theoretisch konsistenten Denken der Poimenik neue Wege zu erschließen, die diese Arbeit an- und vorangetrieben haben. Dabei ist es eines der Ziele, das poimenische Denken jenseits eingefahrener Muster, die diese praktisch-theologische Teildisziplin seit Jahrzehnten dominieren, anzuregen. Die Untersuchung speist sich aus dem steten Wechselspiel von Theorie und Praxis. Es sind die Erfahrungen aus vier Jahren Arbeit in der evang. Bahnhofsmission München, die mein Theologiestudium begleiteten und zu einer gesprächspsychotherapeutischen Reflexion von Wohnungslosenseelsorge führten. Weiter in die psychotherapeutische Ausrichtung von Seelsorge wies ein supervisiertes Gemeindepraktikum mit Anteilen der klinischen Seelsorgeausbildung am Klinikum der Universität Würzburg. Und zuletzt fanden auch die Kommunikationszusammenhänge des Hospizes in Nürnberg-Mögeldorf, in die ich als Vikarin hineingenommen wurde, ihren Niederschlag. Das Interesse am semiotischen Denken wurde mir in der Religionspädagogik geweckt. Die Praktische Theologie war für ästhetische Fragestellungen offen – diese sollten auch die Poimenik neu orientieren, die mit den Konzepten systemischer Seelsorge eine gewisse „Leichtigkeit“ erlebte. Neben der Semiotik Umberto Ecos eröffnete sich mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns eine weitere Kommunikationstheorie, die eine adäquate Beschreibung des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens ermöglichte. Der theologische Rahmen für den Rückgriff auf die beiden Theorien fand sich in der Reformulierung des in der Poimenik prominent gewordenen Diktums per mutuum colloquium et consolationem fratrum von Martin Luther. All diese Stränge mündeten in einer ästhetischen Rekonstruktion der Poimenik und dem Entwurf einer einheitlichen Theorie jenseits aller Spezialseelsorgekonzepte.
X
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2015/2016 von der Theologischen Fakultät der Universität Rostock als Dissertation angenommen. Mein erster Dank gilt Prof. Dr. Thomas Klie, der den Weg dieser Arbeit in allen Phasen umsichtig, geduldig und freundschaftlich unterstützt und mich in meinem Denken ermutigt hat. Ich danke Prof. Dr. Martina Kumlehn, die das Zweitgutachten erstellt hat, den Herausgebern für die Aufnahme in die Reihe „Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs“ sowie Stefan Selbmann und Johannes Parche vom Verlag de Gruyter für die Betreuung. Ich danke der Landesgraduiertenförderung Mecklenburg-Vorpommern sowie meiner bayerischen Landeskirche, die das Projekt durch Stipendien gefördert haben. Gern erinnere ich mich an die praktisch-theologischen Doktorandenkolloquien in Rostock, die mit kritischer Wertschätzung und gegenseitiger Unterstützung die Untersuchung vorangebracht haben. Besonders denke ich hier an Dr. Frank Uhlhorn. Gemeinsam wagten wir die ersten Schritte im Denkgebäude der Systemtheorie. Ich danke Prof. Dr. Jan Hermelink, der mich interessiert und freundlich in die praktisch-theologische Sozietät in Göttingen aufgenommen und mir ermöglicht hat, auch dort meinen Ansatz vorzustellen. Dr. Salina Lotz und Arne Sebastian Küpper haben mit ihrer Freundschaft meine Göttinger Studien- und Promotionszeit unvergesslich gemacht. Meinem Mann Dr. Mekhak Ayvazyan danke ich für alle Motivation und kritische Diskussion. Er und unsere Kinder haben mich als Doktorandin getragen und ertragen. Sie allein wissen, was mir dieses Projekt bedeutet. Ihnen ist diese Arbeit in Liebe gewidmet. Feuchtwangen, im Januar 2017 Lydia Kossatz
Editorischer Hinweis An einigen Stellen ist es um der Präzision des Ausdrucks notwendig, auf eine semiotische Schreibweise zurückzugreifen. Geht es um den Ausdruck bzw. den Signifikanten, dann steht der Begriff zwischen zwei Schrägstrichen /…/. Soll die Bedeutung bzw. das Signifikat hervorgehoben werden, dann steht der Begriff in doppelten Klammern «…». Wird der Referent bzw. das sinnlich Wahrnehmbare betont, dann ist der Begriff kursiv gesetzt und steht zwischen zwei doppelten Schrägstrichen //…//. Außerdem schließen die verwendeten maskulinen Bezeichnungen die femininen mit ein.
0. Einleitung 0.1 Verortung im praktisch-theologischen und poimenischen Diskurs Die vorliegende Untersuchung verortet sich in der gegenwärtigen, sich seit den 1990er Jahren nach ästhetischen Gesichtspunkten um- und neu gestaltenden Praktischen Theologie. Dabei ist Ästhetik nicht verstanden im Sinne von das Schöne, sondern analog zu αἴσθησις (Sinneswahrnehmung), als Wissenschaft der Wahrnehmung und Deutung (αἰσθητική τέχνη – Wissenschaft vom sinnlich Wahrnehmbaren). Grözinger fasst die neue Perspektive prägnant zusammen: „Die Form-Frage verweist so immer auch auf die Form-Inhalts-Problematik. Der Ausgangspunkt bei der Form-Frage charakterisiert dabei das unterscheidend Ästhetische. […] Das heißt: in ästhetischer Erfahrung ist die Inhaltsfrage als Formfrage präsent; darin besteht das Unterscheidende ästhetischer Erfahrung gegenüber den anderen Formen menschlicher Erfahrung.“¹ Seit fast drei Jahrzehnten beschreitet die Praktische Theologie einen „dritte[n] Weg jenseits der Alternative von Empirie und Systematischer Theologie“.² Nachdem sie lange unter dem Einfluss der kerygmatischen Theologie stand und seit den 1970er Jahren von der Aufnahme der Human- und Sozialwissenschaften dominiert wurde, richtet sie ihr Interesse nun auf Personen, die sich in konkreten Formen religiös vergewissern. Deutungs- und Darstellungsprozesse rücken in das Zentrum der Aufmerksamkeit, Praktische Theologie wird zur „Wahrnehmungswissenschaft“³. Auch in der jüngeren Poimenik ist die Möglichkeit einer allmählichen Öffnung für einen „dritten Weg“ jenseits kerygmatischer und therapeutischer Orientierung zu erkennen. Die die Seelsorgelehre lange dominierende Frontstellung scheint sich zu entschärfen. Herbst titelt in seinem Seelsorge-Lehrbuch „Die Zeiten des großen Streits sind vorüber!“⁴ Es wird möglich, die Ergebnisse der jeweils anderen Seite in den eigenen Ansatz zu integrieren. Dies zeigt sich z. B. daran, dass in der neueren poimenischen Literatur wieder über spezifisch christliche Ausdrucksformen – wie Segen, Gebet oder das
Grözinger 19912: Praktische Theologie, 123 f; Hervorhebungen im Original. Meyer-Blanck/Weyel 2008: Studien- und Arbeitsbuch, 47. Vgl. ebd. Herbst 2012: Beziehungsweise, 67 ff. – Morgenthaler (20122: Seelsorge, 64 f) fasst neue Entwicklungen in der Poimenik, die z.T. die Seelsorgebewegung und das therapeutische Paradigma der Seelsorge kritisieren, zusammen.
XIV
0. Einleitung
Einbringen von biblischen Texten in das Seelsorgegeschehen – nachgedacht wird.⁵ Wurden im Zuge der Seelsorgebewegung liturgische Formen aus Theorie und Praxis der Seelsorge verdrängt, so ergibt sich „heute ein neuer Blick auf frühere Frontstellungen“⁶. Klessmann spricht hier von einer „Wiederentdeckung der Rituale“.⁷ Und dennoch bleibt das therapeutisch-humanwissenschaftliche Paradigma in Seelsorge und Poimenik bestimmend – exemplarisch hierfür steht Morgenthalers Aussage: „Psychologie ist bis heute die wichtigste Bezugsdisziplin der Seelsorge.“⁸ Immerhin ist das psychotherapeutische Paradigma heute dahingehend geweitet, dass sich mit der Aufnahme von z. B. Gestalttherapie, Psychodrama und systemischer Therapie „eine[ ] zunehmende[ ] Pluralisierung der Konzepte und Methoden“⁹ abzeichnet. Neben der therapeutischen Dimension von Seelsorge werden auch lebensweltliche, kerygmatische, rituelle, politisch-prophetische und philosophisch-ethisch-lehrhafte Aspekte in die Poimenik miteinbezogen.¹⁰ Die ausschließliche Orientierung an der Psychotherapie ist der Einsicht gewichen, dass „[s]eelsorgliches Handeln […] in Theorie und Praxis multidimensional [ist].“¹¹ Demgegenüber erprobt die vorliegende Untersuchung einen ästhetischen Zugang zur Poimenik. Dies kann u. a. im Rekurs auf andere im weitesten Sinne ästhetisch ansetzende Teildisziplinen der Praktischen Theologie sowie im Anschluss an poimenische Konzepte geschehen, die das therapeutische Paradigma der Poimenik einer Kritik unterziehen¹². Der wissenschaftstheoretische Begriff des Paradigmas wurde 1962 von Kuhn¹³ geprägt. Er bestimmt Paradigmata als „allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefern“.¹⁴ Damit wendet er sich gegen die Vorstellung, Wissenschaft vollziehe sich in kontinuierlicher Veränderung. In einem Drei-Phasen-Modell erläutert Kuhn v. a. an Beispielen der
S.u. 3.2.2.2.2. Morgenthaler 20122: Seelsorge, 268. Vgl. Klessmann 20124: Seelsorge, 92 f. Morgenthaler 20122: Seelsorge, 90. Klessmann 20124: Seelsorge, 86. Vgl. Klessmann 20124: Seelsorge, 115. Ebd.; im Original hervorgehoben. – Klessmanns Perspektive ist deutlich psychotherapeutisch bestimmt (a.a.O., 263 ff). Dies zeigt sich u. a. auch an seiner Vermutung, dass die steigende Zahl der Untersuchungen „zum Zusammenhang von Religion und Gesundheit, von Glaube und Krankheitsbewältigung“ (a.a.O., 87) die therapeutische Dimension von Seelsorge wieder verstärken könnte. Z. B. Karle 1996: Seelsorge. Kuhn 19692: Struktur. A.a.O., 10.
0.2 Ziel der Untersuchung
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Physikgeschichte die wissenschaftssoziologischen und historischen Implikationen seiner Rede vom Paradigma: In einer „Vor-Paradigma-Zeit“¹⁵ besteht kein verbindliches Paradigma als Forschungsrahmen. In der „normalen“ Phase verschwindet die Vielfalt unterschiedlicher Schulen zugunsten des Monopolanspruchs eines Paradigmas.¹⁶ Treten in dieser Phase „Anomalien“, also unlösbare Probleme im herrschenden Paradigma auf, so führt diese Krise zu „Umwandlungen der Paradigmata“, zu „wissenschaftliche[n] Revolutionen“.¹⁷ Konsequenz dieser „revolutionären“ Phase ist ein „Paradigmawechsel“¹⁸, die nicht auf argumentativer Ebene auszutragende Ablösung des alten durch ein neues Paradigma. Der Kuhnsche Paradigma-Begriff entwickelte eine außergewöhnliche Wirkungsgeschichte, allerdings mit einer terminologischen Veränderung: Statt „Paradigmawechsel“ findet sich in der Literatur meist „Paradigmenwechsel“ – so bereits in dem Klappentext zum Essay.¹⁹ Die vorliegende Untersuchung verwendet den Terminus „Paradigma“ bzw. „Paradigmawechsel“.²⁰
0.2 Ziel der Untersuchung Der Anschluss an andere Teildisziplinen der Praktischen Theologie und deren Erträge in ästhetischer Hinsicht weitet den Theoriezugriff der Poimenik und leistet implizit einen Beitrag zur Integration der Seelsorgelehre in den Gesamtzusammenhang der Praktischen Theologie. Folgt man Klie, so führt die verstärkte praktisch-theologische „Hinwendung zu Soziologie, Psychologie und Pädagogik“ zu einer „enorme[n] Spezialisierungsdynamik“, die die „Einheit der Praktischen Theologie“ aus dem Blick geraten lässt.²¹ Die einzelnen praktisch-theologischen Teildisziplinen driften in einzelne „Handlungsfelder“²² auseinander. In Folge wird die Integrationsleistung „undiskutiert in den Zuständigkeitsbereich des Subjekts“
A.a.O., 32. Vgl. A.a.O., 25 ff. Vgl. A.a.O., 27. Vgl. A.a.O., 65 f und 98 u. ö. Zur Debatte, die der Kuhnsche Paradigma-Begriff aufgrund seiner Vagheit auslöste, vgl. Rentsch 1989: Paradigma, 79 f. – Um größere terminologische Präzision zu erreichen, schlägt Kuhn (Postskriptum, in: ders., 19692: Struktur, 186 ff) später vor, den Paradigma-Begriff durch den der „disziplinären Matrix“ zu ersetzen. Diachrone Bemühungen sind an dieser Stelle wenig weiterführend; vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 18 f; Hervorhebungen im Original: „Wir schließen nicht an die Versuche an, herauszubekommen, was Kuhn gemeint haben mag, als er den Begriff des Paradigmas einführte; sie gelten heute als hoffnungslos.“ Vgl. Klie 2003: Zeichen, 456. Daiber (1977: Grundriß) fasst das an den Humanwissenschaften orientierte praktisch-theologische Paradigma unter dem Terminus der „Praktischen Theologie als Handlungswissenschaft“ zusammen.
XVI
0. Einleitung
verschoben:²³ Während sich die Praktische Theologie weitestgehend „einer profilierten Zusammenschau praxisrelevanter Wissenssegmente“ enthält, hat der Einzelne „professionsspezifische Kompetenzen auszubilden, die sich aufgrund des hohen Spezialisierungsgrades der einzelnen Fächer kaum noch kompatibel zeigen mit den Einsichten anderer Teildisziplinen“.²⁴ Dies gilt – neben der Religionspädagogik – insbesondere für die Poimenik, die sich in ihrer jahrzehntelangen Orientierung an Psychologie und Therapie immer weiter aus dem praktisch-theologischem Fächerkanon entfernt hat. Was für die Praktische Theologie als Ganze gilt, ist analog für die Teildisziplin der Poimenik zu konstatieren. Die sich an Einsichten von Humanwissenschaften und Soziologie ausrichtende Professionalisierung in der seelsorglichen Praxis schlägt sich auf poimenischer Ebene in einer fortschreitenden Ausdifferenzierung in Spezialseelsorgekonzepte nieder,²⁵ die Gefahr läuft, die Seelsorgelehre als Ganze aus dem Blick zu verlieren. Es fehlen Ansätze, die die immer weitere Ausdifferenzierung an eine einheitliche Theorie rückbinden. Hier setzt die vorliegende Untersuchung in fundamentalpoimenischer Absicht an. Es ist das Vorhaben, einen poimenischen Ansatz vorzustellen, auf den verschiedenste seelsorgliche Kommunikationssituationen abgebildet werden können. Es soll ein Modell entworfen werden, mit dessen fundamentalpoimenischen Kategorien möglichst jede seelsorgliche Kommunikationssituation analysiert und beschrieben werden kann. Spezialseelsorgekonzepte können so als pragmatische Konstruktionen der poimenischen Theoriebildung beschrieben und miteinander verglichen werden. Insofern versteht sich die vorliegende Arbeit als eine fundamentalpoimenische Untersuchung, die im Kontext einer ästhetisch orientierten Praktischen Theologie zum einen die Teildisziplin der Poimenik für im weitesten Sinne ästhetische Zugänge öffnet, indem sie die Seelsorgelehre mit anderen praktischtheologischen Teildisziplinen ins Gespräch bringt und auf diese Weise in den Gesamtzusammenhang der Praktischen Theologie integriert, und zum anderen das sich immer weiter ausdifferenzierende Fach der Poimenik an einen einheitlichen Theoriehorizont rückbindet. Der von der Poimenik reflektierte Gegenstand ist die Seelsorge. Diese weite Bestimmung macht eine Präzisierung des Gegenstandsbereichs der Untersuchung notwendig, die das poimenische Feld terminologisch und theologisch
Vgl. Klie 2003: Zeichen, 456. Vgl. ebd. S.u. Einleitung zu Kapitel 2.
0.3 Reflexion über den Theoriezugriff
XVII
absteckt.²⁶ In dieser theologischen bzw. christlichen Profilierung von Seelsorge liegt ein weiteres Ziel der Arbeit.
0.3 Reflexion über den Theoriezugriff Für dieses fundamentalpoimenische sowie intradisziplinäre Vorhaben bietet sich in methodischer Hinsicht der Rekurs auf die Systemtheorie Luhmanns und die Semiotik Ecos an. Beides sind Theoriezugänge, die in der Praktischen Theologie bereits erprobt wurden. Da die Praktische Theologie über keine eigene Methode verfügt, muss sie sich diese aus anderen Disziplinen entlehnen.²⁷ Dabei ist „[w]eniger die Frage, ob sie Theorien, Methoden und Modelle anderer wissenschaftlicher Disziplinen entlehnen darf, […] strittig, als vielmehr die Frage, welche Methoden sie verwenden soll, und vor allem wie sie sie verwenden soll.“²⁸ Dabei muss immer im Blick sein, dass sich der Gegenstandsbereich einer Untersuchung und die gewählte Methode wechselseitig beeinflussen. Das, was sich im Zugriff auf eine bestimmte Theorie darstellen lässt, lässt sich eben gerade im Zugriff auf diese bestimmte Theorie darstellen. Wird eine andere Methode gewählt, lässt sich anderes darstellen. Das heißt, ein im weitesten Sinne ästhetischer Zugang im systemtheoretisch-semiotischen Theoriehorizont eröffnet der Poimenik neue Zugänge, während er andere verschließt. Insofern fungiert die gewählte Methode bzw. Theorie als Betrachtungsperspektive der poimenischen Reflexion, die den von ihr reflektieren Gegenstand mitkonstruiert, während zugleich der Untersuchungsgegenstand die Rezeption der Theorie bestimmt. Macht sich die Poimenik System- und Zeichentheorie nutzbar, greift sie auf Theoriezugänge zurück, die sich in der Praktischen Theologie bereits etabliert haben und in einer ästhetischen Orientierung verortet werden können. Sucht die gegenwärtige Praktische Theologie einen „dritten Weg“ jenseits der einseitigen Orientierung an der Systematischen Theologie bzw. an den Human- und Sozialwissenschaften, steht sie vor folgender Aufgabe: „Die gegenwärtigen Bemühungen der Disziplin müssen die Alternative von Sache und Person überwinden und die religiöse Kommunikation selbst thematisieren.“²⁹ Darauf, dass dabei ästhetische und semiotische Fragestellungen eine Rolle spielen, hat Meyer-Blanck
S.u. Kapitel 2. Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen zur Methodenrezeption – dort in Bezug auf die Systemtheorie – bietet Roosen (1997: Kirchengemeinde, 184 ff). Roosen 1997: Kirchengemeinde, 184; Hervorhebungen im Original. Meyer-Blanck/Weyel 1999: Arbeitsbuch, 53.
XVIII
0. Einleitung
bereits auch hingewiesen: „Nicht mehr ‚Person oder Sache?‘ ist die Frage, sondern: ‚Wie kommt die Person zur Sache am konkreten Ort?‘ Denn ‚die Sache‘ gibt es nur, indem sie zum Zeichen wird, indem sie inszeniert und präsentiert wird, um rezipiert zu werden, und dieses Geschehen hat die PT zu beschreiben.“³⁰ Insofern bietet sich die Semiotik für eine ästhetisch orientierte Praktische Theologie an, die „Alternative von Sache und Person“ zu überwinden. Um die „religiöse Kommunikation selbst“ zu thematisieren, kann nicht nur auf die als Kultur- und Kommunikationstheorie angelegte Semiotik Ecos zurückgegriffen werden, sondern auch auf die Systemtheorie Luhmanns, die genuin als Kommunikationstheorie konzipiert ist. Im Rekurs auf die beiden Theorien können Kommunikations- sowie Wahrnehmungs- bzw. Deutungsprozesse präzise beschrieben und das Religiöse der Kommunikation als gesellschaftlich-kulturelles Phänomen in den Blick genommen werden. Entlehnt die Praktische Theologie ihre Methode aus der Systemtheorie und Semiotik, so muss sie sich bewusst sein, dass es sich um disziplinexterne Zugänge handelt. Dies hält zum eine die Möglichkeit interdisziplinärer Anschlüsse offen, zum anderen muss sie sich im Klaren darüber sein, in welchem theologischen Rahmen die Rezeption dieser Zugriffe erfolgt. Jeder (kommunikationstheoretischen) Beschreibung religiöser Kommunikation sind aus (praktisch‐)theologischer Perspektive Grenzen gesetzt, die jeweils zu markieren sind. Die vorliegende Arbeit ordnet sich also in den praktisch-theologischen Diskurs um System- und Zeichentheorie ein. Im Vordergrund steht dabei nicht die Reproduktion der jeweiligen Theorie, was bereits mehrfach geleistet worden ist, sondern die Rezeption als operative Anwendung hinsichtlich einer spezifisch praktisch-theologischen Fragestellung. Die pragmatische Kombination von Grundzügen und Elementen beider Theorien wird als Beobachtungsinstrumentarium für eine poimenische Fragestellung nutzbar gemacht – eine Kombination, die in den praktisch-theologischen Monographien so noch nicht zu finden ist. Die in der Praktischen Theologie bislang voneinander getrennt tradierten Rezeptionsstränge werden zueinander in Beziehung gesetzt, die Poimenik im Anschluss an systemische Seelsorge und Systemtheorie für semiotische Zugänge geöffnet und der theologische Horizont ausgelotet. Damit hält sich die Poimenik sowohl intra- als auch interdisziplinär anschlussfähig, ohne ihr eigenes Profil zu verlieren.
A.a.O., 54; Hervorhebung L.K.
0.4 Aufbau der Untersuchung
XIX
0.4 Aufbau der Untersuchung Die Untersuchung gliedert sich wie folgt: Im ersten Kapitel wird die praktisch-theologische Ausgangsperspektive bestimmt, indem die Rezeption von Ecoscher Semiotik und Luhmannscher Systemtheorie bzw. systemischem Denken in der Praktischen Theologie forschungsgeschichtlich aufgeordnet und hinsichtlich ihrer poimenischen Anschlussmöglichkeiten ausgelotet wird. Das zweite Kapitel bestimmt im Rekurs auf Luthers Formel per mutuum colloquium et consolationem fratrum das spezifisch poimenische Feld und steckt den theologischen Rahmen der Untersuchung ab. Seelsorge wird bestimmt als wechselseitiges Gespräch anwesender Glaubensgeschwister zum Zwecke des Trosts untereinander. Von da aus ergibt sich die kommunikationstheoretische Analyse des dritten Kapitels. Geleitet von einer im weitesten Sinne konstruktivistischen Perspektive wird Seelsorge als „Kommunikation unter Anwesenden“ in den Blick genommen. Die Zeichenprozesse des Interaktionssystems werden unter einem einheitlichen Theoriehorizont beschrieben, das Spezifische seelsorglicher Kommunikation sowohl aus kommunikationstheoretischer als auch aus theologischer Perspektive ausgelotet. Zu Beginn des vierten Kapitels ist der Gang der Untersuchung zusammengefasst. Der Ausrichtung auf die poimenische Theoriebildung schließt sich ein Teil an, der eher die seelsorgliche Praxis im Blick hat. Entwickelt wird eine Morphologie seelsorglicher Präsenz, die das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen anhand fundamentalpoimenischer Kategorien aufordnet, die je nach konkreter seelsorglicher Situation aktualisiert werden. Der Epilog im fünften Kapitel bietet ein kommentiertes Seelsorgeprotokoll, das im Anschluss an eine seelsorgliche Begegnung im Hospiz entstanden ist.
1. Systemtheorie und Semiotik – zur Rezeption zweier praktisch-theologischer Theoriezugriffe Eine Rekonstruktion der Poimenik aus systemtheoretischer und semiotischer Perspektive schließt an zwei Theoriezugriffe an, die sich nicht nur in der Praktischen Theologie bewährt haben. In verschiedenen praktisch-theologischen Teildisziplinen wurden unter Rekurs auf system- und zeichentheoretische Entwürfe neue Beobachtungsperspektiven eröffnet. Während hinsichtlich semiotischer Zugänge zur Praktischen Theologie bereits Überblicksdarstellungen zur Rezeption vorliegen,¹ steht eine ähnliche Aufordnung bezüglich der zahlreichen systemischen und systemtheoretischen Bezüge bislang noch aus.² Dieses Desiderat soll im Folgenden eingelöst werden. Ziel des ersten Kapitels ist es, einen kritischen Überblick über die wesentlichen Rezeptionslinien systemischer, systemtheoretischer und semiotischer Zugänge zu den praktisch-theologischen Teildisziplinen zu bieten. Es ist zu zeigen, wie die Praktische Theologie hinsichtlich ihrer teildisziplinären Fragestellungen systemtheoretische und semiotische Theorieelemente unter der ihr eigenen Lesart rezipiert, um praktisch-theologische Theorien zu bilden. Es geht um die epistemische Semiose zweier praktisch-theologischer Theoriezugriffe. Da diese systematisierende Sichtung der praktisch-theologischen Aufnahme von System- und Zeichentheorie zugleich nach Anschlussmöglichkeiten für die Poimenik sucht, bietet das erste Kapitel mehr als nur einen Überblick über die bislang erfolgte Rezeption. Die kategoriale und konzeptionelle Rekonstruktion der Poimenik aus systemtheoretischer und semiotischer Perspektive geht der Frage nach, was sie aus den bisherigen praktisch-theologischen Bezugnahmen für ihre eigenen Fragestellungen lernen kann. In den folgenden Kapiteln sind u. a. diese Linien weiter in die Seelsorgelehre auszuziehen, hinsichtlich spezifisch poimenischer Fragestellungen zu präzisieren und theoretisch entsprechend einzuholen. Damit verortet sich die vorliegende Untersuchung explizit im gesamt-praktischtheologischen Diskurs um System- und Zeichentheorie und bleibt so nicht nur inter-, sondern auch intradisziplinär anschlussfähig.
Vgl. v. a. Meyer-Blanck (1997: Ertrag; 2001: Semiotik; 20022: Symbol, 39 ff) und Klie (2003: Zeichen, 234 ff). Einen knappen Einblick gibt lediglich Pohl-Patalong (2001: Möglichkeitsräume). DOI 10.1515/9783110520750-001
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1. Systemtheorie und Semiotik
Die Semiotik ³ ist die allgemeine Theorie von den Zeichen aller Art, deren Fragestellungen heute in den verschiedensten Disziplinen zentral geworden sind. Auch wenn ihre historischen Wurzeln bis in die Antike zurückreichen, ist sie doch eine relativ junge Wissenschaftsdisziplin, als deren Gründungsväter deSaussure (1857– 1913), Peirce (1839 – 1914) und Morris (1901– 1974) gelten.⁴ Ist der Begründer des linguistischen Strukturalismus deSaussure noch der klassischen Tradition des dyadischen Zeichenbegriffs (aliquid stat pro aliquo – „etwas steht für etwas anderes“) verpflichtet, führt Peirce (Naturwissenschaftler und Logiker) die für die moderne Semiotik fundamentale semiotische Triade ein und entwickelt die Semiotik als wissenschaftliche und philosophische Grundlagendisziplin. Mit der Definition des Zeichens als „something which stands to somebody for something in some respect or capacity“⁵ beschreibt Peirce das Zeichen als eine Repräsentation in Beziehung zu einem Objekt, das in einem Interpretanten – nicht zu verwechseln mit dem Interpreten – etwas auslöst. Ein Zeichen ist etwas, das für jemanden in gewisser Hinsicht für etwas anderes steht. Mit dem Zeichen ist damit kein bestimmter Gegenstand, sondern eine Zeichenfunktion gemeint, die nicht ohne den Vorgang der Wahrnehmung und Interpretation erfasst werden kann. Der Prozess der Interpretation eines Zeichens, die Semiose, ist prinzipiell nicht begrenzbar, sondern offen. Denn jeder Interpretant stellt seinerseits wieder ein Repräsentamen dar, das neue Interpretanten provoziert. Sowohl Morris als auch Eco entwickeln die Peircesche Semiotik in spezifischer Weise weiter. Während Morris eine behavioristische Spielart der semiotischen Theorie entwirft, entfaltet Eco (*1932) die Semiotik als Kultur- und Kommunikationstheorie: „Die Semiotik untersucht alle kulturellen Prozesse als Kommunikationsprozesse.“⁶ Ähnlich der Semiotik handelt sich bei der jüngeren Systemtheorie um einen Sammelbegriff für verschiedene, interdisziplinäre Ansätze.⁷ Biologie und Physiologie entwickeln in den 1950er als erste Disziplinen systemisches Denken. Zum Durchbruch kommt die Systemtheorie in den 1960er als Kybernetik (Steuerungslehre technischer Systeme), ein ursprünglich 1948 in der Mathematik erschlossenes Wissenschaftsgebiet. In dieser ersten Phase der Kybernetik (Kybernetik 1. Ordnung) geht man von Systemen als seinsförmigen Einheiten aus, die von einem äußeren Beobachter erkannt und verändert werden können. Die Vorstellung der zielbewussten und geplanten Veränderung von Systemen wird jedoch bald revidiert. Seit den 1980er werden die Prinzipien der Kybernetik auf diese selbst
Zu σῆμα, σημεῖον „Zeichen“. – Zur Geschichte der Semiotik vgl. Meier-Oeser (1995: Semiotik). Zur Einführung in die Semiotik vgl. Schönrich (1999: Semiotik), Nöth (20002: Handbuch) sowie das vierbändige „Handwörterbuch“ von Posner, Robering und Sebeok (1997, 1998, 2003, 2004: Semiotik). Anstelle von „Semiotik“ verwendet deSaussure „Semiologie“ (in dt. Übersetzung „Semeologie“), was in der Folgezeit zu einigen terminologischen Unklarheiten führt. Das Gründungskomitee der „Association Internationale de Sémiotique“ hebt 1969 die Konkurrenz der beiden Termini offiziell auf und beschließt, „Semiotik“ als den alle Bereiche semiotischer und semiologischer Studien umfassenden Begriff zu verwenden; vgl. Nöth 20002: Handbuch, 3. Peirce, CP 2.228. Zur Zitationsweise der Schriften von Peirce s.u. 1.2.1. Eco 19948: Einführung, 38. Einen Überblick bieten Held (1998: Praxis, 24 ff), vonSchlippe und Schweitzer (19996: Lehrbuch, 49 ff) sowie Hesse (2004: Systemtheorie).
1.1 Systemtheorie und systemisches Denken
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angewandt (Kybernetik 2. Ordnung). Der Beobachter und seine Erkenntnismöglichkeiten werden als Teil des Kontextes, den er beobachtet mitkonzeptualisiert. Konsequenz ist, dass Systeme nicht mehr als objektiv erkennbare Dinge, sondern als Konstrukte des Beobachters beschrieben werden. Durch die Einsicht, dass die Wirklichkeit erst durch den Akt der Beobachtung konstruiert wird, steht die Systemtheorie in engem Bezug mit dem (radikalen) Konstruktivismus, der als erkenntnistheoretische Grundlage des systemischen Denkens gelten kann. In diesem Zusammenhang beeinflusst besonders die in der Biologie entwickelten erkenntnistheoretischen Überlegungen zur Autopoiese⁸ lebender Systeme die Systemtheorie nachhaltig.
Um den Weg von der Rezeption zur Theoriebildung in den einzelnen praktischtheologischen Teildisziplinen nachzuzeichnen, bietet sich folgender Aufbau an: Nach einer knappen Skizze des jeweiligen Theoriezugriffs und dessen theologischer Rezeption (1.1.1 und 1.2.1) wird die Aufnahme systemischer, system- und zeichentheoretischer Modelle in der Praktischen Theologie weitestgehend chronologisch nach den Teildisziplinen aufgeordnet (1.1.2 und 1.2.2). Da sich die Konzepte systemischer Seelsorge für die Rekonstruktion einer Poimenik aus systemtheoretischer und semiotischer Perspektive als besonders anschlussfähig erweisen, erscheint es funktional, auf diese gesondert einzugehen (1.1.3) – dies unterstreicht zudem die Quantität der bislang in dieser Teildisziplinen vorgelegten Publikationen. Am Ende der kritischen Durchsicht werden die jeweils wesentlichen Aspekte extrahiert, Desiderate aufgezeigt und zukünftige Aufgaben skizziert (1.1.2.7 und 1.1.3.3 und 1.2.2.4).
1.1 Systemtheorie und systemisches Denken – von der Rezeption zur Theoriebildung 1.1.1 Luhmannsche Systemtheorie und die Theologie Die Systemtheorie Luhmanns gehört zu den bedeutendsten Theorieentwicklungen der zweiten Hälfte des 20. Jhs. und hat auf eine Vielzahl interdisziplinärer Diskurse Einfluss genommen. Als gelernter Jurist und Verwaltungsbeamter beschäftigt sich Luhmann (1927– 1998) zunächst mit der Organisationstheorie, doch bald weitet sich sein Forschungsschwerpunkt: „Bei meiner Aufnahme in die 1969 gegründete Von αὐτός (selbst) und ποιεῖν (machen); vgl. vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 68: Autopoietische Systeme „produzieren und reproduzieren beständig sowohl ihre einzelnen Elemente als auch die Organisation der Beziehungen zwischen diesen Elementen in einem selbstrückbezüglichen (rekursiven) Prozeß – vereinfacht: Sie reproduzieren die Elemente, aus denen sie bestehen, mit Hilfe der Elemente, aus denen sie bestehen.“
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Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld fand ich mich konfrontiert mit der Aufforderung, Forschungsprojekte zu benennen, an denen ich arbeite. Mein Projekt lautete damals und seitdem: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine.“⁹ Zum führenden deutschen Sozialwissenschaftler wird Luhmann durch die Auseinandersetzung mit der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule, insbesondere mit Habermas. 1971 veröffentlichen die beiden Soziologen gemeinsam ihren Kontroversen-Band „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung?“¹⁰ Wie angekündigt arbeitet Luhmann dann nahezu 30 Jahre an der Entfaltung einer „Theorie der Gesellschaft“. Von Anfang an war eine Publikation geplant, die aus drei Teilen bestehen sollte: einem systemtheoretischen Einleitungskapitel, einer Darstellung des Gesellschaftssystems und einer Darstellung der wichtigsten Funktionssysteme der Gesellschaft. „Bei diesem Grundkonzept ist es geblieben, aber die Vorstellungen über den Umfang mußten mehrfach korrigiert werden“,¹¹ denn der Soziologe zeigte sich als außerordentlich produktiv: In rund 70 Monographien und nahezu 500 Aufsätzen deckt sein Œuvre ein enorm breites Themenspektrum ab.¹² 1984 veröffentlicht Luhmann „Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie“ als systemtheoretisches „Einleitungskapitel“ seiner Theoriearchitektur¹³ – die bis dahin seit den 1950er Jahren publizierten 30 Monographien und rund 180 Aufsätze bezeichnet der Soziologe in kaum zu überbietender Ironie als „Nullserie der Theorieproduktion“.¹⁴ In diesem ersten Hauptwerk überträgt Luhmann die von den Biologen Maturana und Varela entwickelte Theorie autopoietischer Systeme¹⁵ auf soziale Systeme und entwickelt unter der „Firmenbezeichnung Systemtheorie“¹⁶ eine „Supertheorie“¹⁷ mit universalem Anspruch. Die im Rahmen dieser sog. „autopoietischen Wende“ entfalteten Grundbegriffe der Theorie sozialer Systeme bleiben für Luhmanns gesamtes Werk fundamental. Ohne grundsätzliche Änderungen in der Theoriegestalt wendet Luhmann seine allgemeine Gesellschaftstheorie in zahlreichen Einzeldarstellungen auf die
Luhmann 1997: Gesellschaft, 11. Habermas/Luhmann 199010: Theorie. Luhmann 1997: Gesellschaft, 11. Vgl. z. B. das Schriftenverzeichnis bei Krause 20054: Luhmann-Lexikon, 265 ff. Luhmann 1984: Soziale Systeme. Luhmann 20013: Short Cuts, 25. Vgl. z. B. Maturana (1982: Erkennen) und ders./Varela (1987: Baum). Vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 12. A.a.O., 19.
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wichtigsten gesellschaftlichen Funktionssysteme wie Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Massenmedien und Kunst an. Nach der Explikation der Theorie auf spezielle gesellschaftliche Funktionsbereiche ist der Blick mit der Publikation des zweiten Hauptwerks „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ im Jahre 1997 wieder auf die ganze Gesellschaft ausgeweitet.¹⁸ Mit der zweibändigen Entfaltung eines „radikal antihumanistischen“, „radikal antiregionalistischen“ und „radikal konstruktivistischen“ Gesellschaftsbegriff ¹⁹ legte der Soziologe damit ein Jahr vor seinem Tod den dritten Teil seiner Gesellschaftstheorie vor. Das anfängliche Vorhaben war damit abgeschlossen und dennoch stellt dieses letzte große Werk nicht den Schlussstein der Theorie dar. Postum sind drei weitere Monographien zu den Funktionsbereichen Religion, Politik und Erziehung erschienen. Durch die Vertreter der im Grunde nicht vorhandenen Luhmann-Schule – zuweilen auch als „Bielefelder Schule“ bezeichnet – wie P. Fuchs, Kieserling,Willke Tyrell, Krech, Baecker oder Nassehi wird die Luhmannsche Systemtheorie weiter ausgearbeitet und modifiziert. Die meisten der Aufsätze Luhmanns, die parallel neben den Monographien entstehen und verschiedene Theorieaspekte unter bestimmten Gesichtspunkten weiter explizieren, sind in die sechs Sammelbände „Soziologische Aufklärung“²⁰ eingegangen. In den vier Bänden „Gesellschaftsstruktur und Semantik“²¹ geht der Soziologe dem Zusammenhang von strukturellen und semantischen Veränderungen nach, der aus der stratifikatorischen in die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft übergeleitet hat. Grundlegend für die Luhmannsche Theoriegestalt²² ist die Unterscheidung dreier autopoietischer Systemformen, von biologischen, psychischen und sozialen
Luhmann 1997: Gesellschaft. Vgl. a.a.O., 35. – Unter „Humanismus“ versteht Luhmann (20052: Geschlossenheit, 37) „eine Semantik […], die alles, auch die Gesellschaft, auf die Einheit und Perfektion des Menschen bezieht.“ Luhmann 20057: Aufklärung 1; ders. 20055: Aufklärung 2; ders. 20054: Aufklärung 3; ders. 20053: Aufklärung 4; ders. 20053: Aufklärung 5; ders. 20052: Aufklärung 6. Luhmann 1980: Gesellschaftsstruktur 1; ders. 1993: Gesellschaftsstruktur 2; ders. 19932: Gesellschaftsstruktur 3; ders. 1999: Gesellschaftsstruktur 4. Zur umfassenden Einleitung in die Luhmannsche Theoriegestalt, die hier nicht geleistet werden kann, vgl. Baraldi/Corsi/Esposito (1997: GLU), Reese-Schäfer (19993: Luhmann), Kneer/ Nassehi (19942: Theorie), Berghaus (20042: Luhmann) und Krause (20054: Luhmann-Lexikon). Sowie aus theologischer Perspektive: Dallmann (1994: Systemtheorie, 20 ff), Starnitzke (1996: Diakonie, 125 ff) und Roosen (1997: Kirchengemeinde, 184 ff). – Von Luhmann selbst bietet sich als „Einführung in die Systemtheorie“ die Transkription der gleichnamigen, im WiSe 1991/92 an der Universität Bielefeld gehaltenen Vorlesung an (20063: Einführung).
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Systemen, deren „Letztelemente“²³ aus jeweils spezifischen Operationen bestehen. Biologische Systeme leben, psychische Systeme operieren in Form von Bewusstsein und soziale Systeme kommunizieren. Dies hat für das Verständnis von Kommunikation und Gesellschaft weitreichende Folgen: „Nicht der Mensch kann kommunizieren, nur die Kommunikation kann kommunizieren. Ebenso wie Kommunikationssysteme sind auch Bewußtseinssysteme […] operativ geschlossene Systeme, die keinen Kontakt zueinander unterhalten können. Es gibt keine nicht sozial vermittelte Kommunikation von Bewußtsein zu Bewußtsein, und es gibt keine Kommunikation zwischen Individuum und Gesellschaft. […] Nur ein Bewußtsein kann denken (aber eben nicht: in ein anderes Bewußtsein hinüberdenken), und nur die Gesellschaft kann kommunizieren.“²⁴ Eine „Erkenntnisblockierung“ ist deshalb nach Luhmann die Annahme, „daß eine Gesellschaft aus konkreten Menschen und aus Beziehungen zwischen Menschen bestehe“.²⁵ Der Mensch kann nur als Teil der Umwelt des Sozialsystems Gesellschaft angesehen werden. Aus diesem „radikal antihumanistischen“ Zug der Theorie sozialer Systeme folgt jedoch nicht, „daß der Mensch als weniger wichtig eingeschätzt würde im Vergleich zur Tradition“.²⁶ Mithilfe des Begriffs der Interpenetration bzw. der strukturellen Kopplung wird eine differenzierte Analyse von Menschen als „besondere Umwelt sozialer Systeme“²⁷ möglich. Psychische und soziale Systeme, die beide im Universalmedium Sinn operieren, sind strukturell aneinander gekoppelt. Damit bezeichnet Kommunikation in der Luhmannschen Systemtheorie – entgegen dem Alltagsverständnis – nicht den zwischenmenschlichen Austausch von Informationen oder Nachrichten, sondern „Kommunikation […] ist eine genuin soziale (und die einzige genuin soziale) Operation.“²⁸ Sie ist „eine Synthese aus drei Selektionen. Sie besteht aus Information, Mitteilung und Verstehen. Jede dieser Komponenten ist in sich selbst ein kontingentes Vorkommnis“,²⁹ d. h. jede der gewählten Möglichkeiten kann immer „auch anders möglich sein“.³⁰ Information ist dabei keineswegs als Substanz in der Welt vorhanden, sondern „die Welt ist ein unermessliches Potential für Überraschungen, ist virtuelle Information, die aber Systeme benötigt, um Information zu erzeugen, oder genauer: um
Luhmann 20052: Probleme, 13. Luhmann 1997: Gesellschaft, 105. A.a.O., 24. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 288. A.a.O., 286. Luhmann 1997: Gesellschaft, 81. A.a.O., 190. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 47.
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ausgewählten Irritationen den Sinn von Information zu geben.“³¹ Information wird durch einen Beobachter erst konstituiert. „Ferner muß jemand ein Verhalten wählen, das diese Information mitteilt.“³² Für das Zustandekommen von Kommunikation entscheidend ist jedoch die dritte Selektion: Das Verstehen als Beobachten der Differenz von Information und Mitteilung (dabei sind Missverständnisse im alltagssprachlichen Sinne mit eingeschlossen): „Erst das Verstehen generiert nachträglich Kommunikation.“³³ „Da dies entscheidend ist und Kommunikation nur von hier aus verstanden werden kann, nennen wir (etwas ungewöhnlich) den Adressaten Ego und den Mitteilenden Alter.“³⁴ Als Ego wird die Person oder das soziale System bezeichnet, der eine Kommunikation versteht, und als Alter der, dem die Mitteilung zugerechnet wird. Kommunikation liegt dann vor, wenn Ego versteht, dass Alter eine Information mitgeteilt hat. Diese Abwendung von dem traditionellen kommunikationswissenschaftlichen Übertragungsmodell beinhaltet bereits die „radikal konstruktivistische“ Komponente der Systemtheorie: „Die Übertragungsmetapher ist unbrauchbar, weil sie zu viel Ontologie impliziert.“³⁵ Explizit wird die erkenntnistheoretische Argumentationsbasis der Luhmannschen Theoriegestalt, die derzeit als „aussichtsreichste Weiterentwicklung des R[adikalen] K[onstruktivismus’]“³⁶ gehandelt wird, u. a. an den Kategorien des Sinns und Beobachtens: Sinn erweist sich als „Verweisungsüberschuß“³⁷ auf weitere Möglichkeiten in der aktuell gewählten Möglichkeit. „Sinn ist […] ein endloser, also unbestimmbarer Verweisungszusammenhang, der aber in bestimmter Weise zugänglich gemacht und reproduziert werden kann. Man kann die Form von Sinn bezeichnen als Differenz von Aktualität und Möglichkeit“.³⁸ Mit dem Luhmannschen Beobachtungsbegriff – „Beobachten heißt einfach […]: Unterscheiden und Bezeichnen“³⁹ – ist die übliche Prämisse, dass die Welt für alle Beobachter dieselbe und durch Beobachtung bestimmbar ist,verabschiedet. Denn: „Sofern die Welt für alle Beobachter (für jede Wahl einer Unterscheidung) dieselbe ist, ist sie unbestimmbar. Sofern sie bestimmbar ist, ist sie nicht für alle Beobachter dieselbe, weil Bestimmung Unterscheidungen erfordert.“⁴⁰
Luhmann 1997: Gesellschaft, 46. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 195. Luhmann 1997: Gesellschaft, 72. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 195. A.a.O., 193. Prechtl/Burkhard 19992: Lexikon, 487; vgl. auch Jensen 1999: Erkenntnis; s.u. 3.1.1. Luhmann 1997: Gesellschaft, 49. A.a.O., 49 f. A.a.O., 69. A.a.O., 155.
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Die „radikal antiregionalistische“ Komponente der Theorie zeigt sich in der konstitutiven Bindung des Gesellschaftsbegriffs an die Kommunikation, die im Gegenzug den Kommunikationsbegriff und damit auch die spezifisch codierte Kommunikation gesellschaftlicher Funktionssysteme von räumlichen Bindungen entkoppelt. Innerhalb der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft unterscheidet Luhmann verschiedene gesellschaftliche Funktionssysteme, die jeweils nach einem ihnen spezifischen binären Code operieren: So bezieht sich das Wirtschaftssystem auf die Codierung Zahlen/Nichtzahlen, das Rechtssystem auf Recht/Unrecht, das Politiksystem auf Macht haben/keine Macht haben, das Religionssystem auf Immanenz/Transzendenz. Doch die „Großformen der gesellschaftlichen Teilsysteme schwimmen auf einem Meer ständig neu gebildeter und wieder aufgelöster Kleinsysteme.“⁴¹ Infolgedessen leistet die Luhmannsche Systemtheorie neben der „horizontalen“ Differenzierung in gleichrangige Funktionsbereiche der Gesellschaft auch eine „vertikale“ Differenzierung in verschiedene soziale Systemtypen⁴² – eine in der Theologie zunächst unterschätzte Pointe der Luhmannschen Theoriekonstruktion.⁴³ Differenziert wird zwischen Interaktion, Organisation und Gesellschaft. Während die Gesellschaft als umfassendstes Sozialsystem die Gesamtheit des Sozialen, d. h. alles, was Kommunikation ist, einschließt, bilden sich Organisationen aufgrund von Anerkennungsregeln, v. a. Mitgliedschaftsregeln, so dass nur eine begrenzte Anzahl von Personen Mitglieder einer Organisation sein können. Das einfachste soziale System liegt mit der Interaktion vor, deren Charakteristika als „Kommunikation unter Anwesenden“ Anwesenheit und reflexive Wahrnehmung sind. Damit sind auch „Kleinstbegegnung persönlicher und unpersönlicher Art […], sofern Kommunikation stattfindet, Vollzug von Gesellschaft.“⁴⁴ Die Luhmannsche Systemtheorie bietet eine fundamentale Umorientierung der Sicht auf die Welt bzw. auf die Gesellschaft an: „Der Flug muß über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen. Man muß sich auf die eigenen Instrumente verlassen. Gelegentlich sind Durchblicke nach unten möglich […], die an Vertrautes erinnern; […] Aber niemand sollte der Illusion zum Opfer fallen, daß diese wenigen Anhaltspunkte genügen, um den
A.a.O., 812. Vgl. Tyrell/Krech/Knoblauch 1998: Kommunikation, 24 ff. Vgl. Laube 2000: Kommunikation, 119 f. – Erst mit der Arbeit von Dinkel (2000: Gottesdienst) wird die Bedeutung der Interaktion für die religiöse Kommunikation praktisch-theologisch ausgelotet. – Zur Bedeutung der Interaktion für die Poimenik s.u. 3.2. Luhmann 1997: Gesellschaft, 813.
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Flug zu steuern.“⁴⁵ Ein hoher Grad an Abstraktion ist „eine erkenntnistheoretische Notwendigkeit“.⁴⁶ Die Rezeption hat sich daher auf eine komplexe Theorie einzulassen, die mit der ihr eigenen, umfangreichen Terminologie zunächst schwer zugänglich ist. Um einen Einstieg in die Theorie zu finden, gilt es, als Rezipient die Zirkularität der Theorie und die Vielzahl von Relationen und wechselseitigen Abhängigkeiten der Begriffe zu unterbrechen, denn: „Jeder Schlüsselbegriff in Luhmanns Theorie kann nur unter Bezugnahme auf andere Begriffe definiert werden“.⁴⁷ Dabei ist die zirkuläre Begriffs- und Theoriekonstruktion, in der zugleich einer der Gründe ihrer Leistungsfähigkeit liegt, keineswegs mit Beliebigkeit gleichzusetzen, denn die Wahl einer veränderten Darstellungssequenz führt auch zu veränderten Resultaten. Die Luhmannsche Theorie ermuntert den Leser jedoch, „auszuprobieren, was bei […] Umschreibversuchen in der Theorie passiert.“⁴⁸ Insgesamt gleicht die Theorieanlage „also eher einem Labyrinth als einer Schnellstraße zum frohen Ende.“⁴⁹ Dass diese nicht mehr zu linearisierende Abstraktion, wie Luhmann selbst einräumt, „eine Zumutung für den Leser“⁵⁰ darstellt, bringt die Antwort des systemischen Therapeuten Ludewig auf die Frage, welches von den Werken Luhmanns eine besondere Bedeutung für ihn habe, auf den Punkt: „Naturgemäß ‚Soziale Systeme‘ – das ramponierteste Buch in meinem Regal. Noch nie war ich so wütend über ein Buch geworden, denn ich verstand zwar die Worte, jedoch nicht den Sinn. Ich kam mir dumm und unbeholfen vor, so flog das Buch mehrmals gegen die Wand. Langsam begann ich aber, es zu begreifen, und es wurde von da an ein immer reichhaltiger und unausschöpfbarer Fundus an guten Gedanken.“⁵¹ Trotz dieser theorieimmanenten Schwierigkeiten ist in den außersoziologischen Disziplinen des deutschen Sprachraums⁵² eine breite Rezeption der
Luhmann 1984: Soziale Systeme, 13. Ebd. Baraldi/Corsi/Esposito 1997: GLU, 7. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 14. – Luhmann selbst (1992: Stellungnahme, 377 f) spielt andere Varianten des Theorieaufbaus und seiner Sequenzierung durch und zeigt die entsprechenden Resultate auf. – Dass man nicht von jedem Punkt der Theorie aus zu jedem anderen gelangt, demonstrieren auch die im GLU (Baraldi/Corsi/Esposito 1997: GLU, 12 ff) vorgeschlagenen „Lesewege“ durch die Luhmannsche Begriffsvielfalt. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 14. A.a.O., 13. http://www.systemagazin.de/beitraege/luhmann/ludewig_luhmann.php (Zugriff am 30.12. 2014). Nach Schmidt (2000: Differenz, 21) ist die fehlende Resonanz über den deutschsprachigen Raum hinaus kein Spezifikum der Luhmannschen Theorie, sondern gilt gleichermaßen für andere Soziologien.
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Systemtheorie Luhmanns zu beobachten. In der Wirtschafts-, Medien-, Politik-, Rechts-, Geschichts-, Literatur- und Kunstwissenschaft, Theologie und Religionssoziologie, aber auch im Rahmen der Sozialpädagogik, systemischen Therapie⁵³ und Familienforschung, Unternehmensberatung, Technik, Philosophie, Bewegungsforschung, Erziehungs- und Verwaltungswissenschaften sowie des Gesundheitswesens und im Rahmen des Nachdenkens über Intimbeziehungen findet die Aufnahme und Reflexion Luhmannscher Überlegungen statt.⁵⁴ Erstaunlich mag v. a. die positive Aufnahme einer derart abstrakten Theorie nicht nur durch die Reflexionstheorien der gesellschaftlichen Funktionssysteme, sondern auch in der konkreten Praxis, wie der systemischen Therapie und Beratung, erscheinen. Dass diese Verwunderung auch auf Seiten der jeweiligen Rezipienten liegt, ist von systemischen Therapeuten wiederholt geäußert worden: „Ich muß offen gestehen, daß mich das Interesse von Familientherapeuten an der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns zunächst sehr erstaunt hat. Ich hätte nie gedacht, daß gerade seine Systemtheorie, die in einer sehr elaborierten, hochabstrakten Sprache verfaßt ist und wenig Praxisbezogenheit aufweist und die aus einer stark sozial-historischen Orientierung mit nur geringen Beziehungen zur Familiensoziologie geschrieben ist, familientherapeutische Theoretiker interessieren könnte.“⁵⁵ Auf einem Forum für systemische Therapie wurde 1986 jedoch klar: „Luhmann hat […] Familientherapeuten etwas Wichtiges zu sagen.“⁵⁶ Der Grund für die breite, außersoziologische Rezeption mag zum einen darin liegen, dass Luhmann selbst in vielfältigem Kontakt zu Fachdisziplinen außerhalb der Soziologie stand und die systemtheoretische Beschreibung der Gesellschaft die Beschreibung der einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme beinhaltet, so dass die verschiedenen Wissenschafts- und Praxisbereiche neben grundlagentheoretischen Überlegungen⁵⁷ v. a. auf die entsprechenden Monographien zurückgreifen können.
S.u. 1.1.3.1. Die interdisziplinäre Luhmann-Rezeption dokumentieren u. a. die Sammelbände von deBerg/ Schmidt (2000: Rezeption), Gripp-Hagelstange (2000: Denken) und Burkhart/Runkel (2005: Funktionssysteme). Krüll/Luhmann/Maturana 1987: Grundkonzepte, 5. – Ähnlich auch Simon 2000: Name dropping, 369. Krüll/Luhmann/Maturana 1987: Grundkonzepte, 5. Besonders in der Kunst- und Literaturwissenschaft, systemischen Therapie und Publizistik ist weniger der Rückgriff auf die gegenstandsbezogenen, sondern grundlagentheoretischen Aussagen Luhmanns zu beobachten. Dass entsprechende Bezugnahmen bspw. auf den Sinn- und Kommunikationsbegriff zum einen nahe liegen, zum anderen die Komplexität der Irritation weiter steigern ist evident. Beschränkt sich die notwendige Reduktion dann allerdings auf bloßes „name
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Fragt man nach den Spezifika der interdisziplinären Rezeption der Luhmannschen Systemtheorie, so kann Rezeption aus systemtheoretischer Perspektive keinesfalls die bloße Übernahme der Theorie bedeuten, sondern eher die Resonanz auf die „Verstörung“, die durch die Differenz von soziologischer Fremdbeschreibung und Selbstbeschreibung des einzelnen Funktionssystems hervorgerufen wird, – überdies hätte eine bloße Übernahme der Theorie den Verlust der intradisziplinären Anschlussfähigkeit zur Folge.⁵⁸ Es liegt sodann an dem jeweiligen Wissenschafts- oder Praxisbereich, die zunächst unbestimmte Irritation unter der je fachspezifischen Beobachtungsperspektive in bestimmte und damit für die Disziplin relevante und anschlussfähige Information zu transferieren. „Bloße Wortübernahmen“⁵⁹ – wie Luhmann sie sich hinsichtlich der theologischen Reaktion auf seine Theorie ausdrücklich nicht erhofft – sind hingegen nicht imstande, konstruktive Bezugnahmen zwischen Systemtheorie und den außersoziologischen Fächern herzustellen und führen lediglich zur „Soziologisierung“ des jeweiligen Fachs. Da sich die Wahrnehmung bzw. Beobachtung eines Wissenschafts- oder Praxisbereichs, der sich aufgrund seines Gegenstandbezugs einem gesellschaftlichen Funktionssystem zuordnen lässt, nicht anders als an den eigenen Leitunterscheidungen orientieren kann, sind Strukturübernahmen im Sinne eines Theorieimports grundsätzlich unwahrscheinlich. Anstelle einer Übernahme der Luhmannschen Systemtheorie ist folglich eine wechselseitige Irritation zweier operational geschlossener Systeme zu erwarten. Dass die Rezeption das von ihr Rezipierte nach fachspezifischen Beobachtungsmustern „filtert“ und damit umcodiert, spiegelt sich in dem Dilemma, vor dem jede Luhmann-Rezeption steht: Einerseits ist Selektion schon aufgrund der umfangreichen Literatur und Begrifflichkeit unvermeidbar, andererseits erweist sich gerade die Luhmannsche Universaltheorie in ihrer Zirkularität für ein solches Vorgehen als ausgesprochen ungeeignet.⁶⁰ Problematisch wird der selektive Umgang mit der Theorie dann, wenn „von einer wirklich ernsthaften Rezeption der Luhmann’schen Theorie nicht gesprochen werden kann, sondern […] die Theorie eher als eine Art ‚Steinbruch‘ genutzt wird, aus dem ohne theoretische
dropping“ wie dies z. B. Simon (2000: Name dropping) für die systemische Therapie konstatiert, so ist dies per se problematisch; vgl. Schmidt 2000: Differenz, 23 f. Derartige Versuche des Theorieimports beobachtet Schmidt (2000: Differenz, 19 f und Anm. 13) besonders bei wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten – u. a. in der Theologie. Luhmann 1977: Funktion, 8. In gewisser Weise trifft diese Problematik bereits auf die Theorie Luhmanns selbst zu, die ihre zentralen Begriffe unterschiedlichen Theoriekontexten entnimmt und – von ihren Herkunftskontexten bewusst entfremdet – selektiv verwendet; vgl. Clam 2000: Theorie, 312 ff.
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Kontrolle kleinere oder größere Brocken entnommen werden.“⁶¹ Nicht selten führt ein solch reduktives Interesse zu fraglichen Verständnissen des systemtheoretischen Konzepts⁶² und seitens Luhmanns schlichtweg zu Ratlosigkeit.⁶³ Die der interdisziplinären Luhmann-Rezeption mit dem paradoxen Dilemma von notwendiger und eklektischer Selektion aufgegebene Aufgabe ist daher nicht leicht zu lösen: „Die Balance zwischen einem (mehr oder weniger guten) LuhmannPlagiat und einer Ausarbeitung der Theorie, die die Grenzen, die ihr Luhmann selbst gegeben hat, überschreitet, ist offenbar nicht einfach zu halten.“⁶⁴ Angesichts dieser Überlegungen ist es angemessener, anstatt von „richtiger“ von „erfolgreicher“ Rezeption Luhmannscher Theorie zu sprechen, ⁶⁵ der es in der unumgänglichen Orientierung an der eigenen fachspezifischen Leitunterscheidung gelingt, einzelne systemtheoretische Theoriefiguren theoretisch abgesichert in plausible und für den jeweiligen Bereich relevante Relationen zu setzen und Konzepte zu entwerfen, die sich anhand intradisziplinärer Anschlussfähigkeit bewähren. Die interdisziplinären Bezugnahmen auf Luhmannsche Systemtheorie lassen sich jedoch nicht nur aufgrund des Beobachtungsmusters von soziologischer Fremd- und fachspezifischer Selbstbeschreibung verstehen. Denn mit der Aufnahme der soziologischen Beschreibung von Gesellschaft und der einzelnen Funktionsbereiche ist immer auch – zumindest implizit – die konstruktivistische Perspektive der Luhmannschen Theoriekonstruktion⁶⁶ rezipiert. Folgt man GrippHagelstange, so liegt der Grund für die breite interdisziplinäre Rezeption weniger in der soziologischen Gesellschaftsbeschreibung, als in dem „erkenntnistheoretischen Paradigmawechsel“:⁶⁷ „Der Anspruch Niklas Luhmanns, das ‚alteuropäische‘ [ontologische; L.K.] Denken überwinden zu wollen, ist der Ausgangspunkt, von dem aus er sein Theoriegebäude errichtet. Seine Theorie sozialer Systeme ist, aus diesem Blickwinkel betrachtet, nur bedingt ein neuer soziolo-
Schmidt 2000: Differenz, 21 f; Hervorhebung im Original. In diesen Zusammenhang kann auch die häufig von fachwissenschaftlicher Seite formulierte Kritik, dass die Luhmannsche Beschreibung des je eigenen Gegenstandbereichs fehlerhaft sei oder nicht mehr dem aktuellsten Wissensstand entspreche, gesehen werden; vgl. Schmidt 2000: Differenz, 27 und 29 f. Vgl. Luhmann (1992: Stellungnahme, 376) zu der von pädagogischer Seite geäußerten Kritik: „Die Ebene der allgemeinen Theorie […] werden ganz ausgeblendet. Das führt zu gravierenden Mißverständnissen und zu Äußerungen über meine Theorie, die für mich nicht interpretierbar sind“. Schmidt 2000: Differenz, 32. Vgl. a.a.O., 20 und 23. S.u. 3.1.1. Gripp-Hagelstange 2000: Einführung, 8.
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gischer Theorieentwurf, sie ist auch und vor allem die Ausbuchstabierung eines neuen erkenntnistheoretischen Paradigmas. Die Grundannahme der Theorie: die Vorstellung eines autopoietischen und selbstreferentiellen Geschehenszusammenhangs, von dem aus alles Betrachten der Welt – einschließlich des Betrachtungsvorganges selbst – auszugehen hat, stammt aus den Naturwissenschaften. Luhmanns Anliegen ist es, diese Annnahme für die Analyse des Sozialen fruchtbar zu machen. […] Es ist diese erkenntnistheoretische paradigmatische Neuorientierung, die das die Theorie Luhmanns auszeichnende Moment darstellt und die bewirkt, daß das Denken Niklas Luhmanns die Grenzen der Soziologie sprengt.“⁶⁸ Ohne Zweifel ist die Luhmannsche Theoriegestalt als rein analytischsoziologische Theorie nicht adäquat erfasst. Obwohl Luhmann sich zwar selbst stets als Analytiker der Gesellschaft gesehen hat, erhebt er mit dem Entwurf der Systemtheorie als Universal- bzw. „Supertheorie“⁶⁹ einen philosophischen Anspruch. Deshalb „kann man berechtigterweise den Standpunkt vertreten, daß die Systemtheorie […] letztlich eine philosophische Theorie sei.“⁷⁰ Mit seiner „radikal konstruktivistischen“⁷¹ Gesellschaftstheorie, die auf der Universalisierung der Selbstreferentialität und Generalisierung des Systemgedankens basiert,⁷² legt Luhmann eine postontologische Theorie vor, noch bevor die Philosophie eine solche Konzeption entwickelt.⁷³ Die Reflexivitätsthematik, die mit dem Primat der Selbstreferentialität konvergiert, führt zu einer Theorie, die nicht nur die traditionelle Verhaftung am Objekt, sondern auch am Subjekt verabschiedet. In dem Verlust der Monopolstellung des Subjekts liegt der „eigentliche Sprengstoff“⁷⁴ der Theorie selbstre-
A.a.O., 7. – Zur erkenntnistheoretischen Einführung in die Theorie Luhmanns vgl. GrippHagelstange 1995: Luhmann. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 19. Kött 2004: Religion, 527. – Zur bislang marginalen Rezeption der Luhmannschen Theorie in der Philosophie vgl. Clam (2000:Theorie), der die Systemtheorie hinsichtlich philosophisch relevanter Themen sowie systemtheoretischer Motive, die der philosophischen Klärung bedürfen, diskutiert. Luhmann 1997: Gesellschaft, 35. Vgl. Clam (2000: Theorie, 301) mit Verweis auf Landgrebe (1975: Streit, 27). Zur zahlreichen Kritik, die in dem viel zitierten Teilsatz „es gibt Systeme“ (Luhmann 1984: Soziale Systeme, 30) eine ontologische Aussagen vermutet, vgl. Krause 20054: Luhmann-Lexikon, 101 f Anm. 330. – Zur Klärung der erkenntnistheoretischen Disposition der Luhmannschen Theorie vgl. Nassehi 1992: Systeme.Vgl. auch Luhmann 1992: Stellungnahme, 381: „Im übrigen würde auch schon helfen, wenn man nicht nur den Halbsatz liest, sondern den ganzen Satz: ‚Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt.“ Gripp-Hagelstange 2000: Einführung, 12.
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ferentieller Systeme, die „eine Bodenlosigkeit in die Welt [trägt], die für ihren Rezipienten nur schwer zu verkraften ist.“⁷⁵ In dieser fundamentalen Umorientierung der Weltsicht mag der Grund dafür liegen, dass die interdisziplinäre Luhmann-Rezeption die Herausforderung des epistemologischen Ausgangspunkts der Systemtheorie nicht immer explizit und in ihren radikalen Konsequenzen der De-Ontologisierung sowie der Dezentrierung des Subjekts annimmt. Da die Interessen und Rezeptionsbedingungen der einzelnen Wissenschaftsund Praxisbereiche unterschiedlich sind, ist es für die allgemeine interdisziplinäre Luhmann-Rezeption nicht möglich, verallgemeinerbare Rezeptionsmuster aufzustellen.⁷⁶ Anders als in den meisten außersoziologischen Disziplinen sind in der Theologie herausragende Irritationsverhältnisse mit der Luhmannschen Theorie zu beobachten.⁷⁷ Dies gründet sich darin, dass sich der „gebürtige Protestant“⁷⁸ Luhmann so intensiv wie kaum ein anderer Soziologe mit Fragen der Religion auseinandersetzt und damit der Kirche, insbesondere aber ihrer Reflexionstheorie, der Theologie, mit zwei Monographien und ca. 20 Artikeln eine Menge an Irritationsmaterial in Form der soziologischen Fremdbeschreibung zur Verfügung stellt.⁷⁹ Andererseits zeigt sich gerade die Theologie in ihrem Status als Theorie-
A.a.O., 13. Vgl. Schmidt 2000: Differenz, 27. Vgl. a.a.O., 24. – Auch Luhmann (1992: Stellungnahme, 377) erkennt in seiner Stellungnahme zu den Beiträgen des interdisziplinären Sammelbandes von Welker und Krawietz (1992: Kritik), die der Systemtheorie gegenüber kritisch Position beziehen, an: „Im Vergleich zu den Beiträgen von juristischer und pädagogischer Seite zeigen die Beiträge, bei denen man Theologen als Autoren vermuten kann, einen bemerkenswerten Unterschied. Sie sind weniger an der Frage orientiert, ob die diskutierte allgemeine Theorie sozialer Systeme dem Sonderphänomen Religion ausreichend gerecht wird und es mit hinreichend hochrangigen Begriffen abbildet.“ Dies deutet darauf hin, „daß die Theologie im Unterschied zur Rechtstheorie heute weniger direkte interdisziplinäre Begründungshilfen sucht, sondern ihr proprium anders gesichert weiß und sich deshalb interdisziplinären Kontaktbereichen gelassener, eher mit aufgeschlossener Neugier zu näheren vermag.“ (ebd.; Hervorhebung im Original). Dies gesteht Luhmann (ebd. Anm. 6) auch ausdrücklich Welker (1985: Theologie) und Pollack (1988: Chiffrierung) zu. – Ansonsten überwiegt seitens Luhmanns (20053: Unterscheidung, 251) eher die Enttäuschung über die theologische Diskussion seiner Religionstheorie. Woiwode 1997: Religion, 29. Zu den religionssoziologischen Schriften Luhmanns, die in ihrer Vollständigkeit hier nicht alle berücksichtigt werden können, vgl. Krause 20054: Luhmann-Lexikon, 265 ff. – Eine Auswahl bietet auch das Literaturverzeichnis der vorliegenden Untersuchung.
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arbeit hinsichtlich außertheologisch abstrakter Theorieangebote als äußerst resonanzfähig. Die ersten Ansätze der Religionstheorie Luhmanns sind Anfang der 1970er Jahre publiziert.⁸⁰ Mit der Monographie „Funktion der Religion“ liegt 1977 der erste relativ geschlossene systematische Ansatz vor, in dem der Soziologe den Theologen ausdrücklich das interdisziplinäre Gespräch als „Kontakt über Theorie“⁸¹ anbietet. Dass die Theologie dabei – wie jeder Wissenschaftsbereich – vor dem bereits genannten Dilemma und Balanceakt der Luhmann-Rezeption steht, ist evident, und so erhofft sich Luhmann mit seiner Theorie, „auf seiten der Theologie mehr als bloße Immunreaktion und mehr als bloße Wortübernahmen auszulösen.“⁸² Zehn Jahre später schätzt Luhmann den Verlauf der Diskussion über die „Funktion der Religion“, die bis dahin in einer Vielzahl von v. a. systematischtheologischen Publikationen stattgefunden hat, allerdings als im Ganzen unbefriedigend ein.⁸³ Zum Ziel des künftigen Dialogs von Theologie und Soziologie erklärt Luhmann Dissens- statt Konsensfindung.⁸⁴ Nach der Publikation einzelner religionssoziologischer Aufsätze nimmt der Soziologe in den frühen 1990er Jahren erneut die Arbeit an seiner Religionstheorie auf, um den Ansatz insbesondere in differenz- und beobachtungstheoretischer Perspektive zu präzisieren. Dass diese Studie Fragment geblieben ist, merkt man der von Kieserling im Jahr 2000 aus dem Nachlass publizierten „Religion der Gesellschaft“ nicht an – „vermutlich hätte ein winziges Mehr an Lebenszeit ausgereicht, um die Arbeit am Manuskript abschließen zu können.“⁸⁵ Innerhalb der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft weist die Systemtheorie der Religion eine spezifische Funktion neben anderen gesellschaftlichen Teilsystemen zu. Damit ist Religion als ein genuiner Teil der modernen Gesellschaft dargestellt, und ihr Verlust früherer gesamtgesellschaftlicher Funktionen als Folge der historisch-evolutionären Ausdifferenzierung beschrieben. Waren ehemals Religion und Gesellschaft in ihren Grundlagen nicht zu unterscheiden, so sichert heute die Religion „weder gegen Inflation noch gegen einen unliebsamen Regierungswechsel, weder gegen das Fadwerden einer Liebschaft noch gegen wissenschaftliche Widerlegung der eigenen Theorien. Sie kann nicht für andere Funktionssysteme einspringen. Sie ist ein Funktionssystem für sich,
Vgl. Luhmann 1972: Organisierbarkeit. Luhmann 1977: Funktion, 8. Ebd. Vgl. Luhmann 20053: Unterscheidung, 251. Vgl. a.a.O., 264. Kieserling 2000: Editorische Notiz, 357.
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und nur die Teilnahme an diesem Funktionssystem gewährt die religionsspezifischen Sicherheiten.“⁸⁶ Die systemtheoretische Einschränkung der Universalität von Religion zeigt auch ihre Entbehrlichkeit für das einzelne Subjekt auf: „Während kein Individuum auf Teilnahme an Ökonomie, an Erziehung, an Rechtsschutz verzichten kann und Inklusion in diese Funktionssysteme praktisch erzwungen wird, gilt für Religion (wie zum Beispiel auch für Kunst) das Gegenteil. Man kann geboren werden, leben und sterben, ohne an Religion teilzunehmen; und auch wenn die Religion sagen wird, daß dies alles in Gottes Welt geschieht, kann der Einzelne dies schadlos ignorieren. Die Möglichkeit religionsfreier Lebensführung ist als empirisches Faktum nicht zu bestreiten, und das Religionssystem findet sich mit dieser Tatsache konfrontiert. […] Die Notwendigkeit von Religion kann mithin nicht auf anthropologischer, sondern nur auf soziologischer Grundlage nachgewiesen werden.“⁸⁷ Anders formuliert: „Für individuelle Menschen ist sie [die Religion; L.K.] entbehrlich, nicht jedoch für das Kommunikationssystem Gesellschaft.“⁸⁸ Zum gesellschaftlichen Funktionssystem der Religion – und damit zur religiösen Kommunikation – sind all diejenigen Kommunikationen zu rechnen, die die Welt mit dem Code immanent/transzendent beobachten:⁸⁹ „Immanent ist danach alles, was die Welt, wie sie ist, für innerweltliche Beobachtung bietet […]. Transzendenz ist dasselbe – anders gesehen. Die (immanente) Vorstellung der Transzendenz operiert mit einem Bezugspunkt außerhalb der Welt. Sie behandelt die Welt so, als ob sie von außen gesehen werden könnte.“⁹⁰ Dabei steht Immanenz für den positiven Wert des Codes, der die „Anschlußfähigkeit an die Erfahrungen des täglichen Lebens“⁹¹ garantiert, und Transzendenz für den negativen
Luhmann 19932: Ausdifferenzierung, 259. A.a.O., 349. A.a.O., 350. – Das schließt jedoch nicht aus, dass Luhmann die Bedeutung, die Religion für einzelne Individuen haben kann, nicht anerkennt. „Funktion der Religion“ widmet der Soziologe (1977: Funktion, 6) seiner im Erscheinungsjahr verstorbenen Frau, „der Religion mehr bedeutete, als Theorie zu sagen vermag.“ Die folgenden Ausführungen können lediglich eine knappe Skizze der religionstheoretischen Figuren bieten, die in praktisch-theologischer Hinsicht relevant sind (s.u. 1.1.2). Umfassender als in der Praktischen Theologie findet die Auseinandersetzung mit der Luhmannschen Religionstheorie in der Systematischen Theologie statt. – Zur ausführlichen Darstellung und Kritik der Luhmannschen Religionstheorie vgl. z. B. Pollack (1988: Chiffrierung), Dallmann (1994: Systemtheorie, 89 ff), Beyer (1996: Kontakt, 113 ff), Baraldi/Corsi/Esposito (1997: GLU, 156 ff), Woiwode (1997: Religion, 152 ff), Reese-Schäfer (19993: Luhmann, 96 ff), Lames (2000: Schulseelsorge, 126 ff), Ruster (2001: Beobachtung) und das entsprechende Themenheft von „Soziale Systeme“ (1/2001, 1 ff) zur „Die Religion der Gesellschaft“; zum systemtheoretischen Gottesbegriff vgl. z. B. Nickel-Schwäbisch (2004: Gott). Luhmann 19932: Ausdifferenzierung, 313. Luhmann 20053: Unterscheidung, 252.
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Wert des Codes, von dem aus alles als kontingent gesehen werden kann. Der Programmierung, d. h. als Kriterium für die korrekte Zuschreibung der Codewerte immanent/transzendent, dient der Religion in erster Linie die Dogmatik. Die Paradoxie der religiösen Codierung ist evident:⁹² Alle Transzendenz ist nur immanent möglich, die „Welt wird dupliziert“,⁹³ es kommt zu einer „Realitätsverdopplung“⁹⁴. Die Besonderheit des religiösen Codes besteht nun gerade darin, dass das re-entry des Codes, also der Wiedereintritt der Unterscheidung in die Unterscheidung, nicht wie bei anderen Codierungen gesellschaftlicher Teilsysteme auf der positiven, sondern auf der negativen Seite des Codes erfolgt. Damit zeichnet die religiöse Selbstreflexion die Transzendenz, also den Negativwert als anschlussfähig aus und schließt ihn damit explizit ein statt – wie sonst üblich – aus. Für die Einheit der Differenz von Immanenz und Transzendenz steht Gott. Im Monotheismus fungiert der Gottesbegriff auch als Kontingenzformel des Religionssystems, d. h. als „Symbol“, das dazu dient, „die unbestimmte Kontingenz eines besonderen Funktionsbereichs in bestimmbare Kontingenz zu überführen.“⁹⁵ Oftmals wird die Religionstheorie Luhmanns auf den Aspekt der Beschreibung der Funktion der Religion verkürzt. „Die Funktion der Religion bezieht sich auf die Bestimmbarkeit der Welt.“⁹⁶ Oder anders formuliert: „In der Religion geht es um die Transformation unbestimmbarer in bestimmbare Komplexität“⁹⁷ – eine in der theologischen Rezeption häufig anzutreffende Formulierung, die nicht selten mit dem Terminus „Kontingenzbewältigung“ abgekürzt wird.⁹⁸ Luhmann selbst sieht „[d]ie Funktion des Religionssystems […] unmittelbar durch das System geistlicher Kommunikation erfüllt, das man Kirche nennt.“⁹⁹ Die Funktion ist jedoch nur einer von drei Beziehungstypen, die gesellschaftliche Funktionssysteme eingehen: „Die Beziehung zur Gesellschaft als dem umfassenden System wird zur Sache der Funktion; die Beziehung zu anderen gesellschaftlichen Systemen wird zur Sache der Leistung; die Beziehung zu sich selbst wird zur Sache der Reflexion.“¹⁰⁰ In Bezug auf das Religionssystems bestimmt der Soziologe die weiteren Beziehungen folgenderma-
Zur Formulierung von Paradoxien hinsichtlich der Religion greift Luhmann des öfteren auf die paradoxalen Formeln von Nikolaus von Kues zurück. Überhaupt ist eine gewisse Affinität zur mystischen Tradition zu beobachten. – Von theologischer Seite begegnet daher der kritische Einwand, Luhmann beziehe sich in seiner Beschreibung der Religion fast ausschließlich auf die scholastische Theologie ohne die deutschsprachigen theologischen Publikationen aus dem 20. Jh. zu berücksichtigen (vgl. Woiwode 1997: Religion, 29; Dallmann 2000: Wortübernahmen, 244). Luhmann 19932: Ausdifferenzierung, 313. Luhmann 2000: Religion, 58. Luhmann 1977: Funktion, 210. A.a.O., 79. A.a.O., 20. Vgl. z. B. Höhn 1985: Kirche, 249 ff; Homann 1997: Argument, 357 ff. – Für die Luhmannsche Theoriegestalt trifft dieser Terminus allerdings nur bedingt zu. Mit Beyer (1996: Kontakt, 11 Anm. 57; Hervorhebung im Original) ist daher zu folgern: „Daß sich dieser Begriff als für Luhmann zutreffend eingebürgert hat […] kann als Indiz dafür gelten, daß hier ein Rezeptionstyp vorliegt, dem es nicht um die theoretische Auseinandersetzung mit Luhmann zu tun ist.“ Luhmann 1977: Funktion, 56; Hervorhebungen im Original. A.a.O., 56; Hervorhebungen im Original.
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ßen: „Die Leistungen für andere Teilsysteme wollen wir […] Diakonie nennen.“¹⁰¹ „Die Leistungen für personale Systeme wollen wir Seelsorge nennen. Vielleicht empfiehlt sich ein allgemeiner Begriff des Dienstes, wenn man beide Leistungsformen, Diakonie und Seelsorge zusammenfassen will.“¹⁰² „Die Theologie wäre […] für die Reflexion des Religionssystems zuständig.“¹⁰³ In diesem Zusammenhang fällt auf, dass die gegenwärtige universitäre Theologie an Stelle der Religion oder der Kirche zunehmend sich selbst beobachtet und sich damit weniger als Reflexionstheorie denn als Wissenschaft beschreibt¹⁰⁴ – ein Aspekt, auf den Luhmann nicht explizit eingeht.¹⁰⁵ Hatte Luhmann in seiner sog. frühen Phase seiner Religionstheorie¹⁰⁶ die Religion vorrangig als gesellschaftliches Subsystem mit gesamtgesellschaftlicher Funktion beschrieben¹⁰⁷ – hier führte v.a der organisationssoziologische Aspekt zur breiten Rezeption durch die Theologie¹⁰⁸ – so verschiebt sich seit den 1980er Jahren der Schwerpunkt. Nun stellt der Soziologe „auf ein Problem aller sinnhaften Operationen ab, das Religion paradigmatisch bearbeitet: Die Beobachtung des Nichtbeobachtbaren.“¹⁰⁹ Aufgabe der Religion ist es, die von jeder Unterscheidung implizierte Differenz von beobachtbar/unbeobachtbar kommunikativ zu behandeln. Gott wird bestimmt als der transzendente Beobachter¹¹⁰ und zugleich als die Einheit von Beobachtetem und Beobachter, der als unbeobachtbarer Beobachter ohne „blinden Fleck“¹¹¹ beobachtet. „Sobald man aber annimmt, daß Gott alles beobachtet (ihm entgeht nichts) und er sich deshalb von allem unterscheiden muß, kann er in oder auch an der
A.a.O., 58; Hervorhebungen im Original. Ebd.; Hervorhebungen im Original. A.a.O., 59; Hervorhebungen im Original. Dies ist nach Kieserling (2000: Soziologie, 60 f) kein Spezifikum der Theologie: „Die Reflexionstheorien beschreiben sich selber normalerweise nicht als Theorie des Systems im System. Sie halten sich vielmehr für wissenschaftliche Disziplinen. […] [U]nd selbst die Theologen reden zuweilen so, als hätten sie bei aller Unerforschlichkeit ihres obersten Leitsymbols den Ehrgeiz, die Einheit der Offenbarung als Einheit einer wissenschaftlichen Disziplin zu behaupten.“ Dallmann (2000: Wortübernahmen, 243 f) kennzeichnet die „Trennung von Kirche und universitärer Theologie“ als ein „Grundproblem“ der Rezeption Luhmannscher Systemtheorie in der Theologie. Zu den beiden Entwicklungsphasen der Luhmannschen Religionstheorie vgl.Woiwode (1997: Religion) und Meireis (2004: Beobachten). Signifikant hierfür – neben dem Titel der Publikation selbst – die Überschrift des ersten Kapitels der „Funktion der Religion“ (Luhmann 1977: Funktion; Hervorhebung L.K.): „Die gesellschaftliche Funktion der Religion“. Vgl. Dallmann 1994: Systemtheorie, 156 ff. Meireis 2004: Beobachten, 178. – Signifikant ist auch hier die Überschrift des ersten Kapitels von „Die Religion der Gesellschaft“ (Luhmann 2000: Religion; Hervorhebung L.K.): „Die Sinnform Religion“. Luhmann 1997: Gesellschaft, 69: „Beobachten heißt einfach […]: Unterscheidung und Bezeichnen.“ – Zum systemtheoretischen Beobachtungsbegriff s.u. 3.1.1. Der „blinde Fleck“ steht bei Luhmann dafür, dass sich der Beobachter beim Beobachten nicht selbst beobachten kann. Der „blinde Fleck“ bezeichnet damit die „Unterscheidung, die er [der Beobachter, L.K.] jeweils verwendet, um die eine oder die andere Seite zu bezeichnen“; Luhmann 1997: Gesellschaft, 69 f.
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Welt nicht beobachtet werden“.¹¹² Wird dennoch versucht, Gott – also das, was sich nicht beobachten lässt – zu beobachten, so führen die differenztheoretischen Überlegungen zum Teufel als dem „ersten Beobachter des Beobachtens Gottes“:¹¹³ „[D]er Teufel ergibt sich aus dem Versuch, Gott zu beobachten.“¹¹⁴ Anders als andere gesellschaftliche Teilsysteme verfügt die Religion über kein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, d. h. über keine Struktur, die der Kommunikation Erfolgswahrscheinlichkeit sichert, indem sie Unwahrscheinlichkeit in Wahrscheinlichkeit transformiert. Zwar zeigt der Glaube einige Merkmale eines solchen Mediums auf, jedoch kann die Religion der Unterscheidung zwischen Handeln und Erleben nicht folgen. Ein funktionales Äquivalent mag in der besonderen Tendenz der Religion, Inklusion und Exklusion zu vollziehen, liegen. Das Herausfallen aus einem Funktionssystem zieht meist ein anderes nach sich: „keine Arbeit, kein Geld, kein Ausweis, keine Berechtigungen, keine Ausbildung, oft nicht die geringste Schulbildung, keine ausreichende medizinische Versorgung und mit all dem wieder: keinen Zugang zur Arbeit, keinen Zugang zur Wirtschaft, keine Aussicht, gegen die Polizei oder vor Gericht Recht zu bekommen.“¹¹⁵ Neben der Familie gilt jedoch v. a. für die Religion, dass sie an dieser „negativen Integration“, an der „Spirale nach unten“ nicht teilnimmt.¹¹⁶ Weder bedeutet die Exklusion aus anderen Teilsystemen die Exklusion aus der Religion noch führt die Exklusion aus der Religion zur Exklusion aus der Gesellschaft.
„Es dürfte unstrittig sein, daß das Theoriecluster der Systemtheorie Niklas Luhmanns zu den Großtheorien der Zeit gehört, die zu ignorieren für die Theologie nicht förderlich ist.“¹¹⁷ Luhmann hat der Theologie mit seinen Überlegungen zu denken gegeben. Und dennoch scheiden sich Jahrzehnte nach den ersten Debatten um und mit Luhmann an der Systemtheorie, ihren Voraussetzungen und Implikationen die theologischen Geister.¹¹⁸ Im Anschluss an Dallmann, der die theologische Rezeption Luhmannscher Theorie aufordnet, lässt sich zwischen einer Aufnahme mit systematisch-theologischen sowie kirchen- und religionstheoretischen Interesse unterscheiden.¹¹⁹ In-
Luhmann 2000: Religion, 163; Hervorhebungen im Original. A.a.O., 167. Luhmann 20053: Unterscheidung, 256. Luhmann 2000: Religion, 242. Vgl. a.a.O., 243. Thomas/Schüle, Vorwort zu: dies. 2006: Luhmann, IX. Zur Kritik an der Luhmannschen Theoriegestalt vgl. die in Anm. 89 genannten Publikationen sowie Schneider-Flume (1984: Theologie), Dallmann (1994: Systemtheorie, 179 ff), Starnitzke (1996: Diakonie, 145 ff), Dallmann (2000: Immanenz, 122 ff; 2000: Wortübernahmen, 243 ff), Lames (2000: Schulseelsorge, 156 ff) und Abraham (2004: Übernahme). Vgl. Dallmann 1994: Systemtheorie, 114. – Das facettenreiche Gespräch zwischen Theologie und Luhmanns Theorie wurde bereits mehrfach beschrieben. Insbesondere die frühe theologische Rezeption in den 1970er und 1980er Jahren ist umfassend erschlossen, systematisiert und klas-
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nerhalb der beiden Tendenzen bietet sich mit Schöfthaler die weitere Differenzierung in drei verschiedene Typen der Auseinandersetzung mit Luhmann an: „Ein erster, in der Anfangsphase der Diskussion vorherrschender Typ, vereinfacht Luhmanns Konzept und sucht es für theologische und kirchenpolitische Zwecke nutzbar zu machen. Ein zweiter Typ der Auseinandersetzung mit Luhmann läßt dessen Theorie als soziologische Analyse gelten, um sie durch theologische Elemente zu ‚ergänzen‘. In letzter Zeit finden sich jedoch vermehrt theologische Beitrage eines dritten Typs, die sich auf eine interdisziplinäre Diskussion einlassen.“¹²⁰ Die Theologie nimmt die Auseinandersetzung mit der Luhmannschen Theorie bereits Anfang der 1970er Jahre und damit noch vor dem Gesprächsangebot seitens Luhmanns und dem Erscheinen der „Funktion der Religion“ (1977) auf. Im Anschluss an die Luhmann-Habermas-Kontroverse¹²¹ ist die Rezeption unter kirchen- und religionstheoretischer Perspektive von dem Konzept einer funktionalen Kirchentheorie bestimmt und v. a. mit dem Namen Dahm verbunden.¹²² Während im Rahmen der kirchenpolitischen Diskussion, die vornehmlich von Hochschullehrern und Kirchenleitungen geführt wurde, die pragmatische und polemische Auseinandersetzung mit der Luhmannschen Theorie im Sinne des ersten Typus erfolgt, findet die Aufarbeitung einer soziologischen Position für die Kirchentheorie im Sinne des zweiten Typus statt. In den dazu vorgelegten Dissertationen¹²³ geht es zunächst um ein angemessenes Verständnis der Systemtheorie, um diese sodann der Kritik zu unterziehen. Dabei werden die Anfragen jedoch nicht aus theorieimmanenten Fragestellungen oder – wie es zu erwarten gewesen wäre – aus theologischer Perspektive entwickelt, sondern der Rückgriff erfolgt meist auf theorieexterne Kritikansätze, wie z. B. Habermas. Hatte Dahm die Diskussion stark beeinflusst, so finden die Entwürfe des zweiten Rezeptionsstils keinen nennenswerten Widerhall. Die systematisch-theologische Rezeption der Systemtheorie bietet mehr Veröffentlichungen als die kirchen- und religionstheoretisch orientierte und erfolgt zum größten Teil als Auseinandersetzung nach dem zweiten, aber auch dem sifiziert worden; neben Dallmann (1994: Systemtheorie, 114 ff; 2000: Immanenz; 2000: Wortübernahmen), an dem sich die folgende Darstellung orientiert, vgl. Schöfthaler (1983: Religion), Pollack (1988: Chiffrierung, 25 ff), Beyer (1996: Kontakt, 6 ff), Woiwode (1997: Religion, 16 ff), Lames (2000: Schulseelsorge, 147 ff) und Abraham (2004: Übernahme). Schöfthaler 1983: Religion, 148. Habermas/Luhmann 199010: Theorie. Dahm 1971: Beruf; s.u. 1.1.2.1. Dallmann (1994: Systemtheorie, 171 ff) geht auf die Qualifikationsarbeiten von Neu (1982: Religionssoziologie) und Höhn (1985: Kirche) sowie die Untersuchungen von Schöfthaler (1983: Religion) ein.
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dritten Typus. Eröffnet wird sie von einer Gruppe Systematischer Theologen aus München, die den Ansatz Luhmanns konstitutions- und subjektstheoretisch deuten und damit zu einer Theologisierung von Systemtheorie und Soziologie neigen. Trotz der Vielzahl an Veröffentlichungen kann nicht von einer „erfolgreichen“ Rezeption im Sinne von nachhaltigem Anschluss und Eingang in die theologische Diskussion gesprochen werden. Als „Münchner Gruppe“ lassen sich Pannenberg,¹²⁴ Herms,¹²⁵ F. Wagner¹²⁶ und Rendtorff ¹²⁷ zusammenfassen. Gemeinsam ist ihren Ansätzen, dass sie in der Luhmannschen Gesellschaftstheorie eine Bezugstheorie für ihr Programm einer Reformulierung der liberalen Theologie unter den Bedingungen der Moderne sehen. Pannenberg und Herms setzen sich in erster Linie mit dem Sinnbegriff auseinander, wobei sie Sinn als ontologisch konstituiert verstehen und damit die selbstreferentielle Pointe der Luhmannschen Theorie nicht berücksichtigen. Eng mit der Sinnfrage ist die Kritik von Pannenberg an der Beschränkung der Religion auf ein gesellschaftliches Teilsystem verbunden. Rendtorff und F. Wagner versuchen, die Theorie Luhmanns subjektivitätstheoretisch zu rekonstruieren – Komplexitätsreduktion erscheint sodann als Freiheit. Aufgrund der weiteren Theorieentwicklung Luhmanns, spätestens jedoch mit der Aufnahme des Autopoiesis-Konzepts, rücken die Münchner von der konstitutions- und subjektstheoretischen Deutung Luhmanns ab.
Nach der Publikation von „Funktion der Religion“ 1977 werden nur noch vereinzelte Debatten und zwei Dissertationen, die sich in größerem Umfang als bisherige Studien mit der Luhmannschen System- und Religionstheorie beschäftigen, veröffentlicht. Damit ebbt die erste Welle der theologischen Auseinandersetzung mit Luhmann zunächst ab. Wenig bis keine Beachtung finden in dieser Stagnationsphase auch die von dem Soziologen nach 1977 publizierten Artikel zu Fragen der Religion.¹²⁸ Mit der Dissertation „Freiheit als Indifferenz. Alteuropäische Probleme mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns“¹²⁹ von Scholz liegt 1982 die erste größere systematisch-theologische Untersuchung zur Systemtheorie Luhmanns vor. Im Unterschied zur „Münchner Gruppe“ erkennt Scholz die Abkehr der Luhmannschen Theorie von der Orientierung am Subjekt, hält jedoch aus theologischen Gründen gegen Luhmann an der Denkfigur des Subjekts fest. Um eine grundlegend theologische Diskussion mit den religionssoziologischen Arbeiten Luhmanns bemüht sich seit 1979 eine Gruppe evangelischer Theologen um Welker, der
Pannenberg 1973: Wissenschaftstheorie; ders. 1978: Religion. Herms 1974: Problem. Wagner 1975: Systemtheorie. Rendtorff 1975: Gesellschaft. Vgl. Beyer 1996: Kontakt, 17; Woiwode 1997: Religion, 13 f. Scholz 1982: Freiheit.
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1. Systemtheorie und Semiotik
1985 einen Sammelband herausgibt.¹³⁰ Allen Beiträgen ist gemeinsam, dass sie die Luhmannsche Religionssoziologie als „neue Aufhebung der Religion“¹³¹ beschreiben und von einer direkten Einflussnahme auf die Systematische und Praktische Theologie sowie die Kirchenleitung abraten. Die erste umfassende Gesamtdarstellung der Luhmannschen Religionssoziologie bietet die Dissertation des Theologen und Soziologen Pollack.¹³² Die analytisch-deskriptive Rekonstruktion der Luhmannschen Theoriegestalt nimmt das Dialogangebot des Soziologen ausdrücklich nicht an und konstatiert einen klaren Dissens zwischen Theologie und Systemtheorie.
Die Veröffentlichung des ersten Hauptwerkes „Soziale Systeme“ 1984 weitet in der Theologie allmählich den Blick von der Religionssoziologie auf die grundlagentheoretischen Überlegungen Luhmanns.¹³³ Doch erst Mitte der 1990er Jahre ist ein Wiederaufleben der theologischen Debatte um die Systemtheorie v. a. in Einzelstudien, die häufig als wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten entstehen, zu beobachten. V. a. im Sinne des dritten von Schöfthaler beschriebenen Typus’ fragt die neuere Rezeption in konstruktiv-kritischer Weise nach der Bedeutung einzelner Elemente der Systemtheorie für spezifisch theologische Themen und Problemstellungen. Hatten „[d]ie meisten der bisherigen Rezipienten […] bei ihrer Auseinandersetzung […] die Radikalität des Luhmannschen Abschieds vom alteuropäischen Subjekt übersehen (zunächst Herms, Wagner) bzw. sehen mit diesem Abschied gleichzeitig die Möglichkeit von Religion überhaupt gefährdet (Pannenberg, Scholz, Pollack)“,¹³⁴ so wird in den neueren Arbeiten vermehrt explizit auf die selbstreferentielle Pointe der Systemtheorie und den mit ihr verbundenen erkenntnistheoretischen Paradigmawechsel Bezug genommen. In diese Rezeptionsphase fällt auch die Veröffentlichung der bereits 1988 zugelassenen Dissertation von Dallmann, mit der die erste ausführliche und nachhaltige Darstellung der systematischen Aufarbeitung der theologischen Diskussion mit und über die Systemtheorie Luhmanns vorliegt.¹³⁵ Neuere, in der Auseinandersetzung mit der Luhmannschen Theoriegestalt entwickelte Konzepte Welker 1985: Theologie. Welker 1985: Vorwort, 14. Pollack 1988: Chiffrierung. – Die Dissertation wurde bereits 1984, also noch vor dem Erscheinen „Sozialer Systeme“, eingereicht. Eine stark veränderte Fassung, die nun teilweise auch auf das erste Hauptwerk Luhmanns Bezug nimmt, wurde 1988 publiziert. Das zweite Hauptwerk Luhmanns (1997: Gesellschaft) löste hingegen keinen bemerkenswerten Widerhall in der theologischen Rezeption aus. Woiwode 1997: Religion, 25. Dallmann (1994: Systemtheorie) berücksichtigt darin die Literatur bis 1986. In späteren Artikeln (2000: Wortübernahmen; 2000: Immanenz) schließt er inhaltlich an diese Untersuchung an und nimmt in Auswahl auch neuere Literatur auf.
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rezipieren nun ihrerseits – meist unkritisch – die systematisierende Darstellung Dallmanns und verorten sich damit in der umfangreichen Rezeptionsgeschichte. Angesichts der gegenwärtigen, in den verschiedenen theologischen Disziplinen zu beobachtenden Bezugnahmen auf die Luhmannsche Theorie ist die von Dallmann eingeführte Differenzierung der Rezeption nach zweierlei Interesse – systematisch-theologisch sowie kirchen- und religionstheoretisch – jedoch zu revidieren.¹³⁶ Zwar finden die meisten Auseinandersetzungen mit der Theorie sozialer Systeme weiterhin im Rahmen der Systematischen Theologie statt,¹³⁷ einem genuin kirchen- und religionstheoretischem Interesse lässt sich jedoch kaum mehr einer der neueren Entwürfe zuordnen – als Ausnahme kann hier der Ansatz von Hermelink, der sich insbesondere auf die frühe Veröffentlichung Luhmanns zur „Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen“¹³⁸ bezieht, gelten.¹³⁹ Für systematisch-theologische Fragestellungen finden sich außer in der Religionstheorie auch in der Medien- und Kommunikationstheorie Anknüpfungspunkte. In der Praktischen Theologie sind in einer Vielzahl an Publikationen klar konturierte und entwickelte Aneignungen der Systemtheorie erkennbar.¹⁴⁰ Auch in den philologisch-exegetischen Disziplinen sind Ansätze der konstruktiven Anregung durch Luhmann zu beobachten¹⁴¹ – die allerdings hinter der breiten Luhmann-Rezeption in den Literaturwissenschaften zurückbleiben.¹⁴² In der Kirchengeschichte liegt z. B. für die Alte Kirche der Versuch eines systemtheoretischen Zugangs vor.¹⁴³ Die theologische Ethik findet in der Luhmannschen Gesellschaftsanalyse sowie in der Verhältnisbestimmung von Kommunikation und Handlung Anschlüsse. Dabei hat sie sich mit der These, dass die Moral in der funktional differenzierten Gesellschaft zu Recht zunehmend marginalisiert wird, auseinanderzusetzen.¹⁴⁴
Auch die von Dallmann wiederholt hervorgehobene Beobachtung, dass sich an der Debatte um die Luhmannsche Theorie v. a. evangelische Theologen beteiligen,
Eine Zusammenstellung der neueren, systemtheoretisch orientierten Literatur in der Theologie bieten Thomas und Schüle (2006: Einleitung, 9 ff). Vgl. z. B. die Dominanz der systematisch-theologisch orientierten Beiträge in Thomas/Schüle 2006: Luhmann. Luhmann 1972: Organisierbarkeit. Hermelink/Wegner 2008: Paradoxien; Hermelink 2011: Kirchliche Organisation; s.u. 1.1.2.2. S.u. 1.1.2. Jürgens (1999: Anfang). Weitere Beiträge zum Neuen und Alten Testament bieten Starnitzke und Schüle in Thomas/Schüle 2006: Luhmann, 173 ff und 211 ff. Vgl. Thomas/Schüle 2006: Einleitung, 3. Hafner (2003: Selbstdefinition) sowie seinen Beitrag zur frühchristlichen Häresie in Thomas/ Schüle 2006: Luhmann, 189 ff. Vgl. die Beiträge von Dabrock und Dallmann in Thomas/Schüle 2006: Luhmann, 129 ff und 147 ff.
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während die Auseinandersetzung mit der Theorie von Habermas von Seiten der katholischen Theologie geführt wird,¹⁴⁵ ist im Unterschied zu den Anfängen der Rezeption auf die gegenwärtige Diskussionslage nicht mehr zutreffend.¹⁴⁶ Ob Luhmanns im Jahr 2000 postum erschienene „Religion der Gesellschaft“ zu einer verstärkten Konjunktur oder einem bemerkenswertem Wandel in der theologischen Aufnahme seiner Theorie führt, bleibt abzuwarten. Dass das Interesse der Hochschullehrer verschiedener theologischer Fachdisziplinen an der Auseinandersetzung mit der Luhmannschen Theorie erneut erwacht ist, dokumentiert ein 2006 erschienener Tagungsband¹⁴⁷ eines drei Jahre zuvor veranstalteten internationalen und interdisziplinären Forschungssymposiums. Anfang der 1990er Jahre legt erneut Welker, diesmal gemeinsam mit dem Rechtssoziologen Krawietz, in der Debatte um die Luhmann-Rezeption einen Sammelband „Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzung mit Luhmanns Hauptwerk“ vor.¹⁴⁸ Darin setzen sich Juristen, Soziologen, Theologen, Sozialethiker und Pädagogen kritisch mit der Theorie sozialer Systeme auseinander und befragen diese auf ihre Tragfähigkeit im Allgemeinen sowie im Blick auf die spezifischen Fachrichtungen im Besonderen. Auch dieser Band bleibt der Welkerschen Linie der Kritik an der Luhmannschen Theorie treu. Eine knappe Stellungnahme Luhmanns bildet den Abschluss des Sammelbands. Wendet man die Differenzierungskriterien Dallmanns auf dessen eigene Untersuchung an,¹⁴⁹ liegt mit ihr eine Arbeit mit systematisch-theologischem Interesse vor. Anhand der zentralen Aspekte Komplexität, doppelte Kontingenz, Selbstreferenz, Sinn sowie System und Umwelt expliziert Dallmann sein Verständnis der Luhmannschen Theorie als System-, Kommunikations-, Evolutions-, Religions- und Kirchentheorie. Über die Aufordnung der Rezeptionsgeschichte gelangt der Autor schließlich zu einer theorieimmanenten Kritik Luhmanns, die in einer theologischen Auseinandersetzung mit der Systemtheorie mündet. Leitend ist dabei folgende These: „N. Luhmanns Theorie in ihrer Fassung als Supertheorie steht […] in Konkurrenz zur Religion und somit zur Theologie, da sie sich wie auch Religion auf die Bestimmbarkeit der Welt bezieht.“¹⁵⁰ Den von Luhmann vorgeschlagenen „Kontakt über Theorie“¹⁵¹ versucht Beyer in seiner Dissertation.¹⁵² Er geht davon aus, dass die bisherige theologische Auseinandersetzung mit der Luhmannschen Theorie in eine „Sackgasse“¹⁵³ geführt hat. Anknüpfungspunkt für seine Studie ist deshalb nicht mehr die Theorie als solche, sondern bestimmte, durch sie formu-
Vgl. Dallmann 2000: Immanenz, 121; ders. 2000: Wortübernahmen, 229. Vgl. z. B. die Arbeiten der katholischen Theologen Lames (2000: Schulseelsorge) und Gronover (2006: Religionspädagogik); s.u. 1.1.2.4. Thomas/Schüle 2006: Luhmann. Krawietz/Welker 1992: Kritik. Dallmann 1994: Systemtheorie. A.a.O., 15. Luhmann 1977: Funktion, 8. Beyer 1996: Kontakt. A.a.O., 17.
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lierte Problemstellungen. In diesem Sinne werden drei exemplarische Themen (Kirche – Funktion und Organisation, Ethik und Individuum, Gott und Kommunikation) sowie zwei übergreifende Fragestellungen (Möglichkeit der Entdifferenzierung, Reflexionstheorie und Wissenschaft) behandelt. Ein solch pragmatischer Umgang mit der Systemtheorie, weist jener eine andere Stellung als bisher zu: „[S]ie ist nicht mehr primär Untersuchungsgegenstand, sondern Werkzeug.“¹⁵⁴ Woiwode setzt sich in seiner Untersuchung – noch vor dem Erscheinen von „Die Religion der Gesellschaft“ – mit der konstruktivistisch motivierten Hinwendung Luhmanns zum Beobachtungsbegriff und der dadurch notwendig gewordenen Neuformulierung seiner Religionstheorie auseinander.¹⁵⁵ Als Textgrundlage zieht er primär die Schriften Luhmanns nach dessen autopoietischer Wende heran und berücksichtigt somit die nach der „Funktion der Religion“ publizierten religionssoziologischen Beiträge. Mit den erkenntnistheoretischen Arbeiten des Soziologen ist besonders der Subjektbegriff problematisiert und eine subjektphilosophische Deutung der Theoriegestalt ausgeschlossen. Über die Darstellung des radikalen Konstruktivismus’ als epistemologische Ausgangsbasis der Luhmannschen Theorie und der Explikation der Systemtheorie anhand der zentralen Kategorien System-UmweltDifferenz, Autopoiesis, Kommunikation, Sinn, Subjekt, binäre Codierung gelangt die Studie zur Rekonstruktion der Religionstheorie Luhmanns. Stärker als bisherige theologische Studien geht Woiwode schließlich auf das Praxis-Verhältnis der Religionstheorie ein und schlägt vor, den religiösen Code Transzendenz/Immanenz durch Heil/Unheil zu ersetzen. Thomas reflektiert u. a. mit Bezug auf Luhmann das Massenmedium Fernsehen.¹⁵⁶ In einer religionssoziologischen Studie rekonstruiert Nickel-Schwäbisch Luhmanns letzte Darstellung des Religionssystems und setzt sich dabei eingehend mit dem systemtheoretischen Gottesverständnis auseinander.¹⁵⁷
Wie jede andere Disziplin, die sich auf die Auseinandersetzung mit der Systemtheorie Luhmanns einlässt, steht auch die Theologie vor dem prekären Balanceakt, ihren Weg zwischen „der Skylla willkürlicher Semantikanleihen und der Charybdis eines unvermittelten Theorieimports“¹⁵⁸ zu suchen. Ziel der Rezeption kann deshalb weder eine „Theologisierung“ der Soziologie noch eine „Soziologisierung“ der Theologie sein. Im Rahmen eines wechselseitigen Irritationsverhältnisses ist es Aufgabe der Theologie, unbestimmte Komplexität, vor der sie mit der Luhmannschen Theorie steht, durch Selektion in bestimmte Komplexität zu transformieren und mit ihren eigenen Fragestellungen in Relation zu setzen. Dabei ist die systemtheoretische Unterscheidung von Selbst- und Fremdbeschreibung der Religion nicht zu verwischen. In diesem Sinne geht es dann we-
A.a.O., 20. Woiwode 1997: Religion. Thomas 1998: Medien; s.u. 1.1.2.7. Nickel-Schwäbisch 2004: Gott; s.u. 1.1.2.6. Thomas/Schüle 2006: Einleitung, 2.
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niger um ein „richtiges“ Verständnis der Luhmannschen Theoriegestalt, als um eine „erfolgreiche“ Rezeption, ¹⁵⁹ die nicht beliebig, sondern theoretisch abgesichert sowie plausibel argumentierend die Systemtheorie pragmatisch als „Werkzeug“ ¹⁶⁰ für ihre spezifisch theologischen Problemstellungen gewinnbringend zu nutzen vermag.
1.1.2 Die Rezeption von Systemtheorie und systemischem Denken in der Praktischen Theologie „Unter allen theologischen Teildisziplinen ist es zweifellos die Praktische Theologie, in der die Beschäftigung mit Luhmann am weitesten vorangeschritten ist.“¹⁶¹ Angesichts dessen wundert es, dass bislang noch keine eingehende Durchsicht der einzelnen praktisch-theologischen Teildisziplinen hinsichtlich der Aufnahme Luhmannscher Theorie vorliegt.¹⁶² Dieses Desiderat soll im Folgenden eingelöst werden,¹⁶³ wobei im Blick auf den weiteren Verlauf der Untersuchung die jeweilige
Vgl. Schmidt 2000: Differenz, 20 und 23. Vgl. Beyer 1996: Kontakt, 20. Thomas/Schüle 2006: Einleitung, 8. Knappe Überblicke zur praktisch-theologischen Rezeption von Systemtheorie und systemischem Denken geben Pohl-Patalong (2001: Möglichkeitsräume) und Dinkel (2004: Systemtheorie). – Gerade in dem Band zu „Luhmann und die Theologie“ (Thomas/Schüle 2006: Luhmann), in dessen Einleitung die Herausgeber die breite Rezeption der Luhmannschen Theorie in der Praktischen Theologie konstatieren (Thomas/Schüle 2006: Einleitung, 8), hätte man mehr als nur einen Artikel zur Praktischen Theologie (Dinkel 2006: Face) erwartet. Stattdessen dominieren die sich mit systematisch-theologischen Fragestellungen auseinandersetzenden Beiträge. Darüber hinaus vermisst man in dem praktisch-theologischen Aufsatz von Dinkel die Berücksichtigung der auf Luhmann rekurrierenden Ansätze in Diakonik und Religionspädagogik, einen Hinweis auf systemische Modelle in der Kybernetik sowie die Benennung von Desideraten. Dies mag seinen Grund in der Fixierung Dinkels auf die Bedeutung der Interaktion für die Praktische Theologie haben. Die Rekonstruktion der praktisch-theologischen Rezeptions- und Forschungsgeschichte Luhmannscher Systemtheorie konzentriert sich auf die neueren Publikationen des deutschsprachigen Raums, die sich – gemäß des dritten von Schöfthaler (1983: Religion, 148; s. o. 1.1.1) beschriebenen Typus’ – in konstruktiv-kritischer Weise auf eine interdisziplinäre Diskussion mit Luhmann einlassen. Auf die Ansätze aus den 1980er Jahren, die Luhmanns Theorie in kirchenund religionstheoretischem Interesse rezipieren, kann im vorliegenden Zusammenhang nicht eingegangen werden; vgl. hierzu Dallmann 1994: Systemtheorie, 171 ff. – Die Berücksichtigung nicht-deutschsprachiger Literatur, insbesondere in der Poimenik, würde den Rahmen dieser Untersuchung ebenfalls sprengen. Zur nordamerikanischen Literatur in der systemischen Seelsorge vgl. die Publikationen von Morgenthaler; s.u. Literaturverzeichnis.
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Rezeptionsperspektive im Fokus steht, um mögliche Anschlüsse für die Poimenik auszuloten. Dabei lässt sich die kritische Aufordnung der einschlägigen, systemtheoretisch bzw. systemisch orientieren Publikationen nicht auf den Luhmannschen Ansatz beschränken. Denn gerade in der Praktischen Theologie fällt auf, dass über die Systemtheorie hinaus vielfältiges systemisches Gedankengut rezipiert wird. Daher ist zwischen der Aufnahme von Systemtheorie – die meistens als soziologische Theoriegrundlage nach Luhmann rezipiert wird – und systemischem Denken zu unterscheiden. ¹⁶⁴ Doch ebenso wie „Systemtheorie“ „heute ein Sammelbegriff für sehr verschiedene Bedeutungen und sehr verschiedene Analyseebenen“¹⁶⁵ ist, zeigt sich eine „babylonische Bedeutungsvielfalt“¹⁶⁶ des Terminus „systemisch“. Ursprünglich in der Biologie und Medizin geprägt, in welchen „systemisch“ „auf einen ganzheitlichen Wirkungszusammenhang bezogen“¹⁶⁷ bedeutet, wird der Begriff bald auch auf Bereiche der Psychologie¹⁶⁸ und Soziologie übertragen und seine Anwendung auf die gesamte Systemtheorie ausgedehnt: „‚Systemisch‘ heißt nun allgemein ‚auf ein ganzheitliches System bezogen‘“.¹⁶⁹ Mit „systemischem Denken“ ist ein Denken in Relationen bezeichnet, das sich aus einem oft nicht mehr näher zu spezifizierenden Konglomerat verschiedenster system-, erkenntnis- und chaostheoretischer Ansätze sowie diffuser Bezugnahmen auf undifferenzierte Ganzheitsund Systemkonzepte speist. Die Luhmannsche Systemtheorie stellt mithin eine der Theoriequellen, auf die sich systemisches Denken bezieht. Rekurrieren praktischtheologische Konzepte auf systemisches Denken, so hat dies neben komplexen Rezeptionslinien nicht selten auch terminologische sowie theoretische Unschärfen zur Konsequenz. In den meisten praktisch-theologischen Ansätzen ist jedoch ein klar konturierter Rückgriff auf die Luhmannsche Systemtheorie zu beobachten. In der Poimenik hingegen präsentieren sich die Konzepte systemischer Seelsorge hinsichtlich ihrer Rezeptionslinien wesentlich vielschichtiger als in den übrigen praktisch-theologischen Teildisziplinen.¹⁷⁰
Auf dieses terminologische Problem weist bereits Pohl-Patalong (2001: Möglichkeitsräume) hin. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 15. VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 49. Jensen 1999: Erkenntnis, 406. Zur systemischen Therapie, die sich als „Umsetzung systemischen Denkens in die Praxis der Hilfestellung bei leidvollen Lebensproblemen“ (Ludewig 2000: Systemische Therapie, 230 f; Hervorhebung im Original) versteht, s.u. 1.1.3.1. Jensen 1999: Erkenntnis, 406. S.u. 1.1.3.
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Um terminologisch konsistent zu bleiben, wird im Folgenden der Begriff systemisch im Zusammenhang mit einem theoretisch nicht mehr näher zu spezifizierenden systemischen Denken verwendet, während die Termini systemtheoretisch und Systemtheorie zur Bezeichnung eines definierten Ansatzes – im vorliegenden Zusammenhang der Theorie Luhmanns – gebraucht werden. In der Praktischen Theologie liegen nicht nur die meisten systemtheoretischen und systemischen Bezugnahmen innerhalb der Theologie insgesamt vor, sondern hier fanden auch die ersten theologischen Zugriffe auf die Luhmannsche Theorie überhaupt statt. Im Anschluss an die literarische Luhmann-HabermasKontroverse¹⁷¹ ist Dahm 1971 der erster Theologe überhaupt, der mit seiner funktionalen Kirchentheorie beansprucht, die Systemtheorie Luhmanns zu rezipieren.¹⁷² Nach dem Erscheinen von Luhmanns „Sozialen Systemen“ (1984) kommt es in nahezu allen praktisch-theologischen Teildisziplinen zu einer breiten Aufnahme von Systemtheorie und systemischem Denken. Dabei wird die Luhmannsche Systemtheorie v. a. als „Beobachtungsinstrumentarium zur Analyse der Funktion der Rel[igion] in der modernen Gesellschaft in Anspruch genommen“.¹⁷³ Linder¹⁷⁴ und Breitenbach¹⁷⁵ erschließen 1994 systemisches Denken für die Kybernetik. Zeitgleich plädiert Morgenthaler in einem Artikel erstmals für die Übernahme einer familiendynamischen Sicht in die Seelsorge.¹⁷⁶ Starnitzke betrachtet 1996 die „Diakonie als soziales System“,¹⁷⁷ und Karle kritisiert ausgehend von der Luhmannschen Soziologie die psychoanalytisch orientierte Seelsorge.¹⁷⁸ Die erste Monographie zu einer systemisch orientierten Seelsorge erscheint 1998 von Held,¹⁷⁹ ein Jahr später publiziert Morgenthaler seine in der Folgezeit viel zitierte „Systemische Seelsorge“.¹⁸⁰ Im Jahr 2000 nimmt Lames mit seiner Arbeit zur Schulseelsorge erstmals systemtheoretische Einsichten in die Religionspädagogik auf.¹⁸¹ Zeitgleich legt Dinkel eine funktionale Theorie des Gottesdienstes vor,¹⁸² und 2001 greift Karle in wesentlich differenzierterer Weise als dreißig Jahre
Habermas/Luhmann 199010: Theorie. Dahm 1971: Beruf. Dinkel 2004: Systemtheorie, 2026. Lindner 1994: Kirche; vgl. auch die völlig überarbeitete Neuauflage (ders. 20002: Kirche). Breitenbach 1994: Gemeinde. Morgenthaler 1994: Trauer. Starnitzke 1996: Diakonie. Karle 1996: Seelsorge. Held 1998: Praxis. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge. Lames 2000: Schulseelsorge. Dinkel 2000: Gottesdienst.
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zuvor Dahm die Systemtheorie Luhmanns erneut in der Pastoraltheologie auf.¹⁸³ Vor dem Hintergrund der letzten religionstheoretischen Darstellung Luhmanns in „Die Religion der Gesellschaft“ (2000) konstruiert Nickel-Schwäbisch 2004 im religionssoziologischen Zusammenhang die Gottesrede in der modernen Gesellschaft.¹⁸⁴ Die folgende Darstellung systemisch und systemtheoretisch orientierter Ansätze der Praktischen Theologie (1.1.2.1– 1.1.2.6) erfolgt weitestgehend chronologisch und ist nach den praktisch-theologischen Teildisziplinen angeordnet. Die Durchsicht der Poimenik erfolgt in einem eigenen Abschnitt (1.1.3). Ein Fazit fasst den Gewinn bisheriger Bezugnahmen auf die Luhmannsche Systemtheorie für die Praktische Theologie zusammen und zeigt sowohl Rezeptionsmuster als auch Desiderate auf (1.1.2.7). „Wieweit systemisches Denken bislang Eingang in die kirchliche Praxis gefunden hat, ist [im Unterschied zur Rezeption in der Praktischen Theologie, L.K.] wesentlich schwerer zu beurteilen“¹⁸⁵ – so Pohl-Patalong. Zwar steht in der vorliegenden Untersuchung nicht primär die kirchliche Praxis im Fokus, doch sind die poimenischen Überlegungen immer wieder mit der Frage verbunden, was diese für die seelsorgliche Praxis austragen.¹⁸⁶ Insofern geht es auch um eine grundsätzliche Reflexion des Verhältnisses von Theorie und Praxis in der Praktischen Theologie. „Praktische Theologie ist nicht die Praxis, sondern die Theorie der Praxis“¹⁸⁷ – so definiert Schleiermacher die neue Disziplin. Praktische Theologie macht sich die (religiöse) „Praxis“ zum Gegenstand ihrer Reflexion und konstituiert sich als „eigenständige Theorie einer ebenso eigenständigen Praxis“:¹⁸⁸ „Theologie ist Theorie der religiösen Praxis und als solche zugleich auf Praxis bezogen wie von ihr distinguiert.“¹⁸⁹ Dabei steht die Praktische Theologie vor der Aufgabe, diese „Praxis“ überhaupt erst konstruieren zu müssen: „Ebensowenig wie die religiöse Praxis bloß Ausläufer einer theologischen Theorie sein kann, stellt die Theologie einen bloßen Reflex vorfindlicher Praxis dar; das eine ist überhaupt nicht ohne das andere da.“¹⁹⁰
Karle 2001: Pfarrberuf. Nickel-Schwäbisch 2004: Gott. Pohl-Patalong 2001: Möglichkeitsräume, 145. – Pohl-Patalong (a.a.O., 145 f) zeigt einige Perspektiven für die Praxis auf. – „Systemische Praxis in der Kirche“ dokumentieren auch die in dem gleichnamigen Band (Held/Gerber 2003: Praxis) zusammengestellten Beiträge, von welchen allerdings die meisten nicht auf die Luhmannsche Systemtheorie, sondern auf systemisches Denken rekurrieren. S.u. 4. Schleiermacher 1850: Praktische Theologie, 12. Laube 2000: Kommunikation, 113. – Die folgenden Überlegungen orientieren sich u. a. an Laube (a.a.O., 113 ff). Drehsen 1988: Konstitutionsbedingungen, 86. A.a.O., 87 f.
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Im Folgenden wird Praktische Theologie als Reflexion christlicher Praxis¹⁹¹ verstanden – ähnlich der Definition von Meyer-Blanck: „Praktische Theologie ist Hermeneutik christlicher Praxis. […] Sie reflektiert die christliche Praxis im Hinblick auf neues theologisches Verstehen und auf verändertes kirchliches Handeln.“¹⁹² Theorie und Praxis stehen in einem zirkulären Wechselverhältnis, sie sind – im Anschluss an differenztheoretische Begrifflichkeiten – als zwei, einander ausschließende, sich jedoch bedingende Seiten einer Form zu beschreiben:¹⁹³ „Formen sind danach [nach Spencer Brown 1979: Laws; L.K.] nicht länger als (mehr oder weniger schöne) Gestalten zu sehen, sondern als Grenzlinien, als Markierungen einer Differenz, die dazu zwingt, klarzustellen, welche Seite man bezeichnet, das heißt: auf welcher Seite der Form man sich befindet und wo man dementsprechend für weitere Operationen anzusetzen hat. Die andere Seite der Grenzlinie (der ‚Form‘) ist gleichzeitig mitgegeben. Jede Seite der Form ist die andere Seite der anderen Seite. Keine Seite ist etwas für sich selbst. Man aktualisiert sie nur dadurch, daß man sie, und nicht die andere, bezeichnet.“¹⁹⁴ Die Zwei-Seiten-Form Theorie/Praxis zwingt die Praktische Theologie als „Theorie der Praxis“ (Schleiermacher) dazu, sich auf der Seite der Theorie zu verorten. Insofern ist einsichtig, dass es keine lineare Anwendung von theoretischen Einsichten in der Praxis geben kann – ebenso wie sich die Praktische Theologie „nicht als Ansammlung bloßer Praxisregeln“¹⁹⁵ versteht. Vielmehr stehen Theorie und Praxis in einem wechselseitigen Beobachtungsverhältnis, das zirkulär die Grenzen des Möglichen auslotet und damit für die jeweils andere Seite der Form als Rahmung fungiert: Die christliche Praxis nötigt die Praktische Theologie zur Theoriebildung, die praktisch-theologische Theoriebildung schafft der kirchlich-christlichen Praxis Spielräume, die wiederum durch Praxisvollzüge kritisiert werden usf. Beim Kreuzen (crossing) von der einen zur anderen Seite der Form wird eine Bezeichnung daher nicht wiederholt, sondern die Transformation theoretischer Einsichten in praktische Zusammenhänge – und umgekehrt von Praxisregeln in die Theoriebildung – ist ein kreativer Prozess, der Zeit in Anspruch nimmt.¹⁹⁶ Die praktisch-theologischen Teildisziplinen sind damit als theoretische Konstrukte zur Beobachtung christlicher Praxis bzw. pastoraler Kommunikationsfelder aufzufassen. Erprobt die vorliegende Untersuchung eine systemtheoretisch-semiotische Perspektive der Poimenik, so eröffnen sich für die seelsorgliche Praxis neue Sichtweisen und Handlungsoptionen.
Praktische Theologie als Theorie religiöser Praxis zu bestimmen, fasst den praktisch-theologischen Gegenstandsbereich zu weit und greift in den Zuständigkeitsbereich der Religionswissenschaft bzw. Religionssoziologie aus. Dies schließt jedoch nicht aus, dass in der Praktischen Theologie auf religionswissenschaftliche und religionssoziologische Einsichten rekurriert werden kann. – Praktische Theologie als Theorie kirchlicher Praxis aufzufassen, bestimmt den Gegenstandsbereich hingegen zu eng. Meyer-Blanck/Weyel 2008: Studien- und Arbeitsbuch, 47; im Original hervorgehoben. Ähnlich weist bereits Emlein (1995: Metaphorik, 31) auf den „zirkulären Zusammenhang“ von Theorie und Praxis als zwei Seiten einer Form hin. Luhmann 1997: Gesellschaft, 60 f. Meyer-Blanck/Weyel 1999: Arbeitsbuch, 13; Hervorhebung im Original. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 61: „Kreuzen ist kreativ. Denn während die Wiederholung einer Bezeichnung nur deren Identität bestätigt (und wir werden später sagen: deren Sinn in verschiedenen Situationen testet und damit kondensiert), ist das Hin- und Herkreuzen keine Wiederholung und kann daher auch nicht zu einer einzigen Identität zusammengezogen werden.“
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1.1.2.1 Pastoraltheologie: Funktionale Kirchentheorie und Profession Als Dahm 1971 im Kontext der gesellschaftspolitischen Umbrüche der 1960er und 1970er Jahre eine funktionale Kirchentheorie entwickelt, ist er einer der ersten Theologen überhaupt, die im Kontext der sog. empirischen Wende¹⁹⁷ die soziologische Theorie Luhmanns rezipieren.¹⁹⁸ Den Funktionsbegriff gebraucht Dahm dabei auf zweierlei Weise: Einmal soll zum Ausdruck gebracht werden, dass kirchliches Handeln in den Zusammenhang gesellschaftlicher Bedingungen, Folgen und Wirkungen zu stellen und nicht isoliert zu betrachten ist. Zum anderen bezeichnet Funktion im alltagssprachlichen Sinne einen „Spezialfall von ‚Aufgaben‘, als mit dem Wort die verantwortliche Teilnahme eines Trägers an der Erfüllung der Aufgabe und damit zugleich die Verflechtung dieses Trägers in andere gesellschaftliche Bindungen zum Ausdruck gebracht wird.“¹⁹⁹ Die funktionale Theorie des kirchlichen Handelns ist dabei eng mit einer pastoralsoziologischen Fragestellung verbunden: „Die Frage nach der Funktion ist gleichbedeutend mit der Frage nach dem Zugang zur kirchlichen, insbesondere der pfarramtlichen Praxis.“²⁰⁰ Dahm beschreibt mit dem Funktionsbereich des „Lehrens“ (Funktionsbereich A) und dem Funktionsbereich des „Helfens“ (Funktionsbereich B) die zwei Hauptbereiche kirchlicher Zuständigkeit.²⁰¹ Quer zu dieser Bestimmung unterscheidet Dahm zwischen einem mehr sozialen und einem mehr individualen Aspekt der Religion.²⁰² Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint, versteht Dahm sich selbst als Rezipient Luhmannscher Theorie,²⁰³ geht mit dieser jedoch weitgehend selektiv um.Während sich seine Publikationen vor 1972 lediglich auf die Übernahme Luhmannscher Terminologie beschränken, versucht Dahm später diesem Defizit nachzukommen, indem er v. a. auf die Kategorien „Sinn“, „Komplexität“ und
Der Aufsatz von Wegenast „Die empirische Wendung in der Religionspädagogik“ aus dem Jahr 1968 wirkte sich auf die Namensgebung einer ganzen Epoche der deutschen Praktischen Theologie aus; vgl. Meyer-Blanck/Weyel 2008: Studien- und Arbeitsbuch, 52 f. Dahm 1971: Beruf. Zur Darstellung des Dahmschen Ansatzes vgl. Dallmann 1994: Systemtheorie, 157 ff. – Zum gesellschaftspolitischen Kontext der Dahmschen Theorie vgl. Dallmann 1994: Systemtheorie, 163: „Gerade unter den ‚linken‘ Pfarrern und Theologen erfreute sich die funktionalistische Kirchentheorie großer Beliebtheit. Für viele, die aus der ‚68-er Generation‘ stammen, war die Begegnung mit der Theorie K.-W. Dahms das theoretische Erlebnis, das es ihnen ermöglichte, trotz vieler Bedenken im System Volkskirche auszuharren und einen Sinn ihrer Tätigkeit zu entdecken.“ Dahm 1971: Beruf, 101. Dallmann 1994: Systemtheorie, 158. Vgl. Dahm 1971: Beruf, 116 ff. Vgl. a.a.O., 293 ff. Vgl. Dallmann 1994: Systemtheorie, 160.
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„Funktion“ rekurriert. Allerdings füllt er diese Termini inhaltlich ganz anders als Luhmann.²⁰⁴ Dallmann sieht „im Dahmschen Ansatz den eigenwilligen Versuch, bei loser Anbindung an N. Luhmann, eine eigene, funktionale Kirchen- und Religionssoziologie zu entwickeln. Dieser Versuch ist eklektizistisch angelegt und letztlich gescheitert.“²⁰⁵ Dessen ungeachtet fanden Dahms Arbeiten anfangs beinahe mehr Aufmerksamkeit als die Publikationen von Luhmann selbst.V. a. im Umfeld der ersten EKD-Mitgliederbefragung „Wie stabil ist die Kirche?“ von 1972 ist eine Anlehnung an Dahm zu beobachten.²⁰⁶ Auf der anderen Seite wendet sich eine ganze Reihe polemisch-kritischer Veröffentlichungen gegen den Dahmschen Ansatz und damit gegen die Theorie Luhmanns als dessen Bezugspunkt.²⁰⁷ Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit der Theorie Luhmanns vermisst man sowohl in den Veröffentlichungen Dahms als auch in den literarischen Reaktionen auf dessen funktionale Kirchentheorie. Stattdessen bewegen sich die Publikationen auf Ebene des ersten von Schöfthaler skizzierten Typus’ der Rezeption Luhmannscher Theorie.²⁰⁸ Neben dem pastoralsoziologischen Ansatz Dahms war die Pastoraltheologie seit den 1970er Jahren durch das pastoralpsychologische Konzept von Riess bestimmt.²⁰⁹ In der Folgezeit geriet die Pastoraltheologie immer mehr aus dem Blickfeld der Praktischen Theologie. Man entdeckte die einzelnen praktischtheologischen Teildisziplinen als sog. Handlungsfelder und konzentrierte sich auf deren Rekonstruktion aus humanwissenschaftlicher Perspektive. In den 1980er ist dann eine erneute Zuwendung zur Pastoraltheologie zu beobachten. ²¹⁰
Vgl. a.a.O., 161 ff. – Vgl. bspw. den Dahmschen Gebrauch des Sinnbegriffs (a.a.O., 161): „K.-W. Dahm nimmt wohl an, daß N. Luhmann Sinn in dem bei Theologen üblichen Gebrauch verwendet. Es bleibt zu fragen, ob es K.-W. Dahm überhaupt aufgefallen ist, daß er,wenn er über Sinn schreibt, etwas ganz anderes meint als N. Luhmann.“ Dallmann 1994: Systemtheorie, 163. Vgl. Hild 1974: Kirche. Vgl. Dallmann 1994: Systemtheorie, 167 f. S.o. 1.1.1. Riess 1974: Perspektiven; vgl. Meyer-Blanck/Weyel 1999: Arbeitsbuch, 60. Vgl. Meyer-Blanck/Weyel 2008: Studien- und Arbeitsbuch, 65 ff: 1982 erscheint von Josuttis „Der Pfarrer ist anders. Aspekte einer zeitgenössischen Pastoraltheologie“, 1996 ebenfalls von Josuttis „Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität“ und 1998 publiziert Grözinger „Die Kirche – ist sie noch zu retten? Anstiftungen für das Christentum in postmoderner Gesellschaft“.
1.1 Systemtheorie und systemisches Denken
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Doch erst 2001 greift Karle in ihrer Habilitationsschrift „Der Pfarrberuf als Profession“ die Systemtheorie für die Pastoraltheologie wieder auf.²¹¹ Luhmann dient hierbei in wesentlich differenzierterer Weise als dreißig Jahre zuvor Dahm als Gewährsmann ihrer soziologischen Methodik: Die Arbeit orientiert sich an der auf Luhmann basierenden Professionstheorie von Stichweh²¹², der Gesellschaftsund Kommunikationstheorie von Luhmann und dem Ansatz von Goffman²¹³. Anders als die bisherige Pastoraltheologie, die sich am Subjekt oder der Persönlichkeit des Pfarrers ausrichtet, geht Karle „von der sozialen Situation des Pfarrberufs im Kontext der modernen Gesellschaft“²¹⁴ aus und schließt insofern an Dahm an, als sich dieser ebenfalls „um eine gesellschaftstheoretische Verortung des Pfarramts bemüht.“²¹⁵ Bei der professionstheoretischen Bestimmung des sozialen Orts des Pfarrberufs erhebt Karle den Anspruch, im Anschluss an Luther und Schleiermacher die spezifische Problematik pastoral-professionellen Handelns in der Kirche zu erfassen. Folgt man Karle, so kann Schleiermacher, an dessen Wissenschaftsverständnis und pastorale Berufstheorie die Studie anschließt, als einer der ersten Sozialtheoretiker der Moderne gelten, der die Konsequenzen der funktionalen Differenzierung für Kirche und Theologie reflektiert.²¹⁶ Ausgehend von der professionstheoretischen Beschreibung des Pfarrberufs reformuliert die Autorin „spezifisch reformatorische Anliegen unter den Bedingungen der Moderne“.²¹⁷ Für die Poimenik zeigen sich in erster Linie Karles Ausführungen zur Interaktion sowie die Überlegungen zur Interaktionsabhängigkeit von Religion anschlussfähig.²¹⁸ Außerdem bietet es sich an, die professionstheoretischen Überlegungen für die Poimenik nutzbar zu machen, wie dies von ihr bereits geschehen ist. ²¹⁹
Karle 2001: Pfarrberuf; vgl. auch dies. 2000: Kompetenz. – Zuvor machte Karle (1996: Seelsorge) die systemtheoretische Perspektive für die Poimenik nutzbar; s.u. 1.1.3.2. Stichweh 1994: Wissenschaft. Goffman 1971: Interaktionsrituale. Karle 2001: Pfarrberuf, 22; Hervorhebung im Original. A.a.O., 22 Anm. 64; vgl. a.a.O., 247 ff. Vgl. a.a.O., 23; im Anschluss an Oberdorfer. A.a.O., 27; Hervorhebung im Original; vgl. a.a.O., 137 ff. Die Interaktion stellt nach Stichweh eine der Bezugsgrößen der Profession dar. Der Professionssoziologe definiert die zentrale Funktion der Professionen – Theologen, Mediziner, Juristen und Lehrer – durch die Vermittlung von kulturell relevanten Sachthematiken in der persönlichen Begegnung mit anderen Menschen; vgl. Karle (1999b: Seelsorge, 41; 2001: Pfarrberuf, 59 ff). – Zur Bedeutung der Interaktion für die religiöse Kommunikation vgl. auch Dinkel (2000: Gottesdienst, 114 ff); s.u. 1.1.2.5. Karle 1999b: Seelsorge.
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1.1.2.2 Kirchentheorie: Kybernetik 1. Ordnung versus Kybernetik 2. Ordnung Publikationen, die systemisches Denken aufnehmen, erscheinen zunächst in der praktisch-theologischen Diskussion um die Gemeinde- und Kirchentheorie, was aufgrund der begrifflichen Koinzidenz mit der kybernetischen Systemtheorie plausibel erscheint. So formuliert Breitenbach 1994: „Wer den Begriff Kybernetik heute praktisch-theologisch wieder aufnehmen will, kann dies nicht tun, ohne sich mit dem heutigen naturwissenschaftlichen, insbesondere aber mit dem sozialwissenschaftlichen Verständnis von Steuerungsprozessen in Systemen auseinanderzusetzen und nach ihrer Bedeutung für das theologische Verständnis von Kybernetik zu fragen. Hinweise auf die interessante Namensgleichheit zwischen den unterschiedlichen ‚Steuermannskünsten‘ genügen nicht.“²²⁰ Der von Breitenbach in Anschlag gebrachte Terminus der „Steuermannskunst“, auf den sich praktisch-theologische Kybernetik zu beziehen hat, wurde 1948 von Wiener geprägt.²²¹ Die Transliteration des Griechischen κυβερνητική bezeichnete das von dem Mathematiker neu erschlossene Wissenschaftsgebiet der „Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine“.²²² Von besonderem Interesse für die Kybernetik sind „solche Systeme, die sich durch Rückkopplungsprozesse selbst regulieren oder organisieren können.“²²³ Zunächst in der Technik angewandt, wurden grundlegende Konzepte der Kybernetik bald auf andere wissenschaftliche Disziplinen übertragen,was „den neuen Begriff publik, aber auch modisch unscharf“²²⁴ macht. In den 1960er und 1970er Jahren wurde die Kybernetik weitgehend den Sozialwissenschaften zugeordnet. Mitte der 1970er unterscheidet vonFoerster die sich in erster Linie auf beobachtete Systeme beziehende Kybernetik als „Kybernetik 1. Ordnung“ von einer „Kybernetik 2. Ordnung“, bei der die Kybernetik auf sich selbst angewandt wird.²²⁵ Verstand man im Rahmen der „Kybernetik 1. Ordnung“ Systeme als seinsförmige Einheiten, die von einem äußeren Beobachter erkannt und verändert werden können, so werden nun der Beobachter und seine Erkenntnismöglichkeiten als Teil des Kontextes, den er beobachtet, mitkonzeptualisiert. Konsequenz ist, dass Systeme nicht mehr als objektiv erkennbare Dinge, sondern als Konstrukte des Beobachters beschrieben werden. Mit der Einsicht, dass Wirklichkeit erst durch den Akt der Beobachtung konstruiert wird, stehen die seit den 1980er entwickelten Theorien über den ein System beobachtenden Beobachter in engem Bezug zu dem erkenntnistheoretischen Programm des radikalen Konstruktivismus.²²⁶
Breitenbach 1994: Gemeinde, 40. Wiener 1963: Kybernetik. Schröer 1990: Kybernetik, 356. Herzfeld 2001: Kybernetik, 1913. – Ein rückgekoppelter Regelkreis ist z. B. ein Heizungsthermostat. Schröer 1990: Kybernetik, 357. Vgl. vonFoerster 1995: Cybernetics. Vgl. Böse/Schiepek 19942: Systemische Theorie, 103. – Bisweilen wird die Phase der Systemtheorie von 1950 bis 1980 als „Kybernetik 1. Ordnung“, die Zeit ab 1980 als „Kybernetik 2. Ordnung“ oder „Kybernetik der Kybernetik“ bezeichnet; vgl. vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 53.
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Die theologische Tradition des Kybernetikbegriffs ist allerdings älter als die naturwissenschaftliche Begriffsbildung. In Anlehnung an 1. Kor 12,28, wo Paulus κυβέρνησις im Sinne von Fähigkeiten zur Gemeindeleitung verwendet, fand der Begriff wohl zuerst 1876 bei Zezschwitz Eingang in die Praktische Theologie: „Darum benennen wir die Disziplin, die dieser Lebensfunction (Regiment der Kirche nach ihrem Socialleben) entspricht, gemäss der für diese Leitung bes. verheissenen Gabe (I.Cor 12,28): K[ybernetik].“²²⁷ Trotz der wiederholten Aufnahme des Kybernetikbegriffs in der Praktischen Theologie, setzte sich die Bezeichnung nicht durch. 1968 führt Seitz im Zusammenhang der Theorien zum Gemeindeaufbau den Kybernetikbegriff „geradezu klassisch unbefangen“²²⁸ wieder in die praktischtheologische Diskussion ein: „‚Kybernetik‘ wird in der Praktischen Theologie die Wissenschaft vom Gemeindeaufbau genannt.“²²⁹ Die ehemalige Reduktion des Begriffs auf die Lehre von Kirchenrecht und Kirchenleitung ist damit überwunden. Auch organisationstheoretische Perspektiven auf Gemeinde- und Kirchenverständnis sind deutlich älter als systemtheoretische Entwürfe und bereits im Kirchenverständnis Schleiermachers zu finden.²³⁰ Als Ende der 1960er Jahre die frühen Untersuchungen Luhmanns zur Kirche vorliegen,²³¹ entstehen die ersten praktisch-theologischen Publikationen, die auf System- und Organisationstheorie Bezug nehmen.²³² Die erste Mitgliederbefragung der EKD „Wie stabil ist die Kirche?“ (1972) versteht ihren Ansatz als „systemtheoretischen“ und bezeichnet Kirche als „soziales System“.²³³ Auch wenn verschiedene Konzeptionen in der Folgezeit eher systemkritisch ansetzen, sind die Begriffe wie „System“ und „Organisation“ seit den 1970er Jahren in der kybernetischen Diskussion der Praktischen Theologie nie ganz verschwunden.²³⁴
Es sind kybernetische, systemtheoretische und organisationstheoretische Modelle, die in die Kirchentheorie Eingang finden. Um den „unübersehbaren Strom systemtheoretischen Denkens und Argumentierens“²³⁵ der praktisch-theologischen Kybernetik bewältigen zu können, konzentriert sich die folgende Darstellung auf die wesentlichen, für die gegenwärtige Diskussion relevanten Publikationen. Diese wurden bisher von evangelischen Theologen vorgelegt und haben v. a. die Situation der alten Bundesländer im Blick.²³⁶
Zezschwitz 1876: System, 147. Schröer 1990: Kybernetik, 357. Seitz 19912: Erneuerung, 49. Vgl. Roosen 1997: Kirchengemeinde, 13. Luhmann 1972: Organisierbarkeit; ders. 1972: Religion. Z. B. Dahm (1971: Beruf); s.o. 1.1.2.1. – Einen Überblick über die frühe, systemtheoretisch orientierte Literatur gibt Roosen 1997: Kirchengemeinde, 12. Vgl. Hild 1974: Kirche, 1 und 4. Vgl. Roosen 1997: Kirchengemeinde, 12 ff. A.a.O., 13. Vgl. a.a.O., 14 f. – Unmittelbar erhellend ist in diesem Zusammenhang auch die handschriftliche Randnotizen, die in dem Exemplar der Gemeindetheorie Breitenbachs der Universitätsbibliothek Rostock zu Breitenbachs Einschätzung (1994: Gemeinde, 16) finden ist: „Das Mit-
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Die zeitgleich veröffentlichten Arbeiten von Lindner²³⁷ und Breitenbach²³⁸ sind im Umfeld der evangelisch-lutherischen Gemeindeakademie der bayerischen Landeskirche in Rummelsberg entstanden und weisen daher einige inhaltliche Parallelen auf. Bei der Analyse der ecclesia visibilis orientieren sich beide Entwürfe an einem volkskirchlichen Ansatz und lassen in ihre Überlegungen allgemein systemisches Gedankengut einfließen. Lindner nimmt in seiner Habilitationsschrift die Herausforderung der im Wandel begriffenen Volkskirche auf und verifiziert seine These, dass Gemeinde und Kirche als soziale Organisationen betrachtet werden können.²³⁹ Vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Deutung von Beck²⁴⁰ v. a. aber der Übertragung systemischer Sichtweisen auf die Ekklesiologie entwickelt der Autor sein Programm der konziliaren Gemeindeleitung. Allein mit systemischem „Denken in Beziehungen“, dem sich die Theologie als neuem Paradigma zu öffnen hat, können komplexe, vernetzte Systeme wie Gemeinden und ihre Strukturen begriffen werden.²⁴¹ Bei der Rezeption systemischen Denkens orientiert sich die Arbeit v. a. an Willke²⁴², während die Luhmannsche Theorie primär als Organisationssoziologie in den Blick genommen wird. Diese selektive Wahrnehmung der Systemtheorie Luhmanns vernachlässigt den für die Luhmannsche Theorie wesentlichen Punkt, dass die Operationsweise sozialer Systeme – und somit auch von Organisationen – als Kommunikation bestimmt wird.²⁴³ So wundert es nicht, dass die von Lindner angeführten „Grundsätze systemischen Denkens“²⁴⁴ an zahlreichen Punkten nicht mit der Luhmannschen Theorie selbstreferentieller Systeme kompatibel sind.
arbeiterpotential in unseren Gemeinden ist groß. Sowohl im Bereich der Haupt- und Nebenamtlichen, aber vor allem in der ehrenamtlichen Mitarbeit.“ Hierzu ein Leser: „in unseren nicht!“ (Zugriff am: 09.05. 2007). Lindner 1994: Kirche. – Eine völlig überarbeitete Neuauflage, die als „Entwicklungsprogramm für Ortsgemeinden“ mehr auf die praktische Ausrichtung hin konzipiert ist, erscheint 2000 (ders. 20002: Kirche). Die folgende Darstellung bezieht sich auf die ältere Habilitationsschrift, in der Linder ausführlicher die theoretische Grundlegung seines Ansatzes formuliert. Breitenbach 1994: Gemeinde. Vgl. Lindner 1994: Kirche, 108 u. ö. Beck 1986: Risikogesellschaft. Vgl. Lindner 1994: Kirche, 55 ff. Willke 20006: Systemtheorie. Vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 192: „Der basale Prozeß sozialer Systeme, der die Elemente produziert, aus denen diese Systeme bestehen, kann […] nur Kommunikation sein“. – Ganz anders hingegen Lindner (1994: Kirche, 111): „Kommunikation ist der Austausch von Mitteilungen zwischen Individuen.“ Lindner 1994: Kirche, 60 ff.
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Letzteres gilt auch für die Dissertation Breitenbachs, die sich konzeptionell auf Lindners konziliares Verständnis von Gemeindeentwicklung in der Volkskirche bezieht. Breitenbach entwickelt unter Bezug auf eine systemische Sichtweise, die er ebenso wie Lindner als „neues Paradigma“ bestimmt,²⁴⁵ ein kybernetisch ausgerichtetes, konziliares Leitbild von Leitung, das sich am ekklesiologischen „Paradigma vom oikos“²⁴⁶ orientiert. Da die Leitenden innerhalb des Leitungsprozesses zu verorten sind, ist „auf die Illusion zentraler Steuerbarkeit der Kirche“²⁴⁷ zu verzichten. Trotz dieser Aussage, die in die Richtung der Kybernetik 2. Ordnung weist, konzentriert sich die Darstellung systemischen Denkens an der Terminologie und den Denkmustern der Kybernetik 1. Ordnung.²⁴⁸ „Die Theorie sozialer Systeme und die Kybernetik als Wissenschaft von der Systemsteuerung stellen […] Wahrnehmungsmuster“²⁴⁹ für das komplexe Sozialsystem Kirchengemeinde bereit. Auch die nur am Rande erwähnte Systemtheorie Luhmanns wird dabei fälschlich als Steuerungslehre rezipiert.²⁵⁰ Neben dem fehlenden Bezug auf den Konstruktivismus fällt auf, dass insbesondere der von Lindner gebrauchte Organisationsbegriff eher betriebswirtschaftlich als systemtheoretisch bestimmt ist. Das Evangelische MünchenProgramm, das die bayerische Landeskirche 1995 und 1996 mit der Unternehmensberatung McKinsey entwickelte, ist ebenfalls in diesem Rahmen zu verorten. In diesem Zusammenhang plädiert Lindner für einen „sprachliche[n] Paradigmenwechsel“: „War es in den siebziger Jahren die Sprache der Soziologie und der Psychologie, die für viele fast zur kirchlichen Zweitsprache wurde, so ist es heute die Sprache der Betriebswirtschaft.“²⁵¹ Das von Lindner und Breitenbach dargebotene Konglomerat systemischer Sichtweisen aus Natur- und Geisteswissenschaften erinnert an die methodische Vorgehensweise Morgenthalers und dessen Versuch einer theoretischen Fundie-
Vgl. Breitenbach 1994: Gemeinde, 43. Breitenbach 1994: Gemeinde, 215; vgl. auch a.a.O., 123 ff. A.a.O., 232. Vgl. a.a.O., 130 ff. A.a.O., 129. Vgl. a.a.O., 148. – Der Grund für dieses Missverständnis mag darin liegen, dass die Sichtung der Luhmannschen Theorie nicht direkt über dessen Werke, sondern über die Überblicksdarstellung von Willke erfolgt. Dieser legt bei seiner Einführung in die Systemtheorie den Fokus auf die Steuerung von Sozialsystemen; vgl. Willke 20006: Systemtheorie, VIII; sowie den nach Breitenbachs Gemeindetheorie erschienen dritten Band der Einführung Willke (20013: Systemtheorie), den er als „Steuerungstheorie“ konzipiert. Lindner 1997: Spiritualität, 244; Hervorhebung L.K. – In der Neuauflage seiner Monographie nennt Lindner (20002: Kirche, 13) das Evangelische München-Programm explizit als eine seiner Bezugsgrößen.
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rung systemischer Seelsorge,²⁵² insbesondere wenn Lindner „Systemdenken“ in erster Linie als „Denken in Zusammenhängen“²⁵³ beschreibt, das „sich auf die Beziehungen und Wechselwirkungen der Elemente […] konzentrier[t]“.²⁵⁴ Oder wie Breitenbach formuliert: „Kybernetisch Denken heißt, ein Verständnis gewinnen für das Zusammenspiel steuernder Impulse im Netzwerk des Lebens.“²⁵⁵ Insofern ist es nur konsequent, wenn Roosen drei Jahre später in seiner Habilitationsschrift feststellt: „Die Behauptung, eine Kirchengemeinde sei ein soziales System, ist in der Fachliteratur relativ häufig belegt. Aber das hermeneutische Potential, das die Systemtheorie birgt, wurde gleichwohl nur selten einmal vertiefend erschlossen.“²⁵⁶ Und so ist es Ziel der von Roosen vorgelegten Untersuchung, diese Lücke zu schließen. Das Bewusstsein für den System- und Organisationscharakter von Kirchengemeinden und Landskirchen ist verloren gegangen, unrealistische und überfordernde Konzepte sind die Folge, so die These der Studie.²⁵⁷ Durch die systemtheoretische Analyse der ecclesia visibilis soll das unzureichende Systembewusstsein zurück gewonnen und praxisnahe „Anregungen für die Reform der evangelischen Gemeindearbeit“²⁵⁸ begründet werden.²⁵⁹ Anders als Lindner und Breitenbach orientiert sich Roosen in methodischer Strenge an der soziologischen Systemtheorie Luhmanns, die er durch den Ansatz von Willke ergänzt.²⁶⁰ Die Rezeption der Luhmannschen Theorie kon-
Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge. – Zur Problematik dieser methodischen Vorgehensweise s.u. 1.1.3.2. Lindner 1994: Kirche, 62. Ebd. Breitenbach 1994: Gemeinde, 45. Roosen 1997: Kirchengemeinde, 616. Vgl. a.a.O., 1 ff. S. Untertitel. Vgl. Roosen a.a.O., 4. Willke 20006: Systemtheorie. Vgl. Roosen 1997: Kirchengemeinde, 192 ff. – Von einer methodisch präzisen Arbeitsweise zeugt z. B., dass diejenigen Aspekte, in denen die Ansätze von Willke und Luhmann differieren, berücksichtigt werden. – Wie bereits in seiner Dissertation (1990: Taufe; s.u. 1.2.2.1), in der er die Semiotik von Peirce rezipiert, arbeitet Roosen auch hier modelltheoretisch (1997: Kirchengemeinde, 184 ff und 616 ff). Da sich der Autor dem modelltheoretischen Ansatz, nicht jedoch einer bestimmten Theorie verpflichtet sieht, ergeben sich aus den beiden, in den wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten gewählten Zugangsweisen keine weiteren Konsequenzen auf theoretischer Ebene (a.a.O., 6 Anm. 9; Hervorhebung im Original): „Was damit über die Grenzen von Erklärungsmodellen gesagt ist, ist auch vom Autor selbst zu sagen. Er versteht sich nicht als ‚Systemtheoretiker‘ und behält sich vor, in einer späteren Publikation wohl dem modelltheoretischen Wissenschaftsverständnis, nicht aber der Systemtheorie treu zu bleiben.“ So bleibt es in Roosens systemtheoretisch angelegter Kirchentheorie bei einem marginalen Verweis auf den semiotischen Polysemiebegriff, mit dem die Luhmannsche Vorstellung von Sinn
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zentriert sich dabei auf die zwei für die Studie wesentlichen Punkte des innersystemischen Wandels sowie der Subjektproblematik. Während der erste Aspekt auf die systemtheoretische Beschreibung der sich verändernden innerkirchlichen Verhältnisse abzielt, wird die Klärung des Verhältnisses von Mensch und System in der Luhmannschen Theorie zur Untersuchung des Kirchenaustritts herangezogen.²⁶¹ Kritische Distanz zu der Gesellschaftstheorie Luhmanns gewinnt Roosen durch den Bezug auf die ecclesia invisibilis sowie die Ergänzung der systemtheoretischen Beschreibungsmöglichkeiten u. a. durch die Theorie der Milieugesellschaft,²⁶² den semiotisch interpretierten Situationsbegriff nach Volp²⁶³ und einen spieltheoretischen Zugang.²⁶⁴ Insgesamt präsentiert sich die Arbeit als materialreiche Studie. Was den eigenen Vorschlag einer konzeptionellen Neuordnung der Parochie angeht, fällt die Untersuchung allerdings – entgegen ihrer intendierten Praxisnähe – etwas knapp aus.²⁶⁵ Anders als Lindner und Breitenbach, die ontologische Aussagen darüber machen, wie Systeme „sind“, reflektiert Roosen die erkenntnistheoretische Komponente der Luhmannschen Theorie im Sinne einer „Kybernetik 2. Ordnung“, indem er auf den Systembegriff als „kognitives Konstrukt“²⁶⁶ verweist. Aufgrund der terminologischen Koinzidenz der praktisch-theologischen Kybernetik zur kybernetischen Systemtheorie erscheint diese Teildisziplin der Praktischen Theologie als genuines Feld der Rezeption von Systemtheorie. Gerade zur Beschreibung der ecclesia visibilis bietet sich für eine Vielzahl von Theologen, die sich dem empirisch-handlungsorientierten Paradigma der Praktischen Theologie verpflichtet wissen, der Dialog mit der Soziologie an. Durchweg positive Aufnahme finden Luhmanns Überlegungen zur Organisationstheorie, allerdings gerät unter diesem Fokus der grundlegende konstruktivistische Aspekt der Luhmannschen Theorie aus dem Blick. Außer bei der Arbeit von Roosen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die praktisch-theologischen Entwürfe, die einen Bezug auf systemisches Denken vorgeben, im Sinne der „Kybernetik 1. Ordnung“ ontologisch behaftete Aussagen über die als Systeme verstandene Kirche und Gemeinde anstreben.
transparent aufgeschlüsselt werden kann, (a.a.O., 202 Anm. 49) und dem Rückgriff auf den von Volp semiotisch interpretierten Situationsbegriff. Vgl. Roosen 1997: Kirchengemeinde, 209 ff. Vester et. al. 1993: Milieus; Schulze 19934: Erlebnisgesellschaft. Vgl. den entsprechenden Beitrag in Volp 1982: Zeichen, 146 ff. Vgl. Roosen 1997: Kirchengemeinde, 11 f und 618 f. Vgl. a.a.O., 598 ff. A.a.O., 186 f.
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Auch der 2008 von Hermelink und Wegner herausgegebene Band „Paradoxien kirchlicher Organisation. Niklas Luhmanns frühe Kirchensoziologie und die aktuelle Reform der evangelischen Kirche“²⁶⁷ gibt bereits die Rezeptionsrichtung der Luhmannschen Theorie an. Alle Beiträge folgen der Vorgabe des kirchensoziologischen Forschungssymposiums, ihren Überlegungen Luhmanns Text über die „Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen“²⁶⁸ aus dem Jahre 1972 zugrunde zu legen. Leitend ist die Einsicht, dass die von Luhmann in diesem Aufsatz aufgezeigten „Paradoxien der kirchlichen Organisationswerdung“ bis heute von „außerordentlich hoher analytischer Überzeugungskraft“ sind.²⁶⁹ Daraus ergibt sich das Ziel des Bandes: Das analytische Potential der Theorie Luhmanns soll als Instrumentarium zur Beschreibung „gegenwärtige[r] Probleme der kirchlichen Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung“²⁷⁰ nutzbar gemacht werden. Die einzelnen Beiträge stellen die Frage nach der Organisation Kirche aus verschiedenen Perspektiven dar: Karle z. B. geht von der Unterscheidung zwischen Interaktion und Organisation aus und insistiert auf der hohen Relevanz von Interaktionen für die Organisation Kirche: „Kirche ist primär und zuerst lokale Gemeinde und erst danach auch überlokale Organisation“²⁷¹ – so lautet ihre These. Schulz²⁷² bringt die Ergebnisse empirischer Untersuchungen mit dem Text Luhmanns ins Gespräch und Wegner²⁷³ kritisiert Luhmann in seinem Beitrag dahingehend, dass dieser das „Spezifikum einer religiösen Organisation“²⁷⁴ außer Acht lasse.
Damit ordnet sich der als eine „interessierte Erinnerung an Niklas Luhmann“²⁷⁵ konzipierte Band in die bisherige Rezeption der Systemtheorie Luhmanns durch die Gemeinde- bzw. Kirchentheorie ein und bringt diese mit der aktuellen Debatte, „wie zwischen einer notwendigen Ressourcensicherung und einer ebenso nötigen religiös-theologischen Identitätsklärung der evangelischen Kirche unterschieden, aber nicht getrennt werden kann“²⁷⁶ ins Gespräch. 2011 legt Hermelink eine Kirchentheorie vor, die u. a. die Ergebnisse des Sammelbandes integriert.²⁷⁷ Bereits der Titel der Monographie „Kirchliche Orga-
Hermelink/Wegner 2008: Paradoxien. Luhmann 1972: Organisierbarkeit. Vgl. Hermelink/Wegner 2008: Evangelische Kirche, 20. Ebd.; im Original hervorgehoben. Karle 2008: Religion, 238. Schulz 2008: Kirche. Wegner 2008: Selbstorganisation. Hermelink/Wegner 2008: Evangelische Kirche, 24. So der Untertitel a.a.O. Hermelink/Wegner a.a.O., 12. Hermelink 2011: Kirchliche Organisation.
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nisation und das Jenseits des Glaubens“ markiert den erneuten Ansatz bei der „Organisation“. In ihrem Aufbau orientiert sich diese „praktisch-theologische Theorie der evangelischen Kirche“²⁷⁸ an Schleiermachers Aufbau des theologischen Studiums. Im ersten systematisch-prinzipiellen Teil werden zum einen systematischtheologische Modelle in kybernetischer Hinsicht rekonstruiert und zum anderen auf „gesellschaftsstrukturelle Verhältnisse der Gegenwart“ rekurriert, wozu v. a. „systemisch-soziologische Theorien“ herangezogen werden.²⁷⁹ Hermelink greift hier auf die soziologische Systemtheorie Luhmanns und v. a. deren Entfaltung durch Nassehi²⁸⁰ zurück. Diese bietet sich – so Hermelink – zur Beschreibung des gesellschaftlichen Kontextes von Kirche gerade deshalb an, da sie nach den „Mustern der sozialen Beziehungen, nach ihren sinntragenden Formen oder den Konstellationen gesellschaftlicher Kommunikation fragt“²⁸¹. Gerade in diesem „ästhetische[n] Zusammenhang“²⁸² von Form und Inhalt sieht Hermelink den Gewinn für eine soziologische Betrachtung der Kirche. D. h., die Systemtheorie wird hier v. a. als soziologische Theorie zur Beschreibung der Gesellschaft rezipiert, wobei der konstruktivistische Grundzug weniger zum Tragen kommt. Beide Theoriestränge – sowohl der systematisch-theologische als auch der systemisch-soziologische – werden dann zu einem praktisch-theologischen Begriff der evangelischen Kirche zusammengefasst. Kirche wird in vier Dimensionen beschrieben: Als Organisation lässt sich Kirche insofern begreifen, „als ihre soziale Verfassung […] die inhaltliche Selbstständigkeit ihrer Praxis wie auch deren gesellschaftliche Verflechtung zum Ausdruck bringt“, als Institution, insofern sie für „eine gesellschaftlich vorgegebene religiöse Kultur“ steht, als Interaktion, insofern in gottesdienstlicher, seelsorglicher, diakonischer und katechetischer Kommunikation der Glauben unmittelbar zum Ausdruck kommt und als Inszenierung, insofern sie christlichen Glauben „öffentlich“ zur Darstellung bringt.²⁸³ Insofern wird „die evangelische Kirche der Gegenwart als eine Organisation zur öffentlichen Inszenierung des Glaubens [begriffen; L.K.], die das gesellschaftlich vorgegebene Verständnis von Glauben und Kirche (‚Institution‘) ebenso aufnimmt wie deren konkrete gemeinschaftliche Praxis (‚Interaktion‘).“²⁸⁴ Leitend bleibt dabei der Begriff der Organisation: „Im Ganzen hat die praktisch-theologische
So der Untertitel. Vgl. Hermelink a.a.O., 28. Nassehi 2008: Soziologie. Hermelink 2011: Kirchliche Organisation, 83; Hervorhebungen im Original. Ebd.; Hervorhebung L.K. Vgl. a.a.O., 29. A.a.O., 89; Hervorhebung im Original.
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Kirchentheorie die evangelische Kirche […] als eine Organisation zu beschreiben, die den christlichen Glauben gerade darin zur Wirkung und zum Ausdruck bringt, dass sie sich offen hält für die Manifestation des Glaubens jenseits der Organisation.“²⁸⁵ Diese vier Dimensionen werden in den beiden folgenden historisch-empirischen Kapiteln weiter konkretisiert. Den Abschluss der Untersuchung bildet ein pragmatisch orientierter Teil, der explizite kirchliche Leitungspraxis reflektiert. Im Zentrum stehen hierbei die „Subjekte kirchlicher Leitung“²⁸⁶. Im Blick sind dabei weniger „(Pfarr‐)Personen“ als v. a. Gremien.²⁸⁷
1.1.2.3 Diakonik: Christlicher Dienst im Kontext gesellschaftlicher Funktionssysteme Evangelische Diakonie und katholische Caritas gehören zu den größten Arbeitgebern in Deutschland. Die Legitimation ihrer Arbeit entbehrt jedoch weitgehend einer wissenschaftlich fundierten, theologischen Reflexion. Der breite Graben zwischen der diakonischen Wirklichkeit der Einrichtungen und den hohen Ansprüchen, wie sie in Theologie und Kirche für das diakonische Handeln formuliert werden,²⁸⁸ ist der Ausgangspunkt der beiden Arbeiten, die in der Diakonik vorgelegt wurden und sich in unterschiedlichem Maße auf die Systemtheorie Luhmanns berufen. In seiner 1996 publizierten Betheler Dissertation beschreibt der Jäger-Schüler Starnitzke „Diakonie als soziales System“.²⁸⁹ Im konsequenten Anschluss an die soziologische Theorie selbstreferentieller Systeme Luhmanns²⁹⁰ erhofft er sich im Rahmen der theologischen Debatte einen Zugewinn an differenzierter Terminologie, die es ermöglicht, das hochkomplexe System der Diakonie in Deutschland unter einer Gesamtperspektive zu fassen – ein Ziel, das mit theologischer Begrifflichkeit allein nicht zu erreichen ist. Da sich die Diakonie in einem „komplizierten Beziehungsgeflecht mit anderen gesellschaftlichen Bereichen“²⁹¹ wie A.a.O., 29; Hervorhebung im Original. A.a.O., 30; im Original hervorgehoben. Vgl. ebd. Vgl. Meyer-Blanck/Weyel 1999: Arbeitsbuch, 147. Starnitzke 1996: Diakonie. Bereits in den 1980er Jahren versuchten Schmidt (1976: Konstruktion), Steinkamp (1985: Diakonie) und Daiber (1988: Diakonie) die Theorie Luhmanns, allerdings in eher eklektischer Weise, für die Diakonie fruchtbar zu machen. In Abgrenzung von diesen frühen Ansätzen berücksichtigt Starnitzke das Gesamtkonzept der Luhmannschen Systemtheorie; vgl. Starnitzke 1996: Diakonie, 16 f. Starnitzke 1996: Diakonie, 16.
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Recht, Erziehung, Wirtschaft, Medizin, Wissenschaft und Politik befindet, bietet sich für die theologisch-diakonische Diskussion eine Theorie an, die sich mit den verschiedenen Funktionssystemen der modernen Gesellschaft beschäftigt. Ausgehend von einer kritischen, theologischen Auseinandersetzung mit der Luhmannschen Theorie fragt die Arbeit nach Konvergenzen zwischen soziologischer und theologischer Perspektive sowie nach dem Proprium der Diakonie: Angeregt von Luhmanns Ansatz und über diesen theologisch hinausgehend, präzisiert Starnitzke mit Bezug auf das Corpus Paulinum die religiöse Codierung transzendent/immanent für das christlich-diakonische Reden und Handeln durch die spezifische Leitdifferenz „vollmächtiger Dienst/Nichtdienst“.²⁹² Mit dieser Leitunterscheidung, die der Diakonie einerseits der „Orientierung nach innen“²⁹³ dient, gelingt andererseits die „Abgrenzung nach außen“²⁹⁴ von anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen: „Jede Handlung und Kommunikation innerhalb der Gesellschaft, die sich an der Unterscheidung vollmächtiger Dienst/Nichtdienst […] orientiert, gehört zum diakonischen System.“²⁹⁵ Der Verdienst dieser theoretisch angelegten Arbeit ist es, im Rahmen der Umstellung von Handlung auf Kommunikation die Theorie Luhmanns in theologischer Perspektive fortzuschreiben. Durch die exklusive Orientierung der Diakonie als selbstreferentielles, soziales System an der „Ambivalenz von Dienst und Vollmacht“²⁹⁶ wird einer auf die Organisation des Diakonischen Werks räumlich beschränkter Diakoniebegriff ergänzungsbedürftig.²⁹⁷ Ebenfalls 1996 erscheint die mehr als 800 Seiten umfassende Dissertation des katholischen Theologen Haslinger.²⁹⁸ Ähnlich wie Starnitzke geht auch er von einer „Dichotomie zwischen Wissen und Bewusstsein“²⁹⁹ aus, wenn er die Diakonie als theologisches und nicht nur kirchenstrategisches Thema zwischen den Koordinaten Gesellschaft, Kirche und Not leidender Mensch aufspannt. Die Untersuchung orientiert sich in ihrer Anlage an der methodischen Trias „sehen-urteilen-handeln“:³⁰⁰ Ein breiter Teil dient der Situationswahrnehmung und -analyse, dem die Formulierung theologisch normativer Kriterien der diakonischen Praxis sowie der Versuch, eine praxistheoretische Konzeption einer Diakonie zu Vgl. a.a.O., 300 ff. Vgl. a.a.O., 285 ff. Vgl. a.a.O., 252 ff. A.a.O., 303; im Original hervorgehoben. A.a.O., 304 u. ö. Vgl. a.a.O., 303. Haslinger 1996: Diakonie. A.a.O., 1. Vgl. a.a.O., 9; in Anlehnung an Cardijn. – Der Dreischritt „Sehen – Urteilen – Handeln“ steht seit den 1970er Jahren für eine als Handlungswissenschaft verstandene Praktische Theologie.
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entwerfen, folgen. Damit orientiert sich Haslinger – anders als Starnitzke – nicht explizit an der Luhmannschen Theorie, sondern letztere dient ihm lediglich im Rahmen der situationsanalytischen Reflexion „als heuristisches Instrumentarium zur Wahrnehmung des gesellschaftlichen Stellenwerts der Diakonie“³⁰¹ und damit als eine „Außenperspektive“ auf Diakonie: Unabhängig von binnenkirchlichen und theologischen Deutungen beschreibt Luhmann in seiner frühen Religionsschrift „Funktion der Religion“ die Diakonie als Dienstleistung für die Gesellschaftssysteme.³⁰² Mit der ausschließlichen Orientierung an den frühen Schriften Luhmanns, bezieht sich Haslinger ausdrücklich auf die Luhmannsche Theorie vor dessen autopoietischer Wende und blendet damit einen wesentlichen Aspekt der Luhmannschen Theoriegestalt aus.³⁰³ Damit bleiben die enzyklopädischen Ausführungen zur Diakonie unter dem Kriterium des Subjektseins des Menschen aus systemtheoretischer Perspektive hinter der Luhmannschen Theoriegestalt zurück. In den genannten Untersuchungen präsentiert sich die Diakonie aus systemtheoretischer Perspektive letztlich als Grenzgängerin zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen. Ein nachhaltiger Ertrag für die Poimenik ergibt sich daraus nicht. Ähnlich Starnitze und Haslinger verortet der katholische Theologe Singe die „[d]iakonische Praxis im gesellschaftlichen Spannungsfeld“.³⁰⁴ Im Rekurs auf die Systemtheorie Luhmanns, die Sozialarbeitswissenschaft und Chaostheorie entwickelt der Autor „eine Praxistheorie für das Handlungssystem der Diakonie“.³⁰⁵ Das Vertrauen in die Selbstorganisation des religiösen Subsystems Diakonie, das bei den Subjekten diakonischen Handelns vorauszusetzen ist, beschreibt Singe aus theologischer Perspektive als den „Raum […], in dem vom Wirken des Geistes Gottes gesprochen werden kann.“³⁰⁶
1.1.2.4 Religionspädagogik: Zwischen Religion und Erziehung Ähnlich der Diakonik, die als wissenschaftliche Reflexion von Diakonie jene im Kontext verschiedener gesellschaftlicher Funktionssysteme positioniert, ist es Aufgabe der Religionspädagogik, ihren Ort an der Schnittstelle unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktionssysteme zu suchen. Diese praktisch-theologische
A.a.O., 215. Vgl. Luhmann 1977: Funktion, 58; vgl. Haslinger a.a.O., 214 ff. – Von einer expliziten „Diakonietheorie Luhmanns“ (Haslinger a.a.O., 240 u. ö.) zu sprechen wird den Ausführungen des Soziologen allerdings nicht gerecht. Vgl. Haslinger a.a.O., 215. – Gleiches gilt für Haslingers spätere Publikationen: ders. 1999: Praktische Theologie, 127 f Anm. 15; ders. 2000: Handeln, 190 Anm. 12. Singe 2001: Chaos, 9 ff. A.a.O., 7. A.a.O., 111.
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Teildisziplin hat der doppelten Frage nachzugehen, wie und wo Religion gelernt werden kann.³⁰⁷ An der Grenze zur Poimenik bewegt sich die 2000 veröffentlichte Dissertation des katholischen Theologen Lames, der das kirchliche Handlungsfeld der „Schulseelsorge als soziales System“ betrachtet.³⁰⁸ Dennoch ist die Untersuchung primär in der Religionspädagogik zu positionieren, versteht sie sich doch als „religionspädagogisch-praktisch-theologische Grundlagenforschung“.³⁰⁹ Die Studie präsentiert sich interdisziplinär, da der Autor das Konzept eines grundlegenden systemischen Schulseelsorgeansatzes im Rückgriff auf drei unterschiedliche Zugänge entwickelt: Geschichtlich-phänomenologisch wird das Verhältnis von Kirche und Schule bestimmt. Die soziologische Systemtheorie Luhmanns wird als „Sehhilfe“³¹⁰, als bewusst nichttheologisches Instrumentarium zur differenzierten Beobachtung der beiden Funktionssysteme Erziehungs- und Religionssystem herangezogen. Und schließlich werden „mit Hilfe des religionspädagogisch hergeleiteten Modells der Elementarisierung die materialen und formalen Aspekte der Schulseelsorge, wie sie durch die geschichtliche, die systemtheoretische und religionspädagogisch-theologische Perspektive entwickelt wurden, interdependent in ein elementares und zirkulär ausgerichtetes Kommunikationsmodell systemischer Schulseelsorge überführt.“³¹¹ Mit diesen drei Beobachtungsperspektiven ergibt sich der klare Aufbau der Untersuchung. Ausgehend von der systemtheoretischen Beschreibung der „Schulseelsorge als soziales Subsystem der Kirche in schulischen Kontexten“³¹² geht Lames im Anschluss an Luhmann über diesen hinaus, wenn er „unbedingte Zuwendung/ bedingte Zuwendung“ als Codierung von Schulseelsorge bestimmt,³¹³ die sich für ihre Umsetzung mystagogischer³¹⁴ und diakonischer³¹⁵ Programme bedient.³¹⁶ An
Vgl. Meyer-Blanck/Weyel 2008: Studien- und Arbeitsbuch, 169 f. Lames 2000: Schulseelsorge. A.a.O., 20. A.a.O., 21. A.a.O., 22. Vgl. a.a.O., 164 ff. Vgl. a.a.O., 178 ff und 267 ff. Vgl. a.a.O., 251 ff. Das mystagogische Programm bezeichnet hier schulseelsorgliche Angebote, die in den Glauben einführen. Vgl. a.a.O., 257 ff. Das diakonische Programm bezeichnet schulseelsorgliche Angebote, die persönliche und soziale Lebensbedingungen betreffen. Die Programmierung erinnert an die Dahmsche Unterscheidung der kirchlichen Funktionsbereiche des Lehrens (A) und Helfens (B); vgl. Dahm 1971: Beruf, 303 ff; s. o. 1.1.2.1. – In der Systemtheorie Luhmanns (1997: Gesellschaft, 377) bezeichnen Programme „Bedingungen […], die festlegen, unter welchen Umständen die Zuordnung des positiven Wertes und unter welchen
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der Grenze zwischen Religions- und Erziehungssystem verortet, stellt Schulseelsorge ein innovatives kirchliches Handlungssystem dar, das es ermöglicht, neue Verbindungen zwischen Kirche und Schule zu erschließen. Systemische Schulseelsorge ist immer dann „Kirche in der Schule“, wenn sich schulseelsorgliche Kommunikation im schulischen Kontext ereignet. „Generell kann aufgrund der systemtheoretischen Erkenntnisse gesagt werden, daß sich Kirche im Sinne geistlicher Kommunikation immer dann ereignet, wenn geistlich kommuniziert wird. Dabei gilt, daß sich geistliche Kommunikation auch in Kontexten gesellschaftlicher Funktionssysteme ereignen kann, die nicht mehr vom Religionssystem abhängen.“³¹⁷ Ähnlich der Studie von Starnitzke³¹⁸ führt auch bei Lames die systemtheoretische Orientierung zur Umstellung von Handlung auf Kommunikation. Dies erweist sich für eine differenzierte Definition von Schulseelsorge gewinnbringend und macht beispielhaft den mit der Rezeption der Systemtheorie Luhmanns verbundenen Zugewinn an terminologischer Präzision deutlich. Mit einer anderen Fragestellung setzt sich der von Karle 2001 publizierte Artikel „zum Umgang mit der Bibel im Religionsunterricht“ auseinander.³¹⁹ Die Autorin verifiziert darin ihre These, dass sich Bibel- und Schülerorientierung im Religionsunterricht nicht gegenseitig ausschließen, sondern aufs engstes miteinander gekoppelt sein können. Ausgehend von dem Luhmannschen Identitätsbegriffs bzw. der Bestimmung religiöser Identität im Sinne Schleiermachers wird das Thema „die Bibel als Medium der Identitätsbildung“ entfaltet. Aufgabe des Religionsunterrichts ist es, „für bestimmte, nämlich religiös-semantischen Formen und Kommunikationsinhalte zu sensibilisieren, sie auszuprobieren und zu pflegen, aber auch zu studieren und zu reflektieren und dadurch Orientierungsund Handlungswissen im Umgang mit der Religion zu vermitteln.“³²⁰ Da primär die Bibel „eine besonders reichhaltige Ressource für die Pflege christlicher Semantik“³²¹ darstellt, expliziert Karle an dieser verschiedene didaktische Impli-
Umständen die Zuordnung des negativen Wertes [des Codes] richtig bzw. falsch ist.“ Dies wird nötig, da binäre Codes „nicht Abbilder einer Wertwirklichkeit, sondern einfache Duplikationsregeln“ (a.a.O., 750) sind. Für alles, was in ihrem Anwendungsbereich als Information vorkommt, stellen binäre Codes ein Negativkorrelat zur Verfügung. Insofern erscheint alles, was mit Hilfe eines Codes erfasst wird als kontingent, so dass in der Praxis ein Bedarf an Entscheidungsregeln, an Programmen entsteht. Lames 2000: Schulseelsorge, 318. Starnitzke 1996: Diakonie. Karle 2001: Bibel. A.a.O., 14; Hervorhebung im Original. Ebd.
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kationen, die an performative Beschreibungen des Religionsunterrichts³²² erinnern. Zum Teil auf die semiotischen Überlegungen von Meyer-Blanck³²³ verweisend und in kritischer Abgrenzung von neueren biblischen Didaktiken plädiert Karle für einen spielerisch-lustvollen Umgang mit biblischen Geschichten, der Spaß macht. Die Autorin plädiert dafür, dass die „Fremdheit biblischer Figuren“ und die „Originalität und Spezifität biblischer Sprache“ nicht nur ein Verständnisproblem darstellen, sondern gerade in ihrer Andersartigkeit die Phantasie der Schüler faszinieren und anregen kann³²⁴ – dies erinnert an ihr Konzept einer „Seelsorge als Störung“.³²⁵ Im Rahmen einer solchen Bibeldidaktik versucht der Lehrer, der nicht länger über ein Deutungsmonopol verfügt, gemeinsam mit den Schülern die Bedeutungsgehalte biblischer Geschichten aufzuspüren und die Erkundung einer terra incognita zu begleiten.³²⁶ In der interaktiven Unterrichtssituation, in der sich Person und Text wechselseitig interpretieren, wird der Lehrer als hidden curriculum ³²⁷ beschrieben. Inhaltlich als auch terminologisch für eine semiotische Perspektive anschlussfähig nähert sich Karle hier expliziter als in ihrer Seelsorgelehre einem rezeptionsästhetischen Verständnis biblischer Texte an. Im Anschluss an Karles Überlegungen kann der ein Jahr später erschienene Aufsatz von Dinkel gelesen werden, in dem der Autor im Rahmen einer systemtheoretisch verstandenen Pädagogik für das Auswendiglernen im Religions- und Konfirmandenunterricht plädiert.³²⁸ Im Rückgriff auf die Ergebnisse von Karle sowie auf die Theorien von Luhmann, Aleida und Jan Assmann³²⁹ und Schleiermacher expliziert Dinkel, dass die von Schülern und Konfirmanden verstandenen und auswendig gelernten „großen Worte der Tradition zur Keimzelle ihres eigenen Glaubens und zu geistlichen Lebensbegleitern“³³⁰ werden können. „Das Auswendiglernen koppelt das individuelle Gedächtnis in unvergleichlich intensiver Form an das soziale Gedächtnis des Glaubens“,³³¹ das im protestantischen Christentum v. a. aus gottesdienstlichen Liturgien, der Bibel, Bekenntnissen, Liedern und geformten Gebeten
S.u. 1.2.2.3. Meyer-Blanck 20022: Symbol; s.u. 1.2.2.3. Vgl. Karle 2001: Bibel, 16. Karle 1996: Seelsorge, 214 ff; s.u. 1.1.3.2. Vgl. Karle 2001: Bibel, 21 und 16; der Terminus terra incognita stammt von Neidhart. Der Terminus hidden curriculum stammt von Zinnecker; vgl. Büttner/Dieterich 2004: Religion, 90. Dinkel 2002: Gedächtnis. A. Assmann 1999: Erinnerungsräume; J. Assmann 19992: Gedächtnis. Dinkel 2002: Gedächtnis, 432. A.a.O., 436.
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besteht. Deshalb bieten auswendig bzw. inwendig gelernte Texte religiöser Individualität einen Fixpunkt.³³² Mit dem Auswendiglernen konzentriert sich Dinkel anders als Karle lediglich auf einen Teilaspekt des religionspädagogischen Umgangs mit der Bibel.
Eine differenzierte Darstellung systemtheoretisch reflektierter Religionspädagogik bieten Büttner und Dieterich mit ihrer 2004 veröffentlichten Vorlesung „Religion als Unterricht“.³³³ In konstruktivistischer Tradition des Psychotherapeuten Watzlawick ist das Kompendium als „Sehschule“ konzipiert, das die „scheinbar so bekannten Abläufe des Unterrichts, in unserem Falle des Religionsunterrichts, […] in ein neues Licht“³³⁴ rückt. Dies geschieht, indem der Religionsunterricht in verschiedenen Zwischenräumen sein Proprium zwischen Religions- und Erziehungssystem, zwischen Transzendenz und Immanenz sucht. Aspekte des Erziehungs- und Religionssystem sind v. a. mit Hilfe der Systemtheorie Luhmanns differenziert dargestellt: Die Schulklasse als soziales System, die Rolle des Schülers, die Kommunikation in der Schulklasse als Interaktion, die Konstruktion von Lernwegen, die Zeitstruktur des Unterrichts und die Rolle des Religionslehrers. Ausgehend von der Orientierung des Religionsunterrichts an dem religiösen Code transzendent/immanent – und damit der Verortung im Religionssystem³³⁵ – werden Inhalte der Religionsstunde, die Möglichkeit des Lernens von Glauben, allgemeiner Religionsunterricht und die Pflege religiöser Semantik reflektiert. Den Autoren gelingt es, mit der Rezeption Luhmannscher Theorie die unterschiedlichen Aspekte des religionsunterrichtlichen Geschehens differenziert zu beschreiben und anschaulich darzustellen. Damit ist hinsichtlich eines systemtheoretischen Verständnisses von Religionsunterricht theoretische Grundlagenarbeit geleistet. Aus wissenschafts- und systemtheoretischer Perspektive legt Gronover mit seiner 2006 veröffentlichten Dissertation eine „Religionspädagogik mit Luhmann“ vor.³³⁶ Der katholische Theologe fragt danach, welche Mechanismen die Trennung von wissenschaftlicher Religionspädagogik und religiöser Erziehung bedingen, welche gesellschaftlichen Anlässe zu religionspädagogischen Selbstvergewisse-
Zu Memoriertexten als „Lebensbegleitern“ sowie zum Inwendiglernen von Texten verweist Dinkel (2002: Gedächtnis, 445 Anm. 54) auf Meyer-Blanck. Büttner/Dieterich 2004: Religion. A.a.O., 9. Um nicht verwechselt zu werden, hat Religionsunterricht seine Bezogenheit auf das Religionssystem zu sichern; vgl. Büttner/Dieterich 2004: Religion, 112: „Wenn der Religionsunterricht nur eine Verdopplung des Unterrichts anderer Fächer darstellt, dann wird er tendenziell überflüssig.“ Gronover 2006: Religionspädagogik.
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rungen führen, wie in theologischer Perspektive trotz der Trennung von Wissenschaft und Erziehung ein Zusammenhang hergestellt werden kann und welche Rolle die Wirklichkeit Gottes und der Glaube im Betrieb der Religionspädagogik spielen. Die Verifizierung der These, dass „die Religionspädagogik auf der (paradoxen) Figur des eingeschlossen-ausgeschlossenen Dritten basiert“,³³⁷ führt den Autor dazu, die Systemtheorie Luhmanns in theologischer Perspektive neu zu reflektieren. Das bedeutet einerseits, dass Luhmann in seinem Werk nicht nur als Soziologe, sondern auch als Philosoph und implizierter Theologe gelesen wird³³⁸ und bedingt andererseits eine wahrnehmungsgeleitete anstelle einer am Subjekt orientierten Perspektive.³³⁹ Wesentlich für die religionspädagogische Reflexion ist die – Luhmann unterstellte – Unterscheidung zwischen Interaktion und Kommunikation als „Fundamentaldatum der Religionspädagogik, insofern diese auf Interaktionssituationen (zum Beispiel den Religionsunterricht oder die katechetische Unterweisung) reflektiert“.³⁴⁰ Die durch den Interaktionsbegriff gegebene Einheit von Kommunikation, Wahrnehmung und Anwesenheit führt den Autor dazu, in mehreren Bereichen triadische Strukturen nachzuweisen.³⁴¹ Das religionspädagogische Paradox schlüsselt er durch die Rückbindung der Religionspädagogik an den christlichen Glaubensbegriff auf. Wenn der systematische Kern der Religionspädagogik im Glauben liegt – so die These –, etabliert sich eine Verbindung zwischen wissenschaftlicher Reflexion und interaktionaler, religiöser Erziehung. „Religionspädagogik mit Luhmann: Das bedeutet, die Herausforderung der getrennten Welten der religiösen Erziehung und der Religionspädagogik anzunehmen. Das bedeutet auch, die Unmöglichkeit einzusehen, den Menschen zu erforschen. Und es bedeutet die Forderung an die Theologie, die Einhegung der Religion in einen Funktionsbereich der Gesellschaft mit Luhmann (!) aufzubrechen.“³⁴² Hat sich Gronover zum Ziel gesetzt, nachzuweisen, „dass die Religionspädagogik als Wissenschaft ein ausgeschlossen eingeschlossener Drittwert ist“,³⁴³ so stellt sich die Frage, warum er statt des Funktionsbegriffs³⁴⁴ nicht auf den Formbegriff zurückgreift, der in der Luhmannschen Theoriegestalt bereits die
A.a.O., 9. Vgl. a.a.O., 11. Vgl. a.a.O., 24 u.ö. A.a.O., 19. Gronover (a.a.O., 19 f) beabsichtigt, triadische Strukturen in der Logik der Systemtheorie, im Glaubensbegriff und in der wissenschaftlichen Religionspädagogik zu suchen. A.a.O., 292. A.a.O., 290. Vgl. a.a.O., 20.
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Funktion des eingeschlossen-ausgeschlossenen Dritten übernimmt.³⁴⁵ Außerdem ist Gronovers Anspruch, mit dem Bezug auf die Interaktion anstelle auf die großen gesellschaftlichen Funktionssysteme, eine neue theologische Rezeption der Systemtheorie auszuarbeiten, hinfällig, da bereits Karle³⁴⁶ und Dinkel³⁴⁷ ähnlich ansetzen.³⁴⁸ Gronovers Rezeption des systemtheoretischen Interaktionsbegriffs verdient jedoch insofern Aufmerksamkeit, als in dessen Zusammenhang zum ersten Mal explizit auf „Luhmanns erkenntnistheoretische Prämisse“³⁴⁹ hingewiesen und der Blick von soziologische auf ästhetische sowie theologische Fragestellungen geweitet wird.³⁵⁰ Weiterhin kann analog der Beschreibung religiöser Erziehung als Interaktion durch die Religionspädagogik, die Poimenik Seelsorge als Interaktion reflektieren.³⁵¹ Insgesamt hat sich gezeigt, dass die Rezeption der Luhmannschen Theorie durch die Religionspädagogik in erster Linie der Verortung von religionspädagogischer Theorie und Praxis im Spannungsfeld verschiedener gesellschaftlicher Funktionssysteme dient. Doch auch für eine differenzierte Beschreibung des religionsunterrichtlichen Kommunikationsgeschehens und einer rezeptionsästhetischen Reflexion des unterrichtlichen Gebrauchs der Bibel, die Anschlüsse an eine semiotisch-performative Religionsdidaktik bietet, erweist sich der systemtheoretische Zugang als gewinnbringend. Den Gewinn einer systemtheoretischen Rekonstruktion von Religionspädagogik bzw. eines systemtheoretischen Blicks auf das unterrichtliche Geschehen dokumentiert außerdem ein 2007 erschienener Aufsatzband.³⁵² Ziel der Beiträge ist es, „den naiven Blick auf den Religionsunterricht durch systemtheoretische Reflexionsangebote zu irritieren und damit zum Verständnis des Religionsunterrichts beizutragen.“³⁵³ Neben einer Einführung in die Luhmannsche Systemtheorie wird in den Artikeln die Grenze zwischen Religionsunterricht und indi-
Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 61 f: „Form ist gerade die Unterscheidung selbst, indem sie die Bezeichnung (und damit die Beobachtung) der einen oder der anderen Seite erzwingt und die eigene Einheit […] gerade deshalb nicht selber realisieren kann. Die Einheit der Form ist nicht ihr ‚höherer‘, geistiger Sinn. Sie ist vielmehr das ausgeschlossene Dritte, das nicht beobachtet werden kann, solange man mit Hilfe der Form beobachtet.“ Karle 2001: Pfarrberuf; s.o. 1.1.2.1. Dinkel 2000: Gottesdienst; s.u. 1.1.2.5. Vgl. Gronover 2006: Religionspädagogik, 20. Dieser Anspruch mag darin begründet sein, dass Gronover kaum einen Seitenblick auf die Arbeiten seiner evangelischen Kollegen wirft. A.a.O., 32. Vgl. a.a.O., 32. S.u. Kapitel 3. Büttner/Scheunpflug/Elsenbast 2007: Erziehung. A.a.O., 10.
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viduellem Bewusstsein thematisiert, die Differenz zwischen Religion und Gesellschaft in den Blick genommen – hierbei macht Reis³⁵⁴ die Interaktion für die Reflexion des Religionsunterrichts nutzbar – und ein systemtheoretisches Verständnis des Religionsunterrichts auf ihn selbst angewendet. Insofern ist mit dem Band ein breites Feld systemtheoretisch orientierter Religionspädagogik abgedeckt. Er ermöglicht einen guten Einblick in die Möglichkeiten der Rezeption Luhmannscher Theorie für religionspädagogische Fragestellungen und zeigt den Zugewinn durch eine systemtheoretische Perspektive auf.
1.1.2.5 Liturgik: Funktionale Gottesdiensttheorie Angeregt durch Käsemann und v. a. E. Lange war die Frage nach der Funktion des Gottesdienstes v. a. in den 1960er und Anfang der 1970er Jahre virulent. Im Fokus stand dabei die gesellschaftspolitische Funktion des Gottesdienstes, worüber die spezifisch religiösen Funktionen meist aus dem Blick gerieten. Hier wie in weiteren Publikationen von Trautwein, Rössler, Cornehl oder Thilo wurde keine umfassende funktionale Theorie des Gottesdienstes vorgelegt.³⁵⁵ Mit seiner Habilitationsschrift über den Nutzen des evangelischen Gottesdienstes trägt Dinkel 2000 erstmals die Luhmannsche Systemtheorie in die Liturgik ein, mit dem „Ziel, die evangelische Gottesdienstpraxis differenziert zu beschreiben.“³⁵⁶ Dinkel stellt in einem von der Theorie Luhmanns abgesteckten Bezugsrahmen, der sich theologisch an Schleiermacher und Luther orientiert, im Rückgriff auf systemische Terminologie das Spezifische des evangelischen Gottesdienstes dar, zeigt dessen zentrale Funktion für die Kirche in der modernen Gesellschaft auf und reformuliert aus soziologischer Perspektive das spezifisch christlich-reformatorisches Profil des Gottesdienstes. Die Systemtheorie wird hierbei unter funktionaler und rein analytischer Perspektive rezipiert, um die moderne Gesellschaft zu analysieren und den Gottesdienst als spezifische Form religiöser Kommunikation,³⁵⁷ näherhin als Interaktion³⁵⁸ zu beschreiben. Von der systemtheoretischen Orientierung verspricht sich Dinkel eine neue Perspektive für die Liturgik: „Vielmehr dient die systemtheoretische Betrachtungsweise dazu, das Vertraute in ein fremdes Licht zu rücken, um gewohnte Perspektiven mit neuen Aspekten anzureichern.“³⁵⁹
Reis 2007: Kommunikation. Vgl. Dinkel 2000: Gottesdienst, 34 ff. A.a.O., 28. Vgl. a.a.O., 46 ff. Vgl. a.a.O., 114 ff. A.a.O., 33.
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Mit der Bestimmung des Gottesdienstes als religiöse Kommunikation wird dieser grundlegend vom Ritual unterschieden. Die in der Studie wiederholt zu beobachtende Kritik des Rituals als Vermeidung von Kommunikation gründet sich nach Dinkel in der protestantischen Umstellung von Kult auf Kommunikation.³⁶⁰ Hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung des Gottesdienstes als Selbstbeschreibung des christlichen Lebens verbindet Dinkel System-, Fest- und Kulturtheorie mit der Gottesdienstlehre Schleiermachers.³⁶¹ Folgt man Dinkel, so ist die Funktion des evangelischen Gottesdienstes folgendermaßen hinreichend beschrieben: „Der Gottesdienst beschreibt das christliche Leben mit Hilfe der durch dogmatische Programme näher spezifizierten Unterscheidung transzendent/ immanent in der Kommunikationsform Interaktion, um den christlichen Glauben zu stärken und damit das christliche Leben zu fördern.“³⁶² Unter den Medien, derer sich der Gottesdienst zur Selbstbeschreibung des christlichen Lebens bedient, nimmt die Predigt die zentrale Rolle ein.³⁶³ Zwar liegt die einheitliche Funktion des Gottesdienstes allein in der Weckung und Stärkung des Glaubens, doch dies hat Wirkungen über die gottesdienstliche Interaktionssituation hinaus und wird als Leistungen des Gottesdienstes reflektiert.³⁶⁴ Besonders die Bestimmung des Gottesdienstes als Kommunikation unter Anwesenden, als Interaktionssystem, aus der sich spezifische Möglichkeiten und Grenzen für die religiöse Kommunikation ergeben, sowie die Analyse der gottesdienstlichen Medien der Selbstbeschreibung wie körperliche Anwesenheit, Abendmahl, Musik und Lieder, Gebet, Bibel und Gesangbuch bieten auch für die poimenische Reflexion des seelsorglichen Geschehens relevante Überlegungen. Allerdings geht mit der exklusiven Ausrichtung des Entwurfes an der Theorie sozialer Systeme eine ausschließlich soziologische Perspektive auf praktischtheologische Fragestellungen einher. Damit liegt eine in sich geschlossene Untersuchung vor, die andere theoretische Zugänge nicht im Blick hat.
1.1.2.6 Religionssoziologie: Kommunikation über Gott Innerhalb der Praktischen Theologie standen v. a. im Zuge der empirischen Wende religionssoziologische Fragestellungen im Fokus der Aufmerksamkeit.³⁶⁵ Doch auch die neuere Untersuchung von Nickel-Schwäbisch setzt sich im Rückgriff auf
Vgl. a.a.O., 94 ff. Vgl. a.a.O., 168 ff. A.a.O., 44. Vgl. a.a.O., 217 ff. Vgl. a.a.O., 272 ff. Vgl. Daiber 2004: Religionssoziologie.
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die Luhmannsche Theorie mit der Kommunikation über Gott unter den sozialen Bedingungen der Christentumspraxis und der modernen Gesellschaft auseinander. Vor Nickel-Schwäbisch beschäftigt sich der katholische Theologe Gärtner in seiner 2000 veröffentlichten Dissertation mit der „Gottesrede in (post‐)moderner Gesellschaft“.³⁶⁶ Der Autor bringt aus handlungstheoretischer Perspektive soziologische Ansätze mit einer am Subjekt orientierten Praktischen Theologie über den Religionsbegriff ins Gespräch. Dabei werden die soziologischen Bedingungen der Religion in der modernen Gesellschaft in dem Spannungsfeld zwischen anthropologisch-substantiellen und gesellschaftlich-funktionalen Ansätzen bzw. Lebenswelt und System verhandelt. Kritisch zu hinterfragen ist dabei die Subsumierung der zum Teil kontroversen religionssoziologischen Konzepte von Berger und Luckmann, Dux, Kaufmann, Gabriel sowie Habermas und Luhmann unter einer strikt lebensweltlichen Perspektive.³⁶⁷ Analog der von Gärtner aufgestellten theologischen These, „daß der Ursprung jeder Rede von Gott im Offenbarungshandeln Gottes liegt und daß ihr Ziel die Subjektwerdung des Menschen ist“,³⁶⁸ bieten sich für die Untersuchung diejenigen soziologischen Konzepte an, die Religiosität als anthropologische Konstante annehmen.³⁶⁹ Aus dieser am Handlungs-, Subjekt-, Erfahrungsund Lebensweltbegriff orientierten Perspektive wundert auch die unzutreffende, kritische Bewertung der Luhmannschen Religionstheorie als zwar originell, aber theologisch wenig anschlussfähig sowie „unterkomplex“³⁷⁰ nicht.
In ihrer Tübinger Dissertation wendet sich Nickel-Schwäbisch 2004 einem religionssoziologischen Problem zu und erörtert vor dem Hintergrund der Systemtheorie Luhmanns die Frage: „Wo bleibt Gott?“.³⁷¹ Zur „theologische[n] Auseinandersetzung mit dem Gottesbegriff der Systemtheorie Niklas Luhmanns“³⁷² stellt die Verfasserin zum einen anhand der späten Religionsschrift „Die Religion der Gesellschaft“ die Luhmannsche Religionstheorie dar, zum anderen fragt sie nach der impliziten Theologie dieses Theorieentwurfs. Damit nimmt Nickel-Schwäbisch den Soziologen sowohl als Analytiker sowie „stillen Metaphysiker“³⁷³ als Gesprächspartner für die Theologie in Anspruch. Im Einzelnen erfolgt die Rekonstruktion der religiösen Kommunikation über Gott zunächst mittels der Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des Gottesbegriffs von der segmentierten über die stratifizierte bis hin zur funktional differenzierten Gesellschaft der Ge
Gärtner 2000: Gottesrede. Vgl. a.a.O., 106 f. A.a.O., 14. Vgl. a.a.O., 102. Vgl. a.a.O., 76 ff. Nickel-Schwäbisch 2004: Gott. So der Untertitel. Vgl. Nickel-Schwäbisch a.a.O., 3; in Anlehnung an Bude.
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genwart.³⁷⁴ Dem schließt sich eine inhaltlich-systematische Rekonstruktion des Gottesbegriffs an.³⁷⁵ Die theologische Auseinandersetzung mit der Luhmannschen Theorie wird auf theorieimmanenter Ebene gesucht:³⁷⁶ Der Systemtheorie eignet eine eigentümliche Antithese von Einheit und Differenz, die bei der Kommunikation über Gott der Klärung bedarf. Folgt man Luhmann, so hat die Religion in der modernen Gesellschaft die Aufgabe, Einheit zu kommunizieren. Dem entspricht die Vorstellung Gottes als abstrakte Einheit. Aus theologischer Perspektive ist dies allerdings nicht haltbar, da Religion immer das Zugleich von Einheit und Differenz zur Sprache zu bringen hat,³⁷⁷ und Theologie Gott in der Person Jesus Christus als konkretes Gegenüber zur Welt postuliert.³⁷⁸ Im Luhmannschen Liebesverständnis, entfaltet in „Liebe als Passion“³⁷⁹, wird die Antithese von Einheit und Differenz durch die sich der Zweiheit entziehende dritte Position der Liebe erweitert und damit überwunden. Luhmann selbst hat den Gedanken nicht weiter verfolgt, aber „[d]ies könnte für ein Weiterdenken der Systemtheorie im Dialog mit der theologischen Fragestellung neue Impulse geben.“³⁸⁰ Der Gedanke, die Rede von Gott ausgehend von der Liebe zu bedenken, wird in einem knappen Vergleich der Theorie Luhmanns mit dem Denkansatz von Levinas weiterverfolgt.³⁸¹ „Die Frage ‚Wo bleibt Gott?‘ ist damit nicht beantwortet. Wenn religiöse Kommunikation das Zugleich von Einheit und Differenz vertritt, steht sie in einem Spannungsverhältnis, das sie nie zur Ruhe kommen lässt.“³⁸² In der christlichen Theologie wird dies durch die Rede von der Inkarnation besonders deutlich, wie bereits Guggenberger formuliert: „Was systemtheoretisch undenkbar bleibt, wird hier freilich zum springenden Punkt. Die Inkarnation in das System bedeutet nicht den Verlust des Standpunktes in dessen Umwelt. Ein absolut und ausschließlich jenseitiger Gott wäre tatsächlich einer, mit dem Kommunikation unmöglich wäre. Ein ebenso diesseitiger Gott macht sich selbst kommunikationsfähig und gesellschaftlich kommunikabel.“³⁸³
Vgl. a.a.O., 29 ff. Vgl. a.a.O., 115 ff. Vgl. a.a.O., 159 ff. Vgl. a.a.O., 170. Vgl. a.a.O., 161 f; in Anlehnung an Schneider-Flume. Luhmann 20037: Liebe. Nickel-Schwäbisch 2004: Gott, 162. Vgl. a.a.O., 164 ff. A.a.O., 170. Guggenberger 1998: Systemtheorie, 197; Hervorhebung im Original; vgl. Nickel-Schwäbisch 2004: Gott, 170 f. – Die von Guggenberger (1998: Systemtheorie) in der katholischen Sozialethik vorgelegte Dissertation zeichnet sich ansonsten durch eine eher ungewöhnliche Rezeptionsweise
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Es ist der Verdienst der Untersuchung von Nickel-Schwäbisch, eine ausführliche und differenzierte Darstellung der Religionstheorie Luhmanns anhand dessen letzter Religionsschrift zu bieten. Dass Luhmann der Theologie zu denken gegeben hat, zeigt die theologische Auseinandersetzung mit dem Gottesbegriff der Systemtheorie. Damit leistet die praktisch-theologische Studie von NickelSchwäbisch v. a. einen Beitrag zur systematisch-theologischen Diskussion.
1.1.2.7 Fazit: Luhmannsche Systemtheorie und die Praktische Theologie Die Aufnahme der Luhmannschen Systemtheorie hinsichtlich praktisch-theologischer Fragestellungen hat bereits in fast allen Teildisziplinen stattgefunden. Die seit Mitte der 1990er Jahre erschienenen Untersuchungen sind in die zweite Phase der theologischen Debatte um die Theorie Luhmanns einzuordnen.³⁸⁴ In der Mehrzahl als wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten entstanden, nehmen die Untersuchungen grundlagentheoretische Überlegungen Luhmanns auf, um diese im Sinne des dritten von Schöfthaler skizzierten Typus’³⁸⁵ konstruktiv-kritisch und interdisziplinär für ihre jeweilige Themenstellung zu diskutieren. Insgesamt findet die Rezeption systemtheoretischer Elemente klar konturiert, differenziert, theoretisch kontrolliert und strikt an dem von Luhmann vorgegebenen Theorierahmen orientiert statt, so dass fundamentale Missverständnisse des systemtheoretischen Konzepts in der Regel ausbleiben. Lediglich in den kybernetischen Arbeiten von Lindner und Breitenbach, die sich auf der Basis allgemein „systemischen Denkens“ an systemtheoretischen Modellen der Natur-
der Systemtheorie Luhmanns aus. Die dort von traditionell-konservativer Seite geübte Kritik ist nicht an den Theorieentwurf des Soziologen, sondern an die moderne Gesellschaft gerichtet, deren innere Struktur in der systemtheoretischen Gesellschaftsbeschreibung die plausibelste Erklärung findet (a.a.O., 84 und 200). Mit der Trennung von System und Umwelt sei „gleichsam des Pudels Kern von Erfolg und Riskanz der herrschenden Gesellschaftskonzeption“ (a.a.O., 94) benannt: die antichristliche, im Sinne des griechischen „diaballein“ verwirrende, diabolische Weltzerteilung (a.a.O., 193). „Das ‚Teuflische‘ erscheint damit als Grundlage alles Sozialen“ (a.a.O., 193). Dem Diabolischen der sozialen Systeme setzt Guggenberger in teilweise apokalyptisch anmutender Sprache die göttliche Einheit als theologisches Alternativmodell entgegen und sucht damit das Heil in einer restaurativen Flucht nach hinten. – Dieser kritisch zu bewertende Kontext sollte jedoch nicht die Relevanz der von Guggenberger vorgebrachten inkarnationstheoretischen Überlegung schmälern. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt übrigens auch Thomas (2006: Kommunikation, 22 ff), wenn er systematisch-theologisch die Offenbarung Gottes als re-entry reformuliert. Damit geht er analog der jüdisch-christlichen Tradition von einer Kommunikation Gottes mit dem Menschen aus und setzt nicht mehr ausschließlich bei der Transzendenz an. Zu den Phasen der theologischen Auseinandersetzung mit der Systemtheorie Luhmanns s. o. 1.1.1. Schöfthaler 1983: Religion, 148; s.o. 1.1.1.
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wissenschaften orientieren, ist eine selektive und damit problematische Bezugnahme auf Theorieelemente der Systemtheorie Luhmanns zu konstatieren.³⁸⁶ Den anderen Studien dient die Luhmannsche Systemtheorie v. a. „als Beobachtungsinstrumentarium zur Analyse der Funktion der Rel[igion] in der modernen Gesellschaft“.³⁸⁷ Mit ihrer spezifischen Terminologie stellt die Systemtheorie zum einen der Theologie differenzierte Beschreibungsmöglichkeiten zur Verfügung und ermöglicht als außertheologische Theorie zum anderen eine Außenperspektive auf spezifisch theologische Probleme. Die „horizontale“ Differenzierung in verschiedene gesellschaftliche Funktionssysteme dient v. a. der soziologischen Analyse der modernen Gesellschaft. Dabei führt der Rekurs auf die systemtheoretische Beschreibung des Religionssystems häufig zu Reformulierungen spezifisch christlicher und evangelischtheologischer Inhalte, die das Spezifikum religiöser Kommunikation herausstellen. Auch die konstruktive Weiterführung der Luhmannschen Theorievorgaben ist zu beobachten – so wird bspw. in der Diakonik wie Religionspädagogik der religiöse Code um eine jeweils intradisziplinäre Zweitcodierung ergänzt. Die von der Systemtheorie vorgenommene „vertikale“ Differenzierung in Interaktion, Organisation und Gesellschaft wird in der praktisch-theologischen Rezeptionsgeschichte hingegen erst relativ spät wahrgenommen. Erst die liturgiewissenschaftliche Arbeit von Dinkel³⁸⁸ nimmt 2000 explizit Bezug auf die Interaktion – und das, obwohl in der christlich-kirchlichen Praxis die Kommunikation unter Anwesenden eine große Rolle spielt.³⁸⁹ Es fällt auf, dass sich die meisten praktisch-theologischen Entwürfe die Systemtheorie Luhmanns hinsichtlich ihres soziologisch-analytischen Charakters nutzbar machen. Deshalb ist der Rückgriff auf die Luhmannsche Theorie häufig im Rahmen der v. a. die Praktische Theologie betreffenden Methodenfrage³⁹⁰ und der Verhältnisbestimmung von Praktischer Theologie und Soziologie³⁹¹
Ähnliches gilt für Dahm 1971: Beruf; s.o. 1.1.2.1. Dinkel 2004: Systemtheorie, 2026. Dinkel (2000: Gottesdienst); unmittelbar darauf folgt Karle (2001: Pfarrberuf). Unabhängig davon nimmt auch Gronover (2006: Religionspädagogik) den Luhmannschen Interaktionsbegriff auf. Vgl. Tyrell/Krech/Knoblauch (1998: Kommunikation, 24 ff) und Dinkel (2006: Face, 161). – Allerdings ist v. a. im Hinblick auf Dinkel davor zu warnen, den Vollzug christlicher Religion ausschließlich als Interaktion zu fokussieren, da dadurch andere religiöse Kommunikationsformen, wie sie z. B. die praktisch-theologische Publizistik in den Blick nimmt, verdrängt werden. Vgl. Roosen 1997: Kirchengemeinde, 616: „Die praktisch-theologisch Forschung hat wohl ein eigenes Arbeitsfeld, eine eigene Methode hat sie nicht. Sie kann nicht anders, als die Methoden, die sie verwendet, andernorts zu entleihen.“
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zu beobachten. Hierbei laufen jedoch einige der Ansätze Gefahr, die Theologie zu „soziologisieren“. Unter rein soziologischer Perspektive ist die Luhmannsche Systemtheorie jedoch nicht adäquat erfasst, und gerade im Hinblick auf die Interaktion werden erkenntnistheoretische und (rezeptions‐)ästhetische Fragestellungen virulent. Denn bei Anwesenheit kann Kommunikation nicht von reziproker Wahrnehmung getrennt werden: „[E]s ist […] vor allem die unmittelbarkeitssuggestive Wahrnehmung, die für die Interagierenden – koinzident im sozialen wie zeitlichen Sinne – Anwesenheit und Gegenwart herstellt.“³⁹² Was den erkenntnistheoretischen Aspekt anbelangt, steht die praktisch-theologische Rezeption der Systemtheorie Luhmanns allerdings erst am Anfang.³⁹³ Zu den bisher systemtheoretisch unreflektierten Teildisziplinen der Praktischen Theologie gehören sowohl die Homiletik als auch die Publizistik³⁹⁴, obwohl beide für eine systemtheoretische Perspektive anschlussfähig wären. So öffnet sich die Homiletik mit ihrem Konsens, dass „auf die Kommunikation (Form) ebenso zu achten [ist; L.K.] wie auf das Evangelium (Inhalt)“,³⁹⁵ für eine rhetorische und kommunikationstheoretische Reflexion des Predigtgeschehens. Luhmann, der die Operationsweise sozialer Systeme als Kommunikation bestimmt und so mit seiner Theorie sozialer Systeme eine Kommunikationstheorie vorlegt, bietet der Homiletik einen methodischen Zugang, mit dem sich der Zusammenhang von Form und Inhalt der Predigt adäquat beobachten ließe. Erste systemtheoretische Beschreibungen der Predigt als religiöser Rede legt Dinkel mit seiner funktionalen Gottesdiensttheorie vor. Hier wird die Predigt als „Kern des evangelischen Gottesdienstes“³⁹⁶ herausgearbeitet. Im Rückgriff auf die systemtheoretische Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation be-
Zum Verhältnis von Praktischer Theologie und Sozialwissenschaften vgl. Mette/Steinkamp 1983: Sozialwissenschaften, 164 ff. Auf die dort entwickelte Typologie nehmen Dinkel (2000: Gottesdienst, 26 Anm. 57) und Starnitzke (1996: Diakonie, 173 ff) Bezug. – Auch Haslinger (1999: Praktische Theologie) setzt zur Reflexion des systemtheoretischen Denkens beim Verhältnis der Praktischen Theologie zu den Humanwissenschaften an. Tyrell/Krech/Knoblauch 1998: Kommunikation, 29; Hervorhebungen im Original. Einer explizit wahrnehmungsgeleiteten Fragerichtung folgt Gronover (2006: Religionspädagogik), eine im weitesten Sinne konstruktivistischen Perspektive vertreten Büttner und Dieterich (2004: Religion). Jüngst ist in der Publizistik die systemtheoretisch fundiert ansetzende Untersuchung von Uhlhorn (2015: Kirchliche Kommunikation) erschienen. Meyer-Blanck/Weyel 1999: Arbeitsbuch, 65; Hervorhebungen im Original. Dinkel 2000: Gottesdienst, 240. – Vgl. im weitgehenden Anschluss an Dinkel auch Karle (2002: Glauben), die vor dem Hintergrund der Luhmannschen Kommunikationstheorie die Homiletik Schleiermachers reflektiert.
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stimmt Dinkel die Intention der Predigt nicht als „verlustfreie Übertragung einer Information vom Sender auf den Empfänger“,³⁹⁷ sondern „[s]ystemtheoretisch betrachtet kommt es […] darauf an, den psychischen Systemen der Hörenden solche Mitteilungen anzubieten, die sie für eine stabile und tragfähige Eigenkonstruktion ihrer religiösen Innenwelt verwenden können.“³⁹⁸ Hier könnte sich ein konstruktiver Bezug zur Rezeptionsästhetik ergeben.³⁹⁹ Zwar verweist Dinkel auf die semiotisch-rezeptionsästhetisch orientierten homiletischen Konzeptionen von Martin⁴⁰⁰ und Engemann⁴⁰¹, doch dominieren seiner Meinung nach eher die Schwächen des Entwurfs von Martin.⁴⁰² Anders als Martin plädiert Dinkel hinsichtlich der Predigt für eine verständliche Entfaltung und Erklärung des christlichen Wirklichkeitsverständnisses im Anschluss an einen biblischen Text, während er „die Freiräume für das eigene Assoziieren der Hörerinnen und Hörer“⁴⁰³ auf andere Elemente des Gottesdienstes bezogen sieht. Orientiert man sich zur Beschreibung des Predigtgeschehens hingegen nicht wie Dinkel an der Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation, sondern an dem systemtheoretischen Kommunikationsbegriff, so liegt die Analogie zur rezeptionsästhetischen bzw. semiotischen Reflexion der Homiletik mehr als nahe. Die systemtheoretische Definition der Kommunikation als dreistelligen Selektionsprozess von Information, Mitteilen und Verstehen⁴⁰⁴ wendet sich gegen das traditionelle Sender-Empfänger-Modell, bei dem Kommunikation als Übertragung einer Nachricht vom Absender auf den Empfänger verstanden wird: „Die Übertragungsmetapher ist unbrauchbar, weil sie zu viel Ontologie impliziert.“⁴⁰⁵ Das Wesentliche der Kommunikation liegt nun nicht mehr wie im herkömmlichen zweistelligen Kommunikationsverständnis im Akt der Übertragung und im Mitteilenden, sondern: „Entscheidend ist, daß die dritte Selektion [Verstehen; L.K.] sich auf eine Unterscheidung stützen kann, nämlich auf die Unterscheidung der Information von ihrer Mitteilung. Da dies entscheidend ist und Kommunikation nur von hier aus verstanden werden kann, nennen wir (etwas ungewöhnlich) den
Dinkel 2000: Gottesdienst, 243. Ebd. Vgl. Pohl-Patalong 2001: Möglichkeitsräume, 145: „Über diese bereits geleistete Rezeption [in den anderen praktisch-theologischen Teildisziplinen; L.K.] hinaus wären vielfältige andere Anknüpfungsmöglichkeiten denkbar, wie beispielsweise für die Homiletik (hier könnten sich interessante Aspekte in Zusammenspiel mit der Rezeptionsästhetik ergeben)“. Martin 1984: Predigt; s.u. 1.2.2.2. Engemann 1993: Homiletik; s.u. 1.2.2.2. Vgl. Dinkel 2000: Gottesdienst, 210 ff. A.a.O., 212. Vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 193 ff; s.u. 3.2.1.1. A.a.O., 193.
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Adressaten Ego und den Mitteilenden Alter.“⁴⁰⁶ Da systemtheoretisch betrachtet Kommunikation nur zustande kommt, wenn Ego die Differenz von Information und Mitteilung versteht, findet Dinkels Plädoyer für „das Verstehen als Predigtziel“⁴⁰⁷ durchaus seine Berechtigung – allerdings nicht mehr in dem von Dinkel intendierten alltagssprachlichen Gebrauch, sondern im Sinne der Luhmannschen Terminologie. An eben dieser Stelle bietet es sich für die Homiletik an, Luhmannsche Systemtheorie und rezeptionsästhetisch- bzw. semiotisch-homiletische Entwürfe zueinander in Relation zu setzen. Im Fokus einer als Zeichenprozess verstandenen Predigt stehen die Zuhörenden als Rezipienten der Predigt, die den „Predigtinhalt erst zu Ende konstituieren“.⁴⁰⁸ Denn „[d]en Inhalt gibt es nur in einer kommunikativen, rezeptiven Form.“⁴⁰⁹ Die Analogie der Triangulierungen von Darstellungs- und Deutungsprozessen ist offensichtlich: Im „homiletischen Dreieck“ ist es die Position des Hörers, im „semiotischen Dreieck“ die Stelle des Interpretanten und im dreistelligen Kommunikationsbegriff der Systemtheorie die Selektion des Verstehens bzw. Ego, die als jeweils wesentliche Elemente des Kommunikationsprozesses markiert werden. Aus dieser Zusammenschau semiotisch-homiletischer Entwürfe und der Luhmannschen Systemtheorie könnten sich für eine zukünftige Homiletik konstruktive und interessante Aspekte ergeben. Auch die noch verhältnismäßig junge praktisch-theologische Teildisziplin der Publizistik bietet für einen systemtheoretischen Zugang Anschlussmöglichkeiten und lässt durch die Rezeption Luhmannscher Theorie einen Zugewinn an differenzierten Beschreibungsmöglichkeiten erwarten. Nach den ersten konzeptionellen Bemühungen 1945, liegt die Aufgabe gegenwärtiger Publizistik nun v. a. in der Reflexion kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit und des kirchenunabhängigen Journalismus zu religiösen und kirchlichen Themen.⁴¹⁰ Bisher bewegt sich die wissenschaftlich theologische Reflexion über die publizistische Praxis eher am Rande der Praktischen Theologie, was sich in der im Vergleich zu anderen praktisch-theologischen Teildisziplinen eher schmalen Literaturbasis widerspiegelt. „Eine konsensfähige Systematik des Stoffes der Christlichen Publizistik hat sich noch nicht herausgebildet.“⁴¹¹ Dennoch wundert es, dass in der Praktischen
A.a.O., 195. Dinkel 2000: Gottesdienst, 212. Meyer-Blanck/Weyel 1999: Arbeitsbuch, 73. A.a.O., 72. Vgl. Nicol 2000: Grundwissen, 184. Ebd.
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1. Systemtheorie und Semiotik
Theologie lange kein publizistischer Entwurf vorlag,⁴¹² der die über Schrift, Buchdruck, elektronische Medien und Massenmedien reflektierende Luhmannsche Theoriegestalt aufnimmt,⁴¹³ so wie es bereits in der allgemeinen Publizistik geschehen ist.⁴¹⁴ Von praktisch-theologischem Interesse ist die 1998 veröffentlichte systematisch-theologische Dissertation „Medien – Ritual – Fernsehen“ des WelkerSchülers Thomas,⁴¹⁵ in welcher das Massenmedium Fernsehen als zentrales, religiöses Ritual der modernen Gesellschaft untersucht wird. Der Reflexionsrahmen wird im Rückgriff auf Smart, Kaufmann, Geertz und Rappaport v. a. religions- und ritualtheoretisch, sowie im Anschluss an Luhmanns Theorie auch systemtheoretisch abgesteckt. Den theologischen Rahmen der Studie bildet eine von Dalferth angeregte Interpretation von K. Barth. In kritischer Auseinandersetzung mit dieser Studie von Thomas könnte die praktisch-theologische Publizistik eigene Kriterien ihrer Disziplin entwerfen – v. a. da Thomas neben medientheoretischen, psychotherapeutischen, anthropologischen und literaturwissenschaftlichen Beiträgen zum Ritual- und Religionsbegriff auch praktisch-theologische Diskussionsbeiträge hinsichtlich des Fernsehens aufordnet und theoretische Zugänge wählt, die auch der Praktischen Theologie nicht fremd sind. Rar sind ebenso Überlegungen zu einem aus systemtheoretischer Perspektive rekonstruierten Grundriss der Praktischen Theologie. Anregungen hierzu stammen von Laube:⁴¹⁶ Praktische Theologie hat im Anschluss an Schleiermacher die Aufgabe, religiöse Praxis zu rekonstruieren und die „Landschaft der religiösen Gegenwartskultur“⁴¹⁷ topographisch zu beschreiben, wobei ihr die „kommunikationstheoretische Wende“ in der Soziologie, insbesondere deren Ausarbeitung in der Luhmannschen Systemtheorie von mehrfachem Nutzen sein kann. Die „programmatische Umstellung der soziologischen Grundbegrifflichkeit von Handlung auf Kommunikation“⁴¹⁸ ist in der Luhmannschen Theoriegestalt mit der
Vgl. nun Uhlhorn 2015: Kirchliche Kommunikation. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 249 ff und 291 ff und 302 ff und 1096 ff; ders. 19962: Realität. Vgl. die entsprechenden Beiträge in deBerg/Schmidt (2000: Rezeption) Gripp-Hagelstange (2000: Denken) und Runkel/Burkhart (2005: Funktionssysteme). Thomas 1998: Medien. Laube 2000: Kommunikation. A.a.O., 123. A.a.O., 113. Ähnlich auch Dinkel 2004: Systemtheorie, 2026: Die Systemtheorie stellt „das Beobachten des Sozialen von Handlungstheorie auf Kommunikationstheorie“ um. – Die Neuorientierung vom Handlungs- zum Kommunikationsbegriff prägt seit Mitte der 70er Jahre die verschiedensten Lager der deutschen Soziologie; vgl. Tyrell/Krech/Knoblauch 1998: Religion.
1.1 Systemtheorie und systemisches Denken
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Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation radikalisiert, das im soziologischen Handlungsbegriff implizit vorausgesetzte „subjektivitätstheoretischbewusstseinsphilosophische“⁴¹⁹ Paradigma damit konsequent überwunden. Religionssoziologisch folgt daraus, dass religiöses Bewusstsein strikt von religiöser Kommunikation zu differenzieren ist. Die Praktische Theologie wird durch die Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation zunächst von „subjektivitätsphilosophischen Prämissen“ entlastet, um sodann „dem hermeneutischen Interesse an der ‚Unhintergehbarkeit von Individualität‘ betont Rechnung zu tragen“ und den „Blick auf die vielfältigen Phänomene religiöser Individualisierung zu schärfen.“ ⁴²⁰ Laube macht zudem auf die Luhmannsche „vertikale“ Differenzierung der modernen Gesellschaft in Interaktion, Organisation und Gesellschaft aufmerksam und zeigt deren Nutzen für die Grundlegung der Praktischen Theologie auf. Versucht man die bislang erfolgten systemtheoretischen Zugänge zu teildisziplinären Fragen der Praktischen Theologie einem Paradigma zuzuordnen, so lassen sich die verschiedenen Ansätze am ehesten am Übergang vom empirischem zum ästhetischen Paradigma verorten. Denn die von Luhmann vorgelegte Theorie sozialer Systeme kann einerseits als explizit soziologische Theorie zur Beschreibung der modernen Gesellschaft herangezogen werden – eine derartige Rezeption bewegt sich im Rahmen eines empirischen Zugangs zur Praktischen Theologie. Andererseits ist der Rückgriff auf die „radikal konstruktivistische“⁴²¹ Theorie selbstreferentieller Systeme unter epistemologischer und damit unter ästhetischer Perspektive möglich. Die Durchsicht der Literatur macht jedoch deutlich, dass die praktischtheologische Rezeption Luhmannscher Systemtheorie diese Option eines grundsätzlichen Paradigmawechsels bislang nur äußerst verhalten aufgenommen und selten thematisiert hat. Auf die Systemtheorie im Kontext der empirischen Wende als soziologische Theorie aufmerksam geworden verharrt die Rezeption in jenen sozialwissenschaftlichen Bezugnahmen und läuft darüber hinaus z.T. sogar Gefahr, die Theologie zu soziologisieren. Der konstruktivistische Ausgangspunkt der Systemtheorie und die sich daraus ergebenden epistemologischen Konsequenzen werden damit zwar stets implizit mitgetragen, jedoch kaum explizit benannt und ausgeführt.
Laube 2000: Kommunikation, 117. Vgl. a.a.O., 123 f; u. a. im Anschluss an M. Frank. Luhmann 1997: Gesellschaft, 35.
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1. Systemtheorie und Semiotik
So liegt das Desiderat der Praktischen Theologie und ihrer Teildisziplinen primär in der Öffnung für die erkenntnistheoretische Perspektive der Luhmannschen Systemtheorie und damit insgesamt in der Öffnung für ästhetische Fragestellungen. Denn ebenso wie es im Rahmen der empirischen Wende geboten war, die Praktische Theologie für Human- und Sozialwissenschaften zu öffnen, so ist es nach vierzig Jahren des empirischen Zugangs nun an der Zeit, die Praktische Theologie als „Hermeneutik christlicher Praxis“⁴²² für Epistemologie und Ästhetik im weitesten Sinne zu öffnen – so wie sich seit etwa 1980 in der Praktischen Theologie ästhetische Bezüge abzeichneten. Weiterführend wäre es, in diesem Zusammenhang, „mögliche Parallelen zwischen der Veränderung der Praktischen Theologie von einer Handlungs- zu einer Wahrnehmungswissenschaft und der Wandlung der Kybernetik 1. Ordnung zur Kybernetik 2. Ordnung zu untersuchen.“⁴²³ Gerade für diesen Prozess der Umorientierung bietet sich der Praktischen Theologie die Luhmannsche Systemtheorie als „Beobachtungsinstrumentarium“⁴²⁴ an. Doch dies nicht nur zur ausschließlich soziologischen „Analyse der Funktion der Rel[igion] in der modernen Gesellschaft“⁴²⁵, sondern als epistemologisch verstandene „Sehhilfe“⁴²⁶. Eine solche praktisch-theologische Rezeption der Systemtheorie Luhmanns wäre sodann mit anderen methodischen Zugängen, v. a. aber mit einer semiotischen Perspektive kompatibel. Bezieht sich die Praktische Theologie mit Semiotik und Systemtheorie auf zwei universal angelegte Ansätze,⁴²⁷ so ergibt sich aus der pragmatischen Kombination beider Theorien als adäquates „Werkzeug“⁴²⁸ für praktisch-theologische Fragestellungen zugleich eine praktisch-theologische Distanznahme gegenüber den einzelnen außertheologischen Entwürfen. Dies stellt eine wesentliche Voraussetzung für eine intradisziplinär „erfolgreiche“ Rezeption dar. Denn auch mit einer außertheologischen Perspektivenschärfung bleibt das Deutungsinteresse der Praktischen Theologie ein theologisches.
Meyer-Blanck/Weyel 2008: Studien- und Arbeitsbuch, 47. Pohl-Patalong 2001: Möglichkeitsräume, 145. – Zur Kybernetik 1. und 2. Ordnung s. o. 1.1.2.2. Dinkel 2004: Systemtheorie, 2026. Ebd. Vgl. Lames 2000: Schulseelsorge, 21. S.o. 1.1.1 und s.u. 1.2.1. Beyer 1996: Kontakt, 20.
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
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1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie Zweifelsohne ist die Poimenik diejenige praktisch-theologische Teildisziplin, in der bisher die meisten systemisch orientierten Veröffentlichungen vorliegen. Eine differenzierte Darstellung hat sich auf komplexe Rezeptionslinien einzulassen. Denn neben der Aufnahme systemischer und systemtheoretischer Ansätzen, die in den anderen praktisch-theologischen Teildisziplinen rezipiert werden, bezieht sich die Poimenik außerdem auf systemtherapeutische Konzepte. Die Rezeption von Systemtheorie und systemischem Denken¹ erfolgt in der Poimenik zum größten Teil über die systemische Therapie und Beratung.² Das vorwiegende Interesse an systemischem Denken und weniger an Systemtheorie teilt die systemisch ausgerichtete Seelsorge mit ihrer systemtherapeutischen Rezeptionsgrundlage, bis wohin sich das beinahe durchweg zu konstatierende Theoriedefizit systemisch-poimenischer Ansätze zurückverfolgen lässt. Damit verbunden ist der besonders in dieser praktisch-theologischen Teildisziplin zu beobachtende Gebrauch theoretisch unreflektierter und nicht eindeutig definierter Terminologie, die zum größten Teil ebenfalls aus der systemischen Therapie und Beratung übernommen wird. Deshalb ist darauf zu achten, ob die Konzepte systemischer Poimenik in erster Linie aus systemtheoretischer oder systemtherapeutischer Perspektive entwickelt werden. Mittlerweile hat sich die systemische Seelsorge in der Poimenik etabliert. Nahm das Lehrbuch von Winkler den systemischen Ansatz noch eher marginal wahr³ – bei Ziemer⁴ fehlte sogar jeglicher Hinweis –, geht das neuere Lehrbuch von Klessmann nicht nur auf den Entwurf der systemischen Seelsorge ein,⁵ sondern nimmt sogar systemtherapeutische Aspekte in den eigenen Ansatz mit auf. ⁶ In der Poimenik ist es üblich geworden, den einzelnen Menschen auch „in seinem ‚System wahr[zu]nehmen‘“⁷ – ganz davon abgesehen, dass Morgenthaler, dessen
Zum systemischen Denken s. o. 1.1.2. Die RGG4 ist in dieser Hinsicht aufschlussreich: Unter „Systemischer Seelsorge“ findet man keinen Artikel, sondern einen Verweis auf den Artikel „Systemische Therapie“, an dessen Ende lediglich drei Sätze zur systemischen Seelsorge stehen; vgl. Morgenthaler 2004: Systemische Therapie. – Vgl. auch Pohl-Patalong 2001: Möglichkeitsräume, 144: „Für die Seelsorge ist es nahe liegend, vor allem die Erkenntnisse systemischer Therapie aufzunehmen.“ Vgl. Winkler 20002: Seelsorge, 412 ff. Ziemer (20042: Seelsorgelehre, 133 f) erwähnt im Zusammenhang von Überlegungen zum Verhältnis von Psychologie und Seelsorge lediglich kurz den „systemischen Therapieansatz“ neben anderen psychotherapeutischen Konzepten. Klessmann 20124: Seelsorge, 99 ff. A.a.O., 186 f und 285 ff. Vgl. Herbst 2012: Beziehungsweise, 106 ff.
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1. Systemtheorie und Semiotik
„Systemische Seelsorge“⁸ die poimenische Diskussion nachhaltig beeinflusste und seit 1999 bereits in fünfter Auflage (2014) vorliegt, in der Zwischenzeit selbst ein Lehrbuch vorgelegt hat.⁹ Um die verschiedenen Konzepte systemischer Seelsorge kritisch aufordnen zu können (1.1.3.2), ist es zunächst angebracht, die systemischen Therapie und Beratung vorzustellen (1.1.3.1). Ein Fazit (1.1.3.3) fasst die Ergebnisse in einem Ausblick zusammen.
1.1.3.1 Systemische Therapie und Beratung Ähnlich der systemischen Seelsorge hat sich mittlerweile auch die systemische Therapie und Beratung im psychotherapeutischen Kontext etabliert. Seit November 2008 ist sie ein der Tiefenpsychologie und Verhaltenstherapie gleichberechtigt anerkanntes Richtlinienverfahren.¹⁰ Damit ist sie in Deutschland – im Vergleich zu den USA und den meisten europäischen Ländern wie Großbritannien, Finnland, Schweden, Italien, Polen, Schweiz und Österreich – erst relativ spät als solches anerkannt worden. Bereits 2002 konstatiert Ludewig, dass sich die systemische Therapie zu einem „weltweit etablierte[n] Ansatz mit vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten“¹¹ entwickelt hat, was sich u. a. in zahlreichen Publikationen¹² und hohen Auflagenzahlen einschlägiger Monographien widerspiegelt.¹³ Für die vorliegende Untersuchung ist die systemische Therapie und Beratung nicht nur deshalb von Interesse, weil ihre Denkschemata und Methoden von der systemischen Seelsorge aufgenommen werden, sondern auch weil eine system-
Als Zitationsgrundlage dient im Folgenden: Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge. Morgenthaler 20122: Seelsorge. Vgl. http://if-weinheim.de. Ludewig 2002: Leitmotive, 10. Standardwerke systemischer Therapie, auf die auch in der Poimenik Bezug genommen werden, sind u. a. die von Reiter/Brunner/Reiter-Theil (19972: Familientherapie), Ludewig (19974: Systemische Therapie; 2002: Leitmotive), Schiepek (1999: Grundlagen), vonSchlippe/Schweitzer (19996: Lehrbuch; 2006: Lehrbuch II) und Simon (1993: Unterschiede). Außerdem haben Böse und Schiepek ein Handwörterbuch zur systemischen Theorie (19942: Systemische Theorie) publiziert. Das „Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung“ von vonSchlippe und Schweitzer, das 1996 zum ersten Mal erscheint, liegt 2007 bereits in zehnter Auflage vor und erscheint 2012 in zweiter Auflage einer Neubearbeitung; zitiert wird im Folgenden nach der sechsten Auflage von 1999. – Auch der zweite Band erscheint 2014 bereits in fünfter Auflage; zitiert wird im Folgenden nach der ersten Auflage von 2006.
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
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theoretisch-semiotische orientierte Poimenik systemtherapeutische Einsichten und Methoden für sich nutzbar machen kann.¹⁴ Systemische Therapie „läßt sich definieren als Umsetzung systemischen Denkens in die Praxis der Hilfestellung bei leidvollen Lebensproblemen, mit dem Ziel, zu deren Beseitigung bzw. Linderung beizutragen.“¹⁵ Dabei steht der Terminus „systemisches Denken“ allgemein für die metatheoretischen Grundlagen, auf die sich verschiedene Ansätze systemischer Therapie und Beratung berufen.¹⁶ Gemeinsam ist damit allen systemtherapeutischen Modellen eine im weitesten Sinne konstruktivistische Perspektive, die als erkenntnistheoretische Grundlage systemischen Denkens gilt.¹⁷ Da jedoch auch im Rahmen der Psychotherapie theoretisch nicht eindeutig zu spezifizieren ist, was mit systemischem Denken gemeint ist,¹⁸ differieren die Ansätze systemischer Therapie und Beratung hinsichtlich ihrer z.T. diffusen Bezugnahmen innerhalb des breiten Spektrums an im weitesten Sinne systemischen Theorien und Positionen.¹⁹ Auf terminologischer Ebene folgen daraus vielfältige eklektische Anleihen an den Begrifflichkeiten diverser wissenschaftlicher Disziplinen, wie der Physik, Biochemie, Philosophie, Soziologie, Ökologie etc. Vor dem Hintergrund einer systemtheoretisch-semiotischen Rekonstruktion der Poimenik ist v. a. die systemtherapeutische Aufnahme der Theorie operational geschlossener, selbstreferentieller Systeme sowie im Speziellen der Luhmannschen Systemtheorie weiterführend. Denn es ist bemerkenswert, dass eine derart „radikal antihumanistische“²⁰ und antisubjektive Theorie wie die Luhmannsche Systemtheorie auf die systemtherapeutische Konzeptentwicklung und in der Folge auch auf die psychotherapeutische Praxis Einfluss nimmt, steht doch – analog der Poimenik – auch in der Psychotherapie S.u. Kapitel 3 und 4. Ludewig 2000: Systemische Therapie, 230 f; Hervorhebung im Original. Vgl. a.a.O., 231. Vgl. vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 86 ff; a.a.O., 87: „Die konstruktivistische Philosophie ist derzeit die erkenntnistheoretische Grundlage systemischen Denkens.“ Zum systemischen Denken s.o. 1.1.2. Auf diese terminologische Verunklarungen wird in nahezu jeder systemtherapeutischen Publikation hingewiesen. VonSchlippe und Schweitzer z. B. sprechen von einer „babylonischen Bedeutungsvielfalt“ (19996: Lehrbuch, 49) des Begriffs systemisch. Diese „babylonische Vielfalt“ führt – als Resultat der theoretischen Unklarheiten – mitunter zur „Verwirrung der Praktiker“ (Welter-Enderlin 19972: Geister, 238), für die die klinische Praxis kaum noch zu überblicken ist. Ausbildungsinstitute und Literatur „bieten eine solche Fülle an unterschiedlichen Vorstellungen über ‚Systemtherapie‘ an, daß es oft schwer auszumachen ist, wo die gemeinsamen Nenner und wo die Unterschiede liegen“ (a.a.O., 235). Angesichts dessen plädiert Welter-Enderlin (vgl. a.a.O., 239) für mehr definitorische Präzision der verwendeten Begrifflichkeiten, besonders des Terminus systemisch. Luhmann 1997: Gesellschaft, 35.
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1. Systemtheorie und Semiotik
traditionell das Subjekt im Zentrum.²¹ Mit der Transformation systemtheoretischer Kategorien in die Praxis des therapeutischen Handlungsfeldes kreuzt die systemische Therapie erfolgreich von der Seite der Theorie zur Seite der Praxis, während umgekehrt die psychotherapeutische Praxis als Rahmen für die Aufnahme systemtheoretischer Denkschemata fungiert.²² Das poimenische Theorie-Experiment der vorliegenden Untersuchung kann sich von diesen systemtherapeutischen Überlegungen anregen lassen, um selbst das crossing von der poimenischen Theorie zur seelsorglichen Praxis zu erproben. Denn neben der poimenischen Theoriebildung geht es immer wieder auch darum, die praktische Relevanz und mögliche Konsequenzen erkenntnis- und kommunikationstheoretischer Einsichten für den Gegenstandsbereich der Untersuchung – die Seelsorge – auszuloten und aufzuzeigen.²³ Die systemische Therapie entsteht als eigenständiger Ansatz der Psychotherapie zu Beginn der 1980er Jahre. Meist in Abgrenzung zu psychoanalytischen und behavioristischen Modellen konzeptualisiert, entwickelt die systemische Therapie die Einsichten ihrer Vorgängerin, der Familientherapie, weiter. Während die Familientherapie auf ein bestimmtes therapeutisches Setting, ein (familiäres) MehrPersonen-Setting, beschränkt bleibt, zeichnet sich die systemische Therapie durch einen prinzipiell uneingeschränkten Anwendungsbereich hinsichtlich der zu lösenden „Probleme“ als auch möglicher Settings aus. Ambulant wie stationär wird die systemische Therapie bei psychischen, psychosomatischen, somatischen Störungen mit Krankheitswert, bei Behinderungen, zur Prävention und Rehabilitation in Einzel-, Paar- und Mehrpersonensetting eingesetzt. Neben Familienmitgliedern und Angehörigen werden auch weitere, (anwesende oder abwesende) Personen aus dem sozialen Umfeld – wie Peers, Lehrer, Personen aus dem beruflichen Kontext, Vertreter des Jugendamts und der Justiz, überweisende Ärzte sowie bereits involvierte Berater – in das therapeutische Geschehen miteinbezogen.²⁴ Auch das Altersspektrum der Indexpatienten²⁵ – von Kindern und Ju Die vorliegende Untersuchung geht von einem dynamisch-prozesshaften Subjektverständnis aus. Subjekt bezeichnet das kulturelle Konstrukt, das sich als Resultat im Zwischenraum struktureller Kopplungen von psychischen und sozialen Systemen (s.u. 3.2.2.1.2) entwickelt. Zum zirkulären Wechselverhältnis der Zwei-Seiten-Form Theorie und Praxis s. o. 1.1.2. S.u. Kapitel 4. Systemtheoretisch betrachtet, liegt hier gerade eine der Besonderheiten der Interaktion. Da die Kommunikation unter Anwesenden nicht an den Code eines Funktionssystems gebunden ist, kann sie vorübergehend gesellschaftliche Teilsysteme koppeln. D. h. solange die Therapiesitzung, die sich meist als Interaktion ereignet, können das Erziehungs-, Recht- und Medizinsystem gekoppelt werden. In der Interaktion verlieren die Codierungen der Teilsysteme ihr Deutungsmonopol, es kann zu wechselseitigen Irritationen kommen. Das absehbare Ende jeder Interaktion
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
67
gendlichen über Erwachsene bis hin zu älteren Menschen ist breit.²⁶ Insgesamt ist die Entwicklung der Familientherapie zur systemischen Therapie und Beratung durch den Paradigmawechsel von der Kybernetik 1. Ordnung zur Kybernetik 2. Ordnung²⁷ gekennzeichnet. Die Anfänge der Familientherapie lassen sich bis in die Mitte der 1950er Jahre in den USA zurückverfolgen.²⁸ Dort beginnen einzelne Psychotherapeuten, das soziale Umfeld ihrer Patienten nicht nur als Lieferant anamnestischer Daten, sondern als Mitpatient in die Therapie einzubeziehen. Zunächst eher als Handlungspraxis ohne eigene theoretische Reflexion angelegt, werden für die theoretische Fundierung die Arbeiten des Anthropologen Bateson²⁹ grundlegend, mit denen erstmals kybernetische Modelle in die Psychotherapie einführt werden. Als „Geburtsstunde einer systemischen Betrachtungsweise im Rahmen der Familienforschung und -therapie“³⁰ kann der 1956 von Bateson und seinen Mitarbeitern publizierte Artikel „Auf dem Weg zu einer Schizophrenie-Theorie“³¹ gelten. Die hier formulierte double-bind-Hypothese³² eröffnet den Weg zur Entstehung kommunikationstheoretisch begründeter Therapiemodelle. Primäres Ziel ist es nun nicht mehr – wie in den psychologisch orientierten Ansätzen –, psychische Strukturen und Muster, sondern Kommunikationsstrukturen und -muster zu beeinflussen. Da sich psychische Symptome meist als Verhaltensauffälligkeiten im familiären Kontext zeigen, wird die Familie zum Gegenstand der Forschung und Therapie. Seit den 1960er eine bereits erkennbare Bewegung, entwickeln sich ab den 1970er verschiedene Ansätze systemischer Familientherapie.Vorreiter der praktischen Umsetzung in die Therapie ist das Mental Research Institute (MRI) in dem Kalifornischen Palo Alto, das sich in erster Linie aus (ehemaligen) Mitarbeitern Batesons zusammensetzt –
verhindert dabei eine dauerhafte Abstimmung der gesellschaftlichen Funktionssysteme. Vgl. Kieserling 1999: Kommunikation, 77 f; s.u. 3.2.2.2.2. Als Indexpatient wird in der systemischen Therapie diejenige Person bezeichnet, der innerhalb eines sozialen Kontexts ein Symptom zugeordnet wird. VonSchlippe und Schweitzer (2006: Lehrbuch II, 245 ff) gehen sogar auf „Fütter-, Schlaf- und Schreistörungen“ bei Babys ein. – Zur „Vielfalt der Praxisfelder“ vgl. vonSchlippe/Schweitzer (19996: Lehrbuch, 216 ff; 2006: Lehrbuch II), und vonSydow et. al. (2007: Wirksamkeit). S.o. 1.1.2.2. Zur geschichtlichen Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung aus der Familientherapie vgl. die entsprechenden Beiträge in Reiter/Brunner/Reiter-Theil (19972: Familientherapie; dort v. a. Brunner 19972: Pioniere),vonSchlippe/Schweitzer (19996: Lehrbuch, 17 ff), Ludewig (2000: Systemische Therapie, 235 f) und Simon (2000: Name dropping, 363 ff) sowie aus poimenischer Perspektive Held (1998: Systemische Praxis, 21 ff und 51 ff). Bateson 1981: Ökologie; ders. 1982: Geist. Simon 2000: Name dropping, 364. Wiederabgedruckt: Bateson/Jackson/Haley/Weakland 1969: Weg. Das Konzept des double-bind (Doppelbindung) beschreibt, „dass eine Person einer anderen zwei widersprüchliche Botschaften sendet, über die keine Metakommunikation möglich ist, da der Empfänger der Botschaft in einer Abhängigkeitsbeziehung vom Sender steht“ (vonSydow et. al. 2007: Wirksamkeit, 35). – In der Folgezeit immer wieder Anlass zu kritischer Auseinandersetzung, gilt die double-bind-Hypothese theoretisch mittlerweile als überholt; vgl. ebd.
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1. Systemtheorie und Semiotik
später stößt auch Watzlawick, der als einer der prominentesten Vertreter des radikal konstruktivistischen Ansatzes gelten kann,³³ zu der Palo-Alto-Gruppe hinzu. Auch im deutschsprachigen Raum kann man seit den 1970er von einer nennenswerten Hinwendung der Praktiker zur Familientherapie sprechen. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung ist 1979 mit dem Zürcher Kongress für Familientherapie erreicht. Im Mittelpunkt dieses Kongresses steht das Mailänder Modell, ein Ansatz, der um das Team um Selvini Palazzoli entsteht und für die weitere Entwicklung der systemischen Therapie und ihrer Methoden von großer Bedeutung ist.³⁴ Perspektiven wie Zirkularität, Neutralität und die systemtherapeutisch zentrale Methode des „zirkulären Fragens“ haben sich seitdem als feste Elemente in der systemischen Therapie etabliert. Das von der Mailänder Gruppe 1975 auf Italienisch, zwei Jahre später auch auf Deutsch publizierte Buch „Paradoxon und Gegenparadoxon. Ein neues Therapiemodell für die Familie mit schizophrener Störung“³⁵ ist längst zu einem Klassiker geworden. In ihm beschreiben die vier Mailänder Therapeuten, wie sie versuchen, die Paradoxien familiärer Kommunikation mit „paradoxen Interventionen“ aufzulösen. Dabei gehen sie von einer Sichtweise der Kybernetik 1. Ordnung aus: Die Familie wird als regelgeleitetes System verstanden, dessen pathologische Homöostase³⁶ mit der Symptombildung zusammenhängt. D. h. Krankheit und symptomatisches Verhalten halten als homöostatische Mechanismen das Familiensystem in seinem Gleichgewichtszustand. In der Therapie soll das Familienspiel möglichst schnell mit gezielten Interventionen (z. B. paradoxen Verschreibungen) aus seinem Gleichgewicht gebracht werden, um so die verändernde Weiterentwicklung des Familiensystems zu ermöglichen sowie die Mechanismen auszutauschen, nach denen die Familie organisiert ist. Auch in ihrer späteren Arbeit – nachdem sich die Mailänder Gruppe Ende der 1970er getrennt hatte – geht Selvini Palazzoli weiterhin davon aus, dass sie als Therapeutin es sei, die das System verändert: „Ich habe verstanden, daß man erfinderisch sein muß. Und so habe ich auch diese Verschreibung erfunden. Und jetzt heile ich Schizophrenie in fünf, sechs Sitzungen. Man muß eben den eigenen Kopf benutzen.“³⁷ Für die weitere Entwicklung der systemischen Therapieform war jedoch mehr das Arbeitssetting als die Interventionsform des Mailänder Teams ausschlaggebend: Zwei Therapeuten arbeiten mit der Familie, zwei weitere Therapeuten sitzen hinter einer Einwegscheibe und beobachten die Sitzung. Dabei zeigt sich, dass die Therapeuten vor der Scheibe die
Vgl. z. B. Watzlawick 1981: Wirklichkeit; ders. 19892: Münchhausens Zopf. Zum Mailänder Modell vgl. vonSchlippe/Schweitzer (19996: Lehrbuch, 26 ff) und aus poimenischer Perspektive Held (1998: Systemische Praxis, 57 ff). – Die Basis für das familientherapeutische Modell Selvini Palazzolis wird durch die Einsichten Batesons gelegt. Zunächst arbeitet das Team um Selvini Palazzoli mit Familien mit magersüchtigen, später – ähnlich wie Bateson – auch mit schizophrenen Mitgliedern. Selvini Palazzoli/Boscolo/Cecchin/Prata 1977: Paradoxon. Homöostase bezeichnet in der Kybernetik 1. Ordnung (Steuerungslehre) die Tendenz eines Systems, seinen Gleichgewichtszustand konstant zu halten bzw. beim Abweichen vom Sollzustand den homöostatischen Istzustand wieder herzustellen. Die familiäre Homöostase wird in der Regel durch negatives Feedback (Rückkopplung), das auf die Rückkehr zur Ausgangslage abzielt, hergestellt. Positives Feedback hingegen zielt darauf, das System noch weiter vom Gleichgewichtszustand in Richtung Eskalation zu bringen; vgl. vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 61 f. Henning 1987: Interview, 14.
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
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familiäre Kommunikation gewöhnlich anders beschreiben als die Therapeuten hinter der Scheibe. Dieses Phänomen ließ sich am nahe liegendsten auf die unterschiedlichen Beobachterperspektiven zurückführen. Damit erwies sich die Annahme, der Therapeut sei ein außen stehender, objektiver Beobachter als obsolet. Aus einer praktischen Erfahrung gelangt man so von einer objektivistischen Sichtweise zu einer Perspektive, die den Beobachter und dessen Beobachtung bei der Beschreibung von Wirklichkeit mitreflektiert.³⁸ Mit dem Interesse an dem Beobachter treten von da an verstärkt erkenntnistheoretische Fragestellungen in den Fokus der Aufmerksamkeit systemischer Therapeuten. Auf Ebene der Theorie werden schnell Anschlussmöglichkeiten gefunden, denn nahezu zeitgleich bezieht vonFoerster³⁹ den Beobachter in die Beobachtung des Systems mit ein und unterscheidet so die „Kybernetik 1. Ordnung“ von einer „Kybernetik 2. Ordnung“.
Seit den 1980er findet in der Familientherapie unter dem Einfluss der sich in dieser Zeit herausbildenden philosophischen und soziologischen Theorien eine erkenntnistheoretische Akzentverschiebung statt.⁴⁰ Als dessen Folge entwickelt sich die systemische Therapie als eine „Psychotherapie jenseits normativer Gewißheit“.⁴¹ Wurden Systeme zuvor als ontologisch deutbare Einheiten verstanden, die vermeintlich objektiv beschreibbar sind und in die von außen planbar interveniert werden kann, geht man nun davon aus, dass der Beobachter und dessen Erkenntnismöglichkeiten in die Beschreibung eines Systems miteinzubeziehen sind: Denn Beobachtungen bilden die Welt nicht ab, sondern konstruieren Wirklichkeit. Wird die Vorstellung von einer vom Beobachter unabhängigen Realität aufgegeben, so werden auch die Annahmen beobachterunabhängiger, d. h. vermeintlich objektiver Aussagen über einen Patienten oder ein familiäres System sowie die Anwendung vermeintlich objektiver Therapiestrategien für vermeintlich objektiv definierbare Störungen und Symptome obsolet. Der Therapeut kann nicht länger – wie in der frühen Familientherapie üblich – als außen stehender Beobachter eines pathologischen (Familien‐)Systems betrachtet werden, sondern Diagnose und Therapie hängen unmittelbar mit der Beobach-
Zu ähnlichen Einsichten gelangte man auch durch die Erfahrung, dass die verschiedenen Familienmitglieder ihre Familie in höchst unterschiedlicher Weise beschreiben – ganz so als ob sie in verschiedenen Familien lebten; vgl. Simon 19982: Einleitung, 12. VonFoerster 1995: Cybernetics. Zur epistemologischen Wende in der systemischen Sichtweise vgl. Simon 19982: Einleitung. Zur konstruktivistischen Sichtweise s.u. 3.1. So der Untertitel von Ludewig 2000: Systemische Therapie. – Nach Ludewig (2002: Leitmotive, 36) ist es 1981 Dell, der mit seinem Vortrag auf einem Zürcher Kongress die „Initialzündung zum Übergang von der Familientherapie zu einer umfassenderen systemischen Therapie mit eigener klinischer Theorie“ (ebd.) gibt. Dell bezieht sich auf die Erkenntnistheorie und das AutopoiesesKonzept von Maturana und löst damit eine theoretische Diskussion aus, die sich auf die Entwicklung der systemischen Therapie nachhaltig auswirkt.
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1. Systemtheorie und Semiotik
tungsperspektive, präziser: mit der vom Beobachter aktualisierten Unterscheidung zusammen. War die Kybernetik 1. Ordnung (1950 – 1980) in erster Linie durch Theorien über beobachtete Systeme bestimmt, zeichnet sich die Phase der Kybernetik 2. Ordnung (ab 1980) durch Theorien über den Beobachter aus:⁴² „Der Grundsatz systemischen Denkens – ‚Alles Gesagte wird von einem Beobachter gesagt‘ – […] formuliert […] ein rekursives, auf sich selbst zurückwirkendes Prinzip: ‚Alles Gesagte wird von einem Beobachter gesagt, der hier sagt, er sei ein Beobachter.‘ Der Beobachter konstituiert sich also erst in seiner Aussage über sich selbst.“⁴³ – Hier zeichnet sich zumindest eine terminologische Koinzidenz mit der Luhmannschen Systemtheorie ab, die Erkenntnistheorie als Theorie der Beobachtung entwirft.⁴⁴ Maßgeblichen Einfluss auf diese Wende im systemischen Denken üben die epistemologischen Überlegungen zur Autopoiese lebender Systeme von Maturana und Varela⁴⁵ sowie der radikale Konstruktivismus von vonFoerster⁴⁶ und von Glaserfeld⁴⁷ aus. Beide Ansätze zielen auf die Konstruktion der Wirklichkeit durch den Beobachter. Mit dem Rekurs auf die Theorie selbstreferentieller Systeme verschiebt sich der Fokus in der systemischen Therapie auf die Selbstorganisation und operationale Geschlossenheit des Systems. In der systemtherapeutischen Literatur stößt man deshalb immer wieder auf Formulierungen wie „Achtung vor Autonomie des Systems“⁴⁸ oder ähnlichem. Damit wird auch die Vorstellung von der externen Einflussnahme auf ein System revidiert, und die Idee eines vermeintlich direkten Eingriffs in ein System aufgegeben. Man geht nun davon aus, dass Therapeuten ein System mit „passenden“ Methoden lediglich „verstören“ und „anregen“,⁴⁹ nicht aber systeminterne Operationen durch vermeintlich „richtiges“ Intervenieren kausal kontrollieren und gezielt steuerbar beeinflussen
Vgl. vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 50 ff. Ludewig 19974: Systemische Therapie, 82. S.u. 3.1. Maturana 1982: Erkennen; ders./Varela 1987: Baum. VonFoerster 1985: Sicht. VonGlaserfeld 1987: Wissen; Schmidt 19882: Diskurs. VonSchlippe/Schweitzer 2006: Lehrbuch II, 39; im Original hervorgehoben. Die Termini Verstören und Verstörung führt Ludewig 1983 (19883: Intervention) in den therapeutischen Diskurs ein. Sie dienen als Übertragung von Maturanas Konzept der Perturbacion ins Deutsche – in der Übersetzung von „Der Baum der Erkenntnis“ (1987: Baum) hatte Ludewig die Begriffe Perturbieren und Perturbation noch übernommen. Da es jedoch – analog einer rezeptionsästhetischen Sichtweise – vom Klientensystem abhängt, ob eine Intervention zu einer signifikanten Verstörung wird, schlägt Ludewig 1992 (19974: Systemische Therapie, 203 Anm. 19) eine weitere Präzisierung vor:Verstörung verwendet er nun in Bezug auf die Reaktion des Klienten, den Part des Therapeuten bezeichnet Ludewig hingegen als Anregen.
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
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können. Ludewig spricht in diesem Zusammenhang vom „Therapeutendilemma“: „Handle wirksam, ohne je im voraus zu wissen, wie, und ohne zu wissen, was dein Handeln auslösen wird!“⁵⁰ Vor einem ähnlichen Dilemma steht eine Seelsorge, die ihre Theorie u. a. von der Luhmannschen Systemtheorie her entwirft – einer Theorie, die das Selbstreferentialitäts-Konzept auf soziale Systeme überträgt. Durch den Rekurs auf konstruktivistische Theorien, auf die neurobiologische Kognitionstheorie des Autopoiesis-Konzepts und andere spätmoderne Metatheorien⁵¹ etabliert sich die systemische Therapie als eine „regelrechte Systemtherapie der zweiten Ordnung“.⁵² Die Aufnahme von Theorieelementen der Luhmannschen Systemtheorie erfolgt nach der Publikation des ersten Hauptwerks von Luhmanns „Soziale Systeme“ Mitte der 1980er, und damit erst später. Semiotische Theorien werden von der systemischen Therapie hingegen nicht wahrgenommen. In eine klinische Theorie umgesetzt werden die theoretischen Elemente u. a. durch die Arbeiten der Palo-Alto-Gruppe um Watzlawick,⁵³ im deutschsprachigen Raum – neben anderen, verschiedenen Zentren wie Marburg, Wien und Zürich – v. a. durch die Heidelberger Gruppe um Stierlin⁵⁴ und etwas später von Ludewig,⁵⁵ der mit seinem Team an der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf arbeitet. Im Laufe der Zeit differenzieren sich verschiedene Richtungen und Modelle systemischer Therapie aus.⁵⁶ Gemeinsam ist ihnen die mit dem systemischen Denken verbundene konstruktivistische Perspektive,⁵⁷ die
Ludewig 2002: Leitmotive, 38; im Original hervorgehoben. Vgl. Ludewig (2000: Systemische Therapie, 229 Anm. 5), der die in der systemtherapeutischen Literatur häufig zitierten und rezipierten Werke angibt. – Zu den von der systemischen Therapie aufgenommenen Theorien vgl. auch vonSchlippe/Schweitzer (19996: Lehrbuch, 61 ff) und vonSydow (et. al. 2007: Wirksamkeit, 32 ff). Ludewig 2002: Leitmotive, 36. Watzlawick 19914: Möglichkeit; ders. 19952: Verschreiben; ders./Beavin/Jackson 19969: Kommunikation; ders./Weakland/Fisch 19925: Lösungen. Für die vorliegende Untersuchung sind v. a. die Arbeiten von Simon (z. B. 1993: Unterschiede) von Interesse; zum Ansatz von Stierlin vgl. Held 1998: Systemische Praxis. Ludewig 19974: Systemische Therapie. Einen Überblick gibt vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 35 ff. Vgl. vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 86 ff. Böse und Schiepek (19942: Systemische Theorie, 11 f) skizzieren den „‚Radikale[n] Konstruktivismus‘ als Ausgangsposition“ ihres Handwörterbuchs. Exemplarisch für die Auseinandersetzung mit der konstruktivistischen Perspektive in der systemischen Therapie vgl. Spindler (1993: Konstruktivismus) und Stein (1999: Wirklichkeit). – Der Befund, dass sich nach intensiven Kontoversen und kritischer Auseinandersetzung mit dem radikalen Konstruktivismus (v. a. mit den Ansätzen von vonGlaserfeld und vonFoerster) in der systemischen Therapie nun „größtenteils eine gemäßigt konstruktivistische Haltung“ (vonSydow et. al. 2007: Wirksamkeit, 36; Hervorhebung im Original) durchgesetzt hat, ist als systemthera-
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1. Systemtheorie und Semiotik
explizit von solipsistischen Verzeichnungen abgrenzt wird. Denn der Prozess der Wirklichkeitskonstruktion ist nicht beim Einzelnen, sondern in den sozialen Relationen, in denen einzelne Menschen leben, zu verorten. Konstruierte Wirklichkeit wird als „das Ergebnis konsensueller Übereinkünfte“,⁵⁸ als „Ergebnis eines konsensuellen Abgleichungsprozesses“⁵⁹ verstanden – Formulierungen, die an Ecos „Vereinbarungsrealismus“⁶⁰ erinnern. Aus dieser Grundorientierung resultieren – wie vonSchlippe und Schweitzer es formulieren – „zentrale erkenntnistheoretische Prämissen der systemischen Therapie“,⁶¹ die auch für eine aus systemtheoretisch-semiotischer Perspektive rekonstruierte Poimenik von Interesse sind. Diese (erkenntnis‐)theoretischen „Kernfragen systemischer Therapie“ setzen sich neben der Frage nach der Realität, mit der Frage nach der Kausalität und der Rolle von Sprache und deren Rekursivität bei der Konstruktion von Wirklichkeit auseinander. Damit öffnet die Orientierung der systemischen Therapie am systemischen Denken diese für Themen, die über den psychotherapeutischen Bereich hinaus in die Erkenntnistheorie und Philosophie führen. Mit der konstruktivistischen Perspektive ist die Konzeptualisierung von Kausalität als linearem Ursache-Wirkungs-Prinzip in Frage gestellt. In der systemischen Therapie geht es nicht mehr darum, die Gründe für eine Störung zu eruieren, sondern die systemische Therapie konzentriert sich auf „Muster von Beziehungen und Wechselwirkungen“,⁶² die im Rahmen der Therapie zur Entwicklung von neuen Mustern angeregt werden sollen. Das Therapiegeschehen selbst wird als „komplexes Wechselwirkungsgefüge“⁶³ beschrieben, in dem es für den Therapeut, der selbst Teil des Therapiesystems ist, unmöglich ist, die Konsequenzen seines Agierens abzusehen. Da sich die linear-kausale Sichtweise als Verkürzung rekursiver sozialer Prozesse erweist, werden in der systemischen Therapie häufig die Begriffe „zirkuläre Kausalität“ oder „zirkuläres Denken“ gebraucht, um die Wechselwirkungen der Teile eines Systems aufeinander zu beschreiben. Das Kausalitätskonzept selbst erscheint aus konstruktivistischem Blickwinkel als der Versuch eines Beobachters, Komplexität zu reduzieren, der im
peutische Abgrenzungsbestrebung von solipsistischen Verzeichnungen des Konstruktivismus’ zu verstehen. VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 93. A.a.O., 97. Eco 2000: Kant, 13; s.u. 3.1.2. VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 86. Zum Folgenden vgl. a.a.O., 86 ff. A.a.O., 90. Vgl. a.a.O., 91.
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
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Alltag oder auch in der Therapie durchaus hilfreich sein kann. Als ausschließliches Erkenntnismuster ist das Kausalitätsprinzip jedoch für das systemische Denken und für die systemische Therapie nicht ausreichend. Stehen in der frühen Familientherapie beobachtbare Interaktionssequenzen und deren gezielte Veränderung mittels Intervention im Zentrum, rücken nach 1980 die (Verbal‐)Sprache und ihre Möglichkeit zur Wirklichkeitskonstruktion in den Aufmerksamkeitsfokus der systemischen Therapie.⁶⁴ Man geht davon aus, dass Sprache nicht als Internalisierung einer externen Welt fungiert, d. h. Welt an sich abbildet, sondern gemeinsame Wirklichkeiten der (Be‐)Deutungen schafft. Mit ihrer Funktion, Wahlmöglichkeiten zu reduzieren und konsensuelle Übereinkünfte zu manifestieren, bestimmt Sprache den Spielraum des Einzelnen in seinen sozialen Relationen. Das bedeutet jedoch auch, dass mittels Sprache eine einengende Festschreibung auf eine Möglichkeit unter vielen erfolgen kann und der Möglichkeitsraum des Einzelnen eingeschränkt wird. Die systemische Therapie zielt deshalb darauf, Sprache anders als im Alltag üblich zu verwenden und Mehrdeutigkeiten zu erzeugen. In Kommunikationszusammenhänge, die sich in einer Wirklichkeitssicht festgefahren haben, werden neue Optionen eingespielt, um den an dem Kommunikationssystem beteiligten Personen mit einer neuen Wirklichkeitskonstruktion einen größeren Spielraum als mit der alten Perspektive zu eröffnen. Denn: „Eine Veränderung der Art, wie und worüber gesprochen wird, bedeutet immer auch eine Veränderung von Formen der Verhaltenskoordination innerhalb des entsprechenden Realitätsausschnittes.“⁶⁵ In der systemischen Therapie wird aus dem „ontologischen Spiel: ‚Wer ist inkompetent?‘ ein epistemologisches Spiel: ‚Wer denkt, er sei inkompetent?“⁶⁶ Auch hinsichtlich Krankheiten, die als somatisch bezeichnet und erlebt werden, konzentriert sich die systemische Therapie auf die durch die Versprachlichung entstandene „soziale Konstruktion“.⁶⁷ Ausgeweitet auf ein systemisch-konstruktivistisches Verständnis von „Problemen“ überhaupt, führt dies dazu, dass „Probleme“ nicht länger als ontische Eigenschaften eines (Familien‐) Systems oder eines Einzelnen verstanden werden, sondern als eine „sprachliche Organisation um etwas herum, das ohne diese sprachliche Organisation möglicherweise gar nicht bestünde, auf jeden Fall aber völlig anders aussähe“.⁶⁸ Der
Vgl. vonSydow et. al. 2007: Wirksamkeit, 36. A.a.O., 19 f. VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 98; Hervorhebungen im Original. Vgl. a.a.O., 100 f. – Zu einem systemisch-konstruktivistischen Krankheits- bzw. Gesundheitsverständnis vgl. Simon (1993: Krankheit; 1995: Gesundheit). VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 101. – Zum systemischen Verständnis von „Problemen“ vgl. a.a.O., 102 ff und Ludewig 19972: Problem.
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1. Systemtheorie und Semiotik
Terminus „Problemdeterminiertes System“⁶⁹ verdeutlicht die Idee der Problemgenese: „Ein Problem erzeugt ein System, nicht umgekehrt.“⁷⁰ In der therapeutischen Praxis geht es darum, die durch Sprache möglich werdenden „Verdinglichungen“⁷¹ – wie „die Depression“, „die Psychose“, „das Selbst“ – mittels systemtherapeutischer Methodik zu „entdinglichen“:⁷² „‚Herr Doktor, ich habe eine Depression‘ – ‚Haben Sie sie mitgebracht?‘“⁷³ Seinsvermutungen werden relativiert oder wie Meyer-Blanck es formuliert, „Seins-Zustände“ werden „in Perspektivität“ „verflüssigt“.⁷⁴ – Dass an dieser Stelle die Anschlussfähigkeit der systemischen Therapie für eine semiotische Perspektive deutlich wird, konstatiert Meyer-Blanck bereits ebenfalls: „aus der Ontologisierung wird eine Semiotisierung“.⁷⁵ Im Unterschied zur Ecoschen Semiotik, die sich um die Emanzipation von der strukturalen Linguistik bemüht,⁷⁶ schränkt die systemische Therapie und Beratung mit der Verwendung des Terminus‘ Sprache die Kommunikation auf die verbale Dimension ein.⁷⁷ Nach vonSchlippe und Schweitzer erwägen einige systemische Therapeuten sogar, an Stelle von Kybernetik und Systemtheorie eine linguistische Perspektive als Rahmentheorie zu wählen.⁷⁸ Aus Sicht der Luhmannschen Systemtheorie handelt es jedoch um eine Engführung, wenn Familie als sprachliches System bestimmt wird und nicht als Sozialsystem, das sich durch Kommunikation und eben nicht nur durch das Kommunikationsmedium Sprache
Den Begriff „Problemdeterminiertes System“ führt Goolishian mit seinen Mitarbeitern in die systemische Therapie ein (ders./Anderson 19972: Menschliche Systeme). VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 101. – Unter dem Einfluss des konstruktivistischen Denkens konzentriert sich die systemische Therapie – zumindest im deutschsprachigen Raum – deshalb anders als vor ihr die Familientherapie weniger auf die Beschreibung störungsspezifischer Ansätze. Erst 2006 bieten vonSchlippe und Schweitzer (2006: Lehrbuch II) eine erste umfangreiche Darstellung des klinisch relevanten Praxiswissens der systemischen Therapie nach Störungsbildern und nicht wie sonst üblich nach Interventionsansätzen, Settings oder kritischen Lebenslagen. Vgl. Stierlin 1990: Sprachwagnis, 268. Vgl. z. B. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 156. VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 102. Vgl. Meyer-Blanck 1998: Identität, 842. Ebd.; Hervorhebungen im Original. Vgl. Eco 19948: Einführung, 197. VonSchlippe und Schweitzer (19996: Lehrbuch, 271) weisen bereits selbst auf diesen Aspekt hin. Auch Held (1998: Systemische Praxis, 210 f) macht auf die „Überbetonung der Sprache“ in der systemischen Therapie aufmerksam, zieht aus dieser Beobachtung jedoch keine Konsequenzen für die „systemische Praxis in der Seelsorge“. Vgl. vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 95.
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
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ausdifferenziert.⁷⁹ Soziale Systeme sind demnach – wie in den meisten Entwürfen systemischer Therapie vorausgesetzt – nicht notwendigerweise verbalsprachliche Systeme, sondern Kommunikationssysteme. Orientiert sich die Poimenik in unkritischer Weise an den Modellen systemischer Therapie und Beratung, so läuft sie Gefahr, diese Engführung auf Verbalsprache zu übernehmen und die in der protestantischen Theologie weit verbreitete Fokussierung auf das verbale Wort weiter zu verstärken und andere Kommunikationsmedien – wie sie z. B. die rituelle Kommunikation bestimmen⁸⁰ – auszublenden. Mit der Rezeption systemischer Therapie und Beratung durch die Seelsorgelehre erhalten über den Umweg der systemtherapeutischen Literatur v. a. die konstruktivistische Sichtweise und die genannten Metatheorien – unter ihnen auch die Luhmannsche Systemtheorie – in die Poimenik Einzug. Als Überblickswerk zur systemischen Therapie und Beratung dient den Ansätzen systemischer Seelsorge in der Regel das Lehrbuch von vonSchlippe und Schweitzer.⁸¹ Außerdem zitieren nahezu alle Entwürfe die kommunikationstheoretischen Arbeiten aus dem Team um Watzlawick.⁸² Insbesondere Ferel⁸³ nimmt das Modell von Ludewig⁸⁴ auf, das auf der Kognitionstheorie und dem Autopoiesis-Konzept von Maturana⁸⁵ sowie der Luhmannschen Theorie sozialer Systeme⁸⁶ beruht. Auch auf die Publikationen, die im Umkreis der Heidelberger-Gruppe entstehen, wird in der Seelsorge häufig Bezug genommen. So versucht bspw. Held das Modell der „bezogenen Individuation“ von Stierlin⁸⁷ für die pastorale Praxis fruchtbar zu machen.⁸⁸ Und auch die für ein systemisch-konstruktivistisches Krankheitsbzw. Gesundheitsverständnis grundlegenden Einsichten von Simon⁸⁹ – ebenfalls ein Mitglied des Heidelberger Teams – finden poimenische Resonanz.⁹⁰ V. a. der in erster Linie mit dem
Vgl. Luhmann 20053: Familie. Zum Ritual s.u. 3.2.2.2.2. VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch. Grundlegend hier Watzlawick/Beavin/Jackson 19969: Kommunikation. Ferel 1996: Verständnis. Ludewig 19974: Systemische Therapie. Maturana 1982: Erkennen; ders./Varela 1987: Baum. Luhmann 1984: Soziale Systeme. In dem Konzept der „bezogenen Individuation“ verbindet Stierlin (et. al. 19926: Familiengespräch, 24) die Individuums- mit der System-Perspektive: „Bezogene Individuation bedeutet Fähigkeit zur Selbstdifferenzierung und Selbstabgrenzung“ und „erlaubt es, uns in den verschiedensten zwischenmenschlichen Kontexten als getrennt und zugleich bezogen zu erleben.“ Vgl. Held 1998: Systemische Praxis, 85 und 178 ff; zum „Begriff der ‚Individuation‘ in systemischer Sicht“ vgl. Stierlin 19972: Begriff. Held 1998: Systemische Praxis. Simon 1993: Krankheit; ders. 1995: Gesundheit. Vgl. z. B. Ferel 1996: Verständnis; ders. 2003: Verwandlung.
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1. Systemtheorie und Semiotik
Namen deShazer verbundene Ansatz der lösungsorientierten Kurzzeittherapie⁹¹ kommt der pastoralen Seelsorge-Praxis entgegen. Denn anders als in der Therapie psychoanalytischer Tradition, die sich in der Regel über mehrere, terminlich festgesetzte Sitzungen erstreckt, bleibt im Pfarrberuf oder z. B. auch in der Krankenhausseelsorge eine vergleichbare, über einen längeren Zeitraum hinweg begleitende Seelsorge aus pragmatischen Gründen eher die Ausnahme.
Mit den systemtherapeutischen Modellen übernimmt die Poimenik jedoch auch einen in der systemischen Therapie uneinheitlich gebrauchten, theoretisch meist nicht eindeutig definierten Systembegriff, der sich zudem vom Luhmannschen Systembegriff unterscheidet. Meist begnügt sich die systemische Therapie mit einem pragmatischen, theoretisch nicht näher ausgearbeiteten Systembegriff. Gängig ist die relativ weite Definition von Hall und Fagen, die ein System als ein „Satz von Elementen und Objekten zusammen mit den Beziehungen zwischen diesen Objekten und deren Merkmalen“⁹² bestimmen. In der systemischen Therapie wird das Augenmerk nicht länger auf die individuellen Merkmale eines Einzelpatienten gerichtet, sondern auf die reziproken „Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen ‚Indexpatient‘ und seinem/ihrem sozialen Umfeld“.⁹³ So geht man davon aus, dass die Mitglieder eines Familiensystems durch Interaktionen miteinander vernetzt sind und sich wechselseitig in ihrem Verhalten und Erleben beeinflussen. Es wird angenommen, dass sich innerhalb des Systems Subsysteme, z. B. das Eltern- oder Geschwistersystem, ausbilden. Nach außen hin stellt das System seinerseits ein Subsystem eines größeren Systems dar – so wird z. B. eine Schulklasse als Teil des schulischen Erziehungs- und Bildungssystems beschrieben.⁹⁴ Dabei wird der Mensch oftmals selbst als ein System mit Subsystemen – wie z. B. biologischen, psychischen und sozialen Systemen –
DeShazer 1989: Dreh; ders. 19924: Wege. – Für die Beratung und Seelsorge haben Lohse (20062: Kurzgespräch) und Theobold (2013: Smalltalk) die methodischen Möglichkeiten des Kurzgesprächs ausgelotet. Hall/Fagen 1956: Definition, 18; Übersetzung nach vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 54. VonSydow et. al. 2007: Wirksamkeit, 30. Vgl. vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 57 f. – Systemtheoretisch präziser müsste formuliert werden, dass ein Interaktionssystem entsprechend codiert sein muss, um als Schulunterricht und Kommunikation des gesellschaftlichen Teilssystems Erziehung operieren zu können. Da Erziehung jedoch primär nicht auf Kommunikation, sondern auf die Veränderung von psychischen Systemen zielt, fehlt diesem Funktionssystem ein Code im engeren Sinne; vgl. Baraldi/ Corsi/Espositio 1997: GLU, 50 ff. Denkbar ist z. B. eine Codierung wie Verbesserung/Verschlechterung der Schülerleistung.
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
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verstanden,⁹⁵ der mit anderen Menschen in Interaktion tritt und dadurch z. B. ein familiäres, therapeutisches oder seelsorgliches System bildet. In der Poimenik werden diese Einsichten v. a. von Morgenthaler übernommen.⁹⁶ Das Familiensystem beschreibt Morgenthaler „als ein komplexes Mit- und Gegeneinander von einzelnen Menschen, Allianzen, Koalitionen, Triaden und weiteren Untersystemen auf verschiedenen Generationsebenen. Diese sind miteinander vernetzt und bilden gemeinsam mehr als lediglich eine Addition der Einzelteile.“⁹⁷ Dort, wo ein „hilfesuchendes System (eine Familie, ein familiäres Subsystem, aber auch ein einzelner Mensch in einem belasteten System) und ein seelsorgliches Hilfesystem (einzelne Seelsorger und Seelsorgerinnen oder ein Seelsorgeteam einer Kirchengemeinde) zusammenkommen“,⁹⁸ entsteht „aus den beiden Systemen oder Systemteilen ein neues, übergeordnetes System“,⁹⁹ das Seelsorgesystem. Ganz anders formuliert hingegen Luhmann: „Der Mensch mag für sich selbst oder für Beobachter als Einheit erscheinen, aber er ist kein System. Erst recht kann aus einer Mehrheit von Menschen kein System gebildet werden.“¹⁰⁰ Systeme differenzieren sich durch ihre jeweils spezifischen Operationen aus. Biologische, psychische und soziale Systeme sind in der Luhmannschen Systemtheorie strikt voneinander unterschieden und operieren in der jeweiligen Umwelt des (Bezugs‐) Systems.¹⁰¹ Als Sozialsystem besteht das Sozialsystem Familie daher nur aus Kommunikation und nicht aus Menschen oder aus „Beziehungen“ zwischen Menschen.¹⁰² Analoges gilt für die Interaktion, also die Kommunikation unter Anwesenden – wie eine Therapiesitzung oder ein Seelsorgegespräch. In der vorliegenden Arbeit, für die weniger ein bestimmter systemtherapeutischer Ansatz, sondern die der systemischen Therapie zu Grunde liegende konstruktivistische Sichtweise¹⁰³ sowie deren praktische Konsequenzen in der (therapeutischen) Praxis von Interesse ist, können diese Differenzen zwischen systemtherapeutischem und systemtheoretischem Systembegriff weitgehend unberücksichtigt
Vgl. z. B. vonSydow et. al. 2007: Wirksamkeit, 31; Goolishian/Anderson 19972: Menschliche Systeme. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge; s.u. 1.1.3.2. – In der Kirchentheorie gehen Linder (1994: Kirche) und Breitenbach (1994: Gemeinde) von einem ähnlichen systemischen Ansatz aus; s.o. 1.1.2.2. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 60. A.a.O., 160. Ebd.; vgl. die Abbildung a.a.O., 161. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 67 f . S.o. 1.1.1. Vgl. Luhmann 20053: Familie. S.u. 3.1.
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bleiben. Grundsätzlich orientiert sich die Studie an dem Luhmannschen Systembegriff. Zur Umsetzung der konstruktivistischen Perspektive steht der systemtherapeutischen Praxis mittlerweile eine breite Vielfalt an Methoden zur Verfügung,¹⁰⁴ die von der systemischen Seelsorge zum größten Teil übernommen wird.¹⁰⁵ Dem „ethischen Imperativ“ des systemischen Denkens folgend – „Handle stets so, daß du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst!“¹⁰⁶ – zielen die systemtherapeutischen Methoden darauf, vermeintlich feststehende Muster der Wirklichkeitskonstruktion aufzubrechen und das „Spiel ohne Ende“¹⁰⁷ zu unterbrechen. Dabei spiegelt sich die systemtherapeutische Affinität zur verbalen Dimension der Kommunikation bei der Konstruktion konsensueller Wirklichkeiten auch in den Methoden der klinischen Praxis wider. Mit Ausnahme der Techniken zur Visualisierung von sozialen Relationen, emotionaler Bindungen oder hierarchischer Strukturen – wie des Genogramms, der Familienskulptur oder des Familienbretts¹⁰⁸ –, die in der systemtherapeutischen Literatur unter „symbolisch-metaphorische“ Methoden zusammengefasst werden,¹⁰⁹ präsentiert sich die systemische Therapie in erster Linie als verbales Sprachspiel. Zentral ist die Methode des systemischen Fragens,¹¹⁰ die von Morgenthaler bereits für verschiedene Bereiche systemischer Seelsorge fruchtbar gemacht worden ist.¹¹¹ Diese macht besonders deutlich, dass es in der systemischen Therapie um „ein gemeinsames Ringen um Wirklichkeitsdefinitionen“¹¹² geht. Grundlegend für diese Technik ist die Einsicht, dass das Stellen von Fragen nicht Die systemtherapeutische Methodik ist ausführlich dargestellt: vgl. z. B. Ludewig (19974: Systemische Therapie, 127 ff), vonSchlippe/Schweitzer (19996: Lehrbuch, 116 ff) und vonSydow (et. al. 2007: Wirksamkeit, 17 und 22 ff). Vgl. v. a. Morgenthaler (20023: Systemische Seelsorge, 142 ff) und Lohse (20062: Kurzgespräch). VonFoerster 19982: Abbau, 51. Watzlawick 19892: Wesen, 26 u. ö. Ein Genogramm stellt einen Familienstammbaum über mindestens drei Generationen hinweg visuell dar. – Als Familienskulptur wird eine Familienaufstellung mit den Patienten selbst als „lebende Skulptur“ oder mit Ersatzfiguren bezeichnet. Eine ähnliche Funktion erfüllt die von Ludewig (19974: Systemische Therapie, 141) eingeführte Technik des „Familienbretts“, das der Metakommunikation über Beziehungen und der „Therapie ‚ohne Worte‘“ dient. Vgl. vonSydow et. al. 2007: Wirksamkeit, 23; vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 164 ff. Zum Folgenden vgl. vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 137 ff. Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 155 ff; für das Traugespräch (a.a.O., 183), Trauergespräch (a.a.O., 239), die Bedeutung Gottes in einem Beziehungskontext (a.a.O., 256) sowie die Gender-Perspektive (a.a.O., 130). VonSchlippe 1995: Perspektive, 23 f.
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nur der Informationsgewinnung dient, sondern zugleich immer auch Information generiert – oder semiotisch eingeholt: Zeichenlektüre beinhaltet immer auch Zeichenproduktion. „In jeder Frage versteckt sich nämlich auch eine implizite Aussage, die die gewohnte Art, wie in der Familie die Dinge gesehen werden, potentiell verstören kann.“¹¹³ Bei Fragen handelt es sich um Interventionen, die auf einen Rezipienten so machtvoll wie eine direktive Verschreibung wirken können, weshalb sie der Intention einer nondirektiven Seelsorge entgegenstehen. Semiotisch zugespitzt: Jede Frage setzt beim Rezipienten eine Semiose in Gang. Sind mehrere Personen gleichzeitig anwesend, potenziert sich die Wirkung der Fragen, da nicht nur für den Befragten, sondern auch für die Zuhörer neue Informationen entstehen. Mit dieser vervielfachenden Wirkung des Fragens spielt das zirkuläre Fragen – eine für das systemische Arbeiten charakteristische Methode, die auf Zirkularität und die „Verflüssigung“¹¹⁴ von Seinsvermutungen (wie Krankheiten, Probleme o. ä.) in Beziehungsmustern abzielt. Bei dieser Methode wird davon ausgegangen, „daß in einem sozialen System alles gezeigte Verhalten immer (auch) als kommunikatives Angebot verstanden werden kann“.¹¹⁵ Direkte Fragen blenden diesen „kommunikativen Aspekt“¹¹⁶ von Verhaltensweisen, Symptomen etc. aus: Wird bspw.¹¹⁷ der weinende Helmut gefragt „Warum weinst du, Helmut? Was ist da in dir los?“, so bleibt unberücksichtigt, dass seine Frau Hannelore wahrnimmt, dass Helmut weint und Helmut weiß, dass Hannelore dies wahrnimmt. Im Rekurs auf die Luhmannsche Systemtheorie kann diese Konstellation auf den Punkt gebracht werden: Wenn wahrgenommen werden kann, dass wahrgenommen wird, so wird Wahrnehmung zu einem sozialen Phänomen, und gerade durch dieses reflexive Wahrnehmen zwingt sich die Kommunikation unter Anwesenden zum Ablauf der Kommunikation. Die zirkuläre Fragetechnik bezieht dies in ihre Art zu fragen mit ein: „Was denkst du, Helmut, was dein Weinen für Hannelore bedeutet?“ Mit dieser Methode können weitere Beobachtungsperspektiven eingespielt werden: „Was denkst du, Stefan, was es bei deiner Mutter auslöst, deinen Vater weinen zu sehen?“ Auf diese Weise wird sowohl Information über die familiären Beziehungsmuster gewonnen als auch neue Information im Familiensystem generiert, indem neue, manchmal überraschende Dimensionen eingespielt werden. VonSchlippe und Schweitzer schlagen vor, zirkuläre Fragen in Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion und Fragen zur Möglichkeitskonstruktion zu klassifi-
VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 137. Vgl. Meyer-Blanck 1998: Identität, 842. VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 138; Hervorhebung im Original. Vgl. a.a.O., 140. Das folgende Beispiel ist entnommen aus vonSchlippe/Schweitzer a.a.O., 139 ff.
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zieren und zu ordnen.¹¹⁸ Besonders Fragen zur Möglichkeitskonstruktion sind auch für eine systemtheoretisch-semiotisch orientierte Poimenik interessant. Während die Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion aktuelle Beziehungsmuster verdeutlichen, spielen Fragen zur Möglichkeitskonstruktion bisher noch nicht verwirklichte (Beziehungs‐)Möglichkeiten durch, wecken den „Möglichkeitssinn“, die „Konjunktivitis“,¹¹⁹ – oder mit Morgenthaler – die „Eschatologitis“¹²⁰. Mit Hilfe lösungsorientierter Verbesserungsfragen und problemorientierter Verschlimmerungsfragen können in der therapeutischen oder seelsorglichen Kommunikation mögliche und unmögliche Visionen entwickelt, mit „Als-ob-Realitäten“ hypothetisch Alternativen ausprobiert und spielerisch neue Perspektiven eröffnet werden. Hierbei wird die „Wunderfrage“¹²¹ – „Wenn in der Nacht ein Wunder geschehen würde, und das Problem weg wäre: Woran könnte man erkennen, dass es weg ist?“ – im religiös-christlichen Kontext der Seelsorge noch einmal andere Assoziationen bzw. Codierungen als in der Therapie hervorrufen. In der Praktischen Theologie wurde bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass sich die systemtherapeutische Methode des Reframings für das Einspielen biblischer Geschichten und spezifisch christlicher Sichtweisen in das Seelsorgegespräch, aber auch für eine Reformulierung der von Thurneysen eingeführten Kategorie des „Bruchs“ als anschlussfähig erweist.¹²² Bei dieser auch als „Umdeutung“ bezeichneten Interventionstechnik geht es darum, die Sinnsicht des Klienten fundamental durch eine andere zu „verstören“, indem ein Geschehen in einen anderen Rahmen (engl. frame) gesetzt wird, der die dem Geschehen bisher zugeschriebene Bedeutung verändert.¹²³ Die Erwartungen, die den Spielregeln der bisherigen Sichtweise entsprechen, sind mit den Regeln eines anderen Spiels durchbrochen. Es wird deutlich, dass alles auch ganz anders gesehen werden könnte. Semiotisch ausgedrückt, handelt es sich bei dieser Technik um eine Umcodierung: „Die Wahl eines anderen Deutungsmusters initiiert einen Referentenwechsel. Dadurch daß die bisherige Deutung auf einen anderen Kontext appliziert wird, verändern sich zwangsläufig auch die Interpretanten.“¹²⁴ Oder
Vgl. a.a.O., 145 ff. Vgl. Simon/Weber 1988: Konjunktivitis. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 157. DeShazer 1989: Dreh. Vgl. Morgenthaler (1994: Trauer, 327 ff; 20023: Systemische Seelsorge 246 f), Meyer-Blanck (1998: Identität, 842) und Klie (2003: Zeichen, 368 f und 392 ff). – Zum Bruch s.u. 3.2.2.2.2. Vgl. vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 177 ff; ausführlich beschreibt Watzlawick (ders./Weakland/Fisch 19925: Lösungen, 116 ff) die Methode des Umdeutens. Klie 2003: Zeichen, 368.
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systemtheoretisch formuliert: Es geht um die Aktualisierung einer eher potentiellen Möglichkeit.¹²⁵ Es ist v. a. die Aufnahme der Theorie autopoietischer Systeme sowie die damit verbundene Abkehr von einer ontologischen und Hinwendung zu einer im weitesten Sinne konstruktivistischen Sichtweise gewesen, die das systemische Therapieverständnis nachhaltig geprägt hat. „Die Theorie operational geschlossener Systeme hat sich zum Leitparadigma der systemischen Therapie, zumindest im deutschsprachigen Raum, entwickelt.“¹²⁶ Zunächst bezieht man sich auf das neurobiologische Autopoiesis-Konzept von Maturana. Der erstaunlich breite Rekurs auf die Luhmannsche Systemtheorie, die den Autopoieses-Begriff auf Sozialsysteme überträgt, beginnt nach der Publikation von Luhmanns erstem Hauptwerk „Soziale Systeme“. Untersucht man die transdisziplinären Bezugnahmen in den führenden systemtherapeutischen Fachzeitschriften, so ist Luhmann bereits 1988 der meistzitierte Autor.¹²⁷ Unter den systemischen Therapeuten ist es zuerst die Heidelberger Gruppe, die den persönlichen Kontakt zu dem Soziologen Luhmann herstellt und Elemente dessen Kommunikationstheorie für systemtherapeutische Zusammenhänge fruchtbar macht.¹²⁸ Als Wendepunkt in der Rezeptionsgeschichte beschreibt Simon die 1986 in Heidelberg stattgefundene Tagung der Internationalen Gesellschaft für Systemische Therapie:¹²⁹ Eingeladen waren vonFoerster, Varela und Luhmann, mit dem Ziel „die drei Hauptreferenten bzw. ihre Theorien öffentlich dem Test auf Praxistauglichkeit auszusetzen.“¹³⁰ Dabei hat sich die Theorie Luhmanns bewährt: „Obwohl es sicher unangemessen ist, einen Sieger dieses Wettbewerbs zu benennen, kann doch festgestellt werden, dass sich Luhmann in der von ihm selbst vorgeführten Anwendung seiner Konzepte auf Fragen, die sich aus konkreten Therapiesituationen ergaben, als derjenige erwies, der – man mag es angesichts der Abstraktheit seiner Theoriearchitektur kaum glauben – am meisten praktischen Nutzen für Therapeuten
Diese Formulierung verdanke ich Pastor Dr. Frank Uhlhorn/Osnabrück. Simon 19982: Einleitung, 18. Vgl. Reiter/Steiner/Gotwald 1997: Kontinuität. – Ähnlich der interdisziplinären LuhmannRezeption (s.o. 1.1.1) bleiben auch in der systemischen Therapie die Bezugnahmen auf den deutschen Sprachraum beschränkt. Luhmann ist zu Gast auf Symposien systemtherapeutischer Vereinigungen; vgl. hierzu die Beiträge Luhmanns in den entsprechenden Tagungsbänden von Simon (19982: Lebende Systeme; darin auch zwei Interviews mit Luhmann) und Fischer/Retzer/Schweitzer (19932: Ende), außerdem das Interview Krüll/Luhmann/Maturana (1987: Grundkonzepte). Vgl. den Tagungsband Simon 19982: Lebende Systeme. – Zur Rezeption der Luhmannschen Systemtheorie durch die systemische Therapie vgl. Horn (1994: Systemtheorie), vonSchlippe/ Schweitzer (19996: Lehrbuch, 70 ff), in erster Linie jedoch Ludewig (2000: Systemische Therapie) und Simon (2000: Name dropping). Simon 2000: Name dropping, 368.
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generierte. Der Grund dafür dürfte sein, dass sein Blick auf Kommunikations- und Sinnsysteme gerichtet war.“¹³¹ Da Luhmann wie die Therapeuten seine Aufmerksamkeit darauf richtet, Umdeutungen und Neuinterpretationen vorzunehmen, ist er sofort anschlussfähig: „Seit dieser Tagung war Luhmann auf jeden Fall eine Größe, die aus der Diskussion nicht mehr wegzudenken war.“¹³²
Erstaunlich an dieser „enthusiastischen Aufnahme“¹³³ ist, dass sich der Soziologe bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht explizit zum Thema Familie oder Therapie geäußert hatte. Dies tat er erstmals 1988, als ihn der Herausgeber der familientherapeutischen Zeitschrift „System Familie“ darum bat.¹³⁴ Doch diese wie auch spätere gegenstandsspezifische Überlegungen¹³⁵ bleiben in der systemtherapeutischen Diskussion weitgehend ohne Resonanz. Ihren Anknüpfungspunkt findet die systemische Therapie auf einer „weit abstrakteren, definitorischen Ebene“¹³⁶ in den grundlagentheoretischen Aussagen der Systemtheorie. „Während bis dahin die intuitiv nahe liegende Systemdefinition verwendet wurde, der zufolge die Individuen als Elemente der Familie betrachtet werden, wurde nun die kontraintuitive Definition Luhmanns übernommen, der zufolge Kommunikationen als Elemente sozialer Systeme zu betrachten sind.“¹³⁷ Mit dem Rekurs auf die genuin sozialwissenschaftliche Systemtheorie ist es der Psychotherapie nun möglich, sich im Bereich des Sozialen, der Kommunikation zu verorten und sich von den Naturwissenschaften zu emanzipieren. Bei Maturana hingegen, auf dessen Theorie die systemische Therapie zuvor Bezug genommen hatte, bleibt das Autopoiesis-Konzept auf den biologischen Kontext beschränkt, als Elemente soziale Systeme werden Lebewesen angenommen. Im Unterschied zur Luhmannschen Systemtheorie ist die Theorie autopoietischer Systeme von Maturana eine biologische Erkenntnistheorie.¹³⁸ Auf die bereits konsolidierten Methoden der klinischen Praxis wirkt sich die Rezeption der Luhmannschen Systemtheorie, die ebenfalls auf einer konstrukti-
A.a.O., 369. A.a.O., 370. Ebd. Der Artikel ist erweitert und wiederabgedruckt: Luhmann 20053: Familie. V. a. Luhmann 20053: Glück. – Zum Thema Familie in der Luhmannschen Systemtheorie vgl. Burkart (2005: Familie). In dem u. a. von Herlth publizierten Sammelband (et. al. 1994: Abschied) diskutieren die Beiträge von Kieserling, Kriz, F.-X. Kaufmann und Horn eine systemtheoretische Perspektive auf Familie. Simon 2000: Name dropping, 370. Ebd. Ludewig (19974: Systemische Therapie) verbindet in seinem Ansatz die biologische Theorie Maturanas mit der sozialwissenschaftlichen Theorie Luhmanns.
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vistischen Sichtweise basiert,¹³⁹ weniger aus. Der Gewinn der Bezugnahme liegt vielmehr auf Ebene der systemtherapeutischen Theoriebildung, der mit der Systemtheorie ein elaboriertes begriffliches Instrumentarium zur Verfügung steht. Als „Reflexionshintergrund“ und „heuristische Anregung“ dient die Luhmannsche Theorie dem neuen psychotherapeutischen Ansatz als Hilfestellung bei der Suche nach einer möglichst klaren, theoretisch präzis bestimmten Terminologie.¹⁴⁰ Es ist v. a. die radikale Trennung von biologischen, psychischen und sozialen Systemen, in welcher der theorietechnische Nutzen für die systemische Therapie gesehen wird. Das im systemischen Denken und auch in der systemischen Therapie häufig anzutreffende, theoretisch unterbestimmte holistische Denken wird damit verabschiedet. Es wird obsolet, den Menschen als einheitliches System zu verstehen, der mit „ganzheitlichen“ Methoden zu kurieren ist. Im Anschluss an die Luhmannsche Theorie kann nun das Verhältnis der drei autopoietischen Systemtypen dargestellt und als strukturelle Kopplung beschrieben werden. Das besondere Interesse der systemischen Therapie richtet sich dabei – ähnlich wie in der Poimenik – auf psychische und soziale Systeme. Beide Systemtypen operieren sinnhaft, d. h. sie aktualisieren Sinn, indem sie Komplexität reduzieren. Neben anderen Theoremen knüpft die systemische Therapie deshalb auch an den für die Systemtheorie grundlegenden Sinn-Begriff an.¹⁴¹ Für die therapeutische Kommunikation folgt aus diesen systemtheoretischen Überlegungen u. a., dass es in der Therapie nicht länger um den „Umgang mit Gefühlen“, sondern um den „Umgang mit Kommunikation über Gefühle“¹⁴² geht. Aufgrund ihrer operationalen Geschlossenheit gelingt es prinzipiell nicht, unmittelbare Verbindungen zwischen psychischen Systemen herzustellen. Die an der Kommunikation beteiligten Personen begegnen sich als black boxes, die nicht in die Gefühle und Gedanken des anderen hineinsehen können, sondern lediglich Vermutungen über diese anstellen können.Weder finden psychische Prozesse direkten Eingang in die Kommunikation, noch soziale Operationen in das Bewusstsein. Beide autopoietischen Systemtypen operieren im wechselseitigen Irritationsverhältnis geschlossen. In der Therapie kann es daher „hilfreich“ sein, sich auf die „kommunikativen Muster“ zu konzentrieren.¹⁴³ Ebenso wenig wie es systemischer Therapie als kommunikativer Praxis gelingt, auf psychische Systeme
S.u. 3.1. Vgl. Ludewig 2000: Systemische Therapie, 228. Zum Sinnbegriff s.u. 3.2.2.1.1. VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 73; Hervorhebung L.K. – VonSchlippe/Schweitzer (a.a.O., 73 f) zeigen einige „wichtige Implikationen“ der Luhmannschen Theorie für die systemische Therapie auf. Vgl. a.a.O., 74.
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direkt einzuwirken, ist ihr der unmittelbare Zugriff auf biologische Systeme verwehrt. Das Verhältnis von somatisch beobachtbarer Krankheit und der therapeutischen Kommunikation über biologische Prozesse kann aus systemtheoretischer Sicht differenziert beschrieben werden. Obwohl es sich für die therapeutische Kommunikation, die sich ähnlich der Seelsorge meist als Kommunikation unter Anwesenden ereignet,¹⁴⁴ anbietet, die systemtheoretischen Einsichten zur Interaktion zu rezipieren, bleibt dieser Rekurs – wie auch in der Poimenik – bislang aus.¹⁴⁵ Im Rückblick auf die Rezeption Luhmannscher Systemtheorie durch die systemische Therapie hält Simon fest, dass diese „bislang nicht viel revolutionär Neues gebracht hat. […] Ihn zu zitieren, blieb bislang nicht mehr als eine gehobenen Form des ‚name dropping‘“¹⁴⁶ – eine Beobachtung, die sich aufgrund der Rezeptionslinien bis in die systemische Seelsorge hinein fortsetzt.¹⁴⁷ Der Grund für diese in der systemischen Therapie verbreitete „Funktionalisierung von Luhmanns Reputation“¹⁴⁸ mag darin liegen, dass diese neue Richtung innerhalb der Psychotherapie lange Zeit in eine Außenseiterrolle gedrängt wurde. Vor diesem Hintergrund hat die systemische Therapie „Luhmann als anerkannte theoretische Autorität mit allen dazugehörigen akademischen Ehren […] dankbar als Reputationslieferant in Dienst genommen. […] Er legitimierte das eigene theoretische Paradigma und half, eine eigenständige, ebenfalls – wenn auch anders – wissenschaftlich fundierte, professionelle Identität zu entwickeln. Damit war bislang im Großen und Ganzen die ‚Auseinandersetzung‘ mit Luhmann beendet.“¹⁴⁹ Bis auf wenige Ausnahmen, die sich eingehend mit der Systemtheorie Luhmanns auseinandersetzen – zu nennen sind hier v. a. die Publikationen von Simon¹⁵⁰ und Ludewig¹⁵¹ –, bleibt die Aufnahme des Luhmannschen Ansatzes durch die sys-
S.u. 2.2.2. Der Grund hierfür könnte darin liegen, dass sich Luhmann selbst eher marginal zur Interaktion äußert. Ausführlicher geht erst die Publikation von Kieserling (1999: Kommunikation) auf das Sozialsystem Interaktion ein. Simon 2000: Name dropping, 374. Ausnahmen sind die Publikationen von Karle und Emlein; s.u. 1.1.3.2. Simon 2000: Name dropping, 374. A.a.O., 376. Simon (z. B. 1993: Unterschiede; 1995: Gesundheit) legt seinem Ansatz den differenztheoretischen Ansatz von Spencer Brown (1979: Laws) und die Theorie autopoietischer Systeme zu Grunde. Damit kommt Simon unter den systemischen Therapeuten dem Luhmannschen Systembegriff am nächsten. Ludewig entwickelt sein systemtherapeutisches Konzept von den Theorieansätzen Maturanas und Luhmanns her; vgl. Ludewigs theoretisches Grundlagenbuch (19974: Systemische Therapie) sowie diverse Aufsätze (z. B. 19883: Intervention; 1987: Leitsätze).
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temische Therapie eher oberflächlich. „Das analytische Potential des von Luhmann zur Verfügung gestellten Begriffsapparats ist bei weitem nicht ausgeschöpft“¹⁵², konstatiert Simon. Systemische Therapie ist – so kann zusammenfassend formuliert werden – ein psychotherapeutisches Verfahren, dessen Fokus auf dem sozialen Kontext (psychischer) „Störungen“ liegt. Ein Symptom wird als Element zirkulärer Wechselwirkungsprozesse verstanden, der Akzent systemischer Therapie liegt auf der Beobachtung von Beziehungsmustern, Ziel ist das Unterbrechen von dysfunktionalen Mustern. An die Stelle einer mono- und linear-kausalen Sichtweise treten in der systemischen Therapie und Beratung vernetztes und zirkuläres Denken. Der Einzelne wird in seinem sozialen Beziehungsgefüge wahrgenommen, anstatt sich auf intrapsychische Dynamiken zu konzentrieren, richtet sich die Aufmerksamkeit auf interpsychische Prozesse. Im Unterschied zu anderen Therapieformen arbeitet die systemische Therapie verstärkt mit Mehrpersonensettings und damit mit Kommunikationssituationen, wie sie in der Seelsorge z. B. bei Kasualgesprächen oder Begegnungen im Mehrbettzimmer eines Krankenhauses die Regel sind. Mit dem Rekurs auf spätmoderne Metatheorien öffnet sich die systemische Therapie für erkenntnistheoretische Fragestellungen und überwindet die in der Psychotherapie dominierende Orientierung an der Psychologie und den Naturwissenschaften. Dies könnte auch in der Poimenik zu einem Paradigmawechsel von einer humanwissenschaftlichen hin zu einer im weitesten Sinne ästhetischen Orientierung führen. In kritischer Auseinandersetzung mit der Philosophie des Konstruktivismus lotet die systemische Therapie Möglichkeiten der Umsetzung der konstruktivistischen Perspektive in die klinische Praxis aus. Ein mittlerweile breites Methodenspektrum, an das in Seelsorge und Poimenik reflektiert angeschlossen werden kann, zeugt von einem erfolgreichen crossing von der Theorie zur Praxis und umgekehrt. Um einengende Realitätskonstruktionen aufzubrechen und neue Möglichkeitsräume zu eröffnen, wird in der Therapie gegenüber dem, was wirklich ist bzw. was bislang als wirklich angenommen wurde,v. a. das betont, was möglich sein könnte. Auch dieser Aspekt kann in der Poimenik aufgenommen und theologisch – z. B. mit dem „eschatologischen Code“¹⁵³ – eingeholt werden. Insgesamt kann die systemische Therapie als eine „optimistische Therapieform“¹⁵⁴ charakterisiert werden: Anstelle pathologisierender Resignation und
Simon 2000: Name dropping, 382. – Simon (a.a.O., 376 ff) selbst skizziert einige Anregung, die von Luhmanns Theorie für die klinische Praxis ausgehen könnten. S.u. 3.2.2.2.1. VonSchlippe/Schweitzer 2006: Lehrbuch II, 41. – An dieser Stelle ergeben sich Divergenzen mit einer theologischen Perspektive; s.u. 2.2.1.
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Fokussierung auf Defizite zeichnet sie sich durch Ressourcen- und Lösungsorientierung aus. Anstatt in psychoanalytischer Manier die Aufmerksamkeit auf die Rekonstruktion von Ereignissen der Vergangenheit zu richten, konzentrieren sich die systemtherapeutischen Modelle auf Konstruktionen der Gegenwart und Visionen der Zukunft. Statt auf psychische und körperliche Prozesse richtet sich die Aufmerksamkeit systemischer Therapie auf die Kommunikation – ein Aspekt, den die systemtherapeutische Theoriebildung v. a. durch den Rückgriff auf die Luhmannsche Systemtheorie erarbeitet. Dem systemischen Therapeuten eignet nicht länger die Rolle einer Projektions- und Identifikationsfläche, an welcher Konflikte abgearbeitet werden, sondern er nimmt in erster Linie die Funktion eines Moderators wahr. „Vom Archäologen zum Störenfried“¹⁵⁵ – so bringt Karle im Anschluss an Stierlin den Wandel des Rollenverständnisses treffend auf den Punkt. Für die vorliegende Untersuchung ist besonders die erfolgreiche Umsetzung der im weitesten Sinne konstruktivistischen Perspektive in die therapeutische Praxis, das kommunikative Spiel um mögliche Wirklichkeiten anregend. Für die Seelsorge wäre dabei allerdings die in der systemischen Therapie zu beobachtende Engführung auf die verbale Dimension der Kommunikation zu vermeiden.
1.1.3.2 Konzepte systemischer Seelsorge Verglichen mit der Aufnahme von Familien- bzw. systemischer Therapie in der nordamerikanischen Seelsorge, wo sich familientherapeutisches Denken bereits in den 1980er und 1990er Jahren etabliert, setzt die Rezeption in der deutschsprachigen Literatur erst relativ spät ein.¹⁵⁶ Noch 1994 konstatiert Morgenthaler „ein Defizit in der deutschsprachigen Seelsorge-Diskussion“¹⁵⁷ hinsichtlich der Aufnahme systemischen Denkens in der Pastoralpsychologie. Folgt man Morgenthaler, so mag der Grund für diese späte Rezeption die psychoanalytische bzw. tiefenpsychologische Tradition der Pastoralpsychologie sowie die Verwurzelung des deutschen Protestantismus im „Individualismus“ bzw. in der Individualitätskultur sein.¹⁵⁸ Mitte der 1990er Jahre erscheinen erste, deutschsprachige Untersuchungen, die familientherapeutische Einsichten in die Poimenik integrieren bzw. sich auf die Theorie Luhmanns beziehen – wie die Dissertation von Pohl-Patalong¹⁵⁹. Da
Karle 1996: Seelsorge, 156 ff. Einen ausführlichen Überblick über die Rezeption systemischer Therapie in der nordamerikanischen und deutschen Literatur gibt Morgenthaler (20023: Systemische Seelsorge, 19 ff). Morgenthaler 1994: Trauer, 312. Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 23. Pohl-Patalong 1996: Seelsorge.
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diese Bezugnahmen jedoch entweder im klientenzentrierten Verstehenshorizont oder lediglich marginal erfolgen, können diese Arbeiten zunächst als Vorarbeit zu einer systemisch bzw. systemtheoretisch orientierten Poimenik gewertet werden, denn sie erweisen sich für eine semiotisch-systemtheoretische Orientierung der Poimenik als wenig weiterführend. Die erste fundierte Untersuchung liegt dann 1996 mit Karles Dissertation¹⁶⁰ vor. Morgenthaler¹⁶¹ selbst zeigt 1994 am Beispiel des Phänomens Trauer in Familien auf, wie fruchtbar eine familiendynamische Sicht für Seelsorge und Poimenik sein kann. Er rezipiert systemisches Denken als eine „erweiterte Perspektive“, als eine „neue Sicht der Seelsorge“¹⁶² und greift mit dem Joining und Reframing zwei intervenierende Methoden der Familientherapie auf, deren Relevanz er für die Seelsorge aufzeigt. Ebenfalls 1994 erscheint die Dissertation von Ammermann „Zur Konstruktion von Seelsorge“,¹⁶³ die sich am Rande systemischer Überlegungen bewegt und sich „in merkwürdiger Weise unberührt von diesen“¹⁶⁴ zeigt. Der Autor erforscht im Anschluss an die Psychologie der persönlichen Konstrukte von Kelly, welcher bereits 1955 eine konstruktivistische Theorie entwickelt, das Vorfeld der seelsorglichen Beziehung. In der RepertoryGrid-Methode Kellys sieht Ammermann eine Technik, mit der systematisch Konstruktsysteme erfasst werden können, ohne dass dem Klienten vom Therapeuten Wirklichkeitskonstruktionen vorgegeben werden.¹⁶⁵ In seiner Arbeit untersucht er die erkenntnistheoretischen „Bedingungen der Möglichkeit von Seelsorge seitens des Seelsorgers wie des Klienten“¹⁶⁶ und erfasst in einem breit angelegten empirischen Teil mit Hilfe der Repertory-Grid-Methode anhand zweier Fallbeispiele Konstruktsysteme von Seelsorger und Seelsorgepartner. Entgegen der Intention der Studie, für jede Seelsorge, kerygmatischer oder therapeutischer Art, relevant zu sein,¹⁶⁷ setzt diese mit ihrer psychotherapeutischen Terminologie und dem Rückgriffs auf den Ansatz Kellys, der einem klientenzentrierten Psychotherapieverständnis zuzuordnen ist,¹⁶⁸ deutlich einseitig an.¹⁶⁹ Unberücksichtigt und damit ungeklärt bleibt die Frage nach dem Verhältnis von der radikal konstruktivistischen Einsicht, „daß wir
Karle 1996: Seelsorge. Morgenthaler 1994: Trauer. Vgl. a.a.O., 321. Ammermann 1994: Konstruktion. Albrecht 2000: Systemische Seelsorge, 216 Anm. 8. Vgl. Ammermann 1994: Konstruktion, 87 ff. A.a.O., 22. Vgl. Mokrosch 1994: Vorwort, 9. Vgl. Ammermann 1994: Konstruktion, 21. Dem entspricht die Selbstverortung Ammermanns (1994: Konstruktion, 22; Hervorhebung L.K.), der mit seiner Arbeit „einen Beitrag zur erkenntnistheoretischen Fundierung und methodischen Vertiefung klientenzentrierter Seelsorge“ leisten möchte. – Konträr dazu liest sich Mokrosch (1994: Vorwort, 9): Ammermann hat „einen wichtigen Beitrag für das Gespräch zwischen Poimenik und Philosophie geleistet und die Seelsorgeforschung aus ihrer […] etwas einseitigen Fixierung auf Psychologien herausgeholt.“
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als Beobachtende immer in das zu beobachtende System eingebunden sind“,¹⁷⁰ und der „empirischen Überprüfung“¹⁷¹ mit der Repertory-Grid-Methode. Denn jedes Beobachten, jedes „Feststellen empirischer Ergebnisse ist allemal ein Deutevorgang“¹⁷² – wie MeyerBlanck bereits treffend festhält. In seinen Veröffentlichungen, die sich u. a. um eine „Positionsbestimmung der Theologie in der wissenschaftstheoretischen Diskussion um den Konstruktivismus“¹⁷³ bemühen, schließt Ammermann den Bezug auf die Theorie Luhmanns kategorisch aus, da er dem Soziologen fälschlicherweise die Distanzierung vom Konstruktivismus nachsagt¹⁷⁴ – eine Auffassung, die Ammermann auch in späteren poimenischen und religionspädagogischen Untersuchungen nicht revidiert. Als 1995 der Entwurf der beiden Schüler des Pastoralpsychologen Hiltners, Patton und Childs, die 1988 das Konzept der generationsübergreifenden Familientherapie auf die Seelsorge übertragen, ins Deutsche übersetzt wird, liegt für diesen Sprachraum erstmals eine Monographie vor, die familientherapeutische Einsichten rezipiert.¹⁷⁵ „[A]us der klinischen Perspektive der modernen Seelsorgebewegung“¹⁷⁶ versuchen die Autoren, „die christliche Anthropologie und die Seelsorge zusammenzubringen“.¹⁷⁷ In der Durchführung eher konservativ christlich, bleibt der Ansatz insgesamt dem normativen Konzept einer Familientherapie der Kybernetik 1. Ordnung¹⁷⁸ verpflichtet. Im klientenzentrierten Kontext bewegt sich der Beitrag von Hézser, der 1996 im „Handbuch der Krankenhausseelsorge“ Aspekte einer Familien- und Angehörigenseelsorge vorstellt.¹⁷⁹ Mit der Aufnahme systemischer Arbeitsweisen aus Therapie und Beratung weitet der Autor den Blick der klinischen Seelsorge von ihrer Konzentration auf die dyadische Beziehung hin zur Wahrnehmung des Menschen in seinem Beziehungsgefüge. Dennoch: „Tragender Grund der Arbeit mit Familien ist und bleibt die Grundhaltung der partnerzentrierten, mit dem Namen C. Rogers verbundenen Psychologie“.¹⁸⁰ Gruppenpsychotherapie und Gruppenseelsorge werden in einer Entwicklungslinie der klinischen Seelsorge gesehen und als Paradigmawechsel innerhalb der klinischen Seelsorge beschrieben. Damit verkennt Hézser die Pointe der systemischen Therapie, die nicht mehr in einer intrapsychischen, sondern in einer interpsychischen Sichtweise liegt. Eine untergeordnete Rolle spielt die Systemtheorie Luhmanns in der 1996 erschienenen Dissertation von Pohl-Patalong,¹⁸¹ welche die Seelsorge in den Kontext der postmodernen
Ammermann 1994: Konstruktion, 20. A.a.O., 21. Meyer-Blanck/Weyel 1999: Arbeitsbuch, 46. – Zum systemtheoretischen Begriff der Beobachtung s. o. 3.1.1. Vgl. z. B. Ammermann 1990: Welt; ders. 1994: Gemachte. Vgl. Ammermann 1990: Welt, 43. Patton/Childs 1995: Familienseelsorge; das Geleitwort zur deutschen Ausgabe stammt von Scharfenberg. A.a.O., 14. A.a.O., 11. S.o. 1.1.2.2. Hézser 1996: Seelsorge. A.a.O., 166. Pohl-Patalong 1996: Seelsorge. Eine Zusammenfassung bietet dies. 1999: Individuum.
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Gesellschaft rückt und damit aus ihrer Individuumszentrierung löst. Als theoretische Grundlage dient dabei in erster Linie das Individualisierungstheorem von Beck und BeckGernsheim,¹⁸² die Systemtheorie Luhmanns wird ergänzend für den Aspekt der funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme herangezogen. Die Rezeption Luhmanns bleibt damit bruchstückhaft und „vernachlässigt den Gesamtkomplex der Theorie sozialer Systeme“.¹⁸³ Denn diese – so Pohl-Patalong – „steht in manchen Prämissen – vor allem in der Annahme autopoietischer Systeme – und in ihren Konsequenzen konträr sowohl zum Individualisierungstheorem als auch zu den Intentionen dieser Arbeit.“¹⁸⁴ Die Untersuchung ist soziologisch, philosophisch und sozialpsychologisch orientiert, auf weitere systemtheoretische Modelle oder die systemische Therapie geht Pohl-Patalong nicht ein. An späterer Stelle würdigt Pohl-Patalong den systemischen Ansatz als eine Möglichkeit für die Seelsorge, wählt selbst mit der „Theorie der Postmoderne“¹⁸⁵ dann jedoch einen anderen Zugang. Sie plädiert für eine reflektierte Rezeption von „Systemtheorie und systemischen Denken in der Praktischen Theologie“.¹⁸⁶
In ihrer Dissertation löst Karle¹⁸⁷ – ähnlich Pohl-Patalong – die Poimenik aus der individualistischen Engführung und plädiert für eine „soziologische Aufklärung“ in seelsorglicher Theorie und Praxis sowie für ein spezifisch christliches Profil der Seelsorge. Damit liegt in der Poimenik zum erstmals eine Arbeit vor, die sich strikt an der Luhmannschen Systemtheorie orientiert. Die Systemtheorie dient in analytischer Hinsicht zur Beschreibung der modernen Gesellschaftsstruktur und bestimmt die soziologisch-konstruktivistische Perspektive der gesamten Untersuchung.¹⁸⁸ Die Darstellung der Entwicklung von der stratifikatorischen zur funktional differenzierten Gesellschaft fokussiert v. a. die problematischen Folgen, die sich aus der Durchsetzung der Funktionalisierung für die Identität der Individuen ergeben. Dies führt die Autorin zu einer grundsätzlichen Infragestellung des psychoanalytischen Paradigmas der Seelsorge, insbesondere zur kritischen Auseinandersetzung mit der Pastoralpsychologie Scharfenbergs. Demgegenüber beschreibt sie Identität und Geschlecht als soziale Konstrukte.¹⁸⁹ Die systemische Therapie zieht Karle als Beispiel dafür heran, um die Auswirkungen der soziologisch-konstruktivistischen Erkenntnistheorie auf die therapeutische Praxis zu Beck/Beck-Gernsheim 1994: Freiheiten. Pohl-Patalong 1996: Seelsorge, 66 Anm. 58. Ebd. A.a.O., 454 ff. So der Untertitel von Pohl-Patalong 2001: Möglichkeitsräume. Karle 1996: Seelsorge. Wesentliche Aspekte sind zusammengefasst in dies. 1999a: Seelsorge. Diese prinzipielle und ausschließliche Orientierung an der Systemtheorie Luhmanns in primär soziologischer Hinsicht ist für Karles Ansatz charakteristisch und auch für ihre weiteren Veröffentlichungen grundlegend. Die Thesen zur Konstruktion von Biographie fasst Karle bereits vor dem Erscheinen ihrer Dissertation zusammen: dies. 1995: Seelsorge. – Zur Konstruktion von Biographie s.u. 3.2.2.1.1.
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1. Systemtheorie und Semiotik
zeigen. Mit Bezug auf die Arbeiten von Stierlin, Watzlawick und Simon beschreibt die Autorin systemische Therapieformen unter dem Aspekt der „Störung“.¹⁹⁰ Schließlich werden in der Untersuchung einige Perspektiven einer „soziologisch sensiblen Poimenik“¹⁹¹ dargelegt,¹⁹² wobei Karle für ein Seelsorgeverständnis als dezidiert religiös-kirchlicher Kommunikation plädiert: „Will Seelsorge in der funktional differenzierten und damit pluralen Gesellschaft nicht dysfunktional werden, muß sie die Deutungs- und Ordnungsmuster der Moderne durch das ihr eigene Potential, die Sprachkraft religiöser Texte und Kommunikation, zu relativieren suchen und die spezifisch religiöse Funktion christlicher Seelsorge deutlicher profilieren. […] Seelsorge [ist] daher wieder stärker durch ihren spezifisch christlichen Inhalt zu qualifizieren und darüber hinaus ihr kirchlicher und gemeindlicher Bezug bewusst als Chance sui generis zu nutzen.“¹⁹³ Wird Seelsorge als religiöse Kommunikation bestimmt, so lässt sie sich einerseits unter Aufnahme systemtherapeutischer Einsichten als „Störung“ beschreiben, wobei v. a. christlichen Texten und Symbolen ein „semantisches Störungspotential“¹⁹⁴ eignet. In diesem Zusammenhang bietet sich eine Rehabilitierung der von Thurneysen eingeführten Kategorie des „Bruchs“ an.¹⁹⁵ Wird Seelsorge als religiöse Kommunikation bestimmt, rücken andererseits – in Abgrenzung von der intrapsychischen Perspektive psychoanalytisch orientierter Seelsorge – die Selbstreferenzialität psychischer Systeme und der soziale Kontext des Individuums in den Blick. Darüber hinaus leistet ein Verständnis von Seelsorge als religiöse Kommunikation einen Beitrag zur Einheit der Praktischen Theologie und wirkt weiterer Ausdifferenzierung in sog. Handlungsfelder entgegen.¹⁹⁶ Vgl. Karle 1996: Seelsorge, 156 ff. Im Anschluss an Stierlin formuliert Karle (a.a.O., 160 f; Hervorhebungen im Original): „Systemische Therapeuten bzw. Therapeutinnen verstehen sich weniger als ‚Archäologen‘, die in die Tiefe bohren, denn als ‚Störenfriede‘, die versuchen das, was sich ihnen als ein dysfunktionales Muster oder Kreisgeschehen zeigt, zu stören und zu unterbrechen.“ – Gleichzeitig grenzt sich Karle (a.a.O., 223) von einer bloßen Übernahme systemtherapeutischer Methoden in die Seelsorge ab: „Aber es geht mir in diesem Zusammenhang nicht um eine Kopie systemisch-therapeutischer Arbeitsweisen in der Seelsorge und damit um eine erneute Umwelt- und Expertenorientierung evangelischer Seelsorgelehre. Es geht mir allerdings darum, daß Seelsorge in Theorie und Praxis lernt, Konflikte nicht länger einzelnen Personen zuzurechnen, sondern diese auf Strukturprobleme oder Beziehungen zur Umwelt zurückzuführen.“ A.a.O., 4. Vgl. a.a.O., 206 ff. A.a.O., 5; Hervorhebungen im Original. Theißen 1994: Zeichensprache, 20. In einem späteren Aufsatz reflektiert Karle (2003: Seelsorge) die Seelsorgelehre Thurneysens in systemtheoretischer Perspektive. – Zum Bruch s.u. 3.2.2.2.2. Vgl. Karle 1996: Seelsorge, 243 f.
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In einem späteren Artikel beschreibt Karle im Anschluss an die Systemtheorie Luhmanns sowie die Professionssoziologie von Stichweh¹⁹⁷ Seelsorge aus professionstheoretischer Perspektive.¹⁹⁸ In Abgrenzung von einem therapeutischen Zugang, bestimmt sie Seelsorge als „christliche Lebensbegleitung“, „Störung und Stärkung“ sowie als „Kommunikation unter Anwesenden“, d. h. als Interaktion im Luhmannschen Sinne.¹⁹⁹ Es bleibt festzuhalten, dass Karle der Rekurs auf die Systemtheorie Luhmanns der „(Re‐)Theologisierung einer spezifischen kirchlichen Sprachform“²⁰⁰ dient. Karles Verdienst ist es, das Spezifikum seelsorglicher Kommunikation als religiöser Kommunikation sowie als Interaktion deutlich zu machen. Eine aus semiotisch-systemtheoretischer Perspektive rekonstruierte Poimenik kann insofern an Karles Ansatz anschließen, als die Systemtheorie Luhmanns konsequent auf die seelsorgliche Kommunikation bezogen und Elemente der systemischen Therapie als Beispiel einer soziologisch-konstruktivistischen Erkenntnistheorie integriert werden. Während Karle gegenüber der systemischen Therapie in kritische Distanz tritt, gelingt es ihr allerdings nicht, einen ähnlich reflektierten Abstand zur Systemtheorie Luhmanns zu gewinnen. Deshalb entsteht der Eindruck, dass die Autorin an die Stelle des von ihr kritisierten psychoanalytischen Paradigmas der Seelsorge nun ein soziologisches setzt. Ihr Konzept bleibt letztlich der soziologischen Komponente ihrer konstruktivistischen Perspektive verhaftet. Die Öffnung des Ansatzes hinsichtlich einer im weitesten Sinne ästhetischen bzw. semiotischen Perspektive wäre somit eine noch zu leistende Aufgabe. Im Erscheinungsjahr der Dissertation Karles plädiert Ferel²⁰¹ für die Aufnahme einer familiendynamisch-systemischen Sichtweise in die Seelsorge und stellt in seinem Artikel „das systemische Verständnis von Krankheit und Heilung als Orientierung für die Seelsorge“ dar. Hinsichtlich des Krankheits- bzw. Gesundheitsbegriffs orientiert sich der Autor an dem systemischen Therapeuten Simon. Bezüglich systemtheoretisch-konstruktivistischer Grundannahmen rezipiert er Ludewig bzw. dessen Darstellung der Konzepte von Maturana und Varela sowie Luhmann – der Rückgriff auf die jeweilige Primärliteratur unterbleibt hierbei allerdings. Der Autor kommt zu folgendem Schluss: „Eine Seelsorge, die sich am systemischen Verständnis von Krankheit und Heilung orientiert, entdeckt Potentiale ihrer eigenen Tradition und nutzt sie kreativ, um neue ‚Wirklichkeiten‘ zu
Stichweh 1994: Wissenschaft. Karle 1999b: Seelsorge. Zur Seelsorge als Interaktion s.u. 3.2. Dallmann 2000: Wortübernahmen, 242. Ferel 1996: Verständnis.
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1. Systemtheorie und Semiotik
konstruieren, neue Sichtweisen (manchmal durch Verstörung oder durch Suggestion) ins Spiel zu bringen.“²⁰² Später geht Ferel u. a. in Aufnahme der Konzepte von Karle,²⁰³ Grözinger²⁰⁴ und Beck²⁰⁵ ausführlicher auf die Thematik der Konstruktion von Biographie ein und stellt den Seelsorger als Mitkonstrukteur von Biographien vor.²⁰⁶ Das christliche Profil von Seelsorge gewinnt in diesen Publikationen an Kontur: „Christlicher Glaube ist […] nichts anderes als eine neue bzw. andere Sichtweise. […] Man muß die Dinge nicht (nur) nehmen wie sie sind, sondern auch so, wie sie (coram Deo) sein könnten.“²⁰⁷ Es fällt auf, dass Ferel sich ausschließlich an systemisch-konstruktivistischem Denken der systemischen Therapie orientiert und systemtheoretische Ansätze nicht berücksichtigt. Allerdings insistiert er bei seinem Plädoyer für eine Übernahme von systemisch-konstruktivistischem Denken in Theorie und Praxis der Seelsorge darauf, dass es nicht darum geht, „Seelsorge in systemische Therapie oder Beratung zu verwandeln. Systemisches Denken führt im Gegenteil dazu, die Eigenart und Eigenständigkeit von Seelsorge, den Unterschied deutlich zu machen.“²⁰⁸ Ferel grenzt sich in seinem Ansatz explizit von den Konzepten der therapeutischen Seelsorge ab,²⁰⁹ rezipiert jedoch hauptsächlich Therapie anstelle von Theorie. Ob in der Seelsorge auf christliche Traditionen wie biblische Topoi als religiöse Deutungsmuster von Wirklichkeit zurückgegriffen werden soll oder lediglich mit therapeutisch-„verstörender“ Intention, bleibt in den knappen Ausführungen oft unklar.²¹⁰ Held erhebt mit seiner 1998 erschienenen Dissertation den Anspruch, auf theoretischer Ebene systemisches Gedankengut für die Poimenik fruchtbar zu machen.²¹¹ Damit liegt in der Poimenik die erste Monographie vor, die sich explizit mit
A.a.O., 373. Karle 1995: Seelsorge. Grözinger 1986: Seelsorge. Beck 1986: Risikogesellschaft. Ferel 2003: Verwandlung; ders. 2006: Seelsorge. – Vgl. bereits auch ders. 1996: Verständnis, 371 f. Ferel 2003: Verwandlung, 80; Hervorhebungen im Original. Ferel 2006: Seelsorge, 241 f. Vgl. a.a.O., 240 ff. Vgl. Ferel 1996: Verständnis, 369 ff. Held 1998: Systemische Praxis. – Auf die wiederholte Kritik (vgl. z. B. Götzelmann 2000: Seelsorge, 219), in seiner Arbeit sei die seelsorgliche Praxis nicht ausreichend gewürdigt, reagiert Held 2003 mit dem Aufsatzband „Systemische Praxis in der Kirche“, den er gemeinsam mit Gerber herausgibt. In seinem eigenen Beitrag (Held 2003: Systemische Seelsorge) führt die Aufnahme der
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systemischer Seelsorge auseinandersetzt. Mit der Verortung der Seelsorge zwischen Individuum und System soll die Seelsorgelehre aus ihrer seit Schleiermacher vorherrschenden Konzentration auf die cura animarium specialis gelöst werden und das meist defizitorientierte Menschenbild poimenischer Entwürfe überwunden werden. Fokus der Arbeit ist das „polykontextuelle Eingebundensein des Individuums […], wobei der postmoderne Individualisierungsprozeß […] in seiner Ambivalenz gewürdigt werden […] soll.“²¹² Dies findet Held in der systemischen Therapie eingelöst. Deshalb macht er das ihr zugrunde liegende, neue Paradigma des systemischen Denkens als „Metatheorie für eine systemische Praxis in der Seelsorge“²¹³ fruchtbar. Konkret orientiert sich Held an dem systemtherapeutischen Heidelberger Modell, speziell an der Konzeption der „bezogenen Individuation“ von Stierlin,²¹⁴ mit der „sich sowohl die Beziehung zwischen Individuen als auch die zwischen Individuum und System beschreiben“²¹⁵ lässt. Damit geht es auch Held – ähnlich Pohl-Patalong und Karle – um die Überwindung der individualistischen Engführung in der Seelsorge. Die Darstellung der Systemtheorie geschieht unter dem Aspekt der „Ausdifferenzierung des Systembegriffs“. Sie ist bestimmt von der Theorie offener Systeme sowie der von Stierlin rezipierten Chaostheorie und radikal-konstruktivistischen Konzepten, die ebenfalls in die Konzeption des Heidelbergers Eingang gefunden haben.²¹⁶ Die Systemtheorie Luhmanns spielt dabei keine weitreichende Rolle und erscheint lediglich in einem knappen Exkurs.²¹⁷ Zwar hat der Luhmannsche Ansatz – so Held – in der theologischen und systemtherapeutischen Literatur eine nicht unerhebliche Rezeption erfahren, das Heidelberger Modell allerdings nur unwesentlich beeinflusst. Bezeichnenderweise fällt das Urteil des Heidelberger Therapeuten Simon an diesem Punkt anders aus.²¹⁸ Das weite Verständnis des Begriffs „systemisch“ lässt Held verschiedene poimenische Ansätze als „Modelle systemischer Seelsorge“ darstellen²¹⁹: „Als systemische Seelsorge-Modelle werden […] solche verstanden, bei denen sich das
Systemtheorie Luhmanns über eine bloße Nennung und eine dem alltagssprachlichen Gebrauch verhaftet bleibenden Verwendung dessen Terminologie jedoch nicht hinaus. Mit zahlreichen Missverständnissen der Systemtheorie bleibt der Versuch, „[s]ystemische Seelsorge als Sinnfindungsprozess“ zu beschreiben, theoretisch unterbestimmt. Held 1998: Systemische Praxis, 16; Hervorhebung im Original. Ebd. S.o. 1.1.3.1. Held 1998: Systemische Praxis, 181 f. Vgl. a.a.O., 24 ff. Vgl. a.a.O., 33 ff. Vgl. Simon 2000: Name dropping, 370. Vgl. Held 1998: Systemische Praxis, 109 ff.
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1. Systemtheorie und Semiotik
seelsorgerlicher Handeln nicht allein auf das Individuum beschränkt, sondern bei denen der einzelne Pastorand bezogen auf ein oder mehrere Systeme, in die er eingebunden ist oder werden soll, gesehen wird.“²²⁰ Die kritische Durchsicht der mit dieser Definition kompatiblen Ansätze geschieht aus Perspektive des Heidelberger Modells und damit aus systemtherapeutischer Perspektive, was nicht selten zu unberechtigter Kritik an den dargestellten Entwürfen führt.²²¹ Dabei fällt auf, dass sich Held insbesondere von kirchlich und theologisch begründeten Seelsorge-Konzepten abgrenzt.²²² Da weite Teile der Arbeit durch breite Darstellungen von Systemtheorie, Modellen systemischer Therapie und Beratung sowie poimenischer Ansätze bestimmt ist, bleibt für die Diskussion von „Helm Stierlins Heidelberger Modell im Kontext einer systemischen Praxis der Seelsorge“ verhältnismäßig wenig Raum.²²³ Helds eigener Ansatz einer „systemischen Theorie und Praxis in der Seelsorge“ beschränkt sich auf einen knappen „Ausblick“.²²⁴ Im engen Bezug auf den systemtherapeutischen Ansatz der „bezogenen Individuation“ versteht Held Seelsorge als „de[n] schöpferische[n] Prozeß und die dialogische Begegnung zur Begleitung und zum Anstoß von Veränderung individueller Lebensgeschichten und Lebenswege im Sinne einer ‚bezogenen Individuation‘“.²²⁵ Zwar führt Held „Religion“, „Kirche“ und „Seelsorgegespräch“ als „Perspektiven einer systemischen Praxis in der Seelsorge“ an,²²⁶ doch gelingt es ihm hierbei nicht das Spezifikum systemischer Seelsorge gegenüber systemischer Therapie herauszuarbeiten. Als religiöse Perspektive wird „die in den Augen Gottes individuierte, unverwechselbare, einmalige Persönlichkeit des einzelnen“²²⁷ bestimmt. Aus kirchlicher Perspektive präsentiert sich Seelsorge als eine „Dienstleistung im Kontext der Kirche, um Menschen in ihrem Prozeß der ‚bezogenen Individuation‘ zu unterstützen und zu begleiten.“²²⁸ In diesem Zusammen-
A.a.O., 109. Vgl. z. B. Helds (a.a.O., 116) Vorwurf an Karle, die Konzeption des Heidelbergers Modells zu verkürzen. Allerdings entwickelt Karle ihr Seelsorgemodell in Orientierung an der Luhmannschen Theorie, nicht aber an dem Heidelberger Modell. Insofern bezieht sich Karle auf eine Theorie selbstreferentiell geschlossener Systeme, die Held, der sich an einer Theorie offener Systeme orientiert, nicht im Blick hat. Vgl. Helds (a.a.O., 118 f) Kritik an Karles Plädoyer für einen Kirchenbezug und die explizit christliche Ausrichtung der Seelsorge. Vgl. auch Helds (a.a.O., 146 ff) Darstellung „kirchenorientierte[r] Seelsorge“ von Thurneysen über Asmussen bis hin zu Möller. Vgl. a.a.O., 208 ff. Vgl. a.a.O., 217 ff. A.a.O., 217 f; im Original hervorgehoben. Vgl. a.a.O., 218 ff. A.a.O., 218; im Original hervorgehoben. A.a.O., 220.
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
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hang macht Held zum wiederholten Male auf kirchliche Traditionen, christliche Glaubenssätze und religiöse Wirklichkeitskonstruktionen aufmerksam, die als „sog. ekklesiogene oder religiöse Neurosen“²²⁹ auf die Entwicklung der Persönlichkeit des Pastoranden im Sinne „bezogener Individuation“ einschränkend wirken können. Auf positive Implikationen von Religion und Kirche geht Held dabei nicht ein.
Es ist deutlich geworden, dass Held die Poimenik zu stark auf Therapie hin ausrichtet. „Veränderung im Sinne einer ‚bezogenen Individuation‘“²³⁰ kann ebenso als Ziel des systemtherapeutischen Ansatzes von Stierlin gelten. Von theologisch begründeten Entwürfen, die sich aus systemtheoretischer Sicht als anschlussfähig erweisen würden, nimmt Held vehement Abstand: Die Entwürfe von Thurneysen und Asmussen präsentieren den „negativen Höhepunkt“²³¹ der Seelsorgelehre und sind für eine systemische Seelsorge „ungeeignete Gesprächsgrundlagen“²³². Dagegen ist allerdings mit dem von Held stark kritisierten Ansatz von Karle davon auzugehen, dass sich gerade die Kategorie des „Bruchs“ von Thurneysen für die systemtherapeutische Methodik des „Reframings“ als anschlussfähig erweist.²³³ Auch die kritische Würdigung der „Modelle systemischer Seelsorge“ wäre ertragreicher, wenn sie nicht aus therapeutischer, sondern, wie es im Rahmen einer poimenischen Konzeption zu erwarten wäre, aus theologischer Perspektive erfolgen würde. Die Poimenik hat sich in Helds Ansatz von der Theologie nicht nur distanziert, sondern emanzipiert. Die Ausrichtung an der Anthropologie systemischer Praxis führt dazu, „daß nicht mehr die Theologie dem Seelsorger zu sagen braucht, was für den Menschen gut ist“.²³⁴ Gerade in dieser theologischen Abstinenz sowie der exklusiven Ausrichtung an der systemtherapeutischen Konzeption von Stierlin erweist sich die von Held vorgelegte Arbeit für eine systemtheoretisch-semiotisch orientierte Poimenik als nicht anschlussfähig. Weniger an den theoretischen Grundlagen als an der praktischen Seelsorge und ihrer Methodik interessiert ist das bereits seit 1999 in fünfter Auflage (2014) erschienene „Arbeits- und Lesebuch“ der systemischen Seelsorge von Morgenthaler.²³⁵
A.a.O., 221. Ebd. Vgl. auch Formulierungen wie „der systemische Therapeut bzw. der Seelsorger“ (a.a.O., 226) oder „Seelsorger als Anwalt ‚bezogener Individuation‘“ (a.a.O., 228). A.a.O., 15. A.a.O., 152. S.u. 3.2.2.2.2. Fuchs 1998: Vorwort, 12. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 8. – Als Zitationsgrundlage dient im Folgenden die dritte Auflage von 2002, da die Neuauflage keine theoretischen Neuerungen bietet.
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1. Systemtheorie und Semiotik
Das Konzept der systemischen Seelsorge formiert der Schweizer Pastoraltheologe sowohl um den einzelnen Menschen als auch um dessen Beziehungssysteme, insbesondere der Familie. Damit argumentiert er wie Held mit der Balance zwischen Individuum und Gesellschaft. Im Vordergrund dieser „psychosystemischen“ Seelsorge²³⁶ steht der Bezug auf die pastorale Praxis, was sich u. a. auf Morgenthalers persönliche Motivation zu diesem poimenischen Ansatz, die aus einem einschneidenden Erlebnis seiner pfarramtlichen Praxis erwachsen ist, zurückzuführen sein mag.²³⁷ Die Publikation ist durchzogen mit einer Vielzahl anschaulicher Fallbeispiele und gliedert sich in zwei Hauptteile. In dem ersten Teil werden die theoretischen Grundlagen einer systemischen Seelsorge beschrieben. Die systemische Sichtweise, die ein „ganz bestimmtes Interpretationsmodell sozialer Wirklichkeit“²³⁸ anbietet, wird auf seine Wahrnehmungsfähigkeit hinsichtlich familiärer Hintergründe von Seelsorgepartner und Seelsorger aber auch bezüglich religiöser Phänomene und seiner Kompatibilität mit biblisch-theologischen Sichtweisen reflektiert und befragt.²³⁹ Im zweiten Hauptteil werden v. a. anhand von Krisen im Familienlebenszyklus und Kasualien praktische Arbeitsmodelle systemischer Seelsorge vorgestellt.Welche Bedeutung Religiosität, Theologie und Kirche für die systemische Seelsorge haben, wird vor dem Hintergrund des psychologischen Konzepts des Gotteskonstrukts von Griffith und Griffith dargestellt.²⁴⁰ Ökosystemische Aspekte, also die gemeindlich-kirchliche Dimension der Seelsorge ist am Beispiel des Systems Kirchengemeinde miteinbezogen.²⁴¹ Anders als Held orientiert sich Morgenthaler ausdrücklich nicht an einem bestimmten systemtherapeutischen Konzept, sondern bietet bewusst ein Konglomerat unterschiedlicher Ansätze der Familien- und Systemtherapie, die er als
Der Entwurf einer systemischen Seelsorge fokussiert v. a. den psycho-systemischen Aspekt. Ergänzt wird der Ansatz mit dem Konzept „religiös-existentieller Seelsorge“ (Morgenthaler/ Schibler 2002: Beratung), das mehr die Begleitung einzelner Menschen in den Vordergrund stellt, also psycho-systemisch akzentuiert ist. Vgl. die Rahmung des Buches: Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 9 f und 286 f. A.a.O., 56. Zum „religiösen Coping“, die von der systemischen Therapie kaum wahrgenommene salutogenetische Funktion von Religiosität in Belastungssituationen, vgl. Morgenthaler 2002: Pastoralpsychologie; Zitat 290: „Coping wird heute als stabilisierender Faktor verstanden, der Individuen dabei hilft, während Lebensphasen voller Stress ihre psychosoziale Anpassung aufrechtzuerhalten.“ Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 83 ff und 257 ff. Die Ausrichtung von Seelsorge auf Gemeinde hin und den kybernetischen Aspekt nimmt Morgenthaler (2001: Seelsorge) nochmals in den Blick.
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
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Impulse für die kirchliche Praxis nutzt.²⁴² Neben der sonst üblichen Rezeption deutschsprachiger Literatur nimmt Morgenthaler auch systemtherapeutische und systemisch-poimenische Literatur aus dem nordamerikanischen Raum auf. Den radikalen Konstruktivismus lehnt er als theoretische Grundlage ab, nutzt jedoch eine moderate Form der konstruktivistischen Epistemologie, indem er sich v. a. auf systemtherapeutische Ansätze der Kybernetik zweiter Ordnung beruft. Allerdings zieht er hieraus keine Konsequenzen für seine Theorieanlage. Insgesamt lässt sich keine differenzierte Rezeption von Systemtherapie erkennen.²⁴³ Am ehesten kann wohl von einer Übertragung des systemtherapeutischen Lehrbuches von von Schlippe und Schweitzer,²⁴⁴ in dem unterschiedliche Ansätze referiert werden, in die seelsorgliche Praxis gesprochen werden. In klassisch-psychotherapeutischer Tradition steht Morgenthaler, wenn er angibt, die technische Praxis systemischer Seelsorge durch Nachahmung erlernt zu haben.²⁴⁵ Denn auch für Therapeuten ist es weitgehend die Norm, eher durch Imitation eines „Meisters“ ihr methodisches „Handwerk“ zu erlernen als sich mit theoretischen Begründungen des professionellen Handelns auseinander zu setzen.²⁴⁶ Der bewusste Verzicht auf die Diskussion theoretischer Fragen zugunsten einer Ausrichtung auf die Praxis birgt die Gefahr der theoretischen Unterbestimmung. Das „gewisse ‚Driften‘ der Kategorien und Konzepte“²⁴⁷ führt letzten Endes zu Verunklarungen und einigen theoretischen Inkonsistenzen. Bei dieser exklusiven Orientierung an der Literatur systemischer Therapie und Beratung, wundert es nicht, dass auf einen systemtheoretischen Ansatz wie den von Luhmann nicht einmal hingewiesen wird²⁴⁸ – davon abgesehen, dass die Bestimmung des Menschen als „ein System psychischer Kräfte“²⁴⁹ grundsätzlich inkompatibel mit der Luhmannschen Theorie ist. Morgenthaler versteht seinen „Entwurf nicht als Absage an das, was in den letzten Jahrzehnten pastoralpsychologisch erarbeitet wurde. Im Gegenteil. Die Kirche bedarf auch heute einer Seelsorge, die in ihren Arbeitsformen veränderten
Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 24. Dem entspricht der Verzicht auf ein Register, das eine systematische Arbeit mit dem Werk erleichtern würde. VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch. Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 142. Vgl. Simon (2000: Name dropping, 368 f), der in diesem Zusammenhang an die psychotherapeutischen Schulbildungen um Freud, Jung und Adler erinnert. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 24. In der fünften Auflage führt Morgenthaler mit der „Religion der Gesellschaft“ und „Soziale Systeme“ zwei Titel von Luhmann an, die jedoch für die Anlage seiner systemischen Seelsorge weiterhin nicht relevant sind. A.a.O., 17; vgl. a.a.O., 73 ff u. ö.
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1. Systemtheorie und Semiotik
Umständen und Entwicklungen der Psychotherapie Rechnung trägt. Neue Impulse sind wichtig.“²⁵⁰ Infolgedessen spricht er im Zusammenhang der systemischen Ausrichtung von Seelsorge auch nicht von einem poimenischen Paradigma-, sondern von einem Perspektivenwechsel. Die systemische Sichtweise löst – nach Morgenthaler – die Seelsorgebewegung nicht ab, sondern ergänzt die Konzentration auf das Individuum um die Wahrnehmung des Einzelnen in seinem Beziehungsgefüge.²⁵¹ Insgesamt hat Morgenthalers Entwurf den Charakter einer Poimenik, die sich zur Erfüllung ihres Zwecks die erforderlichen Kenntnisse und Kunstregeln aus den Humanwissenschaften entleiht. Trotz der fehlenden theoretischen Durchdringung ist es Morgenthalers Verdienst, die Leistungsfähigkeit systemtherapeutischer Elemente und Methoden für die Seelsorge zu reflektieren und nutzbar zu machen. In der Folgezeit vertieft und ergänzt Morgenthaler seinen Ansatz um weitere Gesichtspunkte: Er beschäftigt sich mit systemischen Aspekten hinsichtlich des Sterbens im Krankenhaus,²⁵² mit dem Verhältnis von Seelsorge und Gemeinde,²⁵³ dem religiösen Coping,²⁵⁴ der narrativen Perspektive systemischer Trauerseelsorge,²⁵⁵ und er nimmt Elemente systemischer Kurzzeittherapie auf, um „(Kurz)Zeitperspektiven in der systemischen Seelsorge“²⁵⁶ zu entwickeln. Nach dem Erscheinen der Monographie Morgenthalers, der in der Seelsorgelehre seitdem als Gewährsmann systemischer Seelsorge gilt, ist in der poimenischen Literatur eine verstärkte Aufnahme der systemischen Perspektive zu beobachten. Erste Rezeptionsüberblicke systemischer Ansätze in der Seelsorgetheorie bieten 2000 Albrecht²⁵⁷ und Götzelmann²⁵⁸. Albrecht beobachtet die Rezeption systemischer Therapie und Beratung in der Poimenik „im Schatten einer hinfälliger werdenden Seelsorgebewegung“²⁵⁹. Ausgehend von der These, das Konzept systemischer Therapie und Beratung habe „eine prominente, wenngleich weitgehend unbewusst bleibende und zum Teil erhabene Vorläufergestalt in der Seelsorgelehre Friedrich Schleiermachers“²⁶⁰ zeigt Albrecht Konvergenzen wie Divergenzen der Poimenik
Morgenthaler 2001: Surfbrett, 197. Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 12 und 16. Morgenthaler 2000: Sterben. Morgenthaler 2001: Seelsorge. Morgenthaler 2002: Pastoralpsychologie. Morgenthaler 2006: Geschichten. Morgenthaler 2002: Zeit. Albrecht 2000: Systemische Seelsorge. Götzelmann 2000: Seelsorge. Albrecht 2000: Systemische Seelsorge, 215. A.a.O., 216.
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
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Schleiermachers und der systemischen Therapie auf. Abschließend fragt er nach angemessenen Kriterien einer poimenischen Rezeption der systemischen Therapie. Leitend ist dabei die Annahme, dass sich praktisch-theologische Theoriebildung gerade in der Rezeption von Humanwissenschaften auszeichnet.²⁶¹ Aus pastoralpsychologischer und damit aus Sicht der Seelsorgebewegung stellt Götzelmann die „Entdeckung familientherapeutischer Ansätze in der Pastoralpsychologie“²⁶² dar. Systemische Seelsorge wird verstanden als Wahrnehmung des „Systems Mensch“ in seinen sozialen Vernetzungen. Götzelmann gibt einen Überblick über poimenische Ansätze, die die Individuumzentrierung erweitern, und stellt systemisch orientierte Seelsorgekonzepte dar. Außerdem benennt er Theorieaufgaben, die von einer systemischen Poimenik zu klären sind: Das Verhältnis von Subjekt und System, Konstrukt und Dogma, Psychotherapie und Seelsorge.
Emlein ist bislang der einzige, der die theoretische Unterbestimmung systemischer Seelsorge benennt und mit seinen Artikeln einen wesentlichen Beitrag zur theoretischen Fundierung systemischer Seelsorge leistet. Die Fragen und Schwierigkeiten, die sich aus der Durchsicht systemischer Seelsorge-Literatur ergeben, sind „nicht praktischer Art […], sondern in der Theoriekonzeption zu suchen, in der Sichtweise.“²⁶³ Ausgehend von dem systemtheoretischen Beobachtungsbegriff der Theorie Luhmanns²⁶⁴ löst Emlein erstmals 2001 die theorietechnischen Probleme der systemischen Seelsorgelehre. Er stellt „formale Kategorien“²⁶⁵ einer systemischen Praxis auf, die sich v. a. im Rückgriff auf die wesentlichen Denkmuster und Begrifflichkeiten der Systemtheorie Luhmanns ergeben. Der Frage nach dem spezifisch Seelsorglichen der Seelsorge gegenüber anderen psychosozialen Kontakten geht Emlein fünf Jahre später nach.²⁶⁶ Wieder insistiert er darauf, dass die Seelsorge nicht ohne Theoriekonstruktionen auskommt. Dies bleibt weiterhin ein Defizit der systemischen Seelsorge, die sich bis dahin im Wesentlichen um eine praktische Anwendung systemischer Ideen bemüht hat. Emlein zeigt erneut die aus der Systemtheorie Luhmanns folgenden Implikationen für die Seelsorge auf: Seelsorge ist religiöse Kommunikation, „gesellige Interaktion“,²⁶⁷ die sich des religiösen Codes transzendent/immanent bedient.²⁶⁸ Da für den Umgang mit der Transzendenz jedoch immer nur immanente Möglichkeiten zur Verfügung stehen, ergänzt Emlein den religiösen Code
Vgl. ebd. So der Untertitel von Götzelmann 2000: Seelsorge. Emlein 2001: Seelsorge, 161; Hervorhebung im Original. S.u. 3.1.1. Emlein 2001: Seelsorge, 161 ff. Emlein 2006: Eigenheiten. A.a.O., 233 ff; in Anlehnung an Schleiermacher und Kieserling (1999: Kommunikation). Zur religiösen Codierung s.u. 3.2.2.2.2.
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im Hinblick auf die Seelsorge durch die Leitunterscheidung lebensförderlich/ lebenshinderlich. Im Unterschied zu anderen psychosozialen Kontakten ist Seelsorge nicht auf Probleme und Hilfestellung angelegt, sondern eröffnet einen unabsehbar großen Möglichkeitsraum, der nur durch Takt, Würdigung und Religion eingeschränkt ist. Konsequenz ist ein weiter Begriff von Seelsorge: „Selbst wenn es zu keinen bedeutungsvollen Themen kommt, sondern man ‚über das Wetter‘ spricht: Ein Alltagsgespräch ist dadurch anders, dass eine der beteiligten Personen nicht als Privatperson anwesend ist, sondern in einer (pastoralen) Rolle“²⁶⁹. Mehr auf die Praxis hin ausgerichtet sind die Überlegungen Emleins zu einer nichtdiagnostizierenden Sicht von Seelsorge, die er am Beispiel der Seelsorge in der Psychiatrie konzipiert.²⁷⁰ Konstruktivistischer Ausgangspunkt ist auch hier der Luhmannsche Beobachtungsbegriff. Es ist Emleins Verdienst, die konstruktivistische Theoriekonzeption Luhmanns konsequent auf die Seelsorge zu beziehen. Daher sind seine Überlegungen für eine systemtheoretisch-semiotische Poimenik nicht nur anschlussfähig, sondern konstruktiv weiterführend. Unter den diversen, systemisch orientierten Artikeln seien an dieser Stelle zwei hervorgehoben, die nochmals neue Aspekte in die systemische Seelsorgelehre einbringen. Hermelink²⁷¹ nimmt das Ritual in den Blick und SchneiderHarpprecht²⁷² weitet die Perspektive in interkultureller Hinsicht. Im Rückgriff auf eine primär als „Verstörung“ verstandene systemische Therapie nimmt Hermelink „[d]ie Konfirmation als Ritual ‚heilsamer Verstörung‘“ in den Blick und plädiert für die Gestaltung der Kasualliturgie als „heilsame Verstörung“. Damit weitet er den Blick systemischer Poimenik auf die Liturgie. Denn bisher ist die Konfirmation in der systemischen Poimenik lediglich als Gesprächsanlass in den Blick genommen worden, die Dimension des Rituals wurde jedoch nicht beachtet. „Im Anschluss an die allgemeine anthropologische Debatte“ definiert Hermelink Ritual „als ein hervorgehobenes, gemeinsames Handlungsmuster […], das für das jeweilige soziale System eine über den Vollzug selbst hinausweisende, ‚symbolische‘ Bedeutung hat.“²⁷³ Der Autor zeigt, wie die Konfirmation als Ritual seelsorgliche Wirkung zu entfalten vermag, indem es die von der Adoleszenz geprägten familiären Interaktionsmuster sowohl stabilisiert als auch heilsam verstört.
Emlein 2006: Eigenheiten, 235. – Zur Bedeutung der Person des Seelsorgers für die Seelsorge s.u. 4.4. Emlein 2003: Lösung. Hermelink 2001: Konfirmation. Schneider-Harpprecht 2003: Seelsorge. Hermelink 2001: Konfirmation, 492. Die Definition lehnt sich an Imber-Black an; vgl. von Schlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 191 ff.
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
101
Die systemische Sichtweise Hermelinks bewegt sich in einem poimenisch von Morgenthaler und systemtherapeutisch von vonSchlippe und Schweitzer abgestecktem Feld. Die Systemtheorie Luhmanns wird dabei nicht herangezogen. Diese nimmt Hermelink später im Rahmen der Kirchentheorie auf.²⁷⁴ Anders als die bis dahin erschienene systemische Seelsorge-Literatur setzt SchneiderHarpprecht an. Er erwägt den sozialen und politischen Auftrag einer Seelsorge, die „im Evangelium der gnädigen Annahme der Menschen durch den dreieinigen Gott und in seinem Gebot der Gerechtigkeit“ sowie „im sozialen Bedürfnis der Menschen nach sinnhafter Orientierung und der Bewältigung von Krisen- und Grenzsituationen“²⁷⁵ gründet. In Anlehnung an den von dem Sozialarbeitswissenschaftler und Familientherapeuten Pfeifer-Schaupp geprägten Begriff der „systemischen Praxis“²⁷⁶ bestimmt Schneider-Harpprecht „Seelsorge als systemische Praxis“, deren Spezifikum in der deutlichen Artikulation des Glaubens liegt. Beeinflusst von befreiungstheologischen Überlegungen legt Schneider-Harpprecht einen Ansatz vor, der zwar in terminologischer Hinsicht auf die Systemtheorie Luhmanns rekurriert, aber nicht auf die entsprechende Primärliteratur verweist. Insgesamt erscheinen sowohl die theoretische Fundierung als auch die Fallbeispiele samt ihrer Analyse als nicht stringent. Später bringt Schneider-Harpprecht diese Überlegungen mit dem Seelsorgeansatz seiner Habilitationsschrift²⁷⁷ in Verbindung und skizziert eine interkulturelle systemische Seelsorge.²⁷⁸
Von der Praxis inspiriert und für die Praxis konzipiert ist die in dem schmalen Band 2003 von T. Lohse vorgestellte Kurzzeitseelsorge bzw. -beratung, die bereits in vierter Auflage (2013) vorliegt und durch ein methodisches Trainingsbuch ergänzt wird.²⁷⁹ Mit vielen Fallbeispielen anschaulich illustriert wird dieses Konzept der Alltagsdimension beratender Berufe gerecht. Entwickelt wurde die Methodik des Kurzgesprächs im Umfeld des systemischen Ansatzes: „Grundelemente der Kommunikationstheorie und Semiotik stehen dabei im Hintergrund. Diese Theorien werden im Einzelnen nicht erläutert, vielmehr nehme ich diese […] auf und verkürze sie auf die im Kurzgespräch virulenten Elemente.“²⁸⁰ Die inter-
Hermelink/Wegner 2008: Paradoxien; Hermelink 2011: Kirchliche Organisation; s. o. 1.1.2.2. Schneider-Harpprecht 2003: Seelsorge, 442. Pfeifer-Schaupp 2002: Westen. Schneider-Harpprecht 2001: Interkulturelle Seelsorge. Schneider-Harpprecht 2005: Interkulturelle systemische Seelsorge. – Zur interkulturellen Seelsorge s.u. 3.2.2.1.1. Lohse 20062: Kurzgespräch; ders. 2006: Trainingsbuch. – Als Zitationsgrundlage dient im Folgenden die zweite Auflage von 2006. Lohse 20062: Kurzgespräch, 11. Unklar bleibt allerdings, welche semiotische Theorie im Hintergrund steht. Bezüglich der Systemtheorie bzw. -therapie stützt sich der Autor v. a. auf Konzepte der systemischen Kurzzeittherapie sowie Watzlawick und Bateson. – Zehn Jahre nach T. Lohse rezipiert Theobold (2013: Smalltalk) Ansätze der Kurzzeittherapie – unter ihnen auch systemische – und entwickelt eine „Kurzzeitseelsorge in der Gemeinde“.
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1. Systemtheorie und Semiotik
aktiven²⁸¹ Elemente des Kurzgesprächs sind auf ein lösungsorientiertes Ziel hin ausgerichtet: „Die ratsuchende Person soll am Ende des Gesprächs aus eigener Kraft einen ersten Schritt in eine neue Richtung gehen, bei der sie sich frei fühlt, wieder eigenverantwortlich in ihrem Leben handeln zu können.“²⁸² Interessant sind insbesondere die Überlegungen zu der „günstigen Gelegenheit“.²⁸³ Günstiger Ort, günstige Zeit und günstige Person treffen in einem Kairos aufeinander, so dass es an einem ganz bestimmten Ort, in einem ganz bestimmten Augenblick um ein ganz bestimmtes Thema geht. Das Bild des „Konfliktkarussell“ verdeutlicht eine Haltung des Helfenden, die auch auf problemorientierte Seelsorgemodelle zutrifft: „Helfende [sind] geradezu fasziniert von zwischenmenschlichen Konflikten und brennen darauf, sie zu lösen, indem sie immer tiefer in die Konfliktkonstellation einzudringen versuchen, bis diese sich dem verinnerlichten Verstehensraster (Theorie) annähert oder mit ihm deckt. Dann erst (so die Vorstellung) könnten sie helfen.“²⁸⁴ Demgegenüber setzt T. Lohse lösungsorientiert und konstruktivistisch an. In der Methodik der Gesprächsführung orientiert sich der Autor an den Methoden der systemischen Therapie. Die Überlegungen zum theologischen Hintergrund der Kurzzeitseelsorge fügen sich jedoch nicht konsistent in den Gesamtduktus der praktischen Anleitung ein:²⁸⁵ Neben der Profession ist auch die Konfession gefragt – so T. Lohse. Die Bestimmung des Spezifikums der Seelsorge mutet dem Seelsorger viel zu, denn dieses „besteht im Glauben der beratenden Person“.²⁸⁶ Nicht nur im theologischen Begründungszusammenhang, sondern auch an einigen anderen Stellen ergeben sich in T. Lohses Darstellung zugunsten der praktischen Ausrichtung theoretische Ungenauigkeiten. Aus diesem Grund theoretisch wenig anschlussfähig, zeigt das Konzept jedoch mögliche Konsequenzen systemischen Denkens für die seelsorgliche Praxis auf. Das Nachwort von Schneider-Harpprecht, das die Kurzzeitseelsorge zwischen beratender Seelsorge und Alltagsseelsorge²⁸⁷ positioniert, wirkt wie eine nachträgliche, theore-
Interaktion ist hier verstanden als „[w]echselseitiger Austausch von hörbaren, sehbaren und fühlbaren Informationen“; Lohse 20062: Kurzgespräch, 17 Anm. 3. Lohse 20062: Kurzgespräch, 20. Vgl. a.a.O., 21 ff. A.a.O., 42. Vgl. a.a.O., 147 ff. A.a.O., 150; Hervorhebung im Original. „Alltagsseelsorge“ ist hier verstanden als die Verbindung dreier Elemente (SchneiderHarpprecht 20062: Nachwort, 153): „Die Kritik am Defizitmodell des Helfens [H. Luther], der Abschied der Seelsorge von hoher Therapie und hoher Theologie [Schneider-Harpprecht], die Orientierung der seelsorglichen Kommunikation an den sozialen Anforderungen an die pastorale Profession [Karle].“
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
103
tische Untermauerung, derer die methodische Anleitung im Grunde genommen nicht bedürfte. Ohne Verweis auf Luhmann zieht Schneider-Harpprecht dessen spezifische Terminologie heran und interpretiert diese individualistisch. Für den „theologischen Leitgedanken […], Menschen aufgrund der Rechtfertigung allein aus Glauben zu helfen, ihr Leben in der Gemeinschaft selbst verantwortlich zu gestalten“²⁸⁸ lässt sich entgegen Schneider-Harpprecht in T. Lohses Ansatz kein Anhaltspunkt finden.
1.1.3.3 Fazit: Luhmannsche Systemtheorie und die Poimenik Die Durchsicht der Literatur hat gezeigt, dass in der Poimenik zahlreiche Veröffentlichungen zu systemischer Seelsorge vorliegen. Unter ihnen wird v. a. die „Systemische Seelsorge“ von Morgenthaler²⁸⁹ breit rezipiert. Der Verdienst dieses Werkes ist es, einen Etablierungsschub systemischer Seelsorge in der Poimenik ausgelöst zu haben. Gemeinsam ist allen Entwürfen der Versuch, die Individuumszentrierung der Seelsorge zu überwinden. Dabei fällt auf, dass die Rezeption systemischen Denkens in der Poimenik weniger unter systemtheoretischer als unter systemtherapeutischer Perspektive stattfindet. Damit präsentiert sich systemische Seelsorge überwiegend als Übernahme systemtherapeutischer Methoden in Modelle der seelsorglichen Praxis – und weniger als kritische Rezeption von Systemtheorie in die Poimenik. Konsequenz ist ein durchgängig zu konstatierendes Theoriedefizit zugunsten seelsorglicher Praxis, das sich besonders in den explizit praktisch ausgerichteten Konzeptionen von Morgenthaler und T. Lohse zeigt. Häufig ist der Rückgriff auf verschiedene Modelle sowie Konglomerate diverser systemischer Ansätze zu beobachten, die zu Diffusität, Verunklarungen, Inkonsistenzen und Missverständnissen führen und insgesamt über den Vorwurf des Eklektizismus nicht erhaben sind. Bedeutungsverschiebungen hinsichtlich systemtheoretischer Terminologie sind die Folge, und theoretisch nicht definierte Formulierungen können geradezu als Kennzeichen poimenischer Literatur gelten. Diese theologisch unreflektierte Übernahme systemtherapeutischer Methoden spiegelt sich in Morgenthalers Definition systemischer Seelsorge: „Systemische Seelsorge versteht sich als Anwendung systemischer Prinzipien in Gemeinden […], Synagogen […] und anderen rel[igiösen] Gemeinschaften sowie im Bereich spe-
Schneider-Harpprecht 20062: Nachwort, 156. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge.
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1. Systemtheorie und Semiotik
zialisierter Seelsorgedienste und läßt sich im Anschluß an vielfältige bibl[ische] und kirchl[iche] Traditionen theol[ogisch]-anthropologisch begründen.“²⁹⁰ Außer den Publikationen von Karle²⁹¹ und Emlein²⁹² findet sich beim Gang durch die systemische Seelsorgeliteratur kein Ansatz, der sich explizit auf die Theorie autopoietischer Systeme Luhmanns bezieht. Begegnet die Systemtheorie Luhmanns und dessen charakteristische Terminologie – meist mit drastischen Sinnverschiebungen – dennoch in der Poimenik, dann scheint die Aufnahme sekundär über systemtherapeutische Literatur erfolgt zu sein. Letztere trifft jedoch beim Rückgriff auf die Luhmannsche Theoriegestalt ihrerseits bestimmte Selektionen, die verbunden mit therapeutischen Grundannahmen nicht unreflektiert in eine theologische Seelsorgelehre übernommen werden können. Der Grund für die Rezeption von Luhmanns Systemtheorie über systemtherapeutische Literatur mag darin liegen, dass dort die sich als zunächst sperrig erweisende Theorie hinsichtlich möglicher Praxisvollzüge bereits entsprechend aufbereitet ist. Denn für Seelsorge und Therapie, die beide auf zwischenmenschliche und helfende Kommunikationssituationen ausgerichtet sind, mag der Bezug auf eine „radikal antihumanistische“²⁹³ Theorie zunächst befremdlich sein – steht in Seelsorge und Therapie traditionell doch der Mensch als Individuum im Zentrum. Vor diesem Hintergrund ist es erst einmal verstörend, psychische Systeme grundsätzlich in der Umwelt von Kommunikation zu verorten. Der Terminus „Mensch“ ist für Luhmann ein „Rahmenbegriff für unübersehbare Komplexität“,²⁹⁴ über den man „im Kontext einer Theoriearbeit zunächst lieber schweigen sollte“.²⁹⁵ Emlein bringt den Stand systemischer Seelsorge auf den Punkt: „Systemtheoretische Betrachtungen zur Seelsorge gibt es kaum.“²⁹⁶ Und weiter: „Ideen aus der systemischen Praxis hingegen sind mit sehr viel Geschick und Verve für Seelsorge schon fruchtbar gemacht worden […] – die Praxis einer Anwendung systemischer Ideen kann sich sehen lassen […]. So ist jedoch eine Zweiteilung entstanden: hie Praxis, da Theorie. Das halte ich auf lange Sicht für hinderlich, denn ohne Theoriekonstruktionen kann Seelsorge sich nicht erklären.“²⁹⁷
Morgenthaler 2004: Systemische Therapie, 2020; Hervorhebung L.K. Bezeichnend ist auch, dass diese Bestimmung im RGG-Artikel „systemische Therapie“ erfolgt, während ein eigener Artikel zur „systemischen Seelsorge“ fehlt. Karle 1996: Seelsorge. Emlein 2001: Seelsorge; ders. 2006: Eigenheiten. Luhmann 1997: Gesellschaft, 35. Luhmann 20052: Soziologie, 256. A.a.O., 260. – Zur Kopplung von psychischen und sozialen Systemen s.u. 3.2.2.1.2. Emlein 2006: Eigenheiten, 216. Ebd.
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
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Der Rückgriff auf Praxiskonzepte anstelle von Theorie scheint besonders ein in der Poimenik verbreitetes Phänomen zu sein. Denn in anderen praktisch-theologischen Teildisziplinen ist die Konzeptionalisierung auf der Basis von Theorien und Theologie durchaus geläufig.²⁹⁸ Daher stellt sich hinsichtlich der Seelsorgelehre die Frage, aus welchem Grund gerade eine, ihrem gegenwärtigen Selbstverständnis nach auf den Menschen bezogene Disziplin, in erster Linie methodische Techniken rezipiert. Steht der Mensch als Subjekt bzw. Individuum im Fokus, würde sich eine konzeptionelle Entwicklung von der Anthropologie her anbieten. In diesem Zusammenhang könnte die Poimenik als praktisch-theologische Reflexion von Seelsorge an Aspekte theologischer Anthropologie(n) anknüpfen. Letzteres scheint allerdings nach der empirischen Wende in der Praktischen Theologie nicht nur nicht üblich, sondern sogar als dysfunktional betrachtet zu werden. Stattdessen geht in der systemischen Seelsorgelehre mit der unreflektierten Übernahme therapeutischer Methodik die ebenso unreflektierte, implizite Rezeption anthropologischer Grundannahmen einher – ein Aspekt, der im Zusammenhang mit dem poimenischen Anschluss an das Modell von Rogers bereits vielfach diskutiert wurde. Held weist bereits darauf hin, dass das positive Menschenbild systemischer Therapie nicht mit einer christlich-theologischen Perspektive auf den Menschen als Sünder und Gerechtfertigen kompatibel ist.²⁹⁹ Dies zeigt sich z. B. in der grundlegenden Annahme, dass die zur Auflösung eines „Problems“ benötigten Ressourcen im Menschen lägen und im Rahmen systemischer Therapie lediglich aktiviert werden müssten.
Das Konzept einer konsequent systemtheoretisch begründeten systemischen Poimenik steht bislang noch aus. Im Anschluss an die von Karle und Emlein angeführten Aspekte, die es weiter zu explizieren gilt, hat systemische Poimenik insbesondere zweierlei zu leisten: Zum einen ist der Rückgriff auf die sich in der Praxis bewährten Methoden systemischer Therapie angebracht, da es systemischer Therapie zumindest partiell gelungen ist, den Wechsel von der Seite der abstrakten Luhmannschen Theorie hin zur therapeutischen Seite der Praxis zu vollziehen. Dass es in diesem Zusammenhang zu einem schriftlich dokumentierten Kontakt zwischen dem Systemtheoretiker Luhmann und einer Reihe systemischer Therapeuten kam,³⁰⁰ kann auch für eine systemische Poimenik nur gewinnbringend sein. Zum anderen hat sich systemische Poimenik als Theorie der Seelsorge stärker als bislang an Systemtheorie zu orientieren. Für die seelsorgliche Kommunikationssituation bietet sich hierbei die Kommunikationstheorie Luhmanns an, deren Potential für die Seelsorgelehre bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist.
Vgl. z. B. die zahlreichen praktisch-theologischen Entwürfe, die sich an Systemtheorie oder Semiotik orientieren; s.o. 1.1.2. und s.u. 1.2.2. Vgl. Held 1998: Systemische Praxis, 103. Vgl. Simon (1998: Lebende Systeme), die von Fischer, Retzer, Schweitzer (19932: Ende) und von Krüll, Luhmann, Maturana (1987: Grundkonzepte) herausgegebenen Bände sowie die beiden Interviews mit Luhmann (19982: Kreuzverhör; 19982: Therapeutische Systeme); s. o. 1.1.3.1.
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1. Systemtheorie und Semiotik
Luhmanns elaborierte Terminologie ermöglicht der Poimenik die differenzierte Beobachtung des Interaktionssystems Seelsorge als religiöse Kommunikation. Die Beschreibung der Seelsorgesituation als Interaktion betont mit der Anwesenheit und wechselseitigen Wahrnehmung der „Kommunikationspartner“ die wesentlichen Charakteristika der face-to-face Kommunikation. ³⁰¹ Folgt man der Luhmannschen Verortung der Seelsorge im gesellschaftlichen Funktionssystem der Religion, so ist die Poimenik nicht länger therapeutisch vom Medizinsystem her, sondern theologisch vom Religionssystem her zu begründen. Dies ermöglicht einerseits, das Spezifikum christlicher Seelsorge gegenüber Therapie herauszuarbeiten, andererseits ist aus theologischer Perspektive nach angemessenen Kriterien poimenischer Rezeption von systemischer Therapie und Beratung zu suchen. Mit dem bisherigen Rückgriff auf Therapie anstelle von Theorie steht systemische Seelsorge in der Tradition des therapeutischen Paradigmas, das seit den 1970er Jahren die Poimenik dominiert. Deshalb wäre es verfehlt und widerspräche zudem der Selbstverortung einiger Autoren, im Zusammenhang systemischer Seelsorge von einem poimenischen Paradigmawechsel zu sprechen. Vielmehr liegt mit dem Bezug auf systemische Sichtweisen und systemtherapeutische Methodik ein Perspektivenwechsel innerhalb des psychotherapeutischen Paradigmas vor, der die Seelsorgebewegung mit einer neuen Akzentuierung fortsetzt: „Systemische Seelsorge bedient sich der handwerklichen Methoden, die in den 70er Jahren eingeübt wurden, hat aber die seelsorgliche Wahrnehmung erheblich erweitert.“³⁰² Worin diese „Erweiterung der Wahrnehmung“ liegt, d. h. was systemische Praxis von der psychoanalytischen Herangehensweise unterscheidet, ist in der Literatur mehrfach dargelegt worden:³⁰³ Zunächst geht es um die Weitung des Blicks von der Individuumszentrierung zu einer Mehrpersonenperspektive und Wahrnehmung des Menschen in seinen sozialen Relationen. Obwohl dies zwar als ein wichtiger, aber nicht ausschließlicher Aspekt systemischer Poimenik gelten kann,³⁰⁴ bleibt dies häufig das einzige Novum gegenüber anderen Seelsorge S.u. 3.2. Stollberg 2002: Zukunft, 88. Vgl. auch Scharfenberg 1996: Geleitwort, VIII: „Die Seelsorgebewegung ist nicht tot, aber sie wandelt sich“. Vgl. Karle 1999b: Seelsorge, 37 ff; Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 16 ff; Götzelmann 2000: Seelsorge, 222 ff; Emlein 2001: Seelsorge, 176 f. Auch Scharfenberg (1996: Geleitwort, VII) plädiert in seinem Geleitwort zur Dissertation Karles für eine Überwindung der poimenischen Individuumszentrierung und bewegt sich damit mit im Rahmen der gegenwärtigen Seelsorgediskussion; vgl. Meyer-Blanck 1998: Identität. – Bemerkenswert ist, dass sich Scharfenberg für eine Übersetzung der Monographie von Patton und Childs (1995: Familienseelsorge) und damit für die erste deutsche Veröffentlichung zur Ehe- und Familienseelsorge engagiert und auch hierzu ein Geleitwort verfasst.
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
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konzeptionen. Darüber hinaus sind weitere wesentliche Elemente systemischer Seelsorge anzuführen: Eine intrapsychische weicht einer interpsychischen Sichtweise, die Problemorientierung ist zugunsten einer zielgerichteten Lösungsorientierung aufgegeben. Biographie spiegelt nicht mehr die Identität, sondern die Differenz wider und ist infolgedessen nicht zu rekonstruieren, sondern immer nur zu konstruieren.³⁰⁵ Die Annahme von Monokausalität kann nicht länger aufrechterhalten werden. Sie ist der Einsicht in die Zirkularität, die sich methodisch im „zirkulären Fragen“ widerspiegelt, gewichen. Statt empathischem Zuhören werden gezielte Interventionen möglich, wobei sich aus dem Repertoire systemtherapeutischer Methodik besonders das „Verstören“ und „Reframing“ als poimenisch relevant erweisen. Schließt Seelsorge an den Kontext der Beratung und Therapie an, so stellt sich auch hinsichtlich systemischer Poimenik die viel diskutierte Frage nach dem Proprium ³⁰⁶ der Seelsorge, also nach dem Besonderen christlicher Seelsorge im Vergleich zum psychotherapeutischen Bemühen um den Menschen. Dass die Poimenik zur Reflexion des seelsorglichen Geschehens auch Kategorien der Psychologie bedarf, ist heute kaum noch in Zweifel zu ziehen,³⁰⁷ doch bleibt die dringende Frage, woran sich die Seelsorgelehre ausrichtet, welches Paradigma sie für ihre Begründung heranzieht. Die Durchsicht systemisch-poimenischer Literatur hat gezeigt, dass in einigen systemisch-poimenischen Ansätzen Aspekte traditioneller Seelsorgekonzepte und poimenische Kategorien wie die von M. Luther, Schleiermacher und Thurneysen reformuliert werden.³⁰⁸ Auch die von der therapeutischen Poimenik bislang stark vernachlässigte gemeindlich-kirchliche Dimension von Seelsorge findet wieder mehr Aufmerksamkeit.³⁰⁹ Außerdem ist der Rückgriff auf christliche Deutungsformen – wie das Einspielen biblischer Texte ins Seelsorgegespräch – im Gegensatz zur traditionellen
Zur Konstruktion von Biographie s.u. 3.2.2.1.1. Den Terminus „Proprium“ (lat. proprius: eigen, eigentümlich) prägte Stollberg (1978: Wahrnehmen, 20 ff) mit der Unterscheidung von „generellem“ und „spezifischem Proprium“ der Seelsorge. Vgl. Meyer-Blanck/Weyel 1999: Arbeitsbuch, 126: „Innerhalb der Seelsorgetheorie ist eine schlichte Mißachtung von Einsichten aus der wissenschaftlichen Psychologie nicht mehr möglich.“ Vgl. Karle 1996: Seelsorge, 206 ff; Meyer-Blanck 1998: Identität, 842; Albrecht 2000: Systemische Seelsorge; Klie 2003: Zeichen, 348 ff. Vgl. Karle 1996: Seelsorge, 235 ff; Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 270 ff; ders. 2001: Seelsorge; Schneider-Harpprecht 2003: Seelsorge.
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1. Systemtheorie und Semiotik
therapeutischen Seelsorge wieder eine Option.³¹⁰ Allerdings bleibt der seelsorgliche Rückgriff auf christliche Traditionsformen in den meisten poimenischen Ansätzen theoretisch wie theologisch ungenügend reflektiert – Klie markiert gerade im Fehlen rezeptionsästhetischer Fragen der Texthermeneutik das Hauptdefizit der vorliegenden Entwürfe systemischer Seelsorge.³¹¹ Gemäß einer im weitesten Sinne therapeutischen Perspektive bleibt die Funktion der Bibel meist auf eine weitere „verstörende“ Möglichkeit neben den in der systemischen Therapie angewendeten Geschichten, Liedern, Witzen etc. beschränkt. Über diese bloße Analogie hinaus bieten biblische Texte jedoch eine spezifisch religiöschristliche Deutung von Wirklichkeit, die außer in dem Entwurf von Karle kaum im Blick ist: „Die biblischen Metaphern und Geschichten, die Gleichnisse vom Reich Gottes oder der Gottesherrschaft konfrontieren […] mit einem Wirklichkeitsverständnis, das die alltäglichen Wahrnehmungsmuster, Zuordnungen und ‚Spiele ohne Ende‘ stört und in einem neuen Licht wahrnehmen läßt – und darin liegt ihre kreative Kraft. Sie stellen unsere Vorannahmen über die Welt und uns selbst in Frage und distanzieren auf diese Weise von der dominierenden Sprachkonvention und dem geläufigen Alltagswissen. Gerade in ihrer Fremdheit und Sperrigkeit liegt damit ein nicht zu unterschätzendes Moment ihrer Wirksamkeit.“³¹² V. a. wenn Seelsorge im systemtheoretischen Sinne als „religiöse Kommunikation“ reflektiert wird, legt sich ein spezifisch christliches Profil der Poimenik sowie eine theologische Begründung nahe. Dies ist von Karle und Emlein geleistet worden, die systemtheoretisch fundierte Ansätze vorlegen. Beiden ist es gelungen, Aspekte einer Poimenik aufzuzeigen, die sich konsequent an der Systemtheorie Luhmanns orientiert, aber auch Einsichten der systemischen Therapie berücksichtigt. Dass diesem mit dem systemischen Ansatz verbundenen Perspektivenwechsel innerhalb der therapeutischen Orientierung die grundsätzliche Option eines poimenischen Paradigmawechsels eignet, hat Karle mit ihrer systemtheoretischen Kritik und grundsätzlichen Infragestellung der Dominanz des therapeutischen Paradigmas der Seelsorge gezeigt.³¹³ Allerdings tritt in Karles Ansatz mit der ausschließlichen Ausrichtung an der soziologischen Systemtheorie Luhmanns an die Stelle des therapeutischen nun ein soziologisches Paradigma. Ihr Konzept
Vgl. Karle 1996: Seelsorge, 214 ff; Ferel 1996: Verständnis, 369 ff; Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 253 ff u. ö. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 389. Karle 1996: Seelsorge, 215. A.a.O.
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
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bleibt damit der soziologischen Komponente ihrer konstruktivistischen Perspektive verhaftet und läuft Gefahr, die Theologie zu „soziologisieren“. Folgt man Meyer-Blanck, so liegt die Aufgabe zukünftiger Poimenik in der „Weiterführung der kerygmatischen Seelsorge im […] systemisch-semiotischen Sinne“:³¹⁴ „Was bei Karle und Bukowski nur angesprochen, bei Schlippe/ Schweitzer durchgeführt, aber nicht auf die Seelsorge bezogen ist – dies verdiente es, zusammengeführt zu werden. Darin sehe ich (neben Hauschildts Hinweisen auf den theologischen Alltagsdiskurs) eine wirklich Neues eröffnende Perspektive der Poimenik, die auf konkrete Füllung wartet.“³¹⁵ In der Zwischenzeit erschienene poimenische Publikationen machen zwar eine Revision dieser Aussage nötig, das Desiderat bleibt jedoch bestehen. Es ist v. a. der Verdienst Morgenthalers, mit seiner Monographie das „Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung“ von vonSchlippe und Schweitzer, in die seelsorgliche Praxis übertragen zu haben. Neben Karle hat unterdessen auch Emlein explizit systemtheoretische Überlegungen hinsichtlich einer systemischen Seelsorge vorgelegt. Nachdem also nun Morgenthaler einen weiteren Baustein auf dem Weg zu einer „Seelsorge im systemisch-semiotischen Sinne“ (Meyer-Blanck) geleistet hat, liegt die poimenische Theorieaufgabe nun darin, die Ansätze von Karle und Emlein, Morgenthaler und Bukowski bzw. Luhmannschen Systemtheorie, systemische Seelsorge und einen theologisch verantworteten Horizont miteinander zu verschränken. Insbesondere Karles Konzept von der „Seelsorge als Störung“ wäre im Einzelnen zu reflektieren. Die durch die „Störung“ theologisch wieder rehabilitierte Kategorie des „Bruchs“³¹⁶ im seelsorglichen Gespräch „müßte […] als fundamentalpoimenische Kategorie verstanden und methodisch von der Semiotik her weiterentwickelt werden.“³¹⁷ Auch Bukowski³¹⁸ nimmt in Anlehnung an Kurz³¹⁹ den „Bruch“ wieder auf. Das entscheidend Neue gegenüber der kerygmatischen Seelsorge besteht bei ihm darin, dass die „eher beiläufig“³²⁰ eingespielten biblischen Texte das Gespräch nicht abschließen, sondern neu eröffnen. Seine Maxime lautet daher: „Wir können mit einer Geschichte eine neue Sichtweise ins Gespräch bringen, aber wir dürfen nicht das Thema wechseln!“³²¹
Meyer-Blanck 1998: Identität, 840. A.a.O., 842. Vgl. Thurneysen 19653: Lehre, 114 ff. Meyer-Blanck 1998: Identität, 840; Hervorhebung im Original. Bukowski 19952: Bibel. Kurz 1985: Bruch. Bukowski 19952: Bibel, 63. A.a.O., 62; im Original hervorgehoben.
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1. Systemtheorie und Semiotik
Wie Meyer-Blanck und Klie zeigen, kann im Sinne eines „radikalen Perspektivenwechsels“ Thurneysens Rede vom Bruch sowie das Einspielen biblischer Geschichten und spezifisch christlicher Sichtweisen in das Seelsorgegespräch mit der systemtherapeutischen Methodik des „Reframings“³²² in Verbindung gebracht werden.³²³ Obwohl die von Klie innerhalb der Poimenik konstatierte „pragmatische Wende“ mit einer semiotischen Herangehensweise korrespondiert,³²⁴ fehlt in den Konzepten systemischer Seelsorge jegliche Bezugnahme auf semiotische Theorien. Indirekt öffnet lediglich Karle mit ihrem Seelsorge-Konzept den Diskurs für im weitesten Sinne religionsästhetische und erkenntnistheoretische Fragestellungen. Das Fehlen semiotischer Bezüge ist insofern verwunderlich, „als die Herausforderungen, die sich mit einer veränderten Wirklichkeitssicht in der (Post‐)Moderne ergeben, die Praktische Theologie insgesamt betreffen“³²⁵ – und in anderen praktisch-theologischen Teildisziplinen bereits die Rezeption semiotischer Theorien hervorriefen.³²⁶ Dabei zeigt sich gerade das Wirklichkeitsverständnis systemischer Therapieformen für eine semiotische Perspektive anschlussfähig: „Theoretisch […] beruht das Konzept [systemischer Therapie; L.K.] auf einer Verflüssigung von Seins-Zuständen in Perspektivität, aus der Ontologisierung wird eine Semiotisierung“.³²⁷ V. a. auf epistemologischer Ebene konvergiert die „radikal konstruktivistische“³²⁸ Systemtheorie Luhmanns mit der Semiotik Ecos.³²⁹
S.o. 1.1.3.1. Vgl. Meyer-Blanck 1998: Identität, 842; Klie 2003: Zeichen, 368 f. – Dies ist bereits auch bei Morgenthaler (20023: Systemische Seelsorge, 246 f) angedeutet: „Das Evangelium eröffnet als ein ‚Reframing der Wirklichkeit‘ ganz besonderer Art im wahrsten Sinn Einmaliges und Unerhörtes.“ Vgl. a.a.O., 267: „Dabei erweisen sich auch biblische Traditionen und Praktiken der Frömmigkeit als heilsame ‚Unterbrechungen‘“. – Auch Karle (1996: Seelsorge, 214 ff; 2003: Seelsorge) verbindet unter Hinweis auf die systemtherapeutische Technik des „Störens“ die Kategorie des „Bruchs“ mit dem Einbringen biblischer Texte. – S.u. 3.2.2.2.2. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 363. – Nach Klie (a.a.O., 348 ff) tendiert die neuere Seelsorgediskussion nach der semantischen Analyse unbewusster Grundkonflikte der therapeutischen Seelsorge und einer syntaktisch orientierten Seelsorge der Rekonstruktion von Lebensgeschichten unter identitätstheoretischem Vorzeichen seit Mitte der 1990er Jahre zu einer pragmatischen Wende. Die Begriffe Semantik, Syntax und Pragmatik stehen dabei für eine weite semiotische Lesart. Ähnlich – „von der Identität zur Differenz“ – charakterisiert Meyer-Blanck (1998: Identität) die neueren Aspekte der Seelsorgediskussion. Klie 2003: Zeichen, 364 Anm. 94. S.u. 1.2. Meyer-Blanck 1998: Identität, 842; Hervorhebungen im Original. Luhmann 1997: Gesellschaft, 35. S.u. 3.1.
1.1.3 Systemische Poimenik: Therapie statt Theorie
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Nur indem die Poimenik die ästhetische Wende der Praktischen Theologie mitvollzieht, gelingt ihr der Wechsel ihres herkömmlich therapeutischen Paradigmas. ³³⁰ Ästhetische Bezüge zeichnen sich in der Praktischen Theologie seit den 1980er/90er als theoretischer Neuansatz und „dritter Weg jenseits der Alternative von Empirie und Systematischer Theologie“³³¹ ab. In den Mittelpunkt des Interesses rücken die Vollzüge und Formen, in denen sich das Christentum vermittelt, die religiöse Kommunikation selbst wird thematisiert. Die entscheidend neue These formuliert Grözinger: Die „ästhetische Dimension […] ist dort erreicht, wo sich die Inhalts-Problematik als Problem der Form entfaltet“.³³² Da Praktische Theologie genötigt ist, sowohl deskriptiv, sonst wäre sie keine Praktische Theologie, als auch normativ, anderenfalls wäre sie keine Theologie, zu arbeiten, bietet sich unter den gegenwärtigen Ansätzen³³³ die Semiotik gerade deshalb als geeigneter Theoriehorizont an, „weil in ihr normative Sätze […] sehr nüchtern als Kommunikationsphänomene beschrieben werden können, während umgekehrt kein Zeichenprozess ohne ihn normierende Codes überhaupt funktioniert.“³³⁴ Darüber hinaus hält die Semiotik, wie auch die Systemtheorie, die Praktische Theologie interdisziplinär gesprächsfähig. Eine in ästhetischem Rahmen zu rekonstruierende Poimenik hat „im Schatten einer hinfälliger werdenden Seelsorgebewegung“ ³³⁵ die oben skizzierten Theorieaufgaben systemischer Poimenik wahrzunehmen, die Ansätze systemischer Poi-
Der Frage nach einem neuen Paradigma praktisch-theologischer Theoriebildung im Zuge der ästhetischen Wende geht Grözinger (1999: Praktische Theologie) nach. – Zur ästhetischen Wende in der Praktischen Theologie s.u. 3.2.1.3. Meyer-Blanck/Weyel 2008: Studien- und Arbeitsbuch, 47. Grözinger 19912: Theologie, 209. Zu ästhetischen Ansätzen in der Praktischen Theologie sind ästhetische im engeren Sinne, phänomenologische, kulturprotestantische, dramaturgische, dekonstruktivistische und semiotische zu rechnen: Mit dem Ansatz von Grözinger (19912:Theologie;1995:Theologie) z. B. liegt auf ein ästhetischer Ansatz im engeren Sinne vor. Failing, Heimbrock und Lotz (Failing/Heimbrock 1998: Religion; Heimbrock 1998: Religionspädagogik; Failing/Heimbrock/Lotz 2001: Religion), Klie (1999: Spiegelflächen) und Steck (2000: Theologie Bd. 1; 2011: Theologie Bd. 2) sowie – in etwas anderer Perspektive – auch Josuttis (1991: Weg; 1996: Einführung) bieten phänomenologische Entwürfe. Gräb (1998: Lebensgeschichten) legt ein kulturprotestantisches Modell vor. Dramaturgisch setzen Kabel (20032: Handbuch Bd.1; 2007: Handbuch Bd. 2), Friedrich (2001: Körper) und Nicol (2002: Bild) an. Beuscher und Zilleßen (1998: Religion) argumentieren dekonstruktivistisch. Semiotisch orientiert sind u. a. die Publikationen von Volp und Engemann (Volp 1982: Zeichen; Engemann/Volp 1992: Zeichen; Engemann 1993: Homiletik), Bieritz (1995: Zeichen; 2004: Liturgik), Meyer-Blanck und Dressler (Meyer-Blanck 20022: Symbol; Dressler/Meyer-Blanck 1998: Religion) sowie Klie (2003: Zeichen). – Zur praktisch-theologischen Rezeption von Semiotik s.u. 1.2.2. Meyer-Blanck/Weyel 2008: Studien- und Arbeitsbuch, 48. Albrecht 2000: Systemische Seelsorge, 215.
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1. Systemtheorie und Semiotik
menik, insbesondere die von Karle und Morgenthaler, in systemtherapeutischer wie systemtheoretischer Hinsicht für eine semiotische Perspektive zu öffnen, theologisch zu reflektieren und sich auf diese Weise in einer als Deutungs- und Wahrnehmungswissenschaft verstandenen Praktischen Theologie zu verorten.
1.2 Semiotische Theorien
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1.2 Semiotische Theorien – von der Rezeption zur Theoriebildung Bezieht sich die Poimenik auf systemische und systemtheoretische Entwürfe, so schließt sie damit an einen bereits nicht nur in der Praktischen Theologie bewährten theoretischen Zugang zu theologischen Fragestellungen an, dem die grundsätzliche Option eines Paradigmawechsels hin zu einer im weitesten Sinne ästhetischen Sichtweise eignet. Der Schritt von der Luhmannschen Systemtheorie zur Semiotik von Eco bzw. von einer systemischen und systemtheoretischen Perspektive hin zu einer ästhetisch-semiotischen Sichtweise und damit zu dem Entwurf einer systemtheoretisch-semiotischen Poimenik ist daher nur konsequent.
1.2.1 Ecosche Semiotik und die Theologie Eco (1932– 2016) zählt heute neben deSaussure, Morris und Peirce zu den „Klassikern der Semiotik“.¹ Zu Beginn seiner akademischen Laufbahn, die ihren Anfang im Philosophie-Studium nimmt, ausschließlich mit der Ästhetik befasst,² lehrte er seit 1975 als Ordinarius für Semiotik an der Universität Bologna. Ähnlich produktiv wie Luhmann umfasst sein in diverse Sprachen übersetztes und stets anwachsendes Œuvre rund 80 Monographien, zahlreiche Essays, Glossen, Aufsätze, Abhandlungen, Tageskommentare und Feuilletons.³ Von der mittelalterlichen Ästhetik über zeichen- und literaturtheoretische Fragen bis hin zur philosophischen Erkenntnistheorie und Problemen der Trivialliteratur und Massenmedien decken Ecos Schriften ein breites Themenspektrum ab. Seit dem 1980 erschie Vgl. Nöth 20002: Handbuch, 59 ff. Zu Ecos Ästhetik vgl. Kirchof (2002: Ästhetik), der das Ecosche Gesamtwerk unter ausschließlich ästhetischer Perspektive zu erfassen versucht und in diesem Zusammenhang fünf Entwicklungsphasen der Ecoschen Ästhetik herausarbeitet. – Plausibler ist es, wie Schalk (2000: Eco, 15 f) die Studien Ecos drei Schaffensphasen zuzuordnen, die durch die thematischen Schwerpunkte Ästhetik, Semiotik und Textpragmatik gekennzeichnet sind. Neben den Schriftenverzeichnissen bei Mersch (1993: Eco, 230 ff), Schalk (2000: Eco, 197 ff), Stauder (2002: Siebzig Jahre, 13 ff) vgl. die vollständige Bibliographie auf Ecos Homepage (http:// www.umbertoeco.it/CV/BOOKS.htm; Zugriff am 07.11. 2014; und http://www.umbertoeco.it/CV/ EDITEDBOOKS.htm; Zugriff am 03.01. 2015), auf der auch die jeweiligen Übersetzungen der Werke angeführt sind.
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1. Systemtheorie und Semiotik
nenen Weltbestseller „Il nome della rosa“ (dt. 1982: „Der Name der Rose“),⁴ dem fünf weitere große Romane folgten, ist Eco dem breiteren Publikum zudem als einer der gegenwärtig bedeutendsten italienischen Romanciers bekannt. Theoretische Erschließungsfigur des gesamten Werks, das manchem Rezipienten „wie die Enzyklopädien, von denen es handelt, selbst rhizomartig verzweigt“⁵ erscheinen mag, ist die Semiotik als Fundamentalphilosophie des Zeichens.⁶ Ecos Schriften beschäftigen sich mit dem „Problem der Interpretation“⁷ – oder wie er selbst in einem Interview formuliert: „Alles, was ich geschrieben habe, lässt sich auf die folgende Formel bringen: ein hartnäckiger Versuch, die Mechanismen zu verstehen, durch die wir der Welt um uns herum Bedeutung geben.“⁸ Bei aller theoretischen Konsistenz, die sich durch das Ecosche Werk zieht, zeigt es sich hinsichtlich Zeitströmungen und sich verändernder kulturhermeneutischer bzw. philosophischer Diskussionslagen als äußerst irritationsoffen.⁹ Dieser „dialogische Aspekt“,¹⁰ der die Ecosche von der Luhmannschen Theorie unterscheidet, lässt Eco immer wieder neue Akzente setzen und führt zu einer steten Weiterentwicklung der semiotischen Theorie, die im Anschluss an Schalk¹¹ in drei Schaffensphasen rekonstruiert werden kann.¹²
Eco 1982: Name. Heydrich 2000: EcoLogie, 79. Vgl. Mersch 1993: Eco, 7; Klie 2003: Zeichen, 178. – In diesem Sinne sind die Romane Ecos auch als „Exemplifizierung der Theorie“ (Mersch 1993: Eco, 7), als „narrative Semiotik“ (ebd.) zu verstehen, so dass bspw. „Der Name der Rose“ als „semiotisches Modell“ (a.a.O., 13) gelten kann. So Eco (19983: Lector, 9) in einem Rückblick auf seinen wissenschaftlichen Diskurs; vgl. Schalk 2000: Eco. Newsweek Interview vom 22.12.1986; zitiert nach Nöth 2002: Beitrag, 41. – Dies gilt auch für Ecos spätere Werke. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 179; Nöth 2002: Beitrag. Letzterer zeichnet Ecos Theorie als Auseinandersetzung mit dem europäischen Strukturalismus, dem semiotischen Zeichenbegriff und dem Dekonstruktivismus nach. – Insgesamt nimmt Eco innerhalb der Diskussion eine moderate Position zwischen den Extremen einer „klassischen Hermeneutik“ einerseits und „dem Poststrukturalismus und der Dekonstruktion“ andererseits ein; vgl. Klie 2003: Zeichen, 179 Anm. 51. Klie 2003: Zeichen, 179. Schalk 2000: Eco. Vgl. Klie (2003: Zeichen, 178 ff), auf den im Folgenden Bezug genommen wird. – Inhaltlich sind die Phasen mit Klie (a.a.O., 180 ff) wie folgt zu überschreiben: 1. „Unbestimmtheit als ästhetisches Programm und interpretatorische Hypothese“, 2. „Struktur als methodologisches Netz und die Neuvermessung des semiotischen Feldes“, 3. „Enzyklopädie und begrenzte Abdrift“. – Eco selbst weist in den Vorworten und Einleitungen seiner Schriften immer wieder auf Neuakzentuierungen und Modifikationen innerhalb der Theorie hin und zeichnet deren Entwicklung nach; vgl. bspw. die ausführliche Einführung in „Lector“ (Eco 19983: Lector, 5 ff).
1.2 Semiotische Theorien
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1962 erscheint mit „Opera aperta“ (dt. 1973: „Das offene Kunstwerk“)¹³ Ecos rezeptionsästhetisches Hauptwerk, eine Zusammenfassung verschiedener, aus Anlass des XII. Internationalen Philologenkongresses 1958 entstandener Aufsätze. Mit der für das Werk fundamentalen Frage, inwieweit ein (Text‐)Kunstwerk die interpretatorische Mitarbeit seines Rezipienten fordert, stellt Eco die rein rekonstruktive Hermeneutik in Frage und konturiert die „Dialektik von ‚Form‘ und ‚Offenheit‘“¹⁴ als ästhetisches Grundprinzip, das sich in jeweils unterschiedlicher Akzentuierung durch sein Œuvre zieht. Hatte für diese frühe ästhetische, noch vorsemiotische Phase die Informationstheorie sowie die Ästhetik und Interpretationstheorie von Pareyson den theoretischen Rahmen gebildet,¹⁵ so weitet sich in den nachfolgenden Publikationen mit dem Gegenstandsbereich auch der Geltungsanspruch der Ecoschen Theorie. Die Dialektik ist nun auf den Zeichengebrauch insgesamt ausgedehnt, wobei der Akzent auf dem Aspekt der Offenheit liegt. Im Rückgriff auf deSaussure, Hjelmslev und Peirce entfaltet sich die Semiotik Ecos als allgemeine Kultur- und Kommunikationstheorie, die sich ähnlich der Luhmannschen „Supertheorie“¹⁶ als philosophische „Fundamentaltheorie“¹⁷ mit universalem Anspruch präsentiert.¹⁸ Mit „La struttura assente” (dt. 1972: Einführung in die Semiotik)¹⁹ setzt sich Eco 1968 kritisch mit den ontologischen Grundlagen des französischen Strukturalismus auseinander und bestimmt demgegenüber Struktur als methodologisches Netz. 1971 liegt mit „Il segno“ (dt. 1977: „Zeichen“)²⁰ eine allgemeine Theorie der Zeichen vor. Ein vom Autor selbst als „etwas endgültigeres Buch“²¹ deklariert, folgt 1975 das semiotische Hauptwerk „Trattato di semiotica generale“ (dt. 1987: „Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen“),²² in dem Eco u. a. seine einflussreiche Theorie der Codes kulturtheoretisch ausarbeitet. Den großen semiotischen Entwürfen schließt sich mit „Lector in fabula. La cooperazione interpretativa nei testi narrativi“ (dt. 1987: „Lector in fabula. Die
Eco 19967: Kunstwerk. – Die Schriften Ecos sind im Folgenden in ihrer deutschen Ausgabe zitiert. Dass jede Übersetzung nichts anderes als Interpretation sein kann, ist evident. Eco 19967: Kunstwerk, 8. Vgl. Eco 1995: Grenzen, 22. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 19. Mersch 1993: Eco, 75. Eco 1977: Zeichen, 15; Hervorhebung im Original: „Hier wird allmählich klar, womit ein Buch über den Begriff des Zeichens sich beschäftigen muß: mit allem.“ Eco 19948: Einführung. Eco 1977: Zeichen. Eco 19912: Semiotik, 16. A.a.O.
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1. Systemtheorie und Semiotik
Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten“)²³ seit 1979 die Phase der semiotischen Modifikationen an, in der eine verstärkte Hinwendung zur Literaturund Textsemiotik zu beobachten ist.²⁴ Auch hier behält Eco die fundamentale Dialektik aus „Das offene Kunstwerk“ bei und betont anhand der Struktur des Textes nun stärker als zuvor die Grenzen der interpretativen Kooperation. Modifiziert wird in diesem Rahmen u. a. die Code-Theorie in Richtung auf ein Modell der Enzyklopädie, wie es 1984 v. a. in „Semiotica e filosofia del linguaggio“ (dt. 1985: „Semiotik und Philosophie der Sprache“)²⁵ weiterentwickelt wird. In “I limiti dell’interpretazione” (dt. 1995: „Die Grenzen der Interpretation“),²⁶ einer 1990 erschienenen Aufsatzsammlung aus der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, kritisiert Eco u. a. die unbegrenzte Abdrift des Dekonstruktivismus von Derrida. Weniger mit textsemiotischen Fragen als mit einer philosophischen Erkenntnistheorie setzen sich die 1997 unter dem Titel „Kant e l’ornitorinco“ (dt. 2000: „Kant und das Schnabeltier“)²⁷ publizierten Aufsätze auseinander, die „als Ergänzung und Korrektur von Semiotik“²⁸ und damit als Weiterentwicklung der allgemeinen Semiotik Ecos zu lesen sind. Die zuvor für die Textsemiotik entwickelten „Grenzen der Interpretation“ werden hier nun auf die Texturen²⁹ der Wirklichkeit übertragen. Anders als die Luhmannsche Systemtheorie, die sich in verhältnismäßig geschlossener Theoriegestalt präsentiert, liegt mit der Ecoschen Semiotik eine Variante moderner Zeichentheorien vor. Insbesondere mit dem semiotischen Entwurf von Peirce (1839 – 1914) steht die Zeichentheorie des Italieners in engem theoriegeschichtlichem Zusammenhang.³⁰ In Aufnahme wesentlicher Elemente
Eco 19983: Lector. Als Scharnier zwischen den semiotischen Entwürfen und der Interpretationstheorie fungieren die in „Streit der Interpretationen“ (1987) gesammelten Essays, die auf Ecos Reden bei den „Konstanzer Dialogen“ 1986 zurückgehen. Eco 1985: Semiotik. Eco 1995: Grenzen. Eco 2000: Kant. A.a.O., 11; Kursivierung im Original. Zur Unterscheidung von Text und Textur vgl. Klie 2003: Zeichen, 261 Anm. 133; Kursivierungen im Original: „Textur bezeichnet […] ein zusammenhängendes Zeichensystem, das aus unterschiedlichen ästhetischen Codierungen gebildet wird. Dagegen bezeichnet Text einen im herkömmlichen Sinne schriftsprachlichen Zeichenzusammenhang.“ Eco selbst (19912: Semiotik, 12) gibt im Vorwort zur deutschen Ausgabe von „Semiotik“ an, dass Peirces Denken für ihn „immer wichtiger“ geworden sei. – Zum Verhältnis der beiden Theorien insbesondere in theoriegeschichtlicher und realitätstheoretischer Hinsicht vgl. Klie 2003: Zeichen, 212 ff.
1.2 Semiotische Theorien
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der kategorialen Semiotik seines „theoretischen Kronzeugen“³¹ modifiziert Eco dessen Konzept und schreibt es v. a. in kulturtheoretischer Hinsicht fort. Deshalb ist es angebracht, die Peircesche Zeichentheorie in einigen Grundzügen zu skizzieren.³² Fundamental nicht nur für die Theorie Ecos, sondern für die modernen Semiotiken insgesamt ist die auf Peirce zurückgehende Substitution des klassischen dyadischen Zeichenkonzepts durch ein triadisches.³³ Mit der Definition des Zeichens als „something which stands to somebody for something in some respect or capacity“³⁴ beschreibt Peirce das Zeichen als etwas, das für jemanden in gewisser Hinsicht für etwas anderes steht. Die Zeichenfunktion bildet eine genuin triadische Relation zwischen Signifikat, Signifikant und Interpretant – bzw. in Peircescher Terminologie Repräsentamen, Objekt und Interpretant –, so dass das Zeichen nicht ohne den Vorgang der Wahrnehmung bzw. Interpretation erfasst werden kann. Das Zeichen bildet Wirklichkeit nicht ab, sondern steht für Wirklichkeit, insofern es von jemandem daraufhin gedeutet wird. Für diesen zeichenvermittelten Zugang zur Wahrheitsthematik steht in der Peirceschen Semiotik das zeicheninterne „unmittelbare Objekt“, das allerdings durch ein Objekt außerhalb des Zeichens motiviert wird, dem ein unabhängiges Sein zukommt. Jenes
Klie 2003: Zeichen, 178. Peirce, der in den Naturwissenschaften beheimatet ist, gilt „heute als der bedeutendste Philosoph in der Geschichte der USA“ (Nöth 20002: Handbuch, 59) und Begründer der modernen Semiotik. Seine Schriften decken ein enorm breites Themenspektrum ab, von dem die Zeichentheorie lediglich einen Teil darstellt. – Zum Peirceschen Ansatz vgl. Oehler (1981: Idee; 1993: Peirce), Nöth (20002: Handbuch, 59 ff) und Pape (1996: Peirce). Aus theologischer Perspektive legt Vetter (1999: Zeichen, 31 ff) eine ausführliche und differenzierte Einführung vor. Einen knapperen Überblick gibt z. B. Meyer-Blanck (2000: Zeichen, 59 ff; 2001: Semiotik, 113 ff; 20022: Symbol, 61 ff) – Zur Peirceschen Semiotik aus erkenntnistheoretischer Perspektive s.u. 3.2.1. Zwar zieht sich die semiotische Triade mit Ausnahme des Strukturalismus durch nahezu alle Modelle der modernen Semiotik, doch sind die Bezeichnungen der drei Stellen uneinheitlich. Das strikte ineinander Übersetzen sowie die synonyme Verwendung der aus unterschiedlichen Diskursen stammenden Termini, wie es Eco (1977: Zeichen, 30) und Engemann (1993: Homiletik, 44) versuchen, scheitert deshalb mitunter an nicht unerheblichen semantischen Verschiebungen. – Im deutschen Sprachgebrauch ist die terminologische Trias Signifikant (Bezeichnendem bzw. Ausdruck), Signifikat (Bezeichnetem bzw. Bedeutung) und Interpretant (Deutungsinstanz) üblich, die – nicht zuletzt im Anschluss an Eco – auch in der vorliegenden Arbeit verwendet wird. Peirce, CP 2.228. – Der Rückgriff auf die Schriften von Peirce steht vor einer Reihe editorischer sowie systematischer Probleme. Da die erste kritische Werkausgabe „Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition“ noch nicht vollständig erschienen ist, wird in der Regel nach der umfangreichen, jedoch editorisch mangelhaften Ausgabe der „Collected Papers of Charles Sanders Peirce“ (CP in Dezimalnotation) zitiert. Zur Quellenlage vgl. z. B. Vetter (1999: Zeichen, 33 ff) oder Scheibmayr (2004: Systemtheorie, 14 f).
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1. Systemtheorie und Semiotik
„dynamische Objekt“ liegt als außersemiotische Größe dem Zeichenprozess logisch wie ontologisch voraus und bestimmt in the long run seine Ausrichtung. Umgekehrt erschließt sich Wirklichkeit nur qua Zeichenrepräsentation. Mit dem Diktum „all thought is in signs“³⁵ stellt Peirce jedes Denken konsequent unter die Funktion des Zeichens. „Damit ist ein radikaler philosophischer Stellungswechsel angezeigt: Nicht länger steht das Bewußtsein im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern das ‚Apriori‘ der Zeichen, weil ein Bewußtsein ohne Zeichen nicht einmal vorstellbar wäre.“³⁶ Entsprechend avanciert die Semiotik in der Peirceschen Ausarbeitung zur Fundamental- und Universalwissenschaft. Ein weiterer Hauptzug der Peirceschen Semiotik besteht in dem prinzipiell infiniten Prozess der Semiose, der für die Peircesche Theorie den „entscheidende[n] Schritt vom ontologischen zum pragmatischen Realismus“³⁷ darstellt. Indem der Interpretant seinerseits zum Repräsentamen wird, das neue Interpretanten provoziert, reißt die Kette der Deutungen nicht ab, und der Prozess der Interpretation eines Zeichens ist im Grunde nicht begrenzbar. Allerdings führt die Semiose in der Peirceschen Theorie nicht in die Bodenlosigkeit, sondern wird im unerschütterlichen „Vertrauen in die Approximation der Wahrheit“³⁸, an das regulative Prinzip eines „finalen Interpretanten“ gebunden.³⁹ Die Semiose beruht auf der Generalthese eines restlos von Vernunft beherrschten Universums und wird damit zum infiniten Progress. Die triadische Struktur des Zeichens als „semiotisches Dreieck“⁴⁰ – wie die triadische Zeichenrelation häufig auch genannt wird und es für die meisten modernen Zeichentheorien grundlegend geworden ist – lässt die statische Äquivalenz von Signifikat und Signifikant obsolet werden und stellt die Zuordnung von Zeichen und Wirklichkeit in Frage. Sind mit der Frage nach dem Zeichen ohnehin grundlegende Fragen der Philosophie wie die der Erkenntnis, Wahrheit, Wirklichkeit oder Kultur gestellt,⁴¹ so hat insbesondere die Triangulierung der Zei-
Peirce, CP 5.253. Mersch 1998: Zeichen, 16. Klie 2003: Zeichen, 217; vgl. auch Eco 19983: Lector, 54. Mersch 1993: Eco, 97. Peirce (CP 8.184) definiert den finalen Interpretanten als das, „was am Ende als die wahre Interpretation bestimmt werden würde, wenn die Betrachtung der Angelegenheit so weit fortgesetzt würde, daß eine abschließende Meinung erreicht wäre“. Der Terminus geht zurück auf ein Modell, das 1923 von Ogden und Richards als „triangle of reference“ in die neuere Sprachwissenschaft und -philosophie eingebracht wurde; vgl. Burkhardt 2000: Semiotik, 121. Im semiotischen Sprachgebrauch ist der Begriff üblich geworden, da er recht treffend – wenn auch etwas vereinfachend – die Triadizität der Zeichenfunktion zum Ausdruck bringt. Vgl. Mersch 1998: Zeichen, 7.
1.2 Semiotische Theorien
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chenbeziehung weitreichende erkenntnistheoretische bzw. philosophische Konsequenzen.⁴² Was sich der Wahrnehmung einst als „real“ darbot, verflüchtet sich nun im unendlichen Regress der Zeichen. Die moderne Semiotik wird zu einer „Philosophie der Grund-, Wahrheits- und Ursprungslosigkeit“,⁴³ deren „eigentliche Radikalität“⁴⁴ ähnlich der Luhmannschen Systemtheorie in der „Erschütterung der Vorherrschaft der ‚Präsenz‘ des Seienden“⁴⁵ liegt. Peirce selbst, der seinen ontologischen Vorannahmen verhaftet bleibt, steht jedoch erst an der Schwelle zu einer im weitesten Sinne konstruktivistischen Sinnsicht. Eco rezipiert die Peircesche Zeichentheorie nahezu vollständig, so dass der Unterschied zwischen dem Entwurf Ecos und dem von Peirce nicht in der Funktionalität der Semiotik liegt, sondern die ausgearbeiteten Teleologie Peirces und dessen Religionsphilosophie betrifft. Denn der kulturtheoretische Ansatz Ecos⁴⁶ ist anders als der von Peirce hinsichtlich der Frage, was ist, wesentlich zurückhaltender als der von Peirce. Insbesondere die semiotischen Hauptschriften sind bestrebt, den Begriff des Referenten systematisch aus der Zeichentheorie zu eliminieren: „Der Referenten-Fehler besteht in der Annahme, daß das ‚Signifikat‘ eines Signifikanten etwas mit dem korrespondierenden Gegenstand zu tun habe.“⁴⁷ Jeden realen Gegenstandsbezug des Zeichens aus der Semiotik ausschließend, bestimmt Eco das Signifikat von kulturell vermittelten Konventionen her als „kulturelle“ bzw. „semantische Einheit“.⁴⁸ Gründet im Peirceschen Ansatz das Verstehen der Wahrheit im long run ihrer Zeichen, so suspendiert die Zeichentheorie Ecos innersemiotisch die Wahrheitsfrage und präsentiert sich programmatisch als „Theorie der Lüge“.⁴⁹ Im Unter S.u. 3.1.2. Mersch 1998: Einleitung, 33. Mersch 1993: Eco, 94. Ebd. Zur Einleitung in die Ecosche Semiotik vgl. v. a. Mersch (1993: Eco; die Kurzzusammenfassung bietet: Breuer/Leusch/ders. 1996: Ariadne) und Schalk (2000: Eco) sowie Nöth (20002: Handbuch, 125 ff) und die Beiträge aus Zibaldone 33 (dort v. a. Kirchof 2002: Ästhetik; Franz 2002: Philosoph; Nöth 2002: Beitrag). – Und aus praktisch-theologischer Sicht die Beiträge von Meyer-Blanck (2001: Semiotik, 107 ff; 20022: Symbol, 80 ff) und Klie (2003: Zeichen, 166 ff). Eco 19912: Semiotik, 93. – Zum „Referenten-Fehler“ vgl. v. a. Eco 19948: Einführung, 69 ff; ders. 19912: Semiotik 88 ff; ders. 1977: Zeichen, 172. Vgl. Eco 19948: Einführung, 74 ff; ders. 19912: Semiotik, 99 ff. Vgl. Eco 19912: Semiotik, 26; Hervorhebungen im Original: „Die Semiotik befaßt sich mit allem, was man als Zeichen betrachten kann. Ein Zeichen ist alles, was sich als signifizierender Vertreter für etwas anderes auffassen läßt. Dieses andere muß nicht unbedingt existieren oder in dem Augenblick, in dem ein Zeichen für es steht, irgendwo vorhanden sein. Also ist die Semiotik im Grunde die Disziplin, die alles untersucht, was man zum Lügen verwenden kann.“
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1. Systemtheorie und Semiotik
schied zu Peirce verweisen in Ecos Ansatz Zeichen niemals auf Wirklichkeit, sondern im unendlichen Regress stets auf andere Zeichen. Da Eco den Erkenntnisprozess als kontingent definiert, scheidet er die regulative Idee des „finalen Interpretanten“ aus seiner Theorie aus. Und dennoch mündet die Ecosche Theorie bei aller Offenheit der Semiose nicht im Solipsismus. Besonders in der Phase der semiotischen Modifikationen thematisiert Eco zunächst in textpragmatischer Hinsicht,⁵⁰ dann auch auf die Texturen der Wirklichkeit bezogen,⁵¹ die „Grenzen der Interpretation“. Da die Wirklichkeit nicht beliebig interpretierbar ist, erweist sie sich gegenüber semiosischen Aktivitäten als widerständig und setzt mit den „Resistenzen des Seins“⁵² den prinzipiell unendlichen Möglichkeiten der Interpretation Grenzen. Damit gibt es etwas, das der Semiose zeit-räumlich vorgelagert ist, und – auch wenn es innerhalb des Diskurses so scheinen mag – nicht durch Sprache hervorgebracht wird. Auch wenn sich Eco im Rahmen dieser prinzipiellen Auseinandersetzung mit erkenntnistheoretischen Fragen sowohl dem Realitätskonzept von Peirce als auch der ontologischen Frage annähert und die Theorie der Wahrheit in diesem Zusammenhang als „Vereinbarungsrealismus“⁵³ entwirft, führt dies im Unterschied zum Peirceschen Ansatz nicht zu der Vorstellung einer universellen Ordnung. Die Ecosche Theorie nähert sich in zweierlei Hinsicht einer im weitesten Sinne konstruktivistischen Sinnsicht an:⁵⁴ Ohne semiotisches Interesse an dem Wahrheitsbezug als solchem, geht es ihr zum einen nicht um Wahrheiten, sondern um die Kommunikation von Wahrheiten, zum anderen löst sie Erkenntnis von der notwendigen Korrespondenz mit einer externen Wirklichkeit. In ihrer Ausarbeitung durch Eco eignet der Semiotik damit ein ähnlicher „Sprengstoff“ wie der Luhmannschen Theorie.⁵⁵ Dies gilt nicht nur für die mit der Negation des Referentenbezugs implizierten Deontologisierung, sondern auch – zumindest hinsichtlich der älteren Schriften Ecos – für die Eliminierung und damit der Dezentralisierung des Subjekts.⁵⁶ Anders als die von Peirce auf evolutionärer Grundlage des Aufklärungspositivismus entworfene Einheitstheorie der Wahrheit, die im gegenwärtigen Kon-
Eco 19983: Lector; ders. 1995: Grenzen. Eco 2000: Kant. Vgl. a.a.O., 65 ff. A.a.O., 13. S.u. 3.1.2. Vgl. Gripp-Hagelstange 2000: Einführung, 12; s. o. 1.1.1. Vgl. v. a. Eco 19912: Semiotik, 399 ff.
1.2 Semiotische Theorien
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text der Rede vom „Ende der großen Erzählungen“⁵⁷ kaum mehr gedacht werden kann, steht die Ecosche Semiotik ganz im Kontext der Philosophie des ausgehenden 20. Jhs., indem sie sich zwischen moderner Aufklärungs- und Rationalitätskritik einerseits und spätmodernem Dekonstruktivismus andererseits verortet.⁵⁸ Beim Blick auf die Rezeption der Ecoschen Zeichentheorie fällt auf, dass die Auseinandersetzung mit der kulturtheoretischen Spielart der Semiotik aus Italien nicht die interdisziplinäre Breite der Luhmannschen Systemtheorie einnimmt.⁵⁹ Jedoch schafft sich das zeichentheoretische Œuvre Ecos im Unterschied zum Werk des Soziologen durch zahlreiche Übersetzungen einen internationalen Leserkreis.⁶⁰ Dass sich insbesondere die Theologie mit den modernen Zeichentheorien auseinandersetzt, ist nur konsequent.⁶¹ Denn kulturgeschichtlich gesehen sind neben der Medizin und Rhetorik v. a. die Religionen am thematischen Umgang mit Zeichen beteiligt:⁶² „Seit es sie gibt, leben Religiosität und Theologie ‚in, mit und
Vgl. Lyotard 19932: Wissen, 13 f. Vgl. Mersch 1993: Eco, 191 u. ö. Von einer „moderate[n] Vermittlungsposition“ des Ecoschen Entwurfs spricht auch Klie 2003: Zeichen, 179 Anm. 51. – Franz (2002: Philosoph) nimmt die Zeichentheorie Ecos unter philosophischem Aspekt in den Blick. Auch Mersch (1993: Eco; 1998: Einleitung) spricht durchweg von der philosophischen Semiotik des Italieners, und auch Nöth (2002: Beitrag, 47 ff) geht auf die Affinität des Ecoschen Ansatzes zur Philosophie ein. Zur interdisziplinären Rezeption in Deutschland vgl. Kindt/Müller 2000: Echo. – Zur interdisziplinären Rezeption der Peirceschen Semiotik vgl. Vetter (2002: Verständigung, 446). Vgl. http://www.umbertoeco.it/CV/WritingsOnUmbertoEco.htm (Zugriff am 25.12. 2014). Einen Überblick über die Rezeption semiotischer Theorien in der Theologie geben Vetter (2002: Theologie) sowie die entsprechenden Artikel der theologischen Nachschlagewerke (s.u. Anm. 88). – Eine ausführliche, monographische Darstellung der theologischen Rezeption – wie sie für die theologische Aufnahme der Systemtheorie Luhmanns mit der Publikation von Dallmann (1994: Systemtheorie) vorliegt –, vermisst man bislang für die Aufnahme semiotischer Theorien in der Theologie. Dies mag u. a. seinen Grund darin haben, dass sich mit dem Rekurs der verschiedenen theologischen Disziplinen auf unterschiedliche Semiotiken das Feld theologischer Bezugnahmen auf Zeichentheorien wesentlich komplexer und weiter präsentiert als die theologische Aufnahme Luhmannscher Systemtheorie. – Anders verhält es sich in der Praktischen Theologie, wo mit einigen Literaturberichten, Überblicksdarstellungen und Sammelbänden kritische Aufordnungen und Rezeptionen „zweiter Ordnung“ der praktisch-theologischen Bezugnahmen auf die Semiotik vorliegen; s.u. 1.2.2. Vgl. Deuser 2000: Semiotik, 109. Vgl. auch die entsprechenden Beiträge in Posner/Robering/ Sebeok (1997– 1998: bes. Art. 47, Art. 58, Art. 72 und Art. 87), welche die Zeichenkonzeptionen der Religion von der Antike über das lateinische Mittelalter und die Renaissance bis in die Gegenwart nachzeichnen.
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1. Systemtheorie und Semiotik
unter‘ den Bedingungen der Lektüre der Zeichen.“⁶³ Einerseits erschließt sich das Transzendente nur immanent, also zeichenvermittelt, andererseits kann Glaube nicht anders als mittels Zeichen dargestellt werden. Anders als bei Peirce sind bei Eco Religion oder die Frage nach Gott keine spezifischen Themen,⁶⁴ und im Unterschied zu Luhmann nimmt Eco auch nicht explizit das Gespräch mit der Theologie auf.⁶⁵ Gegenüber Peirce, dessen Kultur, Natur und Religion umgreifende Seinstheorie in die abduktiv zwingende Hypothese der Realität Gottes mündet und den menschlichen Glauben als notwendigen „Instinkt“⁶⁶ beschreibt, enthält Eco sich religiöser Abduktionen.⁶⁷ Im Rahmen der als Kultur- und Kommunikationstheorie entworfenen Semiotik kann es keine gesonderte Betrachtung religiöser Zeichen geben, da auch religiöse Zeichen als Teil der Kultur zu beschreiben sind. Der Bezug zur Religion ergibt sich nicht aus dem Zeichen selbst, sondern durch eine spezifisch religiöse Interpretation des Zeichens. Mit dem Interpretantenbezug sind auch religiöse Zeichen als genuin triadische zu beschreiben, die sich nicht auf irgendeine verborgene göttliche Realität als ihren Referenten beziehen. Als Zeichen verweisen sie immer nur auf Zeichen von Gott, anstatt eindeutig und exklusiv auf die göttliche Wirklichkeit selbst. Auch in Bezug auf die Ecoschen „Resistenzlinien des Seins“⁶⁸ lässt sich die Realität Gottes semiotisch nicht ableiten, da diese sich nicht auf das göttliche Sein selbst, sondern auf eine kontingente religiösen Kultur beziehen. Insofern religiöse Zeichen keine ganz anderen, sondern stets kulturelle Zeichen sind, gilt: „Religiöse Zeichen können keine andere Welt generieren, aber sie generieren diese Welt als eine andere […], sie codieren die Wirklichkeit um“.⁶⁹ Semiotisch gesehen, ist Religion daher nicht als Offenbarung, sondern als Kommunikation über Offenbarung, und damit „als Zeichen- oder Kulturphänomen“⁷⁰ zu beschreiben. Mit der Rezeption des französischen Strukturalismus richtet sich das theologische Interesse in den 1970er und frühen 1980er Jahren jedoch zunächst einmal
Engemann 2003: Semiotik, 168. Zur Religion aus Ecoscher Perspektive vgl. Meyer-Blanck 2001: Semiotik, 112 f. Wohl aber mit einem Theologen, wie der 1996 publizierte Briefwechsel mit Kardinal Martini (Martini/Eco 20002: Woran) dokumentiert. Darauf spielt der Titel „Gottesinstinkt“ des Aufsatzbandes von Deuser (2004) an. – Zur Peirceschen Religionsphilosophie vgl. Deuser (1993: Gott; 1996: Peirce). Die Parallele zur Schleiermacherschen Religionstheorie benennt Kumlehn (1998: Semiotik). Zur Abduktion s.u. 3.2.2.1.1. Vgl. Eco 2000: Kant, 65 ff. Meyer-Blanck 1999: Phänomene, 92. Meyer-Blanck 2001: Semiotik, 113.
1.2 Semiotische Theorien
123
auf textlinguistische Konzeptionen.⁷¹ Es ist naheliegend, dass sich insbesondere die Bibelwissenschaften und die Systematische Theologie, die traditionell mit der Interpretation von Texten befasst sind, für linguistische Methoden öffnen. Doch nicht nur dort ist die Aufnahme der Semiologie von deSaussure, den Arbeiten von Barthes, Greimas und Jakobsen zu beobachten, sondern auch in der Liturgik wird auf diese Ansätze Bezug genommen. Entsprechend der traditionellen Fokussierung protestantischer Theologie auf Textmedien im engeren Sinne, formuliert Güttgemanns, der als „Pionier in der deutschsprachigen linguistischen Exegese“⁷² gilt, 1982 programmatisch: „Die Theologie ist sowohl in ihrer Methode als auch in ihrer ‚Sache‘ eine sprachbezogene Wissenschaft. […] Als sprachbezogene Wissenschaft ist die Theologie immer auch ‚linguistische‘ Theologie“⁷³ und „eine semiotische Wissenschaft“.⁷⁴ In der neutestamentlichen Exegese erprobt Güttgemanns als erster die „semiotische Methode“. 1971 erscheint erstmals die von ihm herausgegebene Zeitschrift „Linguistica Biblica. Interdisziplinäre Zeitschrift für Theologie und Linguistik“, in welcher Güttgemanns in zahlreichen Beiträgen sein Konzept der Theologie als semiotischer Wissenschaft darstellt. Ebenfalls 1971 publiziert er den Band „studia linguistica neotestamentica“, der Aufsätze zur Rezeption „linguistisch-literaturwissenschaftlicher Erkenntnisse“⁷⁵ für die neutestamentliche Exegese bietet. Ein Jahr später formuliert er zusammen mit Gerber eine „linguistische Theologie“.⁷⁶ Auch wenn Güttgemanns später auf die Theorie des Interpretanten der kategorialen Semiotik Peirces zurückgreift, bewegen sich seine Überlegungen innerhalb einer im engsten Sinne ihres Begriffs verstandenen Textsemiotik.⁷⁷ Darüber hinaus veröffentlicht der Neutestamentler in den 1970er Jahren zwei praktischtheologische Beiträge: Für die Religionspädagogik erschließt er – wiederum vor struktura-
Die Einordnung der Theologie unter die „Textsemiotik“, wie sie Nöth (20002: Handbuch, 422 ff) vornimmt, spiegelt noch diesen älteren Stand der theologischen Rezeption wider. – DeSaussure, der Begründer der modernen strukturellen Linguistik, macht den Vorschlag, eine allgemeine Zeichentheorie nach linguistischen Prinzipien zu entwerfen (vgl. Nöth 20002: Handbuch, 71 ff). Sein Vorhaben wird in ethnologischer Hinsicht von Lévi-Strauss, in literaturwissenschaftlicher Perspektive von Barthes weitergeführt, so dass sich für diese Richtung bald die Bezeichnung „französischer Strukturalismus“ einbürgert. – Die Kulturtheorie Ecos hingegen vermeidet es, sprachwissenschaftliche Kategorien auf nicht-verbale Sprachen anzuwenden, und ist damit an der Unabhängigkeit der Semiotik von der Linguistik interessiert (Eco 19948: Einführung, 197 u. ö.). Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 195. Güttgemanns 1982: Semiotik, 151. A.a.O., 158. Güttgemanns 1971: studia; Zitat VII. Gerber/Güttgemanns 19752: Theologie. Vgl. Güttgemanns 1992: Gegenstand. Immerhin ist diese Ausgabe von „Linguistica Biblica“ „einem alten Mitstreiter“ (127), „Umberto Eco dem großen Anreger und Promoter der Semiotik zum 60. Geburtstag“ (2) gewidmet; auch wenn man Bezugnahmen auf dessen Theorie in den Beiträgen dieses Heftes vergebens sucht.
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1. Systemtheorie und Semiotik
listischem Hintergrund – die „Bedeutung der Linguistik“.⁷⁸ In dem Aufsatz „Über Möglichkeit und Notwendigkeit der Verwendung von Comics als Medium christlicher Verkündigung“ kritisiert er die reformatorische Verengung auf Verbalsprache und beschreibt – erneut ohne nachhaltigen Rekurs auf allgemeine Zeichentheorien – Comics als eine durch Sprache und Bild raum-zeitlich konstituierten „Medienverbund“.⁷⁹ Nahezu zeitgleich mit den ersten linguistischen Bemühungen im Neuen Testament erscheint 1976 in der Praktischen Theologie das u. a. von Schiwy herausgegebene Arbeitsbuch „Zeichen im Gottesdienst“, das die „praktische Erprobung der semiotischen Methode“⁸⁰ dokumentiert. Volp, der das Arbeitsbuch mit herausgegeben hat, publiziert 1982 den ersten praktisch-theologischen Sammelband zur „Semiotik in Theologie und Gottesdienst“.⁸¹ Auch hier beschränken sich die semiotischen Bezugnahmen mit deSaussure, Greimas und Jakobsen auf die strukturale Linguistik. 1973 erscheint aus philosophisch-katholischer Perspektive die systematisch-theologische Pionierarbeit „Semiotik und Theologie“ von Grabner-Haider.⁸² Sie geht der Frage nach, „ob und inwieweit Sprachanalyse (Semiotik) auf die Theologie und den religiösen Sprachgebrauch anwendbar ist und welche konkreten Folgen sie für die gegenwärtige theologische Sprachsituation haben könnte.“⁸³ Damit ist auch hier die Semiotik in der Linguistik verortet: „Semiotik ist nun die Disziplin, die sich mit der Zeichenfunktion der Sprache im besonderen befaßt. In einem weiteren Sinn aber läßt sich die ganze analytische Beschäftigung mit Sprache unter dem Begriff Semiotik zusammenfassen.“⁸⁴
Als sich im theologischen Diskurs mit dem zunehmenden Interesse der Liturgiewissenschaft an nonverbalen Medien religiöser Kommunikation eine Schwerpunktverlagerung andeutet, werden in der Theologie die strukturalistisch-linguistischen Modelle allmählich durch die Rezeption von allgemeinen Zeichentheorien von Peirce, Eco und Morris abgelöst. Zwar nimmt Bieritz⁸⁵ bereits Ende der 1970er Jahre auf die Semiotik Ecos Bezug, eine breitere Aufnahme zeichentheoretischer Konzeptionen zeichnet sich jedoch erst zwanzig Jahre später ab – und erfolgt damit zeitlich parallel zur zweiten theologischen Rezeptionsphase Luhmannscher Systemtheorie.⁸⁶
Güttgemanns 19752: Bedeutung. Güttgemanns 1979: Möglichkeit. Schiwy et. al. 1976: Zeichen, 7. S.u. 1.2.2.1. Volp 1982: Zeichen. S.u. 1.2.2.1. Grabner-Haider 1973: Semiotik. A.a.O., 12. A.a.O., 1; Hervorhebung im Original. Bieritz, Karl-Heinrich, Struktur. Überlegungen zu den Implikationen eines Begriffs im Blick auf künftige Funktionen liturgischer Bücher, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 23 (1979), 32– 52. Der Artikel ist wiederabgedruckt in dem Sammelband von Bieritz (1995: Zeichen, 61 ff), der im Folgenden als Zitationsgrundlage dient. S.o. 1.1.1.
1.2 Semiotische Theorien
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Auch der Blick in die theologischen Enzyklopädien verdeutlicht das wachsende Interesse an den modernen Zeichentheorien: Während dieser Ende der 1990er Jahre noch auf eine eher verhaltende Auseinandersetzung der Theologie mit der Semiotik schließen lässt,⁸⁷ spiegeln die seitdem publizierten, in der Regel recht ausführlichen Artikel die zunehmende Breite der Rezeption semiotischer Theorien in den einzelnen Disziplinen wider.⁸⁸ Erneut sind es neben den Bibelwissenschaften⁸⁹ – international ist die semiotische Exegese längst zu den bedeutendsten exegetischen Ansätzen zu rechnen⁹⁰ – in erster Linie die Praktische⁹¹ und Systematische Theologie,⁹² die sich in zahlreichen Beiträgen einer semiotischen Perspektive öffnen. In der Kirchengeschichte bleiben bislang – ähnlich der linguistisch orientierten Rezeptionsphase – nachhaltige Bezugnahmen aus. Auffällig ist, dass die Peircesche Konzeption v. a. von der Systematischen Theologie aufgenommen wird,⁹³ während in der Praktischen Theologie zunächst die Ecosche Semiotik rezipiert wird und sich erst allmählich eine Öffnung für den Peirceschen Entwurf abzeichnet – fast möchte man darin eine Analogie zu der Ecoschen Annäherung an Peirce erkennen. Begründet wird die Entscheidung für einen der beiden Entwürfe häufig erkenntnistheoretisch. Insgesamt ist die theologische Auseinandersetzung mit den Zeichentheorien bereits so weit fortgeschritten, dass Vetter 2002 in seinem Literaturbericht „Theologie und Semiotik“ konstatiert: „Gegenwärtig ist die Zahl der veröffentlichten semiotisch orientierten Beiträge kaum noch überschaubar“.⁹⁴ Folgt man Vetter, dann ist dieses breite theologische Interesse an den modernen Semiotiken kaum allein als „Reflex auf die zu analysierende Komplexität religiös bedeutsamer Vgl. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 191 ff. Zum Stichwort „Semiotik“ vgl. TRE (2000: Bd. 31, 108 ff), RGG4 (2004: Bd. 7, 1192 ff); zu „Zeichen“ EKL3 (1996: Bd. 4, 1356 ff), RGG4 (2005: Bd. 8, 1795 ff); und zu „Peirce“ TRE (1996: Bd. 26, 164 ff), RGG4 (2003: Bd. 6, 1080). Auch die Artikel zu „Symbol“ kommen nicht ohne semiotische Bezugnahmen aus: vgl. EKL3 (1996: Bd. 4, 584 ff), TRE (2001: Bd. 32, 479 ff), RGG4 (2004: Bd. 7, 1921 ff). Pöttner (1998: Sprachwissenschaft) diskutiert das Verhältnis zwischen Sprachwissenschaft und neutestamentlicher Exegese. Aus neutestamentlicher Perspektive vgl. auch Alkier 2004: Semiotik. – Aus alttestamentlicher Perspektive wäre Analoges zu formulieren. Vgl. Alkier 2004: Semiotik. S.u. 1.2.2. Ergebnisse summieren Slenczka (1996: Zeichen), Deuser (1998: Zeichenkonzeptionen; 2000: Semiotik), Brändle (2001: Symbol), Schlenke (2004: Symbol/Symbole/Symboltheorien V. VI.), Vetter (2004: Semiotik) und Linde (2005: Zeichen) sowie in ethischer Hinsicht Deuser (2004: Semiotik) und Schlenke (2004: Symbol/Symbole/Symboltheorien VII.). Vgl. Deuser 1996: Peirce. Vetter 2002: Theologie, 112.
126
1. Systemtheorie und Semiotik
Kommunikationsprozesse“⁹⁵ zu verstehen. Der Grund liegt vielmehr in dem Bestreben, „die Relation des Zeichens zur bezeichneten Wirklichkeit jenseits eingeschliffener dualer Denkschemata wie Subjekt/Objekt, Geist/Natur oder Zeichen/ Wirklichkeit zu analysieren“.⁹⁶ Damit macht die Theologie gerade diejenigen Implikationen der Semiotik geltend, wie sie auch in Bezug auf den „erkenntnistheoretischen Paradigmawechsel“⁹⁷ der Luhmannschen Systemtheorie gelten. In seiner 1995 erschienenen, neutestamentlichen Dissertation „Realität als Kommunikation“⁹⁸ rekonstruiert Pöttner v. a. im Rückgriff auf die kategoriale Semiotik Peirces den Konflikt in der korinthischen Gemeinde (1. Kor 1– 4) aus semiotischer Perspektive. Anders als die Fraktion der Gegner, deren Entwurf einer christgläubigen Lebensführung auf Dualismen und damit auf einem dyadischen Zeichenmodell beruht, argumentiert Paulus vor dem Hintergrund eines triadischen Wirklichkeitsverständnisses. Ebenso wie Peirce versteht Paulus die Realität als kontinuierliche. Dem „finalen Interpretanten“ korrespondiert der für die paulinische Theologie zentrale Gedanke des eschatologischen Vorbehalts, das „dynamische Objekt“ bezeichnet die Externalität des Glaubens. Auch Alkier rekurriert in seiner 2001 publizierten Habilitationsschrift „Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostel Paulus“⁹⁹ in erster Linie auf Peirce, dessen Zeichenbegriff das semiotische Fundament der Untersuchung bildet. Die von den paulinischen Briefen konstituierte Realität wird im Anschluss an Peirce als „Diskursuniversum“ rekonstruiert, das Wunder- im Wirklichkeitsverständnis verortet und die daraus zu abstrahierenden Strukturen im Ecoschen Sinne als „Enzyklopädie“ beschrieben. Damit wird aus semiotischer Perspektive die historisch und kulturell bedingte Differenz der Welt(en) der neutestamentlichen Texte und der Welt(en) des Lesers reformuliert. In der Systematischen Theologie ist die Rezeption der Semiotik und Religionsphilosophie von Peirce v. a. mit dem Namen Deuser verbunden – überdies haben die Peirceschen „Religionsphilosophischen Schriften“ mit diesem Theologen 1995 ihren Herausgeber gefunden.¹⁰⁰ In diversen Publikationen diskutiert Deuser umfassend die christliche Theologie vor dem Hintergrund der kategorialen Semiotik, der spekulativen Metaphysik sowie der Kosmologie des amerikanischen Philosophen. Aus semiotischer Perspektive rekonstruiert er die Trinitätstheologie, Schöpfungslehre, Christologie, Sakramentenlehre und entwirft außerdem eine pragmatizistisch orientierte theologische Ethik – einen guten Überblick vermittelt der 1993 erschienene, bislang einflussreichste Aufsatzband Deusers „Gott: Geist und Natur“,¹⁰¹ dessen religionsphilosophische Ausgangsbasis der Systematische Theologe 2004 durch den Band „Gottesinstinkt“¹⁰² verbreitert.
Ebd. Ebd. Gripp-Hagelstange 2000: Einführung, 8. Pöttner 1995: Realität. Alkier 2001: Wunder. Peirce 1995: Schriften. Deuser 1993: Gott. Deuser 2004: Gottesinstinkt.
1.2 Semiotische Theorien
127
Von der Praktischen Theologie werden die Arbeiten der beiden Deuser-Schüler Vetter und Moxter wahrgenommen.¹⁰³ Vetter legt 1999 mit seiner Dissertation „Zeichen deuten auf Gott“¹⁰⁴ eine sakramentstheologische Arbeit vor, deren Verdienst es u. a. ist, bislang am ausführlichsten und differenziertesten in die kategoriale Semiotik Peirces unter theologischer Perspektive einzuführen. Den Sakramentstheologien von K. Barth, Tillich und Pannenberg wird ein dyadischer Zeichenbegriff nachgewiesen, denn die drei Theologen ordnen die „sakramentale Gabe dem menschlichen Verstehen sowohl noetisch als auch ontologisch vor und übergehen damit zeichenbegrifflich den an den Interpretanten gebundenen Glaubensbezug“.¹⁰⁵ Begreift man die Sakramentslehre jedoch von der allgemeinen Zeichentheorie Peirces her, bildet das Zeichen eine nicht aufzulösende triadische Relation, so dass dem Interpretantenbezug eine darstellungsbezogene Funktion für die Offenbarung eingeräumt werden muss. Dogmatisch wie praktisch ist hinsichtlich der Sakramente ein „Ineinander von Objektivität und Subjektivität“¹⁰⁶ zu konstatieren. Den zeichentheoretisch orientierten Arbeiten der Praktischen Theologie, die sich in erster Linie auf die Semiotik Ecos stützen, wirft Vetter im Ganzen eine unzureichende Wahrnehmung der Peirceschen Konzeption vor. Er konstatiert, die Unterscheidung zwischen „unmittelbarem“ und „dynamischem“ Objekt, die für die theologische Peirce-Rezeption insgesamt relevant ist, sei auch praktisch-theologisch aufzunehmen. Im Anschluss an Meyer-Blanck ist jedoch im Blick auf den Ansatz Vetters insbesondere die Entgegensetzung von nominalistischer (Eco) und realistischer (Peirce) Semiotik zu hinterfragen, „wodurch das Spannungsfeld von Subjektivität und Objektivität der Zeichen bisweilen zugunsten der letzteren aufgelöst zu werden scheint“.¹⁰⁷ Im Unterschied zu der Untersuchung von Vetter steht bei der 2000 publizierten Habilitationsschrift „Kultur als Lebenswelt“¹⁰⁸ von Moxter die Peircesche Semiotik eher im Hintergrund. V. a. im Rekurs auf die „Philosophie der symbolischen Formen“ von Cassirer,¹⁰⁹ deren Vorzug darin besteht, „an Phänomenologie und Semiotik gleichermaßen anschlussfähig zu sein“,¹¹⁰ entwirft Moxter in kritischer Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung zu Tillich und K. Barth eine Kulturtheologie. Mit dem Diktum „[j]edes Phänomen und jedes Zeichen wird überschritten, aber nicht zur Sache selbst“¹¹¹, ist die seit Tillich lang wirksame dyadische Beziehung von Symbol und Göttlichem zugunsten einer triadischen Relation überwunden. Diskussionsbedarf besteht v. a. hinsichtlich des ohne weitere Auseinandersetzung an Eco herangetragenen Vorwurfs, dieser vertrete einen „dezidierte[n] Nominalismus“.¹¹²
Vgl. Meyer-Blanck 2001: Semiotik, 101 f; ders. 20022: Symbol, 150 ff. Vetter 1999: Zeichen. A.a.O., 255 f. Meyer-Blanck 2001: Semiotik, 102; im Original hervorgehoben. Meyer-Blanck 20022: Symbol, 152. Moxter 2000: Kultur. Cassirer 1994: Philosophie. Moxter 2000: Kultur, 174. A.a.O., 337. A.a.O., 332 Anm. 254. Zur Kritik am Ansatz von Moxter vgl. Meyer-Blanck 20022: Symbol, 153 ff.
128
1. Systemtheorie und Semiotik
Will sich die Theologie von der Semiotik konstruktiv anregen lassen, so hat sie die Bedingungen und Möglichkeiten einer ihrem Fachbereich angemessenen Bezugnahme zu reflektieren. Dabei können aus semiotischer Perspektive ähnliche Kriterien geltend gemacht werden, wie sie bereits hinsichtlich der theologischen Rezeption Luhmannscher Systemtheorie zu formulieren waren.¹¹³ Anders als die Luhmannsche Systemtheorie, die sich in verhältnismäßig geschlossener Theoriegestalt präsentiert, liegt mit der Ecoschen Semiotik eine Spielart des zeichentheoretischen Diskussionszusammenhangs vor. Nimmt ein theologischer Entwurf für sich in Anspruch, zeichentheoretisch konsistent zu argumentieren, sieht er sich zunächst vor eine doppelte Selektionsaufgabe gestellt: Zum einen hat er sich für eine Spielart der modernen Semiotik zu entscheiden, zum anderen kommt er nicht umhin, aus dem gewählten theoretischen Entwurf die für seine disziplinspezifische Fragestellung relevanten Theoreme zu selegieren. Mit der Ecoschen Semiotik trifft die Theologie auf eine Theorie, die ihr stets neues Irritationsmaterial bietet. So dynamisch sich dieser zeichentheoretische Entwurf mit seinen Modifikationen präsentiert, so dynamisch hat seine Rezeption auf diese Weiterentwicklungen zu reagieren und überdies die jeweilige Schaffensphase, auf die sie rekurriert, zu reflektieren. Angesichts dieser notwendigen Selektionen ist evident, dass Rezeption keinesfalls die bloße Übernahme einer Theorie bedeuten kann – eine Beobachtung, die sich aus semiotischer Sicht weiter präzisieren lässt: Produziert die Semiotik als Wissenschaft mit ihren Schriften und Diskussionen selbst Zeichen, die wie jedes Zeichen der Interpretation bedürfen, so setzt sie Semiosen in Gang. Begibt sich die Theologie in diesen semiotischen Prozess, indem sie die für sie relevanten Kategorien selegiert und rezipiert, so kann sie als Theologie die Zeichensysteme nur in der ihr fachspezifischen Lesart und damit theologisch interpretieren. In diesem Sinne ist Rezeption als direkter Theorieimport, der zu einer unkritischen „Semiotisierung“ der Theologie führen würde, nicht nur kontraproduktiv, sondern aus semiotischer Sicht auch unwahrscheinlich. Ebenso wenig wie eine systemtheoretische Praktische Theologie erstrebenswert ist, ist es eine semiotische Praktische Theologie. Vielmehr geht es um eine systemtheoretische bzw. semiotische Orientierung der Praktischen Theologie. Mit der theologischen Interpretation einer semiotischen Theorie werden wiederum neue Zeichen produziert, die ihrerseits auf Deutung angewiesen sind und auf diese Weise als Auslöser weiterer, nun v. a. theologieinterner Semiosen fungieren. Nachhaltig ist eine Rezeption folglich nicht unbedingt dann, wenn sie „richtig“, sondern intradisziplinär anschlussfähig und „erfolgreich“ ist, also
S.o. 1.1.1.
1.2 Semiotische Theorien
129
die Produktion neuer Texte, Diskussionen sowie den „Streit der Interpretationen“ anregt und dadurch die Semiose als unbegrenzten Prozess fortsetzt. Kommt der Zeichenprozess hingegen zum Abschluss oder zum Erliegen, so sind mit dem Stillstand der Semiose die rezipierten Theoreme für den theologischen Kommunikationszusammenhang nicht länger relevant. Bei aller rezeptionsästhetischen Offenheit hat der lector theologicus jedoch stets auch die intentio operis des semiotischen Konzepts zu wahren, so dass die Rezeption nicht die „Grenzen der Interpretation“ überschreitet. Da Theologie mit der Aufnahme semiotischer Modelle nicht nur rezipiert, sondern – indem sie neue Theorien generiert – auch gebildet wird, ist neben der theologischen Umcodierung der Semiotik auch die semiotische Umcodierung der Theologie zu erwarten. Insbesondere die Zeichentheorie Ecos fordert die Theologie heraus und „führt […] zu einer ‚Kränkung‘ bisheriger theologischer Selbstverständlichkeiten“.¹¹⁴ Dabei richtet sich die semiotische Kritik v. a. an theologische Modelle, die aufgrund eines dyadischen Wirklichkeitverständnisses versuchen, mittels Begriffen zu einer adäquaten Abbildung von Welt zu gelangen oder sich auf die Kategorien der unmittelbaren Offenbarung sowie originären Erfahrung gründen. Auch die biblische Hermeneutik der historisch-kritischen Exegese sowie eine auf dem traditionellen Kommunikationsmodell beruhende Homiletik halten semiotischen Kriterien nicht länger Stand und bedürfen der zeichentheoretischen Neuformulierung.¹¹⁵ Über die Anregung zur theologischen Selbstreflexion fundamentaler Topoi hinaus liegt der Ertrag der Semiotik für Theologie und Kirche v. a. darin, dass sie von den Zeichentheorien in den Stand gesetzt werden, „sich im Widerstreit konkurrierender Codes zu artikulieren und zu behaupten“.¹¹⁶ Insgesamt kann das Ziel der Rezeption also weder eine „Theologisierung“ der Semiotik noch eine „Semiotisierung“ der Theologie sein. Im Rahmen einer wechselseitigen Erschließung ist es Aufgabe der Theologie, das Zeichensystem, vor das sie sich mit einem semiotischen Entwurf gestellt sieht, theologisch zu interpretieren bzw. decodieren, um es hinsichtlich genuin theologischer Fragestelllungen zu präzisieren und damit innerhalb ihrer eigenen Disziplin eine fachlich gebundene Semiose anzuregen und fortzuschreiben. In diesem Sinne geht es dann weniger um die Reproduktion einer semiotischen Theorie, als um die operative Verwendung derselben.
Bieritz 2000: Kränkungen, 236. Vgl. Engemann (2003: Semiotik, 173 ff) und Bieritz (2000: Kränkungen, 224 ff). Bieritz 2000: Kränkungen, 236.
130
1. Systemtheorie und Semiotik
„Erfolgreich“ ist die Rezeption dann, wenn sich die Theologie im pragmatischen Zugriff auf einen semiotischen Entwurf neue Verstehensmöglichkeiten erschließt und mithilfe des zeichentheoretischen „Werkzeugs“ ¹¹⁷ theoretisch plausibel argumentierend Konzepte entwirft, die sich anhand intradisziplinärer Anschlussfähigkeit bewähren. Lässt sich die Theologie auf die zeichengenerierende Funktion der Semiotik sowie ihrer Rezeption ein, so ist zu erwarten, dass diese der Theologie hilft, Zeichen aufmerksamer zu lesen, die eigene Zeichenproduktion kritischer zu erkennen, zu benennen und zu verändern.
1.2.2 Die Rezeption semiotischer Theorien in der Praktischen Theologie Die theologische Reflexion und Rezeption semiotischer Theorien hat neben der Systematischen Theologie bislang v. a. in der Praktischen Theologie stattgefunden. Ist die frühe Rezeptionsphase analog der gesamt-theologischen Aufnahme semiotischer Theorien zunächst von linguistischen Modellen bestimmt, so richtet sich mit der Öffnung für allgemeine Zeichentheorien das praktisch-theologische Interesse zuerst auf die Schriften Ecos, bevor auch die, v. a. von der Systematischen Theologie viel beachtete, Peircesche Semiotik allmählich Aufmerksamkeit findet.¹¹⁸ Als diejenige theologische Disziplin, die sich traditionell mit der „Kommunikation des Evangeliums“¹¹⁹ auseinandersetzt, ist die Semiotik „für die Praktische Theologie vor allem als allgemeine Kommunikationstheorie relevant“.¹²⁰ Die Fokussierung auf die als Kultur- und Kommunikationstheorie ausgearbeitete Semiotik Ecos ist daher nur konsequent. Um den Gewinn der bisherigen Rezeption von Zeichentheorien für die Praktische Theologie aufzuzeigen, kann die kritische Aufordnung (1.2.2.1– 1.2.2.3) auf bereits vorliegende Überblicksdarstellungen zurückgreifen, die den „Ertrag semiotischer Theorien für die Praktische Theologie“¹²¹ und ihre Teildiszipli-
Beyer 1996: Kontakt, 20; s. o. 1.1.1. Als beispielhaft für diese beiden, praktisch- und systematisch-theologischen Rezeptionsstränge können die Beiträge in dem Sammelband von Engemann und Volp (1992: Zeichen) gelten: Die beiden als „Voraussetzungen“ konzipierten Artikel von Deuser bzw. dem Anglisten und Semiotiker Koch rekurrieren in erster Linie auf Peirce, während sich die folgenden praktisch-theologischen Beiträge fast ausschließlich auf Eco beziehen, dessen Ansatz in den „Voraussetzungen“ nur am Rande berücksichtigt wird. Die Wendung geht auf Lange (1981: Bilanz 65, 101 ff) zurück. Engemann 2000: Semiotik, 134. So der Titel des Artikels von Meyer-Blanck 1997: Ertrag.
1.2 Semiotische Theorien
131
nen darstellen.¹²² Neben einer Zusammenfassung der bereits vorliegenden Aufordnung praktisch-theologischer Bezugnahmen auf die Semiotik ist die Forschungsgeschichte hinsichtlich der seit 2001 publizierten Literatur fortzuschreiben¹²³ und auf poimenische Anschlussmöglichkeiten hin auszuloten. Analog der kritischen Darstellung der praktisch-theologischen Rezeption systemtheoretischer und systemischer Ansätze¹²⁴ orientiert sich die folgende Aufordnung an den praktisch-theologischen Teildisziplinen und erfolgt in weitgehend chronologischer Reihenfolge. Um den Ertrag der bisherigen Bezugnahmen auf die Ecosche Semiotik bestimmen zu können, werden diese den jeweiligen Entwicklungsstadien der Kultur- und Zeichentheorie zugeordnet.¹²⁵ Ein Fazit (1.2.2.4) fasst den Gewinn bisheriger Bezugnahmen auf die Semiotik Ecos für die Praktische Theologie zusammen und zeigt sowohl Rezeptionsmuster als auch Desiderate auf. Die ersten zeichentheoretischen Impulse sind in der Liturgik, Homiletik und Religionspädagogik zu beobachten: Die Aufnahme linguistischer Theorien in der Liturgik dokumentiert ein 1976 erschienenes Arbeitsbuch, das u. a. von Schiwy und Volp herausgegeben wird.¹²⁶ 1979 bringt Bieritz als Erster die Semiotik Ecos in die liturgiewissenschaftliche Diskussion um das sog. Strukturpapier ein.¹²⁷ In der Homiletik setzt 1984 die Marburger Antrittsvorlesung von Martin¹²⁸ mit recht eklektischen Bezugnahme auf das rezeptionsästhetische Hauptwerk Ecos eine breite Rezeption der „Predigt als ‚offenes Kunstwerk‘“ in Gang. Doch erst 1993 erschließt Engemann¹²⁹ konsequent den Ecoschen Ansatz für ein Verständnis der Predigt als
Neben Meyer-Blanck (1997: Ertrag) und den Lexika-Artikel von Engemann (2000: Semiotik; 2004: Semiotik) und Volp (1996: Symbol) vgl. auch Meyer-Blanck (2001: Semiotik; 20022: Symbol, 39 ff) und Klie (2003: Zeichen, 234 ff). – Vetter (2002: Verständigung) ordnet die praktisch-theologischen Bezugnahmen auf semiotische Theorien konsequent aus Perspektive des Peirceschen Ansatzes auf – auch diejenigen Entwürfe, die in erster Linie auf die Semiotik Ecos rekurrieren. Ähnlich seiner Dissertation (1999: Zeichen; s.o. 1.2.1) kritisiert Vetter auch hier das „ontologiekritische Wirklichkeitsverständnis der Praktischen Theologie“ (2002: Verständigung, 460). Aus phänomenologischer Perspektive setzt sich auch Lotz (2001: Zeichen) kritisch mit der praktischtheologischen Rezeption semiotischer Theorien auseinander. Ebenfalls kritisch beurteilt Grevel (2002: Predigt, 41 ff) die Aufnahme von Rezeptionsästhetik und Semiotik in der Homiletik. – Zur Rezeption der Semiotik in der Religionspädagogik vgl. auch Speier-Musahl (2004: Zeichenvielfalt, 95 ff) und in der Liturgik Neijenhuis (2007: Gottesdienst, 91 ff). Den letzten ausführliche Forschungsbericht hat Meyer-Blanck (2001: Semiotik) vorgelegt. S.o. 1.1.2. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 179. Schiwy et. al. 1976: Zeichen. – Später legt Volp (1992 und 1994: Liturgik) eine semiotisch orientierte, zweibändige Liturgik vor. Bieritz 1995: Struktur. Martin 1984: Predigt. Engemann 1993: Homiletik.
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1. Systemtheorie und Semiotik
Zeichenprozess. Für die Religionspädagogik gehen die ersten semiotischen Impulse, die zunächst wie in der Liturgik von der strukturalen Linguistik dominiert sind, bereits Mitte der 1970er Jahre von dem katholischen Theologen Stock¹³⁰ aus, dessen Untersuchung von evangelischer Seite allerdings nicht zur Kenntnis genommen wird. Großen Einfluss in der evangelischen Religionspädagogik hatte Meyer-Blancks Schrift „Vom Symbol zum Zeichen“,¹³¹ mit der 1995 eine von Eco her entworfene zeichendidaktische Arbeit vorliegt. Für die Gesamtdisziplin der Praktischen Theologie spitzt Meyer-Blanck 1997 die von Engemann vorgestellten Überlegungen zur „Semiotik und Theologie“¹³² auf eine „fundamentale Praktische Theologie unter semiotischem Vorzeichen“¹³³ zu. Im Vergleich mit der praktisch-theologischen Aufnahme von Systemtheorie und systemischen Denken ergibt sich damit ein umgekehrtes Bild: Setzt dort die Rezeption v. a. in der Kybernetik und Poimenik ein, zählen diese Teildisziplinen zu den bislang semiotisch noch unbearbeiteten Feldern der Praktischen Theologie. Zwar wurden in der Poimenik im Unterschied zur Kybernetik bereits in verschiedenen Zusammenhängen Möglichkeiten der Rezeption semiotischer Theorien aufgezeigt, bislang jedoch nicht explizit zur Ausführung gebracht.¹³⁴ Auf der anderen Seite zeigt sich gerade in den zeichentheoretisch erschlossenen Teildisziplinen Liturgik und Religionspädagogik die Aufnahme von Systemtheorie eher verhalten – ganz davon abgesehen, dass in der Homiletik systemtheoretische Zugänge bislang noch ganz ausstehen.¹³⁵ Anders als der systemtheoretisch orientierten Praktischen Theologie, die sich auf in der Praxis bereits bewährte systemische Ansätze bzw. die systemische Therapie und Beratung beziehen kann,¹³⁶ steht der semiotisch orientierten Praktischen Theologie kein explizites Praxismodell zur Verfügung. Welche Konsequenzen die zeichentheoretischen Bezugnahmen in den einzelnen praktisch-theologischen Teildisziplinen für die kirchliche Praxis haben,¹³⁷
Stock 1974: Umgang; ders. 1978 Textentfaltungen. Meyer-Blanck 20022: Symbol. Der Artikel ist 1992 erstveröffentlicht; bearbeitet und wiederabgedruckt: Engemann 2003: Semiotik. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 218. Vgl. Meyer-Blanck (1997: Ertrag, 204 ff;1999: Entdecken; 2001: Semiotik, 106 f) und Klie (2003: Zeichen, 348 ff). Dies wundert insofern, als in der Systemtheorie Luhmanns – ebenso wie in der Semiotik Ecos – der Kommunikationsbegriff im Zentrum steht. Für die Homiletik, die Predigt als Kommunikationsgeschehen reflektiert, würde sich gerade deshalb ein Bezug anbieten. Zu möglichen systemtheoretischen Bezugnahmen in der Homiletik sowie zum konstruktiven Zusammenspiel mit rezeptionsästhetischen bzw. semiotisch-homiletischen Entwürfen s. o. 1.1.2.7. Vgl. Held/Gerber 2003: Praxis. Zum Verhältnis von Theorie und Praxis s.o. 1.1.2.
1.2 Semiotische Theorien
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wird deshalb in den jeweiligen Entwürfen selbst reflektiert. Die Weiterführung semiotischer Ansätze in performative bezieht dann konkret das Praxisgeschehen in die theoretische Reflexion mit ein und zeigt eine im weitesten Sinne semiotische Praxis auf.
1.2.2.1 Liturgik: „Inszenierung des Evangeliums“¹³⁸ „Die Liturgik ist die praktisch-theologische Disziplin, über welche die Semiotik entdeckt wurde.“¹³⁹ Dies liegt angesichts ihrer Gegenstände, die sie für eine semiotische Erschließung geradezu prädestinieren, nahe. In dem „vielperspektivischen, mehrsprachigen“¹⁴⁰ Phänomen des Gottesdienstes zeigt sich Religion in „tradierten Deutungsformen, mehrdimensionalen Zeichenfolgen sowie theatral organisierten Handlungsverläufen“.¹⁴¹ Raum, Texte, Bilder, Musik, Kleidung, Bewegung, Gestik, Mimik, Gerüche, Berührungen, also „alle denkbaren Sprachen und deren Kombination“¹⁴² bilden eine regelrechte „Partitur“¹⁴³ des gottesdienstlichen Kommunikationsgeschehens, zu deren Analyse sich die Semiotik als adäquates Instrumentarium anbietet. Insofern ist es nur konsequent, dass in der Liturgik bislang mit Abstand die meisten semiotisch orientierten Veröffentlichungen der Praktischen Theologie vorliegen. Dieser forschungsgeschichtliche Schwerpunkt spiegelt sich rein quantitativ in dem 1992 von Engemann und Volp publizierten Aufsatzband, der „den gegenwärtigen Stand der Urteilsbildung zu theologisch relevanten Fragen in semiotischer Perspektive“¹⁴⁴ dokumentiert, wider. Allein vier der sieben Beiträge, die aus zeichentheoretischen Einsichten „Konsequenzen“ für die kirchliche Praxis aufzeigen, zielen auf liturgische Fragen.¹⁴⁵ Auch der „Semiotik“-Artikel der RGG4 von 2004 bietet neben dem allgemein praktisch-theologischen Unterartikel einen separat liturgischen.¹⁴⁶
Vgl. den gleichnamigen Titel von Meyer-Blanck 1997: Inszenierung. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 197. – Zur Rezeption der Semiotik in der Liturgik vgl. auch Neijenhuis 2007: Gottesdienst, 91 ff. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 194. Klie 2003: Zeichen, 235. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 194. Der in der liturgischen Zeichenrezeption wiederholt begegnende Begriff ist zuerst von Schiwy et. al. (1976: Zeichen) verwendet worden; vgl. auch Bieritz (1995: Zeichen, 42 ff; 2004: Liturgik, 37 u.ö.). Engemann/Volp 1992: Zeichen, VII. Vgl. a.a.O.; darin Volp (175 ff), Lukken (187 ff), Sequeira (207 ff) und Muck (233 ff). Ebenbauer 2004: Semiotik.
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1. Systemtheorie und Semiotik
Die frühe Rezeption der Semiotik in den 1970er und 1980er Jahren ist zunächst stark durch die Aufnahme linguistischer Theorien von deSaussure,¹⁴⁷ Greimas¹⁴⁸ und Jakobson¹⁴⁹ bestimmt. Hierfür steht das u. a. von Schiwy 1976 herausgegebene Arbeitsbuch „Zeichen im Gottesdienst“,¹⁵⁰ das die Ergebnisse des interdisziplinären Forschungsprojekts „Gottesdienst und ästhetische Kommunikation“ präsentiert. Die „semiotische Methode“, der de facto jedoch eine vom zeitgenössischen französischen Strukturalismus beeinflusste Sichtweise zu Grunde liegt, ist auf die Erfordernisse der Praxis hin ausgerichtet,¹⁵¹ indem sie anhand zwei konkreter Gottesdienste erprobt wird. Wenn auch der semiotische Theoriezugriff der Erweiterung bedarf, so ist das Werk – folgt man der Einschätzung MeyerBlancks – „in seiner praktischen Ausrichtung gleichwohl bisher nicht übertroffen, trotz der zahlreichen Veröffentlichungen aus dem Bereich von Semiotik und Liturgik in den letzten Jahren“.¹⁵² Volp, der das Arbeitsbuch mit Schiwy zusammen herausgegeben hatte und als „Pionier der semiotischen Betrachtung der Liturgie“¹⁵³ gilt, hatte schon früh den französischen Strukturalismus mit der Kulturtheorie Ecos zu verbinden gesucht, wobei die Rezeption bei ihm anfangs ebenfalls stark von der Linguistik dominiert wird. Dies ist auch für den ersten praktisch-theologischen Sammelband „Semiotik in Theologie in Gottesdienst“, den Volp 1982 herausgibt,¹⁵⁴ zu konstatieren. Darin besonders hervorzuheben ist der Beitrag „Zeichen der Eröffnung“ von Bieritz,¹⁵⁵ dem neben Volp der Verdienst zukommt, aus liturgiewissenschaftlicher Perspektive die Semiotik in der Praktischen Theologie etabliert zu haben. In dem Aufsatz beschreibt Bieritz mit textlinguistischen Einsichten die „Eingangspartitur der vonkonziliaren Messe“¹⁵⁶ hinsichtlich verbaler, musikalischer, visueller und kinetischer Codes sowie des Verhaltens der Gemeinde. Bieritz
Auf deSaussure geht z. B. die Unterscheidung von „Syntagma“ und „Paradigma“ bei Schiwy et. al. (1976: Zeichen, 23 ff) und Volp (1994: Liturgik, 705 ff u.ö.) zurück. Vgl. die Beiträge von Delorme in Volp (1982: Zeichen, 19 ff) und Lukken in Engemann/Volp (1992: Zeichen, 187 ff). Von Jakobson übernimmt z. B. Schiwy et. al. (1976: Zeichen, 37 ff u. ö.) die Theorie der Sprachfunktionen. Schiwy et. al. 1976: Zeichen. Vgl. a.a.O., 7. Meyer-Blanck 2000: Zeichen, 54 f Anm. 15. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 196. – Bereits 1974 bringt Volp (1973/74: Perspektiven, 16) als erster den Code-Begriff in die liturgiewissenschaftliche Diskussion ein. Volp 1982: Zeichen. Wiederabgedruckt: Bieritz 1995: Eröffnung. A.a.O., 42.
1.2 Semiotische Theorien
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gibt an, dass dies sein „erster, noch tastender Versuch“¹⁵⁷ sei, eine semiotische Betrachtungsweise auf die Liturgie zu erproben. Dies ist insofern bemerkenswert, als er bereits 1979 die Ecosche Zeichentheorie in ihrem grundlegend kulturtheoretisch-semiotischen Zusammenhang, wie sie mit der „Einführung in die Semiotik“¹⁵⁸ vorlag, in die liturgiewissenschaftliche Diskussion eingebracht hatte, um damit den Strukturbegriff des sog. „Strukturpapiers“,¹⁵⁹ mit dem 1974 der lange Weg auf dem Prozess zur „Erneuerten Agende“¹⁶⁰ beginnt, zu kritisieren.¹⁶¹ War bspw. auch das Arbeitsbuch von Schiwy noch von „zu entdeckenden allgemeinen Strukturen“¹⁶² ausgegangen, konstatiert Bieritz nun, dass „Struktur“ keine Seins-, sondern eine kulturell vermittelte Deutekategorie ist, an sich also nicht existiert, sondern „abwesend“¹⁶³ ist und nur im Deutungsvorgang der jeweils konkreten Strukturierung entsteht. Dies zeigt, dass bereits in der frühen Phase der Bezugnahme auf im weitesten Sinne „strukturale Semiotik“¹⁶⁴ rezeptionsgeschichtlich die Aufnahme allgemeiner Zeichentheorien durchaus möglich gewesen wäre.¹⁶⁵ Der Grund, warum das nicht geschah, liegt wohl darin, „daß die Rezeptionslinien zwischen Praktischer Theologie und den Sprach- und Literaturwissenschaften traditionell sehr viel ausgeprägter waren als die zum philosophischen Pragmatismus“.¹⁶⁶ So spielen Ecos frühe rezeptionsästhetische sowie – sieht man einmal von der frühen Bezugnahme Bieritz’ ab – semiotische Einsichten noch keine Rolle. Es zeigt sich der „ungebrochene Optimismus der Pionierzeit […] in dem Eklektizismus, mit dem die semiotischen und linguistischen Theorien rezipiert und miteinander kombiniert wurden.“¹⁶⁷ Stand die Liturgiewissenschaft in den 1970er und 1980er Jahren im Kontext einer empirisch ausgerichteten Praktischen Theologie eher im Schatten von Poi-
Ebd. Eco 19948: Einführung. 1974: Versammelte Gemeinde. 1990: Erneuerte Agende. Bieritz 1995: Struktur. Schiwy et. al. 1976: Zeichen, 13. Vgl. den italienischen Originaltitel von Eco (19948: Einführung) „La struttura assente“ („Die abwesende Struktur“). Klie 2003: Zeichen, 239. Neben den deutschen Übersetzungen der semiotischen Schriften von Eco (19948 [1972]: Einführung; 1977: Zeichen) war 1967 bzw. 1970 die zweibändige Peirce-Auswahl mit einer ausführlicher Einleitung von Karl-Otto Apel (Peirce 1967: Schriften I;1970: Schriften II) erschienen; vgl. Klie 2003: Zeichen, 239 Anm. 25. Klie 2003: Zeichen, 239. A.a.O., 240; Hervorhebung im Original.
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1. Systemtheorie und Semiotik
menik und Religionspädagogik, so erwacht Anfang der 1990er Jahre nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Erarbeitung der „Erneuerten Agende“ das neue fachliche Interesse für den Gottesdienst – und an den allgemeinen Zeichentheorien, so dass die „Liturgiewissenschaft im Aufbruch“¹⁶⁸ zumindest zeitlich eng mit der „Semiotik im Aufbruch“¹⁶⁹ zusammenhängt. An dieser Stelle ist auf die Untersuchung von Schwier¹⁷⁰ hinzuweisen, die 2000, also ein Jahrzehnt später, die Forschungsergebnisse zur „Entstehung und Konzeption des ‚Evangelischen Gottesdienstbuches‘“¹⁷¹ präsentiert und sich dabei ausführlich mit dem Strukturbegriff zwischen Strukturalismus und semiotischer Kritik auseinandersetzt. Die Arbeit selbst unterscheidet zwischen strukturalen bzw. ontologisch-strukturalistischen und strukturellen bzw. hypothetisch-regulativen Perspektiven und zeigt auch, wie die von Bieritz am Strukturbegriff vorgetragene Kritik die Agendenkommission immer wieder beschäftigte. Ein „wichtiger Meilenstein für die Rezeption der allgemeinen Semiotik in der Liturgik und praktischen Theologie“¹⁷² ist die 1990 publizierte Dissertation des Volp-Schülers Roosen¹⁷³ über das altkirchliche Taufritual. Anders als bisher wird in dieser Untersuchung erstmals die Zeichentheorie von Peirce aufgenommen, indem die Taufsymbolik von den Peirceschen Zeichenklassifikation Index, Ikon und Symbol bzw. arbiträres Zeichen,¹⁷⁴ her rekonstruiert wird. Methodisch weiß sich Roosen jedoch „der Semiotik Umberto Ecos verpflichtet“,¹⁷⁵ auch wenn ihm diese selten als Zitationsgrundlage dient. Gerade dieser doppelte Bezug sowohl auf Kategorien der Semiotik Ecos als auch Peirces war Anlass zur Kritik: Um der „Gefahr des kulturpessimistischen Missverständnisses“¹⁷⁶ zu wehren, klagt einerseits Meyer-Blanck von Eco her argumentierend ein, dessen Beschreibung
Vgl. Cornehl 1996: Liturgiewissenschaft. Meyer-Blanck 2001: Semiotik, 95. Schwier 2000: Erneuerung. So der Untertitel a.a.O. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 199. Roosen (1990: Taufe) ist die gekürzte Druckversion der ursprünglichen Dissertationsfassung (dort unter dem Geburtsnamen): Fleischer, Rudolf, Verständnisbedingungen religiöser Symbole am Beispiel von Taufritualen. Ein semiotischer Versuch, Diss. theol. Mainz 1984. Während nach Peirce ein Index mit dem Objekt verbunden ist – wie Rauch mit dem Feuer –, ein Ikon Merkmalsähnlichkeit mit dem Objekt hat – wie ein Stadtplan – beruht ein Symbol auf Vereinbarungen. Eco (19948: Einführung, 197 ff) reformuliert die Peircesche Zeichenklassifikation, indem er alle Zeichen als konventionelle untersucht. Um terminologische Unklarheiten zu vermeiden, verwendet Roosen (1990: Taufe, 8) anstelle des Peirceschen Symbol-Begriffs „arbiträres Zeichen“ und behält sich „Symbol“ für die alltagssprachliche Bedeutung vor. Roosen 1990: Taufe, 8. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 199.
1.2 Semiotische Theorien
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aller Zeichen als konventioneller mit der Peirceschen Zeichenklassifikation ins Gespräch zu bringen. Andererseits kommt Vetter, der dem Peirceschen Entwurf nahe steht, zu dem Schluss, dass der Impuls Roosens für die Praktische Theologie auf „einem produktiven Missverständnis der peirceschen Philosophie“¹⁷⁷ beruht. Nichts desto trotz liegt der forschungsgeschichtliche Verdienst dieser Untersuchung darin, die Peircesche Zeichenklassifikation in der Praktische Theologie etabliert zu haben und darüber hinaus die nicht unumstrittene „fundamentale praktisch-theol[ogische] Kategorie“¹⁷⁸ des Symbols in einen semiotischen Kontext zu stellen: „Religiöse Symbole werden prinzipiell nach den gleichen Regeln erkannt und gedeutet wie Daseinsmetaphern, Statussymbole oder Werbefotos. Weder haben sie eigene Formen, noch ist sie eigenen Dekodierungsbedingungen unterworfen. Auch sind religiöse Symbole keine ‚ganz anderen Zeichen‘.“¹⁷⁹ Und nicht zuletzt wurde Meyer-Blanck¹⁸⁰ durch Roosens Untersuchung zur grundlegenden Kritik der Symboldidaktik aus Sicht der Ecoschen Semiotik angeregt. Auch Thomé, ein weiterer Volp-Schüler, bezieht sich explizit auf die Untersuchung Roosens, als er in seiner 1991 publizierten Dissertation „Gottesdienst frei Haus?“¹⁸¹ neben dem Ecoschen Code-Begriff die Peircesche Zeichenklassifikation auf die Analyse von Fernsehübertragungen von Gottesdiensten anwendet. Volp selbst schließt 1992 bzw. 1994 seine Arbeit mit der umfangreichen, zweibändigen Liturgik „Die Kunst, Gott zu feiern“¹⁸² ab. Diese ist nicht nur erkennbar einer semiotischen Perspektive verpflichtet, sondern stellt insgesamt einen „bedeutenden Fortschritt in der Liturgiewissenschaft“¹⁸³ dar. Mit Bezugnahmen auf Peirce, deSaussure, Morris und die semiotischen Schriften Ecos, liegt der Liturgik jedoch kein konsistentes semiotisches System zu Grunde, sondern changiert „zwischen einer kulturtheoretischen und einer strukturalen Semiotik“.¹⁸⁴ In der Kritik an einer vorwiegend historisch arbeitenden praktischtheologischen Liturgik sollen die beiden Bände programmatisch „das universale Feld zwischen Liturgiegeschichte und semiotischer Methodologie ins Auge fassen.“¹⁸⁵ Die Engführungen im Zeichen- und Codebegriff, wie sie in der Früh-
Vetter 2002: Verständigung, 450. Biehl 2004: Symbol, 1928. Roosen 1990: Taufe, 96. Meyer-Blanck 20022: Symbol; s.u. 1.2.2.3. Thomé 1991: Gottesdienst. Volp 1992 und 1994: Liturgik. – Zur kritischen Auseinandersetzung mit der Volpschen Liturgik vgl. Meyer-Blanck (1996: Zeichen) und Klie (2003: Zeichen, 242 ff). Klie 2003: Zeichen, 253. Ebd.; Hervorhebungen im Original. Volp 1994: Liturgik, VIII.
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1. Systemtheorie und Semiotik
phase liturgischer Zeichenrezeption begegneten, sind dabei überwunden. Ähnlich wie bereits bei Schiwy¹⁸⁶ werden die unterschiedlichen Zeichen des als Semiose verstandenen Gottesdienstes synchron als „Partitur“ wahrgenommen: Raum-, Bekleidungs-, gestischer, musikalischer, verbaler und zeitlicher Code kommen dabei als verschiedene Gottesdienstsprachen in den Blick – überhaupt wird der Thematik des Raums, insbesondere des Kirchenraums, eine vergleichsweise hohe Aufmerksamkeit beigemessen. Unter den neueren liturgiewissenschaftlichen Publikationen ist die 2004 erschienene „Liturgik“ von Bieritz¹⁸⁷ hervorzuheben, die als grundlegendes Lehrbuch sowie umfassendes Nachschlagewerk konzipiert ist und sich wesentlich systematischer als die Volpsche Liturgik präsentiert. Der zeichentheoretische Ansatz ist für dieses Werk v. a. als Kultur- und Kommunikationstheorie von Interesse, weshalb sich die Affinität zu den semiotischen Schriften Ecos nahe legt.¹⁸⁸ Daneben begegnen im Rückgriff auf die einschlägige liturgiewissenschaftliche Literatur – anstatt auf Primärliteratur – auch die in der liturgischen Zeichenrezeption bereits etablierten semiotischen bzw. linguistisch-strukturalistischen Theoreme: Vermittelt durch Schiwy¹⁸⁹ erfolgt die Aufnahme der auf deSaussure zurückgehenden Unterscheidung von „Syntagma“ und „Paradigma“ sowie der drei von Morris in die Semiotik eingeführten Zeichendimensionen „Syntaktik“, „Semantik“ und „Pragmatik“. Ferner orientiert sich die Darstellung und Rezeption der Peirceschen Zeichenklassifikationen an Roosen.¹⁹⁰ Ziel des Grundrisses ist es, einen Zugang in die als kulturelles Phänomen verstandene christliche Zeichenwelt zu erschließen. Dem dient v. a. die Einführung in die „Sprachen“, „in denen die Kultur des Gottesdienstes eine überlieferungs- und mitteilungsfähige Gestalt gewinnt“¹⁹¹. Dementsprechend setzt die Darstellung nicht liturgiegeschichtlich, sondern bei den „Sprachen des Gottesdienstes“¹⁹², d. h. bei den raum-zeitlichen Ausdrucksformen der Liturgie ein,¹⁹³ bevor sie in einem zweiten Teil auf die historische Genese, Rezeptions- und Reformprozesse der liturgischen Zeichensysteme eingeht.¹⁹⁴
Vgl. Schiwy et. al. 1976: Zeichen, 78 ff und 131 ff. Bieritz 2004: Liturgik. Vgl. v. a. die theoretische Grundlegung: a.a.O., 36 ff. Schiwy et. al. 1976: Zeichen. Vgl. Bieritz 2004: Liturgik, 209 ff. A.a.O., VI. Volp 1992: Liturgik, 120. Vgl. Bieritz 2004: Liturgik, Kapitel 1– 9. Vgl. a.a.O., Kapitel 10 – 17.
1.2 Semiotische Theorien
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Von poimenischem Interesse ist v.a die Wahrnehmung des gottesdienstlichen Kommunikationsgeschehens in seiner Vieldimensionalität. Denn sowohl für das seelsorgliche als auch für das gottesdienstliche Kommunikationsgeschehen gilt: Potentiell kann alles, was sinnlich fassbar, d. h. wahrnehmbar, ist zum Zeichen werden, indem das Wahrgenommene für jemanden in gewisser Hinsicht für etwas anderes steht, d. h. wenn ihm von einer Deutungsinstanz Bedeutung zugeschrieben wird. ¹⁹⁵ „Im Bilde gesprochen: Gottesdienst gleicht einem vielstimmigen, von unterschiedlichen Instrumenten bestrittenen Konzert, das sich nur mittels einer ‚Partitur‘ darstellen lässt, die die einzelnen Stimmen in eine Beziehung zueinander setzt. Ein solcher Zugang wehrt der theologisch geläufigen Verengung auf den verbalen Austausch“.¹⁹⁶ Gottesdienst als Zeichenprozess zu beschreiben, ermöglicht es, „die Fülle der Phänomene unter einem einheitlichen Gesichtspunkt – nämlich dem der Semiotik […] – zu bündeln“¹⁹⁷ und die „Vielzahl unterschiedlicher Zeichensysteme – verbaler wie nonverbaler Art –“¹⁹⁸ zu analysieren. Der den Bieritzschen Überlegungen zu Grunde gelegte Codebegriff geht zunächst von der bei Schiwy vorgestellten linguistischen Kategorie aus, nach der ein Code „das jeweilige Repertoire an Zeichen und die dazugehörigen Verknüpfungsregeln“¹⁹⁹ bezeichnet. Bieritz modifiziert dieses Verständnis hinsichtlich der Relationalität des Codes und bestimmt diesen im Anschluss an Eco als „System von Systemen“,²⁰⁰ das „eine bestimmte Klasse von Ausdrücken [Signifikanten] einer bestimmten Klasse von Inhalten [Signifikaten]“²⁰¹ zuordnet. Somit steht „Code“ in der Bieritzschen Liturgik für ein „Zeichensystem“, für eine Gruppe zusammengefasster Zeichenfunktionen, und wird weitgehend synonym mit dem Terminus „Sprache“ verwendet. Bieritz weist darauf hin, dass dieser Sprachgebrauch nicht unumstritten ist: So schlägt bspw. Meyer-Blanck vor, „als ‚Code‘ nur das gesamte Funktionieren der Relationalität zu beschreiben und […] lieber die jeweilige Zeichensorte alltagssprachlich als ‚Sprache‘ zu benennen (z. B.: ‚Körpersprache‘).“²⁰² Im Blick auf die Ecosche Code-Theorie, deren Entwicklung sich bis hin zu ihrer Relativierung in verschiedenen Phasen nachzeichnen lässt,²⁰³ ist zu konstatieren, dass dem Bieritzschen Werk ein Codebegriff zu Grunde liegt, der eine
Zum Wahrnehmungsbegriff der vorliegenden Untersuchung s.u. 3.2.1.3. Bieritz 2004: Liturgik, 37. Ebd.; Hervorhebung im Original. Ebd. Schiwy et. al. 1976: Zeichen, 21. Eco 1977: Zeichen, 184. Bieritz 2004: Liturgik, 42; Hervorhebungen im Original. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 217. Vgl. Bieritz 2004: Liturgik, 56 Anm. 23. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 195 f.
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1. Systemtheorie und Semiotik
recht frühe Entwicklungs-Stufe präsentiert²⁰⁴ und den Eco bereits seit der kulturtheoretischen Weitung des Terminus 1975 in seinem semiotischen Hauptwerk „Einführung in die Semiotik“, spätestens aber seit 1979 nicht mehr verwendet: „Seit ‚Lector in fabula‘ (1979) und ‚Semiotik und Philosophie der Sprache‘ (1984) benutzt Eco konsequent den Begriff der ‚Enzyklopädie‘ als das übergeordnete Modell, innerhalb dessen Formen der Codierung lediglich spezifische Aspekte der Axiomatik bezeichnen.“²⁰⁵ Geht es der Bieritzschen Liturgik neben der „Verbal-Sprache“ explizit auch um „nonverbale“ Kommunikation, so ist die sich an das Volpsche Diktum von den „Sprachen des Gottesdienstes“²⁰⁶ anschließende terminologische Engführung auf „Sprache“ nicht nachvollziehbar. Zwar geht Bieritz selbst auf diese Schwierigkeit ein: „Man könnte von den ‚Sprachen des Gottesdienstes‘ reden […].Wir bezeichnen sie – um auch den Zeichensystemen nichtverbalen Charakters gerecht zu werden – im Folgenden als Codes.“²⁰⁷ Dennoch spricht er, terminologisch inkonsequent und damit theoretisch inkonsistent, im Folgenden von den verschiedenen „‚Sprachen‘ im Gottesdienst“.²⁰⁸ Von dem Bieritzschen Code-Begriff abgesehen, ist die semiotische bzw. linguistische Betrachtung an dieser Stelle systemtheoretisch aufzuklären: Anstelle von „Sprache“ ist die Verwendung des Luhmannschen Terminus „Kommunikations-Medium“,²⁰⁹ wie er bereits von Dinkel für die Liturgik herangezogen wird,²¹⁰ wesentlich präziser. Überdies ist – sowohl bei Bieritz als auch bei Dinkel – die theoretisch nicht haltbare Differenzierung von „verbaler – nonverbaler“ Kommunikation durch die Unterscheidung von „direkter – indirekter“ Kommunikation zu ersetzen.²¹¹ Denn ebenso wie nichtsprachliche Kommunikation verbindliche und damit „direkte“ Kommunikation sein kann – man denke nur an standardisierte Gesten –, kann sprachliche Kommunikation – wie eine ironische Äußerung – mehrdeutig und damit „indirekt“ sein.²¹²
Sieht man von der Bedeutung für die eigene Teildisziplin ab, so liegt der praktischtheologische Verdienst der Bieritzschen Liturgik in erster Linie in der luziden Systematisierung der Fülle der am Zeichenprozess Gottesdienst beteiligten Zeichensysteme in sechzehn verschiedene Ausdrucksformen bzw. Codes, die ihrerseits in fünf „Sprachgruppen“ Wort-, Körper-, Klang-, Objekt- und soziale Sprachen zusammengefasst werden.²¹³ Damit bietet Bieritz ein geeignetes Instrumentarium
Auch in den Überlegungen zu den „[k]ommunikative[n] Grundlagen des seelsorglichen Gesprächs“ bezieht sich Bieritz (2007: Grundlagen, 93 f) auf den Code als eine linguistische – dort sogar mit expliziten Hinweis auf deSaussure – anstelle einer semiotisch revidierten Kategorie. Klie 2003: Zeichen, 195. Volp 1992: Liturgik, 120. Bieritz 2004: Liturgik, 37; Hervorhebung im Original. A.a.O., 42 ff. S.u. 4.1. Vgl. Dinkel 2000: Gottesdienst, 217. Vgl. Kieserling 1999: Kommunikation, 147 ff; s.u. 3.2.1.3.2. S.u. 4.4. Vgl. Bieritz 2004: Liturgik, 42 ff; sowie die Überblickstabelle a.a.O., 45 f.
1.2 Semiotische Theorien
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für die Analyse desjenigen Kommunikationsgeschehens an, in welchem der Wahrnehmung als ästhetische Kategorie eine konstituierende Funktion zukommt, also dem von Luhmann als Interaktion beschriebenen Sozialsystem. ²¹⁴ Die Praktikabilität der von Bieritz aufgestellten „liturgischen Codes“²¹⁵ erprobt Neijenhuis mit seiner 2007 veröffentlichten Bonner Habilitationsschrift „Gottesdienst als Text“.²¹⁶ Die Untersuchung befasst sich in ihrem Hauptteil mit der Beschreibung eines Gottesdienstes in actu und liefert damit das noch 2001 von Meyer-Blanck aufgezeigte Desiderat: „Für die Liturgik wäre eine aktuelle Weiterführung des ersten Arbeitsbuches (Schiwy u. a. 1976) wünschenswert, in dem das semiotische Instrumentarium leicht verständlich erklärt und dann in einer Analyse alltäglicher Gottesdienste demonstriert wird […]. Dabei müsste vor allem das syntagmatische und pragmatische Zusammenspiel von Verbalsprache, Musik, Körper-, Kleider-, Bewegungs- und Raumsprache u. a. untersucht werden. Das geht selbstverständlich nicht anhand von agendarischen Formularen, sondern nur anhand von tatsächlich stattgefundenen einmaligen Gottesdiensten.“²¹⁷ Eben dies leistet die Untersuchung von Neijenhuis, indem sie davon ausgeht, dass die Liturgik ihren Gegenstand, den gefeierten Glauben, nur in der tatsächlich gefeierten Liturgie findet. Als Quelle liegt der Arbeit daher die Videoaufnahme eines Gottesdienstes im Berliner Dom – dem Buch in Form einer CD beigefügt – zu Grunde. Diese Videoaufnahme wird als „Text“ im weitesten Sinne verstanden, d. h. als etwas, „das unter Einbeziehung vieler Ausdrucksformen verbaler wie nonverbaler Art als ‚Geflochtenes und Zusammengefügtes‘“²¹⁸ erscheint und mit Hilfe „liturgischer Sprachkompetenz“ „gelesen“, also wahrgenommen werden kann. In Aufnahme der fünf von Bieritz vorgestellten „Sprachgruppen“ und ihrer Codes entwickelt Neijenhuis eine deskriptive „Teil-Semiotik für die Liturgiewissenschaft“²¹⁹ mit der die gottesdienstlichen Signifikations- und Kommunikationsprozesse anhand der Videoaufnahme zeichentheoretisch beschrieben werden. Mit dem Hinweis darauf, dass die Verwendung des Terminus „Sprache“ sowohl für „Wort-“ als auch für „Körpersprache“ „irreführend sein kann“,²²⁰ wird die Bieritzsche Systematisierung der liturgischen Codes in terminologischer Hinsicht konsequent modifiziert: Die fünf
S.o. 1.1.1 und s.u. 3.2 und Kapitel 4. Vgl. Bieritz 2004: Liturgik, 36 ff. Neijenhuis 2007: Gottesdienst. Meyer-Blanck 2001: Semiotik, 105 f; Hervorhebung im Original. Neijenhuis 2007: Gottesdienst, 55. – Dem entspricht der sonst in der Liturgik gebräuchliche Terminus „Partitur“. A.a.O., 137 ff. Vgl. a.a.O., 138.
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1. Systemtheorie und Semiotik
„Sprachen“ werden als „Codeparadigmen“ bezeichnet, die sich in weitere „Codesubparadigmen“ gliedern. Aus Sicht der Ecoschen Theorie liegt damit wie bereits bei Bieritz auch dieser Untersuchung ein früher Codebegriff zu Grunde. „Code“ wird definiert als „ein Zeichenvorrat mit den dazugehörigen Verknüpfungsregeln, wobei die Verknüpfungsregeln im Vordergrund stehen“.²²¹ Dabei grenzt Neijenhuis im Anschluss an Meyer-Blanck²²² und damit anders als Bieritz den Terminus Code explizit von dem Terminus Sprache ab: „Der Begriff Code […] darf nicht mit dem Begriff Sprache verwechselt werden. Der Begriff Sprache wird dann verwendet, wenn Signifikant und Signifikat als Zeichen im Zusammenhang von Zeichenklassen verwendet werden und so als Ergebnis aus der Tätigkeit von Codes, mit deren Hilfe auf Grund von Verknüpfungsregeln Zeichengestalten geformt worden sind, mit denen Zeichenträger, wie z. B. Buchstaben, Töne oder Stoffe, die noch unverknüpft sind, vorliegen.“²²³
Neben der Bieritzschen Liturgik und dem Arbeitsbuch von Schiwy greift die Untersuchung v. a. auf die Semiotik Ecos zurück, wendet sich jedoch – beispielhaft für manch andere praktisch-theologische Bezugnahme auf die Ecosche Theorie – in einem entscheidenden Punkt gegen die Ausführungen des Zeichentheoretikers. Während Eco den Referenten aus seiner Theorie eliminiert, legt Neijenhuis unter Einbeziehung der Peirceschen Religionsphilosophie die Bedeutung des Referenten als Garant für einen ontologisch verstandenen Wahrheitsbegriff dar.²²⁴ Denn die Frage nach der (letzten) Wahrheit kann nach Neijenhuis bei der „sachgerechten“ Beschreibung eines Gottesdienstes oder eines anderen Ausdruck des Glaubens nicht ausgeklammert werden. Die Bezugnahme allein auf die Semiotik Ecos sei deshalb nicht ausreichend: „Mit Eco kann nur ein kulturelles Spiel angenommen werden, das jeglicher Wahrheit verlustig gehen kann. Mit Peirce dagegen wird zumindest ein Wahrheitsanspruch erhoben.“²²⁵ Durch das Insistieren auf den Referenten droht die von Neijenhuis entwickelte „Teil-Semiotik für die Liturgiewissenschaft“ theoretisch inkonsistent zu werden: Ein Zeichen wird demnach durch die drei Funktive Signifikant, Signifikat und Referent ermöglicht, wobei „der Referent in engem Zusammenhang mit dem Signifikat steht“.²²⁶ Die Kategorie des Interpretanten ist bei dieser Beschreibung der Zeichenfunktion außer Acht gelassen und begegnet als terminologische Alternative zum Begriff des Signifikanten erst in der Darstellung der Semiose – bei der dann allerdings der Referent nicht mehr erwähnt wird: „Das vormalige Signifikat wird dabei zum
Ebd. Vgl. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 217. Neijenhuis 2007: Gottesdienst, 139. Vgl. a.a.O., 125 ff. A.a.O., 134. A.a.O., 149.
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Signifikanten, der in diesem Fall Interpretant genannt wird, um […] ein neues Signifikat zu expedieren.“²²⁷ Auch der 2009 unter dem Titel „Verzaubertes Hören“ erschienenen Dissertation von Kunz Pfeiffer²²⁸ geht es um die „gottesdienstliche Polyphonie“. Dieses gelungene Beispiel einer semiotischen Ästhetik macht den Ertrag der liturgiewissenschaftlichen und homiletischen Rezeption²²⁹ der Zeichentheorie Ecos für die Beziehung zwischen Wort- und Musiksprache im Gottesdienst fruchtbar. Kunz Pfeiffer zeigt auf, dass aus semiotischer Perspektive das „Entstehen der ästhetischen Bedeutung“ präzisier darstellbar ist als mit der Ästhetik selbst²³⁰ – ob und welche ästhetischen Ansätze sie dabei konkret im Blick hat, bleibt allerdings im Dunklen. Da die Semiotik die verschiedenen Decodierungsebenen des gottesdienstlichen Kommunikationsgeschehens als „gleichberechtigte“ behandelt,²³¹ lassen sich mit ihr die Spezifika eines „Kunstzeichens“ bzw. „Musikzeichens“ im Vergleich zu einem „wortsprachlichen Zeichen“ zeigen und deren Rezeption beschreiben.²³² Im Rückgriff auf Ecos Modell des „offenen Kunstwerks“,²³³ den Code- bzw. Enzyklopädie-Begriff, die semiotische Schlussweise der Abduktion sowie mit Anleihen aus der Spieltheorie beschreibt die Autorin den „Gottesdienst als Spielraum der Glaubensfreiheit“²³⁴ bzw. „als Spielraum der leibbezogenen abduktiv-imaginativen Rezeptivität“²³⁵. Die Dimension der Leiblichkeit spielt bei der Analyse von Musik und Wort im Gottesdienst eine besondere Rolle: „Die Körperlichkeit des Menschen findet ihren ureigenen Ausdruck im Reden und Singen.“²³⁶ Die Kategorie des Leibes wird mit dem Modell der „Incantation“ eingeholt, das als „Zeichen von Leiblichkeit und ‚Verzauberung‘“ verstanden wird:²³⁷ „Incantation dient […] als Begriff für die
A.a.O., 152. – Widerspruchsfrei präsentiert sich hingegen die semiotische Grundlegung der Liturgik von Neijenhuis’ Gewährsmann Bieritz (2004: Liturgik, 39 f): Zwar beschreibt dieser das semiotische Dreieck zunächst ebenfalls mit den Größen Signifikant, Signifikat und Referent, weist jedoch umgehend auf die Problematik des Referentenbegriffs hin, um sich sodann mit Verweis auf Eco der Modifikation durch die Kategorie des Interpretanten anzuschließen. Kunz Pfeiffer 2009: Hören. S.u. 1.2.2.2. Vgl. Kunz Pfeiffer 2009: Hören, 61. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 1. Eco 19967: Kunstwerk. Vgl. Kunz Pfeiffer 2009: Hören, 173 ff. Vgl. a.a.O., 220 f. A.a.O., 223. Vgl. a.a.O., 223 ff.
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Zeichenhaftigkeit des gottesdienstlichen Sprechens, Betens, Singens und Musizierens [d. h. des vieldimensionalen gottesdienstlichen Kommunikationsgeschehens; L.K.]. Der Begriff der Incantation drückt den in der Verheissung des Leibes Christi begründeten Anrufungs- und Beziehungscharakter gottesdienstlichen Handelns insgesamt aus.“²³⁸ Der metaphorischen Rede im Gottesdienst eignet – analog der poetischen Rede, auf die sich der Begriff der Incantation ursprünglich bezieht,²³⁹ – ein „Sinnüberschuss“, der über die Alltagserfahrung hinaus in die Erfahrung von Transzendenz verweist. Kombiniert mit Musik verstärkt sich die „körperhaftsinnliche Präsenz“ des Gottesdienstes. Incantation wird so „ein Modell des Zusammenwirkens von Wort- und Musiksprache“,²⁴⁰ das das „Spielfeld gottesdienstlicher Polyphonie“ aufzeigt²⁴¹: Die Gottesdienstteilnehmer werden z. B. zu befreitem Hören, Singen, Sagen bewegt und „verzaubert“, wobei auf verschiedene „Hör- und Spielhilfen“ zurückgegriffen werden kann. Ebenfalls in der Tradition semiotischer Liturgik steht der 2010 erschienene Band von Klie „Fremde Heimat Liturgie“.²⁴² Die einzelnen Kapitel – als Aufsätze z.T. in anderen Zusammenhängen erstveröffentlicht – gehen am Sonntagsgottesdienst entlang und heben den religionsästhetischen Eigensinn einzelner liturgischer Stücke hervor. Indem Liturgie als „fremde Heimat“ beschrieben wird, behalten die Überlegungen sowohl die „Kulturfähigkeit des Gottesdienstes“ als auch den „Reichtum der liturgischen Tradition“ im Blick.²⁴³
Es hat sich gezeigt, dass sich unter den praktisch-theologischen Teildisziplinen v. a. die Liturgik als genuines Feld für die Auseinandersetzung mit den wahrnehmungsrelevanten Kategorien Raum, Leib und Zeit anbietet. Denn alles, was wahrgenommen und dem Bedeutung zugeschrieben wird, wird zum kommunikationsrelevanten Zeichen: So können Gegenstände, Kirchenjahreszeiten, Räume²⁴⁴ bzw. Orte, Kleidung²⁴⁵, Menschen in ihrer Leiblichkeit etc. zu bedeu-
A.a.O., 224; Hervorhebungen im Original. Der Begriff der Incantation wurde von Antonin Artaud geprägt und „dient in der Literatur als Charakterisierung poetischer Rede“ (A.a.O., 225; Hervorhebung im Original), die in ihrem „Sinnüberschuss“ performativ Wahrheit erzeugt. A.a.O., 226; Hervorhebung im Original. Vgl. a.a.O., 274 ff. Vgl. a.a.O., 333 ff. Klie 2010: Heimat. Vgl. a.a.O., Vorwort. Mit dem „Raum als Zeichen“ setzen sich die Beiträge des Aufsatzbands von Nißlmüller und Volp (1998: Raum), die zum größten Teil auf den achten Internationalen Semiotik-Kongress „Kultur – Zeichen – Raum“ 1996 in Amsterdam zurückgehen, auseinander.Vgl. auch Klie 2003: Zeichen, 269 ff. – Dass das Thema „Raum“ gegenwärtig „zu einem Tagesordnungspunkt evangelischer Liturgiewissenschaft“ geworden ist, dokumentiert – hier aus nicht explizit semiotischer Perspektive – das
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tungsträchtige Zeichen werden. Analoges ist für die Seelsorge zu konstatieren, die gleichsam als Zeichenprozess beschrieben werden kann. Ähnlich dem gottesdienstlichen präsentiert sich das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen als ein vieldimensionales, in dem verschiedene Kommunikationsmedien aktualisiert werden und sinnlich Fassbares als Wahrgenommenes für die Kommunikation bzw. – systemtheoretisch präzisier – die Interaktion relevant wird. Um diese syntagmatisch als „Partitur“ zusammenspielenden raum-zeitlichen Ausdrucksformen des Seelsorgegeschehens adäquat zu analysieren, liegt es nahe, die in der Liturgik unter semiotischer Perspektive gewonnenen Einsichten auf die Poimenik zu übertragen. Ertragreich ist hier in erster Linie der Anschluss an die Bieritzsche Liturgik. Einerseits kann diese als repräsentativ für den gegenwärtigen semiotischliturgiewissenschaftlichen Diskussionsstand gelten, andererseits lotet sie die deskriptiven Möglichkeiten der Semiotik aus und konkretisiert diese in Form eines praktikablen Analyseinstrumentariums. Die übersichtliche Systematisierung „gottesdienstlicher Sprachen“, die bereits erfolgreich von Neijenhuis rezipiert wurde, ist systemtheoretisch zu präzisieren und für das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen zu modifizieren.²⁴⁶ Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Bieritz selbst bereits 1983 in seinem Beitrag „[k]ommunikative Grundlagen der Seelsorge“ im „Handbuch der Seelsorge“ zeigt, welche Dimensionen für die seelsorgliche Kommunikation als „‚multimediales‘ Geschehen“²⁴⁷ relevant sind. In einer „Faktorenanalyse“²⁴⁸ macht er mit liturgiewissenschaftlich geschärfter Beobachtungsperspektive auf Aspekte aufmerksam, die neben der traditionellen Konzentration auf das Kommunikationsmedium Verbalsprache auf poimenisch bedeutsame Kategorien abzielen: „Mimik, Gestik, Haltung, Bewegung; sprachbegleitende Phänomene wie Tonhöhe, Tonstärke, Tonfall usw.; Berührungen; Stellung zueinander im Raum – Nähe oder Distanz, Zuwendung oder Abwendung, Annäherung oder Entfernung; Kleidung und Haartracht, Schmuck und andere Gegenstände; Einbeziehung des Raumes, der Architektur, der Einrichtung in die Kommunikation usw.“²⁴⁹ Festgehalten wird auch die Einsicht, dass die jeweilig aktualisierten Kategorien
Themenheft „Raumerkundungen“ der „Arbeitsstelle Gottesdienst“ 02/2007 (Kutzner/Friedrichs 2007: Editorial, 4). Neijenhuis (2000: Textilen) untersucht aus semiotischer Perspektive „[l]iturgische Textilien als Texte“. S.u. 4.1– 4.4. Bieritz 1983: Grundlagen, 104. A.a.O., 96 ff. A.a.O., 104 f.
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„Raum“, „Zeit“ und „Person“ die Möglichkeiten der Kommunikation präkommunikativ reduzieren, indem die zeitliche und räumliche Kommunikationsumgebung „gewisse Spielregeln“²⁵⁰ festlegt. Im Zusammenhang mit den RollenErwartungen, d. h. im professionstheoretischen Kontext, wird auch die – besonders für das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen bedeutsame – performative Situationsklärung durch die beteiligten Personen erwähnt: „Zu Beginn der Begegnung versuchen die Partner, sich auf ein […] Drehbuch zu einigen“²⁵¹ – poimenisch würde man hier von einer „Auftragsklärung“ sprechen. Dieses „Drehbuch“ kann im Verlauf der Kommunikation verändert werden: „Das ‚Drehbuch‘ wird gemeinsam neu geschrieben, die in der neuen Situation implizierten ‚Spielregeln‘ werden bestimmt.“²⁵² In der poimenischen Diskussion wurden diese Bieritzschen Impulse nicht weiter aufgenommen²⁵³ – dies gilt sogar für Bieritz selbst, der in einer überarbeiteten Fassung seines Beitrags verstärkt verbalsprachlich akzentuiert.²⁵⁴ Auch wenn dem Beitrag von Bieritz ein sowohl aus Luhmannscher als auch Ecoscher Perspektive zu revidierender Kommunikationsbegriff und eher ein sozialpsychologischer als ein explizit semiotischer Zugang zu Grunde liegen, sind die Überlegungen zeichen- und systemtheoretisch anschlussfähig. Dies gilt besonders für den Rekurs auf Watzlawick: „In einer Situation, die uns mit anderen Menschen zusammenführt, steht es nicht mehr in unserer Entscheidung, ob wir mit ihnen kommunizieren wollen oder nicht.“²⁵⁵ Systemtheoretisch zugespitzt: In der Interaktion zwingt Wahrnehmung zur Kommunikation. „Praktisch gilt: daß
A.a.O., 97. A.a.O., 98; Hervorhebung im Original. A.a.O., 109. Bemerkenswert ist, dass die drei den Beitrag einleitenden Fallbeispiele (a.a.O., 95 f) bereits Themata anschneiden, die erst Jahre später monographische Beachtung finden. In Lohses Band zum „Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung“ (20062: Kurzgespräch) hätte der erste von Bieritz beschriebene Fall ohne Probleme rezipiert werden können. Analoges gilt für das zweite Beispiel und die von Hauschildt (1996: Alltagsseelsorge) vorgelegte Arbeit. Das dritte Praxisbeispiel, das den Fokus auf rituellen bzw. sakramentalen Handlungen legt, fügt sich stimmig in die gegenwärtige Poimenik, die dem Ritual in der Seelsorge wieder mehr Aufmerksamkeit schenkt; s.u. 3.2.2.2.2. Sein neuer Beitrag (Bieritz 2007: Grundlagen), der sich größtenteils mit der Darstellung von Kommunikations-Modellen beschäftigt, reicht bei Weitem nicht an die vieldimensionale Perspektive des alten heran. Die nun deutlich hervortretende linguistische Ausrichtung spiegelt sich bereits in der neuen Überschrift „Kommunikative Grundlagen des seelsorglichen Gesprächs“ wider. Bieritz 1983: Grundlagen, 102. Vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 19969: Kommunikation, 50 ff.
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man in Interaktionssystemen nicht nicht kommunizieren kann“.²⁵⁶ Oder semiotisch formuliert: „Man kann nicht nicht Zeichen gebrauchen.“²⁵⁷ An eben diesem Punkt können sich zwischen der an der Luhmannschen Systemtheorie orientierten, funktionalen Gottesdiensttheorie²⁵⁸ und der aus semiotischer Perspektive erarbeiteten Liturgik konstruktive Bezugnahmen ergeben: Beschreibt Dinkel den Gottesdienst als Interaktion im Luhmannschen Sinne, d. h. als jenes soziale System, in dem die Kategorie der Wahrnehmung virulent wird, dann ist es nur konsequent, dass er aus systemtheoretischer Perspektive Ähnliches formuliert, wie semiotisch orientierte liturgiewissenschaftliche Literatur: „Der Gottesdienst ist die medienreichste Form religiöser Kommunikation in der evangelischen Kirche. Die Darstellung des christlichen Lebens im Gottesdienst erfolgt mit zahlreichen sprachlichen und nichtsprachlichen Medien.“²⁵⁹ Und so unterzieht auch Dinkel prinzipiell alles, was innerhalb einer gottesdienstlichen Interaktion wahrnehmbar ist, wie anwesende Körper, Musik, Lieder, Bibel, Kirchengebäude, Kleidung etc. als gottesdienstliche „Medien der Selbstbeschreibung“²⁶⁰ einer eingehenden Analyse. Zu beachten ist allerdings, dass Luhmann „Wahrnehmung“ auf der Ebene des Bewusstseins verortet und sie damit zur Umwelt der Kommunikation rechnet. Die Systemtheorie bietet als Kommunikationstheorie bzw. Theorie sozialer Systeme keine adäquate Beschreibung von „Wahrnehmung“ an.²⁶¹ Deshalb sind Dinkels Beschreibungen, was die wahrnehmungsrelevanten Dimensionen anbelangt, im Vergleich zur semiotisch orientierten Literatur defizitär und nicht in dem Maße analytisch elaboriert wie diese. Die systemtheoretische Betrachtungsweise ist daher an dieser Stelle semiotisch aufzuklären.²⁶² Das gegenwärtige, sich u. a. aus ästhetisch-semiotischer Perspektive ergebende Interesse an den raum-zeitlichen Ausdrucksformen führt in der Liturgiewissenschaft zur Anwendung der Theatermetapher auf den Gottesdienst:²⁶³ Es ist
Luhmann 1984: Soziale Systeme, 562; Hervorhebung im Original. – Damit nimmt auch Luhmann das viel zitierte Axiom „Man kann nicht nicht kommunizieren“ von Watzlawick, Beavin und Jackson (19969: Kommunikation, 53) auf. Engemann 2003: Semiotik, 173. S.o. 1.1.2.5. Dinkel 2000: Gottesdienst, 217. Vgl. a.a.O., 217 ff. Vgl. Kieserling (1999: Kommunikation, 110 ff), der sich in seinen „Studien über Interaktionssysteme“ gerade in dem Kapitel zur „reflexiven Wahrnehmung“ durch die „Kombination von präkommunikativer und kommunikativer Sozialität“ (a.a.O., 119) veranlasst sieht, nach systemtheoretisch integrierbaren Theorien Ausschau zu halten. S.u. 3.2.1.3. Aus semiotischer Perspektive vgl. v. a. Bieritz (1986: Gottesdienst) und Meyer-Blanck (1996: Inszenierung; 1997: Inszenierung). Dem „Beitrag von Schauspieltheorien und -techniken für die
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1. Systemtheorie und Semiotik
„ausgesprochen sinnvoll, den Gottesdienst in Analogie zu einer Theateraufführung zu sehen. […] Auch der Gottesdienst will gut inszeniert sein. Je besser nämlich ein Stück ist, desto schlimmer sind eine schlechte Inszenierung und eine schlechte Aufführung.“²⁶⁴ Mit der Kategorie der Inszenierung können die Kommunikationsumstände und die Formen, in denen Inhalte präsentiert und rezipiert werden, dargestellt werden. „Inszenierung“ beschreibt das für den Gottesdienst konstitutive „Ineinander von Gottes Verheißung und menschlicher Gestaltungskunst“,²⁶⁵ die Verschränkung von Form und Inhalt, Signifikant und Signifikat, Ästhetik und Ethik. Da das Evangelium nicht als seinsförmige Größe gegeben ist, sondern „immer nur in konkreten Situationen und in Gestalt äußerlicher Zeichen“²⁶⁶ geschieht, kann sich Evangelium immer nur als inszeniertes ereignen, muss es liturgisch, homiletisch und poimenisch ²⁶⁷ in Szene gesetzt werden, um zur guten Nachricht werden zu können.²⁶⁸ In diesem Zusammenhang hat sich in der Liturgik mit der Präsenz, die als pastoraltheologische bzw. persönliche Komponente des Inszenatorischen vorgestellt werden kann, eine weitere theaterwissenschaftliche Kategorie etabliert: „Präsenz ist die durch das Bewußtsein des Inszenatorischen gebrochene Authentizität.“²⁶⁹ Die in der Praktischen Theologie zuerst als „liturgische Präsenz“²⁷⁰ reflektierte Kategorie, regt auch die Poimenik dazu an, eine Morphologie seelsorglicher Präsenz zu entwickeln. ²⁷¹ Da sich das liturgiewissenschaftliche Feld „[z]wischen Zeichen und Historie“²⁷² aufspannt, setzt sich die Liturgik nicht nur mit dem konkreten, gegenwärtigen Gebrauch von Zeichen, sondern auch mit der Analyse der historischen Genese von kirchlich-kommunikativen Handlungsformen, ihrer Rezeptions- und
Pastoralästhetik“ widmet sich vor dem Hintergrund des Bibliodramas umfassend erstmals die Dissertation von Friedrich (2001: Körper). Dort werden die Schauspieltheorien von Stanislawski, Brecht und Grotowski auf die liturgische Praxis bezogen. Roth (2006: Theatralität) bestimmt in ihrer Habilitationsschrift die Theatralität des Gottesdienstes im Diskurs mit der Theaterwissenschaft; zu weiteren Literaturhinweisen vgl. dort. Zur Kategorie der Performanz, die eng mit der Theatermetapher verbunden ist, s.u. 2.2.1. Meyer-Blanck 1997: Inszenierung, 17; Hervorhebung im Original. A.a.O., 12. Klie 2003: Zeichen, 265. S.u. 3.2.2.2.2 und Kapitel 4. Zur Kategorie der Inszenierung s.u. 2.2.1. Meyer-Blanck 1996: Inszenierung, 12. Vgl. Meyer-Blanck (a.a.O., 12 ff), der den von dem Schauspieler Kabel geprägten Terminus aufgreift. Kabel hat in der Zwischenzeit ein zweibändiges „Handbuch Liturgische Präsenz“ (Bd. 1: 20032; Bd. 2: 2007) veröffentlicht. Als praxisorientierte Ergänzung und Vertiefung von Kabels Konzept vgl.Wöllenstein (2002: Werkbuch). Zur Kategorie der Präsenz s.u. Einleitung zu Kapitel 4. S.u. Einleitung zu Kapitel 4. So der gleichnamige Titel von Meyer-Blanck (1996: Zeichen) zu Volps Liturgik.
1.2 Semiotische Theorien
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Reformprozesse auseinander.²⁷³ Die semiotische Perspektive auf christliche Rituale betont die Konventionalität dieser Kommunikationsform und wehrt damit einem magischen Missverständnis von Zeichenhandlungen, wie sie v. a. bei Josuttis begegnen.²⁷⁴ Tradierte Deutungsformen wie Abendmahl, Taufe, Beichte, Ehe, Bestattung, Gebete, Lieder, Segen etc. können als kondensierte, d. h. kulturell fest geprägte Kommunikationsformen des christlichen Glaubens beschrieben werden und finden als sog. Rituale bzw. Riten,²⁷⁵ unter dem Stichwort der „Spiritualität“ oder im Kontext der gegenwärtigen Kasualdebatte seit den 1990er Jahren auch in der Poimenik wieder verstärkte Aufmerksamkeit.²⁷⁶ Gerade für die Seelsorge eröffnet die Integration geprägter Kommunikationsformen des Glaubens die Möglichkeit, eine signifikante christliche Perspektive einzuspielen. Die 2011 erschienene „Gottesdienstlehre“ von Meyer-Blanck²⁷⁷ kann als eine semiotisch-ästhetische Bündelung dessen gelten,was bis dahin aus dieser Sicht zum Gottesdienst dargelegt wurde. Erstmals liegt eine Publikation vor, die die beiden praktisch-theologischen Teildisziplinen Liturgik und Homiletik gemeinsam dargestellt und auf dem Stand der aktuellen Fachdiskurse miteinander verschränkt.²⁷⁸ Erschließt eine Gottesdienstlehre das Evangelium in der Gegenwart für die Gegenwart, so ist sie auf außertheologische Zugriffe angewiesen. Wie in seinen anderen Arbeiten greift Meyer-Blanck hier auf die Semiotik zurück.²⁷⁹ Diese erweist sich als „besonders hilfreich“, weil es mit ihr möglich ist, „die Zeichensprachen“ von Predigt und liturgischem Vollzug zu unterscheiden, den Gottesdienst in kultureller und künstlerischer Perspektive zu verstehen, und „der Zeichenbegriff sowohl eine distanzierte religionstheoretische als auch eine bezeugende theologische Sprechweise zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen erlaubt.“²⁸⁰ In der Darstellung orientiert sich Meyer-Blanck an den Kategorien „Mitteilung und Darstellung des Evangeliums“.²⁸¹ Hierzu nimmt er die Beschreibung des Gottesdienstes als „darstellende Mitteilung“ und „mittei-
Vgl. z. B. Bieritz 2004: Liturgik, 305 ff. Josuttis 1996: Einführung. Die Begriffe „Ritual“ und „Ritus“ werden im praktisch-theologischen Sprachgebrauch häufig synonym verwendet; s.u. 3.2.2.2.2. Zum Ritual-Begriff der vorliegenden Untersuchung s.u. 3.2.2.2.2. S.u. 3.2.2.2.2. Meyer-Blanck 2011: Gottesdienstlehre. Zur semiotisch orientierten Homiletik s.u. 1.2.2.2. S.u. 1.2.2.3. Vgl. Meyer-Blanck 2011: Gottesdienstlehre, 24. Vgl. a.a.O., 25 ff.
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1. Systemtheorie und Semiotik
lende Darstellung“ von Schleiermacher und den Begriff der „Kommunikation des Evangeliums“ von E. Lange auf. Der Gottesdienst wird „mit der Formel Darstellung und Mitteilung des Evangeliums in ritueller Gestalt beschrieben“.²⁸² Damit ist sowohl die Liturgie mit der Predigt verbunden, als auch „das persönliche (‚Mitteilung‘) und ästhetische Moment (‚Darstellung‘)“²⁸³ angesprochen. Das Evangelium wird als eine Wirklichkeit beschrieben, die auf der einen Seite der gottesdienstlichen Kommunikation vorausliegt und sich auf der anderen Seite in der Kommunikation immer wieder aufs Neue performiert. Aus dieser Perspektive wird der Gottesdienst aus systematischer, historischer, empirischer, konfessionskundlich-vergleichender, ästhetischer und handlungsorientierter Perspektive dargestellt. Besondere Beachtung verdient hier die konfessionskundlich-vergleichende Perspektive, in der im Gespräch mit der katholischen Liturgiewissenschaft das Spezifikum des evangelischen Gottesdienstes deutlich wird.²⁸⁴ Zuletzt ist auf zwei katholisch-theologische Arbeiten, die für die Poimenik letzlich weniger relevant sind, hinzuweisen. Die 2004 erschienene Dissertation des Lukken-Schülers Hausreither „Semiotik des liturgischen Gesangs“²⁸⁵ bemüht sich um die Entwicklung und Erprobung eines methodischen Instrumentariums der Liturgiewissenschaft, mit dem auch nichtliterarische Objekte wie Handlungsvollzüge adäquat analysiert werden können. Anders als die Bieritzsche Liturgik, die unter der Perspektive einer ähnlichen Zielsetzung gelesen werden kann, rekurriert die Untersuchung von Hausreither nicht auf allgemeine Zeichentheorien, sondern auf die strukturale Semiotik von Greimas. Im Anschluss an die Dissertation von Speelman,²⁸⁶ die das Instrumentarium von Greimas bereits für die Analyse liturgischer Liederbücher operationalisiert hat, wird dieses nun insofern weiterentwickelt als es an liturgischen Gesängen in actu erprobt wird. Obwohl mit der Arbeit von Hausreither eine neuere Publikation vorliegt, ist diese ganz von einer linguistisch-strukturalistischen Ausrichtung bestimmt. Im Sinne eines von Peirce und Eco kritisierten dyadischen Zeichenverständnisses geht es der Untersuchung „nicht so sehr um das Objekt als Zeichen, sondern um die Bedeutungsbildung, die man im Objekt finden kann“,²⁸⁷ um ein „Zur-Sprache-kommen-Lassen (Selbst-sprechen-Lassen) des Objektes“.²⁸⁸ Im Fokus der Untersuchung steht die „Frage nach der Bedeutung oder Bedeutsamkeit der Musik“.²⁸⁹ Vernachlässigt wird dabei die semiotische Einsicht, dass Be-
A.a.O., 40; Hervorhebung im Original. Ebd. Vgl. a.a.O., 279 ff. Hausreither 2004: Semiotik. Speelman 1995: Generation. Hausreither 2004: Semiotik, 14; Hervorhebung L.K. Ebd. A.a.O., 1.
1.2 Semiotische Theorien
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deutung nur qua Deutung generiert werden kann, indem etwas mittels einer Deutungseinheit in der Semiose Bedeutung zugeschrieben wird. Zu ähnlichen Konsequenzen wie die semiotische Zugangsweise kommt die 1999 erschienene Monographie „Introduzione alla teologia liturgica” von Grillo, die dank der Übersetzung von Meyer-Blanck als „Einführung in die liturgische Theologie“ seit 2006 auch in deutscher Sprache zugänglich ist.²⁹⁰ Grillo, der unter die derzeit führenden italienischen Liturgiewissenschaftler zu rechnen ist, thematisiert die Möglichkeit einer liturgischen Theologie an dem Verhältnis von Ritus und Theologie, deren Geschichte er anhand eines Dreiphasenmodells beschreibt: Der Ritus als Voraussetzung der Theologie, die Verdrängung des Ritus aus der Theologie und die Reintegration des Ritus in die Theologie. Der Grundgedanke des Modells ist, dass die Rückkehr in eine frühere Phase nicht möglich ist, ohne die späteren Einsichten auszublenden. Folgt man der Einleitung von Meyer-Blanck, so geht es Grillo jenseits der Alternative einer an der kirchlichen Tradition orientierten Liturgik einerseits und einer anthropologisch sowie ritualtheoretisch argumentierenden Liturgik andererseits „um eine anthropologisch aufgeklärte Interpretation des Überlieferten“,²⁹¹ wie sie in Grillos Beschreibung des Gottesdienstes als „zelebriertes Geheimnis“²⁹² deutlich wird. Analoges begegnet in der deutschen evangelischen Praktischen Theologie und damit der Liturgik, die derzeit – nicht zuletzt unter semiotischer Perspektive – einen „dritten Weg“ jenseits der Alternative von Empirie und Systematischer Theologie, von Sache und Person sucht.²⁹³ Auch der damit implizierten Frage nach den Formen des christlichen Glaubens und der Religion überhaupt, geht Grillo unter dem Stichwort „fundamentale Ausdrucksformen der Liturgie“²⁹⁴ nach. Terminologisch ist die Untersuchung zwar durch die Rezeption Guardinis stärker von der Symboltheorie als der Semiotik geprägt – Missverständnisse können sich daher daraus ergeben, dass sich Grillo mehrfach gegen die Kategorie des Zeichens ausspricht. „Doch das Engagement,“ – so das Urteil von Meyer-Blanck – „das an verschiedenen Stellen seines Buches zum Ausdruck kommt, richtet sich im Grunde […] gegen einen zweistellig missverstandenen Zeichenbegriff und ist darum gut von der dreistellig verstandenen Zeichenkategorie her zu verstehen“.²⁹⁵ In den Worten Grillos: „Liturgie und Sakrament vollziehen einen Statuswechsel vom Zeichen zum Ritus. Das bedeutet vor allem, dass sie von ihrer Definition als ‚Darstellungen‘ befreit werden, um als ‚symbolische Handlungen‘ verstanden zu werden. Damit werden sie nicht mehr primär logisch, sondern vielmehr handlungsbezogen gedacht.“²⁹⁶ Dem entspricht, dass Grillo im Zusammenhang der Interpretation der Sakramentenlehre des Thomas von Aquin die erkenntnistheoretischen Implikationen des dreistelligen Zeichenbegriffs beschreibt.²⁹⁷
Grillo 2006: Einführung. Meyer-Blanck 2006: Einleitung, 28. Grillo 2006: Einführung, 184. Vgl. Meyer-Blanck/Weyel 2008: Studien- und Arbeitsbuch, 47. Grillo 2006: Einführung, 195 ff. Meyer-Blanck 2006: Einleitung, 28. Grillo 2006: Einführung, 236; Hervorhebungen im Original. Vgl. a.a.O., 93.
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1. Systemtheorie und Semiotik
1.2.2.2 Homiletik: Semiotisierung des Hör- und Textverständnisses Zwar hat die praktisch-theologische Rezeption der Semiotik in der Liturgik ihren Anfang genommen, mehr beachtet wurde sie jedoch in der Homiletik. Hervorgegangen ist sie aus einer Gemengelage, in der verschiedene Traditionsstränge zusammenwirkten:²⁹⁸ In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren legt die Predigttheorie als Gegenreaktion auf die Methodenabstinenz der dialektischen Theologie einen deutlichen Akzent auf den kommunikativen Aspekt der Predigt, die im Anschluss an E. Lange als eine Form der „Kommunikation des Evangeliums“ verstanden wird. Die in diesem Kontext entstehenden kommunikations- und informationstheoretisch orientierten Entwürfe, die u. a. an die zeitgenössische Linguistik anknüpfen,²⁹⁹ rücken – ähnlich der späteren zeichentheoretischen Rekonstruktionen der Predigt – das Kommunikationsgeschehen sowie die Hörersituation ins Zentrum ihrer Theorie. Aus semiotischer Sicht ist jedoch zu konstatieren, dass in diesen Untersuchungen „die Frage nach den Gelingensbedingungen zu früh normativ kurzgeschlossen [wurde]. D. h. die Funktion der Kommunikationsumstände beim Zustandekommen von relevanten Botschaften wurde nicht mehr systemkonform im Sinne der Theorie bestimmt, sondern in aller Regel lediglich soziologisch oder später dann (tiefen‐)psychologisch. Dieser Analyse lag ein latentes und unreflektiertes zweistelliges Zeichenverständnis zugrunde.“³⁰⁰ Dies trifft bspw. auch auf die funktionale Kirchen- und Religionssoziologie von Dahm³⁰¹ zu. Aus semiotischer Perspektive ist v. a. das informationstheoretische Sender-Empfänger-Modell, auf das sich Dahm geht davon aus, zu monieren: Dieses besagt, dass ein „Empfänger“ die vom „Sender“ ausgesandten signa umstandslos als res decodieren kann – was im Übrigen auch dem Kommunikations-Begriff der Systmtheorie Luhmanns widerspricht. Die Konzepte von Dahm und E. Lange, die als repräsentativ für eine kommunikationstheoretisch ausgerichtete Homiletik gelten können, dienen „angesichts der praktischen Nichtrealisierbarkeit ihrer Postulate“³⁰² Martin als Folie seines Plädoyers für ein „neues Paradigma“: „Predigt als ‚offenes Kunstwerk‘“. In seiner gleichnamigen Marburger Antrittsvorlesung von 1983 schlägt Martin mit stark eklektischen Bezugnahmen auf das rezeptionsästhetische Hauptwerk Ecos den „Koalitionswechsel der Homiletik von der Kommunikationswissenschaft zur
Eine ausführliche Aufordnung der liturgiewissenschaftlichen Rezeption der Semiotik bietet Klie (2003: Zeichen, 288 ff), auf die im Folgenden Bezug genommen wird. Vgl. z. B. Bastian 1969: Theologie. Klie 2003: Zeichen, 291. Dahm 1971: Beruf; s.o. 1.1.2.1. Martin 1984: Predigt, 48.
1.2 Semiotische Theorien
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Ästhetik“³⁰³ vor. Aus dem Blick gerät dabei, dass sich Eco für das Kunstwerk überhaupt nur als Kommunikationsphänomen interessiert und das Modell des „offenen Kunstwerks“ im Kontext einer Theorie der „ästhetischen Kommunikation“³⁰⁴ verortet. Damit ist im Unterschied zur Liturgik, in der allgemeine Zeichentheorien über die Linguistik rezipiert wurden,³⁰⁵ in der Homiletik die Semiotik Ecos zwar von Anfang an der Bezugspunkt, für das Predigtverständnis ist allerdings weniger die Semiotik als Theorie als das allgemeine rezeptionsästhetische Paradigma maßgeblich. Letzteres ist auch für die breite und nachhaltige Rezeption, die Martin angestoßen hat, zu konstatieren.³⁰⁶ „Die Frage nach dem Rezipienten ‚lag in der Luft‘“:³⁰⁷ Bereits zu Beginn der 1970er Jahre tritt in der Literaturtheorie als Konsequenz aus dem linguistic turn „[a]n die Stelle des Exklusivitätsanspruchs einer allgemeingültigen Deutung […] ein erweiterter Interpretationsbegriff, der auch die ästhetischen und pragmatischen Dimensionen umfaßte.“³⁰⁸ Eco publiziert 1962 „Opera aperta“, das 1973 auf Deutsch als „Das offene Kunstwerk“ erscheint,³⁰⁹ und v. a. mit den Schriften von Iser³¹⁰ und Jauß³¹¹ konsolidiert sich die (literaturwissenschaftliche) Rezeptionsästhetik in Deutschland. Würdigt man den programmatischen Beitrag Martins zur Homiletik kritisch, so ist Klies Votum zuzustimmen: „Zwar bleibt das von Eco beschriebene Verhältnis von allgemeiner und gattungsspezifischer Offenheit bei Martin in Bezug auf die konkrete Gestalt der Predigt theoretisch unterbestimmt, aber der homiletische
A.a.O., 49. Vgl. Eco 19948: Einführung, 162 ff. – Ecos „Einführung in die Semiotik“ erschien in deutscher Übersetzung bereits 1972 und damit ein Jahr vor der deutschen Ausgabe des „Offenen Kunstwerks“. Martin hätte also auf diese Schrift zurückgreifen können. S.o. 1.2.2.1. Rezeptionsästhetisch setzen u. a. an: Schröer (1984: Eco), Beutel (1988: Predigt), Engemann (1993: Homiletik). Klessmann (1996: Predigt) akzentuiert das pastoralpsychologische Predigtverständnis rezeptionsästhetisch. In dem Band von Garhammer und Schöttler (1998: Predigt) sind rezeptionsästhetische Ansätze zur Homiletik gesammelt. Gehring (1999: Schriftprinzip) rekurriert in seiner Arbeit auf die literaturwissenschaftliche Rezeptionsästhetik wie sie von Jauß (1982: Erfahrung) und Iser (19944: Akt) vertreten wird. Lämmlin (2002: Lust) bezieht sich für seine „rezeptionsästhetische Homiletik“ ebenfalls auf Iser. Und auch die in den 1980er Jahren entstanden Beiträge von Bieritz – wiederveröffentlicht im Sammelband (Bieritz 1995: Zeichen) – setzen rezeptionsästhetisch an. – Insgesamt verdankt sich die Debatte um die Ästhetik der Predigt der Rezeption der Ecoschen Schriften und deren rezeptionsästhetischer Auslegung. Gehring 1999: Schriftprinzip, 94. Klie 2003: Zeichen, 292. Später bemerkt Eco selbst (1995: Grenzen, 30) das „nunmehr fast zwanghafte Insistieren auf der Bedeutung der Interpretation, der Mitarbeit des Rezipienten“. Iser 19944: Akt. Jauß 1982: Erfahrung.
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1. Systemtheorie und Semiotik
Diskurs wurde damit zumindest für die Probleme der zeitgenössischen Literaturwissenschaft geöffnet. Der homiletische Bezug auf Ecos vorsemiotische Poetik schlug die Brücke zur Rezeption semiotischer Theoriestücke im engeren Sinn.“³¹² Wie Martin kann auch H. Luther als „einer der Protagonisten einer semiotisch orientierten Predigttheorie gelten“.³¹³ Bereits ein Jahr vor Martin – forschungsgeschichtlich „jedoch im Schatten des griffigen Schlagwortes von der Predigt als ‚offenem Kunstwerk‘“³¹⁴ – stellt er die „Predigt als Handlung“³¹⁵ und „inszenierten Text“³¹⁶ vor. Zwar versteht H. Luther seine fragmentarisch gebliebene Homiletik nicht explizit als semiotische Predigttheorie, dennoch ist die zeichentheoretische Perspektive implizit angelegt. Im Rekurs auf den Kunstbegriff von Beuys beschreibt H. Luther die Predigt als künstlerisches Geschehen, wobei er die „notwendig zu respektierende Freiheit des Hörers“,³¹⁷ also die Mitarbeit des Rezipienten beim Hören einer Predigt betont: „Das Kunstwerk realisiert sich in dem, was es auslöst. Ähnlich scheint es mir bei einer Predigt zu sein […]. Nicht im Amen des Predigers gelangt die Predigt an ihr Ziel, sondern in den Predigten, die […] jeder Hörer sich aufgrund der Rede des Predigers selbst hält und was er daraus folgen läßt.“³¹⁸ Eine semiotische (und spieltheoretische) Rekonstruktion der Homiletik H. Luthers leistet Klie, der nach eingehender Analyse zu folgendem Ergebnis kommt: „Luther setzt den dreistelligen Zeichenbegriff – und damit den Interpretantenbezug – ebenso voraus, wie die Vorstellung eines enzyklopädisch verfaßten Zeichenkosmos. Beide Theoriestücke sind konstitutive Elemente eines Predigtmodells, das programmatisch auf Textinszenierung und kooperative Lektüre- bzw. Wahrnehmungsstrategien setzt.“³¹⁹
Den ersten konsequent semiotisch orientierten Entwurf einer Predigttheorie legt 1993 der Bieritz-Schüler Engemann mit seiner Habilitationsschrift „Semiotische Homiletik“³²⁰ vor. Zeichentheoretische Grundlage für den als Kritik konzipierten Ansatz³²¹ bildet neben den Entwürfen von Locke, deSaussure, Morris und Greimas in erster Linie die Theorie Ecos, dessen semiotische Hauptschriften Engemann z.T. im italienischen Original heranzieht. Ausgehend von der ambigui-
Klie 2003: Zeichen, 293 f. A.a.O., 300. Raschzok 2000: Methode, 112. Luther 1983a: Predigt. Luther 1983b: Predigt. Luther 1983a: Predigt, 232. A.a.O., 231. Klie 2003: Zeichen, 300. Engemann 1993: Homiletik. Vgl. den signifikanten Eingangssatz (a.a.O., XV; Hervorhebung im Original): „Diese ‚Semiotische Homiletik‘ trägt den Charakter einer Kritik.“ Vgl. auch den ursprünglichen Titel der Arbeit: Kritik der Homiletik aus semiotischer Sicht. Ein Beitrag zur Grundlegung der Predigtlehre. Diss. B. Universität Greifswald, 1989.
1.2 Semiotische Theorien
155
tären,³²² d. h. von der prinzipiell mehrdeutigen Rezeptionssituation jeder „zwischenmenschlichen Kommunikation“³²³ ist auch für die „Predigt als Kommunikationsprozeß“³²⁴ der Grundsatz zu konstatieren, dass „jede Predigt ambiguitär ist“.³²⁵ Terminologisch trägt Engemann dieser Einsicht durch die Einführung des Neologismus’ „Auredit“³²⁶ („mit dem Ohr gehört“) Rechnung, der den vom Predigthörer in der Verlautbarungssituation faktisch realisierten „Text“, also gleichsam die „Simultan-Interpretation“³²⁷ des vorgetragenen Predigt-Manuskripts („mit der Hand geschrieben“) bezeichnet. Aus der Kritik an „obturierten Predigten“,³²⁸ die „nicht nur dazu beitragen, die Valenzen semantischer Systeme zu beschränken […], sondern die […] darüberhinaus mit der Funktion ausgestattet [sind], jeden weiteren, zum Erkennen und Verstehen notwendigen Akt des Dazutuns vorwegzunehmen bzw. zu erübrigen“,³²⁹ gewinnt Engemann die Kriterien für eine „Theorie der ambiguitären Predigt“,³³⁰ die er „im Rahmen eines semiotisch-ästhetischen Konzepts“³³¹ entwickelt. Die Zielrichtung des Engemannschen Entwurfs bringt Klie auf den Punkt: „Sein Konzept sieht vor, aus der dilemmatischen Not, nicht nicht-‚offen‘ predigen zu können, eine homiletische Tugend zu machen, also die unhintergehbare Lesartenproduktion der Rezipienten zum inszenatorischen Programm zu erhe-
Die deutschen Übersetzungen der frühen semiotischen Schriften Ecos geben die Termini „ambiguo“ bzw. „ambiguità“ in der Regel mit „zweideutig“ bzw. „Zweideutigkeit“ wieder; vgl. die von Engemann (2003: Zeichen, 201 f Anm. 34) herausgearbeiteten Belege in der „Einführung in die Semiotik“ (Eco 19948: Einführung, 143, 145 ff, 154, 163, 260). Spätere Übersetzungen verwenden der linguistische Terminologie angemessener nur noch „mehrdeutig“ bzw. „Mehrdeutigkeit“. Engemann (2003: Zeichen, 201 f Anm. 34) selbst gibt zu bedenken, ob im Rahmen des Verhältnisses von Semiotik und einer „Hermeneutik des Verdachts“ nicht auch die dem Bedeutungsfeld von „ambiguo“ nahe liegenden Denotate wie „zweifelhaft“ oder „Verdacht erregend“ terminologisch stärker berücksichtigt werden sollten. Vgl. Engemann 1993: Homiletik, XV. A.a.O., 7; im Original hervorgehoben. A.a.O., 153; Hervorhebung im Original. Der Begriff „Auredit“ ist in Analogie zu „Manuskript“ gebildet aus dem Ablativ von „auris“ (das Ohr) und dem Partizip Passiv von „audire“ (hören); vgl. Engemann 1993: Homiletik, 91 ff. Engemann 1993: Homiletik, 92 Anm. 123. Vgl. a.a.O., 107 ff. Den Terminus „Obturation“ übernimmt Engemann aus den Fachsprachen von Medizin und Chemie, in denen er das „Abdichten von Funktionssystemen“ (a.a.O., 107; im Original hervorgehoben) bezeichnet. Engemann 1993: Homiletik, 107. Vgl. a.a.O., 153 ff. A.a.O., 153.
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1. Systemtheorie und Semiotik
ben.“³³² In der Begrifflichkeit Engemanns formuliert geht es darum, nicht nur die „faktische Ambiguität“ der Predigt als Interpretationsmöglichkeit zu akzeptieren, sondern den Hörer mit „taktischer Ambiguität“ gezielt zu einer ihm angemessenen Aneignung des Gehörten zu provozieren und zu nötigen.³³³ Er plädiert für eine „ergänzungsbedürftige Predigt“,³³⁴ die auf eine mehrdeutige Textauslegung abzielt, d. h. ein Signifikationsfeld erzeugt, in das sich der Hörer von seiner jeweiligen Situation aus, mit seinen Deutungen eintragen kann. Damit steht der Hörer als aktiver Rezipient – und nicht länger als passiver Konsument – im Zentrum des Interesses. Der Inhalt wird abhängig von der Situation, in der eine Predigt von jemandem gehört wird. Die faktische Offenheit und rezeptionsästhetische Ambiguität ist auf die Predigtarbeit als ganze bezogen, die auf allen Ebenen vom zugrunde gelegten Code – hier noch im informationstheoretischen Sinne als Zuordnungsregel verstanden³³⁵ – bestimmt wird. „Im Gegenüber zur geistesgeschichtlichen Hermeneutik betont er [Engemann; L.K.], daß jede Textquelle faktisch ambiguitär ist.“³³⁶ Das heißt, jeder Bibeltext ist grundsätzlich offen für eine „tendenziell unendliche Reihe potentieller Lesarten“³³⁷, die im Ausarbeiten der Predigt semantisch verengt werden. Und auch die Deutungsprozesse zwischen Prediger und Predigthörer sind nicht grundsätzlich andere als die zwischen Prediger und Bibeltext: Im Hören schreibt ein Hörer der Predigt im Rückgriff auf seine ihm eigenen Deutungsmuster Bedeutung zu. Die Botschaft der Predigt liegt damit nicht im Bibeltext oder im Predigttext, sondern ereignet sich im Hören der Predigt. Entscheidend sind die
Klie 2003: Zeichen, 306. – Klie (a.a.O., 300 ff) setzt sich aus semiotisch-praktisch-theologischer Perspektive ausführlich mit dem Engemannschen Entwurf auseinander. Die folgende Darstellung bezieht sich auf diese kritische Darstellung. Vgl. Engemann 2002: Einführung, 319; Hervorhebung im Original: „Es kommt nun aber darauf an, diese Offenheit der Botschaft nicht zu bedauern, sondern sie als einen zu verwirklichenden Wert zu begreifen, sie also zu inszenieren und den Schritt von der faktischen zur taktischen Ambiguität zu wagen. Dabei wird der notwendigerweise konstruierende Rezeptionsprozeß des Hörers gefordert und gefördert. Es geht um eine Predigt, die dem Hörer bestimmte Verstehensmöglichkeiten verweigert und andere vorschlägt, um eine Predigt, die – gehalten zwischen Sinnverweigerung und Sinngenerierung – den Hörer zu je konkreter Sinnbildung anleitet. In diesem Sinne wird die Predigt zu seiner ‚Agende‘, zu einer Rede, mit der er ‚operieren‘, mit der er etwas anfangen kann, durch die er an eine Wirklichkeit herangeführt wird, die in ihr selbst noch nicht ausgesprochen ist, eine Predigt, die er in verschiedenen Lebenskontexten erproben – und an der er schließlich selbst weiterschreiben kann.“ So Engemann bereits einem 1990 erschienenen Artikel, bearbeitet und wiederabgedruckt: Engemann 2003: Exzess. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 203 f. A.a.O., 302 f; Hervorhebung im Original. A.a.O., 303.
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„kontingenten Wahrnehmungsmodalitäten“³³⁸ des Predigthörers. – Werden in der Seelsorge biblische Texte als wörtliche Zitate oder als Nacherzählung eingebracht, so sind die kommunikativen Deutungsprozesse analog zu beschreiben wie beim Hören eines Predigt.³³⁹ In seiner Münsteraner Antrittsvorlesung bricht Engemann 1995 mit einer pastoralpsychologisch orientierten Homiletik, indem er – in Anlehnung an Barthes’ Diktum vom „Tod des Autors“ – vom „Tod des Predigers“ und der „Interpretationshoheit der Hörer“ spricht.³⁴⁰ Hier nimmt Engemann auch das literaturtheoretische Axiom des Modell-Lesers auf,³⁴¹ um die „Kooperation zwischen Text und Leser“³⁴² zu beschreiben. Entgegen der von der Exegese und klassischen Hermeneutik häufig angebotenen Alternative zwischen intentio auctoris und intentio lectoris weist er auf die Rolle des Lesers hin, die als Textstrategie bereits mitgesetzt ist: In jeden Text ist bereits der „richtige Leser“ eingezeichnet, der nicht nur das versteht, was der Text explizit sagt, sondern auch die „Leerstellen“³⁴³ „versuchsweise mit Elementen seines eigenen Interpretationssystems besetzt“³⁴⁴. Damit begrenzt jeder (Predigt‐)Text die Abdrift einer dekonstruktivistischen Interpretation. In seiner kommunikationstheoretisch ausgerichteten „Semiotischen Homiletik“ legt Engemann den Akzent auf die Wirkungsästhetik und „Machbarkeit“ einer ambiguitären Predigt. Theologisch versucht er seinen Ansatz inkarnatorisch einzuholen,³⁴⁵ was mit Klie als „unbefriedigend“ zu sehen ist, da „das Reden und Handeln des Jesus von Nazareth lediglich in historischer Perspektive als eine Art ‚Ursignifikant‘ in den Blick kommt.“³⁴⁶ Das Wirken des Heiligen Geistes spielt in dieser Perspektive keine Rolle. Mit den späteren Arbeiten Engemanns relativiert sich der Vorwurf dieser „pneumatologischen Kurzschlüssigkeit“,³⁴⁷ da er die vielfältigen Lesarten eines Predigttextes theologisch als Konkretion „der Vielfalt des Wirken“ des Geistes Gottes veranschlagt.³⁴⁸
A.a.O., 304. S.u. 3.2.1.3.1 und 3.2.2.2.2. Geringfügig bearbeitet und wiederabgedruckt: Engemann 2003: Text, 133 ff. Vgl. Eco 19983: Lector, 61 ff; s.u. 3.1.2. Engemann 2003: Text, 126 ff. Iser 19944: Akt, 266. Engemann 2003: Text, 132. Vgl. Engemann 1993: Homiletik, 37 f. Klie 2003: Zeichen, 307; Hervorhebung im Original. Der Artikel ist 1998 erstveröffentlicht; geringfügig bearbeitet und wiederabgedruckt: Engemann 2003: Spielraum, 160. Vgl. Engemann 2003: Spielraum, 161.
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1. Systemtheorie und Semiotik
In zahlreichen weiteren Beiträgen arbeitet Engemann seinen homiletischen Ansatz weiter aus, wobei er die semiotische Perspektive auch auf andere Teildisziplinen sowie ein Gesamtverständnis der Praktischen Theologie ausweitet. Die wichtigsten Artikel sind – meist in überarbeiteter Version – in dem 2003 erschienenen Sammelband „Person, Zeichen und das Evangelium“³⁴⁹ zusammengefasst, in dem Engemann auch auf die wesentlichen Rezeptionslinien seines Ansatzes Bezug nimmt und diese aufordnet.³⁵⁰ Außerdem erscheint 2002 seine „Einführung in die Homiletik“ – ein „Lehrbuch und Kompendium, Studienbuch und Arbeitshilfe in einem“,³⁵¹ das seit 2011 bereits in zweiter Auflage vorliegt.³⁵²
Mit Klie bleibt festzuhalten: Wie bereits für Martin und H. Luther hat für Engemann „die Homiletik ihr Hauptkriterium in den Rezeptionsbedingungen des Predigttextes“.³⁵³ Im Zentrum seiner Überlegungen stehen „die interpretative Autonomie des Subjekts und damit die Mehrdeutigkeit des Predigttextes“.³⁵⁴ Ein Jahr nach Engemanns „Semiotischer Homiletik“ erscheint die Homiletik des Neutestamentlers Theißen,³⁵⁵ die einen Bezug auf die linguistische Semiologie von deSaussure bietet und deshalb zum Strukturalismus tendiert. Leitendes Paradigma für sein Predigt-Verständnis ist die „exegetische Rekonstruktion der historischen Texttradition“.³⁵⁶ Anders als Engemann, von dessen Ansatz er sich explizit abgrenzt,³⁵⁷ versteht Theißen Predigt nicht als Zeichenprozess, in dem der Hörer eine wesentliche Rolle spielt. Predigt ist weniger die die biblischen Texte fortschreibende Semiose als vielmehr Teilhabe an der „gemeinsame[n] kollektive[n] ‚Textwelt‘“³⁵⁸, an der „biblischen Zeichensprache“. Für eine Poimenik, die sich an der kulturtheoretischen Semiotik Ecos und einem dreistelligen Zeichenbegriff orientiert, ist dieser Ansatz wenig weiterführend.
1995 legen Hermelink und Müske³⁵⁹ einen Beitrag zur ästhetisch-semiotischen Predigtanalyse mit Hilfe der Diskurssemiotik³⁶⁰ vor. Geht man davon aus, dass die Ästhetik einer Predigt darin liegt, beim Hörer etwas Neues auszulösen, so ist zu analysieren, wie die sprachliche Gestalt der Predigt die „individuellen Prozesse
Engemann 2003: Personen. Vgl. Engemann 2003: Einleitung. Engemann 2002: Einführung, Klappentext. Als Zitationsgrundlage dient im Folgenden die Erstauflage. Klie 2003: Zeichen, 310. Ebd. Theißen 1994: Zeichensprache. – Eine ausführliche Darstellung bietet Klie (2003: Zeichen, 311 ff), einen knappen Überblick Meyer-Blanck (1997: Ertrag, 202). Klie 2003: Zeichen, 311. Vgl. Theißen 1994: Zeichensprache, 19 Anm. 6. A.a.O., 17. Hermelink/Müske 1995: Predigt. Vgl. Müske (1992: Diskurssemiotik), der das frame-Konzept in die Textsemiotik aufnimmt.
1.2 Semiotische Theorien
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der Bedeutungsbildung“ in eben diese Richtung steuert.³⁶¹ Im Zentrum des Interesses steht deshalb die (bildhafte) Sprache der Predigt, wobei Hermelink und Müske „aus praktischen Gründen[ ] vom Vorliegen eines schriftlichen Textes der Predigt“³⁶² ausgehen. Dass jedoch allerdings erst beim Hören einer Predigt (Be‐) Deutungen in einer komplexen Kommunikationsumgebung gebildet werden, gerät damit aus dem Blick.³⁶³ Mit dem zugrunde gelegten text-semiotischen Modell, das eine „bildhafte Organisation von Weltwissen“³⁶⁴ annimmt, wird dargestellt, wie ein Text ein „subjektiv geprägte[s] Bild[ ] der Wirklichkeit“³⁶⁵ auslöst: Die Verarbeitung eines Textes löst gleichsam „das Entstehen eines Filmes vor dem inneren Auge“³⁶⁶ aus. Beim Rezipienten wird ein „mentales Modell“ als Vorwissen aufgerufen. Das Neue entsteht in aller Konventionalität dadurch, dass mentale Modelle „Leerstellen“ enthalten, die erst im konkreten Fall gefüllt und modifiziert werden.³⁶⁷ Hermelink und Müske stellen weiterhin die Mittel zur Erzeugung einer solch „sprachliche[n] Oberfläche […] einer Predigt“ vor,³⁶⁸ die beim Hörer mentale Modelle aufruft, und zeigen die Predigtanalyse anhand einer Predigt von Trillhaas auf.³⁶⁹ Für eine Poimenik die Seelsorge als (Um‐)Deutungsgeschehen in den Blick nimmt, liegen in diesem homiletischen Ansatz weiterführende Impulse, die im Kontext der poimenischen Rezeption eines frame-Modells präzisiert werden können.³⁷⁰ In der semiotisch orientieren Predigtlehre scheinen die Bemühungen um ein Verständnis der Predigt als Zeichenprozess mit dem Ansatz von Engemann zu einem vorläufigen Abschluss gekommen zu sein. Hinzuweisen ist noch auf die beiden Engemann-Schüler Reuter³⁷¹ und Lütze³⁷², die den Entwurf ihres Lehrers aufnehmen und hinsichtlich ihrer eigenen Perspektive variieren.
Vgl. Hermelink/Müske 1995: Predigt, 222. A.a.O., 230 Anm. 37. Zur Kritik an dem Modell von Hermelink und Müske s.u. 3.2.2.1.2. Hermelink/Müske 1995: Predigt, 225; Hervorhebung im Original. A.a.O., 224. A.a.O., 225. Vgl. a.a.O., 225 f. Vgl. a.a.O., 227 ff. Vgl. a.a.O., 232 ff. S.u. 3.2.2.1.2. Reuter 2000: Predigt. Lütze 2006: Absicht.
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1. Systemtheorie und Semiotik
Reuter greift in seiner 2000 publizierten Dissertation „Predigt verstehen“ unter postmodernem Vorzeichen³⁷³ auf das semiotisch-homiletische Modell von Engemann zurück und entwickelt im Dialog mit der Pneumatologie eine „homiletische Hermeneutik“, die sich mit der Frage nach der Beteilung von Verstehensprozessen bei der „Kommunikation der Evangeliums“ auseinandersetzt. Lütze plädiert in seiner 2006 erschienenen Dissertation für eine absichtsvolle Predigt, die performativ Wirkung erzielt. Aus linguistischer Sicht verbindet er in seiner predigtanalytisch ausgerichteten Studie die in der Homiletik unter fundamentalhomiletischer Perspektive behandelte Frage nach der Absicht einer Predigt mit der homiletischen Rezeptionsforschung, die sich mit der Frage nach der Wirkung einer Predigt auseinandersetzt.
Der Blick auf die Rezeption der Semiotik Ecos durch die Homiletik hat gezeigt, dass diese v. a. in rezeptionsästhetischer Perspektive aufgenommen wird und innerhalb des „homiletischen Dreiecks“³⁷⁴ zwischen Bibeltext, Prediger und Gemeinde zu einer Verschiebung führt: „Die dialektisch-theologische Homiletik dachte vor allem vom Text zum Hörer, die Homiletik der empirischen Wende seit Ernst Lange vom Prediger zum Hörer. Die semiotisch-rezeptionsästhetische Homiletik hingegen denkt vom Hörer auf den Text hin. Die Predigt ist so zu verfassen, dass die Hörenden daraus selbst ihre persönliche Auslegung herleiten können.“³⁷⁵ Der semiotisch-rezeptionsästhetische Ansatz wirkt sich auf das Verständnis des gesamten Prozesses der „Kommunikation des Evangeliums“ und damit auf das Verständnis vom Umgang mit biblischen Texten aus:³⁷⁶ Die Schreiber biblischer Texte verstanden bzw. deuteten das von ihnen Erlebte. Redakteure des biblischen Textes trugen ihrerseits ihr Verständnis durch Zusätze, Auslassungen, Umstellungen etc. in die Texte ein. Beim Lesen eines Bibeltextes wird vom Leser – z. B. von einem Prediger – aus der Fülle möglicher Lesarten etwas verstanden, bevor in der Predigt wiederum etwas zu verstehen gegeben wird (Manuskript), und der Hörer etwas beim Hören der Predigt versteht (Auredit). Biblische Texte werden also im Prozess der unendlichen Semiose fortgeschrieben – Engemann spricht hier von einem „hermeneutischen Sukzessiv“.³⁷⁷ Werden in der Seelsorge biblische Texte eingebracht, hat sich die Poimenik ähnlich der Homiletik mit eben diesen Deutungsprozessen auseinanderzusetzen. Dazu kann auch der systemtheoretische Kommunikationsbegriff herangezogen
Lyotard 19932: Wissen. Lange 1989: Aufgabe. Meyer-Blanck 2001: Semiotik, 103; Hervorhebung im Original. Vgl. Engemann 2003: Einleitung, 23. Ebd.; im Original hervorgehoben.
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werden, gemäß dem das Zustandekommen der Kommunikation gerade im „Verstehen“, also auf Seiten des Rezipienten, liegt. ³⁷⁸ Integriert die Poimenik ein semiotisch-rezeptionsästhetisches Verständnis biblischer Texte in ihren Ansatz, so lässt sich damit „das Hauptdefizit in den bislang vorliegenden Entwürfen zur systemischen Seelsorge beheben: das unausgeglichene Nebeneinander von dreistelligem Zeichenbegriff (in der Darstellung der systemischen Sicht auf soziale Wirklichkeit) und zweistelligem Zeichenbegriff (in der Darstellung der Funktion biblischer Texte).“³⁷⁹ Wurde die theologische Autorität des Wortes Gottes in der kerygmatischen Seelsorge methodisch kurzschlüssig umgesetzt, so gilt es nun, die funktionale Rolle der Bibel, in Analogie zu dem neueren homiletischen Diskurs nicht mehr „als Verkündigungs-, sondern als Entdeckungspotential“³⁸⁰ neu zu bedenken.³⁸¹ Biblische Texte werden wie im Predigtgeschehen auch im Seelsorgeprozess faktisch als offene Kunstwerke rezipiert, so dass der „Bruch“ im Seelsorgegespräch nur vom Rezipienten selbst herbeigeführt werden kann.³⁸² Damit geht es sowohl in der Homiletik als auch in der Poimenik um Wort- und Deutungsspiele.³⁸³ Es fällt auf, dass den semiotisch-ästhetisch orientierten Ansätzen der Homiletik bislang ein eher enges linguistisches Predigtverständnis zu Grunde liegt. Ausgegangen wird vom – meist schriftlich fixierten – Predigttext, die sinnenhafte Darstellung der „Kommunikation des Evangeliums“ im Predigen ist dabei weniger im Blick. Diese ist jedoch rezeptionsästhetisch von Bedeutung. Denn was ein Hörer inhaltlich von einer Predigt versteht – oder nicht versteht – kann nicht von der Gestalt bzw. von der Gestaltung der Predigt getrennt werden. Insofern werden produktionsästhetische Fragen nach der „Inszenierung“ der Predigt relevant – ganz ähnlich wie sie bereits aus liturgiewissenschaftlicher Perspektive Berücksichtigung finden.³⁸⁴
S.u. 3.2.1.1. Klie 2003: Zeichen, 389; hier in Bezug auf die Aufnahme des frame-Konzepts in die Poimenik. Meyer-Blanck/Weyel 2008: Studien- und Arbeitsbuch, 155; Hervorhebungen im Original. Meyer-Blanck (1999: Entdecken, 32 f) unterscheidet in diesem Zusammenhang die kerygmatische (als Zuspruch), empathische (als Katalysator der Gefühle), auffordernde (als Gesprächsstimulus), alternative (als Widerspruchsressource) und diskursive (als Impuls für sachliche Auseinandersetzungen) Kategorie für die Verwendung der Bibel im Seelsorgegespräch. Klie (2003: Zeichen, 395 Anm. 239) fügt als weitere Kategorie die performative (als Segen oder Gebetsformular) hinzu. Vgl. Meyer-Blanck 1999: Entdecken, 30; s.u. 3.2.2.2.2. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 388. Ähnlich plädiert Meyer-Blanck (1997: Ertrag, 205) dafür, den „Ertrag der semiotischen Homiletik auch seelsorgerlich fruchtbar zu machen“; vgl. Meyer-Blanck 2001: Semiotik, 106. – Zu biblischen Texten in der seelsorglichen Kommunikation s.u. 3.2.2.2.2. S.o. 1.2.2.1.
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1. Systemtheorie und Semiotik
Das hat auch Konsequenzen für die Predigtanalyse, die dann nicht länger auf einen schriftlich fixierten Text wie bei Hermelink und Müske³⁸⁵ zu beziehen ist, sondern auf eine „real ‚aufgeführte‘ Predigt[ ]“.³⁸⁶ Diese wäre hinsichtlich verschiedener Codes, ähnlich wie sie Bieritz für die Liturgik vorschlägt,³⁸⁷ zu untersuchen – so es wie Neijenhuis bereits in der Liturgik erprobt, indem er einen real gefeierten Gottesdienst analysiert.³⁸⁸ Neben Lautstärke und Intonation (Sprechcodes), spielt auch die sog. Körpersprache des Predigers eine Rolle sowie der Raum, in dem eine Predigt gehalten bzw. gehört wird (Kirche, Festzelt, am heimischen Küchentisch), das Kommunikationsmedium, auf das die Predigt zurückgreift (Verbalsprache, Schrift, Radio, Fernsehen, Internet) und in zeitlicher Hinsicht, z. B. wann eine Predigt gehalten wird oder wie lange sie dauert. Es sind die „Ko-Texte“, die das Verstehen einer Predigt mitbestimmen. Nun ereignet sich das Verstehen einer Predigt in der Regel im „ästhetischen und inszenatorischen Gesamtgefüge[ ] der Liturgie“³⁸⁹. Damit ist das Hören der Predigt ein Teil in einem komplexen Kommunikationsgeschehen, in dem die Dimensionen Leib, Raum, Zeit und Kommunikationsmedium³⁹⁰ zusammenspielen. Der Prediger ist meist zugleich Liturg, der Predigthörer zugleich Gottesdienstteilnehmer. Es bietet sich deshalb an, den Gottesdienst im Ganzen als semiosischen Prozess bzw. als semiotische Einheit in den Blick zu nehmen. Der Bezug zwischen semiotisch orientierten Ansätzen der Homiletik und der Liturgik, die u. a. die leib-räumliche Inszenierung des Evangeliums reflektieren,³⁹¹ verspricht konstruktive Resultate, wie die „Gottesdienstlehre“ von Meyer-Blanck³⁹² bereits zeigt.
1.2.2.3 Religionspädagogik: Vom Symbol über das Zeichen zur Performanz In der Religionspädagogik gehen die ersten semiotischen Impulse von dem katholischen Theologen Stock³⁹³ aus. Wie in der Liturgik³⁹⁴ und Homiletik³⁹⁵ sind
Hermelink/Müske 1995: Predigt. Meyer-Blanck 2001: Semiotik, 106. Bieritz 2004: Liturgik, 45 f; s.o. 1.2.2.1. Neijenhuis 2007: Gottesdienst; s.o. 1.2.2.1. Klie 2003: Zeichen, 318. Unter diesen Kategorien werden die für das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen relevanten Codes gefasst; s.u. 4.1– 4.4. Vgl. Meyer-Blanck 1997: Inszenierung. Meyer-Blanck 2011: Gottesdienstlehre; s. o. 1.2.2.1. Stock 1974: Umgang; ders. 1975: Religionspädagogik; ders. 1976: Thesen; ders. 1978: Textentfaltungen; ders./Wichelhaus 1979: Ostern; Wichelhaus/ders. 1981: Bildtheologie. – Klie (2003: Zeichen, 397 ff) stellt den Ansatz von Stock unter semiotischen Gesichtspunkten dar. Damit ist Klie
1.2 Semiotische Theorien
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auch in der Religionspädagogik die semiotisch orientieren Ansätze als Kritik angelegt. Mitte der 1970er Jahre legt Stock seine „semiotischen Experimente“³⁹⁶ gegen eine wachsende Dominanz der historisch-kritische Methode in Exegese und Unterricht vor. Im Rückgriff auf die strukturale Linguistik (Greimas, Barthes, Lotman) entwickelt er – wie er es nennt – eine „strukturale Methode“,³⁹⁷ die es ermöglichen soll, einen Text in Bewegung zu bringen und eine „neue Erfahrung mit einem Text“³⁹⁸ zu machen. Damit öffnet er die diachrone Methodik des Religionsunterrichts für synchrone Zugänge. Ein produktiver Umgang mit biblischen Texten führt zu immer neuen unterrichtlichen Aneignungsprozessen, die Stock zum lebendigen Überlieferungsprozess rechnet. Klie arbeitet heraus, dass damit bereits „eine Spitze gegen den seinerzeit vorherrschenden thematisch-problemorientierten Religionsunterricht formuliert“³⁹⁹ ist, der das didaktische Potential biblischer Texte in ihrem „Lösungspotential“ und ihrer Sinnressourcen bezüglich „Problemen“ sah. Dagegen hält Stock ein „intertextuelles Spiel“⁴⁰⁰, in dem die Texte – ganz im semiotischen Sinne – durch die kooperativen Einträge der Rezipienten aktualisiert und gerade so mit Lebenserfahrung in Verbindung gebracht werden. Es fällt auf, dass Stock weder den Terminus des Symbols noch den des Zeichens reflektiert. Vielmehr arbeitet er mit dem Struktur-Begriff, den er allerdings im Unterschied zu den französischen Strukturalisten als „kulturell und damit kommunikativ vermittelte Größe“⁴⁰¹ versteht – was Ecos Kritik am ontologischen Strukturalismus entspricht.⁴⁰² Es geht ihm um einen „kreativen Umgang mit den verschiedenen Textfunktionen […]: Strukturen (= Codes) sollen entdeckt, vergli-
der erste, der den semiotischen Betrag des Stockschen Konzepts würdigt. Außerdem bietet Klie einen Überblick über die Rezeption semiotischer Theorien in der Religionspädagogik (ebd.) – auf beides wird im Folgenden zurückgegriffen. S.o. 1.2.2.1. S.o. 1.2.2.2. Vgl. Stock 1978: Textentfaltungen. Vgl. Stock 1974: Umgang, 27 ff. Erst 1978 (Textentfaltungen) spricht Stock im Rekurs auf Eco (19948: Einführung) von „Semiotik“. Stock 1974: Umgang, 72; Hervorhebung im Original. Klie 2003: Zeichen, 399. Ebd. A.a.O., 400. Vgl. Eco 19948: Einführung, 357 ff. – Klie (2003: Zeichen, 401 Anm. 24) macht darauf aufmerksam, dass Stocks Differenzierung zwischen kulturtheoretischem und ontologischem Strukturalismus durch terminologische Unschärfe Gefahr läuft, verwischt zu werden, da er „Code“ und „Struktur“ synonym verwendet.
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1. Systemtheorie und Semiotik
chen, verworfen, verändert und erprobt werden. Es gilt, Texte und Bilder im Unterricht in Beziehung zu einander zu setzen.“⁴⁰³ Stock plädiert für kreative und offene Unterrichtsformen. Indem Stock darauf hinweist, dass sich Bedeutung immer situativ im „Kommunikationsprozeß des Lehrens und Lernens“ sowie „im Medium von Zeichen“ generiert,⁴⁰⁴ nimmt er gewissermaßen die spätere Kritik an der Symboldidaktik⁴⁰⁵ vorweg. Bedeutungen werden durch einen Rezipienten zugeschrieben und liegen nicht bereits in der Semantik eines sog. Symbols vor. Stocks Konzept wurde in den semiotisch orientierten Ansätzen, die später erschienen, nicht beachtet. Dies mag – so Klie – seinen Grund darin haben, dass diese neueren Arbeiten ihren Zeichenbegriff in kritischer Auseinandersetzung mit der Symboldidaktik entwickeln.⁴⁰⁶ Insofern ist mit Klie festzuhalten: „Theoriegeschichtlich stellt sich die semiotische Neuorientierung innerhalb der evangelischen Religionspädagogik als eine Spät- oder Nebenfolge des Symboldiskurses innerhalb der Praktischen Theologie dar.“⁴⁰⁷ Dies wird an der religionspädagogischen Studie „Vom Symbol zum Zeichen“ von Meyer-Blanck⁴⁰⁸ deutlich, die sich mit den symboldidaktischen Ansätzen von Halbfas, Biehl und Früchtel auseinandersetzt. In seiner 1995 erschienenen Schrift spitzt Meyer-Blanck Roosens⁴⁰⁹ These von Eco her zu und stellt die „Kommunikationsformen christlicher Zeichen im Rahmen gegenwärtiger kultureller Zeichenprozesse“⁴¹⁰ als entscheidend heraus. Er bezieht den dreistelligen Zeichenbegriff auf die Religionspädagogik und kritisiert zugleich den Symbolbegriff. Aus semiotischer Sicht sind die im Unterricht zu vermittelnden Inhalte nicht von den Personen zu trennen, sondern in „ihrer unterrichtlichen Relationalität“⁴¹¹ zu sehen – ganz ähnlich ist die Relation in der Figur des sog. „didaktischen Dreiecks“ angelegt. Der Inhalt steht nicht vor dem Unterricht fest, sondern ergibt sich im Unterricht. Deshalb wird die Verengung der Symboldidkatik auf bestimmte
Klie 2003: Zeichen, 401. Vgl. Stock 1978: Textentfaltungen, 9. Vgl. z. B. (katholisch) Halbfas (1982: Auge) und (evangelisch) Heumann (1983: Symbol), Früchtel (1991: Bibel) sowie Biehl (19912: Symbole; 1993: Symbole; 1999: Festsymbole). Zur Symboldidaktik vgl. Klie 2003: Zeichen, 404 ff. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 404. – Als Ausnahme kann der Ansatz von Röller (1998: Religionsunterricht) gelten, bei dem der Symbolbegriff keine Rolle spielt. Klie 2003: Zeichen, 404. Meyer-Blanck 20022: Symbol. Roosen 1990: Taufe; s.o. 1.2.2.1. Meyer-Blanck 20022: Symbol, 122. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 203.
1.2 Semiotische Theorien
165
„Symbole“, die als „religiöse Entität“ verstanden werden, obsolet.⁴¹² Vielmehr geht es um „Zeichenprozesse“, die sich in der Interpretationsleistung einer Deutungsinstanz ergeben „nicht um die Zeichen [bzw. Symbole; L.K.] als solche“.⁴¹³ Dem „Interpretationsrahmen des Christentums (in seiner individuellen, kirchlichen und öffentlichen Funktion)“⁴¹⁴ zugehörig sind religiöse Zeichen kulturelle Zeichenprozesse, die kommunikationstheoretisch „als Phänomene von Code und Enzyklopädie, von kultureller Vermittlung und Konvention zu thematisieren“⁴¹⁵ sind. Als Intention einer Didaktik religiös-christlicher Zeichenprozesse formuliert Meyer-Blanck: „den Gebrauch von Zeichen studieren“, „den Gebrauch von Zeichen probieren“, „den Gebrauch von Zeichen kritisieren“.⁴¹⁶ Die Aufgabe eines solchen religionspädagogischen Programms liegt darin, „zwischen den immer mehr individualisierten Formen von Religion der Jugendlichen (und Erwachsenen) und den pluralisierten sozialen Gestaltwerdungen von Religion zu vermitteln.“⁴¹⁷ Es geht um das „Ineinander von Religion und Reflexion“.⁴¹⁸ Fachdidaktisch führt diese Einsicht dazu, „Religion zu zeigen“⁴¹⁹ und erleben zu lassen, zugleich aber auch „Distanzierungsmöglichkeiten“ zu schaffen.⁴²⁰ Mittlerweile – so kommt Meyer-Blanck 2001 zu dem Schluss – hat die semiotisch-theologische Revision der Symboldidaktik zu einem „gewissen Konsens“ geführt.⁴²¹ Vorgeworfen wurde ihm allerdings wiederholt, dass er die Wahrheitsfrage für obsolet erkläre.⁴²² Im Vorwort zur zweiten Auflage seiner religionspädagogischen Schrift entgegnet er diesbezüglich, „daß im Gegenteil die Wahrheitsfrage in der semiotischen Perspektive nicht suspendiert, sondern verschärft wird, weil der Ausweg über die aufgrund ihrer Bedeutung für die Wahrheit stehenden Symbole ausgeschlossen ist.“⁴²³ Klie fasst die Differenz von Symbol- und Zeichendidaktik wie folgt zusammen: „Die semiotisch-didaktischen
Vgl. Meyer-Blanck 20022: Symbol, 123. Vgl. ebd.; Hervorhebung im Original. A.a.O., 124. A.a.O., 125. Vgl. ebd. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 203 f. A.a.O., 204. Vgl. Dressler/Meyer-Blanck 1998: Religion. – Der Sammelband bietet verschiedene Beiträge zur Religionspädagogik und Semiotik. Vgl. Meyer-Blanck 2001: Semiotik, 104. Vgl. ebd. Vgl. z. B. Biehl 1999: Festsymbole, 14. Meyer-Blanck 20022: Symbol, 8. – Zur Frage nach der Wahrheit im Kontext einer systemtheoretisch-semiotischen Perspektive s.u. 3.1.
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1. Systemtheorie und Semiotik
Begründungen erhellen vor dem Hintergrund eines im weitesten Sinn hermeneutischen Dissenses: Ist ein Symbol selbstevidenter Bedeutungsträger oder kann seine Bedeutung nur jeweils innerhalb bestimmter Diskurse bestimmt werden […]?“⁴²⁴ Im weitesten Sinne sind diese Fragestellungen in einem erkenntnistheoretischen Kontext zu sehen.⁴²⁵ Aus einer im weitesten Sinne erkenntnistheoretischen Perspektive ordnet dann auch Mahling⁴²⁶ in seiner 2010 erschienen Dissertation die Debatte um Symbol- und Zeichendidaktik in der evangelischen Religionspädagogik auf. Als fundamentalen Unterschied zwischen den beiden didaktischen Ansätzen arbeitet er ein differentes Verständnis von Wirklichkeit heraus. Während die Symboldidaktik zu einer metaphysischen Sicht der Wirklichkeit tendiert, liegt der Zeichendidaktik ein kulturtheoretisches und – wie Mahling es bezeichnet – postmodernes Verständnis zu Grunde. Allerdings schließt sich Mahling der unberechtigten Kritik Biehls an dem Entwurf von Meyer-Blanck an, indem er behauptet, dass Theologie und Didaktik in Meyer-Blancks Ansatz auseinander treten, da „die ursprüngliche Einheit von Wirklichkeitsdeutung und Theologie aufgegeben wurde“⁴²⁷. Dass dies den semiotischen Zugang verkennt, hat Meyer-Blanck bereits wiederholt dargelegt. Präziser als Mahling es versucht, wäre das semiotische Wirklichkeitsverständnis über den dreistelligen Zeichenbegriff zu erschließen.
In der Folgezeit weitet Meyer-Blanck, der als einer der wenigen die Gesamtdisziplin der Praktischen Theologie im Blick hat,⁴²⁸ seinen semiotischen Zugang auch auf andere praktisch-theologischen Teildisziplinen aus.⁴²⁹ Und seit Ende der 1990er Jahre erscheinen semiotisch orientierte Publikationen, die die religionspädagogische Praxis in den Blick nehmen.⁴³⁰
Klie 2003: Zeichen, 404. S.u. 3.1. – Das Verhältnis von Phänomenologie, Religionspädagogik und Semiotik nehmen die Beiträge in dem von Klie publizierten Sammelband „Spiegelflächen“ (1999) in den Blick. Mahling 2010: Symboldidaktik. A.a.O., 13 f. In ihrem Studien- und Arbeitsbuch beschreiben Meyer-Blanck und Weyel (2008: Studienund Arbeitsbuch, 47; Hervorhebungen im Original) die gegenwärtige Praktische Theologie als „Wahrnehmungswissenschaft“, die sich durch „semiotische und ästhetische Bezüge“ auszeichnet. Zum semiotischen Zugang der Praktischen Theologie vgl. auch Meyer-Blanck 1997: Ertrag und ders. 2001: Semiotik. In der Liturgik verbindet Meyer-Blanck die semiotische Perspektive mit der Kategorie der Inszenierung (1996: Inszenierung; 1997: Inszenierung), die er später im Kontext der Pastoralästhetik wieder aufgreift (2002: Inszenierung). Für die Seelsorge lotet er u. a. das Potential biblischer Texte aus (1999: Entdecken). Für die Homiletik macht er die Kategorie der Präsenz nutzbar (2010: Präsenz), und in seiner „Gottesdienstlehre“ (2011) verschränkt er die bis dahin getrennt dargestellten Teildisziplinen Liturgik und Homiletik miteinander. Vgl. z. B. Kätsch/Klie 1998: TodesZeichen; Dressler 2002: Religion.
1.2 Semiotische Theorien
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Auf zwei semiotisch orientierte Arbeiten sei an dieser Stelle hingewiesen: In ihrer 2002 publizierten religionsdidaktischen Dissertation analysiert Pfeifer⁴³¹ aus semiotischer Perspektive „[w]ie Kinder [in der Grundschule] Metaphern verstehen“. Vor dem Hintergrund der Zeichentheorien von Peirce und Eco werden Metaphern in ihrer Zeichenhaftigkeit beschrieben und zugleich von dem Verständnis einer „sakramentale[n] Dignität“⁴³² abgegrenzt. Grundlegend ist für Pfeifer die These, „dass Metaphern dem Rezipienten überraschende Wahrnehmungsperspektiven anbieten und sie deshalb zu einer ungewohnten, veränderten Wirklichkeitsdeutung führen können“⁴³³. Ein breit angelegter empirischer Teil, der zwei qualitative Studienreihen auswertet, schließt die Untersuchung ab. Am Berliner Institut für Rehabilitationswissenschaften ist die 2004 erschienene Dissertation von der Religions- und Hörgeschädigtenpädagogin Speier-Musahl⁴³⁴ entstanden, die „[s]emiotische Grundlagen für den Religionsunterricht mit hörgeschädigten Menschen“ bietet. Die Autorin geht von „Kommunikationsproblemen zwischen Menschen“ aus, um einen konstruktiven Umgang mit „kommunikativen Behinderungserfahrungen“ zu finden und „Kommunikationsprobleme“ als „Chancen für Verständigung“ zu sehen.⁴³⁵ Auf der Suche nach „Sprachen und Kommunikationsformen“, die „religiöse Lernprozesse mit hörgeschädigten Menschen kommunikativ tragen“, entfaltet sie die nicht nur sonderpädagogisch zentrale Einsicht, dass „sprachlich-kommunikative Heterogenität als Grundbedingung von Lehren und Lernen“ gelten kann.⁴³⁶ Im Rekurs auf die Semiotik Ecos kann die „phonozentrische Verengung“⁴³⁷ religiöser Kommunikation auf Verbalsprache aufgebrochen werden. Ein mit Hilfe des Zeichenbegriffs geweiteter Kommunikationsbegriff schließt die mediale Vielfalt der Kommunikationsformen ein. Inhalt und Form religiöser Kommunikation sind nicht voneinander zu trennen, sondern stehen in „dynamischer Wechselwirkung“⁴³⁸ zueinander. Interessant ist diese Untersuchung deshalb, da sie sich mit explizit nicht-verbalsprachlichen Kommunikationsformen auseinandersetzt und sich so in einer kommunikationstheoretischen Weite präsentiert, die in theologischen Arbeiten eher selten begegnet. Die traditionell evangelisch-theologische Konzentration auf das (verbalsprachliche) Wort wird aufgebrochen, relevant werden leib-räumliche Ausdrucksformen. Religiöse Kommunikation ereignet sich in medialer Vielfalt.
Dressler und Klie legen 2002 unter der Überschrift „Zeichenspiele inszenieren“ „Umrisse einer semiotischen Religionsdidaktik“⁴³⁹ vor, die den semiotischen Ansatz nochmals auf den Punkt bringen und bereits den Übergang zur performativen Orientierung markieren.
Pfeifer 2002: Kinder. A.a.O., 10. Ebd. Speier-Musahl 2004: Zeichenvielfalt. Vgl. a.a.O., 12. Vgl. a.a.O., 12 f. Vgl. a.a.O., 14 u.ö. Vgl. a.a.O., 26. Dressler/Klie 2002: Zeichenspiele.
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1. Systemtheorie und Semiotik
Am Beispiel einer Unterrichtsstunde zu Kohelet zeigen die Autoren „Fremdheit […] als Voraussetzung religiösen Lernens“.⁴⁴⁰ Inszeniert wird ein unterrichtliches „Deutungsspiel“, in dem der Rezeptionsprozess zur „didaktisch bestimmenden Größe“ wird:⁴⁴¹ „Es geht darum, in einem methodisch kontrollierten Verfahren die intentio lectoris, die Lektürestrategie(n) des Lesers unterrichtlich zum Ausdruck zu bringen.“⁴⁴² Ähnlich der semiotischen Homiletik zeichnet sich die pädagogische Erschließungsfigur durch die „aktive Rolle der Rezipienten“⁴⁴³ aus. In einem ergebnisoffen angelegten Unterricht erschließen sich die Inhalte in usu. Mehrdeutigkeit ist gezielt in Szene zu setzen, verschiedene Lesarten zu erzeugen. Zugrunde liegt ein „lerntheoretisches Konzept, das Lernen als einen höchst aktiven und sinnproduktiven Prozess begreift“⁴⁴⁴, und bereits deutlich auf Performanz hin zu verstehen ist: „Didaktisch wie semiotisch stellen sich Inhaltsfragen als Inszenierungsfragen.“⁴⁴⁵ Es geht im Religionsunterricht darum, „Zeichen in Szene zu setzen“: „Das Proprium einer semiotischen Zugangsweise besteht darin, Religion in Funktionszusammenhängen, mithin als System religiöser Zeichen unterrichtlich zur Darstellung zu bringen.“⁴⁴⁶ Wirklichkeit ist hierbei nicht hinter den Zeichen zu suchen, sondern im Zeichen als Zeichen. Theoriegeschichtlich stellt die semiotisch orientierte Religionspädagogik eine der Traditionsstränge der performativen Religionspädagogik dar,⁴⁴⁷ die die Fachdiskussion seit einigen Jahren prägt und eine ausschließlich semiotisch orientierte Zugangsweise ablöst: „Die Performative Religionsdidaktik wird derzeit in Theorie und Praxis breit rezipiert.“⁴⁴⁸ Der performativ turn der Kulturwissenschaften ist damit in der religionspädagogischen Theorie und Praxis angekommen.⁴⁴⁹ Dabei steht „performativ“ im weitesten Sinne „für einen breite Palette unterrichtlicher
A.a.O., 90. Vgl. a.a.O., 91. Ebd.; Kursivierung im Original. A.a.O., 93; im Original hervorgehoben. A.a.O., 94; Hervorhebung im Original. Ebd.; Hervorhebung im Original. A.a.O., 96. Klie und Dressler (2008: Performative Religionspädagogik) konstatieren eine „semiotische Grundfigur hinter dem Performanzgedanken“. Vgl. auch Leonhard/Klie 2008: Ästhetik, 11 f. Klie/Dressler 2008: Performative Religionspädagogik, 225. – Der Aufsatz bietet die Rezeption und Diskussion von 2002– 2008. Vgl. Klie 2007: Religion.
1.2 Semiotische Theorien
169
Zeige-Handlungen“,⁴⁵⁰ allerdings wird der Performanz-Begriff je nach Entwurf etwas anders verstanden. Die Aufsatzsammlung „Schauplatz Religion“ – 2003 herausgegeben von Klie und Leonhard⁴⁵¹ und 2006 bereits in zweiter Auflage erschienen – nimmt religiöse Lernprozesse aus dramaturgischer Perspektive als ein performatives Geschehen wahr und bietet erstmals „Grundzüge einer Performativen Religionspädagogik“. Die einzelnen Beiträgen näheren sich dem Thema aus didaktischer und liturgischer Richtung, erproben phänomenologische, raumtheoretische und rezeptionsästhetische Sichtweisen um Unterricht als performance, als Inszenierung von Leib und Raum zu beschreiben. Beispiele aus der unterrichtlichen Praxis schließen den Band ab. „Schauplatz Religion“ wurde breit rezipiert und diskutiert. 2008 erscheint als Folgeband die Aufsatzsammlung „Performative Religionsdidaktik“.⁴⁵²
Performative Religionsdidaktik geht von folgender These aus: „Um Religion zu lernen und zu lernen zu geben, muss man auf das schauen, was sich religiös äußert. […] Man muss auf das schauen, was sich performiert, in Erscheinung tritt, sich zeigt.“⁴⁵³ Deshalb geht es im performativen Unterricht um „leib-räumliche Deutungsakte“⁴⁵⁴, um ein Probehandeln und Probedenken in einem vom „LehrerRegisseur“⁴⁵⁵ inszenierten Lernraum. Es wird zu einem „Weltbetrachtungsexperiment eingeladen [, …] sich selbst und die Welt […] probeweise unter die Hypothese zu stellen: etsi deus daretur“.⁴⁵⁶ Der experimentelle Aufenthalt in den unterrichtlich inszenierten Zeichenräumen des Christentums ermöglicht es den Schülern eine Deutungskompetenz entwickeln. Inhalte ergeben sich in usu: „Vor dem Unterricht gibt es Gegenstände – erst und nur in, mit und unter dem Unterricht ergeben sich dann (gelingendenfalls) auch Inhalte.“⁴⁵⁷ Ähnlich der semiotisch orientierten Liturgik⁴⁵⁸ und Homiletik⁴⁵⁹ impliziert eine performative Sinnsicht also eine rezeptionsorientierte Hermeneutik. Außerdem bietet sich ähnlich der Liturgik auch für die Religionspädagogik der Rückgriff auf die Theatermetapher⁴⁶⁰ bzw. den Inszenierungs-Begriff ⁴⁶¹ an. Damit
Klie/Dressler 2008: Performative Religionspädagogik, 225. Klie/Leonhard 2003: Schauplatz. Klie/Leonhard 2008: Performative Religionsdidaktik. Leonhard/Klie 2008: Ästhetik, 11; Hervorhebung im Original. Dressler/Klie 2008: Performanz, 218. A.a.O., 223. A.a.O., 221; Kursivierung im Original. Klie/Dressler 2008: Performative Religionspädagogik, 230; Hervorhebungen im Original. S.o. 1.2.2.1. S.o. 1.2.2.2. Vgl. z. B. Klie/Dressler 2008: Performative Religionspädagogik, 229.
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1. Systemtheorie und Semiotik
kommen – ähnlich wie es Bieritz für die Liturgik zeigt⁴⁶² – leib-räumliche Dimensionen in den Blick, „ohne die Performanz didaktisch weder denkbar noch operationalisierbar ist: Körper, Raum, Sprache, Liturgie, Text und Kunst.“⁴⁶³ Aufgrund dieser Parallelen zur semiotisch orientierten Homiletik und Liturgik ergibt sich aus dem semiotischen Zugang der Religionspädagogik für die Poimenik ein analoger Ertrag wie aus den anderen beiden praktisch-theologischen Teildisziplinen. Ähnlich der semiotischen Homiletik legt sich beim Einspielen von (christlichen) Kommunikationsformen eine semiotisch-rezeptionsästhetische Sicht nahe. In der semiotischen Religionsdidaktik geht es im weitesten Sinne um einen konstruktivistischen Zugang, der das seinsförmig gedeutete Symbol zugunsten eines interpretationsabhängigen Zeichens kritisiert. In der unterrichtlichen Kommunikation eröffnen sich wie in jedem Kommunikationsgeschehen, Zeichenprozesse bzw. Deutungsprozesse. Die grundsätzliche Zeichenhaftigkeit religiöser Rede bzw. Kommunikation öffnet die Praktischen Theologie – und damit auch die Poimenik – für kommunikationstheoretische Zugänge. Ähnlich der semiotischen Liturgik ergibt sich auch aus den zeichentheoretischen Zugängen in der Religionspädagogik für diese eine verstärkte Aufmerksamkeit für leib-räumliche Formen, die theoretisch mit dem Performanz- bzw. Inszenierungsbegriff eingeholt werden. Dies verweist auch die Poimenik darauf, dass ein semiotischer Zugang zu Fragen nach der Performanz des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens führt. Auch in der Seelsorge geht es um Inszenierung, es geht darum, das in Szene zu setzen, was Seelsorge für die Beteiligten zur Seelsorge macht. Ähnlich einer Unterrichtsstunde performiert sich Seelsorge als ein ausgegrenzter Zeit-Raum, in dem Probehandeln und Probedenken als „Weltbetrachtungsexperiment“⁴⁶⁴ möglich wird. Der Seelsorgepartner kann sich selbst, die eigene Lebensgeschichte unter der Perspektive etsi deus daretur betrachten. Methodisch könnte dies z. B. im Rückgriff auf systemtherapeutische Fragen zur Wirklichkeits- und Möglichkeitskonstruktion eingeholt werden: „Was wäre, wenn Gott Sie hier so sehen würde?“⁴⁶⁵
Vgl. z. B. Leonhard/Klie 2008: Ästhetik, 10. Bieritz 2004: Liturgik, 45 f; s.o. 1.2.2.1. Leonhard/Klie 2008: Ästhetik, 19; Hervorhebungen im Original. Dressler/Klie 2008: Performanz, 221. S.o. 1.1.3.1.
1.2 Semiotische Theorien
171
1.2.2.4 Fazit: Ecosche Semiotik und die Praktische Theologie Im Durchgang durch die praktisch-theologische Rezeption semiotischer Theorien hat sich gezeigt, dass die Reihenfolge in der Ecos Zeichentheorie chronologisch in den einzelnen Teildisziplinen aufgenommen wurde, im weitesten Sinne den Schaffensphasen der Ecoschen Theorie⁴⁶⁶ entspricht. Die Liturgik ist anfangs durch die strukturale Semiotik bestimmt, die Homiletik setzt bei rezeptionsästhetischen Fragen an, und die Religionspädagogik erprobt eine kommunikationstheoretische Sichtweise, die von Beginn an mit erkenntnistheoretischen Fragen einhergeht. Im Fortgang öffnet sich jede der Disziplinen für weiterführende Zugänge. Nachdem in der Liturgik der Strukturbegriff einer Kritik unterzogen wurde, richtet sich das Interesse aus kultur- und kommunikationstheoretischer Sicht auf die leib-räumlichen Formen des vieldimensionalen gottesdienstlichen Kommunikationsgeschehens, das dann im Rückgriff auf die Theatermetapher als performatives Geschehen beschrieben wird. Auch die Homiletik macht ausgehend von der Rezeptionsästhetik die Ecosche Kultur- und Kommunikationstheorie für sich nutzbar, indem sie die Predigtarbeit und das Predigtgeschehen als Zeichenprozess versteht: Mehrdeutigkeiten sind taktisch in Szene zu setzen. Außerdem sind hier bereits Abgrenzungen vom dekonstruktivistischen Zugang zu beobachten. Die beim semiotischen Zeichenbegriff ansetzende Religionspädagogik geht von Beginn an auf im weitesten Sinne erkenntnistheoretische Fragestellungen ein. In dieser Teildisziplin wird die Affinität der Ecoschen Semiotik zur Performativität am deutlichsten, da die semiotische Religionsdidaktik weitestgehend von einer performativen Religionsdidaktik abgelöst wurde. Im Vergleich mit der praktisch-theologischen Rezeption systemischen Denkens und der Systemtheorie Luhmanns,⁴⁶⁷ fällt zweierlei auf: Zum einen greifen die semiotisch orientierten Entwürfe auf zeichentheoretische Primärliteratur zurück, zum anderen gehen die semiotischen Impulse in den einzelnen praktischtheologischen Teildisziplinen nicht in der Breite von wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten aus. Die Aufnahme zeichentheoretischer Orientierungen findet ihren Niederschlag neben Habilitationen und Dissertationen in ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Publikationen wie Arbeits- und Lehrbüchern, Antrittsvorlesungen, paradigmatischen Schriften und Sammelbänden, die das Entstehen zeichentheoretisch orientierter Denkansätze im Kontext der jeweiligen Fachdiskussion dokumentieren. Diese breit gefächerte Aufnahme bei meist theoretischer Konsistenz mag daran liegen, dass das Werk Ecos – zumindest in
S.o. 1.2.1. S.o. 1.1.2.
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1. Systemtheorie und Semiotik
seiner rezeptionsästhetischen und semiotischen Ausarbeitung – auch für semiotisch weniger Versierte gut erschlossen ist – oder mit den Worten Luhmanns: dass der „Flug über die Wolken“ mit einer nicht ganz „geschlossenen Wolkendecke zu rechnen“ hat,⁴⁶⁸ wie er in Bezug auf die Systemtheorie zu erwarten ist. Insgesamt kann insofern von einer „erfolgreichen“ Rezeption der Semiotik in dem Sinne gesprochen werden, als von der Aufnahme zeichentheoretischer Elemente nachhaltige Impulse in den jeweiligen Fachdiskursen ausgelöst wurden und sich unter einem im weitesten Sinne ästhetischen Paradigma zeichentheoretisch orientierte Ansätze herausgebildet haben, die sich im weiteren Verlauf in Theorie und Praxis etablierten. Damit ist – anders als in den systemtheoretisch und systemisch orientierten Ansätzen ⁴⁶⁹ – mit dem semiotischen Zugang der praktisch-theologische Paradigmawechsel vom empirischen zum ästhetischen Paradigma vollzogen. Der semiotische Ansatz steht „für das Bemühen der neueren Praktischen Theologie, den Gegensatz zwischen Orientierung an der theologischen ‚Sache‘ (so die dialektisch-theologisch bestimmte Praktische Theologie) und der Orientierung an den Personen (so etwa der pastoralpsychologische Ansatz) zu überwinden zugunsten der Betrachtung von Personen, die der Sache des Evangeliums in Zeichen gewiss werden.“⁴⁷⁰ Dabei wird die kulturell angelegte Zeichentheorie Ecos von Beginn ihrer Rezeption an unter erkenntnistheoretischen Fragestellungen wahrgenommen. Das zeigt sich zum einen an der Rolle, die dem Rezipienten als Deutungsinstanz im gottesdienstlichen und unterrichtlichen Kommunikationsgeschehen zugeschrieben wird, zum anderen daran, dass auf den Peirceschen Ansatz gerade wegen seines „semiotischen Realismus’“⁴⁷¹ und damit erkenntnistheoretischen Unterschieds zu Eco rekurriert wird.⁴⁷² In diesem Zusammenhang ist auch die Auseinandersetzung um den Vorwurf der Suspendierung der Wahrheitsfrage zu verorten. Der Rekurs auf die Theorie Ecos nimmt religiöse Rede als Kommunikation unter der Bedingung von kultureller Konventionalität wahr. Für die „Praktische Theologie als Hermeneutik christlicher Praxis“⁴⁷³ bietet sich die Semiotik gerade deshalb als „geeigneter Theoriezugriff an[…], weil in ihr normative Sätze […] sehr nüchtern als Kommunikationsphänomene beschrieben werden können, während umgekehrt kein Zeichenprozess ohne ihn normierende Codes überhaupt funktioniert. Die Zeichentheorie integriert die Betrachtung von Bedeutung (‚Seman-
Vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 13. S.o. 1.1.2.7. Meyer-Blanck 2011: Gottesdienstlehre, 22. Vetter 2002: Verständigung. Vgl. z. B. Vetter 1999: Zeichen. Meyer-Blanck/Weyel 2008: Studien- und Arbeitsbuch, 47 f.
1.2 Semiotische Theorien
173
tik‘), Form (‚Syntaktik‘) und interagierenden Personen (‚Pragmatik‘) und ist so von ihrem eigenen Tun noch einmal selbst reflexiv unterschieden.“⁴⁷⁴ Unter den semiotisch ansetzenden Praktischen Theologen haben Meyer-Blanck,⁴⁷⁵ Engemann⁴⁷⁶ und v. a. Klie⁴⁷⁷ die Praktische Theologie als Ganze im Blick. Letzterer macht im Rückgriff auf Spiel- und Zeichentheorie die theoretische Integration der einzelnen praktisch-theologischen Teildisziplinen zum grundlegenden Ansatz seiner 2003 veröffentlichten Habilitationsschrift „Zeichen und Spiel“, in der er mit Liturgik, Homiletik, Poimenik und Religionspädagogik die „vier wesentlichen Handlungsfelder der pastoralen Praxis“⁴⁷⁸ aus semiotischer und spieltheoretischer Perspektive rekonstruiert: „Die einzelnen Tätigkeitssegmente […] werden unter einem konsistenten Theorierahmen erfaßt und als unterschiedlich formatierte Zeichenspiele einander neu zugeordnet. Der für die Praktische Theologie übliche Rekurs auf außertheologische Theoriekonstrukte erfolgt hier also, anders als in den Zeiten der ‚empirischen Wendung‘, mit dem Ziel, die eher noch weiter auseinanderdriftenden teildisziplinären Diskurse wieder zu integrieren, um sie füreinander durchlässig zu halten.“⁴⁷⁹ So werden disziplinübergreifende Diskurse möglich, die auch die Teildisziplinen, die bislang noch nicht unter semiotischer Perspektive rekonstruiert wurden, für eine zeichentheoretische Sichtweise erschließen. Zu den bisher semiotisch kaum reflektierten Teildisziplinen der Praktischen Theologie gehören die Kirchen- bzw. Gemeindetheorie, Publizistik, Pastoraltheologie, Diakonik und – als eines der „vier wesentlichen Handlungsfelder der pastoralen Praxis“⁴⁸⁰ – die Poimenik. Die Kybernetik hält sich einer semiotischen Zugangsweise bis jetzt ganz verschlossen. In den Aufordnungen der praktisch-theologischen Rezeption der Se-
A.a.O., 48. Meyer-Blanck (1997: Ertrag; 2001: Semiotik) und Meyer-Blanck/Weyel (1999: Arbeitsbuch). Letzteres ist 2008 in neuer Fassung als „Studien- und Arbeitsbuch Praktische Theologie“ erschienen (dies. 2008: Studien- und Arbeitsbuch). Da die Erstauflage das Spezifikum eines im weitesten Sinne semiotischen Zugangs zur Praktischen Theologie profilierter hervortreten lässt, wird in der vorliegenden Arbeit an den entsprechenden Stellen auf die Erstauflage zurückgegriffen. Engemann (2003: Zeichen, 212; Hervorhebung im Original) plädiert dafür, die „‚semiotische Kehrseite‘ der Grundlagen und Ansätze Praktischer Theologie umfassend“ aufzuarbeiten. Klie 2003: Zeichen. Vgl. a.a.O., 234 ff. A.a.O., 16; Hervorhebung im Original. Vgl. a.a.O., 234 ff.
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1. Systemtheorie und Semiotik
miotik wird diese Teildisziplin nicht einmal erwähnt.⁴⁸¹ Lediglich Engemann⁴⁸² beschließt den TRE-Artikel zur Semiotik in der Praktischen Theologie mit einem Ausblick auf den Gemeindeaufbau, bei dem es „um die Analyse und Gestaltung komplexer Kommunikationsstrukturen geht.“⁴⁸³ In den Blick kommt „[d]er pluriforme Umgang mit dem Gesamtrepertoire christlicher Zeichen in Gottesdienst, Unterricht, Bibelstunde, Gemeindetag usw.“⁴⁸⁴ Im Deutungsprozess der Gemeinde kann Alltägliches zum „Signifikanten des Reiches Gottes werden“.⁴⁸⁵ Auch für die Publizistik liegen bislang keine semiotisch orientierten Entwürfe vor, obwohl sich gerade diese noch verhältnismäßig junge Teildisziplin für einen kultur- und kommunikationstheoretischen Ansatz anböte, reflektiert sie doch die massenmediale Kommunikationsprozesse. In den Kommunikationsmedien Schrift, Radio, Fernsehen und Internet werden Zeichenprozesse initiiert, um etwas darzustellen und zu zeigen. Außerdem haben sich von Seiten der Semiotik bereits „zahlreiche Spezialsemiotiken“ herausgebildet – u. a. eine Bildsemiotik, die hinsichtlich der Bedeutung visueller Medien Aufmerksamkeit verdient⁴⁸⁶ –, an die ertragreich angeschlossen werden könnte. Auch Eco schließt die Massenkommunikation in das semiotische Feld mit ein⁴⁸⁷ und entwirft eine „Semiotik der visuellen Codes“, in dessen Rahmen er z. B. Film und Werbung analysiert.⁴⁸⁸ Gerade im Kontext der „globalen Mediengesellschaft der Gegenwart“⁴⁸⁹ legt sich ein theoretischer Zugang nahe, der Kommunikation als alle sozialen Bereiche umfassend in den Blick nimmt. An dieser Stelle bieten sich darüber hinaus Bezüge auf die Systemtheorie Luhmanns und dessen Schrift „Die Realität der Massenmedien“⁴⁹⁰ an. Dies könnte im Anschluss an Thomé⁴⁹¹ geschehen, der bereits in seiner 1991 erschienenen Dissertation konstatiert, dass sich die Semiotik als Kommunikationstheorie in der Medientheorie bewährt hat.
Vgl. Meyer-Blanck (1997: Ertrag; 2001: Semiotik) und Vetter (2002: Theologie, 117 ff; 2002: Verständigung). Gleiches gilt für Klies (2003: Zeichen) zeichen- und spieltheoretische Rekonstruktion der Pastoraltheologie. Engemann 2000: Semiotik, 141. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Burkhardt 2000: Semiotik, 132. Vgl. Eco 19912: Semiotik, 34 f. Vgl. Eco 19948: Einführung, 197 ff. Burkhardt 2000: Semiotik, 132. Luhmann 19962: Realität. Thomé 1991: Gottesdienst.
1.2 Semiotische Theorien
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Die Pastoraltheologie im weitesten Sinne hat Klie⁴⁹² mit seiner „semiotischen und spieltheoretischen Rekonstruktion“ im Blick. Lag die Aufgabe der Integration der sog. praktisch-theologischen „Handlungsfelder“ lange beim Subjekt, das für die sich immer weiter ausdifferenzierenden Teildisziplinen spezifische professionsspezifische Kompetenzen auszubilden hatte, bietet die Untersuchung Klies entgegen weiterer Spezialisierungen den Entwurf einer theoretischen Integration. Meyer-Blanck bietet unter dem Stichwort „Pastoralästhetik“ eine semiotische Perspektive auf den „pastoralen Beruf“, der „nicht nur, aber doch wesentlich eine Form ästhetischer Praxis“⁴⁹³ ist. „Aufgabe des Pfarrers/der Pfarrerin ist es, Religion zu kommunizieren, mitzuteilen und darzustellen.“⁴⁹⁴ Für die pastorale Professionalität veranschlagt Meyer-Blanck die beiden Kategorien Inszenierung und Präsenz. Eine evangelische pastoraltheologische Ästhetik hat in semiotischer Perspektive die Rolle (Person bzw. Form) von der Religion (Inhalt) zu unterscheiden: „Wenn aber zeichentheoretisch gilt, dass der Rollenträger zum Zeichenträger (Signifikant) wird, dann ist er selbst nicht die Bedeutung (Signifikat). Die Bedeutung gibt es nur vermittelt durch ihn – das macht die Aufgabe so reizvoll und so schwierig zugleich. Aber er ist nicht die Bedeutung, weil sich diese zuallererst im Zeichenprozess für die Rezipienten erschließt.“⁴⁹⁵ Dies gilt sowohl für gottesdienstliche, unterrichtliche als auch für seelsorgliche Kommunikationsprozesse. Für die Diakonik liegen bislang keine relevanten Bezugnahmen auf die Semiotik vor. Der auf Peirce rekurrierende semiotische Versuch von Pausch,⁴⁹⁶ diakonisches Handeln zeichentheoretisch zu deutet, bleibt eklektisch und engt den Zeichenbegriff vorschnell auf einen – semiotisch nicht fassbaren – Signifikanten ein. Diakonisches Handeln wird als wesentliches, nonverbales Zeichen für die „unerschöpflich schöpferische Liebe Gottes“⁴⁹⁷ gedeutet, was die Semiotik vortheoretisch kurzschließt. Auch die Interpretation der unendlichen Semiose auf den Wandel der Diakonie hin, wirft Fragen auf. In der Poimenik liegen zwar bereits sozio-linguistische Analysen von Geburtstagsbesuchen,⁴⁹⁸ Seelsorgegesprächen im Gefängnis⁴⁹⁹ sowie – ganz ähnlich
Klie 2003: Zeichen. Meyer-Blanck 2002: Inszenierung, 122. Ebd. A.a.O., 125; Hervorhebungen im Original. Pausch 1999: Zeichen. A.a.O., 447. Hauschildt 1996: Alltagsseelsorge. Günther 2005: Seelsorge.
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1. Systemtheorie und Semiotik
linguistisch orientiert – eine rhetorische Analyse seelsorglicher Prozesse⁵⁰⁰ vor, explizit semiotische Bezugnamen stehen bislang jedoch noch aus. Folgt man Klie, so mag dies epistemologische und rezeptionshistorische Gründe haben.⁵⁰¹ Die tiefenpsychologische Orientierung verhinderte die Weitung für eine semiotische Herangehensweise, und selbst die dem systemischen Denken nahestehenden Ansätze systemischer Seelsorge sind weitestgehend noch immer im empirischen Paradigma verhaftet.⁵⁰² Auch die Möglichkeiten poimenischer Rezeption semiotischer Theorien, die bereits wiederholt in verschiedenen Zusammenhängen aufgezeigt wurden,⁵⁰³ sind bislang nicht explizit zur Ausführung gebracht worden. So fragt z. B. MeyerBlanck – ausgehend von den semiotisch-rezeptionsästhetischen Einsichten der Homiletik – nach dem Verkündigungspotential der Seelsorge. In diesem Zusammenhang könnte auch die Kategorie des „Bruchs“ (Thurneysen) rezeptionsästhetisch als „Perspektivenwechsel“⁵⁰⁴ reformuliert werden.⁵⁰⁵ In diesem Zusammenhang stellt sich unter semiotischer Perspektive auch wieder die Frage nach biblischen Inhalten in der Seelsorge, auf die bereits Bukowski in seiner Schrift „Die Bibel ins Gespräch bringen“⁵⁰⁶ eingeht. Bukowskis These kann semiotisch verstanden werden: „[D]ie biblischen Texte dienen nicht dem Begrenzen und Abschließen der Semiose, sondern deren Fortgang“.⁵⁰⁷ Aus semiotischer Sicht sind poimenisch „neue Chancen für die Bibel im Seelsorgegespräch“ auszuloten und seelsorglich biblische Texte als Entdeckungspotential in die Kommunikation einzubringen.⁵⁰⁸ Und nicht zuletzt führt eine zeichentheoretische Orientierung zu einer „semiotische[n] Kritik an der therapeutischen Seelsorge“⁵⁰⁹ und deren defizitären Ansatz: Es wird obsolet, ein „Deutungsmonopol“ des analytisch ausgebildeten Therapeuten anzunehmen, der den „Geheimcode“ der Klientenaussagen entschlüsselt. Denn semiotisch betrachtet werden „Codes als wechselnde, personen- und situationsabhängige Vereinbarungen [angesehen], bei denen die Schlüsselgewalt nicht einseitig verteilt ist.“⁵¹⁰
Kohler 2006: Absicht. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 348. S.o. 1.1.3.3. V. a. von Meyer-Blanck (1997: Ertrag, 204 ff; 1999: Entdecken; 2001: Semiotik, 106 f) und Klie (2003: Zeichen, 348 ff). Meyer-Blanck 1999: Entdecken, 30. S.u. 3.2.2.2.2. Bukowski 19952: Bibel. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 206. Vgl. Meyer-Blanck 1999: Entdecken. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 206. A.a.O., 207.
1.2 Semiotische Theorien
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Neben Meyer-Blanck weist Klie auf einen interdisziplinären Abgleich der Poimenik mit der Homiletik hin: „Versteht man Predigtvollzug und poimenisches Geschehen gleichermaßen als Wort- und Deutungsspiele, dann ergibt sich […] eine ganze Reihe von Konvergenzen zwischen den sonst eher distinkten Diskursen.“⁵¹¹ Beide Teildisziplinen reflektieren an Deutungsinstanzen gebundene Verstehensprozesse, in deren vielschichtigen Interpretationsvorgängen sich Inhalt performiert. „Es geht also prinzipiell darum, einander Deutungen zuzuspielen, die beim Gegenüber an Glaubensvorstellungen anknüpfen bzw. dazu beitragen, sie anzuregen oder zu bekräftigen.“⁵¹² Hier ergeben sich für eine semiotisch orientierte Poimenik auch Anschlüsse an die anderen zeichentheoretisch rekonstruierten Teildisziplinen Liturgik und Religionspädagogik. Ebenso wie die Liturgik reflektiert die Poimenik ein vieldimensionales Kommunikationsgeschehen, in dem leib-räumliche Formen eine Rolle spielen. In diesem Zusammenhang – darauf macht Meyer-Blanck aufmerksam – wäre auch die nonverbale Kommunikation im Seelsorgegespräch „ohne psychologisierende Engführungen“⁵¹³ semiotisch in den Blick zu nehmen. Und ähnlich der semiotisch-performativen Religionsdidaktik stellen sich hinsichtlich des seelsorglichen Geschehens Fragen nach der Performativität. Denn aus zeichentheoretischer Perspektive geht im vieldimensionalen seelsorglichen Kommunikationsgeschehens darum, Religion zu zeigen. Im abgleichenden Gespräch mit den semiotisch, systemtheoretisch und systemisch orientierten Teildisziplinen der Praktischen Theologie (Kapitel 1) kann die Poimenik nun die jeweiligen Erträge auf ihren eigenen Gegenstand beziehen und für ihre Fragestellungen nutzbar machen (Kapitel 2– 4). Die pragmatische Kombination von Elementen der Semiotik Ecos sowie der Systemtheorie Luhmanns nimmt dabei beide Theoriezugriffe poimenisch in Anspruch und verspricht eine theoretisch konsistente, sowie analytisch präzise Perspektive auf das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen, die zudem die immer weiter fortschreitende Ausdifferenzierung in Spezialseelsorgekonzepte⁵¹⁴ unter einem einheitlichen Theoriehorizont integriert. Die kritische Aufordnung der praktisch-theologischen Rezeption von systemischen, systemtheoretischen und semiotischen Theorien hat für die Poimenik bereits verschiedene Anschlüsse ergeben. Außerdem liegen innerhalb der aktu-
Klie 2003: Zeichen, 458. A.a.O., 459. Meyer-Blanck 2001: Semiotik, 107. S.u. Einleitung zu Kapitel 2.
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1. Systemtheorie und Semiotik
ellen Theoriediskussion seit Beginn des 21. Jhs. Ansätze vor, die die Kombinationen von System- und Zeichentheorie erproben.⁵¹⁵ Auch innerhalb der Praktischen Theologie zeigt Klie ausgehend von Morgenthalers systemischer Seelsorge Anknüpfungspunkte und Weiterführungen hinsichtlich einer semiotischen Rekonstruktion von Poimenik auf.⁵¹⁶ Diese Rezeptionsstränge sind im Folgenden aufzunehmen, theoretisch weiterzuführen und poimenisch zuzuspitzen.
S.u. Einleitung zu Kapitel 3. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 348 ff.
2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“ Nachdem im ersten Kapitel die praktisch-theologische Ausgangsperspektive bestimmt und die Rezeption von Semiotik und Luhmannscher Systemtheorie bzw. systemischem Denken in der Praktischen Theologie forschungsgeschichtlich aufgeordnet wurde, geht es im zweiten Kapitel nun darum, das spezifisch poimenische Feld zu bestimmen. Hierzu bietet sich Luthers prägnante Formulierung per mutuum colloquium et consolationem fratrum aus den Schmalkaldischen Artikeln an, die in der Poimenik bereits unter verschiedenen Perspektiven rezipiert wurde.¹ Anhand einer knappen Exegese der Lutherschen Formel ist das poimenische Feld aufzuspannen und mittels der kategorialen Bestimmungen, die sich in der Analyse zeigen, so zu markieren, dass der spezifische Gegenstandsbereich der Untersuchung terminologisch und theologisch abgesteckt wird. Damit konstruiert die Poimenik in der vorliegenden Studie ihren Gegenstand von Luthers Formel her. Das heißt, für die theoretische Reflexion der Seelsorge fungiert die Formel als theologische Rahmung. Der Anspruch, der damit sowohl in diesem wie auch im nächsten Kapitel, das sich im Anschluss an die folgenden Überlegungen weiter auf der Theorieebene bewegt, erhoben wird, ist ein fundamentalpoimenischer. Ziel ist es, ein poimenisches „Wahrnehmungsmodell“ zu entwerfen, mit dem möglichst jede seelsorgliche Kommunikationssituation analysiert und beschrieben werden kann. Es ist der Versuch, die zunehmende Ausdifferenzierung der Poimenik in Spezialseelsorgekonzepte² an eine allgemeine Henkys (1970: Seelsorge, 7 ff) unterscheidet zwischen einer Rezeption mit „definierender“ Funktion (K. Barth, E. Lange; E. Thurneysen, H.-O. Wölber) und dem Bezug auf die Formel, um einen bestimmten Aspekt des eigenen poimenischen Konzepts zu „verstärken“: Mit der Fraternität wird die Laienseelsorge begründet, mit dem mutuum colloquium sowohl die Wechselseitigkeit als auch die Form des Gesprächs und mit der consolatio eine Seelsorge als Trost. – Der Blick auf die neuere Seelsorgeliteratur ergibt, dass Luthers Formel durchgehend in diesem zweiten, eklektischen Sinne gebraucht wird; vgl. z. B. Schmidt-Rost (1988: Seelsorge, 13), Karle (1996: Seelsorge, 224), Winkler (20002: Seelsorge, 281 und 525), Ziemer (20042: Seelsorgelehre, 111 und 155). Am ehesten wird Luthers Formel noch für Tackes (1975: Glaubenshilfe) parakletisches Verständnis von Seelsorge zu einem Strukturprinzip. – Insgesamt fällt auf, dass Luthers Formel in der Seelsorge zwar häufig angeführt wird, sie jedoch nicht explizit als Rahmen für das Aufspannen des poimenischen Feldes herangezogen wird, wie es die vorliegende Arbeit versucht. Als Beispiele seien aus der Fülle der Literatur genannt: Vauseweh (2007: Onlineseelsorge) zur Onlineseelsorge, Pechmann (2011: Altenheimseelsorge) zur Altenheimseelsorge, Hoyer (2011: Seelsorge) zur Seelsorge auf dem Land, Harder (2012: Prävention) zur Eheseelsorge, Dietzsch (2013: Schulseelsorge) zur Evangelischen Schulseelsorge, M. Günther (ders./Rühlemann/NoßKolbe 2013: Tod) zur Seelsorge mit trauernden jungen Menschen, Frommann (2013: Verletzte) zur DOI 10.1515/9783110520750-002
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
Theorie rückzubinden und mittels fundamentalpoimenischer Kategorien eine gemeinsame Basis zu schaffen, auf der die unterschiedlichen seelsorglichen Kommunikationssituationen kategorial aufeinander abbildbar werden. Im liturgischen Sprachduktus formuliert, geht es in erster Linie um das „Ordinarium“ der Seelsorge. Das „Proprium“ der Seelsorge wird hingegen von den in einer konkreten Kommunikationssituation aktualisierten frames und Codierungen bestimmt³ – diese Fragestellung wird im mehr auf die seelsorgliche Praxis hin ausgerichteten vierten Kapitel diskutiert. Dort wird es dann v. a. darum gehen, welche konkreten Spielräume die poimenische Theoriebildung dieser Studie für die seelsorgliche Praxis schaffen kann.⁴ Für das zweite Kapitel bietet sich folgender Aufbau an: Zunächst soll die Luthersche Formel in ihrem historischen und textuellen Umfeld verortet werden (2.1). Dies ist deshalb angezeigt, da das umfassende Bedeutungsfeld der knappen, formelhaften Formulierung erst aus ihrem Kontext erhellt und die Poimenik andernfalls Gefahr liefe, die für sie wesentlichen Gesichtspunkte zu übergehen. Vor diesem Hintergrund kann dann im Rückgriff auf die Luthersche Formel das poimenische Feld anhand grundlegender Kategorien aufgespannt werden (2.2).
2.1 Kontextuelle Verortung von Luthers Formel Die Formel per mutuum colloquium et consolationem fratrum steht zusammen mit einem Zitat aus Mt 18 am Ende des Artikels „Vom Evangelio“ in den Schmalkaldischen Artikeln, die 1536 von Martin Luther verfasst werden. Im Folgenden gilt es, kurz die Entstehungssituation und den historischen Kontext der Schmalkaldischen Artikel zu skizzieren, den Ort des Evangeliumsartikels im Textkörper der Schmalkaldischen Artikel zu bestimmen und der Stellung der Formel innerhalb
Seelsorge für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und Menschen im Wachkoma, Theobold (2013: Smalltalk) zur Kurzzeitseelsorge, Well (2013: Ressourcen) zur Seelsorge für Eltern letal erkrankter Kinder und Sadowski (2014: Kirche) zur Notfallseelsorge. Vgl. hierzu die diversen Handbücher, die auf die Spezifika bestimmter seelsorglicher Kommunikationssituationen bzw. poimenischer frames eingehen. Als Beispiele seien aus der Fülle der Literatur genannt: Federschmidt/Hauschildt/Schneider-Harpprecht/Temme/Weiß 2002: Handbuch interkulturelle Seelsorge; Mack 2010: Handbuch Kinderseelsorge; Weiß/Federschmidt/Temme 2010: Handbuch Interreligiöse Seelsorge; Grützner/Gröger/Kiehn/Schiewek 20122: Handbuch Polizeiseelsorge; Breitsameter 2012: Notfallseelsorge; Knatz 2013: Handbuch. Zum zirkulären Wechselverhältnis von Theorie und Praxis s. o. 1.1.2.
2.1 Kontextuelle Verortung von Luthers Formel
181
des Evangeliumsartikels nachzugehen.⁵ Denn erst eine angemessene Einbettung der Formel in ihren Kontext erlaubt es, ihren theoretischen Gehalt für die Poimenik auszuloten. Geht es in diesem Abschnitt (2.1) darum, auf der Ebene des Makrotextes einen Rahmen für die Deutung der Luthersche Formel zu schaffen, so erfolgt die Analyse des Mikrotextes, d. h. der Formel und des ihr zur näheren Erläutung angefügten Zitats aus Mt 18, im nächsten Abschnitts (2.2) und führt dort zugleich mit und über die Luthersche Formel hinaus zum poimenischen Feld. Im Unterschied zur Confessio Augustana oder der Wittenberger Konkordie sind die Schmalkaldischen Artikel nicht das Ergebnis von langen Lehrverhandlungen verschiedener Theologen unterschiedlicher Fraktionen, sondern das eigene Werk von Luther. Obwohl sich Luther während der Abfassung mit anderen Theologen berät, können die Artikel doch als ein bekenntnisförmiges Dokument gelten, das für die Luthersche Theologie charakteristisch ist. Um den Gehalt der hier für die Poimenik relevanten Worte der Formel zu erhellen, kann bei Bedarf demnach auch auf andere, zeitnahe Äußerungen Luthers zurückgegriffen werden. Als Papst Paul III im Juni 1536 für das darauffolgende Jahr ein Konzil nach Mantua einberuft, ist die kirchenpolitische Situation geschaffen, in der Luthers – später so genannten – „Schmalkaldische Artikel“ entstehen:⁶ Der Kurfürst von Sachsen, Johann Friedrich, bittet die Wittenberger Theologen um eine gemeinsame Stellungnahme zum päpstlichen Konzilsausschreiben und wendet sich zusätzlich an Luther, mit der Bitte, eine „Art theologisches Testament“⁷ zu verfassen. Im Dezember 1536 beginnt Luther, die „Artikel, darauf ich stehen muß und stehen will bis in meinen Tod“⁸ in deutscher Sprache aufzuschreiben. Bei seiner Arbeit erleidet er einen Herzinfarkt und diktiert daraufhin seine nun vermeintlich „letzten Worte“ – beginnend mit dem Evangeliumsartikel⁹ – Veit Dieterich und Caspar Cruciger dem Älteren, die an sein Krankenbett herbeieilen. Die fertig gestellten Artikel legt Luther Ende Dezember – ebenfalls auf Wunsch des Kurfürsten – einigen kursächsischen Theologen zur Stellungnahme und Unterschrift vor. Gegenüber dem Kurfürsten unterstreicht Luther die persönliche Verantwortung der von ihm verfassten Glaubensüberzeugung. Als der Schmalkaldische Bund im Februar 1537 die Konzilsfrage berät, nimmt auch Luther teil, muss al-
Für die Exegese der Lutherschen Formel aus ihrem Zusammenhang ist immer noch der Essay von Henkys (1970: Seelsorge) grundlegend. Deshalb greifen die folgenden Ausführungen auf diese hermeneutische Rekonstruktion zurück. Zum historischen Kontext der Schmalkaldischen Artikel (ASm) vgl. die entsprechende Einleitung in BSLK (199812, XXIVff) und die Überblicksdarstellungen von Schwarz (19982: Luther, 238 ff) und Hauschild (20012: Lehrbuch, 380 ff); dort sowie bei Henkys (1970: Seelsorge, 25 Anm. 91) ist weiterführende Literatur angegeben. Vgl. Schwarz 19982: Luther, 238; vgl. BSLK 199812, 409 Anm. 4: Bereits im September 1536 spricht Altkanzler Brück von Luthers „Testament“. BSLK 199812, 462, 5 f. Vgl. a.a.O., 449, 5.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
lerdings wegen erneuter Krankheit – diesmal ein Harnsteinleiden – vorzeitig abreisen. Aus kirchenpolitischen Gründen werden in Schmalkalden nur die Confessio Augustana mit Melanchthons Apologie und dessen „Tractatus de potestate et primatu papae“ den Theologen zur Unterschrift vorgelegt. Luthers Artikel spielen auf dieser Tagung hingegen keine offizielle Rolle. Sie werden als Luthers persönliche Schrift betrachtet und nur inoffiziell von einigen Theologen unterschrieben.¹⁰ Als Paul III das ausgeschriebene Konzil erneut hinausschiebt – letztlich findet es erst 1545 in Trient statt –,versieht Luther die Artikel mit einigen Zusätzen und lässt sie im Frühjahr 1538 ohne die Unterschriftenliste drucken. In der Vorrede zum Druck stellt Luther die Artikel seinem Bekenntnis von 1528 („Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis“) an die Seite.¹¹ Seit 1554, also erst nach Luthers Tod (1546),werden die Artikel am thüringischen Hof der Ernestiner als „Schmalkaldische Artikel“ bezeichnet. Später werden sie in den Rang einer offiziellen Bekenntnisschrift erhoben und ins Konkordienbuch (1580) aufgenommen.
Der Text der Schmalkaldischen Artikel ist ursprünglich auf Deutsch abgefasst. Deshalb legt die vorliegende Untersuchung den deutschen Text, wie er in den Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche zu finden ist, als Primärquelle zu Grunde.¹² Latein begegnet in den Artikeln außer in einigen wenigen Fachtermini oder Zitaten, die als solche kenntlich gemacht sind, eher selten,¹³ und auch Schriftzitate sind meist auf Deutsch. In diesem Kontext hebt sich die Formulierung per mutuum colloquium et consolationem fratrum mit dem ihr folgenden Mt-Zitat, das ebenfalls auf Latein ist, ab. Die Worte wirken formelhaft, beinahe wie eine feststehende Wendung – ein Aspekt, der in der Analyse des Mikrotextes zu berücksichtigen sein wird.¹⁴ Die Originalschrift (O), niedergeschrieben von Luther selbst und zwei weiteren Schreibern, die kurz darauf von Spalatin angefertigte Abschrift (Sp) des Textes mit den Unterschriften und der erste Druck 1538 der Artikel (A) sind auf Deutsch – eine neue, ziemlich unveränderte Auflage erscheint zusammen mit drei anderen, kleinen Schriften Luthers 1543 (D). Erst 1541 übersetzt der Däne Generanus die Artikel ins Lateinische. Die Textfassung des lateinischen Konkordienbuchs (1580 und 1584) geht auf eine erneute Übersetzung von Selneccer, der die Übersetzung des Dänen nicht kennt, zurück. Die Fassung des deutschen Konkordienbuchs
Die spätere Bemerkung Luthers in der Vorrede, die Artikel seien in Schmalkalden als Bekenntnis angenommen worden (a.a.O., 408, 12 ff), ist ein Irrtum. Vgl. a.a.O., 409, 20 ff. A.a.O., 405 ff. Vgl. z. B. das Paulus-Zitat (a.a.O., 449, 17 f) und Augustin-Zitat (a.a.O., 449, 18 – 450, 1) im Taufartikel (ASm III/5) oder die Fachtermini im Stück über die Buße (ASm III/3; a.a.O., 437, 2 f und 439, 19 – 440, 1 und 3 f) und das Papsttum (ASm II/4; a.a.O., 427, 7) – sehr viel mehr Latein findet sich in den gesamten Artikeln nicht. S.u. 2.2.
2.1 Kontextuelle Verortung von Luthers Formel
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beruht auf dem textgeschichtlich wichtigsten Spätdruck von 1553 (J)¹⁵ und der Abschrift Spalatins.¹⁶
Die Artikel gliedern sich in drei Teile: Im ersten Teil sind knapp die Punkte der Trinitätslehre und Christologie benannt, in denen die Evangelischen mit den Römischen einig sind. Die zweite Artikelgruppe beginnt mit dem „Häuptartikel“¹⁷, in dem in der Form biblischer Sätze das soteriologische Zentrum des evangelischen Bekenntnisses entfaltet wird: die Erlösung solus Christus und sola fide. Obwohl der Artikel mit seinem Schwerpunkt auf der Relation Sünde/Gnade deutlich auf die ihr entsprechende Beziehung Glaube/Wort hin abzielt, geht der Text an dieser Stelle nicht explizit darauf ein. Ein Abschnitt zum Evangelium steht damit von hier an aus. Es schließen sich drei abgrenzende Artikel über das Messopfer, Klosterwesen und Papsttum an. Erst im dritten Teil wird die im „Häuptartikel“ angelegte Thematik entfaltet. Die ersten vier Stücke handeln von der Sünde, vom Gesetz, der damit verknüpften Buße und dem Evangelium. Auffällig ist, dass schon der Bußartikel recht ausführlich¹⁸ auf die tröstliche Gnadenverheißung durchs Evangelium zu sprechen kommt, d. h. ein eigener Artikel vom Evangelium wäre damit nicht unbedingt nötig gewesen. Dass dieser dennoch folgt, wird im Stück über die Buße bereits angekündigt: „Wiederumb gibt das Evangelion nicht einerleiweise Trost und Vergebung, sondern durch Wort, Sakrament und dergleichen, wie wir horen werden, auf daß die Erlosung ja reichlich sei bei Gott (wie der Psalm CXXIX¹⁹ sagt) wider die große Gefängnis der Sunden.“²⁰ Mit Henkys lässt sich daher vermuten, dass es Luther daran gelegen ist, in einem eigenen Artikel „die Vielfältigkeit der mit dem Evangelium ergehenden Heilszueignung auszusagen.“²¹ Der Evangeliumsartikel entlässt mit seiner Aufzählung der Weisen der Heilszueignung die Stücke über die Sakramente (Taufe, Abendmahl, Beichte) sowie der Beichtabsolution (Schlüssel, Bann). Den Abschluss bilden sechs weitere Artikel, die vor allem das Kirchenverständnis berühren. Mit dem Evangeliumsartikel (III/4) setzt die erste Schreiberhand ein, d. h. es ist der erste Artikel, den Luther nach seinem Herzinfarkt einem seiner beiden
Im 16. Jh. werden die beiden Ausgaben von 1538 (A) und 1543 (D) zusammen 27-mal gedruckt. Zur Quellenlage und Textgeschichte vgl. die Einleitung zu den Schmalkaldischen Artikeln (BSLK 199812, XXVI). BSLK 199812, 415. Vgl. a.a.O., 437, 11– 23. Ps 130,7 (Vulgata 129,7): „Denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm.“ BSLK 199812, 437 f; Hervorhebung L.K. Henkys 1970: Seelsorge, 27.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
Schreiber diktiert. Das Stück selbst bietet einen in sich kohärenten Text, der textgeschichtlich lediglich minimale Entwicklungen aufweist, auf die an entsprechender Stelle einzugehen ist. Neben der Überschrift, die das Thema des Artikels angibt, gliedert sich das Textstück in zwei Hauptteile: die einleitenden Satzteile und die sich ihr anschließende Aufzählung. Dem ersten und fünften Glied der Aufzählung ist jeweils eine nähere Erläuterung beigefügt. Vom Evangelio. Wir wollen nu wieder zum Evangelio kommen, welchs gibt nicht einerleiweise Rat und Hulf wider die Sunde; denn Gott ist [überschwenglich] reich in seiner Gnade: erstlich durchs mundlich Wort, darin gepredigt wird Vergebung der Sunde in alle Welt, welchs ist das eigentliche Ampt des Evangelii, zum andern durch die Taufe, zum dritten durchs heilig Sakrament des Altars, zum vierden durch die Kraft der Schlussel und auch per mutuum colloquium et consolationem fratrum, Matth. 18.: „Ubi duo fuerint congregati“ etc. Die vorgestellte Gliederung ist im Folgenden näher zu erläutern, und der Evangeliumsartikel – in einem der vorliegenden Studie angemessenem Umfang – zu untersuchen. Wie bereits im Bußartikel, auf den mit den Worten „nu wieder“ Bezug genommen wird, angekündigt, geht es in diesem Stück um die Gestaltenvielfalt des Evangeliums. Beginnend mit einer Negation – das Evangelium „gibt nicht einerleiweise [der lateinische Text liest non uno modo] Rat und Hulf wider die Sunde“ – leitet „denn“ die positive Aussage ein: „Gott ist reich in seiner Gnade“. Um den Gehalt der einleitenden Satzteile näher zu bestimmen, ist es weiterführend, diese mit hineinzunehmen in das semantische Feld, das von den Stücken über die Sünde (III/1), das Gesetz (III/2) und die Buße (III/3) unmittelbar vor dem Evangeliumsartikel eröffnet wird – ganz davon abgesehen, dass sich der Evangeliumsartikel mit den Termini „Sunde“ und „Gnade“ bereits selbst in diese Bedeutungszusammenhänge hineinstellt. Wird der Evangeliumsartikel von den Aussagen, die zuvor über das Gesetz gemacht wurden, her beleuchtet, erhellt sich seine Pointe. So arbeitet Henkys heraus, dass dem duplex usus legis – der Gesetzesartikel spricht vom zweifachen Amt des Gesetzes – der simplex usus Evan-
2.1 Kontextuelle Verortung von Luthers Formel
185
gelii gegenübersteht.²² Im Unterschied zum Gesetz hat das Evangelium nur ein Amt, das es jedoch auf „nicht einerleiweise“ Weise ausübt: „Dem simplex usus Evangelii entspricht ein multiplex modus.“²³ Die vielfachen Modi der mit dem Evangelium ergehenden Heilszueignung befreien den Menschen aus seiner Schuldgefangenschaft. „[W]ider die große Gefängnis der Sunden“ – wie es im Bußartikel heißt – steht die noch größere Gnade Gottes, die sich nicht auf einen Kommunikationsweg, präziser: auf ein Kommunikationsmedium beschränken lässt, „denn Gott ist reich in seiner Gnade“.²⁴ Gründet das Evangelium in der reichen Gnade Gottes zur Erlösung des sündigen Menschen, so entspricht es ihm nicht, „sparsam ausgeteilt zu werden“,²⁵ sondern sich auf vielerlei Weise, in vielerlei Gestalten zu ereignen. Überhaupt wird das als Ereignis unverfügbare Evangelium für den Menschen immer nur im Modus der konkreten Gestaltung und Formgebung zugänglich, wird die göttliche Verheißung „nur in konkreten Situationen und in Gestalt äußerlicher Zeichen“²⁶ dem Menschen zur guten Nachricht. Semiotisch ausgedrückt: Die Logik der Signifikanten ordnet die Signifikation. Die Pointe des Evangeliumsartikels liegt nun gerade in der Betonung der Gestaltenvielfalt des Evangeliums, im multiplex modus Evangelii, im „nicht einerleiweise“ (non uno modo) wie es bereits im Bußartikel zu lesen ist: „Wiederumb gibt das Evangelion nicht einerleiweise Trost und Vergebung“.²⁷ In den Schmalkaldischen Artikeln wird die Vielgestaltigkeit des Evangeliums begründet, indem sie gedeutet wird: Das Evangelium gibt Trost und Vergebung „durch Wort, Sakrament und dergleichen“ – wie es im Bußartikel weiter heißt. Im Artikel über das Evangelium erfolgt die Deutung durch den sich anschließenden zweiten Teil des Stücks, der verschiedene Modi des Evangeliums aufzählt: Das Evangelium gibt „durchs mundlich Wort, […] durch die Taufe, […] durchs heilig Sakrament des Altars, […] durch die Kraft der Schlussel und auch per mutuum colloquium et consolationem fratrum“ „Rat und Hulf wider die Sunde“.²⁸ Modus und Tempus der
Vgl. a.a.O., 28 ff. A.a.O., 29. Das später über den Zeilen von Luthers Hand hinzugefügte „überschwenglich“ unterstreicht nochmals die Größe der göttlichen Gnade. – Im Bußartikel ist von der „reichlichen“ Erlösung Gottes die Rede; vgl. BSLK 199812, 438, 2. Angespielt wird hier auf Ps 130,7 (129,7 nach Zählung der Vulgata): „Denn bei dem HERRN ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm.“ Henkys 1970: Seelsorge, 30. Klie 2003: Zeichen, 265. BSLK 199812, 437; Hervorhebung L.K. Vor dem Hintergrund der Überlegungen zum Gehalt der einleitenden Satzteile erhellt sich nun auch die Frage nach ihrer syntaktischen Gestalt: Durch das jedes Mal in der Aufzählung verwendete „durch“ bzw. „per“ wird das Subjekt der einleitenden Satzteile instrumental bestimmt. Da die instrumentale Bestimmung jedoch eher mit „Rat und Hilfe geben“ korespondiert als mit „reich
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
Formulierung verdeutlichen, dass es sich bei diesem per formam ereignenden Geschehen um präsentische Heilszueignungen pro me handelt. Das jeweils instrumental gebrauchte „durch“ bzw. „per“ unterstreicht dabei nochmals, dass es hier nicht darum geht, eine abschließende Definition dessen zu geben, was das Evangelium „ist“ – in diesem Fall müsste der Text „ist“ bzw. „est“ lesen –, sondern mit den aufgezählten Punkten mögliche Gestaltungsmodi des Evangeliums zu benennen. Der zweite Teil des Evangeliumsartikels zählt, gegliedert durch fünfmaliges „durch“ bzw. „per“, Modi des Evangeliums auf. Der letzte Punkt mutuum colloquium et consolationem fratrum erscheint so als eine Gestalt der Heilszueignung neben den anderen. Die einzelnen Glieder der Aufzählung werden außerdem durch „erstlich“, „zum andern“,²⁹ „zum dritten“, „zum vierden“ sowie „und auch“ gegeneinander abgehoben. Die Nummerierung bricht also mit dem vorletzten Glied ab.³⁰ Dies führt zu der in der Forschung kontrovers diskutierten Frage, ob die Aufzählung aus vier oder aus fünf Gliedern besteht und wie sich der letzte Punkt – also die für die Poimenik relevante Formulierung – zum vorletzten und zu den übrigen Punkten verhält. Die vorliegende Studie geht von einer fünfgliedrigen Aufzählung aus und schließt sich damit Henkys an, der in einer näheren Untersuchung der Textpassage seine Entscheidung plausibel begründet:³¹ Es fällt auf, dass mit Taufe, Altarsakrament und Schlüssel – die in aller Knappheit genannten Größen bilden in der fünfgliedrigen Aufzählung den Mittelteil – kirchliche Institutionen benannt sind. Im Anschluss an den Evangeliumsartikel werden diese drei Punkte zum Gegenstand eigener Stücke.³² Beides trifft auf die im ersten
sein“, fungiert „Evangelium“ als Subjekt und der Satz „denn Gott ist reich in seiner Gnade“ als Parenthese. Für diese syntaktische Zuordnung sprechen außerdem die Artikelüberschrift sowie die parallele Formulierung im Bußartikel (BSLK 199812, 437, 27– 438, 2): „Wiederumb gibt das Evangelion nicht einerleiweise Trost und Vergebung, sondern durch […] auf daß die Erlosung ja reichlich sei bei Gott.“ Auch hier ist „Evangelium“ Subjekt und „gibt“ Prädikat. – Vgl. Henkys 1970: Seelsorge, 31. Die lateinische Übersetzung liest „secundo“ und hebt damit die nummerierende Funktion der deutschen Fassung hervor. Dies gilt auch für die lateinische Textfassung, die vor dem letzten Teil „atque etiam“ liest. Vgl. Henkys 1970: Seelsorge, 31 ff. – Geht man dahingegen wie z. B.Wengert (2007: Monastische Züge, 248 f) von vier anstatt von fünf Teilen aus, bleibt die Erweiterung des letzten Gliedes höchst bemerkenswert und erklärungsbedürftig. So kommt auch Wengert nicht umhin, für das vierte und letzte Glied, „zwei zwar verwandte aber doch unterschiedliche Konzepte“ (a.a.O., 248) anzunehmen. Denn der Auffassung Henkys, dass mutuum colloquium et consolationem fratrum nicht auf das Schlüsselamt abzielt, stimmt er durchaus zu. Es folgen die Artikel über Taufe, Altarsakrament, Schlüssel, Beichte und Bann. Dabei ergeben sich die beiden letzten Stücke aus dem Schlüsselamt: Die Beichte,verstanden als Privatabsolution, zielt auf den Löseschlüssel, der Bann auf den Bindeschlüssel, so dass Schlüssel-, Beicht- und
2.1 Kontextuelle Verortung von Luthers Formel
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und fünften Glied genannten Größen, das mündliche Wort und mutuum colloquium et consolationem fratrum, nicht zu.Weder sind sie als liturgische Ordnungen fassbar, noch werden sie im folgenden Text der Schmalkaldischen Artikel erneut aufgegriffen. Die Analyse zeigt weiter, dass sich das erste und letzte Glied sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht entsprechen und den Mittelteil der Aufzählung rahmen: Beide Punkte gehen über eine bloße Nennung des Gegenstands hinaus und fügen jeweils eine nähere Erläuterung bei. Dem mündlichen Wort, das bereits seit dem „Hauptartikel“ (II/1) aussteht und als erster Modus des Evangeliums genannt wird, ist „das eigentliche Ampt des Evangelii“ hinzugefügt: die Verkündigung der Vergebungsbotschaft „in alle Welt“.³³ Die Formulierung spielt hier offenbar auf Mk 16,15 an: „Und er sprach zu ihnen: Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur.“³⁴ Noch deutlicher wird im letzten Glied auf ein Bibelwort Bezug genommen. Dem mutuum colloquium et consolationem fratrum schließen sich die als Zitat kenntlich gemachten Worte aus Mt 18,20 an: „‚Ubi duo fuerint congregati‘ etc.“ Liest man die beiden Rahmenglieder auf inhaltlicher Ebene parallel, so bezeichnet im ersten Glied das „mundlich Wort“, im letzten das „colloquium“ die äußere Erscheinungsform, die „Sündenvergebung“ im ersten und die „consolatio“ im letzten Teil ihre innere Wirkung. Form und Inhalt, signifikante Struktur (per) und signifikate Bedeutungsfigur für jemanden (pro) sind so auf eindrückliche Weise miteinander verschränkt.Weiterhin verweist der erste Teil mit seiner indirekten Anspielung auf Mk 16,15 auf den universus mundus als denkbar größten Außenkreis, der letzte Teil mit Mt 18,20 auf den denkbar kleinsten Binnenkreis. Diese Lesart wird durch die Modifikation des biblischen Wortlauts, der vollständig zitiert „ubi duo aut tres fuerint congregati“ heißen müsste, noch verstärkt.³⁵ Durch die Auslassung des „aut tres“ wird das Brüdergespräch zum Gespräch unter vier Augen.
Bannartikel zusammen dem vierten Glied der Aufzählung entsprechen; vgl. Henkys 1970: Seelsorge, 32. Sicherlich schließt hier das mündliche Wort die gottesdienstliche Predigt, die als kirchliche Institution fassbar ist, in sich ein – darauf deutet bereits der Terminus „gepredigt“ hin. Das mündliche Wort geht in der Predigt jedoch nicht auf. Der Vergleich der lateinischen Textfassung „praedicari […] in universo mundo” mit dem Vulgatatext (20074) „euntes in mundum universum praedicate evangelium“ unterstützt diese Vermutung. Bereits Spalatins Abschrift korrigiert das Zitat: „Wie Christus selbs sagt Matthäi am achtzehenden: ‚Wo zwen oder drei versammlet sind in meinem Namen, do bin ich mitten unter ihnen.‘“ Auch die lateinische Textfassung liest: „Matthaei 18.: ‚Ubi duo aut tres fuerint congregati‘ etc.” Luther selbst nimmt jedoch keine Korrektur vor, denn auch in der Bearbeitung zum Druck fehlt „aut tres”.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
Und dennoch, darauf ist an dieser Stelle nochmals explizit hinzuweisen, ist der letzte Teil der Aufzählung nicht als Appendix zum vierten Glied – im Sinne der Privatbeichte – zu verstehen. Denn mutuum colloquium et consolationem fratrum bezeichnet einen eigenen Modus des Evangeliums, der die in der Beichtinstitution ausdrücklich zugesprochene (tröstende) absolutio mit einschließt, auf diese eine Form der Heilszueignung jedoch nicht beschränkt bleibt. Dies erhellt auf der Ebene des Mikrotextes, vor allem aus Luthers Verständnis von Mt 18,20, das als weiterer Deuterahmen für die Luthersche Formel dient.³⁶
Der Evangeliumsartikel schlägt in der Aufzählung also einen Bogen von der Welt über die Kirche hin zum Haus. Das fünfte Glied transformiert das Ereignis des Evangeliums auf die Ebene der Personalisierung: Das mündliche Wort wird als colloquium zum persönlichen Brüdergespräch, in dem sich das Evangelium pro me in subjektiver Form als consolatio ereignet. Insgesamt – so bleibt zusammenfassend festzuhalten – zielt der in den Textkörper der Schmalkaldischen Artikel stimmig eingebundene Evangeliumsartikel darauf ab, die Gestaltenvielfalt und die Pluralität der Zueignungsformen des Evangeliums auszudeuten, indem verschiedene (Funktions‐)Weisen des Evangeliums aufgezählt werden. Als ein Modus des Evangeliums wird hierbei auch die Formulierung mutuum colloquium et consolationem fratrum angegeben. Wenn im Folgenden die Relevanz dieser Formulierung für die Poimenik weiter ausgelotet wird, so ist auch diese – wie der gesamte Evangeliumsartikel – in das von im weitesten Sinne von „Gesetz und Evangelium“ aufgespannte semantische Feld zu stellen. Die zur näheren Erläuterung beigefügten Worte aus Mt 18,20 dienen dabei als ein weiterer Deuterahmen.
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch anwesender Glaubensgeschwister zum Zwecke des Trosts untereinander Wirkungsgeschichtlich haben sich die Worte mutuum colloquium et consolationem fratrum zu einer klassischen Formel der Seelsorge entwickelt.³⁷ So konstatiert bspw. Henkys: „Am häufigsten taucht Luthers Formel heute im Zusammenhang der Seelsorge auf. In ihn gehört sie auch zweifellos in erster Linie hinein.“³⁸ Eindrücklich gelingt es der Wendung, die Anschaulichkeit des Geschehens vor Augen zu malen – um es nochmals in den Worten Henkys zu formulieren: „Es liegt Luthers Predigt über Mt 18,19 f kann als Deuterahmen der Formel herangezogen werden; s.u. 2.2. Zur Rezeption von Luthers Formel in der Poimenik s.o. Einleitung zu Kapitel 2, Anm. 1. Henkys 1970: Seelsorge, 5 f.
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
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keine Abstraktion, eher eine Kontraktion vor.“³⁹ Erwachsen aus der kulturellen Enzyklopädie des 16. Jahrhunderts, entstammt die Formulierung dem Erfahrungsraum Luthers, mehr noch: In der Wendung scheinen sich die Erfahrungen Luthers geradezu zu verdichten. Vor dem Hintergrund des selbst immer wieder trost- und seelsorgebedürftigen, ehemaligen Augustinerfraters Luther, der als Seelsorger anderer viele Male auf den Trost in Christus verweist, entsteht ein solch signifikantes Diktum, das auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Bild eines seelsorglichen Raums entstehen lässt. Diesen seelsorglichen Raum näher zu bestimmen, ist Thema der folgenden Überlegungen. Es geht darum, das signifikante Diktum mutuum colloquium et consolationem fratrum vor dem Hintergrund eines makro- und mikrotextuellen Deutungsrahmen in der gegenwärtigen Poimenik zu aktualisieren und damit den Gegenstand der vorliegenden Studie zu bestimmen. Auf sprachlicher Ebene fällt Luthers Formel bereits durch die Wahl des Lateinischen in dem ursprünglich in deutscher Sprache verfassten Text der Schmalkaldischen Artikel auf, und es entsteht der Eindruck, als ob Luther an dieser Stelle auf eine andernorts überlieferte Wendung Bezug nimmt oder anspielt. Auch die zur näheren Erläuterung der Wendung beigefügten Worte aus Mt 18,20 erscheinen auf Latein, sind jedoch im Unterschied zur Lutherschen Formel als Zitat gekennzeichnet.⁴⁰ Über die Gründe, warum Luther hier mitten im Satz ins Lateinische fällt, lässt sich nur spekulieren. Versucht man eine psychologische Erklärung, so überrascht es nicht, dass der mönchisch geprägte Luther, als er glaubt, sterben zu müssen, im ersten der von ihm diktierten Artikel Worte wählt, die an eine Formulierung aus dem monastischen Kontext erinnern.Wengert rechnet die Wendung per mutuum colloquium et consolationem fratrum sogar „zu den ‚monastischsten‘ Aussagen des ganzen Werkes“⁴¹ von Luther. Der monastische „Sitz im Leben“ der berühmt gewordenen Worte, die im Evangeliumsartikel auf das Christus-Wort in Mt 18,20 verweisen, legt sich bereits durch Luthers Verständnis dieser angeführten Bibelstelle nahe. In einer Predigt über Mt 18,19 f,⁴² die der Reformator spätestens im Herbst 1537 – also nicht einmal
A.a.O., 5. Die Abschrift Spalatins bietet eine erweiterte Lesart. Das Zitat ist im Unterschied zum Lutherschen Text gemäß der biblischen Vorlage ohne Auslassung als vollständiger Vers auf Deutsch angeführt und darüber hinaus als Christus-Wort kenntlich gemacht: „Wie Christus selbs sagt Matthäi am achtzehenden: ‚Wo zwen oder drei versammlet sind in meinem Namen, do bin ich mitten unter ihnen.‘“ Möglicherweise soll mit dieser Korrektur die Stelle an den übrigen Text der Artikel, der Schriftzitate auf Deutsch anführt, angeglichen werden. Wengert 2007: Monastische Züge, 245. WA 47, 297, 27– 305, 16.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
ein Jahr nach Abfassung der Schmalkaldischen Artikel – hält, stellt er selbst den Bezug zum Mönchtum her.⁴³ Anhand diverser, z.T. recht drastischer Beispiele und Legenden wird in der Predigt gegen die „Sondergeister“⁴⁴, die sich aus der monastischen Gemeinschaft zurückziehen und in der Vereinzelung auf besondere Offenbarungen warten, polemisiert – auf die damit implizierte ekklesiologische Dimension wird später einzugehen sein.⁴⁵ Hier deutet sich zunächst einmal an, dass sich die formelhafte Wendung per mutuum colloquium et consolationem fratrum und die ihr zur Seite gestellten Worte „‚Ubi duo fuerint congregati‘ etc.“ aus Mt 18,20 bzw. ihre ausführliche homiletische Auslegung gegenseitig deuten. Dabei lässt sich mit dem von der Predigt bereitgestellten Deutungsrahmen nicht nur der „Sitz im Leben“ der Formel erhellen, sondern – wie sich unten zeigen wird – die ganze Predigt als ein Kommentar zur Lutherschen Formel lesen, der auch in poimenischer Hinsicht relevant ist. Womöglich hätte auf Deutsch auch weniger präzise, vor allem aber nicht so formelhaft und definitorisch formuliert werden können. Und vermutlich wären die Anspielung auf den monastischen Kontext sowie die dadurch hervorgerufenen Assoziationen weniger hervorgetreten als es mit der Wahl des Lateinischen möglich ist. In den Schmalkaldischen Artikeln wird das monastische Ideal auf das Leben im christlichen Haushalt übertragen,⁴⁶ so dass von einer Entschränkung des monastischen Lebens auf die Christentumsgemeinschaft als Ganze gesprochen werden kann. Ereignet sich Evangelium – wie das fünfte Glied des Evangeliumsartikels beschreibt – ubi duo fuerint congregati [in nomine meo] per mutuum colloquium et consolationem fratrum, so realisiert sich inmitten der Profanität des universus mundus – auf den das erste Glied des Artikels verweist – die aus dem Mönchtum entlehnte, christliche Fraternität.⁴⁷ Diese These wird durch die MtPredigt gestützt: „Item, so Bruder sich unter einander troesten das ist auch gottes wille und wortt. Es ist die gantze welt vol trostes und alle Winckel vol offenbarung gesteckt, und redet Gott mit mir von der Cantzel, ehr redet mit mir durch meinen nachbarn, durch meine gute freunde und gesellen, durch meinen Man, durch mein Weib, durch meinen Herrn und durch meinen knecht, item vater und Mutter
Hierauf weist Henkys (1970: Seelsorge, 34 ff) hin. Allerdings stellt er keinen Bezug zu Luthers monastischen Wurzeln her. Unter dieser Bezeichnung fasst Luther hier Mönche und Täufer zusammen. S.u. 2.2.1. So charakterisiert Wengert (2007: Monastische Züge, 252) eine für die Theologie Luthers grundlegende Denkbewegung. So bereits Henkys (1970: Seelsorge, 37 und 43), allerdings ohne Verweis auf das Mönchtum.
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
191
etc.“⁴⁸ – Dieser derart markierte Modus des Evangeliums ist im Folgenden hinsichtlich seiner Bedeutung für die Poimenik näher auszudeuten. Auch wenn die vorliegende Studie weniger diachron vorgeht, lohnt es sich dennoch, an dieser Stelle auf den kulturellen Raum der Erfahrung Luthers, dem das signifikante Diktum der Schmalkaldischen Artikel entwachsen ist, einzugehen. Zunächst fällt auf, dass die Worte per mutuum colloquium et consolationem fratrum in genau dieser Formulierung von Luther in keinem anderen Kontext verwendet werden, sich jedoch an mehreren Stellen verwandte Aussagen finden, die ebenfalls auf eine Verbindung mit Mt 18,20 und einen monastischen „Sitz im Leben“ hinweisen.⁴⁹ Die Semantik der prägnanten Wortfolge legt die Vermutung nahe, dass sich der ehemalige Augustiner-Eremit Luther bei der Formulierung am mönchischen Sprachgebrauch orientiert.⁵⁰ Eine ähnliche Aussage – geschweige denn der exakte lateinische Wortlaut – findet sich jedoch weder in den ersten drei großen Mönchsregeln, d. h. weder in der sog. Pachomiusregel, der Basiliusregel und der Augustinusregel, noch in der für das Mittelalter besonders bedeutsamen Benediktsregel. In all diesen Regeln spielt der Trost im Unterschied zur Zurechtweisung eine deutlich untergeordnete Rolle. Und an den wenigen Stellen, an denen es um die Aufrichtung und Tröstung innerhalb der brüderlichen⁵¹ Gemeinschaft geht, erfolgt diese nicht mutual, sondern im hierarchischen Gefälle von Oberen und (z.T. sogar ausgeschlossenen) Mönch.⁵² Auch finden sich in diesem Zusammenhang keine Hinweise auf Mt 18,20. Anders verhält es sich mit der „brüderlichen Zurechtweisung“, die in der monastischen Tradition meist nach dem Vorbild von Mt 18,15 – 17 beschrieben wird⁵³ und insbe-
WA 47, 298, 38 – 299, 1. Vgl. Wengert 2007: Monastische Züge, 246 ff. Ein entsprechender Nachweis steht in der Forschung bislang allerdings noch aus; hierauf verweist bereits Henkys 1970: Seelsorge, 5 Anm. 2. – Dies mag u. a. damit zusammenhängen, dass noch immer ein Großteil der kirchengeschichtlichen Literatur die „monastischen Züge“ in Luthers Theologie gering schätzt. Dagegen untersucht Wengert (2007: Monastische Züge; Zitat 244) die monastischen Züge, „die Luther selbstverständlich und zielgerichtet aus seinem Klosterleben und seiner monastischen Denkweise in die sich neu entwickelnde evangelische Theologie mit einbrachte“. Zu weiteren Publikationen, die Luthers Klosterleben und mönchische Bildung als positiven Gegenstand seiner Theologie würdigen vgl. Wengert 2007: Monastische Züge, 243 Anm. 3. Mit dem Themenkomplex „Reformation und Mönchtum“ setzt sich auch ein gleichnamiger Sammelband (Lexutt/Mantey/Ortmann 2008: Reformation) auseinander. Das in der Kirche des 3./4. Jhs. verblassende Ideal der Fraternität wird in der Pachomiusregel für die Mönchsgemeinde neu zur Geltung gebracht; vgl. Bacht 1983: Vermächtnis, 120 Anm. 14. Vgl. Augustinusregel 11: „Der klösterliche Gehorsam. Die Pflichten der Oberen und Untergebenen“ (Zumkeller 1956: Regel, 19 f) und Benediktsregel 27: „Wie sich der Abt um die Ausgeschlossenen sorgen soll“ (Holzherr 19934: Benediktsregel, 178 ff). Vgl. die Längere Basiliusregel 47: „Über die, die Entscheidungen des Oberen nicht annehmen“ (Frank 1981: Mönchsregeln, 182 f), Augustinusregel 7: „Brüderliche Zurechtweisung“ (Zumkeller 1956: Regel, 14 ff) und Benediktsregel 23: „Von der Ausschließung bei Verfehlungen“ (Holzherr 19934: Benediktsregel, 171 ff). Nur im Pachomianer-Schrifttum begegnet Mt 18,15 – 17 nicht, obwohl auch hier des öfteren von der Zurechtweisung der Brüder die Rede ist; vgl. Bacht 1983: Vermächtnis, 244 Anm. 75.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
sondere in der Basiliusregel „eines der wichtigsten Ordnungsprinzipien“⁵⁴ darstellt: „das könobitische Ideal als solches wird bei Basilius ganz wesentlich von der mutua correptio fratrum als der Mitte des gemeinschaftlichen Lebens her begründet.“⁵⁵ In dieser als seelsorglich verstandenen Rüge- und Beichtpflicht begründet sich die spätere Entwicklung des abendländisch-mittelalterlichen Beichtinstituts, das der Ausformung des Lutherschen Seelsorgeverständnisses als maßgebliche Negativfolie dient. Bußtheologie und Beichtpraxis, die sich seit dem IV. Laterankonzil (1215) selbst als Seelsorge versteht, führen den Reformator zu einer „strikten Neugestaltung von Beichte und Seelsorge“⁵⁶: Im Kontext der Rechtfertigungslehre löst sich die Seelsorge aus ihrer bis dahin gänzlichen Bindung an das Bußsakrament. Im Mittelpunkt steht nicht länger der bußfertige Mensch, sondern die gerecht machende Gnade Gottes. Im Text des Evangeliumsartikels spiegelt sich dies in der Selbstständigkeit des fünften gegenüber des vierten Glieds, also in der Eigenständigkeit des seelsorglich-tröstenden Worts der Brüder im Gespräch untereinander gegenüber der Privatabsolution, die für Luther übrigens keineswegs an Bedeutung verloren hat.⁵⁷ Hinsichtlich der Seelsorge liegt der Schwerpunkt nun nicht mehr auf der brüderlichen Zurechtweisung, sondern auf dem brüderlichen Trostwort. Vor diesem Hintergrund könnte mit der Lutherschen Formel ein Wortspiel vorliegen: An die Stelle der v. a. im Mönchtum anzutreffenden correptio fraterna rückt nun die consolatio fratrum. Damit scheint sich Luther in seiner Formulierung dem Inhalt nach nicht an eine der Mönchsregeln, sondern am ehesten an seinen – neben Augustin vermutlich – „zweiten“ Ordenspatron Antonius anzulehnen,⁵⁸ von dem Athanasius in der Vita Antonii folgendes berichtet: „Eines Tages nun kam er heraus, und alle Mönche kamen zu ihm und baten, von ihm eine Rede zu hören; da sagte er ihnen in ägyptischer Sprache folgendes: Die Heiligen Schriften sind zwar ausreichend zur Belehrung, für uns aber ist es gut, einander (ἀλλήλους) im Glauben zu trösten (παρακαλεῖν) und mittels Gesprächen (ἐν τοῖς λόγοις) zu salben.“⁵⁹ Hier wie auch in den lateinischen Versionen⁶⁰ sind die beiden Elemente anzutreffen, die auch in Luthers Formel begegnen: der wechselseitige Trost und das Gespräch der Brüder unter-
Frank 1981: Mönchsregeln, 386 Anm. 111. Koschorke 1991: Spuren, 182 f; Hervorhebungen im Original; vgl. v. a. die siebte Längere Basiliusregel (Frank 1981: Mönchsregeln, 100 ff). Winkler 20002: Seelsorge, 112. – Zur Auseinandersetzung Luthers mit dem mittelalterlichen Bußsakrament vgl. auch Schütz (1977: Seelsorge, 11 ff),Winkler (1984: Zumutung, 15 ff) und Ziemer (20042: Seelsorgelehre, 58 ff). Auch in der Mt-Predigt führt Luther an einigen Stellen die absolutio an. Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass im Bettelorden der Augustiner-Eremiten, in den Luther eintritt, neben den Schriften Augustins auch die Vita Antonii, die Lebensbeschreibung des ersten Eremiten, verstärkt gelesen wird. – Nebenbei bemerkt, ist es Augustin, der in seinen Confessiones die Lektüre der Vita Antonii durch Asketen in Trier bezeugt; vgl. Holze 1992: Erfahrung, 18. Vita Antonii 16, Übersetzung L.K. (PG 26, 865C und 868 A); vgl. auch BKV 31/II, 706. Die entscheidende Stelle lautet in der lateinischen Übersetzung von Hieronymus: „sed operæ pretium est nos mutuo in fide cohortari, atque verbis concitare“ (PG 26, 867 A). Und in der Übersetzung von Euagrios: „sed et hoc optimum fore, si mutuis se invicem fratres sermonibus consolarentur“ (PG 26, 867 und 868).
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
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einander. Überhaupt spielt das Trösten, das Antonius nach der Vita als Charisma verliehen ist,⁶¹ in der Vita Antonii eine wesentlich bedeutendere Rolle als in den Mönchsregeln.⁶² Neben diesem deutlich monastisch geprägten Sprachgebrauch scheint sich in dem Diktum per mutuum colloquium et consolationem fratrum auch Luthers eigene seelsorgliche Erfahrung zu verdichten – auch dieser Aspekt spielt in den weiteren Überlegungen eine eher untergeordnete Rolle, soll jedoch an dieser Stelle dargestellt werden.⁶³ „Seelsorge ist kein Teilaspekt, sondern eine Grunddimension in Martin Luthers Leben und Wirken“⁶⁴ – so die Auffassung Möllers. Schon als Mönch sucht der von Anfechtungen geplagte Luther immer wieder seinen Generalvikar Johannes von Staupitz als Seelsorger auf, wie folgender Briefabschnitt zeigt: „Memini, Reverende Pater, inter iucundissimas et salutares fabulas tuas, quibus me solet dominus Ihesus mirifice consolari, incidisse aliquando mentionem huius nominis ‚poenitentia‘ […].“ („Ich erinnere mich, ehrwürdiger Vater, dass du während deiner sehr erfreulichen und wohltuenden Gespräche, mit welchen mich der Herr Jesus auf wundersame Weise zu trösten pflegt, einst den Begriff ‚Buße‘ erwähnt hast […])“.⁶⁵ Und auch hinsichtlich einiger Stellen der Mt-Predigt kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Luther bei der Abfassung seine eigenen Unterhaltungen mit Staupitz „sub hac piro“ („unter eben jenem Birnbaum“),⁶⁶ wie er später die seelsorglichen Begegnungen mit seinem geistlichen Vater im Garten bezeichnet, vor Augen hat. V. a. Tischreden, Briefe und Trostschriften – z. B. die bekannten „Tesseradecas consolatoria pro laborantibus et oneratis“⁶⁷ (Vierzehn Tröstungen für Mühselige und Beladene) für Kurfürst Friedrich den Weisen – dokumentieren anschaulich die seelsorgliche Tätigkeit Luthers. Immer wieder betont Luther, dass in der Seelsorge die heilvolle Befreiung von be-
Vgl. Vita Antonii Kap 14 (PG 26, 865 A und 866 A). Am ehesten verweist noch die Benediktsregel, die verschiedene andere Regeln – v. a. die Magisterregel – rezipiert, auf die in der Vita Antonii anzutreffende Gabe des Trostworts; vgl. Benediktsregel 4,19 (Holzherr 19934: Benediktsregel, 78; dazu v. a. 359, Anm. 24), Benediktsregel 27,3 (a.a.O., 178) – ein Kapitel, das vom „seelsorglichen Eifer und Einfühlungsvermögen“ (a.a.O., 179) Benedikts zeugt – und Benediktsregel 31,13 f (a.a.O., 189). Interessanterweise haben alle genannten Stellen keine Parallele in der Magisterregel. – Anbei bemerkt können die als Apophtegmata patrum (Miller 19802: Weisung) zusammengestellten Bruderworte bzw. Vätersprüche diverser Mönchsväter aus Sicht der heutigen systemischen Therapie als Geschichten paradoxer Interventionen verstanden werden. Luthers Seelsorge ist in der Literatur bereits ausführlich dargestellt; vgl. z. B. Schütz (1977: Seelsorge, 10 ff), Winkler (1983: Luther; 1984: Zumutung; 20002: Seelsorge, 110 ff), Jörns (1985: Luther), Mennecke-Haustein (1989:Trostbriefe), Ebeling (1991: Grundzug; 1997: Luthers Seelsorge), Möller (1995: Luther), Ziemer (20042: Seelsorgelehre, 58 ff) und Dober (2008: Seelsorge, 29 ff). – Auffallend ist, dass die genannten Publikationen Luthers monastischen Hintergrund unberücksichtigt lassen. Eine Ausnahme ist der Beitrag von Posset (2000: Lehrer), der die These vertritt, dass Luther die monastische Seelsorge-Konzeption des Bernhard von Clairvaux „uneingeschränkt übernommen“ (a.a.O., 6) hat. – „Luthers Gebrauch der Wortfamilie ‚Seelsorge‘“ untersucht Ebeling (1994: Gebrauch). Möller 1995: Luther, 25. WA 1, 525, 4– 6; Übersetzung L.K. WA TR 3, 188,16 (Nr. 3143b); Übersetzung L.K. WA 6, 104– 134.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
drohlichen Mächten erfolgt, und wenn er in seinen Trostbriefen vom Teufel redet, erinnert dies an die systemtherapeutische Methode der Externalisierung, bei der ein Problem personifiziert wird.⁶⁸ So schreibt Luther bspw. an den lebensmüden Jonas von Stockhausen: „Aber der allerbeste über allen Rat ist, wenn ihr nicht überall mit ihnen [den Suizidgedanken, L.K.] kämpfen möchtet, sondern könntet sie verachten, und tun, als fühltet Ihr sie nicht, und gedächtet immer etwas anderes, und sprecht also zu ihnen: ‚Wohlan, Teufel, laß mich ungehindert, ich kann jetzt nicht deiner Gedanken warten, ich muß reiten, fahren, essen, trinken, das oder das tun: kurz: ich muß jetzt fröhlich sein, komm morgen wieder usw.‘ Und was ihr sonst könntet vornehmen, spielen und dergleichen, damit ihr solche Gedanken nur frei und wohl verachtet, und von euch weiset“.⁶⁹ Anhand der Coburgbriefe, die der gebannte Luther an die zum Augsburger Reichstag Versammelten richtet, wird u. a. die mutuale Seelsorge der im Glauben verbundenen Brüder deutlich. Luther ermutigt hier den sorgenvollen Melanchthon, sich durch das Wort eines Glaubensbruders aufrichten zu lassen, da Luther selbst in Situationen, die ihm zusetzen, dies als Stärkung erfahren hatte: „Und doch ist mir in diesen Bedrängnissen oft geholfen durch das Wort eines Bruders (verbo fratris), bald Bugenhagens, bald Deins, bald des Jonas und anderer. Weshalb also hörst nicht auch Du umgekehrt auf uns, die wir sicherlich nicht nach Fleisch und Welt, sondern im Sinne Gottes reden und ohne Zweifel durch den Heiligen Geist?“⁷⁰ Diese Stelle bekundet nicht nur die wechselseitige Tröstung der Reformatoren untereinander, sondern auch die eigene Trostbedürftigkeit Luthers, der so viele andere auf den Trost in Christus verweist. An seine Freunde richtet er einmal folgende Bitte: „[E]go, qui alios hactenus omnes consolari solebam, ipse consolationis omnis indigus sim.“ („Ich, der bislang alle anderen zu trösten pflegte, bin nun selbst des Trostes eines jeden bedürftig.“)⁷¹ Es bleibt nochmals explizit darauf hinzuweisen, dass es in der vorliegenden Untersuchung weder darum geht, „den echten [sic!] Luther mit der heutigen Gemeindewirklichkeit ins Gespräch zu bringen“⁷² noch um den Versuch, gegenwärtige Seelsorgelehre als Reproduktion der Seelsorge Luthers zu entwerfen, sondern darum, den Gegenstand der Poimenik mittels des signifikanten Lutherschen Diktums vor dem Hintergrund des kulturellen Erfahrungsraums des 16. Jhs. zu konstruieren.
Angesichts der Prägnanz der Lutherschen Wendung nimmt die wirkungsgeschichtliche Isolierung aus ihrem Kontext und die Verselbstständigung zum for Vgl. vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 169 ff. WA Br 6, 387, 43 – 50 (Nr. 1974). – Eschmann (1998: Teufel) zeigt in seinem Beitrag die strukturelle Analogie zwischen den logotherapeutischen Methoden zur Krisenintervention und den seelsorglichen Ratschlägen Luthers auf. Doch es ist kaum zu übersehen, dass die Briefseelsorge Luthers nicht nur von der Logotherapie Frankls, sondern auch aus Sicht der systemischen Therapie und deren Methodik interpretiert werden kann – v. a. da die „paradoxe Intention“ der Logotherapie auffallende Ähnlichkeit mit der „paradoxen Intervention“ der systemischen Therapie aufweist; beide Methoden zielen darauf ab, das „Spiel ohne Ende“ (Watzlawick 19892: Wesen, 26 u.ö.) zu verstören. – Zur poimenischen Rezeption der Logotherapie Frankls vgl. Rolf 2003: Sinn, 124 ff. WA Br 5, 411, 8 – 12 (Nr. 1611); Übersetzung L.K. WA Br 4, 274, 2 f (Nr. 1164); Übersetzung L.K. So fordert Winkler 1983: Impulse, 5.
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melhaften Gebrauch kaum Wunder. Das Spezifikum der Formel, die signifikante Verschränkung von Inhalt und Form, wird dabei jedoch meist außer Acht gelassen.⁷³ Folgt man Henkys, so sind die beiden Elemente der Formel – mutuum colloquium und consolatio fratrum – bereits auf syntaktischer Ebene eng aneinander gebunden: „Sie sind durch das Übergreifen des ‚mutuum‘ sehr fest miteinander verknüpft und meinen ein und denselben Vorgang, der einmal in seiner äußeren Erscheinung und einmal in seiner inneren Wirkung aufgefaßt wird.“⁷⁴ So ist nicht nur das colloquium der fratres, sondern auch die consolatio als grundsätzlich wechselseitige charakterisiert. Vor allem angesichts der Engführungen therapeutischer wie kerygmatischer Seelsorge gewinnt die signifikante Verschränkung von Inhalt und Form, signifikanter Struktur und inhaltlicher Bedeutungsfigur (Signifikat), normativem und deskriptivem Aspekt der Poimenik an Schärfe. Schematisierend lassen sich die beiden Paradigmen der Seelsorgelehre wie folgt nachzeichnen: Die therapeutische Seelsorge fokussiert ausgehend von der Psychologie v. a. die Form der „Seelsorge als Gespräch“⁷⁵ und suspendiert dabei die Frage nach dem religiös-christlichen Inhalt. Orientiert sie sich dabei vornehmlich an dem gesprächspsychotherapeutischen Ansatz von Rogers,⁷⁶ so lässt sich außerdem eine Einschränkung auf die verbalsprachliche Dimension der Kommunikation beobachten. Die Entwicklung therapeutisch-beratender Ansätze lässt sich als Gegenbewegung zur kerygmatischen Seelsorge verstehen, welche von der Systematischen Theologie herkommend den Inhalt in den Vordergrund rückt und von da aus die Form bestimmt, während die Psychologie als Hilfswissenschaft degradiert wird. Beiden Ansätzen ist es letztlich nicht gelungen, die performative Verschränkung von Inhalt und Form, die Heilszueignung am Ort des seelsorgli-
Bereits Henkys (1970: Seelsorge, 6 Anm. 4) weist darauf hin, dass die Formel häufig ungenau angeführt wird oder die beiden Glieder mutuum colloquium und consolatio fratrum getrennt voneinander gebraucht werden. – Es fällt außerdem auf, dass im Falle einer ausführlicheren Zitation aus dem Evangeliumsartikel diese meist mit der Lutherschen Formel abbricht, die erläuternden Worte aus Mt 18,20 also ausgelassen werden; so z. B. im Arbeitsbuch zur Praktischen Theologie von Nicol (2000: Grundwissen, 113). Wird Luthers Formel in der Literatur zur Seelsorge angeführt, so geschieht dies fast immer mit einem Verweis auf die Abhandlung von Henkys. Welche Konsequenzen sich aus Henkys Einsichten für den poimenischen Diskurs ergeben, wird dabei jedoch kaum reflektiert. Henkys 1970: Seelsorge, 39; Hervorhebungen L.K. Vgl. das gleichnamige Werk von Scharfenberg (1972: Seelsorge). Rogers 201219: Gesprächspsychotherapie. – Die Seelsorge des 20. Jh.s ist stark von Rogers Ansatz geprägt worden; vgl. Klessmann 20124: Seelsorge, 276 ff. – Zur Rezeption in der Poimenik vgl. z. B. Lemke (1995: Beratung) und Klessmann (20124: Seelsorge, 131 ff).
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chen „Gesprächs“, zum Thema der poimenischen Reflexion von Seelsorge zu machen.⁷⁷ Dies gelingt – so die These der vorliegenden Studie – nur, indem die Poimenik die ästhetische Wende der Praktischen Theologie mitvollzieht.⁷⁸ Dieser, von Meyer-Blanck als „dritter Weg jenseits der Alternative von Empirie und Systematischer Theologie“⁷⁹ charakterisierte theoretische Neuansatz zeichnet sich seit den 1980er/90er bereits in anderen praktisch-theologischen Teildisziplinen ab⁸⁰ und ist auch in der Seelsorgetheorie zu erproben. Die in diesem Zusammenhang von Grözinger formulierte „entscheidend neue These“⁸¹ ist von poimenischer Seite aufnehmen: Die „ästhetische Dimension […] ist dort erreicht, wo sich die Inhalts-Problematik als Problem der Form entfaltet“.⁸² – Ein so verstandenes ästhetisches Paradigma vermag das Spezifikum der Praktischen Theologie, die Verflechtung von Deskriptivität und Normativität, am ehesten zu fassen.⁸³ Vor diesem Hintergrund bietet sich Luthers Formel für die Poimenik als ästhetische Leitkategorie an. Das Evangelium ereignet sich im Modus mutuum colloquium et consolationem fratrum, indem es sich am Form-gebenden Ort des colloquiums inhaltlich pro me als consolatio vergegenwärtigt. Diese beiden, in der Lutherschen Formel so eindrücklich miteinander verflochtenen Aspekte, gilt es im Folgenden als wesentliche Markierungspunkte des poimenischen Feldes weiter herauszuarbeiten: Seelsorge ist als ein sich ad personam erweisender Modus der Vergegenwärtigung des Evangeliums zu beschreiben (2.2.1), der am Ort des colloquiums performativ Gestalt gewinnt (2.2.2).
In der poimenischen Theoriebildung lassen sich seit den 1990er zunehmend Ansätze beobachten, die zwischen der kerygmatisch und therapeutisch orientierten Seelsorge vermitteln und jenseits der beiden Engführungen einen „dritten Weg“ suchen; vgl. Meyer-Blanck/Weyel 2008: Studien- und Arbeitsbuch, 47. Das Seelsorgeverständnis pluralisiert sich; vgl. Klessmann 20124: Seelsorge, 49. S.o. 1.1.3.3. Meyer-Blanck/Weyel 2008: Studien- und Arbeitsbuch, 47; vgl. auch Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 209. S.o. Kapitel 1. Meyer-Blanck/Weyel 2008: Studien- und Arbeitsbuch, 47. Grözinger, 19912: Theologie, 209; Hervorhebungen L.K. Mit dem Verhältnis von Form und Inhalt im Selbstverständnis der Praktischen Theologie setzt sich 2007 die Tagung „Ästhetik und Ethik“ auseinander, deren Beiträge im gleichnamigen Sammelband dokumentiert sind (Schlag/Klie/Kunz 2007: Ästhetik). Hier plädiert v. a. Kumlehn (2007: Inszenierte Form) für eine „Verschränkung von ästhetischen und ethischen Dimensionen in praktisch-theologischen Vollzügen“.
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2.2.1 Seelsorge: Ein Modus der Vergegenwärtigung des Evangeliums ad personam Ausgehend von Luthers Formel kann die Poimenik von ihrem Gegenstand – der Seelsorge – als einem Modus der Vergegenwärtigung des Evangeliums sprechen. Ebenso wie sich das Evangelium am konkreten Ort der Predigt oder des Abendmahls in Gestalt wahrnehmbarer Formen zeigt, ereignet es sich in der konkreten Situation der Seelsorge in Gestalt äußerlicher Zeichen und tritt sinnenhaft-leiblich in Erscheinung.⁸⁴ In all seinen möglichen Modi – von welchen der Evangeliumsartikel exemplarisch fünf nennt⁸⁵ – wird der Inhalt des Evangeliums nur dann präsent, wenn er sich vor jemandem präsentiert, wenn er durch eine bestimmte Form (per formam) – z. B. des mündlichen Worts oder Wein und Brot – in Szene gesetzt wird. Der Gehalt des Evangeliums kommt immer nur mittels performativer Gestaltungsprozesse zur Darstellung. In diesem Zusammenhang erweisen sich die in ästhetischer Perspektive bislang v. a. in der Liturgik und Religionspädagogik verhandelten Fragen nach der Performanz auch für die Poimenik als anregend.⁸⁶ Im Rekurs auf die Kategorie der Performanz, hier im Sinne einer eher phänomenalen Semantik verstanden,⁸⁷ lässt sich die in der seelsorglichen Nach Klie (2003: Zeichen, 376) legt sich eine „sinnhaft-leibliche Lesart“ des fünften Gliedes des Evangeliums-Artikels aufgrund der vorangehenden vier Teile nahe. In anderen Schriften Luthers sind sowohl mehr als auch weniger oder andere Modi des Evangeliums als in ASm III/4 aufgezählt; vgl. Henkys 1970: Seelsorge, 28. In liturgischer Perspektive beschäftigen sich die Arbeiten von Meyer-Blanck (1996: Inszenierung; 1997: Inszenierung; 2002: Inszenierung), Friedrich (2001: Körper), Roth (2006: Theatralität) und Plüss (2007: Gottesdienst) mit Fragen der Performanz. Letzterer (Plüss 2007: Gottesdienst, 49 ff) gibt einen Forschungsüberblick zu Theoriekonzepten, die den Gottesdienst aus inszenierungstheoretischer Perspektive in den Blick nehmen. Zur Religionspädagogik vgl. Dressler/Klie (2002: Zeichenspiele), die Beiträge in den beiden Sammelbänden von Klie und Leonhard (2003: Schauplatz; 2008: Performative Religionsdidaktik) sowie Klie (2007: Religion). Auch Bieler (2006: Wort) und Grözinger (2008: Homiletik, 283 ff) setzen sich explizit mit der Performanz der Predigt auseinander. Roth (2006: Theatralität, 15 ff) bietet eine strukturierende Aufordnung des komplexen interdisziplinären Forschungsdiskurses zu den in performativer Hinsicht relevanten Begriffen „Inszenierung“, „Korporalität“, „Wahrnehmung“ und „Performativität“. Vgl. auch 1.2.2.1 und 1.2.2.3. Im Anschluss an Klie/Dressler (2008: Performative Religionspädagogik, 226 f; Hervorhebung im Original): Im „übertragen-weiten Sinne steht der Performanz-Begriff für einen Vorgang, bei dem sich etwas als Äußerung verkörpert. Die Didaktik des Performativen [sowie die performative Religionsdidaktik, L.K.] knüpft in erster Linie an die phänomenale Semantik der jüngeren Performanztheorie an.“ – Zum performativ turn in den Kulturwissenschaften und der damit einhergehenden semantischen Weitung des von Austin (1972: Theorie) als Terminus technicus der Sprechakttheorie eingeführten Neologismus zu einem kulturwissenschaftlichen umbrella term vgl. die Zusammenfassung von Klie (2007: Religion, 52 ff).
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Kommunikationssituation ereignende Vergegenwärtigung des Evangeliums weiter erhellen. Analog liturgiewissenschaftlicher und religionspädagogischer Einsichten ist auch in Bezug auf die Seelsorge zu konstatieren, dass das Evangelium im kommunikativen Vollzug zur leib-räumlichen Aufführung kommt, dass es an konkreten Orten durch entsprechende Gesten, Worte, Stimmlagen, Berührungen, Körperhaltungen, Gegenständen etc. leib-räumlich Gestalt annimmt. Die Vergegenwärtigung eines Inhalts – hier des Evangeliums – ist mithin an die Verleiblichung bzw. Verräumlichung in äußerlich wahrnehmbare Formen gebunden: „Erst dargestellte, d. h. räumlich wahrnehmbare und leiblich vermittelte Inhalte können überhaupt als bedeutsam erkannt und moduliert werden. Inhalte, auch und gerade religiöse Inhalte, gibt es nicht ohne die sie bergenden Formen.“⁸⁸ Anders formuliert: „Die Sache gibt es nur, indem sie zum Zeichen wird, indem sie inszeniert und präsentiert wird, um rezipiert zu werden.“⁸⁹ Mit Performanz ist also ein leib-räumliches Vorzeigen gemeint, es geht um elementare leib-räumliche Deutungsakte. Eng mit dem Performanz-Begriff sind zwei weitere Kategorien verbunden, die bereits ebenfalls in Liturgik und Religionspädagogik Eingang gefunden haben und sich unter einer performativen Fragestellung auch in poimenische Überlegungen einspielen lassen: Die Inszenierung, die sich auf den konkreten Formgebungsprozess bezieht, und die Präsenz, mit der die „persönliche Komponente“⁹⁰ des Inszenatorischen, d. h. eine Person in einer bestimmten Rolle bezeichnet ist.⁹¹ „Der Begriff der ‚Inszenierung‘ weist […] auf das Verhältnis von unverfügbarer Wirklichkeit und menschlich verantworteter, dargestellter Wirklichkeit des Evangeliums, oder sehr viel einfacher: Der Begriff der ‚Inszenierung‘ beinhaltet eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das Verhältnis von Inhalt und Form.“⁹² Dient der Inszenierungsbegriff nunmehr dazu, im liturgiewissenschaftlichen Kontext das „Ineinander von Gottes Verheißung und menschlicher Gestaltungskunst“⁹³ zu
Leonhard/Klie 2003: Performative Religionspädagogik, 10. Meyer-Blanck 1996: Inszenierung, 4. A.a.O., 12. Die Kategorie der Präsenz wird im vierten Kapitel, in dem es um mögliche Formen des religiössinnhaften Deutungsspiels der Seelsorge geht, als Morphologie seelsorglicher Präsenz wieder aufgegriffen. Meyer-Blanck 1997: Inszenierung, 18. – Zurzeit erfährt der Inszenierungsbegriff eine kaum mehr zu überblickende Konjunktur. Einen begriffs- und ideengeschichtlichen Überblick zum Inszenierungsbegriff gibt Plüss (2007: Gottesdienst, 86 ff). Im Folgenden wird in erster Linie an den aus semiotischer Perspektive geprägten Inszenierungsbegriff von Meyer-Blanck angeschlossen; zur Literatur vgl. Anm. 86. Meyer-Blanck 1997: Inszenierung, 12.
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beschreiben, so wird er unmittelbar für eine Seelsorge relevant, die als Modus der Vergegenwärtigung des Evangeliums verstanden wird. Nicht nur im Gottesdienst, sondern auch in der Seelsorge geht es um die „Inszenierung des Evangeliums“,⁹⁴ also nicht um eine scheinbar vorab gegebene, zeitlos gültige Wahrheit des Verkündigten, sondern um das In-Szene-Setzen des Evangeliums in einer konkreten seelsorglichen Kommunikationssituation, in der mindestens „zwei versammelt sind in meinem Namen“ (Mt 18,20). „Nicht ob das Evangelium an sich wahr ist, ist die entscheidende Frage, sondern ob es in einer konkreten Situation für konkrete Menschen wahr wird, ob es tröstet, lehrt, orientiert, begeistert, zum Handeln hilft.“⁹⁵ Damit ist die Wahrheitsfrage in semiotischer Perspektive zwar nicht suspendiert, jedoch ist sie nicht länger adäquations-, sondern deutungstheoretisch zu beantworten.⁹⁶ Werden Bedeutungen – auch die Bedeutung des Evangeliums – nicht mehr als im Vorab gegeben betrachtet, sondern ergibt sich Bedeutung in actu, im rezeptiven Vorgang des Deutens, so sind Bewahrheitungen stets an Wahrnehmung und an eine entsprechende Deutungsinstanz gebunden. Jede Deutung – auch die religiöser Zeichen – ist grundsätzlich kontingent. Religion ist nicht anders als als „Kommunikation in Form“⁹⁷ zugänglich. Religion zeigt sich, tritt in Erscheinung, wird im Modus performativer Handlungen präsentiert und „in Form“ gebracht. Performanz erweist sich als ein „genuines Kennzeichen religiöser Sprache“,⁹⁸ oder mit Meyer-Blanck semiotisch auf den Punkt gebracht: „extra signum religio non est“.⁹⁹ Dabei entzieht sich die Referenz der Performance einem semiotischen oder systemtheoretischen Zugang.¹⁰⁰ Gerade für den christlichen Glauben, der auf einem als Christusereignis gedeuteten historischen Ereignis basiert und davon lebt, dass dieses Ereignis in religiösen Vollzügen vergegenwärtigt wird, bietet sich ein deutungstheoretischer Zugang an. Von Beginn an ist die Kirche bzw. die christliche Religion mit einer Mitteilungsabsicht, mit der „Kommunikation des Evangeliums“¹⁰¹ verbunden. Die
So der Titel der Schrift von Meyer-Blanck a.a.O. Meyer-Blanck 1996: Inszenierung, 4. In der zeichentheoretisch orientieren Literatur (s.o. Anm. 86) wird mehrfach darauf hingewiesen, dass der semiotische Zugang mit einer im weitesten Sinne konstruktivistischen Perspektive korrespondiert. – Zur konstruktivistischen Betrachtungsperspektive der vorliegenden Untersuchung s.u. 3.1. Klie 2007: Religion, 58. Dressler/Klie 2008: Performanz, 214. Meyer-Blanck 2002: Inszenierung, 119; Kursivierung L.K. Vgl. Klie 2007: Religion, 60: „[D]ie Wahrheit der Zeichenreferenz selbst ist […] nicht semiotisierbar“. Die Wendung geht auf Lange (1981: Bilanz 65, 101 ff) zurück.
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Praxis des Evangeliums ist bestimmt von Inszenierungen und „vermittelt sich […] durch religiösen Ausdruck, d. h. in Formen leib-räumlicher Performanz.“¹⁰² Die Verschriftlichung zum Kanon schafft einer schriftorientierten Religion wie dem Christentum die Bedingung für die Wiederholung des Verstehens einer Mitteilung.¹⁰³ Das heißt, ein Mitteilungsereignis wie ein biblischer Text, eine liturgische Formel etc. kann beliebig oft gelesen, rezipiert, inszeniert werden. Dabei meint Wiederholung nicht Wiederholung im Sinne ein und desselben Verstehens. Denn obwohl die Referentialitätskomponente der Mitteilung unverändert bleibt, kann bei jedem neuen Verstehen etwas anderes verstanden werden, sind die Deutungen zwar nicht beliebig, jedoch virtuell zahllos. Der iterative Prozess ist daher als unendliche Semiose zu beschreiben. Der mit der Performanz bezeichnete Aktualisierungsprozess – z. B. einem Wortlaut wie „Ich segne dich!“ – zielt darauf ab, eine Mitteilung in unterschiedlichen Verstehenskontexten zu inszenieren. Dies kann auch systemtheoretisch eingeholt werden: Das Evangelium steht in dem komplexen Spannungsverhältnis zwischen Kondensieren und Konfirmieren,¹⁰⁴ zwischen Kontextfreiheit und Kontextabhängigkeit. Seine Identität beruht auf der Iteration wiedererkennbarer, kondensierter Sinnmomente in immer neuen, zeit-räumlich variablen Aufführungssituationen. Bei der seelsorglichen Vergegenwärtigung des Evangeliums geht es demnach um die vom Kontext abhängige Wiederverwendung kondensierter Formen des Evangeliums in einer konkreten Kommunikationssituation. Es geht darum, das Evangelium zu konfirmieren. Hierbei bleibt das Evangelium in jeder seelsorglichen Aktualisierung das Gleiche, jedoch nicht dasselbe. Insofern ist mit Inszenierung keineswegs eine Re-Inszenierung des Heilsgeschehen oder gar des Heiligen gemeint. Denn die Nähe Gottes ist weder verfügbar noch inszenierbar, sondern gebunden an die Verheißung Christi, bei denen zu sein, die sich in seinem Namen versammeln (Mt 18,20). – Daher ist hier die Rede von der Inszenierung des Evangeliums, also einer an Deutung und Rezeption gebundenen Kategorie und gerade keiner seinsförmigen Größe.
Leonhard/Klie 2003: Performative Religionspädagogik, 9. Zur mündlichen und schriftlichen Kommunikation in der Religion – insbesondere im Christentum – und den sich mit der Schrift eröffnenden Möglichkeiten zur Selbstthematisierung vgl. Hahn (1998: Glaube). Zu der Doppelbegrifflichkeit von condensation und confirmation vgl. Luhmann (1997: Gesellschaft, 75 und 143; 20063: Einführung, 332 f). – Das Kondensieren von Sinnmomenten auf markierbare Formen geschieht selektiv durch das Weglassen all dessen, was in anderen Situationen nicht wiederholt werden kann. Konfirmieren bezeichnet die Wiederverwendung kondensierter Formen in einer aktuellen Situation.
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Bemerkenswert ist ferner, dass das Evangelium nicht auf ein Kommunikationsmedium beschränkt bleibt, sondern sich auf vielerlei Weise in verschiedensten Formen kommunikativer Darstellung zeigt – Tyrell kann aus religionssoziologischer Perspektive sogar von einer „Multimedialität religiöser Kommunikation“¹⁰⁵ sprechen. Insbesondere aus historischer Sicht legt sich ein Zusammendenken der „religiösen Evolution“ des Christentums mit der Evolution der „Verbreitungsmedien“ (Luhmann)¹⁰⁶ – gemeint ist die Entwicklung von der verbalen Kommunikation der Interaktion über Schrift und Bild sowie Buchdruck hin zu den modernen Massenmedien – nahe: So erfolgt bspw. im frühen Christentum die Umstellung von der schweren Schriftrolle zum leichteren Buchkodex, und die Reformation wäre ohne ihren unmittelbaren Zusammenhang mit der Entwicklung des Buchdrucks undenkbar.¹⁰⁷ Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich, dass „Glaubensmotive keine Seinsverhältnisse abbilden, sondern eine religiös bestimmte Sicht der Dinge.“¹⁰⁸ Insofern wird es obsolet, nach der „eigentlichen“ Wirklichkeit unter („in die Tiefe gehen“), hinter („hinterfragen“) oder neben („symbolisch“) den Zeichen zu fragen,¹⁰⁹ da sich die Wirklichkeit in actu auf der Kommunikationsoberfläche als Zeichen performiert. Wird etwa ein biblischer Wortlaut wie Mt 6,9 – 13 (das Vaterunser) auf der seelsorglichen „Bühne“ durch Sprachgestus sowie Hand- und Körperhaltung leib-räumlich als Gebet zur Aufführung gebracht, wird Wirklichkeit gesetzt. Wenn das Evangelium nicht als ontologisch deutbare Größe betrachtet wird, bedarf es der aktualisierenden Darstellung und muss nicht nur liturgisch und homiletisch, sondern auch poimenisch performativ (per) in Szene gesetzt werden, um gute Nachricht für (pro) jemanden zu werden. Dann geht es nicht nur im Hinblick auf den Religionsunterricht, sondern auch im Hinblick auf die Seelsorge darum, in einer konkreten Lebenssituation zu einem „Weltbetrachtungsexperiment“ einzuladen: „Es geht darum, sich selbst und die Welt […] probeweise unter die Hypothese zu stellen: etsi deus daretur, als ob es Gott gäbe.“¹¹⁰ Der Wahrheitsgehalt der Gottesbeziehung wird sich dabei über ihre wirklichkeitserschließende Kraft erweisen.
Tyrell 2002: Religiöse Kommunikation, 50; Hervorhebung im Original. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 202 ff. Vgl. Tyrell (2002: Religiöse Kommunikation, 49 ff), der in seinem Beitrag anhand drei „religiöser Fallbeispiele“ aus dem Alten Testament, dem frühen Christentum und der Reformation die „‚kommunikative Bestimmtheit‘ des Religiösen“ (a.a.O., 55) aufzeigt. – Auf die Affinität der (christlichen) Religion zu den Medien weist auch Grözinger (2008: Homiletik, 265 f) hin. Dressler/Klie 2002: Zeichenspiele, 98; Hervorhebung im Original. Vgl. Leonhard/Klie 2008: Ästhetik, 10 f. Dressler/Klie 2008: Performanz, 221; Kursivierung im Original.
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Da Performanz nicht an ein bestimmtes Inszenierungsmuster gebunden ist, gilt die Pointe des Evangeliums-Artikels auch hinsichtlich der Seelsorge: Der reichen Gnade Gottes entspricht ein multiplex modus Evangelii. Der Vielgestaltigkeit des Evangeliums entspricht in der Seelsorge die Pluralität der Zueignungsformen. Am seelsorglichen Ort geht es deshalb darum, „das eine Evangelium vielfältig, angemessen in Szene zu setzen, damit es wahrgenommen und für wahr genommen wird, um neu wahr zu werden.“¹¹¹ Es bleibt festzuhalten, dass mit der Aufnahme eines im weitesten Sinne semiotisch orientierten Performanz- ¹¹² und Inszenierungsbegriffs Seelsorge als performative Vergegenwärtigung des Evangeliums im Spannungsfeld von göttlicher Verheißung und menschlicher Gestaltungskunst beschrieben werden kann. Die poimenische Rezeption der bislang v. a. in Liturgik und Religionspädagogik aufgenommenen Kategorien weist die Seelsorgelehre auf die ästhetische Dimension des von ihr reflektierten kommunikativen Geschehens hin. Hieraus ergibt sich eine gesteigerte Aufmerksamkeit für sinnenhafte Gestalten und äußerliche Kommunikationsumstände, für die Wechselbeziehung von Inhalt, Form und Rezeption. Die Formfrage ist über die Performanz von leib-räumlichen Darstellungen zu lösen, Inhaltsfragen stellen sich aus semiotischer Perspektive als Inszenierungsfragen. ¹¹³ Oder um es nochmals mit Meyer-Blanck zu formulieren: „Es gibt keine Inhalte ohne die sie bergenden Formen, und es gibt keine Inhalte und Formen ohne die Menschen, welche ihnen Gestalt geben bzw. sie wahrnehmen.“¹¹⁴ Der Inhalt ist weder von seinem Gebrauchskontext noch von der deutenden Rezeption zu lösen. Wird in der Seelsorge dem Evangelium die äußerliche Gestalt „fassbarer“ und kommunizierbarer Formen gegeben, so ist in der Poimenik zu reflektieren, auf welche Weise(n) sich das Evangelium am seelsorglichen Ort performiert, welche Möglichkeiten sich für die seelsorgliche „Inszenierung des Evangeliums“ (MeyerBlanck) anbieten. Folgt man dem Wortlaut der Formel Luthers, so vergegenwärtigt sich das Evangelium in der Seelsorge, um zu trösten. Indem sich das Evangelium in einer konkreten seelsorglichen Situation für jemanden als consolatio ereignet, wird es wahr. Mit der consolatio bietet die Formel eine konkrete Gestalt der Heilszueignung an, die kategorial im Spannungsfeld zwischen unverfügbarer Zueignungsform und subjektiver Deutung steht. „So ist Trost ganz und gar ein Ge-
Meyer-Blanck 1996: Inszenierung, 5; Hervorhebungen L.K. Zur Semiotizität des Performanz-Begriffs vgl. die Beiträge von Dressler und Klie (2002: Zeichenspiele; 2008: Performanz, 217 f; 2008: Performative Religionspädagogik, 228 ff). Vgl. Dressler/Klie 2002: Zeichenspiele, 94. Meyer-Blanck 1997: Inszenierung, 16.
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schehen, das dem Menschen von außen widerfährt und ihn im Innersten trifft – und zwar so, daß damit die Welt für ihn ein neues Aussehen gewinnt, er sein Leben anders anzusehen und anzupacken vermag.“¹¹⁵ Die dem Menschen „zuvorkommende“ Gnade Gottes muss von jemandem im Glauben ergriffen werden, um für diesen in einer konkreten Situation wirklich und wahr zu werden. Daher bildet auch die seelsorgliche „Inszenierung des Evangeliums“ (Meyer-Blanck) keine Wirklichkeit ab, sondern zeigt Wirklichkeit unter christlicher Perspektive und eröffnet damit die Möglichkeit, Welt zu deuten und Lebenswirklichkeit(en) (neu) zu konstruieren. Der Aspekt der Unverfügbarkeit des Trosts zeigt sich bereits auf syntaktischer Ebene des Evangeliumsartikels: Subjekt des Satzes ist nicht der dem Evangelium Gestalt gebende Mensch, sondern das Evangelium selbst, das sich in den aufgezählten Modi für den Menschen performiert. In den Schmalkaldischen Artikel ist die consolatio deutlich in ein soteriologisches Bedeutungsfeld hineingestellt und bezeichnet eine Heilsgabe. So sind z. B. die Artikel über die Buße und das Evangelium aufeinander bezogen, indem bereits der Bußartikel dem Amt des Gesetzes „die trostliche Verheißung der Gnaden durchs Evangelion, der man gläuben solle“,¹¹⁶ zur Seite stellt.¹¹⁷ In der einschlägigen Literatur ist bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, dass der Trostbegriff in der Lutherschen Seelsorge eine zentrale Rolle spielt.¹¹⁸ Die mutuale Tröstung des angefochtenen Gewissens zum Glauben ist also ein wesentlicher Zug der Seelsorge Luthers – dies unterstreicht Mennecke-Haustein auch in Bezug auf die Luthersche Briefseelsorge: „Das consolatorische Element darf also als ein charakteristischer Wesenszug der Lutherschen Gesamtkorrespondenz gelten“.¹¹⁹ Lässt sich die Poimenik vom Lutherschen Trostverständnis anregen, so wird sie auf die entsprechenden Bibelstellen verwiesen.¹²⁰ Denn die consolatio be-
Weymann 1989: Trost, 46; Hervorhebungen L.K. BSLK 199812, 437, 11– 13. S.o. 2.1. Auch wenn erst bei Luther der Terminus „Seelsorge“ zu einem Hauptwort des theologischen Sprachgebrauchs wird (vgl. Ebeling 1994: Gebrauch), erscheint in den Schriften Luthers der Begriff „Trost“ (consolatio) viel öfter als der der „Seelsorge“ (vgl. Treu 1986: Bedeutung, 11). – Treu (1984: Trost; 1986: Bedeutung) untersucht anhand von Schriften und Briefen Luthers bis 1525 die Entwicklung des Lutherschen Trostverständnisses. Die dort dargestellten Aspekte sind auch für das spätere Trostverständnis Luthers grundlegend. Mennecke-Haustein 1989: Trostbriefe, 13. Die kirchengeschichtlich lange Tradition des Begriffs consolatio als juristischer Terminus scheint im Sprachgebrauch Luthers keine Rolle zu spielen; vgl. Treu 1986: Bedeutung, 11 f. Daher lässt sich mit den entsprechenden lateinischen Bedeutungswörterbüchern der Trostbegriff Lu-
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zeichnet in den Schriften Luthers – und damit auch der Lutherschen Formel – einen aus dem Evangelium erwachsenen und daher eng mit dem Wort Gottes verbundenen Trost. Gemäß 2. Kor 1,3 f – eine Stelle, die der Reformator z. B. im Trostbrief an die Miltenberger aufgreift¹²¹ – gilt als Urheber dieses evangelischen Trosts Gott selbst:¹²² „Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Trübsal, damit wir auch trösten können, die in allerlei Trübsal sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott.“¹²³ Das heißt, die Poimenik kann zwar über die Formen der seelsorglichen Inszenierung des Evangeliums reflektieren, die Vergegenwärtigung des Evangeliums zum Zweck des Trosts entzieht sich jedoch ihrem Zugriff. Das tröstende Evangelium realisiert sich in der seelsorglichen Kommunikation zwar nicht anders als in an rezeptive Deutung gebundene Zeichen, der Seelsorger selbst ist jedoch weder Urheber noch Garant des Trosts, sondern selbst trostbedürftiger Tröster, der nach dem paulinischen Diktum das weitergibt, was er selbst empfangen hat. Dies mag für den Seelsorger einerseits entlastend sein, andererseits macht es ihn auf seine eigenen Ausdrucksformen des Glaubens und sein eigenes Bekenntnis ansprechbar. Aufgabe des Seelsorgers ist es dann, die Bedingung der Möglichkeit zu schaffen, damit sich mittels Kommunikation für jemanden Trost ereignen kann. Damit begegnet in diesem Zusammenhang wieder das Ineinander von unverfügbarer Zueignungsform und subjektiver Rezeption, das Treu folgendermaßen formuliert: „Das Handeln Gottes geschieht nach Luther auf zweierlei Weise, äußerlich durch das mündliche Wort des Evangeliums und die Sakramente, innerlich durch den Heiligen Geist und den Glauben. Dabei rechnet Luther mit einem Vorausgehen des göttlichen Handelns in der äußerlichen Sphäre. Beide Ebenen aber sind nicht voneinander zu trennen. Deswegen löst sich der Trost Gottes nicht in eine wortlose Innerlichkeit des Menschen auf.“¹²⁴ Letztlich ist bei Luther das Trostgeschehen auf das Kreuz Christi, auf die tröstende Rechtfertigung des sündigen Menschen, der sich selbst nicht aus seiner thers schwerlich näher erhellen. Dies gilt im Übrigen für die Luthersche Formel insgesamt, die sich genuin christlicher bzw. monastischer Semantik bedient; s. o. 2.2. Vgl. WA 15, 69, 8 – 21 (Nr. 712); vgl. Treu 1986: Bedeutung, 12 ff. Dem widerspricht nicht der syntaktische Befund des Evangeliumsartikels, dass das Evangelium Subjekt der einleitenden Satzteile ist. Denn semantisch steht die consolatio in einem engen Zusammenhang mit der Soteriologie, und als Urheber der Rechtfertigung gilt allein Gott – außerdem erscheint „Gott“ in der Parenthese ebenfalls als Subjekt. Vgl. auch 2. Kor 7,6 f: „Aber Gott, der die Geringen tröstet, der tröstete uns durch die Ankunft des Titus; nicht allein aber durch seine Ankunft, sondern auch durch den Trost, mit dem er bei euch getröstet worden war.“ Treu 1984: Trost, 94.
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
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Schuldverstrickung befreien kann, zugespitzt.¹²⁵ Treu bringt die für den evangelischen – im biblischen, nicht konfessionellen Sinne verstanden – Trostbegriff Luthers wesentlichen Aspekte auf den Punkt: „Vier Sachverhalte kennzeichnen […] Luthers Auffassungen vom Trost […]: Gott ist der Urheber des Trostes, Christus sein Inhalt und gleichzeitig sein Vermittler. Der Glaube ist die Haltung, die den Trost ergreift, der Freiheit braucht, um vollzogen zu werden, und für den getrösteten Menschen Freiheit schafft, am Nächsten zu handeln. Luthers Trosttheologie erweist sich also bei genauer Betrachtung als die spezifisch poimenische Dimension seiner Rechtfertigungslehre.“¹²⁶ Rekurriert die Poimenik im Anschluss an die Luthersche Formel auf den Begriff der consolatio, so bezieht sie sich auf ein Geschehen extra nos, das eine Selbsttröstung des Menschen ausschließt. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen ist evident, dass die heute gebräuchliche, alltagssprachliche Semantik von „Trost“ auf ein Bedeutungsfeld verweist, das sich vom evangelischen Trostbegriff unterscheidet. Es fällt auf, dass im heutigen Sprachgebrauch adjektivische Verwendungen wie „tröstlich“ oder „trostreich“ weit öfter als das Substantiv begegnen.¹²⁷ Ambivalent mag der Trostbegriff vor allem dadurch erscheinen, dass „Vertröstung“ – im Sinne von beschwichtigendem, „guten Zureden“ oder über eine Widerwärtigkeit hinwegtrösten – eher geläufig ist als ein „Getrostwerden“, das Halt gibt: „Umgangssprachlich sind die Worte ‚Trost‘ und ‚trösten‘, einst von sprachlicher Prägnanz und Ausstrahlungskraft, in ihrem Glanz verblaßt und heutzutage mit eher zwiespältigen Eindrücken verbunden. Zwiespältig, weil dabei der Verdacht auf Vertröstung eher begründet erscheint als die Verläßlichkeit von Vertrauen.“¹²⁸ – In den Schriften Luthers ist übrigens so gut wie nie vom „Vertrösten“ die Rede.¹²⁹
Auf der anderen Seite impliziert consolatio – neben der unverfügbaren Heilszueignung extra nos – zugleich immer ein subjektives Geschehen, denn nur das Subjekt kann definieren, was sich für es selbst als Trost erweist. Was als Trost erfahren wird, ist unmittelbar von der Rezeptionsleistung einer Deutungsinstanz abhängig. In dieser deutungstheoretischen Hinsicht gewinnt die Kategorie des
Vgl. a.a.O., 95. Treu 1986: Bedeutung, 25. Vgl. z. B. den ebenfalls formelhaften Passus in Beerdigungsdanksagungen: „Dank an Pastor NN für seine trostreichen Worte“. Weymann 1989: Trost, 12. – In der aus der Praxis der Krankenhausseelsorge erwachsenen Schrift „Trösten – aber wie?“ stellt Schäfer (20122: Trösten) in verschiedenen Fallbeispielen einem „falschen Trost“, der „vertröstet“, den „echten Trost“, der „heilt“ gegenüber. Auch wenn Schäfer feststellt, dass „Körperkontakt […] das Fundament der Anteilnahme [ist]“ (a.a.O., 92), konzentriert sich der Leitfaden auf die Verbalsprache als „Werkzeug des Tröstens“ (a.a.O., 37 ff) und nimmt nicht explizit Bezug auf den im Evangelium begründeten Trost. Vgl. Treu 1984: Trost, 92.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
Subjekts, an der sich die Seelsorge traditionell ausrichtet, für die Poimenik an Relevanz.¹³⁰ So kann eine seelsorgliche Kommunikation durch die respektvolle Begegnung unter „Nächsten“, unter geschwisterlichen Mit-Gliedern am Leib Christi z. B. einen Menschen trösten, dessen Alltag gerade nicht von achtungsvollem zwischenmenschlichem Umgang geprägt ist. Auch ein Gebet, der Empfang des Abendmahls, ein konkreter Bibelvers, eine unmittelbar-tatkräftige Hilfe oder der Zuspruch eines befreienden „te absolvo!“ kann sich in der Seelsorge als Trost erweisen. Ferner kann beim erzählenden Konstruieren von Lebensgeschichte(n) im seelsorglichen Kontext Trost erfahren werden, indem sich neue Möglichkeiten eröffnen, die eine befreiende Wirklichkeit zeigen. Systemtherapeutisch gesehen geht es dabei um das Einspielen anderer Optionen, um mit einer neuen Wirklichkeitskonstruktion einen größeren Spielraum als mit der alten Perspektive zu eröffnen.¹³¹ In der Seelsorge kann das z. B. durch das plausible Einschreiben der konkreten subjektiven Lebenssituation in die Geschichte Gottes mit dem Menschen geschehen. Solcher „Trost wider den Augenschein“¹³² kann dabei auf paradoxe Formulierungen wie sie im paulinischen Sprachgebrauch anzutreffen sind, zurückgreifen – bspw. auf 2. Kor 6,9 f:¹³³ „als die Sterbenden und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben.“ An diesen Beispielen wird deutlich, dass die seelsorgliche Performanz des Evangeliums nicht an ein allgemeingültiges Inszenierungsmuster gebunden ist, sondern dass in jeder konkreten Kommunikationssituation adäquate Gestaltungsformen zu finden sind. Das heißt: „Ein Seelsorgegespräch kann durch das Zeugnis der Nähe Gottes trösten, auch wenn im entscheidenden Moment nichts gesagt wird. Ein solches Gespräch kann aber auch gerade deswegen scheitern, weil nur – bestimmten Regeln folgend – zugehört und nichts gesagt wird.“¹³⁴ Von Interesse ist daher weniger die Frage, was Trost im abschließend-definitorischen Sinne „ist“, sondern dass sich etwas für jemanden als Trost ereignet, und auf diese Weise das Evan-
Die vorliegende Untersuchung geht von einem dynamisch-prozesshaften Subjektverständnis aus. Mit dem Terminus „Subjekt“ wird das kulturelle Konstrukt, das sich als Resultat im Zwischenraum struktureller Kopplungen von psychischen und sozialen Systemen entwickelt (s.u. 3.2.2.1.2), bezeichnet. Zur systemischen Therapie und Beratung s.o. 1.1.3.1. Weymann 1989: Trost, 97. Vgl. ebd. Meyer-Blanck 1996: Inszenierung, 5.
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
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gelium für jemanden zur wirklichen und damit zur guten Nachricht wird. Bezeichnet consolatio personalisiertes Evangelium pro me, so erweist sich Seelsorge als ein Modus der Vergegenwärtigung des Evangeliums ad personam. Mit Blick auf Luthers Formel und den consolatio-Begriff in den Schriften Luthers kann das weite Feld des Trost-Begriffs in theologischer Hinsicht noch präziser abgesteckt werden. Werden die beiden Rahmenglieder des Evangeliumsartikels – also das erste und das die Luthersche Formel und die Worte aus Mt 18,20 umfassende fünfte Glied – gemäß der Textanalyse parallel gelesen, so kann im fünften Glied, das sich das Ereignis des Evangeliums auf Ebene der Personalisierung zum Gegenstand macht, consolatio als personalisierte Sündenvergebung verstanden werden. So erweist sich auch in der Lutherschen Formel die consolatio als spezifisch poimenische Dimension der Rechtfertigungslehre Luthers. Soteriologisch betrachtet zielt die Seelsorge damit auf das Getrostwerden eines angefochtenen Gewissens. Dem Subjekt, dessen Verbundenheit mit Gott in Frage gestellt ist, soll neues, Halt gebendes Vertrauen außerhalb seiner selbst vermittelt werden. Dabei ist das seelsorgliche Trostgeschehen kategorial situationsbezogen und bewährt sich ad personam. Trost muss sich performieren, muss für jemanden in einer konkreten Lebenssituation wahr werden, damit diese Situation neu wahrgenommen und verwandelt werden kann.¹³⁵ – In diesem Zusammenhang ist die häufig anzutreffende Vorstellung, Seelsorge sei ähnlich der Therapie an defizitäre, negativ konnotierte Krisensituationen gebunden, zu revidieren. Denn für den Menschen – simul iustus et peccator – kann sich in jeder Lebenssituation Evangelium als gute Nachricht ereignen, kann z. B. an den „Umbrüchen des Lebens“ – gleich, ob diese vom jeweiligen Subjekt positiv oder negativ gedeutet werden – evangelischer Trost erfahren werden. In der Seelsorge geht es dann nicht primär um Krisenbegleitung, sondern darum, einen Teil der Lebensgeschichte unter der Perspektive des Evangeliums zu deuten und evtl. neu zu konstruieren. Auf welche Weise in der Seelsorge Trost erfahren wird, welche konkrete Performance des Evangeliums sich für jemanden als Trost erweist, ist kontingent und wird sich in der seelsorglichen Praxis auf unterschiedliche Weise aktualisieren. Die subjektiv-deutungstheoretische Kategorie des Trosts verweist auf ein multiformes Geschehen. Im Blick auf Mt 18,19 – „Wahrlich, ich sage euch auch: Wenn zwei unter euch eins werden auf Erden, worum sie bitten wollen, so soll es
Weymann (1989: Trost, 67 ff) arbeitet den Aspekt der Situationsbezogenheit anhand des 2. Korintherbriefs heraus: Der Brief, der wie kein anderer Paulus in Trübsal und Bedrängnis zeigt, beginnt mit dem Lobpreis des Gott allen Trosts (2. Kor 1,3 f). Bemerkenswert ist hier, dass die Veränderung der trostlosen Situation nicht als Voraussetzung des Trosts gedeutet wird, sondern sich die Veränderung allererst durch den Trost in der Trübsal erschließt.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel“ – wird dieser Aspekt unmittelbar einsichtig: „Was wird im mutuum colloquium durch das Evangelium gegeben? Es kann Vergebung sein […], es kann Trost, Aufmunterung, Rat sein. Es wird das gegeben, was erbeten wird.“¹³⁶ Die Seelsorge kann also die Beichte, die Luther im Großen Katechismus auch als „trostlich Ding“¹³⁷ bezeichnet, nicht als ausschließliche, jedoch als eine mögliche Form des seelsorglichen Trosts mit einschließen. Damit werden die Engführungen sowohl kerygmatischer als auch psychotherapeutisch orientierter Seelsorge obsolet:Weder ist als „eigentliches Ziel“ des seelsorglichen Gesprächs die Einzelbeichte zu bestimmen, wie der kerygmatischen Seelsorge von Scharfenberg vorgeworfen wird,¹³⁸ noch ist die seelsorgliche Kommunikation radikal von der Form der Privatbeichte zu lösen, wie im Gegenzug Scharfenberg konstatiert: „Demgegenüber [dem Ansatz der kerygmatischen Seelsorge, L.K.] muß nun auf das deutlichste betont werden, daß man sich kaum einen größeren Unterschied wie den zwischen Gespräch und Beichte denken kann.“¹³⁹ Und vor dem Hintergrund psychologischer und soziologischer Erwägungen empfiehlt er für die Praxis: „Wo Menschen von sich aus mit dem Beichtbegehren zum Seelsorger kommen, muß deshalb zunächst sehr sorgfältig geprüft werden, ob nicht ein krankhafter Prozeß im Hintergrund steht, gegen den der Vollzug der Beichte und der Zuspruch der Vergebung zwangsläufig völlig wirkungslos bleiben muß.“¹⁴⁰
Die im Evangeliums-Artikel konstatierte Gestaltenvielfalt des Evangeliums ist also ebenso für das konkrete seelsorgliche Trostgeschehen zu veranschlagen. Dies zeigt sich bereits in der Seelsorge Luthers: „Die verschiedenen Situationen, denen der Seelsorger begegnet, verlangen verschiedene Weisen der Applikation des Trostes. Die Zurechtweisung eines Tyrannen ist ebenso eine Reaktionsmöglichkeit wie Beratung oder Ermahnung.“¹⁴¹ Der evangelische Trostbegriff steht mithin – ebenso wie das Evangelium selbst – in einem konstitutiven Spannungsverhältnis: Als eine für den Menschen unverfügbare Form der Heilszueignung bezeichnet consolatio ein Geschehen extra nos, das sich per formam pro me erweist. Wird Seelsorge von einem derartigen Trostgeschehen extra nos her verstanden, so ist damit eine Grenze des poimenischen Feldes markiert, die aus systemtheoretisch-semiotischer Sicht mit dem Begriff der religiös-christlichen Codierung eingeholt werden kann.¹⁴² Die Bestimmung der Seelsorge als ein Modus der Vergegenwärtigung des Evangeliums, als evangelischer Trost pro me ist nicht
Henkys 1970: Seelsorge, 40. BSLK 199812, 732, 2. Vgl. Scharfenberg 1972: Seelsorge, 20. Ebd. A.a.O., 22. Treu 1984: Trost, 100. S.u. 3.2.2.2.2.
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
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mit der ausschließlichen Ausrichtung ihres Propriums an der Therapie vereinbar. Denn im Unterschied zu humanwissenschaftlich-therapeutischen Konzepten geht die theologische Sichtweise von einer Anthropologie aus, die konsequent die Ohnmacht des Menschen in den Blick nimmt und dessen grundsätzliche Passivität im Rechtfertigungsgeschehen betont: Die Rechtfertigungshandlung wird allein Gott in Christus zugeschrieben. Ein solch fundamentales extra nos lässt sich im therapeutischen Rahmen nicht denken. Ausgehend von einer grundsätzlich positiven Perspektive auf den Menschen nehmen die therapeutischen Ansätze im Allgemeinen an, dass die zur Lösung eines „Problems“ benötigten Ressourcen im Menschen selbst liegen und in der Therapie lediglich aktiviert werden müssen – eine elementare Auffassung, die auch in den Ansätzen systemischer Seelsorge zu finden ist.¹⁴³ Der therapeutische Prozess wird daher zu einer Art Selbsthilfeprozess, der in einem, durch entsprechende Einstellungen des Therapeuten¹⁴⁴ evozierten, therapeutischen Klima die eigenen „Selbstverwirklichungskräfte“ des Menschen – Rogers spricht hier von der „Aktualisierungstendenz“¹⁴⁵ – fördert, damit „Probleme“ von selbst überwunden werden können. Als Ziel der Therapie gibt die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie von Rogers Selbstakzeptanz und Kongruenz an. Die am Beginn der Therapie stehende Inkongruenz zwischen dem Selbstkonzept und subjektiven Gesamterleben einer Person soll im Therapieverlauf in eine größtmögliche Identität von „ideal self” und „real self” überführt werden.¹⁴⁶ Aus theologischer Perspektive muss dann jedoch insbesondere an die Entwürfe der therapeutischen Seelsorge die Frage gerichtet werden, ob diese nicht einem der Therapie entlehnten „Selbsttröstungs“-Konzept erliegen, ob das theologische extra nos nicht durch ein humanwissenschaftlich-therapeutisches intra me substituiert wird.¹⁴⁷ Auch im Blick auf die Luthersche Formel erscheint eine einseitige Ausrichtung des seelsorglichen Propriums an außertheologischen Theorien und Zugängen wie z. B. der Therapie oder der Soziologie fraglich. Denn wie in den einleitenden Satzteilen des Evangeliumsartikels zu lesen ist, gibt die Seelsorge als ein
Zur systemischen Seelsorge s. o. 1.1.3.2. Als wichtigste Einstellungen werden meist Kongruenz, bedingungsfreie Akzeptanz und Empathie genannt; vgl. Rogers 1983: Therapeut, 22 ff und 149 ff. – Zur Rezeption in der Poimenik s.o. Anm. 76. Vgl. Rogers 1983: Therapeut, 41 f. Vgl. a.a.O., 32 ff und 138 ff. Diese Anfrage wurde in der Poimenik unter dem Stichwort „Proprium“ bereits vielfach diskutiert; vgl. z. B. Riess 2007: Frage. – In ihrem Entwurf einer consolatorischen Seelsorge setzt Rolf (2003: Sinn) dem humanwissenschaftlich-therapeutischen Menschenbild eine auf dem servum arbitrium-Konzept Luthers basierende theologische Anthropologie entgegen.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
Modus der Vergegenwärtigung des Evangeliums nicht nur „Rat und Hulf“ – analog der Therapie oder Beratung –, sondern „Rat und Hulf wider die Sunde“. „Luthers Formel meint ein Tun, das diesen Bereich [der ‚menschlichen Beratung‘, L.K.] voll einschließt, das ihn zugleich aber auch erst voll erschließt und also weit über das hinausgeht, was man zunächst unter ‚Rat und Hulf‘ zu verstehen geneigt ist. Das Besondere der Formel ist für uns darin zu sehen, daß sie auf eine christliche Bruderschaft zielt, für deren Vollzug die sakrale Situation nicht mehr grundlegend ist.“¹⁴⁸ Weiter können die Luthers Formel beigefügten Worte aus Mt 18,20 „‚ubi duo fuerint congregati‘ etc.“ so verstanden werden, dass an die Stelle des auf den ersten Blick scheinbar irrtümlich ausgelassenen aut tres der Name Christi tritt, der das für die Seelsorge konstitutive Dritte in die zwischenmenschliche Beziehung einbringt. Bei der Seelsorge handelt es sich nicht nur um ein „Gespräch unter vier Augen“,¹⁴⁹ sondern um eine kommunikative Begegnung unter Anwesenden „in meinem Namen“.¹⁵⁰ Seelsorge geschieht in einem explizit christlichen Deutungshorizont: „da bin ich mitten unter ihnen“, wie die Verheißung Christi in Mt 18,20 weiter heißt. Das seelsorgliche Trostgeschehen präsentiert sich mithin als ein beziehungsvolles Geschehen.¹⁵¹ Der Mensch wird in Relationen wahrgenommen – damit eignet der Formel aus dem Evangeliumsartikel eine systemische Dimension. Der Mensch wird sowohl coram hominibus, in seiner Beziehung zum Mitmenschen, als auch coram Deo, in seiner Beziehung zu Gott, in den Blick genommen. Wird der Name Christi als Drittes in die zwischenmenschliche Beziehung eingespielt, begegnen sich die Anwesenden nicht länger als Mitmenschen – dies entspräche einer genuin therapeutischen Perspektive –, sondern als fratres in Bezug auf das Dritte.¹⁵² Aus theologischer Perspektive ist das seelsorgliche
Henkys 1970: Seelsorge, 42 f. So der Titel der Einführung in die Seelsorge von van der Geest (19842: Augen). Den gesamten Vers Mt 18,20 in die Deutung miteinzubeziehen, ist deshalb berechtigt, da das dem Zitat angefügte „etc.“ unmittelbar auf die folgenden Worte des Bibelverses verweist. In diesem Sinne führt bereits die Abschrift Spalatins Mt 18,20 vollständig an. – Zum seelsorglichen Gespräch „im Schutzbereich des Namens“ vgl. Tacke (1975: Glaubenshilfe, 77 ff; Zitat a.a.O., 77): „Evangelische Seelsorge geschieht im Namen Gottes. Vom Glanz und dem Schutz dieses Namens ist das Gespräch der Seelsorge von Anfang an umschlossen.“ Darauf weist bereits Weymann (1989: Trost, 68) im Zusammenhang mit dem 2. Korintherbrief hin: „Trost ist […] ein ganz und gar beziehungsvolles Wort und Geschehen, wonach ein Mensch nicht sich selbst überlassen bleibt, sondern in seiner Verlassenheit ein Gegenüber findet. […] Wie Trost beziehungsvoll ist, weil darin Gott seine Beziehung zum Menschen durchhält, […] so schafft dieser Trost auch Beziehungen zwischen Menschen“. Vgl. auch Luthers Mt-Predigt (WA 47, 304, 39 f): „So wir nun sein wort und Sacrament haben, so ist ehr unser vater und wir seine kinder.“
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
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Kommunikationsgeschehen daher als eine Begegnung unter Glaubensgeschwistern zu beschreiben. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen eröffnet sich die Frage, wie in den Ansätzen der neueren Poimenik auf den evangelischen Trostbegriff, der durch das Ineinander der Trias extra nos, per formam und pro me konstituiert wird, Bezug genommen wird, kurz: wie es um die Trostfähigkeit gegenwärtiger Seelsorge bestellt ist. Es ist sowohl an die seelsorgliche Praxis als auch an die poimenische Theorie die Frage zu richten, ob in dem von ihr aufgespannten Feld die – z.T. auch durchaus konfrontierende und irritierende – Begegnung mit „fremden Welten“¹⁵³ bzw. fremd gewordenen Welten möglich ist und wie der christliche Deutungshorizont der seelsorglichen Kommunikation explizit wird – zu denken ist hier bspw. an die Ingebrauchnahme geprägter Kommunikationsformen des christlichen Glaubens, sog. Rituale. Wirkungsgeschichtlich betrachtet fordert der Trostbegriff Luthers die Seelsorgekonzeptionen verschiedenster Richtungen immer wieder heraus.¹⁵⁴ Das Urteil über die Trostfunktion gegenwärtiger Seelsorge fällt dabei je nach Perspektive recht unterschiedlich aus: In Orientierung an einem genuin theologischen, explizit evangelischen Trostbegriff ist eher eine „gegenwärtige[ ] Sprachlosigkeit hinsichtlich des seelsorglichen ‚Trostes‘“¹⁵⁵ zu konstatieren, dessen Ursache in der durch die alltagssprachliche Semantik evozierten Ambivalenz des Trostbegriffs liegen mag. Wird das Phänomen Trost hingegen unter Rekurs auf humanwissenschaftliche Erkenntnisse zugänglich gemacht, kann der Eindruck entstehen, „daß das Trostthema in der poimenischen Literatur der letzten Jahrzehnte durchaus vertreten ist“.¹⁵⁶ Allerdings erfordert diese Sichtweise – wie Schneider-Harpprecht bereits einräumt – ein „genaueres Hinsehen“¹⁵⁷ und ist zudem über den Vorwurf eines bloßen name droppings nicht erhaben. Die theologisch-evangelische Prägung des Trostbegriffs spielt hier eine untergeordnete oder keine Rolle, die Semantik wird zumeist in humanwissenschaftlich-therapeutischer Hinsicht neu bestimmt. Anders als in der gesamten pastoralpsychologischen Bewegung, in der – nach Möllers Urteil – vom Trost und vom Tröster in theologischer Hinsicht so gut wie gar nicht die Rede ist,¹⁵⁸ findet sich Luthers Trostverständnis am ehesten bei dem Reformierten Tacke und
Vgl. Dressler 2002: Zeichen. Einen Überblick über das Trostverständnis poimenischer Konzepte gibt aus pastoralpsychologischer Perspektive Schneider-Harpprecht (1989: Trost, 11 ff). Rolf 2003: Sinn, 176. – Vgl. auch Weymann 1989: Trost, 9: „Das Motiv des Trostes begegnet in neuerer Literatur zur Seelsorge eher selten.“ Schneider-Harpprecht 1989: Trost, 1. Vgl. ebd. Vgl. Möller 1992: Luthers Seelsorge, 81. – Unter der Fragestellung, in welcher Hinsicht Luthers Seelsorge „heutiger Seelsorge etwas zu sagen hätte“ (a.a.O., 76), bringt Möller die Luthersche Seelsorge mit den neueren Seelsorgekonzepten ins Gespräch. Die mögliche Bedeutung Luthers Seelsorge für die gegenwärtige Poimenik zeigt Möller bereits in seiner Monographie „Seelsorglich predigen“ exemplarisch an einem Brief Luthers an Spalatin (19902: Seelsorglich predigen, 90 ff).
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
seinem parakletischen Verständnis von Seelsorge wieder. In Tackes polemischer Auseinandersetzung mit der Seelsorgebewegung „Glaubenshilfe als Lebenshilfe“ wird Trost zu „einem Generalbegriff der Seelsorge“.¹⁵⁹ Drei Jahre nach Tacke zeichnet Seitz in dem programmatischen Aufsatz „Überlegungen zu einer biblischen Theologie der Seelsorge“ die Grundlinien seiner parakletischen Seelsorge.¹⁶⁰ Strikt wird die Poimenik an biblischen Begriffen und Leitlinien ausgerichtet. Als konkreter theologischer Begründungshorizont dient die sich in Jesus Christus zeigende, in der und durch die Gemeinde fortgesetzte cura Gottes. Dabei versteht sich die parakletische Seelsorge im Unterschied zu dem Tackeschen Konzept „[n]icht als Gegenentwurf zur Seelsorgebewegung, sondern als Ferment therapeutischer Seelsorge“:¹⁶¹ „In der parakletischen Seelsorge geht es unter voller Zugrundelegung der beratenden Seelsorge (in manchen Fällen aber auch ohne sie) um die unbedingt situationsgemäße und methodisch verantwortete Begegnung mit dem Evangelium auf dem Felde menschlicher Not. Sie steht dem Menschen in der Grundsituation durch Hilfe zum Glauben bei.“¹⁶² Die in der pastoralpsychologischen Schule K. Winklers entstandene Dissertation von Schneider-Harpprecht „Trost in der Seelsorge“ versucht den christlichen Trostbegriff durch den Dialog mit den Humanwissenschaften zu erweitern und auf diese Weise „eine neue Dynamik in die Diskussion zu bringen“.¹⁶³ Die Untersuchung vertritt ein psychologisches Funktionsmodell von Trost und Vertröstung mit der „zentrale[n] These, Trost und Vertröstung seien funktional äquivalente Versuche zur Stabilisierung bzw. Wiederherstellung des psychischen Gleichgewichts in Stress- und Krisensituationen“.¹⁶⁴ In diesem Rahmen wird der Zweck des Trosts u. a. folgendermaßen bestimmt: „Die ich-stärkende Wirkung und die damit zusammenhängende Synthese der Ich-Identität auf einem möglichst hohen Niveau psychischer Entwicklung sind Zielmomente des Trostes“.¹⁶⁵ Letztlich wird dieser Ansatz dem evangelischen Trostbegriff nicht gerecht. Möller geht in seinem Urteil sogar noch einen Schritt weiter: Die Arbeit „versagt am Maßstab eines reformatorischen Trostverständnisses“.¹⁶⁶ Von einem ganz anderen Ansatz her als Schneider-Harpprecht nähert sich Weymann der Trostfunktion der Seelsorge.¹⁶⁷ Sein poimenischer Orientierungsversuch setzt sich im Blick auf seelsorgliche Verantwortung mit der Frage nach menschlicher und theologischer Orientierung auseinander und zielt darauf, „Trost als Perspektive christlicher Seelsorge“¹⁶⁸ zu fassen. Hierzu werden biblisch-theologische, wortgeschichtliche, religionskritische, schriftstellerische und anhand des 2. Korintherbriefs paulinische Zugänge zu Paraklese und
Später greift Möller in „Kirche, die bei Trost ist“ (20072) die Trostfunktion hinsichtlich einer seelsorglichen Kirche erneut auf. Tacke 1975: Glaubenshilfe, 233. Seitz 19853: Überlegungen. Nicol 2000: Grundwissen, 106. Seitz 19853: Überlegungen, 96. Schneider-Harpprecht 1989: Trost, 83. A.a.O., 164. A.a.O., 9. Möller 1992: Luthers Seelsorge, 81 Anm. 22. Weymann 1989: Trost. Vgl. a.a.O., 87 ff.
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
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Trost erprobt. Protestantische Seelsorge wird hier konsequent an einen evangelischen Trostbegriff gebunden. Die Möller-Schülerin Rolf legt mit ihrer Dissertation den Entwurf einer consolatorischen Seelsorge vor.¹⁶⁹ Unter der Perspektive der theologischen These des servum arbitrium wird eine Poimenik, die sich an grundsätzlicher menschlicher Autonomie orientiert, der Kritik unterzogen und neu am Trostbegriff ausgerichtet. Der „optimistisch ausgerichteten“¹⁷⁰ Anthropologie der Humanwissenschaften wird ein auf der Lutherschen Theologie basierendes Menschenbild entgegengesetzt. Exemplarisch geschieht dies anhand der Logotherapie und Existenzanalyse von Frankl: Seel-Sorge ist nicht als Sinn-Sorge zu konzipieren,¹⁷¹ sondern Seelsorge ist neu, „vom Sinn zum Trost“¹⁷² zu orientieren.
In Orientierung an der Lutherschen Formel ergibt sich ein weiterer wesentlicher Markierungspunkt des poimenischen Feldes, der in engem Zusammenhang mit dem evangelischen Trostbegriff steht. Da Gott als Urheber des Trostes angesehen wird, ist evangelischer Trost nicht an bestimmte Personen, sondern an eine geschwisterliche Trostgemeinschaft gebunden. Als fratres et sorores können sich die Mitglieder der Trostgemeinschaft daher mutual Trost zusprechen. Diese im weitesten Sinne ekklesiologische Dimension ist im Folgenden näher zu entfalten. Die ekklesiologische Dimension der Poimenik wird in erster Linie von Schleiermacher und Thurneysen hervorgehoben, deren Ansätze wiederholt auf den unlösbaren Zusammenhang von kirchlicher Gemeinschaft und Seelsorge hinweisen. So konstatiert bspw. Thurneysen in einer bereits „klassisch“ gewordenen Formulierung: „Seelsorge findet sich in der Kirche vor als Ausrichtung des Wortes Gottes an den Einzelnen.“¹⁷³ Im Rahmen der Seelsorgebewegung wird der kirchliche Aspekt von Seelsorge zumeist vernachlässigt – Karle geht sogar soweit, zu behaupten: „Für weite Teile der modernen, therapeutisch ausgerichteten Seelsorge gilt, daß sie ihren Bezug zur Kirche verloren hat. Sie findet die Seelsorge nicht mehr als christliche Lebensäußerung im Raum der Kirche vor, sondern hat eigene, kirchendistanzierte Praxisformen ausdifferenziert.“¹⁷⁴ Die systemische Seelsorge integriert – wie Klie bereits zutreffend vermerkt – die gemeindlich-kirchliche Dimension wieder häufiger in ihre Ansätze: „Die systemische Seelsorge […] bringt über die soziologischen bzw. systemtheoretischen Fragestellungen hinaus vor allem auch die gemeindliche Dimension poimenischen Handelns ins Spiel.“¹⁷⁵ In Karles Dissertation setzt sich der letzte Abschnitt mit der „Seelsorge als Funktion
Rolf 2003: Sinn. A.a.O., 155. Rolf setzt sich hier mit der von Plieth (1994: Seele) formulierten These, dass Seelsorge als Sinn-Sorge zu entwerfen sei, auseinander. Die Wendung „Seel-Sorge als Sinn-Sorge“ (Rolf 2003: Sinn, 107 ff) entstammt indes von Kurz (1985: Seel-Sorge), der versucht, die Analogie von kirchlicher Seelsorge und Logotherapie aufzuzeigen. Vgl. Rolf 2003: Sinn, 157 ff. Thurneysen 19947: Lehre, 9. – Zur Seelsorgelehre Schleiermachers vgl. Weymannn (1996: Schleiermacher), Albrecht (2000: Systemische Seelsorge, 227 ff) und Dober (2008: Seelsorge). Karle 1996: Seelsorge, 238. Klie 2003: Zeichen, 371 f; Hervorhebung im Original.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
der Kirche“¹⁷⁶ auseinander, auch das letzte Kapitel von Morgenthalers „Systemischer Seelsorge“ stellt den poimenischen Ansatz unter die Überschrift „Arbeiten im Gemeindesystem“.¹⁷⁷ Hierbei überträgt Morgenthaler die systemische Sichtweise auf die pastorale Arbeit in der Gemeinde. Später verbindet Morgenthaler den systemischen Ansatz außerdem mit kybernetischen Überlegungen zum Gemeindeaufbau und plädiert für eine „gemeindezentrierte“ Seelsorge.¹⁷⁸ Klie selbst kommt zu folgendem Schluss: „Die Rezeption systemischer Therapieformen macht es also erforderlich, den kommunikativen Aspekt des Seelsorgegeschehens theoretisch in Beziehung zu setzen zum ekklesiologischen Horizont der Seelsorgelehre.“¹⁷⁹ Die gemeindliche Dimension der Poimenik expliziert er unter Rückgriff auf die Luthersche Formel.¹⁸⁰
Im Anschluss an das paulinische Trostverständnis, das allen Trost auf den Vater Jesu Christi zurückführt und dem gemäß der Seelsorger das weitergibt, was ihm selbst vom „Gott allen Trostes“ zugeeignet wurde (vgl. 2. Kor 1,3 f), „rücken die agierenden Personen […] aus dem Brennpunkt des Interesses“.¹⁸¹ Wie Henkys bereits feststellt, zielt die Luthersche Formel auf eine „christliche Bruderschaft“.¹⁸² Trägerin des evangelischen Trosts ist die Kirche, die hier jedoch nicht im institutionellen oder organisatorischen Sinne, sondern als Leib Christi verstanden wird. Dabei führt das fünfte Glied des Evangeliumsartikels einen Modus des Evangeliums an, der nicht wie die mittleren Glieder zu Taufe, Abendmahl und Beichte als kirchliche Institutionen fassbar sind, sondern sich in der Alltagswelt des „Hauses“ ereignet. Gleichwohl benennt die Luthersche Formel zusammen mit den Worten aus Mt 18,20 wie die anderen aufgezählten Modi eine sinnenhaftleibliche Vergegenwärtigung des Evangeliums. Nach dem Evangeliumsartikel bleibt der evangelische Trost also nicht auf den Raum der kirchlichen Institutionen beschränkt, sondern erstreckt sich gemäß der reichen Gnade Gottes auch auf den profanen Bereich des universus mundus, bleibt dabei jedoch stets an die christliche Trostgemeinschaft unter Glaubensgeschwistern gebunden, wie es auch in der Mt-Predigt Luthers zu lesen ist: „Alhier strecket der Herr Christus diesen Trost weitter aus, jedoch also, das ehr nicht gehe aus der gemeinschafft der Christen.“¹⁸³ Immer wieder unterstreicht die Predigt den Gemeinschaftsbezug des Trosts und polemisiert im Gegenzug in z.T. recht scharfen Ton gegen die eremitische Vereinzelung. In der Lutherschen Formel
Vgl. Karle 1996: Seelsorge, 235 ff. Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 270 ff. Morgenthaler 2001: Seelsorge. Klie 2003: Zeichen, 372. Vgl. a.a.O., 377. Henkys 1970: Seelsorge, 40. A.a.O., 43. WA 47, 297, 33 f.
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
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ist das monastische Ideal auf die Christentumsgemeinschaft als ganze entschränkt, es geht um eine „christliche Bruderschaft in der weltlichen Welt“,¹⁸⁴ um „Fraternität in der Profanität“.¹⁸⁵ Folgt die Poimenik diesen Überlegungen, so ist Seelsorge an eine christliche Trost- und Deutungsgemeinschaft gebunden und im gemeindlich-kirchlichen Kontext zu verorten. Systemisch betrachtet, ist Seelsorge im kirchlichen Leben verankert oder aus systemtheoretischer Perspektive formuliert: Seelsorge positioniert sich im (christlichen) Religionssystem. Der Einzelne wird als Glaubensbruder bzw. Glaubensschwester in die christliche Trostgemeinschaft eingebunden und in seinen Relationen wahrgenommen. Dieser Sichtweise eignet ein antiindividualistischer Zug und öffnet die Seelsorge grundsätzlich für eine Mehrpersonenperspektive. Aus der „Verschlingung der Tröstungsverhältnisse“¹⁸⁶ – wie sie z. B. im 2. Kor (Kap. 1 und 7) zwischen Paulus, Timotheus und den Korinthern beschrieben werden¹⁸⁷ – und die Bindung des Trosts an die christliche Gemeinschaft ergibt sich die grundsätzliche Mutualität des Tröstens:¹⁸⁸ „Wen also du mich und ich dich troste, und thuns bejde zu unser besserung und seligkeit, so sol ich dir und du mir gleuben, das Gott der himelissche Vater uns geben wolle, worumb wir bitten, und was uns mangelt. Wie kondte uns der Herr Christus reichlicher uberschutten und besser versorgen?“¹⁸⁹ Die auf der Beziehungsebene des seelsorglichen Geschehens grundsätzlich – und nicht nur im günstigsten Fall – vertauschbaren Rollen implizieren eine „reziproke Hierarchie“.¹⁹⁰ Die Bedingung für solch wechselseitige Tröstungsverhältnisse, die nicht gleichzeitig, sondern alternierend zu denken sind, ist in den Lutherschen Schriften deutlich dargelegt: Die beteiligten Personen sind Glieder der christlichen Gemeinde.¹⁹¹ Orientiert sich die Henkys 1970: Seelsorge, 43. Henkys (ebd.) prägt diese Wendung, allerdings ohne auf den monastischen Hintergrund der Formel Bezug zu nehmen. – Zum monastischen Hintergrund der Lutherschen Formel s.o. 2.2. Henkys 1970: Seelsorge, 40 Anm. 135. Vgl. auch Röm 1,11 f: „Denn mich verlangt danach, euch zu sehen, damit ich euch etwas mitteile an geistlicher Gabe, um euch zu stärken, das heißt, damit ich zusammen mit euch getröstet werde durch euren und meinen Glauben, den wir miteinander haben.“ Käsemann (1960: Exegetische Versuche, 113) nimmt darauf Bezug, wenn er von einer „charismatischen mutua fratrum consolatio“ spricht; vgl. Henkys 1970: Seelsorge, 40 Anm. 135. In ähnlicher Hinsicht vgl. Weymann 1989: Trost, 98: „Trost stiftet Gemeinschaft, in der nicht die einen die Trostbedürftigen bleiben und die andern allein die Tröstenden sind. Denn zu trösten vermag nur, wer nicht unangefochten, sondern auf Trost selbst angewiesen ist“. WA 47, 298, 19 – 22. – Vgl. auch die Zeugnisse der mutualen Seelsorge der Reformatoren untereinander. Vgl. hier wie zum Folgenden Klie 2003: Zeichen, 378 f. Vgl.WA 47, 300, 38 – 40: Gott „saget, ich sols bej den leuthen suchen, bej meinem bruder, der mit mir eine Tauffe, einen glauben, ein Vater unser und Evangelium hatt“.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
Seelsorge hieran, so setzt sie keine „Klienten“, „Pastoranden“ oder „Patienten“ voraus, sondern Glaubensgeschwister, wirkliche und mögliche Glieder am Leib Christi. Alle an der Kommunikation beteiligten Personen – einschließlich des Seelsorgers – sind als gerechtfertigte Sünder ansprechbar.¹⁹² Damit begegnen sich die Glaubensgeschwister coram Deo als gleichberechtigte Glieder am Leib Christi in einer grundsätzlich symmetrischen Beziehung. Dieser Punkt markiert einen weiteren Unterschied zur Beratung und Therapie, die meist von einer grundsätzlichen Asymmetrie zwischen Arzt und Patient bzw. Therapeut und Klient gekennzeichnet ist. Im Anschluss an die Mutualität des Tröstens – und die Mutualität des colloquiums ¹⁹³ – könnte zumindest theoretisch die in der Poimenik oftmals kritisierte Defizitperspektive¹⁹⁴ zugunsten einer „alternierend-hierarchische[n] Beziehung“¹⁹⁵ zwischen Glaubensgeschwistern überwunden werden. Der Gebrauch des Terminus „Glaubensgeschwister“, der sich an den fratres der Lutherschen Formel orientiert, könnte die Frage aufwerfen, ob dieser das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen nicht vorschnell auf einen christlichen Kontext einschränkt, der die Beteiligung von Personen anderer Religionen und Weltanschauungen unbedacht ausschließt. Dem ist zu entgegnen, dass die Semantik der Seelsorge als genuiner Begriff der christlichen Tradition gelten kann – wenngleich der Terminus selbst nicht auf biblischen Sprachgebrauch, sondern auf Platons Apologie zurückgeht.¹⁹⁶ Seelsorge zeichnet sich gerade dadurch aus, dass Kommunikation in christliche Perspektive stattfindet, d. h. dass die beteiligten Personen – gleich welcher Weltanschauung – als wirkliche und mögliche Glaubensgeschwister wahrgenommen werden und von der Kommunikation mit der evangelischen Grundunterscheidung Gerechtfertigter/Sünder bzw. mit der Einheit der Form des gerechtfertigten Sünders beobachtet werden. Ist das Kommunikationsgeschehen nicht mehr an eine spezifisch christliche Lebensdeutung, an eine christlich-religiöse Codierung gebunden, ist daher zu fragen, ob die Bezeichnung als „Seelsorge“ überhaupt zutreffend ist. Ist in der Literatur in terminologischer Hinsicht ein wenig missverständlich von „säkularer“ Seelsorge die Rede, so kann dies zum einen darauf abzielen, kirchliche Seelsorge auf dem Markt der pluralen Beratungsangebote zu positionieren oder zum anderen als Bezeichnung für Konzeptionen dienen, die sich auf ein vorchristliches Verständnis des Begriffs
Dieser theologische Rahmen spielt v. a. in der Poimenik von Thurneysen (19947: Lehre, 155 ff) eine zentrale Rolle. S.u. 2.2.2. Vgl. Luther 1986: Alltagssorge. – Zur Kritik an einer Seelsorge, die sich „von Not und Mangel […] nicht nur herausfordern, sondern bestimmen läßt – und deshalb den andern Menschen ganz auf seinen Mangel hin ansieht“ vgl. z. B. Weymann 1989: Trost, 94 ff; Zitat 95. Dagegen fragt Weymann (ebd.): „Was könnte es demgegenüber für seelsorgliche Verantwortung ausmachen, wenn ich den andern nicht nur auf seinen Mangel hin, sondern gerade darin als von Gott geliebten Menschen ansehe (selbst wenn er sich selbst so nicht zu sehen vermag)?“ Klie 2003: Zeichen, 379. Zur Begriffsgeschichte und zum Verständnis des Terminus „Seelsorge“ durch die verschiedenen Epochen der Kirchengeschichte hindurch vgl. Steiger 2000: Seelsorge.
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
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„Seelsorge“ berufen. Letzteres trifft z. B. auf die philosophische Beratungspraxis zu, die sich die „Einübung in ‚Lebenskunst‘ zum Ziel“¹⁹⁷ setzt und sich dabei häufig der sokratischen Methode bedient.¹⁹⁸ Wie Engemann zeigt, kann die konstruktive Auseinandersetzung mit der Praktischen Philosophie, in der die Philosophie der Lebenskunst ihren systematischen Ort hat, die Seelsorge dazu anregen, selbst eine christliche Lebenskunst zu entwerfen.
Ist die mutuale Tröstung nicht an bestimmte Personen der geschwisterlichen Trostgemeinschaft gebunden, „wird die Grenze zwischen Ordinierten und Laien fließend“:¹⁹⁹ „Und wen du in der eile nicht kanst zum Pfarherr komen, bej ihm trost zu holen, so hastu deinen Nehesten, dein weib und knecht, so dir ein freundlichs wortt aus Gottes wortt zusprechen“.²⁰⁰ Deutlich zielen die Aussagen der Mt-Predigt auf eine Stärkung des allgemeinen Priestertums,²⁰¹ auf eine „Seelsorge Aller an Allen“:²⁰² „Item, so Bruder sich unter einander troesten das ist auch gottes wille und wortt. […] Gott […] redet mit mir durch meinen nachbarn, durch meine gute freunde und gesellen, durch meinen Man, durch mein Weib, durch meinen Herrn und durch meinen knecht, item vater und Mutter ec.“²⁰³ Auch wenn die Rolle des Seelsorgers von einem professionellen Hauptamtlichen ausgeübt wird, bleibt die Seelsorge eine genuine Funktion der Gemeinde Christi. Angesichts einer immer weiter voranschreitenden Professionalisierung der Seelsorge im berufstheoretischen Sinne, wie sie v. a. im Rahmen einer therapeutischen Orientierung begegnet, ist für eine professionelle Seelsorge im Wortsinn eines öffentlichen Bekenntnisses (lat. professio) vor einem Zweiten zu plädieren. Dies suspendiert keineswegs die professionelle Aus- und Fortbildung von (hauptamtlichen) Seelsorgern, weist jedoch auf die in der Poimenik häufig vernachlässigte „Laien“-Seelsorge hin. An dieser Stelle zeichnet sich erneut eine Differenz zwischen dem seelsorglichen und therapeutischen Kommunikationsgeschehen ab:
Engemann 2003: Lebenskunst, 321. Zur Philosophie der Lebenskunst vgl. das gleichnamige Werk von W. Schmid (1998: Philosophie). Henkys 1970: Seelsorge, 40. WA 47, 304, 2– 5. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 375: „Nach reformatorischem Verständnis ist die poimenische Hermeneutik die Bewährungsprobe für das allgemeine Priestertum.“ – Anbei bemerkt gilt dies auch für den Zuspruch der Vergebung (WA 47, 303, 27 f): „Also ist auch gleiche viel, es spreche dir die Absolution, wer da wolle. Ists gottes wort, so sollen wir gewiss sein, unser Sunde sind uns vergeben.“ Eine besondere Weihe des Beichtigers überflüssig, ausreichend ist allein die Taufe; vgl. Treu 1984: Trost, 98. Zu diesem poimenischen Leitbild vgl. Schmidt-Rost (1988: Seelsorge, 67 ff). Klie (2003: Zeichen, 372 u. ö.) nimmt es in die „Konturen einer zu entwerfenden semiotischen Poimenik“ (a.a.O., 371; Hervorhebung im Original) auf. WA 47, 298, 38 – 299, 1.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
Während die Rolle des Therapeuten stets ein entsprechend ausgebildeter Professionaler übernimmt, ist die Seelsorge nicht an einen vergleichbar berufsmäßigen „Gelehrten“, gleichwohl an eine gewisse christliche Deutungskompetenz (alltäglicher) Lebensumstände gebunden: „Wir haben das rechte Liecht, das wir im namen Gottes zusamen kommen und sein wortt suchen, item das ich zu meinem Nehesten komme und meine Noth ihme klage und trost bej ihme suche. Wer mich dan trostet, ob ehr gleich nicht eines fingers breit so viel kunst hat als ich oder ein ander gelarter, der trostet mich an Gottes Stad, und Gott redet selbst durch ihnen mit mir und kompt offt, das mein Nehester ohn gefher einen spruch findet und mir ihnen zum Trost saget, der mir sonst nicht einfiel.“²⁰⁴ Über die Frage nach der Profession hinaus, wird an diesem Abschnitt aus der Mt-Predigt zudem deutlich, dass die „mit der Tröstung einhergehende Auslegungsaufgabe […] den wirksamen Zuspruch letztgültiger Lebensmöglichkeiten voraus[setzt]“.²⁰⁵ Ebenso wenig wie die seelsorgliche Vergegenwärtigung des Evangeliums an eine bestimmte Person – z. B. die eines Amtsträgers – gebunden ist, ist sie an einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Zeit gebunden. Es entspricht der überreichen Gnade Gottes, dass das Evangelium nicht nur in der „Kirche“, sondern auch im „Haus“, in der privaten Alltagswelt zugänglich ist und zwar „welche Stunde und Zeit es sein mag“:²⁰⁶ „Derhalben so hat uns Gott mit sterckung und trost allenthalben uberflussig versorget. Auch wen wir in unsern heusern sind, so kan das weib in der noth von ihrem Manne und widerumb der man von seinem Weibe getrostet werden. Den alhier stehet der Text: Wan zwene bej einander sind und bitten etwas, so sols im Himel gewiss erhoeret sein“.²⁰⁷ Für den Vollzug der geschwisterlichen Trostgemeinschaft ist die sakrale Situation, wie sie für die mittleren Glieder des Evangeliumsartikels vorausgesetzt ist, nicht mehr grundlegend,²⁰⁸ sondern „als alltagshermeneutische Gestalt des Evangeliums“²⁰⁹ kann sich das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen „zu jeder Zeit und an jedem Ort“²¹⁰ ereignen. Den evangelischen Trost findet man „nicht allein in der Gemein […], sondern auch doheim im Hause, auff dem felde, im Gartten, und wo nur einer zum andern kompt“.²¹¹ Gleichwohl bestimmen Ort bzw. Raum, Zeit und Person die
A.a.O., 301, 1– 7. Klie 2003: Zeichen, 378; Hervorhebung L.K. WA 47, 298, 6. A.a.O., 303, 29 – 33. Vgl. Henkys 1970: Seelsorge, 42 f. Klie 2003: Zeichen, 378. Henkys 1970: Seelsorge, 38. WA 47, 298, 2– 4; an dieser Stelle ist vom Trost in Form der Absolution die Rede.
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
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konkrete Inszenierung des Evangeliums grundlegend mit, d. h. sie fungieren für das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen als frame. ²¹² Es bleibt Folgendes festzuhalten: Wird Seelsorge im Rekurs auf die Formel Luthers als Vergegenwärtigung des Evangeliums bestimmt, so ergeben sich verschiedene Aspekte, die das poimenische Feld aufspannen und zugleich abgrenzen: Der performative Gesichtspunkt verweist die Poimenik auf die ästhetische Dimension des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens und rückt leib-räumliche, sinnenhafte Formen in den Fokus des Interesses. Entsprechend der Vielgestaltigkeit des Evangeliums und der Pluralität der seelsorglichen Zueignungsformen ist die seelsorgliche Performanz des Evangeliums zwar an eine konkrete Kommunikationssituation, jedoch nicht an eine bestimmte Inszenierungsform – also weder an eine bestimmte Person, einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit oder ein bestimmtes Kommunikationsmedium –, sondern an die christliche Trost- und Deutungsgemeinschaft gebunden, die sich durch mutuale Tröstungsverhältnisse auszeichnet. Seelsorge lässt sich beschreiben als Begegnung unter Glaubensgeschwistern, in der sich Evangelium zum Zwecke des Trosts performiert. ²¹³ Im Folgenden steht der seelsorgliche Ort, an dem sich die seelsorglichen Vergegenwärtigungsprozesse leib-räumlich verdichten, im Mittelpunkt.
2.2.2 colloquium: Der seelsorgliche Ort der Performanz des Evangeliums Wurde im vorigen Abschnitt in weitestgehend theologisch-normativer Hinsicht die consolatio fratrum dahingehend ausgedeutet, dass mit ihr Seelsorge als Vergegenwärtigung des Evangeliums markiert ist, wird nun unter einer eher ästhetisch-deskriptiven Perspektive die Form-Frage anhand des mutuum colloquiums beleuchtet. In Luthers Formel ist der intendierte Zweck der Seelsorge, die consolatio fratrum, mit der formalen Vermittlungsform des mutuum colloquiums verschränkt.²¹⁴
S.u. 3.2.2.1.2. Seelsorgliches colloquium zum Zweck des evangelischen Trosts zu bestimmen, unterscheidet sich grundlegend von der Bindung des Seelsorgegeschehens an den individuellen Glauben – auch den des Seelsorgers; vgl. z. B. Winkler 20002: Seelsorge, 274 ff. Dies mutet zum einen den an der seelsorglichen Kommunikation Beteiligten viel zu und versucht sich zum anderen das Evangelium, das für den Menschen gerade unverfügbar ist, verfügbar zu machen. Die Bindung der „Zuwendung zum christlichen Mitmenschen“ an die Form des colloquiums macht die Luthersche Formel bereits für Klie (2003: Zeichen, 376) für „hermeneutische bzw. semiotische und systemische Diskurse“ anschlussfähig.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
Das colloquium ist der Ort, an dem sich die seelsorgliche Vergegenwärtigung des Evangeliums ereignet, an dem die performative Verräumlichung des evangelischen Trosts ad personam konkrete Gestalt annimmt. Mit dem colloquium sind die seelsorglichen Vergegenwärtigungsprozesse an ein Kommunikationsgeschehen gebunden, bei dem mindestens „zwei versammelt sind in meinem Namen“ (Mt 18,20), d. h. das sich durch das Aufeinandertreffen von mindesten zwei Anwesenden auf einer religiös-christlichen Deutungs-„Bühne“ konstituiert. Damit ist der seelsorgliche Modus des Evangeliums an die dialogische Kommunikationsform des colloquiums gebunden, deren Mutualität unmittelbar einsichtig ist. Denn im Unterschied zum Monolog ist der Dialog durch eine von mindestens zwei Personen abwechselnd geführte Rede bestimmt, d. h. im Gespräch alternieren die Rollen des Sprechers und Zuhörers. Systemtheoretisch formuliert erfolgt in der Kommunikation unter Anwesenden die Zurechnung der verbalsprachlichen Kommunikation – bzw. die Zurechnung der Selektionen der Kommunikation im Medium der Verbalsprache – als Handlung mutual.²¹⁵ Semiotisch eingeholt: In der zwischenmenschlichen Begegnung geschieht die Rezeption und Produktion von verbalsprachlichen Zeichen reziprok. Diese kommunikative Konstellation impliziert auch die Mutualität der Wahrnehmung (reflexive Wahrnehmung)²¹⁶ – eines der Spezifika, die das colloquium gegenüber anderen Kommunikationssystemen auszeichnet. Verdichten sich im durch das colloquium ausgegrenzten Zeit-Raum seelsorgliche Vergegenwärtigungs- und wirklichkeitsbildende Deutungsprozesse zu leibräumlichen, sinnenhaften Formen, so gilt es, diesen seelsorglichen Ort der Performanz des Evangeliums zum Gegenstand der poimenischen Untersuchung zu machen. Damit ist an eine praktisch-theologische Konvention angeschlossen, die spätestens seit dem 19. Jh. das Gespräch als die dominierende Sozialform der Seelsorge ausmacht:²¹⁷ „Das Gespräch zu zweit ist die Grundform christlicher Seelsorge.“²¹⁸ Im Zuge der Seelsorgebewegung erfährt das Gespräch einen enor-
Da es in der Interaktion immer nur ein Zentrum der gemeinsamen Aufmerksamkeit geben kann, ist das Kommunikationssystem zur Serialität gezwungen. Dies gilt auch für die Verteilung der grundsätzlich knappen, da begrenzten Redezeit. Die Bedingung für das Gelingen von Kommunikation in der Interaktion besteht daher in der „Gleichzeitigkeit von Reden und Schweigen“ (Kieserling 1999: Kommunikation, 40). Es gilt die „Regel, daß jeweils nur einer reden kann und die anderen zuhören oder jedenfalls warten müssen“ (Luhmann 1984: Soziale Systeme, 565). Zur reflexiven Wahrnehmung s.u. 3.2.1.3.2. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 379; dort finden sich die entsprechenden Hinweise auf die Untersuchungen bei Schmidt-Rost (1988: Seelsorge, 31 ff), Nicol (1990: Gespräch, 23 ff) und Hauschildt (1996: Alltagsseelsorge, 45 ff). Ziemer 20042: Seelsorgelehre, 151. – Ähnlich Winkler (20002: Seelsorge, 255 f; Hervorhebung im Original): „Das Gespräch zwischen Seelsorger/Seelsorgerin und ratsuchenden Menschen in
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
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men Professionalisierungsschub, im aktuellen Diskurs wird es an seinen Rändern jedoch zunehmend unscharf. Die Ausrichtung des seelsorglichen Gesprächs an dem offenen Paradigma eines „existentiellen Gesprächs zwischen Freunden“²¹⁹ oder die Integration der „Alltagsseelsorge“ in die Seelsorgetheorie macht die Abgrenzung von Seelsorge und Nichtseelsorge „diffuser“.²²⁰ Folgt man Klie, so bleibt angesichts der gegenwärtigen poimenischen Diskussion folgende Frage klärungsbedürftig: „Was sind die signifikanten Merkmale eines seelsorgerlichen Settings und wer definiert es als solches? Zwar gilt nach wie vor Asmussens Diktum, nach dem ‚(w)esentlich für die Seelsorge ist, daß sie Gespräch ist‘, aber sowohl die äußere Rahmung dieses Geschehens, die frames, als auch die Formen der Bedeutungsattribuierung innerhalb des ausgegrenzten poimenischen Raumes müssen unter systemischem [bzw. systemtheoretischem und semiotischem, L.K.] Vorzeichen neu bestimmt werden.“²²¹ Rückt die vorliegende Untersuchung das colloquium als den Ort der seelsorglichen Vergegenwärtigung des Evangeliums ins Zentrum, so geht sie zunächst davon aus, dass sich Seelsorge in der traditionellen Form des „Gesprächs“, bzw. systemtheoretisch präziser: als „Kommunikation unter Anwesenden“ (Interaktion) ereignet.²²² Damit ist zunächst die klassische face-to-face-Konstellation eines Gesprächs im Blick, aber auch Telefon- oder Chat-Seelsorge:²²³ Denn auch bei einem Telefonat oder der Kommunikation per Chat ist die unmittelbare Anwesenheit der „Kommunikations-Teilnehmer“ – bzw.von Alter und Ego – in zeitlicher Hinsicht vorausgesetzt. Anders als bei leib-räumlicher Kopräsenz ist es dabei einfacher, die Interaktion am Telefon zu beenden, auch beim Chatten liegt die Schwelle zum Abbruch der Kommunikation recht niedrig. Beim Chatten ist es zwar möglich, sich zwischenzeitlich (vorerst) unbemerkt aus dem Chatroom auszuklinken, doch führt die auch dort geforderte Schnelligkeit der Kommunikation
einem Gegenüber zum einzelnen oder auch zu einer Gruppe gilt heute als zentrales und unverzichtbares Mittel seelsorgerlichen Handelns. Das dürfte quer durch alle poimenischen Richtungen und Parteien hindurch unstrittig sein.“ So auch Dinkel (2006: Face, 162): „[D]ie Seelsorge vollzieht sich im Allgemeinen im intimen und direkten face-to-face-Gespräch.“– Neben zahlreicher anderer Literatur – einen ersten Überblick gibt Ziemer (20042: Seelsorgelehre, 176 ff) – gelten bislang die Arbeiten „Seelsorge als Gespräch“ von Scharfenberg (1972) und „Gespräch als Seelsorge“ von Nicol (1990) als programmatische Schriften; einen kurzen Abriss der beiden Entwürfe bietet Winkler (20002: Seelsorge, 256 ff). Vgl. Nicol 1990: Gespräch, 162 f. Vgl. Klie (2003: Zeichen, 379) und Hauschildt (1996: Alltagsseelsorge, 385). Klie 2003: Zeichen, 373; Kursivierungen im Original. S.u. 3.2. Zur Telefonseelsorge vgl. Weber 20062: Handbuch Telefonseelsorge; zur Chat-Seelsorge vgl. Knatz 2013: Handbuch, 47 ff.
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dazu, dass Nutzer, die nicht sofort antworten, von der Interaktion exkludiert werden.²²⁴ Durch den Terminus „Interaktion“ ausgeschlossen sind hingegen vorerst Kommunikationssituationen des sog. „einsamen Handelns“²²⁵ wie Brief- oder Mail-Seelsorge.²²⁶ Dennoch scheint es funktional, das Kommunikationsgeschehen der Seelsorge in erster Linie als Interaktion aufzuschlüsseln, da einerseits das „Gespräch“ immer noch als die klassische seelsorgliche Form gelten kann und sich andererseits die anderen genannten Formen der Seelsorge lediglich durch eine im Vergleich zur Interaktion zeitlichen Entzerrung der Kommunikation auszeichnen. Letztlich geht es nicht um ein fundamental anderes Verständnis von Kommunikation, sondern um andere Kommunikationsmedien – z. B. Schrift statt Sprache. Dies lässt auch die Annahme, mündliche Kommunikation unter Anwesenden sei womöglich „authentischer“ als schriftliche oder Kommunikation im Internet, obsolet werden. So erweist sich auch in diesem Zusammenhang die Pluralität der seelsorglichen Zueignungsformen des evangelischen Trosts, der sich nicht auf ein bestimmtes Kommunikationsmedium wie die Verbalsprache oder ein bestimmtes Setting einschränken lässt. Eindrücklich zeugen z. B. die Briefe Luthers davon, dass der seelsorgliche Trost nicht auf die Kommunikation unter Anwesenden beschränkt bleibt – wenn auch in einigen der Texte deutlich wird, welch großes Gewicht der Reformator auf ein mündliches Seelsorgegespräch legt.²²⁷ Als colloquia absentium ²²⁸ zielen die Briefe auf Kommunikation unter Abwesenden und schreiben im Medium der Schrift evangelischen Trost regelrecht fest: Es vollzieht sich hier – mit Ebeling formuliert – „ein seelsorgerlicher Zuspruch, dem über die gegebene Situation hinaus eine gewisse Konservierbarkeit und Tradierbarkeit keineswegs abzusprechen ist“.²²⁹ Um die Implikationen der kommunikativen Form des colloquiums näher auszuloten, bietet es sich an, eine im weitesten Sinne performative Perspektive einzunehmen.²³⁰ Die seelsorgliche „Inszenierung des Evangeliums“ ereignet sich in einem konkreten Setting, das analog einer Theater-Inszenierung gesehen werden
Dies kann auch dann der Fall sein, wenn technische Probleme – wie Überlastung der Leitungen – zu Verzögerungen führen; vgl. Vauseweh 2007: Onlineseelsorge, 152. Zu interaktionsfreiem, einsamen Handeln vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 580 ff. Zur Mail-Seelsorge vgl. Knatz 2013: Handbuch, 45 f. Vgl. Ebeling 1997: Luthers Seelsorge, 12 ff. Vgl. Georges 197213: Handwörterbuch, 1274; hier ist colloquia amicorum absentium als „briefliche Unterredung, brieflicher Verkehr“ belegt. Ebeling 1997: Luthers Seelsorge, 14. Zur Literatur s.o. 2.2.1 Anm. 86.
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
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kann: „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.“²³¹ In dieser Minimaldefinition von Brook sind die für eine konkrete Performance konstituierenden Aspekte prägnant benannt: In einem durch eine Bühne ausgegrenzten Zeit-Raum zeigt sich etwas oder jemand leiblich-sinnenhaft in bestimmter Hinsicht für einen anderen. Sozial, d. h. kommunikativ relevant wird das Sich-Zeigen indem ein Zuschauer anwesend ist – ohne Zuschauer wäre dieser Akt nicht als Kunstwerk bzw. Inszenierung, sondern als „einsame Handlung“ (Luhmann) zu bezeichnen. Dabei hängt die Rezeption eines Kunstwerks unmittelbar von der Betrachtungsperspektive des wahrnehmenden Beobachters ab. Die Rezeptionsleistung einer Deutungsinstanz ist konstitutives Element einer Inszenierung, mehr noch: „Man kann aus einem solchen Rezeptionsvorgang überhaupt nicht aussteigen.“²³² Eine Inszenierung findet als ein „Formgebungsprozess mit und vor anderen“²³³ statt, von Inszenierung ist dann die Rede, „wenn etwas im Beisein und unter Mitwirkung von anderen zur Darstellung gebracht und gezeigt wird“.²³⁴ An Brooks Definition wird außerdem deutlich, dass die wahrgenommene Zeige-Handlung in Echtzeit stattfindet, d. h. bei leiblicher Kopräsenz der Anwesenden, und nicht an eine verbalsprachliche Performance gebunden ist.²³⁵ Dementsprechend ereignet sich die seelsorgliche „Inszenierung des Evangeliums“ auf der „Bühne“ des colloquiums, vor einer bestimmten Kulisse mit entsprechenden Requisiten, d. h. im Rahmen eines konkreten Settings bzw. einer konkreten Kommunikationsumgebung.²³⁶ Durch das colloquium performiert sich ein ausgegrenzter Zeit-Raum als seelsorglicher Ort, an dem sich Vergegenwärtigungsprozesse zu raumgreifenden, fassbaren Versinnlichungen verdichten. Dieser sich durch Leiblichkeit bzw. Anwesenheit auszeichnende kommunikative Wahrnehmungsraum, ist in systemtheoretischer Terminologie als Interaktion zu bezeichnen, die – wie Nassehi aufzeigt – einem vergleichbaren Muster wie dem der Inszenierung folgt: „Man muss sich die Logik der Interaktion wie eine Bühne
Brook (1997: Raum, 9); vgl. Plüss (2007: Gottesdienst, 99), der diese Minimaldefinition im liturgiewissenschaftlichen Zusammenhang rezipiert. Husmann 2008: Inszenierung, 29. Leonhard/Klie 2008: Ästhetik, 10. Ebd. Plüss (2007: Gottesdienst, 99), fasst am Anschluss an Brook die relevanten Aspekte einer Inszenierung zusammen: „(1) Es braucht einen, der sich zeigt, und (2) eine andere, die zuschaut. Zudem ist eine Performance (3) notwendigerweise eine Live-Situation. Schauspieler oder Performer und Zuschauerin müssen zur selben Zeit am selben Ort anwesend sein.“ Zur Differenzierung zwischen Setting und Kommunikationsumgebung s.u. 4.3.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
vorstellen, auf der man von seinen Interaktionspartnern beobachtet wird – und die man selbst beobachtet. Und wiewohl man auf stabile Erwartungen, auf Rollen und mehr oder weniger wohl definierte Situationen trifft, gibt es auf dieser Bühne doch keine Intendanz und keine zentrale Regie. Es ist, um das Bild ein wenig zu übertreiben, eher eine Laienspielschar, die, zur Echtzeit gezwungen, weder Probenoch Korrekturmöglichkeiten hat, sondern sich stets in einer Praxis befindet, die irgendwie stimmig sein muss. Auf der Bühne der Interaktion stellt sich nicht nur die Bearbeitung von Themen oder die Entlastung von Handlungsdruck dar, sondern auch die Person als Person.“²³⁷ Die bereits von Brook angeführten Aspekte können damit ergänzt und wieter expliziert werden. Im colloquium – in der Interaktion – nimmt nicht nur ein Anwesender die Zeige-Handlung eines Darstellers in Echtzeit wahr, sondern der Darsteller nimmt gleichzeitig wahr, dass ein Anwesender sein Sich-Zeigen wahrnimmt. Der Zuschauer wird zugleich zum Darstellenden, der Darsteller zum Zuschauer des Zuschauers. Leib-räumliche Kopräsenz und mutuale Beobachtung sind unmittelbar aufeinander bezogen, die Produktion und Rezeption von Zeichen erfolgt in der Kommunikation unter Anwesenden simultan. Sobald sich wechselseitig Beobachtende anwesend sind, führt es deshalb nicht weiter, zwischen intentionaler Inszenierung und nicht-intentional erzeugter Darstellung zu unterscheiden. Denn der Zuschauer kann gar nicht anders, als sich zu zeigen, als etwas von sich darzustellen. Faktisch gilt: „Man kann nicht nichts darstellen. Man kann nicht nicht inszenieren.“²³⁸ Taktisch betrachtet kann jedoch etwas gut oder weniger gut in Szene gesetzt werden. Wird Seelsorge als ein Modus der Vergegenwärtigung des Evangeliums in Analogie zu einer Theater-Aufführung gesehen, so will auch das Seelsorgegeschehen gut inszeniert sein, denn: „Je besser […] ein Stück ist, desto schlimmer sind eine schlechte Inszenierung und eine schlechte Aufführung.“²³⁹ Insofern hat die Poimenik zum einen auf die faktische Performanz allen seelsorglichen Geschehens hinzuweisen und zum anderen darauf abzuzielen, Strategien der taktischen Performanz aufzuzeigen.²⁴⁰ Zum einen geht es um die reflektierte Beobachtung der seelsorglichen Prozesse, zum anderen um die reflektierte Darstellung der performativ verfassten Inhalte der Seelsorge – ins-
Nassehi 2008: Soziologie, 73. Vgl. Husmann 2008: Inszenierung; Zitat 32. Meyer-Blanck 1997: Inszenierung, 17. Die Unterscheidung von taktischer und faktischer Performanz findet sich im Kontext performativer Religionsdidaktik bei Leonhard und Klie (2008: Ästhetik, 15) – dies im Anschluss an Engemanns operative Differenzierung zwischen faktischer und taktischer Ambiguität hinsichtlich einer semiotischen Predigttheorie (Engemann 1993: Homiletik, 153 ff); s.o. 1.2.2.2.
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
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besondere der performativen Kategorie des Evangeliums. Mit diesen Punkten wird sich die Untersuchung in den folgenden Kapiteln auseinandersetzen. Evident ist, dass auch im seelsorglichen Kontext die „Inszenierung des Evangeliums“ im konstitutiven Spannungsverhältnis „von Gottes Verheißung und menschlicher Gestaltungskunst“²⁴¹ steht. Der Aspekt des Unverfügbaren kann bereits auf theaterwissenschaftlicher Ebene eingeholt werden. Folgt man der Definition des Inszenierungsbegriff von Fischer-Lichte,²⁴² zeichnet sich eine Inszenierung nicht nur durch einen performativ hervorgebrachten Inhalt aus, sondern auch und gerade durch die sich mit der Inszenierung eröffnenden „Freiund Spielräume“ für Nicht-Inszeniertes – bzw. Nicht-Inszenierbares wie das Evangelium – und Nicht-Geplantes. „Die Inszenierung inszeniert die Leerstellen für das Nicht-Inszenierte.“²⁴³ In Bezug auf den seelsorglichen Ort des colloquiums ist dann zu überlegen, ob neben der für die Interaktion konstituierende (Ko‐) Präsenz nicht auch die Absenz relevant werden kann.²⁴⁴ Hier bleibt zunächst festzuhalten, dass die seelsorgliche „Inszenierung des Evangeliums“ durch das Ineinander von göttlicher Verheißung und konkreter Formgewinnung am Ort des colloquiums bestimmt ist: „Das Evangelium konkretisiert sich gesprächsweise. Als Gespräch unterliegt es den Bedingungen menschlicher Kommunikation bzw. Zeichenbildung, während es als gestaltgewordenes Evangelium die Verheißung der Gotteskindschaft im Alltagskontext ratifiziert.“²⁴⁵ Damit ist übrigens jeder Beschreibung des Seelsorgegeschehens unter kommunikationstheoretischer Perspektive – wie es im folgenden Kapitel geschieht – eine theologische Grenze gesetzt. Um das colloquium am Laufen zu halten, schließt in der Interaktion permanent Kommunikation an Kommunikation an. Die Inszenierung findet als fortlaufende Semiose statt, vorangetrieben durch die ununterbrochene Produktion und Rezeption von Zeichen, so lange bis dieser Prozess abbricht und sich das Kommunikationssystem auflöst. Systemtheoretisch ungenau formuliert: Kommunikation in Echtzeit zwingt die Anwesenden, schnell und unmittelbar zu
Meyer-Blanck 1997: Inszenierung, 12. Fischer-Lichte 2005: Inszenierung, 146: „Unter Inszenierung wird der Vorgang der Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien verstanden, nach denen die Materialität einer Aufführung performativ hervorgebracht werden soll, wodurch zum einen die von ihr hervorgebrachten Ereignisse als gegenwärtig in Erscheinung treten und zum anderen eine Situation geschaffen wird, die Frei- und Spielräume für nicht-geplante, nicht-inszenierte Handlungen, Verhaltensweisen und Ereignisse eröffnet.“ Vgl. Husmann 2008: Inszenierung, 30. Husmann (2008: Inszenierung, 30) im Anschluss an Fischer-Lichte. S.u. 3.2.1.2. Klie 2003: Zeichen, 376.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
handeln. Hierbei stehen die Kommunikationsteilnehmer nicht nur unter dem Druck, in sachlich-thematischer Hinsicht zu agieren, sondern sich fortwährend selbst als Person zu präsentieren.²⁴⁶ Im performativen Geschehen bilden Form, Inhalt und Rezeption eine unlösbare Trias. Inhalte werden durch die sich fortsetzende Kommunikation allererst in actu geschaffen. „In einem performativen Prozess werden wie bei einem Theaterstück durch fortlaufende Produktion und Rezeption verschiedenster Zeichensysteme Bedeutungen freigesetzt.“²⁴⁷ Das colloquium ist der Ort, an dem Weltdeutung stattfindet, an dem im Praxisvollzug Bilder von Wirklichkeit erzeugt werden, an dem Sinn aktualisiert wird. Im interaktionalen Raum der Relationen und Kopplungen nehmen wirklichkeitsbildende Deutungsprozesse konkrete Form an. Die am seelsorglichen Ort ablaufenden Vergegenwärtigungsprozesse sind im weitesten Sinne konstruktivistische Vollzüge, die performativ Wirklichkeit(en) in Szene setzen.²⁴⁸ In der Seelsorge, d. h. am seelsorglichen Ort des colloquiums geht es daher – ähnlich der systemischen Therapie – um ein „gemeinsames Ringen um Wirklichkeitsdefinitionen“.²⁴⁹ Dabei stellt sich aus taktischer Perspektive die Frage, wie in Deutungsprozesse „interveniert“ und auf welche Weise Wirklichkeitsbilder „irritiert“ werden können.²⁵⁰ Mit dem colloquium steht die konkrete Kommunikationssituation, in der sich die Vergegenwärtigungsprozesse in actu vollziehen, im Fokus der poimenischen Aufmerksamkeit. Dabei ist zu beachten, dass sich die „günstige Gelegenheit“²⁵¹ für eine seelsorgliche Begegnung meist eher zufällig oder beiläufig zu ergeben scheint. Durch das kairologische Zusammentreffen von „günstigem Ort“, „günstiger Zeit“ und „günstiger Person“ grenzt sich die seelsorgliche „Bühne“ des colloquiums allererst aus, generiert sich das konkrete Setting der Kommunikationssituation. Dabei muss die Gunst des Kontexts nicht unbedingt mit der subjektiven Situationswahrnehmung des Seelsorgers konvergieren. So kann z. B. das Ansprechen des Pfarrers an der Kirchentür nach dem Gottesdienst von diesem als höchst „ungünstig“ empfunden werden.²⁵² Mit Ort bzw. Raum, Zeit und Person Vgl. Nassehi 2008: Soziologie, 73. Leonhard/Klie 2008: Ästhetik, 19. Zum Konstruktivismus s.u. 3.1. VonSchlippe 1995: Perspektive, 23 f. Zur systemischen Therapie und Beratung s.o. 1.1.3.1. Vgl. Lohse 20062: Kurzgespräch, 21 ff. Vgl. a.a.O., 24: „Von der beratenden Person wird die von der ratsuchenden Person genutzt ‚zufällige‘ Situation meist als diskongruent mit der eigenen Befindlichkeit erlebt: Schließlich ist man auf einem anderen ‚Trip‘ oder mit einer anderen Sache betraut. Die Korrektur oder Missachtung dieses Settings (meist durch Verschiebung auf einen anderen Zeitpunkt an einem anderen Ort) wird von den Ratsuchenden dann leicht als disqualifizierende Abweisung erlebt und das neue
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
227
bzw. Leib stehen der Poimenik allgemeine Kategorien zur Verfügung, die theoretisch weiter expliziert und praktisch je nach Seelsorgesituation konkretisiert werden können.²⁵³ Das colloquium ist sowohl eine raum- und zeitgebundene, als auch eine gegenwartsabhängige Art der Kommunikation. Das Performative ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Flüchtigkeit: „Alle Interaktion […] ist konstitutionell ‚flüchtig‘ und ‚vergänglich‘.“²⁵⁴ Das, was sich in actu ereignet, was sich durch die Kommunikation als Inhalt performiert, ist im nächsten Augenblick bereits wieder verschwunden. Dies wird besonders an dem die Interaktion dominierenden Kommunikationsmedium der Sprache – gemeint ist hier die Verbalsprache – deutlich:²⁵⁵ Die im Medium Sprache gebildeten, sich zu Wörtern zusammenfügenden Laute sind „extrem instabile Elemente“,²⁵⁶ und die mit Wörtern geformten Sätze lösen sich, sobald sie ausgesprochen sind, ins Nicht-mehr-Hörbare auf. Auch die Stimme kann nur im Moment des Sprechens gehört werden, bevor sie wieder verhallt. Die Eigenheit, d. h. die radikale Gegenwartsabhängigkeit des Mündlichen erhellt sich ferner im Vergleich mit dem wesentlich stabileren Kommunikationsmedium der Schrift. Während die im Medium Schrift gebildeten Formen, also Texte, selbst noch relativ stabil sind und sich für die Ausbildung eines Gedächtnisses anbieten, erleichtert Sprache das Vergessen. Dadurch „entlastet [die Sprache, L.K.] das soziale Gedächtnis und dient insofern dem ständigen Freimachen von Kapazität für neue Kommunikationen“.²⁵⁷ Und dies ist im Rahmen des colloquiums auch dringend erforderlich. Denn man stelle sich nur einmal den Lärm vor, der entstünde, wenn gesprochene Sätze nicht mit dem Aussprechen verhallten, sondern ihre Hörbarkeit von längerem oder gar dauerhaftem Bestand wäre. Die Flüchtigkeit des Performativen schließt dabei nicht aus, dass die Struktur des colloquiums an bereits Vergangenes anschließt oder sich in Bezug auf Zukünftiges anschlussfähig verhält. Das Ereignis selbst ist jedoch nur im einmalig-konkreten Praxisvollzug, im gegenwärtigen Augenblick vorhanden und in exakt derselben Form nicht wiederholbar. Ein seelsorgliches Gespräch präsentiert sich also durchaus nicht geschichtslos, da es von vergangenen Begegnungen beeinflusst sein oder auf weitere Begegnungen der involvierten Personen hin abzielen kann, primär bleibt jedoch
Setting nicht angenommen (Termin wird nicht eingehalten, Ort nicht gefunden), was einer entwertenden Revanche entspricht.“ S.u. Kapitel 4. Tyrell 2002: Religiöse Kommunikation, 88. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 205 ff und 249 ff. A.a.O., 216. Ebd.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
dieses eine konkrete Aufeinandertreffen von mindestens zwei Anwesenden. Damit wird die zeitliche Dimension der Gegenwart für die Poimenik unmittelbar relevant – oder in Anlehnung T. Lohse formuliert: Die „günstige Gelegenheit“ ist einmalig und nicht konservierbar. Der Seelsorger steht daher vor der taktischen Frage, was im hic et nunc dieser einen Begegnung stattfinden soll, anstatt auf eine „günstigere“ Gelegenheit zu verweisen oder auf nachfolgende Gespräche zu hoffen, die womöglich – insbesondere im Hospiz oder in der Krankenhaus- und Notfallseelsorge – niemals stattfinden werden. Seelsorge ist daher in erster Linie nicht als ein über mehrere Begegnungen hinweg andauernder Begleitungsprozess in den Blick zu nehmen, sondern als ein Geschehen, das sich am einmalig-konkreten Ort des colloquiums ereignet, welcher sich kairologisch konstituiert und nach relativ kurzer Dauer wieder zerfällt.²⁵⁸ Geht man vom pastoralen Alltag aus, so ist eine kontinuierliche seelsorgliche Begleitung über einen längeren Zeitraum hinweg ohnehin meist weniger praktikabel – es sei denn, ein Schwerpunkt der Arbeit wird auf Seelsorge oder „geistliche Begleitung“²⁵⁹ gelegt. Selbst wenn sich das Kommunikationsgeschehen in einem bekannten Rahmen ereignet, folgt es keinem festen Drehbuch, sondern die konkreten (Spiel‐) Regeln ergeben sich im Aushandlungsprozess der Kommunikation in actu. ²⁶⁰ Das Dialogische des colloquiums macht den seelsorglichen Deutungsraum zu einem dynamischen Gebilde, in dem die Situationsklärung zu einem diskursiven Prozess wird und sich sowohl die konkreten Formen als auch die konkreten Inhalte performativ einstellen. Dabei entwickelt die interaktionale Kommunikation eine solche „Eigendynamik“ – systemtheoretisch kommt dem der Terminus „Autopoiese“ nahe –, in welche die in die Kommunikation involvierten Personen geradezu hineingezogen werden. Regelrecht „von Praxisanforderungen ‚hingerissen‘“²⁶¹ sind die Kommunikations-„Teilnehmer“ deshalb nicht selten von ihren
Anders spricht sich z. B. Winkler (20002: Seelsorge, 272) explizit gegen ein einmaliges Gespräch und für „die seelsorgerliche Begegnung als Gesprächsreihe“ aus – für eine seelsorgliche „Gesprächsreihe“ plädiert bereits Scharfenberg (1972: Seelsorge, 136 ff). Denn Winkler ist der Meinung, dass bei einer einmaligen Begegnung der „vermittelte Anstoß zur Veränderung bzw. Problembewältigung […] vom Ratsuchenden allein in einen inneren Verarbeitungsprozeß überführt werden [muss; L.K.]“ (Winkler 20002: Seelsorge, 272) – ein rezeptionsästhetisch übrigens anschlussfähiger Aspekt. „Dagegen bietet die Gesprächsreihe die Chance einer Prozeßbegleitung und damit die Gelegenheit, verhaltensbezogene Korrekturvorschläge nicht nur grundsätzlich zu reflektieren, sondern wiederholt und wiederholend auf verschiedene (Erlebens‐)Situationen auszurichten.“ (ebd.) Winkler zielt damit auf den systemtheoretisch betrachtet unmöglichen Versuch, in ein autopoietisches System direktiv einzugreifen. Den Hinweis auf die „geistliche Begleitung“ verdanke ich Pastorin Sabine Zorn/Villigst. Vgl. Nassehi 2008: Soziologie, 73. A.a.O., 115.
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
229
eigenen Handlungen bzw. von der ihnen zugerechneten Kommunikation überrascht, wenn sie sich selbst beobachten.²⁶² Um sich dem colloquium als den Ort der seelsorglichen Vergegenwärtigungsund Deutungsprozesse poimenisch weiter anzunähern, bietet es sich an, das Seelsorgegeschehen mit anderen Formen kirchlich-kommunikativen Handelns, die sich ähnlich der Seelsorge traditionell in interaktionaler Form ereignen, zu vergleichen. Dazu zählen in erster Linie die Kommunikation in Gottesdienst, Predigt und Religionsunterricht.²⁶³ Außerdem greifen Seelsorge, Liturgie und Predigt im Praxisvollzug auf ähnlich geprägte Kommunikationsformen des christlichen Glaubens, wie biblische Texte oder Segens- und Gebetshandlungen, zurück und spielen diese in das kommunikative Geschehen ein. Für die Poimenik ist es daher lohnend, an die in Liturgik, Homiletik und Religionspädagogik bereits erprobten system- und zeichentheoretischen Zugänge anzuschließen und sich hinsichtlich ihrer eigenen Fragestellung von diesen anregen zu lassen.²⁶⁴ Es hat sich gezeigt, dass sich bspw. der Anschluss an den Performanz-Begriff, der bislang in anderen praktisch-theologischen Teildisziplinen begegnet, auch in poimenischer Hinsicht als aufschlussreich erweist. Weiter macht Klie darauf aufmerksam, dass die Semiotisierung des Hör- und Textverständnisses, das seit der semiotisch orientierten Homiletik in der Predigtlehre üblich ist, auch auf das seelsorgliche Geschehen übertragen werden sollte.²⁶⁵ Denn nur so kann das „deutliche[ ] Manko“²⁶⁶ in den bisherigen Entwürfen zur systemischen Seelsorge, nämlich das Fehlen von rezeptionsästhetischen Fragen, ausgeglichen werden. Reflektiert die Poimenik das Verstörungspotential biblisch-christlicher Texturen, muss sie prinzipiell veranschlagen, dass „[a]nalog zum Predigtgeschehen […] auch im Seelsorgeprozeß biblische Texte faktisch als ‚offene Kunstwerke‘ rezipiert“²⁶⁷ werden. In der Liturgik ist es v. a. der Verdienst von Bieritz, die Vieldimensionalität der gottesdienstlichen Interaktion aufzuzeigen und „die Fülle der Phänomene
Nassehi (a.a.O., 102 und 115) stellt dies anschaulich an einer Flirtsituation dar, in der einer der beiden Akteure über seinen eigenen Mut erschrickt. Für die Liturgik rezipiert Dinkel (2000: Gottesdienst), für die Religionspädagogik Gronover (2006: Religionspädagogik) den systemtheoretischen Interaktionsbegriff; s.o. 1.1.2.4 und 1.1.2.5. – Dass christliche und kirchliche Kommunikation auch massenmedial – z. B. als Fernseh-, Radiound Internetgottesdienst – ereignen kann, ist selbstredend, führt jedoch im Hinblick auf die vorliegende poimenische Fragestellung nach dem colloquium, das sich durch Anwesenheit und reflexive Wahrnehmung konstituiert, nicht unmittelbar weiter. S.o. 1. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 373 und 389 ff; zur semiotisch orientierten Homiletik s. o. 1.2.2.2. Klie 2003: Zeichen, 373. A.a.O., 396.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
unter einem einheitlichen Gesichtspunkt – nämlich dem der Semiotik […] – zu bündeln“.²⁶⁸ Das hierbei verwendete Bild der syntagmatisch als „Partitur“ zusammenspielenden divergenten, verbalen wie nonverbalen Zeichensysteme kann auf das Seelsorgegeschehen übertragen werden. Denn analog der Liturgie kann Seelsorge als ein komplexer Zeichenprozess beschrieben werden. Auch das seelsorgliche colloquium präsentiert sich als ein vieldimensionales Geschehen, in dem verschiedene „raum-zeitliche Ausdrucksformen“ (Bieritz) zusammenspielen. Deshalb ist es für eine adäquate Analyse des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens ertragreich, an die in der Liturgik unter semiotischer Perspektive gewonnenen Einsichten anzuschließen, diese hinsichtlich der Seelsorge entsprechend zu modifizieren und so für den poimenischen Diskurs nutzbar zu machen – zu denken ist hier z. B. an die von Bieritz erarbeiteten Codes.²⁶⁹ Birgt die adäquate Analyse eines Geschehens in actu bereits methodische Schwierigkeiten,²⁷⁰ so stellt das seelsorgliche colloquium die Poimenik noch einmal vor differenziertere Herausforderungen. „Die Seelsorgesituation ist viel weniger greifbar als Predigt, Gottesdienst und Unterricht es sind. […] Dort [im Einzelgespräch, L.K.] wird von der Pfarrerin oder dem Pfarrer gerade nichts vorgegeben, kein Predigttext, kein Unterrichtsmaterial“²⁷¹ – und es ist zu ergänzen: Auch dem Pfarrer selbst ist nichts von dem Genannten vorgegeben. Während Predigt und Liturgie als kirchlich-institutionalisierte Darstellungsformen der Christentumspraxis fassbar sind, präsentiert sich das kirchlich-kommunikative Handeln der Seelsorge eben gerade nicht als pastorale Institution.²⁷² Seelsorge ist eine räumlich inszenierte und sprachlich geformte christliche Kommunikation auf Zeit, die hinsichtlich ihrer zeit-räumlichen und personellen Dimension erheblich offener agiert als Predigt, Gottesdienst und Unterricht. Dies zeigt sich zum einen daran, dass sich seelsorgerelevante Gelegenheiten in der Regel außerhalb standardisierter Settings kairologisch ergeben, was eine „flexiblere Wahrnehmung und ein kreativeres Vorgehen“²⁷³ nahelegt. Im Unterschied dazu finden Predigt, Liturgie und auch der Religionsunterricht meist in einem relativ fest geprägten Rahmen statt, und auch die Therapie ereignet sich in einem feststehenden Kontext. Letztere findet in der Regel zu einem vereinbarten Zeitpunkt in einer Praxis
Bieritz 2004: Liturgik, 37; Hervorhebung im Original; zur semiotisch orientierten Liturgik s. o. 1.2.2.1. Vgl. a.a.O., 42 ff; s.u. Kapitel 4. Zur Analyse eines interaktionalen Geschehens vgl. Neijenhuis (2007: Gottesdienst), der einen Gottesdienst in actu beschreibt. Meyer-Blanck/Weyel 2008: Studien- und Arbeitsbuch, 149. Das hat bereits die Exegese des Evangeliums-Artikels ergeben; s.o. 2.1. Klie 2003: Zeichen, 372 f.
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
231
statt, die eigens für die therapeutische Kommunikation mit entsprechenden „Requisiten“ eingerichtet ist. Den Verlauf der Therapie prägen eine strukturierte Therapeut-Klient-Beziehung, ein methodisch kontrolliertes Gesprächsverfahren und eine klare Zielperspektive.²⁷⁴ Im Unterschied hierzu wird die prinzipielle Unbestimmtheit der seelsorglichen Kommunikation deutlich. Während die Spielregeln in den institutionalisierten Kommunikationsformen des christlichen Glaubens wesentlich fester geprägt sind, ergibt sich das, was im seelsorglichen colloquium gespielt wird, erst im Aushandlungsprozess der Kommunikation in actu. So ist es nach der Erneuerten Agende z. B. üblich, den Gottesdienst in den vier Schritten „Eröffnung und Anrufung“, „Verkündigung und Bekenntnis“, „Abendmahl“ und „Sendung und Segen“ zu beschreiben.²⁷⁵ Daran anschließend stellt sich die Frage nach einer „Agende“ der Seelsorge, d. h. mit welchem Modell, die seelsorgliche Kommunikation so erfasst werden kann, dass über die übliche Ordnung der Interaktion „Begrüßung“, „Gespräch“ und „Verabschiedung“ hinaus zugleich das Proprium der Seelsorge sichtbar wird. Als den Versuch, eine „Agende“ des Seelsorgegesprächs zu entwerfen, kann der Abschnitt „Der Weg des Gesprächs“ in dem Lehrbuch von Ziemer verstanden werden.²⁷⁶ Dort werden „für den Regelfall ein paar Markierungspunkte [genannt, L.K.], die für den Weg des Gesprächs beachtet zu werden verdienen“.²⁷⁷ Neben einigen Hinweisen zu den „äußere Gegebenheiten“, also zur Kommunikationsumgebung, wird besonders der „Eröffnung des Gesprächs“ besondere Aufmerksamkeit geschenkt, bevor für den „weiteren Weg des Gesprächs“ verschiedene pastoralpsychologisch ausgerichtete „Blick- oder Orientierungspunkte für die Struktur“ genannt werden. Dabei laufen die z.T. recht detaillierten Vorschläge Gefahr, nor-
Mit diesen „Konstanten“ charakterisiert Ziemer (20042: Seelsorgelehre, 152 f) das therapeutische Gespräch. – Anbei bemerkt sind die Fälle interessant, in denen die therapeutische Praxis die gewohnte professionelle „Bühne“ verlässt und dadurch zur Reflexion dieser ihr fremden Situation genötigt ist. Dies ist z. B. mit dem frame „Hausbesuch“, der in der pastoralen Praxis Usus ist, der Fall. Davon, dass im Unterschied zum Pfarrer der Therapeut hier höchst ungewohntes Terrain betritt, zeugt der Artikel von Hargens (1993: Haus). Genötigt durch den Mangel an Praxisräumen bietet der systemische Therapeut Hargens 1991 erstmals Therapiesitzungen als Hausbesuche an und reflektiert im Spannungsfeld von „Spielfeld oder Feindesland“ ein Setting, das bis dahin in der Therapie als Ausnahme behandelt wurde. Evangelisches Gottesdienstbuch 20033: 32 ff. – Hierbei ist evident, dass sich die konkrete Struktur des gottesdienstlichen Geschehens ebenfalls in actu performiert. Hierauf hat Bieritz (1995: Struktur) in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Strukturbegriff des sog. „Strukturpapiers“ hingewiesen; s. o. 1.2.2.1. Vgl. Ziemer 20042: Seelsorgelehre, 165 ff. – Ähnlich bietet Lohse (20062: Kurzgespräch, 54 ff und 122 ff) Punkte für eine mögliche Agende eines (beratenden) Gesprächs, die sich für „günstige Gelegenheiten“ wesentlich offener präsentiert als der bei Ziemer aufgezeigte „Weg des Gesprächs“. Ziemer 20042: Seelsorgelehre, 165.
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2. Das poimenische Feld: „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“
mativ missverstanden zu werden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass bereits eine bestimmte, „ideale“ Kommunikationsumgebung vor Augen steht, auf das die seelsorgliche Begegnung hin gelenkt werden soll. So sollte nach Ziemer z. B. der Raum „möglichst abgeschirmt“ sein. Doch evtl. ist es für eine konkrete Begegnung gerade „günstig“, dass der durch das colloquium ausgegrenzte seelsorgliche Zeit-Raum durch Faktoren aus der Umwelt störbar, also dynamisch bleibt und sich möglicherweise auch wieder schnell auflösen kann. Insgesamt wirkt der hier beschriebene „Weg des Gesprächs“ zu festgeschrieben, so dass „Störungen im Gespräch“ sowie „unbefriedigende Gesprächsverläufe“, auf die Ziemer an späterer Stelle eingeht,²⁷⁸ bereits impliziert sind.
Es hat sich ergeben, dass sich das seelsorgliche colloquium aufgrund seines prinzipiell offenen Settings als ein dynamisches und komplexes Geschehen kairologisch im Zeit-Raum herausbildet. Die Poimenik steht nun vor der Aufgabe, dieses dynamische und komplexe Geschehen adäquat zu erfassen und die Prozesse, die sich am seelsorglichen Ort des colloquiums in actu vollziehen, zu beschreiben. Es konnte gezeigt werden, dass sich eine im weitesten Sinne performative Sichtweise auf das colloquium für systemtheoretische und semiotische Zugänge anschlussfähig zeigt. Nachdem nun ausgehend von Luthers Formel per mutuum colloquium et consolationem fratrum das poimenische Feld aufgespannt und Seelsorge als wechselseitiges Gespräch anwesender Glaubensgeschwister zum Zwecke des Trosts untereinander markiert worden ist, liegt der Schwerpunkt der beiden folgenden Kapitel nun primär auf ästhetischen Begründungszusammenhängen, die sich mit leib-räumlichen, sinnenhaften Formen des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens auseinandersetzen. Es geht um die Frage, wie sich Interaktionsfelder faktisch herausbilden und wie diese taktisch „irritiert“ werden können. Im Sinne einer eher faktischen Performanz dient das nächste Kapitel dazu, einen adäquaten Theoriezugriff zu entwickeln, mit dem das seelsorgliche colloquium möglichst präzise beschrieben werden kann. Um dieses dynamische und komplexe Kommunikationsfeld näher abzuschreiten, bietet es sich an, das Geschehen unter kommunikationstheoretischem Aspekt näher in den Blick zu nehmen. Konkret ist, rekurrierend auf System- und Zeichentheorie, im Dialog mit der Poimenik ein für die Seelsorge funktionales Interaktionsmodell zu entwerfen, das zu einer theoretisch reflektierten Wahrnehmung der Prozesse am Ort des seelsorglichen colloquiums anleitet. Der Gewinn eines solchen Vorgehens liegt darin, die Vieldimensionalität des seelsorglichen colloquiums unter einer einheitlichen Perspektive zu fassen. Im Anschluss an diese theoretischen Überlegungen zielt das vierte Kapitel unter dem Blickwinkel seelsorglicher Präsenz auf eine eher
Vgl. a.a.O., 173 ff.
2.2 Seelsorge als wechselseitiges Gespräch
233
taktische Performanz. Es setzt sich mit möglichen Darstellungsformen der Seelsorge auseinander, expliziert die Partitur des seelsorglichen colloquiums und sensibilisiert auf diese Weise für die seelsorgliche Praxis.
3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System Im letzten Kapitel wurde im Anschluss an Luthers Formel per mutuum colloquium et consolationem fratrum das poimenische Feld abgeschritten, anhand grundlegender Kategorien aufgespannt und Seelsorge als wechselseitiges Gespräch anwesender Glaubensgeschwister zum Zwecke des Trosts untereinander bestimmt. Dabei haben die Überlegungen – neben dem mutualen, consolatorischen und ekklesiologischen Aspekt – vor allem das colloquium als Gegenstand der poimenischen Untersuchung hervortreten lassen. Denn an diesem, sich kairologisch ausgrenzenden Zeit-Raum verdichten sich seelsorgliche Vergegenwärtigungs- und wirklichkeitsbildende Deutungsprozesse zu äußerlichen, wahrnehmbaren Formen. Am Ort des seelsorglichen colloquiums performiert sich ad hoc das Evangelium. Mit dem colloquium konstituiert sich ein kommunikativer Wahrnehmungsraum, dessen komplexe Dynamik durch das prinzipiell offene Setting der Seelsorge noch intensiviert wird. Die sich mittels leib-räumlicher Kopräsenz vollziehende Kommunikation in Echtzeit lässt das colloquium zu einem vieldimensionalen Geschehen werden, das sich durch Unmittelbarkeit und Schnelligkeit auszeichnet. Die Poimenik steht nun vor der Aufgabe, das colloquium als den formgebenden Ort der Seelsorge adäquat zu erfassen und die kommunikativen Prozesse, die sich in der Begegnung unter Anwesenden in actu vollziehen, zu beschreiben. Dabei ist mit dem Terminus colloquium weit mehr impliziert als mit dem alltagssprachlichen Begriff Gespräch, der zumeist lediglich die verbalsprachliche Dimension des kommunikativen Geschehens bezeichnet. Exemplarisch lässt sich dies an einer von Scharfenberg beschriebenen – vermutlich konstruierten – Modellszene aus der seelsorglichen Praxis verdeutlichen, die im Folgenden aus kommunikationstheoretischer Perspektive zu diskutieren und rekonstruieren sein wird: „Wir nehmen nun an, eine Frau entschließt sich dazu, einen Seelsorger aufzusuchen, weil ihr der Rat dazu gegeben wurde. Sie sucht also ein bestimmtes Haus auf, in dem die Sprechstunden des Seelsorgers stattfinden. Der erste Sinneseindruck wird durch dieses Haus hervorgerufen. Nehmen wir an, daß es ihr bekannt vorkommt. Indem sie die Treppe hinaufgeht, fällt ihr plötzlich ein: dieses Haus erinnert mich an meine alte Schule, in die ich als junges Mädchen gegangen bin. Es stellt sich eine plötzliche Verbindung zur längst vergangenen Schulzeit her, und es kann damit ein ganzer Strom von Erinnerungen ausgelöst werden. Jeder Sinneseindruck, jede Wahrnehmung, die wir haben, hat nämlich die Bestrebung, eine
DOI 10.1515/9783110520750-003
3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
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Verbindung herzustellen zu ähnlich gearteten Erinnerungen, die irgendwo in dem großen Bereich unseres Erinnerungsvermögens lagern. Jetzt tritt die Frau in das Zimmer des Seelsorgers und hat einen zweiten Sinneseindruck: Es hängt ein Kreuz an der Wand. Vielleicht ist sie schon lange nicht mehr in der Kirche gewesen, und dieses ruft eine zweite Erinnerung in ihr wach: Sie denkt vielleicht an ihre Konfirmation und alles, was mit diesem Thema zusammenhängt. Nun sitzt ihr ein Seelsorger gegenüber, den sie noch nie gesehen hat, aber plötzlich fällt ihr auf, daß er wie ihr früherer Tanzstundenherr aussieht. Sofort tauchen eine Menge Erinnerungen auch aus dieser Zeit auf. Es ist noch kein Wort gesprochen worden, das Gespräch hat noch nicht begonnen, und doch liegt bereits eine ganze Fülle von bisher nur latenten Stimmungen und Gefühlen bereit, sich zu äußern und in das Gespräch einzugehen. Auf der Seite des Seelsorgers sieht es natürlich genauso aus. Bevor überhaupt das Gespräch recht in Gang kam, ist also eine ganze Fülle von Gefühlsqualitäten in Bewegung gebracht. Nun beginnt das Gespräch, und bei jeder Frage, bei jeder Antwort, in jedem Anteilnehmen am Gespräch verändert sich aufs neue die Gefühlssituation der beiden Partner. Es gibt kein Mittel, dem zu entgehen. Denn es handelt sich um ein psychisches Grundgesetz, das immer in Kraft ist.Wir können lediglich vor diesen Tatsachen die Augen verschließen und so tun, als ob es sie nicht gäbe. Dann fließen alle möglichen Gefühle und Einstellungen in das Gespräch ein, ohne daß wir dies in irgendeiner Weise beeinflussen und kontrollieren können. Es kann in unseren Überlegungen also nicht um die Frage gehen, wie wir dieses Geschehen abstellen können, sondern es kann nur um die Frage gehen, wie wir diese Dinge aufnehmen, wie wir sie behandeln wollen und wie wir sie in die Gesprächsführung einbeziehen können.“¹ Diese imaginierte, „dichte Beschreibung“² führt zunächst vor Augen, dass der kontextuellen Rahmung der seelsorglichen Begegnung eine hohe Relevanz zukommt. So ist es in der Beispielszene nicht einerlei, welches Haus die Frau betritt, sondern es ist dieses eine bestimmte Haus, das ihr bekannt vorkommt. Und weiter sind es diese eine bestimmte Treppe, dieses eine bestimmte Zimmer, dieses eine bestimmte Kreuz und dieser eine bestimmte Mensch, die bei ihr an diesem einen bestimmten Tag eine Fülle ganz konkreter Erinnerungen hervorrufen. Und wenn der Seelsorger diese eine bestimmte Frau beim Eintreten in sein Zimmer wahrnimmt, gewinnt auch er einen ganz konkreten (ersten) Eindruck von ihr. So liegen, hervorgerufen durch verschiedene Wahrnehmungen, sowohl seitens der Frau
Scharfenberg 1972: Seelsorge, 66 f. Der Terminus stammt von Geertz 1983: Dichte Beschreibung, 7 ff.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
als auch seitens des Seelsorgers eine ganze Menge – wie Scharfenberg sie bezeichnet – „latente[r] Stimmungen und Gefühlen bereit, sich zu äußern und in das Gespräch einzugehen.“³ Anders formuliert: Die wahrnehmbaren Gestalten, die konkrete Kommunikationsumgebung setzt der sich anschließenden verbalsprachlichen Kommunikation einen ganz bestimmten Rahmen. Und da nicht nur visuelle Sinneseindrücke, sondern prinzipiell „jede Wahrnehmung […] die Bestrebung [hat], eine Verbindung herzustellen zu ähnlich gearteten Erinnerungen“,⁴ bildet sich das Kommunikationsgeschehen als eine vieldimensionale Partitur heraus. Denn beim Betreten des Hauses nimmt die Frau verschiedene Phänomene gleichzeitig wahr: Nicht nur der Anblick des Raumes, sondern auch der spezifische Geruch des Hauses oder die Berührung des Treppengeländers mögen sie an ihre alte Schule erinnern. „Bevor überhaupt das Gespräch recht in Gang kam“,⁵ also noch bevor die verbalsprachliche Kommunikation in das reich orchestrierte Konzert mit einstimmt, ist das komplexe Spiel des Seelsorgegeschehens mit der Fülle an „Gefühlsqualitäten“⁶ bereits in Gang gesetzt. Dynamisch wird dieses Geschehen dadurch, dass sich „bei jeder Frage, bei jeder Antwort […] aufs neue die Gefühlssituation der beiden Partner“⁷ verändert. Doch die hier vorgestellte Beispielszene erhellt nicht nur die u. a. aus der Kommunikationsumgebung resultierende Vieldimensionalität und dynamische Komplexität des Seelsorgegeschehens, sondern sie macht ferner deutlich, dass in der sich mit dem colloquium bildenden Kommunikationssituation faktisch nicht nichts dargestellt,⁸ nicht nichts gezeigt werden kann. Jedes seelsorgliche Gespräch ist unumgänglich in einen „äußeren Rahmen“ eingespannt,⁹ d. h. jede Kommunikation unter Anwesenden wird durch ein konkretes Setting geframt. Es handelt sich in Scharfenbergs Worten um ein „psychisches Grundgesetz“,¹⁰ dem man faktisch nicht entgehen kann. Taktisch gesehen geht es dann nicht länger um die Frage, „wie wir dieses Geschehen abstellen können, sondern […] wie wir diese Dinge aufnehmen, wie wir sie behandeln wollen und wie wir sie in die Gesprächsführung einbeziehen können“.¹¹
Scharfenberg 1972: Seelsorge, 67. A.a.O., 66. A.a.O., 67. Ebd. Ebd. Vgl. Husmann 2008: Inszenierung, 32; s.o. 2.2.2. Vgl. Scharfenberg 1972: Seelsorge, 65. A.a.O., 67. Ebd.
3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
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Es wird bereits an der verwendeten Terminologie deutlich, dass die Beispielszene aus psychoanalytischer Perspektive beschrieben ist. Im Folgenden spielt diese von Scharfenberg intendierte Zielrichtung dieser Szenenbeschreibung jedoch eine eher untergeordnete Rolle. Denn im vorliegenden Zusammenhang wird diese „dichte Beschreibung“ primär als signifikantes Praxis-Beispiel, das bei Bedarf fortgeschrieben wird, zur Illustration der theoretischen Überlegungen herangezogen. Anbei können und müssen auch Differenzen zwischen der hier gewählten Zugangsweise und der psychoanalytischen Orientierung aufgezeigt werden. Scharfenberg nennt zwar einige der Phänomene, die die Kommunikationsumgebung bestimmen, reflektiert diese jedoch mittels der Begriffe „Übertragung“ und „Gegenübertragung“ ausschließlich psychoanalytisch. Eine solche Beschreibung vermag den „äußeren Rahmen“¹² des komplexen Kommunikationsgeschehens jedoch nur unzureichend zu erfassen und bleibt semiotisch „blind“. Der Fokus des vorliegenden Kapitels liegt jedoch nicht auf der Kritik an Scharfenbergs Zugangsweise. Damit ist hier ein anderer Untersuchungsschwerpunkt gesetzt als bspw. in der Dissertation von Karle,¹³ die sich aus soziologischkonstruktivistischer Perspektive ausführlich mit der Pastoralpsychologie Scharfenbergs auseinandersetzt und auf „eine Kritik der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre“¹⁴ abzielt. Im Folgenden geht es vielmehr darum, den durch das colloquium distinguierten kommunikativen Wahrnehmungsraum der Seelsorge präzise zu bestimmen und die sich am seelsorglichen Ort ereignenden Performanzen unter der Perspektive eines einheitlichen Theoriehorizonts zu reflektieren. Es ist dabei der Frage nachzugehen, wie sich Kommunikationsfelder unter Anwesenden faktisch herausbilden und das religiös-sinnhafte Deutungsspiel der Seelsorge im colloquium Gestalt annimmt. Konkret geschieht dies im Rekurs auf die Luhmannsche Systemtheorie und Ecosche Semiotik. Beide Theorien wurden bereits unter verschiedenen praktisch-theologischen Fragestellungen rezipiert¹⁵ und lassen auch hinsichtlich der Poimenik einen Zugewinn an Deskriptionsschärfe erwarten. In Bezug auf die vorliegende Aufgabenstellung werden im Folgenden verschiedene systemtheoretische und semiotische Theorieelemente pragmatisch als „Werkzeug“¹⁶ genutzt, um der Poimenik ein geeignetes, kommunikationstheoretisches Beobachtungsinstrumentarium bereitzustellen. Dies soll dazu die-
A.a.O., 65. Karle 1996: Seelsorge; zu Karles Konzept s.o. 1.1.3.2. So der Untertitel von Karles (a.a.O.) Untersuchung. S.o. Kapitel 1. Beyer 1996: Kontakt, 20; s. o. 1.1.1 und 1.1.2.7.
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nen, die stets ineinander verflochtenen Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse des Seelsorgegeschehens zu strukturieren und die Rezeption und Produktion von Zeichen zu beschreiben. Hierbei wird die Systemtheorie in erster Linie als makroskopische Rahmentheorie herangezogen, während die Semiotik vor allem dazu dient, innerhalb dieser markierten Grenze auflösungsstärkere mikroskopische Beobachtungsmuster anzubieten als es die Systemtheorie vermag¹⁷ – anders formuliert: Es geht darum, die performativen Vollzüge am Ort des seelsorglichen colloquiums als zeichenhafte Prozesse zu beschreiben, als Zeichen im System, speziell als religiös-christlich deutbare Zeichen im System. Auf diese Weise wird die systemtheoretische Perspektive mit funktionaleren Beschreibungsmöglichkeiten der semiotischen Sichtweise ergänzt und die bislang in der Praktischen Theologie voneinander getrennt tradierten Rezeptionsstränge von System- und Zeichentheorie werden miteinander ins Gespräch gebracht. Damit kann die Poimenik das Deskriptionspotential beider Theorien für sich nutzbar machen. An dieser Schnittstelle sollen differenziertere Deskriptionsmöglichkeiten gewonnen werden als sie von der jeweils einzelnen Theorie angeboten werden. Um das Kommunikationsfeld des seelsorglichen colloquiums abzuschreiten, die Deskription der performativen Vollzüge aus kommunikationstheoretischer Perspektive weiter zu verdichten und die Konturen dieses Geschehens zu präzisieren, bietet es sich an, das Seelsorgegeschehen als Interaktion zu beschreiben. Damit wird an die praktisch-theologische Konvention angeschlossen, die das Gespräch als die dominierende Sozialform der Seelsorge ausmacht.¹⁸ Auf andere, davon abweichende seelsorgliche Kommunikationssituationen wird an entsprechender Stelle einzugehen sein. Ziel des dritten Kapitels ist es, im kritischen Dialog mit der eingangs vorgestellten Szenenbeschreibung aus der seelsorglichen Praxis ein für die Poimenik funktionales Interaktionsmodell zu skizzieren. Dazu werden bisherige Argumentationslinien der Untersuchung aufgenommen und hinsichtlich der spezifisch poimenischen Fragestellung unter systemtheoretischsemiotischer Perspektive zusammengeführt: Neben Entwürfen zur systemischen Seelsorge¹⁹ und Konzepten der systemischen Therapie²⁰ können weitere systemund zeichentheoretische Rezeptionslinien aus anderen praktisch-theologischen Teildisziplinen²¹ in die Poimenik ausgezogen und vor dem Hintergrund des vor-
Ähnlichen geht Scheibmayr (2004: Systemtheorie, 160 ff und 337 ff) vor: Die Konstruktion eines Zeichensystems orientiert sich hier nicht an der inneren Systematik der Peirceschen Semiotik, sondern an dem Problempotential, das sich aus der Luhmannschen Systemtheorie ableitet. S.o. 2.2.2. S.o. 1.1.3.2. S.o. 1.1.3.1. S.o. 1.1.2 und 1.2.2.
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liegenden Theoriehorizonts entsprechend geschärft und modifiziert werden. Auch die im zweiten Kapitel aufgezeigten, grundlegenden Kategorien des poimenischen Feldes werden im kommunikationstheoretischen Zusammenhang aufzugreifen und einzuordnen sein. Zu denken ist hier vor allem an die dort erprobte im weitesten Sinne ästhetisch-performative Perspektive, den Aspekt der Mutualität und die Bestimmung der Seelsorge als ein multiformes Geschehen. Auf das consolatorische Moment und die Bindung der Seelsorge an die christliche Trost- und Deutungsgemeinschaft unter Glaubensgeschwistern wird unter dem Vorzeichen der religiös-christlichen Codierung zurückgekommen sein.²² Das Seelsorgegeschehen kann mit einem ausschließlich kommunikationstheoretischen Interaktionsmodell nicht hinreichend erfasst werden. Deshalb steckt die vorliegende Arbeit als poimenische Untersuchung den theologischen Rahmen ab, indem sie im Anschluss an Luthers Formel Seelsorge als ein Modus der Vergegenwärtigung des Evangeliums und das colloquium als den seelsorglichen Ort der Performanz des Evangeliums bestimmt.²³ Die kommunikationstheoretischen Überlegungen bewegen sich innerhalb dieser theologisch bestimmten Grenze. Wird nun das colloquium als Zeit-Raum performativer Vollzüge präziser erfasst, so nutzt die Poimenik die disziplinexternen Theoriezugriffe pragmatisch-konstruktiv als „Werkzeug“ für ihre eigene Fragestellung. Die „Inszenierung des Evangeliums“ am Ort des seelsorglichen colloquiums bzw. in der Interaktion bleibt dabei stets durch das Ineinander von menschlich verfügbarer Gestaltungskunst und göttlicher Verheißung bestimmt.²⁴ Das heißt, dass sich das Evangelium zwar gesprächsweise konkretisiert und damit den Bedingungen menschlicher Kommunikation unterliegt,²⁵ gleichzeitig entzieht es sich als Unverfügbares jedoch einer kommunikationstheoretischen Betrachtungsweise. Auch wenn im Folgenden die kommunikationstheoretischen Überlegungen immer wieder an Scharfenbergs Beispielszene rückgebunden werden, ist es angesichts der Komplexität von System- und Zeichentheorie unvermeidbar, dass sich das Vorhaben zum großen Teil auf einem hohen Abstraktionsniveau bewegt. Der Gewinn, diesen „Flug über die Wolken“²⁶ zu wagen, liegt in erster Linie darin, in der Poimenik dominierende Sichtweisen zu „irritieren“ und auch diese praktischtheologische Teildisziplin zu einer neuen, v. a. zu einer im weitesten Sinne ästhetischen Perspektive anzuregen. Angesichts der jahrzehntelang dominierenden
S.u. 3.2.2.2.2. S.o. 2.2. Vgl. Meyer-Blanck 1997: Inszenierung, 12; zum Inszenierungsbegriff s.o. 2.2.1. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 376. Vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 13.
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Orientierung an der (Tiefen‐)Psychologie ist dies ein wesentlicher Aspekt. Hieraus erhellt, dass sich mit der Öffnung für neue Sichtweisen zugleich andere, in der Poimenik etablierte Zugänge verschließen und vor dem Hintergrund des hier erprobten Theoriezugriffs obsolet werden. Der vorliegenden Untersuchung liegt daran, den kommunikativen Wahrnehmungsraum der Seelsorge unter systemtheoretisch-semiotischer Perspektive in den Blick zu nehmen, die Fülle der Phänomene unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zu bündeln und so das seelsorgliche colloquium theoretisch zu fassen. Diese Vorgehensweise verspricht auch hinsichtlich der systemischen Seelsorge einen Erkenntnisfortschritt. Denn mit dem hier vorgestellten Theoriezugang kann diese nicht nur für eine ästhetischsemiotische Sichtweise geöffnet, sondern auch ihre weitgehend zu konstatierende systemtheoretische Unterbestimmung eingeholt werden.²⁷ Wenn im Folgenden auf die Luhmannsche Systemtheorie und die Ecosche Semiotik rekurriert wird, impliziert dies kein Präjudiz in der Frage, ob und inwieweit die beiden Theorien aufeinander abbildbar sind. Zwar lassen sich in einem großen Bereich Überschneidungen und Analogien hinsichtlich system- und zeichentheoretischer Theoriefiguren aufzeigen, doch schließen sich die beiden Theorien auf Grund ihrer universalistischen Ansprüche vorerst per se aus: Einerseits tritt die Systemtheorie explizit als eine „besonders eindrucksvolle Supertheorie“²⁸ auf, andererseits konstatiert Eco, dass sich eine Abhandlung über den Zeichenbegriff „mit allem“²⁹ beschäftigen muss. Darüber hinaus würde der Versuch, System- und Zeichentheorie in ein vollständiges Korrelationsverhältnis zu bringen, den unterschiedlichen „Sitz im Leben“³⁰ der jeweiligen Theoriegenese verkennen. Denn während die Luhmannsche Systemtheorie als Gesellschaftstheorie im soziologischen Kontext verankert ist,³¹ ist die Ecosche Semiotik zunächst als Literatur- und Texttheorie angelegt, bevor sie sich zur allgemeinen Kulturtheorie mit Zügen einer semiotischen Erkenntnistheorie entwickelt.³² Innerhalb der aktuellen Theoriediskussion werden seit Beginn des 21. Jhs. gerade die Kombinationen von System- und Zeichentheorie – rekurriert wird hierbei nahezu ausschließlich auf den semiotischen Entwurf von Peirce – sowie
S.o. 1.1.3. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 19; vgl. ebd: „Supertheorien sind Theorien mit universalistischen […] Ansprüchen.“ Eco 1977: Zeichen, 15; im Original hervorgehoben. Zur „Semiotik als Fundamentalphilosophie“ vgl. auch Mersch 1993: Eco, 75 ff. Dibelius 19716: Formgeschichte. S.o. 1.1.1. S.o. 1.2.1.
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ihrer Anschlussmöglichkeiten als viel versprechend gehandelt.³³ Jahraus und Ort zufolge können die Wechselwirkungen zwischen den zentralen system- und zeichentheoretischen Denkfiguren „Bewusstsein“, „Kommunikation“ und „Zeichen“ sogar ein „neues Fundament für zukünftige Theoriebildungen“³⁴ oder mehr noch: „vielleicht den Konvergenzpunkt in der Entwicklung und Diskussion der derzeitigen Theorieavantgarde“³⁵ bilden. Selbstredend sehen auch diese in erster Linie im linguistischen Kontext entstandenen Beiträge davon ab, System- und Zeichentheorie zu einer umfassenden Synthese zusammenzuführen.³⁶ Luhmann selbst setzt sich – neben vereinzelten Bemerkungen im Gesamtwerk³⁷ – in drei Aufsätzen explizit mit der Semiotik auseinander.³⁸ Er rekurriert dabei durchweg auf die Semiologie deSaussures, so dass seine Überlegungen letztlich dem linguistischen Modell und einem dyadischen Zeichenbegriff verhaftet bleiben. Daran ändert auch nicht, dass der Soziologe mit deSaussure die „konstruktivistische Wendung der Sprachtheorie“³⁹ verbindet. Denn für Verhältnis beider Theorien zueinander ist es konstruktiver, die Systemtheorie mit dem durch Peirce vermittelten triadischen Zeichenkonzept – oder der konstruktivistischen Variante Ecos – ins Gespräch zu bringen. Dies mahnt bereits Scheibmayr an,⁴⁰ der Theorieelemente von Luhmanns System- und Peirce Zeichentheorie zu einem neuen „Zeichensystem“ kombiniert. Insgesamt tragen die semiotischen Bezugnahmen des Systemtheoretikers Luhmanns für den vorliegenden Zusammenhang wenig aus. Darüber hinaus kommt Ort zu dem Schluss, dass „die Luhmann’sche Systemtheorie bisher keinen hilfreichen Beitrag zur semiotischen Theoriebildung geleistet hat.“⁴¹ – Anbei mag dies auch keines der Ziele Luhmanns sein, der
Vgl. Jahraus/Ort (2001: Bewußtsein; 2003: Theorie) sowie die Beiträge der „Zeitschrift für Semiotik 32“ (2010), die unter der Überschrift „Medien, Zeichen, Sinn: Semiotik und Systemtheorie“ „tatsächliche und mögliche Berührungspunkte“ (Krönig 2010: Semiotik, 3) diskutieren. Scheibmayr (2004: Systemtheorie) legt mit seiner Dissertation den ersten detaillierten wissenschaftstheoretischen Vergleich zwischen Luhmannscher System- und Peircescher Zeichentheorie vor. – Da der Unterschied zwischen der Peirceschen und Ecoschen Semiotik – vereinfacht formuliert – nicht in der Funktionalität der Zeichentheorie, sondern in der Religionsphilosophie und Erkenntnistheorie liegt, kann im vorliegenden Zusammenhang an diese Untersuchungen angeschlossen werden. Jahraus/Ort 2001: Wechselwirkungen, 1. Ebd.; Hervorhebung im Original. Vgl. z. B. Scheibmayr (2004: Systemtheorie, 355; Hervorhebungen L.K.): „Ausgewählte Theorieelemente von Luhmanns Systemtheorie und Peirces Semiotik sind durchaus kombinierbar, und zwar so, dass sich aus ihnen ein theoretisch kohärentes Zeichensystem konstruieren lässt.“ Luhmann 1988: Erkenntnis, 47 ff; ders. 1997: Gesellschaft, 205 ff; ders. 20063: Einführung, 282 ff. Luhmann 1992: Zeichen; ders. 1993: Zeichen; ders. 1993: Form. Zu Luhmanns Zeichentheorie vgl. Esposito (1993: Zwei-Seiten-Formen, 96 ff) und Scheibmayr (2004: Systemtheorie, 109 ff). Luhmann 20063: Einführung, 283. Scheibmayr 2004: Systemtheorie, 2. Ort 2010: Sinn, 67.
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angibt, in die Zeichentheorie „wirklich nicht eingearbeitet“⁴² zu sein und seine Hinweise „als Anregung, sich die Literatur einmal selbst anzusehen“⁴³ verstanden wissen will.
Dass im Anschluss an die aktuellen Theorieentwicklungen auch im Rahmen des vorliegenden Argumentationszusammenhangs nicht darauf verzichtet werden kann, auf mögliche Wechselwirkungen und Analogien zwischen Theoriefiguren der Luhmannschen Systemtheorie und Ecoschen Semiotik einzugehen, dürfte ebenfalls einsichtig sein. An dieser Stelle ist jedoch ausdrücklich auf zwei Punkte hinzuweisen: Zum einen geschieht das Aufzeigen möglicher Analogien zwischen System- und Zeichentheorie in dem Wissen darum, dass beide „Supertheorien“ stets nur partiell aufeinander abgebildet werden können. Zum anderen liegt der Fokus der folgenden Darstellung nicht darauf, systemtheoretische mit semiotischen Theorieelementen in ein konstruktives Wechselverhältnis zu bringen, da dies für die poimenische Fragestellung wenig austragen würde. Außerdem wird im Folgenden weitestgehend von einer diachronen Darstellung system- und zeichentheoretischer Elemente abgesehen, um sich auf die Funktionen der Theoriebausteine zu konzentrieren.⁴⁴ Der Schwerpunkt liegt damit nicht auf einer theoriegeschichtlichen Einordnung einzelner system- und zeichentheoretischer Theorieelemente oder einer erschöpfenden Darstellung der philosophischen und geistesgeschichtlichen Rahmenbedingungen von Luhmannscher Systemtheorie und Ecoscher Semiotik, sondern im Aufzeigen der Funktionalität derjenigen Theorieelemente, die sich für die spezifischen Anforderungen der vorliegenden poimenischen Aufgabenstellung als relevant erweisen. Ziel ist es also nicht, eine historisch-kritisch ausgelegte Übernahme beider Theorien zu leisten, sondern die Vorteile einer formal-selektiven Kombination von System- und Zeichentheorie für die Poimenik zu nutzen. Ferner schließt dieses pragmatische Vorgehen umfassende Einzeldarstellung der jeweiligen Theorie aus.⁴⁵ Im Anschluss an die bisherigen Überlegungen spitzt das dritte Kapitel die theoretische Reflexion des Seelsorgegeschehens weiter zu, indem es das seelsorgliche
Luhmann 20063: Einführung, 283. Ebd. Dies konvergiert im Übrigen mit Luhmanns Vorgehensweise. Denn auch er verzichtet bei der Übernahme von Theoriefiguren oder Terminologien in seine Theoriearchitektur weitestgehend auf diachrone Darstellungen – wie z. B. bei der Aufnahme der Begriffs „Paradigma“ von Kuhn; vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 18 f; s. o. 1.1.3.3. Überblicksdarstellung zur Luhmannschen Systemtheorie und Ecoschen Semiotik liegen bereits zahlreich vor; zur Systemtheorie s. o. 1.1.1 Anm. 22; zur Semiotik s.o. 1.2.1 Anm. 46.
3.1 „Welten im Kopf“: Die konstruktivistische Betrachtungsperspektive
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colloquium unter systemtheoretisch-semiotischer Perspektive als kommunikatives Interaktionsfeld auslotet. Wie das zweite Kapitel bewegt sich damit auch dieser Teil der Untersuchung mit fundamentalpoimenischer Intention auf der Theorieebene. Unter dem Blickwinkel faktischer Performanz geht es damit weiterhin um das „Ordinarium“ der Seelsorge, bevor sich das vierte Kapitel mit dem „Proprium“, d. h. mit der Frage auseinandersetzt, was diese theoretischen Einsichten für die Praxis verschiedener seelsorglicher Situationen bedeuten können. Hieraus ergibt sich folgender Aufbau: Bevor das Interaktionsfeld abgeschritten wird, soll der im weitesten Sinne konstruktivistische Ansatzpunkt der vorliegenden Untersuchung gebündelt und aus der Sicht Luhmannscher Systemtheorie und Ecoscher Semiotik expliziert werden (3.1). Dies ist deshalb angezeigt, da eine derartige Betrachtungsperspektive im praktisch-theologischen Zusammenhang bislang weniger üblich ist. Dem schließt sich der Entwurf eines für die Poimenik funktionalen kommunikationstheoretischen Modells an (3.2). Um ein theoretisches Fundament für die Deskription des kommunikativen Wahrnehmungsraums des Seelsorgegeschehens zu schaffen und ein entsprechend modifiziertes Interaktions-Modell zu entwerfen, changiert die Untersuchung pragmatisch zwischen den beiden Theoriezugriffen: Während die Luhmannsche Systemtheorie mit dem Sozialsystem der Interaktion den makroskopischen Rahmen setzt, wird das auf diese Weise markierte Feld auf mikroskopischer Ebene mit Theorieelementen der Ecoschen Semiotik präzisierend ergänzt und für eine zeichentheoretische Sichtweise geöffnet. Die face-to-face Begegnung ist anhand ihrer Charakteristika „Anwesenheit“ und „reflexiver Wahrnehmung“ als Kommunikation in den Blick zu nehmen (3.2.1), die wirklichkeits(um)bildenden Prozesse der seelsorglichen Interaktion sind zu beschreiben (3.2.2). Dabei spielt neben den grundlegenden Überlegungen zur Genese und zum Funktionieren von Interaktionsräumen immer wieder die Frage, wie sich religiös-christliche Zeit-Räume herausbilden bzw. wie Interaktionsräume religiös-christlich codiert werden können, eine Rolle.
3.1 „Welten im Kopf“: Die konstruktivistische Betrachtungsperspektive Die konstruktivistische Sinnsicht stellt eine grundlegende Perspektive der vorliegenden Untersuchung dar. Vor allem die im letzten Kapitel erprobte performative Zugangsweise verweist die Poimenik auf die ästhetische und konstrukti-
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vistische Dimension der seelsorglichen Vergegenwärtigung des Evangeliums.⁴⁶ Vor dem Hintergrund eines deutungstheoretischen Zugangs erscheint das Evangelium nicht länger als eine vorab gegebene, zeitlos gültige Größe, sondern als eine an Rezeption gebundene Kategorie. Erst wenn das Evangelium in actu konkrete Gestalt annimmt, wird Bedeutung generiert und kann es sich qua seiner wirklichkeitserschließenden Kraft für jemanden als wahr erweisen. Analog hat sich gezeigt, dass die consolatio, die von Luthers Formel als konkrete Form der seelsorglichen Heilszueignung vorgestellt wird, nicht im abschließend-definitorischen Sinne als eine Kategorie, die ontologisch deutbar wäre, zu beschreiben ist, sondern als eine, die konstitutiv an die Rezeptionsleistung einer Deutungsinstanz gebunden ist. Die sich im seelsorglichen colloquium performierenden Deutungsund Vergegenwärtigungsprozesse lassen sich am treffendsten aus einer im weitesten Sinne konstruktivistischen Perspektive beschreiben. Auch bei der kritischen Aufordnung der praktisch-theologischen Rezeption von System- und Zeichentheorie ist wiederholt die Frage nach dem jeweiligen epistemologischen Zugang der verschiedenen Entwürfe gestellt worden.⁴⁷ Zwar kommt die Rezeption sowohl der Luhmannschen Systemtheorie als auch der Ecoschen Semiotik nicht umhin, die konstruktivistische Sinnsicht beider Entwürfe implizit mitzuführen, letztlich ist jedoch insbesondere bezüglich der systemtheoretisch orientierten Ansätze zu konstatieren, dass die Herausforderung der epistemologischen Perspektive selten explizit angenommen und hinsichtlich ihrer praktisch-theologischen Konsequenzen berücksichtigt oder gar ausgelotet wird. Dies erstaunt v. a. deshalb, da sich gerade die Theorie Luhmanns explizit als ein Entwurf mit postontolgischer Architektur präsentiert. Ähnlich wird auch die praktisch-theologische Rezeption der Semiotik Ecos häufig von einem „referentiellen Kurzschluß“,⁴⁸ der die Zirkularität der Bedeutungszuschreibung ignoriert, begleitet. In die Poimenik erhält eine im weitesten Sinne konstruktivistische Perspektive mit den Ansätzen systemischer Seelsorge Einzug.⁴⁹ Diese beziehen sich jedoch in den wenigsten Fällen auf die entsprechende Primärliteratur, sondern übernehmen – meist unkritisch – verschiedene Modelle und Methoden der systemischen Therapie.⁵⁰ Damit orientiert sich die systemische Seelsorge, wie die von ihr aufgenommenen therapeutischen Ansätze, v. a. am systemischen Denken, als dessen erkenntnistheoretische Grundlage eine konstruktivistische Sinnsicht gel-
S.o. 2.2.1. S.o. Kapitel 1. Klie 2003: Zeichen, 194. S.o. 1.1.3.2. S.o. 1.1.3.1.
3.1 „Welten im Kopf“: Die konstruktivistische Betrachtungsperspektive
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ten kann.⁵¹ So sind bereits vielfach Ideen aus der systemischen Praxis für die Seelsorge fruchtbar gemacht worden, eine theoretische Reflexion dieser erkenntnistheoretischen Zugangsweise steht jedoch bislang noch aus.⁵² In diesem Abschnitt gilt es nun, die konstruktivistische Sinnsicht unter einem einheitlichen Horizont zusammenzufassen und aus systemtheoretischer wie semiotischer Perspektive zu explizieren. Die in der Poimenik bislang über den „Umweg“ therapeutischer Literatur rezipierte Sinnsicht wird system- und zeichentheoretisch eingeholt, fundiert und hinsichtlich ihrer poimenischen und seelsorglichen Relevanz sowie Konsequenzen ausgelotet. Zweifelsohne kann die konstruktivistische Zugangsweise als einer der grundlegenden Bereiche gelten, hinsichtlich derer Luhmannsche Systemtheorie und Ecosche Semiotik konvergieren. Damit teilen beide Theorien die allgemeine Annahme verschiedener konstruktivistischer Ansätze, nach welcher Erkenntnis nicht auf einer Korrespondenz mit der externen, sog. „objektiven“ Welt beruht, sondern immer nur auf internen Konstruktionen eines Beobachters. Dies führt v. a. zur Kritik an realistischen, ontologischen und korrespondenztheoretischen Auffassungen von „Welt“ bzw. „Wirklichkeit“ sowie „Wahrheit“ und „Wissen“. Die traditionelle epistemologische Frage nach dem Was der Erkenntnis wird von konstruktivistischen Ansätzen dabei durch die Frage nach dem Wie des Erkenntnisvorgangs ersetzt. Es geht, vereinfacht formuliert, um „Welten im Kopf“.⁵³ Im Folgenden werden die für die konstruktivistische Perspektive von Systemtheorie und Semiotik grundlegenden Elemente skizziert. Vor diesem erkenntnistheoretischen Hintergrund können dann weitere system- und zeichentheoretische Theorieelemente, die für die Beschreibung des seelsorglichen Interaktionsfeldes wesentlich sind, adäquat erschlossen werden.⁵⁴
Zum systemischen Denken s.o. 1.1.2. Vgl. Emlein 2006: Eigenheiten, 216; s. o. 1.1.3.3. Vgl. den gleichnamigen Titel der Reihe (Breuer/Leusch/Mersch 1996: Welten), die „Profile der Gegenwartsphilosophie“ vorstellt – unter ihnen auch die Entwürfe von Luhmann (a.a.O., 157 ff) und Eco (a.a.O., 93 ff). S.u. 3.2. – Bereits Gripp-Hagelstange (1995: Luhmann, 13) ist der Ansicht, „daß alle Analyseergebnisse der Gesellschaftstheorie Luhmanns nur dann adäquat nachvollzogen werden können, wenn man seine erkenntnistheoretische Ausgangsbasis verstanden hat.“ – Diese Aussage gilt analog für die Semiotik Ecos.
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3.1.1 Systemtheoretisch-konstruktivistische Sinnsicht: Beobachtete Welt „Der Anspruch Niklas Luhmanns, das ‚alteuropäische‘ Denken überwinden zu wollen, ist der Ausgangspunkt, von dem aus er sein Theoriegebäude errichtet.“⁵⁵ Seine Theorie sozialer Systeme, die zu einer „fundamentale[n] Umorientierung hinsichtlich der Weltsicht“⁵⁶ führt, ist deshalb „auch und vor allem die Ausbuchstabierung eines neuen erkenntnistheoretischen Paradigmas“.⁵⁷ Der Bruch mit der Erkenntnistheorie ontologischer Tradition folgt für die Systemtheorie in erster Linie aus ihrem differenztheoretischen Ansatz und der These operationaler Geschlossenheit von Systemen.⁵⁸ Stand in dem ersten Hauptwerk „Soziale Systeme“ noch der von Maturana übernommene Autopoiesis-Begriff im Fokus, so verschiebt sich innerhalb der Theoriearchitektur der Akzent allmählich auf den am Unterscheidungskalkül von Spencer Brown⁵⁹ orientierten Beobachtungsbegriff,⁶⁰ der als grundlegendes Theorem der systemtheoretisch-konstruktivistischen Perspektive gelten kann.⁶¹ Wie Luhmann in seiner einführenden Vorlesung formuliert, geht mit der Einführung der Theorie des Beobachters ein „Riss durch die ganze Systemtheorie“.⁶² „Jetzt erscheint der Beobachter. Nun wird alles anders. Damit wird die ganze Theorieanlage verändert […]. Wenn man den Beobachter einführt, den Sprecher oder den, dem etwas zuzurechnen ist [aus semiotischer Perspektive könnte man auch von einer Deutungsinstanz sprechen, L.K.], relativiert man die Ontologie.“⁶³ Damit konvergiert die epistemologische Sinnsicht der Systemtheorie Luhmanns mit anderen Ansätzen des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus, die die konstituierenden Leistun-
Gripp-Hagelstange 2000: Einführung, 7. – „Alteuropäisch“ ist ein von Luhmann gern gebrauchter Terminus, um spezifische Sichtweisen, wie z. B. die ontologische, als vollends antiquiert zu bezeichnen; vgl. z. B. Luhmann 1990: Wissenschaft, 705. Gripp-Hagelstange 2000: Einführung, 8. A.a.O., 7. Zur konstruktivistischen Sinnsicht vgl. Luhmann 1988: Erkenntnis; ders. 1990: Wissenschaft, 508 ff und 698 ff; ders. 19922: Sthenographie; ders. 19962: Realität, 158 ff; ders. 20053: Soziologische Aufklärung 5 „Konstruktivistische Perspektiven“ – hierin v. a.: 20053: Erkenntnisprogramm; 20053: Ich sehe; 20053: Identität. – Zur ausführlichen Darstellung der Luhmannschen Systemtheorie unter erkenntnistheoretischer Perspektive vgl. v. a. Gripp-Hagelstange (1995: Luhmann; 2000: Einführung) und Jensen (1999: Erkenntnis, 322 ff), aber auch Nassehi (1992: Systeme) und aus eher kritischer Perspektive z. B. Lohmann (1994: Beobachtung). Spencer Brown 1979: Laws. So auch Baecker 20063: Vorwort, 8. Vgl. Luhmann 20053: Vorwort Soziologische Aufklärung 5. Luhmann 20063: Einführung, 140. A.a.O., 138 f.
3.1 „Welten im Kopf“: Die konstruktivistische Betrachtungsperspektive
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gen des Beobachters im Erkenntnisprozess betonen. Vor allem die im Anschluss an von Foerster als Kybernetik zweiter Ordnung bezeichnete Richtung bezieht den Beobachter in ihre Theorie mit ein.Vor diesem Hintergrund einer Kybernetik des Beobachtens von Beobachtern ist die scheinbar „reale“ Welt nicht mehr im korrespondenztheoretischen Sinne als erfahrbare Wirklichkeit, sondern als wahrgenommene, beobachterabhängige Wirklichkeit zu beschreiben. Mit der Paradoxie des Eingeschlossenseins des Beobachters in das, was er beobachtet, stellt sich also nicht länger die Frage, ob Realität konstruiert oder was erkannt wird, sondern wie erkannt und wie Realität konstruiert wird.
Die Systemtheorie Luhmanns, die sich selbst als „radikal konstruktivistisch“⁶⁴ bezeichnet, schließt an die erkenntnistheoretisch folgenreiche „Umstellung von ‚Was‘-Fragen auf ‚Wie‘-Fragen“⁶⁵ an. Hierbei nimmt die Theorie sozialer Systeme zwar immer wieder auf (radikal) konstruktivistische Ansätze wie die von Maturana,Varela, vonFoerster und Glanville Bezug,⁶⁶ entwickelt jedoch zugleich eine eigene erkenntnistheoretische Spielart, ohne sich mit den unterschiedlichen konstruktivistischen Entwürfen detailliert auseinanderzusetzen: „Darunter [unter Konstruktivismus, L.K.] versteht man jedoch sehr Verschiedenes. Wir wollen deshalb gar nicht erst versuchen, die konstruktivistischen Theorien von Hugo Dingler über Paul Lorenzen bis Ernst von Glaserfeld oder von Paul Watzlawick bis Humberto Maturana auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.“⁶⁷ Denn alle Erläuterungen zu dem „weitläufigen Thema ‚Konstruktivismus‘“⁶⁸ laufen nach Luhmann letzten Endes auf einen Punkt hinaus: „Der Konstruktivismus reflektiert Erkenntnis als geschlossenes System ohne Zugang zur Außenwelt.“⁶⁹ – Ähnlich sieht auch die vorliegende Untersuchung von einer Reflexion des erkenntnistheoretischen Kontextes sowie einer theoriegeschichtlichen Positionierung der spezifisch systemtheoretischen Sinnsicht innerhalb der konstruktivistischen Strömungen ab.⁷⁰ Ausgangspunkt der systemtheoretisch-konstruktivistischen Sinnsicht ist eine Abstraktion des Beobachtungsbegriffs. „Beobachten ist die Verwendung einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen und nicht der anderen Seite. Unter Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 35. Vgl. Luhmann 20053: Identität, Zitat 15. Die wichtigsten Positionen des radikalen Konstruktivismus’ sind zusammengestellt in Schmidt (19882: Diskurs; 1992: Kognition). Luhmann 1990: Wissenschaft, 510 f. A.a.O., 530. Ebd. Hierzu vgl. Jensen (1999: Erkenntnis), der sich eingehend mit der Bedeutung der Luhmannschen Systemtheorie für den Konstruktivismus auseinander setzt und in diesem Zusammenhang in die „Philosophie der konstruktivistischen Wissenschaft“ (vgl. Untertitel) einführt.
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scheidung ist das Markieren einer Grenze mit der Folge, daß man nur durch Überschreiten der Grenze von der einen zur anderen Seite gelangen kann.“⁷¹ Damit ist „Beobachtung“ in Anlehnung an Spencer Brown – allerdings „ohne die Intention auf die Entwicklung eines formallogischen Kalküls“⁷² – als Zwei-SeitenForm, als die Einheit der Differenz von Unterscheiden und Bezeichnen definiert.⁷³ „Beobachten“ meint also das Handhaben einer Distinktion, um eine von zwei Seiten zu bezeichnen, an die dann weitere Operationen anschließen. Die andere, unbezeichnete Seite (unmarked space) der Zwei-Seiten-Form ist dabei gleichzeitig mitgegeben, d. h. sie wird, obwohl sie für die gegenwärtige Operation bedeutungslos ist, als Möglichkeit bzw. Möglichkeitshorizont neben der bezeichneten Seite (marked space) mitgeführt und kann mittels Kreuzen (crossing), das jedoch stets Zeit in Anspruch nimmt, erreicht werden. Mit dieser rein formalen Bestimmung von „Beobachtung“ ist diese von ihrer traditionellen Beschränkung auf das Bewusstsein und die sinnliche Wahrnehmung gelöst.⁷⁴ Heißt „Beobachten“ einfach „Unterscheiden und Bezeichnen“, so kann jedes mit Sinn operierende System, also jedes psychische und soziale System beobachten. Ist der Beobachtungsbegriff – ähnlich dem Interpretanten in der Semiotik – nicht länger an eine menschliche Instanz gebunden, so präsentiert sich die Systemtheorie an dieser Stelle nicht nur als eine postontologische bzw. „radikal konstruktivistische“,⁷⁵
Luhmann 20053: Ich sehe, 222 f. Luhmann 1988: Erkenntnis, 53 Anm. 13. – Luhmann übernimmt v. a. die Terminologie von Spencer Brown; vgl. z. B. Luhmann 20063: Einführung, 143. – Zum Zusammenhang zwischen der Systemtheorie Luhmanns und dem Indikationenkalkül von Spencer Brown vgl. z. B. NickelSchwäbisch (2004: Gott, 16 ff). Luhmann 1997: Gesellschaft, 60 f: „Formen sind danach [nach dem Formbegriff von Spencer Brown; L.K.] nicht länger als (mehr oder weniger schöne) Gestalten zu sehen, sondern als Grenzlinien, als Markierungen einer Differenz, die dazu zwingt, klarzustellen, welche Seite man bezeichnet, das heißt: auf welcher Seite der Form man sich befindet und wo man dementsprechend für weitere Operationen anzusetzen hat. Die andere Seite der Grenzlinie (der ‚Form‘) ist gleichzeitig mitgegeben. Jede Seite der Form ist die andere Seite der anderen Seite. Keine Seite ist etwas für sich selbst. Man aktualisiert sie nur dadurch, daß man sie, und nicht die andere, bezeichnet.“ Auf diesen Punkt insistiert Luhmann – wie in seiner systemtheoretischen Einführungsvorlesung (20063: Einführung, 147) – immer wieder: „Zunächst einmal ist auf einen Punkt hinzuweisen, der immer wieder Schwierigkeiten bereitet. Man kann es hundertmal sagen, es ist vergeblich. Der Beobachter ist nicht ohne weiteres ein psychisches System, er ist nicht ohne weiteres Bewusstsein. Er ist ganz formal definiert: Unterscheiden und Bezeichnen. Das kann auch eine Kommunikation.“ Vgl. z. B. auch Luhmann 1997: Gesellschaft, 69. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 35.
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sondern auch als eine „post-humanistische“⁷⁶ bzw. „radikal antihumanistische“⁷⁷ Theorie. Diese strikte differenztheoretische Bestimmung der Beobachtung führt zu einer radikalen De-Ontologisierung der Systemtheorie und orientiert sich letztlich an der Weisung von Spencer Brown: „Draw a distinction!“⁷⁸ Die Annahme, dass der Startpunkt jeder Wirklichkeitskonstruktion das Treffen einer Unterscheidung ist, kann für den Ansatz Luhmanns als konstitutiv gelten.⁷⁹ Ein unterscheidungsloses Beobachten wird damit undenkbar. Aussagen über die Wirklichkeit sind stets systemrelativ, d. h. an die Angabe einer Systemreferenz gebunden. Entscheidend ist, dass das Unterscheiden selbst, je nachdem, was von was unterschieden wird, „eine immense Kombinationsvielfalt eröffnet“.⁸⁰ Die jeweilige Unterscheidung hätte auch ganz anders getroffen, die Wirklichkeit ganz anders konstruiert werden können. Mit anderen Worten: Die vom Beobachter getroffene Unterscheidung ist kontingent.⁸¹ Im Vergleich zur „alteuropäischen“ Tradition wird mit dem Konzept der Beobachtung ein „Realitätsverlust“⁸² formuliert. Denn mit dem Beobachtungsbegriff ist die Annahme, dass die Welt für alle Beobachter dieselbe und durch Beobachtung bestimmbar ist, verabschiedet: „Sofern die Welt für alle Beobachter (für jede Wahl einer Unterscheidung) dieselbe ist, ist sie unbestimmbar. Sofern sie bestimmbar ist, ist sie nicht für alle Beobachter dieselbe, weil Bestimmung Unterscheidungen erfordert.“⁸³ Ähnlich formuliert Eco: „Sobald es vor uns steht, erzeugt das Sein Interpretationen; sobald wir über es sprechen können, ist es bereits interpretiert. Andere Möglichkeiten gibt es nicht.“⁸⁴ Es geht also darum, angesichts einer komplexen Welt, die als „Bedingung der Möglichkeit des Unterscheidens für die Beobachter dieselbe“⁸⁵ ist, Luhmann 20053: Erkenntnisprogramm, 49. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 35. – Gripp-Hagelstange (2000: Einführung, 12) spricht in diesem Zusammenhang von der „‚Entmachtung‘ des Subjekts“. An die Stelle des Primats des Bewusstseins tritt in der Luhmannschen Theorie die Selbstreferentialität. Spencer Brown 1979: Laws, 3. Die Frage nach einer ersten Unterscheidung, also der Entscheidung für eine Anfangsunterscheidung wird von der Systemtheorie nicht weiter reflektiert. Zu den differenzlogischen Prämissen der Systemtheorie und zur Frage nach der Form der Form vgl. Ort (2001: Kommunikation). Luhmann 1990: Wissenschaft, 518. Kontingenz bezeichnet etwas, das gerade aktuell ist (und damit nicht unmöglich), das aber auch anders möglich sein kann (d. h. etwas, das nicht notwendig ist); vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 47: „Dieses ‚auch anders möglich sein‘ bezeichnen wir mit dem traditionsreichen Terminus Kontingenz.“ Luhmann 20063: Einführung, 141. Luhmann 1997: Gesellschaft, 155. Eco 2000: Kant, 33. Luhmann 1997: Gesellschaft, 1135.
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eine kontingente Distinktion zu setzen, um Komplexität zu reduzieren und überhaupt beobachten zu können. Oder in den Worten Ecos: Es geht darum, das „Kontinuum des Inhalts“ zu zerschneiden, um „etwas“ aus dem „amorphen Teig“ der Welt bezeichnen zu können.⁸⁶ So wenig die Notwenigkeit besteht, eine bestimmte Unterscheidung zu treffen – die Annahme eines Essenzkosmos o. ä., der die Wahl einer „richtigen“ Unterscheidung vorgibt, ist obsolet –, so unumgänglich ist es, mit einem „blinden Fleck“ zu beobachten. Denn die Einheit der getroffenen Unterscheidung kann vom beobachtenden System selbst nicht beobachtet werden.⁸⁷ Das heißt, die vom Beobachter gesetzte Unterscheidung ist für diesen unsichtbar, fungiert als unmarked space der Beobachtung und kann nur von einem weiteren Beobachter beobachtet werden. Dieser Beobachter zweiter Ordnung kann dann zwar beobachten, was und wie der Beobachter erster Ordnung beobachtet, also mit welcher Unterscheidung jener operiert, zugleich operiert jedoch auch der Beobachter zweiter Ordnung insofern als Beobachter erster Ordnung, als auch dieser nicht beobachten kann, mit welcher Unterscheidung er selbst beobachtet. Letztere könnte wiederum nur von einem weiteren Beobachter, einem Beobachter dritter Ordnung, beobachtet werden usf. Dieses prinzipiell unendliche Verschieben des blinden Flecks in der Kette der Beobachter führt letztlich zu einem „infiniten Regress“⁸⁸ ohne Endpunkt: „Es kommt im System selbst nicht zu der Abschlußfigur“⁸⁹ – wie z. B. in der Form eines letzten Beobachters.⁹⁰
Vgl. Eco 2000: Kant, 67 f: „Wir verwenden Zeichen, um einen Inhalt auszudrücken, und dieser Inhalt wird von den verschiedenen Kulturen und Sprachen unterschiedlich zerschnitten und organisiert. […] Aus einem amorphen Teig, der amorph ist, ehe die Sprache ihre Vivisektion daran ausgeführt hat, und den wir als das Kontinuum des Inhalts bezeichnen wollen: alles Erfahrbare, Sagbare, Denkbare – wenn man will, der unendliche Horizont dessen, was ist, war und sein wird, sei es aus Notwendigkeit oder Zufall. Ehe eine Kultur es sprachlich in die Form des Inhalts organisiert hat, scheint dieses Kontinuum alles und nichts zu sein und entzieht sich also jeder Festlegung.“ Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 69 f: „Er [der Beobachter; L.K.] kann sich selbst beim Beobachten nicht sehen. Der Beobachter ist das Nicht-Beobachtbare […]. Die Unterscheidung, die er jeweils verwendet, um die eine oder die andere Seite zu bezeichnen, dient als unsichtbare Bedingung des Sehens, als blinder Fleck.“ Vgl. Luhmann 19962: Realität, 208 f. A.a.O., 209. Vgl. a.a.O., 210: „‚Gott ist tot‘, hat man behauptet – und gemeint: der letzte Beobachter ist nicht zu identifizieren.“
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Damit erinnert der systemtheoretische Beobachtungsbegriff an die semiotische Figur des Interpretanten, die ihrerseits den Ausgangspunkt für einen unendlichen Zeichenprozess bildet: Der Interpretant einer Zeichenfunktion wird dann zum Signifikanten einer sich anschließenden Zeichenfunktion, wenn ihn ein zweiter Interpretant einem Signifikat zuordnet usf. ad infinitum. In letzter Konsequenz ließe sich die systemtheoretische Operation des Beobachtens semiotisch noch weiter aufschlüsseln: Wird Beobachten als das Be-zeichnen aufgrund einer Unterscheidung aufgefasst,⁹¹ so meint dies nichts anderes als Signifikation, nämlich einem Signifikanten mittels eines Codes ein Signifikat zuzuordnen.
Vor der Schwierigkeit, die eigene Unterscheidung beobachten zu wollen, steht jede seelsorgliche Kommunikation. Um sich selbst beim Beobachten zu beobachten, kann die Seelsorge zwar auf eine ganze Reihe an Reflexionsmöglichkeiten zurückgreifen, mit welchen jedoch niemals eine unabhängige, objektive Außenperspektive erreicht wird. Man kann bspw. eine Kamera aufgestellen, die es dem Seelsorger später ermöglicht, die Aufzeichnung des Seelsorgegeschehens anzusehen. Diese Kamera kann jedoch nur das filmen, was sie filmt, und nicht etwa, wie sie filmt. Dazu müsste eine weitere Kamera im Raum installiert werden, für die dasselbe gilt usf. Ganz davon abgesehen, dass es sich um ein anderes Kommunikationsmedium (Film statt interaktionelle Begegnung) handelt⁹² und das Ansehen der Filmaufzeichnung selten zeitgleich, sondern nachträglich geschieht (Zeit).⁹³ Ähnliches gilt auch für das Arbeiten mit jeder Art von Seelsorgeprotokollen, wie z. B. Verbatims (Schrift), oder die Beobachtung durch einen oder mehrere Supervisoren.⁹⁴ Als Operation kann Beobachten nur innerhalb des beobachtenden Systems ablaufen. Die Unterscheidung bleibt das systeminterne Konstrukt eines operational geschlossenen Systems. Operational geschlossene Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihr Fortbestehen nur im Rück- und Vorgriff auf eigene Operationen sichern können. Präzisier formuliert: Operativ geschlossene Systeme differenzieren sich mittels aneinander anschließender systemspezifischer Operationen aus und ziehen da-
Vgl. Luhmann 1993: Zeichen, 59: „Bezeichnen ist immer Zeichenverwendung, also Bezeichnung einer Seite (und nicht der anderen) im Kontext einer (perfekt kontingenten) Unterscheidung.“ – Zu Luhmanns Bezugnahmen auf die Semiotik s.u. Einleitung zu Kapitel 3. Zu den Kommunikationsmedien s.u. 4.1. Zur Zeitdimension s.u. 4.2. In der Familientherapie führt gerade das Arbeiten mit einem Einwegspiegel, durch den die Therapiesitzung durch weitere „externe“ Therapeuten beobachtet wird, zur Einführung einer konstruktivistischen Sichtweise; s.o. 1.1.3.1.
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mit die Grenze zwischen System und Umwelt selber.⁹⁵ Das System operiert stets systemintern, so dass die rekursive Ermöglichung eigener Operationen durch die Resultate eigener Operationen nur auf der Innenseite des Systems, jedoch niemals auf der Außenseite, in der Umwelt stattfindet. Operational geschlossene Systeme machen (gr. ποιέω) sich selbst (gr. αὐτός). Eben dies drückt der Autopoiesis-Begriff aus, den die Systemtheorie Luhmanns aus der Neurobiologie von Maturana übernimmt⁹⁶: „Produktion des Systems durch sich selber.“⁹⁷ Derart selbstreferentiell geschlossenen Systemen ist der direkte Zugriff auf die Umwelt verwehrt, „sie haben keine andere Form für Umweltkontakt als Selbstkontakt“.⁹⁸ Ebenso wenig können auch die Umwelt oder Umweltsysteme auf die Operationen eines Systems direkt einwirken. Doch auch wenn es auf operativer Ebene keinen Umweltkontakt gibt, schließt dies nicht aus, dass ein System auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung „unter der Illusion des Umweltkontakts“⁹⁹ operieren kann. Hierbei werden alle Spuren der operativen Schließung gelöscht und interne Operationen extern auf eine vermeintlich ontische Welt verbucht. Dies gilt auch für die „Erfahrung von Widerstand und Nichtbeliebigkeit der Operationsresultate“.¹⁰⁰ Es entsteht eine scheinbar objektive Welt, der man sich zu fügen hat. Auf Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung kann diese Illusion zwar durchschaut, jedoch nie vollständig aufgehoben werden, da die Ebene der Beobachtung erster Ordnung nie ganz aufgegeben werden kann.¹⁰¹ Ganz ähnlich formuliert Eco, dass es nicht das Sein ist, das uns „Neins“ entgegensetzt, sondern die Grenze stets innerhalb des Systems zu suchen ist: „Das Sein sagt […] nie ‚nein‘ zu uns. Es gibt nur nicht die gewünschte Antwort auf unsere fordernden Fragen. Die Grenze liegt in unserem Wünschen, in unserem Streben nach einer absoluten Freiheit.“¹⁰²
So erzeugen z. B. Lebewesen die Unterscheidung zwischen System und Umwelt, indem sie leben und fortfahren zu leben, während sich soziale Systeme durch an Kommunikation angeschlossene Kommunikation ausdifferenzieren. Maturana 1982: Erkennen. – Die Systemtheorie Luhmanns generalisiert das AutopoiesisKonzept, indem sie es nicht nur auf lebende, sondern auch auf psychische und soziale Systeme anwendet, und entwickelt es zur Theorie selbstreferentieller Systeme weiter. Luhmann 1997: Gesellschaft, 97. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 59. Luhmann 1997: Gesellschaft, 93. Ebd. Vgl. ebd.: „[D]aher bleibt auch die durchschaute Realitätsillusion ein Faktum in der realen Welt. Man sieht, daß die Sonne ‚aufgeht‘, und kann es nicht anders sehen, obwohl man weiß, daß man sich täuscht.“ Eco 2000: Kant, 71; vgl. auch das Beispiel, das Eco (ebd.; Hervorhebung im Original) in diesem Zusammenhang anführt: „Es sind wir, die denken, daß wir unser Bein (im Knie) zwar um
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Die Umwelt kann immer nur im System beobachtet werden. Für Unterscheidungen und Bezeichnungen, also für Beobachtungen, gibt es in der Umwelt des Systems keine Korrelate. Als systeminterne Konstrukte sind sie das strukturelle Resultat der Autopoiesis eines Systems, sofern sie als Struktur für die Autopoiesis des Systems eingesetzt werden.¹⁰³ Das bedeutet einerseits, dass Unterscheidungen Welt immer nur „verletzen“ und „zerschneiden“,¹⁰⁴ nicht aber repräsentieren können. Andererseits vermag weder die Umwelt noch die Welt das beobachtende System zu instruieren, da sie selbst keine Unterscheidungen enthalten. – Selbstredend können Systeme mit einem internen Konstrukt fremdreferentiell umgehen, die Unterscheidung zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz kann jedoch wiederum nur im System selbst getroffen werden. Beobachtungen bilden die Welt nicht im korrespondenztheoretischen Sinne ab, sondern konstruieren ohne operativen Bezug zur Außenwelt Wirklichkeit(en). Dies schließt jedoch nicht aus, dass das System durch seine Umwelt irritiert werden kann.¹⁰⁵ Das ist deshalb möglich, da autopoietische Systeme lediglich operativ geschlossen, nicht aber thermodynamisch abgeschlossen sind und stets sinnhaft¹⁰⁶ offen operieren. Überdies folgt bereits aus dem differenztheoretischen Systembegriff der Luhmannschen Theorie – ein System wird nicht als Einheit, sondern als Differenz von System und Umwelt bestimmt –, dass die autopoietische Reproduktion des Systems tatsächlich gar nicht ohne Umwelt geschehen kann.¹⁰⁷ Voraussetzung für die Resonanzfähigkeit eines Systems auf seine Umwelt – und gleichzeitig die Bedingung zur Fortsetzung seiner Autopoiese – ist das als „strukturelle Kopplung“ bezeichnete Verhältnis eines Systems zu seiner Umwelt.¹⁰⁸ Nun gilt auch bzgl. der Irritation eines Systems durch die Umwelt, dass allein systeminterne Operationen festlegen, wie die als extern verbuchten Reize verarbeitet werden. Das heißt, auch die Irritation der Struktur eines Systems ist eine interne Konstruktion, also de facto Selbstirritation, für die es in der Umwelt keine Entsprechung gibt. Mit der Frage nach der Veränderung von selbstreferentiell geschlossenen Systemen setzen sich auch die Ansätze der systemischen Therapie, die sich pahundertachtzig oder fünfundvierzig Grad anwinkeln können, aber nicht um dreihundertsechzig Grad. Das Bein – insofern ein Bein ‚weiß‘ – bemerkt keine Grenzen, kennt nur Möglichkeiten.“ Vgl. Luhmanns (1990: Wissenschaft, 515) Definition des Konstrukt-Begriffs. Vgl. z. B. Luhmann 1988: Erkenntnis, 17: Alles Beobachten erzeugt und setzt „eine Grenzziehung, einen Schnitt durch die Welt, eine Verletzung des ‚unmarked space‘“ voraus. S.u. 3.2.2.2. Zum systemtheoretischen Sinn-Begriff s.u. 3.2.2.1.1. Luhmann 1997: Gesellschaft, 96: „Daß die Umwelt immer mitwirkt und ohne sie nichts, absolut gar nichts geschehen kann, ist selbstverständlich.“ Zur strukturellen Kopplung s.u. 3.2.2.1.2.
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radigmatisch an der Theorie operational geschlossener Systeme orientieren,¹⁰⁹ auseinander. Vor dem Hintergrund des Autopoiesis-Konzepts wird die Annahme einer Intervention im Sinne eines direkten Eingreifens in ein System obsolet. Ludewig bezeichnet diese Handlungsaporie, vor der jeder Therapeut steht, als „Therapeutendilemma“.¹¹⁰ Anstelle einer gezielten, kausalen Steuerung ist in der systemischen Therapie nun die Rede vom „Verstören“ oder „Anregen“ eines Systems. Rezipiert die Seelsorgelehre die Systemtheorie Luhmanns, so hat sie sich mit ähnlichen Fragestellungen wie die systemische Therapie auseinanderzusetzen. So ist u. a. zu reflektieren, wie Zeichen des evangelischen Trosts in das colloquium als Unter-Brechungen eingespielt werden können und welches Irritationspotential der kontextuellen Rahmung in Bezug auf das seelsorgliche Kommunikationssystem zukommt.¹¹¹ Morgenthaler geht bspw. davon aus, dass bereits die bloße Anwesenheit eines Seelsorgers die jeweilige Situation verstört: „Die Situation der Familie muss nicht zuerst mühsam verändert werden. Sie ist bereits dadurch verändert, dass die Familie einen Seelsorger in ihren Kreis aufnimmt.“¹¹² Vor dem Hintergrund eines differenztheoretisch konzipierten Beobachtungsbegriffs und der These operationaler Geschlossenheit von Systemen bestimmt die Systemtheorie Luhmanns auch den Begriff des „Erkennens“ als selbstreferentielle Beobachtungsoperation: „Erkenntnis wird […] durch Operationen des Beobachtens und des Aufzeichnens von Beobachtungen (Beschreiben) angefertigt.“¹¹³ Erkenntnis ist damit nicht länger als Bezugnahme auf eine Außenwelt zu beschreiben, sondern als Erzeugung einer systeminternen Wirklichkeit mittels kontingenter Unterscheidungen. Es gibt in der Umwelt nichts, was der Erkenntnis korrelieren würde bzw. was die Erkenntnis in Bezug auf die Umwelt repräsentieren könnte.¹¹⁴ Damit ist die Prämisse einer gemeinsam erfahrbaren und erkennbaren Welt durch eine Theorie der Beobachtung beobachtender Systeme ersetzt und jeder Anspruch auf Wahrheitssuche im „alteuropäischen“ Sinne aufgegeben. Erkenntnis – so auch die Annahme des radikalen Konstruktivismus – ist nur Vgl. Simon 19982: Einleitung, 18: „Die Theorie operational geschlossener Systeme hat sich zum Leitparadigma der systemischen Therapie, zumindest im deutschsprachigen Raum, entwickelt. “ – Zur systemischen Therapie s.o .1.1.3.1. Vgl. Ludewig 2002: Leitmotive, 38. Anstelle der systemtheoretisch bzw. -therapeutisch gebräuchlichen Begriffe „Irritation“ oder „Verstören“ kann in der Poimenik auf den von Thurneysen (19947: Lehre, 114 ff) geprägten Terminus des „Bruchs“ zurückgegriffen werden; s.u. 3.2.2.2.2. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 147. Luhmann 1988: Erkenntnis, 14 f. Vgl. Luhmann 20053: Erkenntnisprogramm, 39: „Erkennen ist weder Copieren, noch Abbilden, noch Repräsentieren einer Außenwelt im System.“
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möglich, nicht obwohl, sondern weil es keine operativen Beziehungen zwischen System und Umwelt gibt.¹¹⁵ Denn beim Aufheben der Differenz von System und Umwelt löst sich das beobachtende System in der Umwelt auf. Im Ansatz Luhmanns wird jede Aussage über die Welt auf die konkreten Operationen eines autopoietischen Systems zurückgeführt. Um hervorzuheben, dass in der Referenz auf Unterscheidungsoperationen das Entscheidende des Erkenntnisprozesses liegt, wird die von der Systemtheorie vertretene epistemologische Richtung auch als „operativer Konstruktivismus“¹¹⁶ bezeichnet. Aufgabe der konstruktivistischen Erkenntnistheorie ist es, auf der Ebene einer Beobachtung zweiter Ordnung zu beobachten, wie ein Beobachter beobachtet, d. h. die konstruktivistische Sinnsicht zielt darauf, Unterscheidungen zu unterscheiden. Auf diese Weise vermag die konstruktivistische die ontologische Sinnsicht radikal in Frage zu stellen: „Eine ‚Ontologie‘ entsteht, wenn ein erkennendes System als erstes die Unterscheidung von Sein und Nichtsein benutzt, also die Welt mit genau dieser Unterscheidung dekomponiert und alle anderen Unterscheidungen über Bedingungen der Anschlußfähigkeit an das Sein einführt. […] Der Konstruktivismus fragt jedoch: warum sollte man gerade so und nicht anders anfangen? Warum nicht mit der Unterscheidung von System und Umwelt (oder Medium und Form, oder Operation und Beobachtung) […]?“¹¹⁷ Damit sind die Voraussetzungen der ontologischen Metaphysik aufgelöst und auf eine kontingente Beobachtungsperspektive reduziert, die mit der Differenz Sein/Nichtsein operiert, um mit dieser Unterscheidung „Etwasse“ zu erzeugen. Dabei liegt für Luhmann das Problem der ontologischen Sinnsicht nicht etwa darin, dass im Alltag aus Gründen der Vereinfachung ständig auf sie zurückgegriffen wird: „Gegen ontologisierendes Beobachten ist im Prinzip nichts einzuwenden. Wir tun es jeden Tag, wenn wir etwas suchen und nicht finden. Ohne Löcher könnten wir weder Billard spielen noch Schweizer Käse erkennen. Das Problem der ontologischen Metaphysik liegt in der Reduktion aller Unterscheidungen, den Beobachter selbst und seinen Wahrheitsanspruch eingeschlossen, auf die ontologische Unterscheidung von Sein und Nicht-sein. Das führt zu einer extrem strukturarmen Theorie mit entsprechendem Ergänzungsbedarf.“¹¹⁸ Ebenso wie das ontologische Erkenntnismodell kann das kausallogische Denken, das in ähnliche epistemologische Denkzusammenhänge einzuordnen
Vgl. Luhmann 1988: Erkenntnis, 8 f. Vgl. Baraldi/Corsi/Espositio (1997: GLU, 102) und z. B. Scheibmayr (2004: Systemtheorie, 320 ff) oder Krause (20054: Luhmann-Lexikon, 180 f). – Jensen (1999: Erkenntnis) spricht auch vom „systemischen Konstruktivismus“. Luhmann 1990: Wissenschaft, 524 f. Luhmann 20053: Identität, 19.
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ist, relativiert werden. Aus konstruktivistisch-systemtheoretischer Sicht ist Kausalität nicht länger zu sehen als ein zu erkennender Sachverhalt von seinsmäßigen Verflechtungen des Seienden in der Außenwelt, sondern als eine beobachtungsabhängige und damit systeminterne Konstruktion zur Reduktion von Komplexität. Dabei funktioniert das Kausalitätsprinzip als höchst selektive Kopplung bestimmter, für einen Beobachter relevanter Ursachen an bestimmte, für einen Beobachter relevante Wirkungen. Kausalität ist immer konstruierte Kausalität. Auch die systemische Therapie setzt sich mit dieser Fragestellung und ihrer methodischen Konsequenz für die Praxis auseinander.¹¹⁹ Das gebräuchliche, an Linearität orientierte Kausalitätskonzept wird dabei ersetzt durch die Annahme einer „zirkulären Kausalität“, die z. B. die Frage danach, wer einen Konflikt begonnen hat oder was die Ursache einer Störung ist, obsolet werden lässt.¹²⁰ Für die Seelsorge gelten diese Überlegungen analog. Fungieren sowohl die ontologische als auch die kausallogische Sichtweise als kulturell-historische Denkmuster und damit als mögliche „Beobachtungsschemata“¹²¹ von Welt, so gilt dies ebenso für eine konstruktivistische Sinnsicht, die nicht umhin kommt, ihrem eigenen Beobachtungsprozess eine kontingente Unterscheidung zu Grunde zu legen. So kann auf der Grundlage einer konstruktivistischen Sichtweise die Erkenntnistheorie nicht länger den Status eines externen Beobachters für sich reklamieren. Denn das Konzept der Beobachtung zweiter Ordnung zwingt zu Rückschlüssen auf sich selber. Es ist autologisch aufgebaut und nötigt dazu, sich selbst im eigenen Gegenstand zu entdecken.¹²² Oder mit Luhmann formuliert: „So wird der Erkenntnistheoretiker selbst Ratte im Labyrinth und muß reflektieren, von welchem Platz aus er die anderen Ratten beobachtet.“¹²³
Zur systemischen Therapie s. o. 1.1.3.1. VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 93: „Im Lichte einer systemischen Erkenntnistheorie wird die Frage nach der Ursache der Störung bedeutungslos. […] Daher leistet die Systemtherapie weder eine ‚Behandlung der Ursachen‘ noch eine der Symptome, sondern sie gibt lebenden Systemen Anstöße, die ihnen helfen, neue Muster miteinander zu entwickeln, eine neue Organisationsgestalt anzunehmen, die Wachstum ermöglicht.“ Vgl. Luhmann 20063: Einführung, 139. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 33. – Im Unterschied zu anderen konstruktivistischen Ansätzen, die die Bedingungen der Erkenntnis biologisch und bewusstseinsmäßig engführen, ermöglicht nach Luhmann (1988: Erkenntnis, 23 f) gerade ein soziologischer Erkenntnisbegriff einen derart radikalen, sich selbst einschließenden Konstruktivismus. Luhmann 1988: Erkenntnis, 24.
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3.1.2 Semiotisch-konstruktivistische Sinnsicht: Bezeichnete Wirklichkeit Während die Luhmannsche Systemtheorie derzeit als „aussichtsreichste Weiterentwicklung des R[adikalen] K[onstruktivismus‘]“¹²⁴ gehandelt wird, finden sich in der Semiotik Ecos keine terminologisch expliziten Bezugnahmen auf konstruktivistische Erkenntnistheorien.¹²⁵ Mit der dreistelligen Zeichenrelation, die für die meisten modernen Semiotiken – so auch für den Ecoschen Ansatz – grundlegend geworden ist, legt sich eine im weitesten Sinne konstruktivistische Sinnsicht nahe. Die klassische Funktion der Zuordnung von Zeichen und Wirklichkeit wird von der modernen Semiotik in Frage gestellt, dem ontologischen Dualismus einer zweistelligen Repräsentationsrelation eine dritte Stelle hinzugefügt. Freilich wird diese dritte Stelle in den verschiedenen Ansätzen unterschiedlich bezeichnet und ist deshalb auch nicht strikt ineinander übersetzbar,¹²⁶ dessen ungeachtet geht es jedoch stets darum, dem traditionellen zweistelligen Zeichenmodell die Notwendigkeit der Interpretation hinzuzufügen. Die auf eine triadische Struktur erweiterte Zeichenfunktion lässt die statische Äquivalenz von Signifikat und Signifikant obsolet werden. Das Zeichen repräsentiert die Welt nicht mehr umstandslos im Sinne des traditionellen aliquid stat pro aliquo – wie es z. B. noch bei Augustin der Fall war¹²⁷ –, sondern nur dann und insofern, als ihm diese Repräsentation zuerkannt wird: „Die Funktion des Zeichens erschöpft sich nicht mehr nur darin, rein instrumentell Welt abzubilden, sondern es referenziert insofern Welt, als es von einer Deutungsin-
Prechtl/Burkhard 19992: Lexikon, 487; eine ähnliche Auffassung vertritt auch Jensen 1999: Erkenntnis. Letztlich sind Ecos gesamte Schriften von einer im weitesten Sinne konstruktivistischen Sinnsicht durchzogen. Explizit zur philosophischen Erkenntnistheorie vgl. Eco 2000: Kant. Im systemtherapeutischen Kontext stellt bereits Fischer (19932: Ende, 22) „eine große Affinität zwischen den Überlegungen Ernst von Glaserfelds und denen des Zeichen- und Kulturtheoretikers Umberto Ecos“ fest. Ecos Semiotik korrespondiert weitestgehend mit dem „systemischen Denken“; s. o. 1.1.2. – Im Unterschied zur Systemtheorie Luhmanns ist die Ecosche Semiotik bislang nicht unter explizit erkenntnistheoretischer Perspektive dargestellt worden. Es sei deshalb auf einschlägigen Überblicksdarstellungen verwiesen; s. o. 1.2.1 Anm. 46. Die folgende Darstellung orientiert sich in erster Linie an Klie (2003: Zeichen, 166 ff), der im praktisch-theologischen Rahmen die Semiotik Ecos umfangreich erschließt. – Für Poimenik und Seelsorge ergeben sich ganz ähnliche Konsequenzen wie sie bereits im Bezug auf die konstruktivistische Sichtweise der Systemtheorie Luhmanns dargestellt wurde; s.o. 3.1.1. Im Folgenden geht es v. a. darum, die konstruktivistische Sinnsicht der Semiotik Ecos aufzuzeigen. Im Folgenden wird die im deutschen Sprachgebrauch übliche Terminologie Signifikant, Signifikat und Interpretant verwendet. Vgl. Neijenhuis 2007: Gottesdienst, 70 f.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
stanz als Welt Referenzierendes wahrgenommen wird.“¹²⁸ Für die moderne Semiotik ist daher ein Zeichenverständnis als Ausdruck und Ergebnis einer doppelten Relation ausschlaggebend: „der Bezug zu einem Objekt und zu einer Deutungsinstanz“.¹²⁹ Aus erkenntnistheoretischer Perspektive hat diese Triangulierung weitreichende Konsequenzen, „birgt sie doch unmittelbar eine ganze Palette von Verschiebungen, die nahezu sämtliche neuzeitlichen Selbstverständnisse zum Einsturz bringen. Eine ‚Revolution der Denkungsart‘ ereignet sich: von der Instrumentalität zur Autarkie des Zeichens, von der Gleichgültigkeit der Repräsentation zum Primat des Sinns, von der Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung zwischen Begriff und Sache zur Interpretation, von der Vernunft als Geltungsquelle der adaequatio zur Unabschließbarkeit der Kette von Bedeutungen.“¹³⁰ Da die Substitution des klassischen dyadischen Repräsentationsmodells durch eine triadische Zeichenrelation auf Peirce, den „Vater der Semiotik“,¹³¹ zurückgeht, setzen sich nahezu alle modernen Zeichenlehren mit dessen Semiotik auseinander – für Eco wird Peirce sogar zum „theoretischen Kronzeugen“¹³² seiner Zeichentheorie. Mit der Definition des Zeichens als „something which stands to somebody for something in some respect or capacity“¹³³ beschreibt Peirce das Zeichen als etwas, das für jemanden in gewisser Hinsicht für etwas anderes steht. Die Struktur des Zeichens als „semiotisches Dreieck“ (Ogden/Richards)¹³⁴ erhellt in erster Linie aus folgender, oft zitierter Passage: „Ein Zeichen oder Repräsentamen ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, daß es fähig ist ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selbst steht. Dies bedeutet, daß der Interpretant selbst ein Zeichen ist, das ein Zeichen desselben Objekts bestimmt und so fort ohne Ende.“¹³⁵ Die Zeichenfunktion wird hier als eine genuin triadische Relation zwischen Repräsentamen bzw. Zeichen, Objekt und Interpretant vorge-
Klie 2003: Zeichen, 173. A.a.O., 171. Mersch 1998: Einleitung, 15 f; Kursivierung im Original. A.a.O., 16. – Zu Peirce s.o. 1.2.1. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 178. Peirce, CP 2.228. S.o. 1.2.1. Peirce 1993: Phänomen, 64.
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stellt.¹³⁶ Das Zeichen kann daher nicht ohne den Vorgang der Wahrnehmung und Interpretation erfasst werden.¹³⁷ Und ein weiteres wird mit dem Peirceschen Zitat deutlich: Fügen sich einzelne Zeichenrelationen in der Semiose aneinander, so wird der Interpretant seinerseits zum Zeichen, das neue Interpretanten provoziert, so dass der Prozess der Zeicheninterpretation grundsätzlich nicht begrenzbar ist und die Kette der Deutungen nicht abreißt. Was sich der Wahrnehmung einst als vermeintlich real darbot, verflüchtet sich nun im unendlichen Regress der Zeichen. – Allerdings ist im Peirceschen Konzept die infinite Semiose an einen finalen Interpretanten¹³⁸ gebunden.¹³⁹ Der auf diese Weise begrenzte Zeichenprozess beruht in diesem letztlich telelogisch angelegten Entwurf auf der Generalthese eines restlos von Vernunft beherrschten Universums. Die kulturtheoretische Modifikation der Peirceschen Semiotik durch Eco schließt dagegen die Figur des finalen Interpretanten aus und behauptet die Kontingenz der Semiose. Die von der modernen Semiotik betonte Dreistelligkeit des Zeichenbegriffs emanzipiert „das Zeichen von seiner hartnäckigen Bindung an die Realität“,¹⁴⁰ das Objekt des Zeichens ist nur durch den Interpretanten zugänglich. Das heißt, Zeichen gibt es weder als in der Welt vorfindbare Entität, noch markieren sie von sich aus „Seiendes“, sondern Zeichen setzen einen Deutungsprozess voraus, der stets kulturrelativ ist.¹⁴¹ Von der Wirklichkeit lässt sich nur als gedeuteter Wirklichkeit sprechen. Die Welt ist nicht mehr ohne weiteres erkennbar, Erkenntnis wird zur Interpretation. Mit Mersch lässt sich hinsichtlich der modernen Semiotiken resümieren, „daß im Medium der Zeichen sich sämtliche klassischen
Auf diesen Aspekt weist auch Eco (19912: Semiotik, 76; Hervorhebung im Original) hin: „Genau genommen gibt es nicht Zeichen, sondern nur Zeichenfunktionen.“ Klie (2003: Zeichen, 176 ff) zeigt die „große Tragweite“ der triadischen Zeichenrelation für eine deutungstheoretisch-performativ orientierte Praktische Theologie auf und weist die dreigliedrige Zeichenrelation außerdem am neutestamentlichen σημεῖον-Begriff nach (a.a.O., 174 f). Peirce (CP 8.184) definiert den finalen Interpretanten als das, „was am Ende als die wahre Interpretation bestimmt werden würde, wenn die Betrachtung der Angelegenheit so weit fortgesetzt würde, daß eine abschließende Meinung erreicht wäre“. S.o. 1.2.1. Mersch 1993: Eco, 90. Vgl. a.a.O., 85: „Zeichen sind nicht ‚in‘ der Welt, weder als Dinge noch als Eigenschaften oder Instrumente, vielmehr beruhen sie immer schon auf einer ‚semiotischen Differenz‘, die als solche kulturelle ‚Erfindung‘ ist.“ Diese Aussage, die Mersch im Anschluss an Derrida trifft, erinnert an die Weisung von Spencer Brown „Draw a distinction!“, an der sich der differenztheoretische Ansatz der Systemtheorie orientiert. Folgt man Mersch (ebd.), so gilt auch für die Zeichentheorie: „Die Semiotik beginnt […] mit einer ursprünglichen Unterscheidung.“
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
philosophischen Haltepunkte auflösen: das Wirkliche, die Wahrheit und die Subjektivität. Jenseits von Metaphysik etabliert sich die Semiotik als eine Philosophie der Grund-, Wahrheits- und Ursprungslosigkeit. Grundlosigkeit meint: Es gibt für die Zeichen keine Begründung, die sie ‚an etwas‘ festzumachen gestattete; Wahrheitslosigkeit bedeutet: Es gibt keine Kriterien, die die ‚Richtigkeit‘ oder ‚Falschheit‘ ihrer Auslegung auszuweisen vermöchten; Ursprungslosigkeit heißt: Es gibt keinen Herkunftsort, der ihren angestammten Sinn verriete.“¹⁴² Die „eigentliche Radikalität der modernen Semiotik“ liegt in der „Erschütterung der Vorherrschaft der ‚Präsenz‘ des Seienden“.¹⁴³ Genau an diesem Punkt kommt sie der systemtheoretisch-konstruktivistischen Perspektive Luhmanns nahe. In der Peirceschen Zeichentheorie bahnt sich diese, mit der triadischen Zeichenrelation implizierte erkenntnistheoretische Wende der Semiotik bereits an, ist dort jedoch noch nicht konsequent zu Ende geführt. Mit einer teleologischen Semiotik und einer Kohärenztheorie der Wahrheit, die im selbstverständlichen Theismus mündet, befindet sich der Peircesche Entwurf gewissermaßen „noch an einem Übergang“¹⁴⁴ zu einer im weitesten Sinne konstruktivistischen Sinnsicht. Denn folgt man Peirce, dann ist die Welt im Zeichenprozess legitim erschließbar – oder wie es Vetter zusammenfasst: „Um zu erfahren, was ist, müssen wir Zeichen deuten. Doch um uns erfahren zu lassen, was ist, müssen die Zeichen auf Wirkliches deuten.“¹⁴⁵ Der Zeichenfunktion liegt definitiv etwas voraus, und diese Entität ist im Zuge einer gemeinschaftlichen Interpretation zunehmend bestimmbar, so dass sich in the long run Bedeutung finalisiert und die Dinge erkennbar sind. In letzter Konsequenz beruht Peirces pragmatische Semiotik auf ebenso starken ontologischen Vorannahmen wie der von Eco scharf kritisierte Strukturalismus¹⁴⁶ und mündet mit dem typischen Optimismus des 19. Jhs. in der Teleologie. Der ontologische Zug von Peirces Semiotik zeigt sich besonders an der Unterscheidung von „dynamischem“ und „unmittelbarem Objekt“. Das „unmittelbare Objekt“ steht für das zeicheninterne Objekt der Zeichentriade, das durch ein Objekt außerhalb der Zeichenrelation in kausaler Hinsicht motiviert wird. Jenes „dynamische Objekt“ liegt als außersemiotische Größe dem Zeichen logisch wie ontologisch voraus, bestimmt seine Ausrichtung und fungiert insofern als „semiotischer Grenzbegriff“.¹⁴⁷ Den Hintergrund für Peirces Objektbegriff bildet
Mersch 1998: Einleitung, 33. Mersch 1993: Eco, 94 A.a.O., 95. Vetter 1999: Zeichen, 30; Hervorhebungen im Original. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 217. Vgl. Eco 19948: Einführung, 357 ff. Vetter 1999: Zeichen, 79 ff.
3.1 „Welten im Kopf“: Die konstruktivistische Betrachtungsperspektive
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die metaphysische Wahrheitstheorie, die sich auf den Grundsatz veritas est adaequatio rei et intellectus stützt.
Während für Peirce die Frage nach dem Urgrund des Seins komplett in der Logik seiner Zeichentheorie liegt, weist Eco die Frage nach der Seinsqualität des Bezeichneten als außersemiotisch zurück. In Aufnahme wesentlicher Elemente der kategorialen Semiotik seines theoretischen Gewährsmanns modifiziert Eco dessen Konzept, schreibt es v. a. in kulturtheoretischer Hinsicht fort und verschärft die mit dem dreistelligen Zeichenbegriff der modernen Semiotik implizierte deontologische Stoßrichtung hin zu einer im weitesten Sinne konstruktivistischen Perspektive. Dies wird in erster Linie in den frühen semiotischen Hauptschriften deutlich. Hier entwirft Eco die Zeichentheorie als eine strikt anti-referentielle Theorie, die die Frage nach dem Sein methodisch suspendiert. Später modifiziert er dieses Modell unter dem Blickwinkel einer semiotischen Erkenntnistheorie hin zu einem „Vereinbarungsrealismus“.¹⁴⁸ Letztlich legt Eco seinem Entwurf damit eine ähnliche erkenntnistheoretische Sinnsicht zu Grunde wie Luhmann seiner Systemtheorie. Dieser epistemologische Zug von Ecos Semiotik deutet sich bereits in seinem frühen rezeptionsästhetischen Werk „Das offene Kunstwerk“¹⁴⁹ an. In der metaphysikkritisch angelegten Schrift stellt Eco die rein rekonstruktive, „naive Hermeneutik“¹⁵⁰ in Frage. Die „Dialektik von ‚Form‘ und ‚Offenheit‘“,¹⁵¹ die sich an der Frage nach der interpretatorischen Mitarbeit eines Rezipienten an einem (Text‐)Kunstwerk abzeichnet, durchzieht von da an als ästhetisches Grundprinzip Ecos Gesamtwerk. Die prinzipielle Offenheit eines jeden Kunstwerks bietet dem Rezipienten eine „virtuell unendliche Reihe möglicher Lesarten“,¹⁵² die zugleich formal durch die Logik der Signifikanten begrenzt wird. Das heißt, auch wenn auf ein und denselben Signifikanten grundsätzlich eine Fülle an Signifikaten appliziert werden kann, ist dies dennoch „keine amorphe Aufforderung zu einem beliebigen Eingreifen: es ist die weder zwingende noch eindeutige Aufforderung [man könnte hier auch von Kontingenz sprechen; L.K.] zu einem am Werk selbst orientierten Eingreifen“.¹⁵³ Die moderne Poetik verweist „in einer Welt, in der die Diskontinuität der Phänomene die Möglichkeit für ein einheitliches und definitives Weltbild in Frage gestellt hat“,¹⁵⁴ auf die kulturrelative Kontingenz von Weltsichten und zielt auf eine grundsätzliche
Eco 2000: Kant, 13 u. ö. Eco 19967: Kunstwerk. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 182; dort (ebd. Anm. 60) der Hinweis auf Iser 19944: Akt, If. Eco 19967: Kunstwerk, 8. A.a.O., 57. A.a.O., 55. A.a.O., 164 f.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Deutungsoffenheit aller Phänomene. Der Interpretationsbegriff, der für die Theorie Ecos grundlegend ist, hat deshalb bereits in dieser Phase eine zentrale Funktion.
In den zeichentheoretischen Schriften, in denen Eco die Semiotik als allgemeine Kulturtheorie entwirft,¹⁵⁵ tritt die im weitesten Sinne konstruktivistische Sinnsicht seiner Theorie sodann deutlich zu Tage. Das Zeichen ist hier verstanden als eine allgemeine und kulturrelative Größe, die nicht auf ein ontologisches Objekt verweist, sondern der allein innerhalb des dreistelligen Zeichenbegriffs seine Funktion zukommt. Daher kann ein Zeichen niemals eine empirische Entität sein, die äquivalent Welt abbildet.¹⁵⁶ Vielmehr „existieren“ Zeichen, gebunden an die Deuteperspektiven und Konventionen derjenigen, die sie in Gebrauch nehmen – also in actu. Ein Zeichen ist weder eine physische noch eine fixe semiotische Entität,¹⁵⁷ sondern eine Funktion, die performativ auf sich permanent verändernde Deutesysteme einer durch Codes¹⁵⁸ gesetzten kulturellen Welt verweist. Ob dem, was das Zeichen signifiziert, ein empirisch identifizierbarer realer Sachverhalt entspricht, ist dabei für die Zeichenfunktion unerheblich. Der Begriff des Referenten, der nach Eco für die Zeichentheorie „nutzlos und schädlich“¹⁵⁹ ist, wird systematisch aus der semiotischen Betrachtung eliminiert: „Der Referenten-Fehler besteht in der Annahme, daß das ‚Signifikat‘ eines Signifikanten etwas mit dem korrespondierenden Gegenstand zu tun habe.“¹⁶⁰ So schließt Ecos Semiotik in dieser frühen Phase ihrer Ausarbeitung jeden realen Gegenstandsbezug des Zeichens aus und bestimmt das Signifikat eines Ausdrucks als „kulturelle Einheit“,¹⁶¹ also als das, „was kulturell als Entität definiert und unterschieden wird. Das kann eine Person sein, ein Ort, Ding, Gefühl, Sachverhalt, Vorgefühl, Phantasiegebilde, eine Halluzination, Hoffung oder Idee“.¹⁶² Die vermeintlich realen Dinge sind uns
Eco 19948: Einführung; ders. 19912: Semiotik. Vgl. Eco 1985: Semiotik, 24: „Zeichen sind keine empirischen Objekte. Empirische Objekte werden nur unter dem Gesichtspunkt einer philosophischen Entscheidung zu Zeichen (oder werden als solche betrachtet).“ Vgl. Eco 19912: Semiotik, 76. Eco führt seine einflussreiche Theorie der Codes in „Semiotik“ (19912: Semiotik, 76 ff) ein. Einen Überblick über die Entwicklung der Code-Theorie und deren praktisch-theologische Rezeption gibt Klie 2003: Zeichen, 195 f; s.u. 3.2.2.2.1. Terminologisch ist der semiotische nicht mit dem systemtheoretischen Code-Begriff zu verwechseln; zum systemtheoretischen Code-Begriff s.u. 3.2.2.2.2. Eco 19948: Einführung, 75. Eco 19912: Semiotik, 93. – Zum „Missverständnis vom Referens“ bzw. zum „ReferentenFehler“ vgl. Eco 19948: Einführung, 69 ff; ders. 19912: Semiotik 88 ff; ders. 1977: Zeichen, 172. Vgl. Eco 19948: Einführung, 74 ff; ders. 19912: Semiotik, 99 ff. Eco 19912: Semiotik, 99; Eco zitiert hier D. Schneider.
3.1 „Welten im Kopf“: Die konstruktivistische Betrachtungsperspektive
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deshalb nur mittels kultureller Einheiten, „die die Welt der Kommunikation statt der Sachen zirkulieren“¹⁶³ lassen, bekannt. Damit werden – wie Luhmann formuliert – die „Prämissen der ontologischen Metaphysik“¹⁶⁴ obsolet: „[D]ie Formel Referenzverlust faßt wie in einem Brennspiegel das zusammen, was die Distanz zur alteuropäischen Tradition ausmacht“.¹⁶⁵ Der Entwurf Ecos löst im Rückgriff auf Peirce das Problem der Zeichenreferenz mit der Funktion des Interpretanten: „Das Signifikat eines Zeichens läßt sich nur klären durch den Verweis auf einen Interpretanten, der wieder auf einen weiteren Interpretanten verweist, und so fort bis ins Unendliche, was einen Prozeß unbegrenzter Semiose in Gang setzt, in dessen Verlauf der Empfänger das ursprüngliche Zeichen so weit dekodifiziert, wie er das für die Zwecke der betreffenden Kommunikation und die Bezugnahmen, bei denen er es anwenden möchte, braucht.“¹⁶⁶ Die Figur des Interpretanten, die die Relation von Signifkant und Signifikat bestimmt, verweist auf nichts anders als auf eine sukzessive Aneinanderreihung kultureller Einheiten, die sich ebenfalls zeichenhaft vermitteln. Die hierbei generierte Semiose kann daher als eine kontinuierliche, gegen unendlich tendierende Bedeutungszirkulation verstanden werden.¹⁶⁷ Das Zuschreiben von Bedeutung geschieht immer prozesshaft, der semiosische Deutungsprozess kommt in Form eines plausiblen Inhalts immer nur – auch in the long run – zu einem vorläufigen Abschluss. So wird es prinzipiell unmöglich, für die Signifikation einen Bezugspunkt außerhalb des Zeichenprozesses zu bestimmen, „denn am Grund des Zeichens findet sich niemals eine Wirklichkeit, finden sich höchstens neue Zeichen.“¹⁶⁸ Anders formuliert: „Nach der Grundlage des Seins zu fragen, bedeutet nach der Grundlage der Grundlage und der Grundlage der Grundlage der Grundlage zu fragen und mündet in einen unendlichen Regreß: Wenn wir erschöpft damit aufhören, befinden wir uns schon wieder gerade bei der Grundlage unserer Frage.“¹⁶⁹ Letztlich fungiert allein die unbegrenzte Semiose als Garant für ein semiotisches System, „das fähig ist, sich allein durch eigene Mittel zu kontrollieren“.¹⁷⁰ Diese Aussage erinnert an die systemtheoretische These operationaler Geschlossenheit von Systemen: Mit der Semiose – so könnte man formulieren –
Eco 19948: Einführung, 73; Hervorhebung im Original. Luhmann 1990: Wissenschaft, 705. Ebd. Eco 1977: Zeichen, 173; Hervorhebung im Original. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 193. Mersch 1993: Eco, 93. Eco 2000: Kant, 30 f. Eco 19912: Semiotik, 102.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
generiert sich ein System, das ohne direkten Kontakt mit seiner Umwelt oder gar auf vermeintlich reale Sachverhalte der Welt geschlossen operiert und sich durch die kontinuierliche Bedeutungszirkulation solange aufrecht erhält, bis es zu einem vorläufigen Endpunkt gelang und sich auflöst. Ähnlich – jedoch ohne Verweis auf die Systemtheorie – drückt es bereits Klie aus: „Kommunikation findet in semiotischer Perspektive innerhalb eines selbstreferentiellen und autopoietischen Systems statt“.¹⁷¹ Verweisen Zeichen im unendlichen Regress niemals auf die Wirklichkeit, sondern stets auf andere Zeichen, so wird es obsolet, nach einer vorfindlichen oder gar vorgegebenen Bedeutung unter, hinter oder neben den Zeichen zu fragen.¹⁷² Programmatisch entwirft Eco in dieser frühen Phase die Semiotik deshalb als eine „Theorie der Lüge“ (Klie): „Die Semiotik befaßt sich mit allem, was man als Zeichen betrachten kann. Ein Zeichen ist alles, was sich als signifizierender Vertreter für etwas anderes auffassen läßt. Dieses andere muß nicht unbedingt existieren oder in dem Augenblick, in dem ein Zeichen für es steht, irgendwo vorhanden sein. Also ist die Semiotik im Grunde die Disziplin, die alles untersucht, was man zum Lügen verwenden kann.“¹⁷³ Wird die Möglichkeit des Lügens als Proprium der Semiose bestimmt,¹⁷⁴ so erübrigt sich aus dieser Perspektive die Frage, ob eine Aussage mit einem „wirklichen“ Ereignis korrespondiert und im herkömmlichen Sinne wahr oder falsch ist. Mit dieser innersemiotischen Suspendierung der Wahrheitsfrage – die Gründe hierfür erhellen v. a. aus der Einführung der Code-Theorie¹⁷⁵ – ist ähnlich der Systemtheorie Luhmanns die Wahrheitssuche im „alteuropäischen“ Sinne aufgegeben. Entgegen einer teleologischen Argumentationsweise kann weder aus system- noch aus zeichentheoretischer Sicht eine „Abschlußfigur“¹⁷⁶ in Form eines letzten Beobachters oder eines finalen Interpretanten bestimmt werden.¹⁷⁷ Ohne semiotisches Interesse an
Klie 2003: Zeichen, 194. – Auf eine analoge Zielrichtung von Semiose und Autopoiese weist Kastner (2001: Autopoiese, 93) hin – hier mit Bezug auf Maturana und Varela sowie Peirce: „Ein von/mit Maturana/Varela als ein ‚autopoietisches System‘ beschriebenes Phänomen, läßt sich auch als infiniter Zeichenbildungsprozeß im Peirceschen Sinne erklären.“ S.o. 2.2.1. Eco 19912: Semiotik, 26; Hervorhebungen im Original. Vgl. a.a.O., 89. Vgl. a.a.O., 76 ff. Vgl. Luhmann 19962: Realität, 208 f. Die Relativierung aller Fixpunkte wird in Ecos Roman „Das Foucaultsche Pendel“ anschaulich. Hier verweist das Pendel auf die prinzipielle Haltlosigkeit (Eco 1989: Pendel, 279): „Sehen Sie, Casaubon, auch das Pendel ist ein falscher Prophet. Sie schauen es an, Sie glauben, es sei der einzige feste Punkt im Kosmos, aber wenn Sie es aus dem Kirchengewölbe abnehmen und
3.1 „Welten im Kopf“: Die konstruktivistische Betrachtungsperspektive
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dem Wahrheitsbezug als solchem, geht es der Semiotik Ecos nicht um Wahrheiten, sondern um die Kommunikation von Wahrheiten. Ähnlich wird die Frage nach dem Subjekt als außersemiotisch bestimmt. Im Rahmen einer methodologischen Selbstbeschränkung kann die Zeichentheorie das Subjekt nur als semiotische Kategorie erfassen. Die Frage nach einer hinter, vor, nach, außer- oder innerhalb liegenden Subjektivität ist – wie Eco einräumt – „sicher von größter Bedeutung“,¹⁷⁸ steht jedoch „jenseits der Schwelle der Semiotik“.¹⁷⁹ Die Abstinenz der Wahrheits- und Subjektfrage provoziert die (praktisch‐) theologische Rezeption der Semiotik Ecos zu einer hermeneutischen Stellungnahme – hierauf weist bereits Meyer-Blanck hin.¹⁸⁰ Seiner Ansicht nach gewinnt durch die Verschiebung der Wahrheitsfrage von der Seins- auf die Kommunikationsebene diese gerade an Relevanz. So kann sich religiöse Kommunikation nicht länger auf ontologische Letztbegründungen außerhalb des Kommunikationsgeschehens beziehen, sondern ist dazu genötigt, im Kommunikationsprozess selbst Gestalt anzunehmen. Aus dieser Perspektive wird Religion weder als ontologische Realität noch als religiöse Subjektivität verstanden, sondern als ein Phänomen, das an die subjektive Wahrheitsverantwortung der an der Kommunikation beteiligten Personen gebunden ist. Religion bleibt auf konsensuelle und soziale Wahrheitsbemühungen bezogen – z. B. in Gottesdienst und Seelsorge. Um die Kulturrelativität, d. h. die Konventionalität und Kontextabhängigkeit eines jeden Signifikationsprozesses hervorzuheben, bietet sich insbesondere die Spielart der Ecoschen Semiotik an. Insofern das Signifikat strikt als kulturelle Einheit aufgefasst wird, kann Eco – ähnlich der Systemtheorie Luhmanns, die Kommunikation als soziale Operation auffasst, – konstatieren: „Die Semiotik interessiert sich für die Zeichen als gesellschaftliche Kräfte.“¹⁸¹ Dem Konzept Ecos, das die Kultur sub specie communicationis untersucht, eignet ähnlicher „Sprengstoff“¹⁸² wie der Luhmannschen Theorie: Zum einen impliziert die Negation des Referentenbezugs eine prinzipiell deontologische Sichtweise,
es in einem Bordell aufhängen, funktioniert es trotzdem. […] Jeder Punkt im Universum ist ein fester Punkt, man braucht nur das Pendel dranzuhängen.“ Vgl. Mersch 1993: Eco, 164 f. Eco 19912: Semiotik, 403. Ebd. Vgl. Meyer-Blanck 2001: Semiotik, 108 f. Eco 19948: Einführung, 73; Hervorhebung L.K. – Dass Eco seine semiotische Kulturtheorie als Kommunikationstheorie entwirft, erhellt auch folgende Passage (a.a.O., 38): „Die Gesetze der Kommunikation sind die Gesetze der Kultur. Die Kultur kann vollständig unter semiotischem Gesichtspunkt untersucht werden. Die Semiotik ist eine Disziplin, die sich mit der ganzen Kultur beschäftigen kann und muß. […] Die Semiotik untersucht alle kulturellen Prozesse als Kommunikationsprozesse.“ Gripp-Hagelstange 2000: Einführung, 12.
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zum anderen führt die (semiotische) Eliminierung des Subjekts zu seiner Dezentralisierung. Mit dieser Sichtweise konvergiert die Annahme, dass den kulturellen Einheiten kein invariantes, unhistorisches, also ontologisch gegebenes Strukturgitter zu Grunde liegt. Entgegen der Vorstellung des französischen Strukturalismus, den Eco einer scharfen Kritik unterzieht, erweist sich die Struktur vielmehr als „abwesend“¹⁸³ und kann von der Semiotik nur als „methodologische Hypothese“¹⁸⁴ in Anspruch genommen werden. Deshalb verzichtet Eco im Unterschied zu deSaussure auf die Rekonstruktion einer unveränderlichen Ordnung und behauptet im Gegenzug die grundsätzliche Pluralität möglicher Formen. Damit wird die Semiotik zur „Kritik der Ideologien“.¹⁸⁵ Sie spricht sich gegen die Verabsolutierung einer partiellen Weltanschauung, also einer perspektivischen Segmentierung der Welt aus, die eine fixe Verbindung zwischen einer Botschaft und einer ihrer möglichen Konnotation herstellt, so dass andere, auch mögliche konnotative Bedeutungen ausgeschlossen werden. Aus semiotischer Perspektive geht es darum, diese „sklerotisch verhärtete Botschaft“¹⁸⁶ zu demystifizieren, aufzuzeigen, wie Ideologien semiotisch funktionieren, und darauf hinzuweisen, dass das semantische Universum komplexer ist, als es Ideologien vorgeben. Mit einer ganz ähnlichen Fragestellung setzen sich auch die systemische Therapie und systemische Seelsorge auseinander.¹⁸⁷ Sollen im Kommunikationsgeschehen neue Deutungsmöglichkeiten und damit neue Handlungsoptionen eröffnet werden, so ist hier z. B. die Rede von „Entdinglichung“¹⁸⁸ oder der „Verflüssigung von Seins-Zuständen in Perspektivität“.¹⁸⁹ Daran zeigt sich, dass auch in diesem Punkt die Semiotik Ecos poimenisch anschlussfähig ist.¹⁹⁰ In der Seelsorge können Wirklichkeitskonstruktionen begegnen, die ideologischen Mechanismen folgen: „Vieles von menschlichem Glauben oder Handeln folgt solcher Eigendynamik – eine Möglichkeit verdichtet sich zur Wahrscheinlichkeit, das Wahrscheinliche verselbständigt sich zum Wirklichen, die Wirklichkeit schlägt um in Terror, dessen mörderische Konsequenzen Katastrophen auslöst. So der Titel der italienischen Originalausgabe: La struttura assente. Die deutsche Fassung „Einführung in die Semiotik“ (19948) stellt eine Neubearbeitung da, der die polemische Spitze genommen ist. Dort ist lediglich noch der letzte Abschnitt (19948: Einführung, 357 ff) mit „Die abwesende Struktur“ überschrieben. Eco 19948: Einführung, 359. Vgl. a.a.O., 168 ff; Zitat 176. Vgl. auch Eco 19912: Semiotik, 385 ff. Eco 19948: Einführung, 173. S.o. 1.1.3. Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 156. Meyer-Blanck 1998: Identität, 842. Zur ideologischen Verengung der kulturellen Enzyklopädie s.u. 3.2.2.1.
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Der Psychiater Paul Watzlawick prägte dafür den Ausdruck einer Selffulfilling prophecy, eines unaufhaltsam selbstgeschaffenen Ablaufs der Ereignisse. Wirklichkeit ist,was wir jeweils zu ihr machen; sie ist ein Konstrukt, auf dessen Rücken, gleichwohl unterdrückt, Gewalt ausgeübt und Kriege entfacht werden.“¹⁹¹ Das komplexe semantische Universum wird auf totalitäre Weise reduziert, idiosynkratische Interpretationen nehmen, losgelöst aus ihrem kulturellen Kontext, gleich „Wahngebilden“¹⁹² reale Gestalt an. Seelsorge hat dann – ähnlich der Therapie – die Aufgabe diesen Circulus vitiosus zu durchbrechen und den Blick auf Sichtweisen, die auch möglich sind, zu öffnen. Da der ontologische Strukturalismus auch für eine Theorie selbstreferentieller Systeme „unakzeptabel“¹⁹³ ist, wendet sich Luhmann ähnliche Eco gegen diese Theorieoption. In der Systemtheorie garantiert der Strukturbegriff nicht länger einen vermeintlich objektiven Realitätsbezug, sondern wird operativ von der autopoietischen Selbstproduktion her gedeutet. Das heißt, Strukturen sind nur dann real, wenn sie benutzt werden,¹⁹⁴ wenn sie sich performieren. Dass diese mit einer konstruktivistischen Sinnsicht einhergehende Umdeutung des traditionell ontologisch verstandenen Strukturbegriffs auch von praktisch-theologischer Relevanz ist, hat sich im Zusammenhang der liturgiewissenschaftlichen Auseinandersetzung um das sog. Strukturpapier gezeigt. Bieritz konstatiert im Rekurs auf Eco, dass es sich auch bei einer liturgischen Struktur nicht, wie von dem diskutierten Papier angenommen, um eine Seins-, sondern um eine kulturell vermittelte Deutekategorie handelt, die in actu entsteht.¹⁹⁵ Weiterhin hat sich in der Diskussion um die erkenntnistheoretischen Hintergründe der Symboldidaktik die Ikonizitätskritik Ecos, die ihren Ort ebenfalls in dem frühen anti-referentiellen Ansatz hat,¹⁹⁶ von praktisch-theologischer Reichweite erwiesen.¹⁹⁷ Dies hat seinen Grund v. a. darin, dass Eco mit der Zurückweisung des Similaritätskriteriums, das Peirce dem Ikon zuschreibt, alle ontologischen Varianten der Repräsentation aus der Semiotik ausschließt. Wie Meyer-Blanck in seiner viel beachteten religionspädagogischen Studie darlegt,¹⁹⁸ Mersch 1993: Eco, 182; Kursivierung im Original. Ebd. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 377. Die Systemtheorie ordnet die Funktion der Struktur vor. Aus diesem Grund konzipiert Luhmann seine Theorie nicht wie Parsons strukturell-funktional sondern funktional-strukturell. – Zum systemtheoretischen Strukturbegriff vgl. a.a.O., 377 ff; ders. 20063: Einführung, 323 ff. Vgl. Luhmann 20063: Einführung, 329. Bieritz 1995: Struktur. S.o. 1.2.2.1. Vgl. Eco 19948: Einführung, 200 ff; ders. 19912: Semiotik, 254 ff. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 197 ff. S.o. 1.2.2.3. Meyer-Blanck 20022: Symbol.
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erweist sich deshalb die Behauptung, Symbole repräsentierten allein aufgrund ihres So-Seins einen objektiven Referenzbezug, aus zeichentheoretischer Perspektive unhaltbar. Die bisherigen Ausführungen könnten den Verdacht nahelegen, dass sowohl der Ansatz Ecos als auch die Theorie Luhmanns die Existenz einer Außenwelt leugnen. Dieser Verdacht bleibt jedoch unbestätigt, da sich die konstruktivistische Sinnsicht – wie sie von Zeichen- und Systemtheorie vertreten wird – explizit von jedweder dekonstruktivitischen oder solipsistischen Vorstellung abgrenzt. Denn auch wenn die Notwendigkeit der Korrespondenz mit der externen Welt negiert wird, heißt das nicht, dass jegliche Hypothese relativistisch akzeptiert würde. Auch wenn der Welt bzw. den realen Seinsverhältnissen keine positive Rolle in der Führung der Erkenntnis zukommt, wird ihr eine negative Rolle in der Diskriminierung der akzeptablen Erkenntnisse zugeschrieben. Dass die von der Ecoschen Semiotik vertretene Offenheit der Semiose nicht in unkontrollierbare Beliebigkeit abgleitet, deutet sich bereits in dem vorsemiotischen Werk „Das offenen Kunstwerk“ an. Hier geht es bei aller Offenheit des Kunstwerks auch darum, „die Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer ein Kunstwerk die größte Mehrdeutigkeit verwirklichen und vom aktiven Eingriff des Konsumenten abhängen kann, ohne damit aufzuhören, Kunstwerk zu sein.“¹⁹⁹ Bleibt die Form des Kunstwerks nicht gewahrt, so wird die Offenheit zum „Rauschen“²⁰⁰ und die Rezeption driftet in ein „solipsisitsch wahnhafte[s] Phantasieren“²⁰¹ ab. In der Phase der semiotischen Modifikationen, in der Eco sich von der früheren strikt anti-referentiellen Position abwendet und u. a. die Code-Theorie auf ein Enzyklopädie-Modell²⁰² hin umarbeitet, thematisiert er die „Grenzen der Interpretation“.²⁰³ Gegen die vom Dekonstruktivismus behauptete „unendliche Abdrift des Sinns“²⁰⁴ – Eco setzt sich in erster Linie mit Derrida auseinander²⁰⁵ – wird die im Text selbst angelegte Begrenzung der Interpretation gesetzt: „Auch ein ‚offener‘ Text ist doch immer ein Text, und ein Text kann zwar unendlich viele Interpretationen anregen, erlaubt aber nicht jede beliebige Interpretation. Man kann nicht sagen, welches die beste Interpretation eines Textes ist, doch kann man
Eco 19967: Kunstwerk, 8; Hervorhebung L.K. A.a.O., 178. Ebd. Zur kulturellen Enzyklopädie s.u. 3.2.2.1.1. Eco 19983: Lector; ders. 1995: Grenzen; ders. 2000: Kant. Klie 2003: Zeichen, 201. Vgl. Eco 1995: Grenzen, 425 ff.
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durchaus sagen, welche Interpretationen falsch sind.“²⁰⁶ Wie Eco wiederholt betont, ist die unbegrenzte Semiose nicht mit einer freien Interpretation und der Willkür eines Rezipienten gleichzusetzen²⁰⁷ – oder wie es Mersch auf den Punkt bringt: „Die Semiose bezeichnet lediglich eine ‚potentielle‘ Unendlichkeit in dem Sinne, daß ihr epistemologisch keine Grenze vorgeschrieben werden kann; doch folgt daraus praktisch keine ‚aktuale Unendlichkeit‘, weil die Zeichen selber der Ort sind, an dem ihre ‚irreduzible Polysemie‘ begrenzt wird“.²⁰⁸ Eco ist der Ansicht, dass auch der „radikalste Dekonstruktivist“²⁰⁹ der Vorstellung zustimmen würde, „daß es Interpretationen gibt, die völlig unannehmbar sind“:²¹⁰ „Würde Jack the Ripper uns sagen, er habe seine Taten aufgrund einer Inspiration begangen, die ihn beim Lesen des Evangeliums überkam, so würden wir zu der Ansicht neigen, er habe das Neue Testament auf eine Weise interpretiert, die zumindest ungewöhnlich ist.“²¹¹ Dass in einem Text bereits Lektürestrategien angelegt sind, die entgegen einer beliebigen Interpretation im dekonstruktivistischen Sinne die Abdrift begrenzen, ist mit dem literaturtheoretischen Axiom des Modell-Lesers eingeholt.²¹² Diese Figur verweist zum einen auf die mit einem Text bereits vorgesehene Deutung und bezeichnet zum andern dessen Eigensinn. Der Modell-Leser, in dem die intentio lectoris eines empirischen Lesers situativ verwirklicht wird, korrespondiert daher mit der intentio operis und dem Idiolekt eines Textes. Für die Praktische Theologie nimmt Engemann in seiner Münsteraner Antrittsvorlesung dieses Axiom im homiletischen Zusammenhang in Anspruch.²¹³ Entgegen der von der Exegese und klassischen Hermeneutik häufig angebotenen Alternative zwischen intentio auctoris und intentio lectoris weist Engemann hier auf die Rolle des Lesers hin, die als Textstrategie bereits mitgesetzt ist. Reflektiert Eco also zunächst in textpragmatischer Hinsicht – wobei sich die Überlegungen „auch auf nicht-literarische und nicht-verbale Texte anwenden lassen“²¹⁴ – die „Grenzen der Interpretation“, so bezieht er in dem philosophischen Werk „Kant und das Schnabeltier“²¹⁵ diese ausdrücklich auch auf die Texturen der Wirklichkeit. Da die Wirklichkeit ebenso wie ein literarischer Text
A.a.O., 144. Vgl. z. B. a.a.O., 441. Mersch 1993: Eco, 158; Hervorhebungen im Original; vgl. Eco 2005: Streit, 29. Eco 1995: Grenzen, 22. Ebd. A.a.O., 77. Vgl. Eco 19983: Lector, 61 ff. Engemann 2003: Text; s. o. 1.2.2.2. Eco 19983: Lector, 13. Eco 2000: Kant.
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nicht beliebig interpretierbar ist, erweist sie sich gegenüber semiosischen Aktivitäten als widerständig und setzt mit den „Resistenzen des Seins“²¹⁶ den prinzipiell unendlichen Möglichkeiten der Interpretation Grenzen. Damit gibt es „etwas“, das der Semiose zeit-räumlich vorgelagert ist, und – auch wenn es innerhalb des Diskurses so scheinen mag – nicht durch Sprache hervorgebracht wird: „Die Sprache konstruiert das Sein nicht ex novo: Sie befragt es, und sie findet immer und in irgendeiner Weise etwas Vorgegebenes (wobei das nicht bedeutet, daß dieses Vorgegebene bereits abgeschlossen und vollständig ist).“²¹⁷ Insofern Eco die „hermeneutische Widerständigkeit eines künstlerischen Werkes“²¹⁸ bzw. mit den „Resistenzlinien des Seins“ den Widerstand an der Wirklichkeit postuliert, stellt sich erneut die epistemologische Frage nach dem semiotischen Bezug auf real Vorfindliches. Zwar nähert sich Eco im Zusammenhang dieser prinzipiellen Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie sowohl dem Realitätskonzept von Peirce als auch der ontologischen Frage an, sein Konzept bleibt jedoch weiterhin strikt kulturtheoretisch und im weitesten Sinne konstruktivistisch angelegt. So sind Bezugnahmen auf Reales durchaus möglich, als „wahr“ können sie jedoch nur gelten, wenn sie auf konsensuelle Deutungsroutinen und kollektive Vereinbarungen basieren, das heißt: „Als ‚wahr‘ kann immer nur das gelten, was eine kontingente Gemeinschaft von Kulturschaffenden als wahr anzuerkennen gewohnt ist.“²¹⁹ Ähnlich Luhmann – und im Unterschied zu Peirce – fungiert die „ontologische Bezugnahme“ bei Eco daher als „regulative Idee“,²²⁰ die für die vereinbarungsmäßigen und pragmatischen Bezugnahmeakte des Alltags unerlässlich ist. Ecos Wahrheitstheorie, die er als „Vereinbarungsrealismus“²²¹ bezeichnet, grenzt sich also auch in dieser Modifikations-Phase von einer Kohärenztheorie, wie sie von Peirce vertreten wird, ab. Analog der Semiotik Ecos distanziert sich auch die Luhmannsche Systemtheorie von dekonstruktivistischen Vorstellungen. So konstatiert Luhmann, dass der Verzicht auf jede Art von Adäquations- oder Korrespondenztheorie der Wahrheit keineswegs auf ein anything goes (Feyerabend)²²² hinausläuft, sondern das Gegenteil der Fall ist: „Wahrheit funktioniert als ein in empirisch beobachtbaren Prozessen verwendetes Symbol. Es geht nur das, was geht. Ein Beobachter kann sich dann zwar fragen, warum es so geht, wie es geht. Er kann unter von ihm
Vgl. a.a.O., 65 ff. A.a.O., 69; Hervorhebungen im Original. Klie 2003: Zeichen, 209. A.a.O., 218. Eco 2000: Kant, 348; im Original hervorgehoben. A.a.O., 13 u.ö. Feyerabend 1976: Methodenzwang.
3.1 „Welten im Kopf“: Die konstruktivistische Betrachtungsperspektive
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gewählten Gesichtspunkten sich vorstellen, es könnte anders gehen. Er kann die Wahrheit als kontingent sehen. Aber auch dies muß er tun, sonst geschieht es nicht.“²²³ Der von einer funktional differenzierten Gesellschaft erzwungene „radikale Relativismus“²²⁴ führt zu einem „Prozeß der Selbstbindung, der Deflexibilisierung, der Traditionsbildung“²²⁵ bzw. in semiotischer Terminologie: zur Genese einer kulturellen Enzyklopädie. Aus systemtheoretisch-konstruktivistischer Perspektive wird weder im solipsistischen Sinne die „Realität der Außenwelt“,²²⁶ also die Welt als Vorfindliches geleugnet, noch der Kontakt zwischen System und Umwelt bestritten. Vielmehr sind die Operationen geschlossener Systeme, in denen Konstrukte auf- und abgebaut werden, „empirische Operationen in einer realen Welt“,²²⁷ die beobachtet werden können. Auch wenn es in der Umwelt nichts gibt, was der systeminternen Operation der Erkenntnis entspricht, bedeutet das nicht, dass auf die Nichtrealität der Umwelt geschlossen werden könnte.²²⁸ Die Welt bleibt der unmarked space, den Erkenntnis mit Unterscheidungen nur zerschneiden, nicht aber repräsentieren kann. Dabei fungiert die Welt, die sog. Realität „als Widerstand gegen beliebige Thematisierungen“,²²⁹ so dass – semiotisch formuliert – letztendlich auch die Systemtheorie das Abdriften der vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten in unkontrollierbare Beliebigkeit begrenzt: „Die Welt muß einerseits dicht genug strukturiert sein, damit es nicht reiner Zufall ist, ob sich übereinstimmende Sachauffassungen herausbilden; die Kommunikation muß irgendetwas (auch wenn man nie wissen wird, was es letztlich ist) greifen können, was sich nicht beliebig auflösen oder in sich verschieben läßt. Und andererseits muß es, auf eben der gleichen Grundlage, verschiedene Beobachtungen geben, […] die laufend ungleiche Perspektiven und inkongruentes Wissen reproduzieren.“²³⁰
Luhmann 1990: Wissenschaft, 177; Hervorhebung im Original. – Zum Symbolverständnis Luhmanns vgl. ders. 1997: Gesellschaft, 319 f. Vgl. Luhmann 20053: Vorwort Soziologische Aufklärung 5, 11. Ebd. Luhmann 1990: Wissenschaft, 516. A.a.O., 517. Vgl. z. B. Luhmann 1988: Erkenntnis, 16. Luhmann 1997: Gesellschaft, 1126 f. Luhmann gibt an, sich hier auf Semiotik und Linguistik, insbesondere de Man zu beziehen. Vgl. auch Luhmann 19962: Realität, 158 ff. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 236; Hervorhebungen L.K.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
3.1.3 Fazit: Konstruktion von Wirklichkeitsräumen Orientiert sich nun die Poimenik an dieser von System- und Zeichentheorie vertretenen, im weitesten Sinne konstruktivistischen Sinnsicht, so wird sie das Realitätsverständnis des Ansatzes von Scharfenberg – der exemplarisch für die ganze tiefenpsychologisch orientierte Pastoralpsychologie steht –, für obsolet erklären. Ähnlich der Systemtheorie zielt zwar auch Scharfenbergs Konzept darauf ab, die Dichotomie von Subjekt und Objekt, die die „alteuropäische“ Denktradition maßgeblich bestimmt, zu überwinden, allerdings scheint ihm dies bei näherer Betrachtung nur teilweise zu gelingen.²³¹ Entgegen seiner eigenen Intention bleibt Scharfenberg einer ontologischen Sichtweise verhaftet, wenn er behauptet, dass „die Realität […] durch Übertragungs- und Gegenübertragungsäußerungen verzerrt und entstellt ist“.²³² Jede „Gesprächsbeziehung muß darauf gefaßt sein, daß sie sich durch Übertragungen von der Wirklichkeit entfernt und damit einen illusionären Charakter erhält“.²³³ Scharfenberg geht also davon aus, dass es die eine reale Wirklichkeit gibt, dessen Zugang zu und Umgang mit ihr durch psychische Depravationen verzerrt sein kann. Seelsorge zielt darauf, die Wirklichkeit der Wirklichkeit wieder zu gewinnen. Gegen die Annahme einer vermeintlich objektiven Realität wendet sich eine konstruktivistische Sinnsicht. Es kann also nicht länger die Rede von der Wirklichkeit sein, die „verzerrt“ werden oder von der man sich „entfernen“ könnte, sondern im Gegenteil: Es erweist sich als Illusion, Wirklichkeit im korrespondenztheoretischen Sinne als seinsförmige Größe aufzufassen – wobei jede Illusion selbst zur Illusion wird. Wirklichkeit ist immer gedeutete Wirklichkeit, die eben auch anders gedeutet werden könnte – in der Seelsorge wird dies z. B. an den möglichen Lesarten von Lebensgeschichte als Konstruktionen von Biographie deutlich.²³⁴ Wirklichkeit kann nicht anders als eine von einem Beobachter abhängige Wirklichkeit gedacht werden. Sie wird dann gebildet, wenn ein Beobachter eine kontingente Unterscheidung zur Be-Zeichnung von Welt verwendet. Wirklichkeit ist damit immer bezeichnete Wirklichkeit, die auch anders bezeichnet, also mittels einer anderen Unterscheidung beobachtet werden könnte. Folglich „gibt“ es nicht nur eine Realität, sondern eine Vielzahl potentieller Wirklichkeiten. Die aktualisierte Wirklichkeit wird mittels eines Interpretationsprozesses von
Vgl. Karle 1996: Seelsorge, 127; sowie ihre Kritik (a.a.O., 116 ff) an der „ontologisierenden Anthropologie“ der Pastoralpsychologie Scharfenbergs. Scharfenberg 1972: Seelsorge, 67; Hervorhebungen L.K. A.a.O., 65. S.u. 3.2.2.1.1.
3.1 „Welten im Kopf“: Die konstruktivistische Betrachtungsperspektive
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anderen, gegenwärtig nicht aktualisierten, jedoch möglichen Wirklichkeiten abgegrenzt. Die Welt selbst ist zu komplex, als dass sie in Deutungsprozessen repräsentiert, erkannt oder erfahren werden könnte: „Die reale Welt als solche ist keine erfahrbare Wirklichkeit; Wirklichkeit ist vielmehr immer wahrgenommene, beobachtete, erfundene, also konstruierte Wirklichkeit.“²³⁵ Zwar können in komplizierten Geflechten „Eigenwelten“ entstehen, in denen es Ordnung und Fortschritt gibt, mit der Außenwelt – wenn auch von ihr dazu angeregt – haben sie jedoch nichts zu tun. Da die Welt weder Unterscheidungen noch Zeichen oder Information enthält, erweist sich auch die Annahme objektiver Erkenntnis, d. h. Erkenntnis mit externer Referenz, als Illusion. Werden die Prämissen einer ontologischen Sinnsicht aufgegeben, so wird die Welt verstanden „als der Rahmen (oder mit Husserl: der Horizont), der ein Auswechseln der Unterscheidungen erlaubt, mit denen man Dasselbe beobachtet. Das setzt aber voraus, daß die Welt nicht mehr als Gesamtheit der Dinge und ihrer Beziehungen begriffen wird, sondern als das Unbeobachtbare schlechthin, das mit jedem Wechsel der Unterscheidungen reproduziert wird.“²³⁶ Man kann nicht „von einer vorhandenen Welt ausgehen, die aus Dingen, Substanzen, Ideen besteht, und auch nicht mit dem Weltbegriff deren Gesamtheit (universitas rerum) bezeichnen. Für Sinnsysteme ist die Welt kein Riesenmechanismus, der Zustände aus Zuständen produziert und dadurch die Systeme selbst determiniert. Sondern die Welt ist ein unermessliches Potential für Überraschungen, ist virtuelle Information, die aber Systeme benötigt, um Information zu erzeugen, oder genauer: um ausgewählten Irritationen den Sinn von Informationen zu geben.“²³⁷ Im Anschluss an System- und Zeichentheorie wird hier in poimenischer Perspektive Welt verstanden als das Vorfindliche, als unendlicher und damit unbestimmbarer Möglichkeitsraum, der Semiose in Gang setzt und als „Rahmen“ die prinzipiell unendlichen Interpretationsmöglichkeiten begrenzt sowie beliebigen Deutungen Widerstand entgegensetzt. Um dieses „Kontinuum des Inhalts“, diesen „unendlichen Horizont“, der „alles und nichts“ zu sein scheint und sich jeder Festlegung entzieht,²³⁸ bestimmen zu können, muss Komplexität reduziert werden,²³⁹ indem mit einer kontingenten Unterscheidung Welt zerschnitten wird.
Prechtl/Burkhard 19992: Lexikon, 487. Luhmann 1997: Gesellschaft, 57. A.a.O., 46. Vgl. Eco 2000: Kant, 67 f. Die „Reduktion von Komplexität“ (Luhmann 1984: Soziale Systeme, 12) ist ein zentrales Axiom der Systemtheorie.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Dabei bleibt die durch diese perspektivische Segmentierung konstruierte Wirklichkeit als Weltanschauung stets eine mögliche Interpretation von Welt. Vor dem Hintergrund eines solchen Realitätsverständnisses kann der Seelsorger nicht wie bei Scharfenberg als „Vertreter der Realität“²⁴⁰ bezeichnet werden. Denn orientieren sich Poimenik und Seelsorge an einer im weitesten Sinne konstruktivistischen Zugangsweise, so werden sich diese in Theorie und Praxis von dem systemischen Grundsatz leiten lassen, dass alles auch ganz anders gesehen werden könnte.²⁴¹ Seelsorge zielt dann darauf, festgeschriebene Sichtweisen auf Welt aufzubrechen, weitere Möglichkeiten bzw. Codierungen zu suchen, auszuprobieren und offen zu halten,Wirklichkeitskonstruktionen,Welt- und Gottesanschauungen zu relativieren und zu erweitern. Auf diese Weise wird Seelsorge zu einem Spiel der Möglichkeiten, in dem kontingente Deutungsprozesse Wirklichkeitsräume bilden und Deutungen als Deutungen erkennbar werden. Damit geht es in der Seelsorge – ähnlich der systemischen Therapie – um „ein gemeinsames Ringen um Wirklichkeitsdefinitionen“.²⁴² (Lebens‐)Wirklichkeit wird im kommunikativen Geschehen der Seelsorge, im interaktionellen Zusammenspiel der Anwesenden konstruiert. Dabei wird es obsolet, nach der „wahren Bedeutung der Übertragung“²⁴³ suchen und diese dem Gesprächspartner schrittweise so interpretieren zu wollen, dass dieser die Übertragungserscheinung gleichermaßen begreift, die ihm angebotene Deutung übernimmt und so der illusionäre Charakter der Übertragungserscheinung offenbar wird.²⁴⁴ Es ist evident, dass entgegen eines dyadischen Wirklichkeitsmodells auch ein korrespondenztheoretisch verstandener Wahrheitsbegriff modifiziert werden muss. Denn ein klassisch adäquationstheoretischer Wahrheitsbegriff hat weder in Ecos Semiotik noch in Luhmanns Systemtheorie Raum: Während Luhmann den Wahrheitsbegriff funktionalistisch als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium der Wissenschaft umdeutet,²⁴⁵ befreit Eco die Semiosen vom „Zwang der Wahrheit“²⁴⁶. Wahrheit kann verstanden werden als das Kondensat dessen, was sich durch Wiederholung in einer Kultur bewährt. Hier ist v.a an auf Konvention beruhende, erstarrte, kondensierte Wirklichkeitskonstrukte zu denken – „Friedhöfe der Anschauungen“²⁴⁷ wie Eco sie bezeichnet oder wie Luhmann es aus-
Scharfenberg 1972: Seelsorge, 77. Vgl. vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 273: „Es könnte auch alles ganz anders sein.“ VonSchlippe 1995: Perspektive, 23 f; Hervorhebung L.K. Vgl. Scharfenberg 1972: Seelsorge, 76; Hervorhebung L.K. Ebd. Vgl. Luhmann 1990: Wissenschaft, 167 ff. Mersch 1993: Eco, 129. Vgl. Eco 2000: Kant, 59; in Anlehnung an Nietzsche.
3.1 „Welten im Kopf“: Die konstruktivistische Betrachtungsperspektive
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drückt: „Stabile ‚Eigenwerte‘“, die sich in einer Gesellschaft ergeben und „die durch weiteres Beobachten nicht mehr variiert werden“.²⁴⁸ Wahrheit basiert demnach auf dem common sense ²⁴⁹ einer Kultur- und Kommunikationsgemeinschaft und ist als „Resultat einer konsensuellen Bewahrheitung“²⁵⁰ zu begreifen. Oder wie Neijenhuis es zwar kritisch, dennoch treffend ausdrückt: „Wahrheit ist damit das, was gewohnheitsmäßig allgemein als wahr anerkannt wird, und ist damit letztendlich Konvention.“²⁵¹ In diesem Sinne stellt die vorliegende Untersuchung für die Poimenik weniger ein normatives Programm auf, vielmehr eröffnet sie eine Wahrnehmungsperspektive und für die seelsorgliche Praxis einen Handlungsspielraum. Und so zielen die poimenischen Überlegungen nicht darauf, feste Regeln für die seelsorgliche Praxis aufzustellen, sondern präskriptiv einen Rahmen abzustecken, innerhalb dessen sich gleich einem Spielfeld kreative Möglichkeitsräume erschließen, Interpretationsprozesse lebensdienlich angebahnt und strukturiert werden sowie Deutungen sich bewahrheiten können. So geht es in der Seelsorge nicht darum, die Wahrheit zu finden oder dem Seelsorgepartner die „richtige“ Deutung seiner Situation nahezubringen, sondern gemeinsam verschiedene Möglichkeiten „durchzuspielen“, unterschiedliche Hypothesen aufzustellen und auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen (semiotisch: Abduktion), um neue Wahrnehmungs- und Deutungsräume zu erschließen. Eine solche konstruktivistische Zugangsweise und v. a. ein derart umgedeuteter Wahrheitsbegriff kann zur „‚Kränkung‘ bisheriger theologischer Selbstverständlichkeiten“²⁵² führen und ist daher von Seiten der Theologie mehrfach kritisiert und abgelehnt worden. So nimmt bspw. Neijenhuis, der den Gottesdienstvollzug aus semiotischer Perspektive beschreibt, gerade hinsichtlich der Frage nach der Wahrheit und des Referenten, die er nicht ausgeklammert wissen will, die Zeichentheorie von Peirce in Gebrauch.²⁵³ Denn: „Mit Eco kann nur ein kulturelles Spiel angenommen werden, das jeglicher Wahrheit verlustig gehen
Luhmann 20053: Ich sehe, 224; in Anlehnung an D. Hilbert und vonFoerster. Vgl. Geertz 1983: Dichte Beschreibung, 277; Kursivierung im Original: „Der common sense präsentiert die Dinge […] so, als läge das, was sie sind, einfach in der Natur der Dinge. Ein Hauch von ‚wie denn sonst‘, eine Nuance von ‚versteht sich‘ wird den Dingen beigelegt […]. Sie werden als der Situation innewohnend dargestellt, als von der Wirklichkeit nicht zu trennende Aspekte, so, wie es sich nun einmal mit ihnen verhält.“ Klie 2003: Zeichen, 210. Neijenhuis 2007: Gottesdienst, 131. So formuliert Bieritz (2000: Kränkungen, 236) im Hinblick auf semiotische und rezeptionsästhetische Modelle. Analoges gilt für die Systemtheorie Luhmanns. Vgl. Neijenhuis 2007: Gottesdienst, 125 ff. Zur ausführlichen Darstellung von Neijenhuis Konzept s. o. 1.2.2.1.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
kann. Mit Peirce dagegen wird zumindest ein Wahrheitsanspruch erhoben.“²⁵⁴ Da nach Neijenhuis die Feier eines Gottesdienstes – wie jeder Ausdruck des Glaubens – ontologische Fragestellungen aufwirft und einen Anspruch auf Wahrheit impliziert, kann er der anti-referentiellen Semiotik Ecos nicht folgen, da diese strikt auf Kommunikation bezogen bleibt, ohne eine mögliche Affinität der Kommunikationsakte zu einer vorgegebenen Wahrheit zu reflektieren. Funktionaler scheint ihm deshalb der Rekurs auf das teleologisch angelegte Konzept von Peirce, das auf das Gottesargument hinausläuft. Klie hingegen bezieht sich in seiner zeichen- und spieltheoretischen Aufordnung der Praktischen Theologie aus demselben Grund auf Ecos und nicht auf Peirces Semiotik, da die rein „theistische Komponente“ des Peirceschen Konzepts seiner Meinung nach nicht den „Bedingungen einer spezifisch christlich bestimmten ‚Gewißheitskommunikation‘ (Herms)“²⁵⁵ gerecht wird. Gerade weil sich der Ecosche Entwurf „theologisch ‚abstinent‘“ zeigt, ist dieser „sehr viel geeigneter, die Differenz von Immanenz und Transzendenz in Bezug auf Neues aufrecht zu erhalten.“²⁵⁶ Wird in der vorliegenden Untersuchung ein performativ-deutungstheoretischer Zugang erprobt, der das Evangelium nicht als eine zeitlos gültige Wahrheit vorstellt, sondern als kommunikative Größe, die sich in einer je konkreten Situation für jemanden bewahrheitet,²⁵⁷ so korreliert dieser Ansatz mit einer im weitesten Sinne konstruktivistischen Perspektive. Auch hinsichtlich religiöschristlicher Zeichen gilt, dass sie wie jedes andere Zeichen stets interpretationsabhängig sind. Was von der christlichen Glaubensgemeinschaft als wahr geglaubt wird, vermittelt sich nicht anders als durch Zeichen. Die christliche Glaubensgewissheit²⁵⁸ basiert auf nichts anderem als auf deutungsabhängigen Zeichen, Worten, Texten, Bildern und Geschichten.Wie Bieritz treffend formuliert, ist damit „alles, was wir als Christen zu sagen und zeigen haben, eingebunden in den ‚Streit der Interpretationen‘.“²⁵⁹ Das Wahrsein religiös-christlicher Phänomene entscheidet sich demnach nicht auf ontologischer, sondern auf pragmatischer Ebene. Die Wahrheitsfrage selbst wird in der „Gemeinschaft der Heiligen“, in der TrostGemeinschaft der Glaubensgeschwister verortet.²⁶⁰ Für die Theologie bedeutet
A.a.O., 134. Klie 2003: Zeichen, 224; Hervorhebung im Original. A.a.O., 233. S.o. 2.2.1. Härle (20002: Dogmatik, 21 f) spricht von „subjektiver Wahrheitsgewißheit“. Bieritz 2000: Kränkungen, 233. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 190.Vgl. auch a.a.O., 176: „Ein religiöses Zeichen hat keine von seiner Interpretation unabhängige invariable Qualität. Es enthält seine aus ihm ableitbaren Deutungen
3.1 „Welten im Kopf“: Die konstruktivistische Betrachtungsperspektive
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das, dass sie weder mit dem Offenbarungs- noch mit dem Erfahrungs-Begriff einen „deutungsfreien, nicht weiter deutungsbedürftigen Raum“²⁶¹ postulieren kann. Das dyadische Wirklichkeitsverständnis einer Theologie, das auf eine adäquate Abbildung des Verhältnisses zwischen Gott und Welt abzielt, ist semiotisch nicht aufrecht zu halten. Kann es semiotisch betrachtet keine Wahrheit außerhalb der Zeichenrelation geben, so geht doch der Vollzug religiöser Rede, die Vergegenwärtigung des Evangeliums nicht in einer semiotisch-kommunikationstheoretischen Beschreibung auf, sondern über diese hinaus. Gerade mit der theologisch abstinenten Zeichentheorie Ecos ist es möglich, die Differenz zwischen der die christliche Gewissheitserfahrung begründenden Wirklichkeit des trinitarischen Gottes und seinen signifikanten Wirkungen darzustellen.²⁶² Dabei gilt: „Daß Gott in jeder Gegenwart gegenwärtig ist, steht gewissermaßen als Vorzeichen vor der Klammer, in der die Phänomene und Zeichen als Phänomene und Zeichen thematisch werden. […] Christliche Wahrheit selbst ist nicht semiotisierbar.“²⁶³ In der modernen funktional differenzierten Gesellschaft, die zu einem „radikalen Relativismus“ zwingt²⁶⁴ und am treffendsten aus konstruktivistischer Perspektive reflektiert werden kann,²⁶⁵ stellt sich hinsichtlich der Seelsorge die Frage, mit welchen Unterscheidungen in dem seelsorglichen Deutungsraum Welt zerschnitten wird, mittels welcher produzierten und rezipierten Zeichen Wirklichkeiten konstruiert werden. Gibt die funktionale Differenzierung das Unterscheiden prinzipiell frei, so steht keinem der Funktionssysteme die alleinige Weltdeutung zu – was selbstredend nicht bedeutet, dass einzelne Funktionssysteme den Anspruch darauf erheben können. Grundsätzlich haben sich die jeweiligen Funktionssysteme im Widerstreit konkurrierender Weltdeutungen mit den ihn eigenen binären Codes zu verorten und zu artikulieren. So hat Seelsorge als religiös-christliche Kommunikation²⁶⁶ zum einen für religiös-christliche Deu-
nur als eine Möglichkeit, die sich allerdings im je konkreten Gebrauchskontext als dessen Wirklichkeit und Wahrheit zeigt.“ Vgl. Bieritz 2000: Kränkungen, 229 f. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 176 ff. – Vgl. auch Meyer-Blanck 2000: Zeichen, 67 f: „Die Semiose ist nicht die Wahrheit, aber außerhalb von dieser ist sie nicht zu finden.Wir bleiben auf das Verstehen der Zeichen zurückgeworfen, und die Zeichen stellen uns in die Geschichte Gottes, ohne daß wir ihrer habhaft würden.“ Klie 2003: Zeichen, 168 f; Hervorhebung im Original. – Zur theologischen Grenze der kommunikationstheoretischen Beschreibung s.o. 2.2.2. Vgl. Luhmann 20053: Vorwort Soziologische Aufklärung 5, 11. Vgl. Luhmann 1990: Wissenschaft, 531: „Der Konstruktivismus bietet mithin der Wissenschaft eine für die moderne Gesellschaft adäquate Reflexionstheorie.“ Luhmann (1977: Funktion, 57 f) beschreibt Seelsorge als Leistung des Religionssystems für personale Systeme; s. o. 1.1.1. Ebenso betont Karle (1996: Seelsorge, 214 ff), dass es sich bei
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
tung ansprechbar zu sein und zum anderen diese auch explizit anzubieten. Damit geht es in der Seelsorge nicht nur allgemein um „ein gemeinsames Ringen um Wirklichkeitsdefinitionen“,²⁶⁷ sondern darum, religiös-christliche Weltdeutungen zu erproben und unter religiös-christlicher Perspektive mögliche sowie vielleicht auch unmögliche Wirklichkeiten zu konstruieren. Seelsorge zielt darauf, in einer konkreten Lebenssituation zu einem „Weltbetrachtungsexperiment“ aus christlicher Perspektive einzuladen, „sich selbst und die Welt […] probeweise unter die Hypothese zu stellen: etsi deus daretur, als ob es Gott gäbe.“²⁶⁸ Theologisch formuliert geht es im ausgegrenzten Zeit-Raum der seelsorglichen Interaktion um die Vergegenwärtigung des Evangeliums, um Wirklichkeitsbildung in evangelischer Perspektive. Für den Seelsorger bedeutet das, nicht nur emphatischspiegelnd auf die vom Seelsorgepartner angebotenen Impulse zu re-agieren, sondern auch intentional zu agieren und Anstöße, die zu heilsamen und tröstenden „Umbrüchen“ in der Kommunikation führen können, zu geben. ²⁶⁹ In der seelsorglichen Kommunikation wird damit nicht nur Wirklichkeit gebildet, sondern auch umgebildet. ²⁷⁰ In diesem Zusammenhang wird der Seelsorger stärker als in bisherigen poimenischen Konzepten mit seiner eigenen Wirklichkeitssicht und dem Repertoire seiner religiösen Ausdrucks- und Gestaltungsformen gefragt sein. Mit anderen Worten: Der Seelsorger hat sein „Handwerk“ ²⁷¹ zu verstehen. Der seelsorglichen Aufgabe, explizit christliche Wirklichkeitskonstruktionen anzubieten, korrespondiert auf der anderen Seite die an die Seelsorge gerichtete Erwartung, Welt religiös-christlich zu deuten. Hierbei stellt sich auch die Frage, ob durch die Anwesenheit eines Seelsorgers Kommunikation nicht schon immer religiös-christlich codiert bzw. als religiös-christliche rezipiert wird. Es leuchtet ein, dass die religiös-christliche Deutung der seelsorglichen Kommunikation keinen Anspruch auf alleinige Deutungsmacht erheben kann – auch wenn dies in der seelsorglichen Praxis auf den Seelsorger projiziert werden mag. Poimenisch betrachtet fungiert der Seelsorger nicht als Vertreter einer vermeintlich objektiven Wahrheit, der dem Seelsorgepartner die „richtige“ oder „wahre“ Deutung dessen Lebenssituation nahezubringen versucht und damit den AnSeelsorge um religiöse Kommunikation handelt. – Auf mögliche Probleme, die sich mit dem Religionsbegriff ergeben, kann im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter eingegangen werden. V. a. die Systematische Theologie setzt sich ausführlich mit Luhmanns Religionstheorie auseinander; s.o. 1.1.1 Anm. 89. VonSchlippe 1995: Perspektive, 23 f. Dressler/Klie 2008: Performanz, 221; Kursivierung im Original; dort formuliert in Bezug auf den Religionsunterricht; s.o. 1.2.2.3. S.u. 3.2.2.2.2. S.u. 3.2.2. Vgl. Josuttis 2002: Religion.
3.1 „Welten im Kopf“: Die konstruktivistische Betrachtungsperspektive
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spruch erhebt, sein Gegenüber besser zu verstehen als dieses sich selbst – so wie es im Rahmen der in der Poimenik bereits häufig kritisierten Defizitperspektive der Fall ist. Es hat sich gezeigt, dass sowohl Luhmanns System- als auch Ecos Zeichentheorie Welt unter kommunikationstheoretischer Perspektive betrachtet und damit auf eine kommunikative Konstruktion von Wirklichkeit abzielt: Während Eco – im Unterschied zu Peirce – die „ganze Kultur […] als Kommunikationsphänomen“²⁷² untersucht, entwirft Luhmann seine Gesellschaftstheorie explizit als Kommunikationstheorie. Da unter konstruktivistischer Perspektive Information weder Welt repräsentiert noch in dieser vorhanden ist, sondern vielmehr im Kommunikationsgeschehen generiert wird, wenden sich beide von dem traditionellen Übertragungsmodell ab. Kommunikation wird nicht länger als zwischenmenschlicher Austausch von – meist seinsförmig verstandenen – Nachrichten begriffen.²⁷³ Das Wesentliche der Kommunikation liegt nicht mehr wie im zweistelligen Kommunikationsverständnis im Akt der Übertragung und beim Mitteilenden, sondern im rezeptiven Deutungsgeschehen: Im „semiotischen Dreieck“ ist es die Stelle des Interpretanten und im dreistelligen Kommunikationsbegriff der Systemtheorie die Selektion des Verstehens bzw. der Kommunikant Ego – in traditioneller Semantik: der Adressat –, die nun im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Geht man davon aus, dass sich das Christentum als fortlaufende „Kommunikation des Evangeliums“²⁷⁴ ausformt und sich das Evangelium als kommunikative Größe vermittelt,²⁷⁵ so zeigen sich für die Praktische Theologie, die diese kommunikative Praxis des Evangeliums reflektiert, insbesondere Kommunikationstheorien anschlussfähig. Doch bei aller Affinität der Praktischen Theologie zu Kommunikationstheorien bleiben System- und Zeichentheorie disziplinexterne Theoriezugriffe, so dass auch jeder kommunikationstheoretischen Beschreibung der seelsorglichen Vergegenwärtigung des Evangeliums theologisch Grenzen gesetzt sind:²⁷⁶ „Eine Kommunikationstheorie als solche ist noch keine Theologie, sondern fordert die theologische Hermeneutik aufgrund der eigenen Abstinenz gerade heraus.“²⁷⁷ Die Inszenierung des Evangeliums, die sich am seelsorglichen
Eco 19948: Einführung, 33. Vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 193: „Die Übertragungsmetapher ist unbrauchbar, weil sie zu viel Ontologie impliziert.“ Die Wendung geht auf Lange (1981: Bilanz, 101 ff) zurück. S.o. 2.2.1. S.o. 2.2.2. Meyer-Blanck 2000: Zeichen, 67.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Ort des colloquiums gesprächsweise konkretisiert, bleibt durch das Ineinander von göttlicher Verheißung und menschlicher Gestaltungskunst bestimmt.²⁷⁸ Lässt sich die Poimenik auf System- und Zeichentheorie ein, so werden v. a. kommunikative Muster relevant,²⁷⁹ während das Subjekt, das traditionell im Zentrum der Seelsorgetheorie steht, in den Hintergrund tritt. Aus Perspektive der „radikal antihumanistischen“²⁸⁰ Systemtheorie wird der Mensch zur „besonderen Umwelt sozialer Systeme“²⁸¹ – also der Kommunikation. Auf ganz ähnliche Weise sieht die Ecosche Semiotik von der Frage nach dem Subjekt als außersemiotische ab.²⁸² Eco weigert sich strikt, „die Nase in die Black Box [mentaler oder zerebraler Prozesse, L.K.] zu stecken“.²⁸³ Für die Poimenik bedeutet das, dass Seelsorge nicht auf eine psychoanalytische Auslegung intrapsychischer Dynamiken zielt, sondern auf kommunikative Deutungsspiele. Es geht um die Bildung kommunikativer Wirklichkeit(en) in christlicher Perspektive. Wie jede Theorie bleibt auch die poimenische eine perspektivische Konstruktion, die die seelsorgliche Praxis unter einem bestimmten Blickwinkel deutet. Sie zerschneidet die Welt nicht anders als mit der von ihr getroffenen Unterscheidung, sie beschreibt das, was sie beschreibt und beschreibt nicht, was sie nicht beschreibt. Das heißt, ein poimenischer Entwurf beobachtet mit „blindem Fleck“. Greift die Poimenik auf Systemtheorie und Semiotik zurück, so rekurriert sie mit dem System- und Zeichenbegriff auf theoretische Konstrukte, die dabei helfen sollen, die im seelsorglichen Kommunikationsgeschehen stets ineinander verflochtenen Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse zu strukturieren. Beide Theorien stellen nichts anderes als funktional adäquate Möglichkeiten der Weltbetrachtung dar, die keinen Anspruch auf die „richtige“ Weltdeutung erheben, sondern sich in der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft lediglich durch eine besonders hohe Anschlussfähigkeit auszeichnen.²⁸⁴ Sie bezeichnen „eine Weise, die Welt zu sehen – und wie in jedem Paradigma liegt darin zugleich ein Gewinn und ein Verlust.“²⁸⁵ Dies gilt analog für jedes poimenische Konzept: Die
Vgl. Meyer-Blanck 1997: Inszenierung, 12. Ähnliches gilt für die systemische Therapie, die Luhmanns Systemtheorie rezipiert; vgl. vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 74. Luhmann 1997: Gesellschaft, 35. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 286. S.o. 3.1.2. Eco 2000: Kant, 160; vgl. a.a.O., 147. Ähnlich äußert sich Luhmann (Daiber/Herntrich/Luhmann 1989: Kommunizieren, 510) in einem Interview. Der Soziologe (Luhmann 20066: Einführung, 193) geht sogar so weit, die Systemtheorie sich innerhalb des berühmten Zettelkastens selbst relativieren zu lassen: „In diesem Kasten befindet sich ein Zettel, auf dem steht, dass alle anderen Zettel falsch sind.“ Mersch 1993: Eco, 75; dort bzgl. der Semiotik. Analoges gilt auch für die Systemtheorie.
3.1 „Welten im Kopf“: Die konstruktivistische Betrachtungsperspektive
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kommunikationstheoretische Reflexion des seelsorglichen Geschehens als interaktionaler Zeichenprozess erprobt eine bestimmte Perspektive, die zum einen gewisse poimenische Erkenntnisgewinne verspricht, während zum anderen bestimmte Zugänge – wie z. B. der psychoanalytische – verlustig gehen. Eine Poimenik, die Seelsorge als Interaktion beschreibt, beobachtet also nicht „Etwas“, das ontologisch einzuholen wäre, sondern sie grenzt mit der von ihr gewählten Betrachtungsperspektive ein Geschehen ab, das sie in einer bestimmten Hinsicht selbst konstruiert. Aus der dargelegten Perspektive ergibt sich ein Darstellungsproblem der vorliegenden Untersuchung: Geht man davon aus, dass zeichenhafte Kommunikationsprozesse Welt nicht mit-, sondern einteilen,²⁸⁶ so repräsentieren auch die Kommunikationsmedien wie Sprache und Schrift nicht Welt, sondern reduzieren Komplexität, um aus dem „Kontinuum des Inhalts“ (Eco) mitteilungsfähige Information zu generieren. Damit kann jeder konstruktivistisch orientierte Entwurf mit den ihm von der Schrift zur Verfügung gestellten Möglichkeiten nur hinter seiner erkenntnistheoretischen Prämisse zurückbleiben. Denn wenn Erkenntnis nichts anderes ist als Konstruktion, dann gilt dies selbstverständlich auch für eben diesen Satz.²⁸⁷ Da Verschriftung jedoch Linearisierung erfordert, können bspw. auch zirkuläre und dynamische Modelle nur linear und statisch dargestellt werden.
Vgl. Luhmann 19922: Reden, 7. Vgl. Luhmann 1990: Wissenschaft, 512.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
3.2 Interaktion: Ein kommunikativer Wahrnehmungsraum der Wirklichkeitsbildung Nun soll das colloquium als der formgebende Ort der Seelsorge näher erfasst werden. Um einen für die Poimenik funktionalen und theoretisch fundierten Zugang zu entwerfen, bietet es sich an, das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen aus systemtheoretisch-semiotischer Perspektive als Interaktion in den Blick zu nehmen. In der Interaktion findet Kommunikation unter gleichzeitig Anwesenden, die sich wechselseitig wahrnehmen können, statt. Mit dem Interaktionsbegriff ist demnach ein kommunikativer Ort bezeichnet, an dem Wirklichkeitsräume konstruiert werden, an dem sich wirklichkeitsbildende Deutungsprozesse zu wahrnehmbaren Gestalten verdichten. Interaktion konstituiert einen kommunikativen Wahrnehmungsraum der Wirklichkeitsbildung, innerhalb dessen sich in der Seelsorge die Vergegenwärtigung des Evangeliums vollzieht. Es wird gezeigt, wie sich das seelsorgliche Spielfeld unter kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten beschreiben lässt, d. h. wie sich Interaktionsfelder als kommunikative Orte faktisch herausbilden (3.2.1) und wie an diesen distinkten Orten mittels verschiedener Deutungsprozesse Wirklichkeiten gebildet und umgebildet werden (3.2.2). Ziel dieser makroskopischen Abgrenzung des Kommunikationsfeldes und dessen mikroskopischem Ausloten ist es, für die Poimenik eine einheitliche theoretische Basis zu schaffen. Dabei gilt es auch zu erkunden, welche Konsequenzen sich aus dieser Sichtweise für die Seelsorge und ihre Theorie ergeben und was es bedeutet, wenn sich das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen in erster Linie als „Gespräch“ bzw. Interaktion ereignet. Im Dialog mit der Beispielsszene von Scharfenberg¹ wird die Theorie sukzessive mit der seelsorglichen Praxis abgeglichen.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden Im soziologischen Sprachgebrauch bezeichnet Interaktion als „Kommunikation unter Anwesenden“ face-to-face-Konstellationen, also Kontakte zwischen Menschen, wie sie sich alltäglich in kleinen Begegnungen ergeben. Im Blick ist der Fall „der flüchtigen Begegnung, des kurzen Gesprächs zwischen Tür und Angel, der
S.o. Einleitung zu Kapitel 3.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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stummen gemeinsamen Fahrt im Eisenbahnabteil, des gemeinsam ungeduldigen Wartens auf das Umschalten der Ampel“,² einer Therapiesitzung, einer Unterrichtsstunde, eines Gottesdiensts oder eines Seelsorgegesprächs. Es ist v. a. der Verdienst von Goffman,³ die Untersuchung der Interaktion als einen eigenständigen Forschungsbereich innerhalb der Soziologie zu etablieren. Neben weiteren Arbeitsschwerpunkten – wie der Theater-Metapher, der Frage nach der Normalität, der Spielanalogie, der Rahmenanalyse sowie Überlegungen zum Ritual und zur Kommunikation⁴ – zieht sich die Interaktionsordnung als zentrales Thema durch das Goffmansche Gesamtwerk.⁵ Bei aller soziologischen Präzision, mit der Goffman interaktionelle Phänomene analysiert, verzichtet er jedoch darauf, eine einheitliche Theorie vorzulegen – ein Manko, das ihm wiederholt den Vorwurf „soziologische[r] Belletristik“ und eines „bloßen Empirismus“⁶ einbringt. Neben dem Fehlen eines theoretisch konsistenten Blickwinkels, das als größtes Defizit des Goffmanschen Ansatzes gelten kann und – im Vergleich mit der elaborierten Begrifflichkeit der Systemtheorie Luhmanns – mit einem Mangel an terminologischer Präzision einhergeht, ist außerdem zu markieren, dass sich die Untersuchung interaktioneller Phänomene an einer klassischen zweistelligen Hermeneutik orientiert, die die Rezeptionsleistung der in die Kommunikation involvierten Deutungsinstanzen unberücksichtig lässt. Zwar zeigen sich Goffmans Überlegungen semiotisch und systemtheoretisch anschlussfähig,⁷ die Analyse der „syntaktischen Beziehungen zwischen den Handlungen verschiedener gleichzeitig anwesender Personen“⁸ wäre jedoch um eine pragmatische Perspektive zu ergänzen.
Anders als mit dem Ansatz Goffmans und im Unterschied zu dem überwiegenden Teil der soziologischen Interaktionsforschung, die in erster Linie empirisch ar-
Luhmann 20055: Einfache Sozialsysteme, 25. Goffman 1971: Interaktionsrituale. Zu den verschiedenen Themen in Goffmans Arbeiten vgl. Knoblauch (1994: Reich, 16 ff). Dies wird u. a. an der letzten von Goffman selbst eingereichten Veröffentlichung „The Interaction Order“ (1983; dt. 1994: Interaktionsordnung) deutlich. Vorbereitet als Ansprache, die er als Präsident der American Sociological Association 1982 halten sollte, hierzu jedoch bereits zu krank war, kann dieser Aufsatz als „eine Art Vermächtnis“ (Knoblauch 1994: Reich, 8) betrachtet werden. Kiss 20003: Vorwort, V. – Die Sekundärliteratur hat sich zur Aufgabe gemacht, dieses Manko zu beheben und die theoretischen Zusammenhänge im Œuvre des zu den soziologischen Klassikern zählenden Gesellschaftstheoretikers aufzuzeigen; vgl. z. B. die Beiträge in dem Band von Hettlage und Lenz (1991: Goffman) sowie die Dissertation von Reiger (20003: Face-to-face), die sich die „Rekonstruktion“ (a.a.O., 5) des Goffmanschen Werkes unter der Frage nach der theoretischen Verallgemeinerungsfähigkeit des Interaktionsmodells zum Ziel setzt. Reiger (20003: Face-to-face, 12 f) weist darauf hin, dass v. a. Goffmans spätere Arbeiten in der Semiotik diskutiert werden. Nicht zu übersehen ist nach Kiss (20003: Vorwort, VII) auch der Einfluss auf den Paradigmawechsel zur Theorie selbstreferentieller Systeme. – Luhmann selbst (1972: Organisierbarkeit, 248 Anm. 10) weist auf die Arbeiten Goffmans zur Interaktion hin. Goffman 1971: Interaktionsrituale, 8; Hervorhebung L.K.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
beitet und meist als „Kontrastprogramm zur theoretischen Einstellung“⁹ auftritt, können mit der Luhmannschen Systemtheorie v. a. die mit der Interaktion implizierten theoretischen Fragestellungen und Herausforderung untersucht werden. Hierin ist ein weiterer Vorteil der Systemtheorie Luhmanns für die vorliegende Arbeit zu sehen.¹⁰ Denn geht es darum, die Poimenik theoretisch zu fundieren, so bietet sich der Rekurs auf eine einheitliche Theorie eher an als der Rückgriff auf im weitesten Sinne empirische Studien. Luhmann selbst stellt seine Überlegungen zur systemtheoretischen Betrachtung der Interaktion nur in programmatischer Kürze oder im Rahmen wissenssoziologischer Forschungen vor.¹¹ Ein deutlicher Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf gesellschaftstheoretischen Themen, die ihre Entsprechung allenfalls in organisationssoziologischen, nicht jedoch in interaktionstheoretischen Fragestellungen finden.¹² Ähnliches kann hinsichtlich der bisherigen Rezeption der Luhmannschen Systemtheorie in der Praktischen Theologie konstatiert werden. Hier wird die von der Systemtheorie vorgenommene „vertikale“ Differenzierung der Gesellschaft in verschiedene soziale Systemtypen – Interaktion, Organisation und Gesellschaft – zunächst unterschätzt.¹³ In diesem Zusammenhang ist auch die erst relativ späte Aufnahme der systemtheoretischen Überlegungen zur Interaktion zu sehen. Während z. B. in der Liturgik oder Religionspädagogik die Bezugnahme bereits erfolgt ist,¹⁴ steht die Erprobung hinsichtlich poimenischer Fragestellungen noch aus.¹⁵ Und dies, obwohl sich die seelsorgliche, ähnlich der gottesdienstlichen und religionsunterrichtlichen
Kieserling 1999: Kommunikation, 7. Zu den anderen Vorzügen s. o. Einleitung zu Kapitel 3. Luhmann 1972: Organisierbarkeit, 271 ff; ders. 1980: Interaktion; ders. 1981: Ausdifferenzierung, 53 ff; ders. 1984: Soziale Systeme, 551 ff; ders. 1997: Gesellschaft, 813 ff; ders. 20055: Einfache Sozialsysteme; ders. 20055: Interaktion; ders. 20054: Schematismen. Nach Kieserling (1999: Kommunikation, 30) entspricht dieser Schwerpunktsetzung die bisherige Rezeption der Systemtheorie in der Soziologie. Vgl. Laube 2000: Kommunikation, 119 f. – Zur praktisch-theologischen Rezeption der Systemtheorie s.o. 1.1. Am detailliertesten rezipiert bislang Dinkel (2000: Gottesdienst, 114 ff) den systemtheoretischen Ansatz zur Interaktion. Während diese Untersuchung auf die gottesdienstliche Kommunikation abhebt, nimmt Karle (2000: Kompetenz, 512 ff; 2001: Pfarrberuf, 59 ff) unter professionstheoretischem Blickwinkel interaktionstheoretische Überlegungen auf. In diesem Zusammenhang finden sich auch erste Überlegungen zur Poimenik (Karle 1999b: Seelsorge, 46 ff), die allerdings einer weiteren Ausarbeitung bedürfen. Unabhängig von diesen Veröffentlichungen erproben Gronover (2006: Religionspädagogik, 30 ff) sowie Büttner und Dieterich (2004: Religion, 133 ff) in aller Kürze eine ähnliche Sichtweise im Rahmen der Religionspädagogik. Ein ähnliches Desiderat ist auch hinsichtlich der systemischen Therapie und Beratung festzustellen. Auch hier steht die Rezeption systemtheoretischer Überlegungen zur Interaktion bislang noch aus; s.o. 1.1.3.1.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
285
Kommunikation, primär interaktionell ereignet. In einer seiner frühen Veröffentlichungen, die sich mit der „Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen“ auseinandersetzt, führt Luhmann das „seelsorgliche[ ] Gespräch“¹⁶ sogar explizit als ein Beispiel für Interaktion an. Im Detail wendet der Luhmann-Schüler Kieserling¹⁷ die Theorie sozialer Systeme auf Interaktionen an und analysiert im strikten Anschluss an die einschlägigen Beiträge Luhmanns die Kommunikation unter Anwesenden mit Hilfe systemtheoretischer Mittel. Dabei liegt nach Kieserling der Vorteil einer systemtheoretischen Beschreibung von Interaktion darin, dass die allgemeine Theorie sozialer Systeme zwei Definiertraditionen von Interaktion integriert und sowohl einen im weitesten Sinne linguistisch-semiotischen als auch einen soziologischen Interaktionsbegriff verfügbar hält.¹⁸ Wird im linguistisch-semiotischen Kontext Interaktion als Kommunikation unter gleichzeitig Anwesenden, die sich gegenseitig wahrnehmen können, verstanden, bestimmt die soziologische Tradition Interaktion als einen Typus sozialer Ordnung, der sich von der umfassenden Sozialordnung der Gesellschaft und von anderen sozialen Systemen innerhalb der Gesellschaft unterscheidet. Im „Bereich der Interaktion selbst“¹⁹ konvergieren diese beiden Vorbegriffe: Die mündliche Kommunikationsweise kann nicht unabhängig vom sozialen Ordnungstyp betrachtet werden, sondern es besteht – allgemein formuliert – ein enger Zusammenhang zwischen Operation und System. Um dieses Verhältnis adäquat zu beschreiben, bietet sich die Systemtheorie Luhmanns an, da diese als Kommunikationstheorie auch über einen Begriff für soziale Systeme verfügt. In systemtheoretischer Perspektive produzieren und reproduzieren sich soziale Systeme ausschließlich durch Kommunikation. Der systemtheoretische Interaktionsbegriff impliziert also bereits eine gewisse semiotische Anschlussfähigkeit. Zu markieren bleibt jedoch, dass sich Kieserlings Ausführungen trotz dieses von ihm selbst konstatierten Anknüpfungspunkts im strikt systemtheoretischen Rahmen bewegen und keinen expliziten Bezug zur Semiotik herstellen. Die Theorie Luhmanns verfügt jedoch nicht nur über Grundbegriffe für Kommunikation und Sozialsystem, sondern abstrahiert diese Kategorien zugleich so stark, dass sie mit dem weit verbreiteten „interaktionistischen Vorurteil“²⁰
Luhmann 1972: Organisierbarkeit, 272. Kieserling 1999: Kommunikation. Vgl. a.a.O., 23 ff. A.a.O., 26. A.a.O., 28; im Original hervorgehoben. Ähnlich Tyrell 2002: Religiöse Kommunikation, 50. – Umgekehrt verzichtet Luhmanns Systembegriff auf das komplementäre Vorurteil. Der Systembegriff ist nicht „sozietalistisch voreingenommen“ (Kieserling 1999: Kommunikation, 29; im
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
bricht. Die mündliche Kommunikation unter Anwesenden kann nicht zwangsläufig als die „eigentliche Form oder das Wesen von Kommunikation schlechthin“²¹ gelten. Der systemtheoretische Kommunikationsbegriff bindet sich gerade nicht an das face-to-face Modell, sondern bezieht andere Kommunikationsmedien wie z. B. Buch und Bild ausdrücklich mit ein.²² Kommunikation kommt überall dort zustande, wo etwas zu verstehen gegeben wird bzw. wo jemand meint, es werde ihm etwas zu verstehen gegeben. Die Annahme, Interaktion sei „authentischer“²³ als bspw. massenmediale oder schriftliche Kommunikation, ist daher nicht haltbar und mag auf der irrtümlichen Auffassung beruhen, dass Interaktion als die „älteste menschliche Kommunikationsform“²⁴ gegenüber anderen Kommunikationsweisen zugleich auch die „intensivere“²⁵ sei. Jedoch ist aus der Evolution der Verbreitungsmedien von Sprache über Schrift und Buchdruck hin zu den elektronischen Medien²⁶ keineswegs auf eine Vorrangstellung der Sprache vor den anderen Medien zu schließen. Damit zusammenhängend wird ebenfalls die Behauptung hinfällig, Interaktionssysteme, die auf Mündlichkeit und Sprache zurückgreifen, seien interaktionsfreien Kommunikationssystemen qualitativ überlegen. Vielmehr operieren Interaktionssysteme unter anderen Kommunikationsbedingungen als Kommunikationssysteme, die von der Bedingung der Anwesenheit ablösbar sind und gerade deshalb in spezifischen Hinsichten anderes und teilweise mehr leisten als Interaktionen. Der Vergleich mit interaktionsfreien Kommunikationsweisen kann daher dazu dienen, die Spezifika der Interaktion zu erhellen und deren Chancen und Grenzen aufzuzeigen. Weniger hilfreich ist dagegen eine Bewertung der unterschiedlichen Kommunikationssysteme, wie sie in einigen praktisch-theologischen
Original hervorgehoben), sondern kann sowohl auf die Gesellschaft als auch auf Organisationen und Interaktionen angewendet werden. Kieserling 1999: Kommunikation, 28. S.u. 4.1. – Ähnlich gelingt mit der Semiotik Ecos die Ablösung von der Linguistik, da „visuelle Codes“ (Eco 19948: Einführung, 195 ff) und „architektonische Codes“ (a.a.O., 293 ff) explizit miteinbezogen werden. Diese Auffassung wird z. B. von Dinkel (2000: Gottesdienst, 120 ff; 2006: Face, 162 ff) und im Anschluss daran von Karle (2000: Kompetenz, 513) vertreten. – In diesem Zusammenhang den Terminus Authentizität bzw. „authentische Öffentlichkeit“, den Dinkel von Welker entlehnt, einzuführen, hat eher geringes Erklärungspotential und ist erläuterungsbedürftig. Wird Authentizität als „gegenseitige Wahrnehmbarkeit“ (vgl. Dinkel 2000: Gottesdienst, 120 f Anm. 31) verstanden, legt es sich nahe, bei diesem Begriff zu bleiben. Angemessener ist es daher auch, von mutualer anstelle von „authentischer Begegnung“ (a.a.O., 157) zu sprechen. Dinkel 2006: Face, 162. Vgl. Dinkel 2000: Gottesdienst, 135. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 190 ff.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
287
Arbeiten zu beobachten ist und dort häufig mit einer grundsätzlichen Kritik an Massenmedien verbunden wird.²⁷ Durch ihre Wahrnehmungsmöglichkeiten stehen der face-to-face Kommunikation z. B. „interaktionelle Kontrollen“²⁸ zur Verfügung, mittels derer die verbalsprachliche Kommunikation mit ihrem wahrnehmbaren Kontext abgeglichen und moduliert werden kann – eine Option, die der Schrift nicht eignet. Diese Möglichkeit mag einerseits das Risiko der Manipulation und Täuschung reduzieren, kann jedoch niemals zu der Gewissheit darüber führen, „daß das Gegenüber wirklich glaubt, was es sagt“²⁹. Andererseits wird Manipulation in der Interaktion gerade durch die mit der Bedingung der Anwesenheit erzeugte Schnelligkeit und die eigentümliche Dynamik dieses Kommunikationstyps erhöht. Dadurch, dass sich die Anwesenden gegenseitig beobachten können und dies auch wissen, entsteht eine „eigene Dichte der Atmosphäre“³⁰, in der Täuschung und Manipulation bis hin zur Fanatisierung und Ideologisierung in ganz anderem Maße möglich sind als bei anderen Kommunikationsweisen, die den Kommunikationsprozess in zeitlicher Hinsicht entzerren oder Iteration ermöglichen. Bereits die Schrift entlastet die Kommunikation vom sozialen Druck und räumt durch die – im Vergleich mit der Interaktion – Entschleunigung des Kommunikationsprozesses dem psychischen System wesentlich mehr Zeit zur Reflexion ein als die face-to-face Begegnung. Ein seelsorglicher Brief oder eine Mail kann mehrfach gelesen werden, während ein Seelsorgegespräch nicht wiederholbar ist. Im Seelsorgegespräch fordert die Kommunikation unmittelbaren Anschluss, die Beantwortung einer Mail oder eines Briefs hingegen kann auch erst nach Wochen erfolgen. Diese Überlegungen machen deutlich, dass die Interaktion ein Sozialsystem eigener Art darstellt. Ereignet sich Seelsorge als Interaktion, so beinhaltet diese Kommunikationsweise bestimmte Spezifika, die es aufzuzeigen gilt. Hierbei wird jedoch nicht die Ansicht vertreten, dass die Kommunikation unter Anwesenden die „eigentliche“ Form von Seelsorge ist, gegenüber der interaktionsfreie Kommunikationsweisen als defizitäre Modi erscheinen. Die seelsorgliche Vergegenwärtigung des Evangeliums lässt sich weder an eine bestimmte Inszenierungsform noch an ein
Diese Tendenz ist z. B. in den Arbeiten von Dinkel (2000: Gottesdienst; 2006: Face) zu beobachten. Luhmann 1997: Gesellschaft, 290. So die Behauptung von Dinkel (2000: Gottesdienst, 121; Hervorhebung L.K). Dinkel 2006: Face, 164. – Im Unterschied zu seiner Habilitationsschrift (2000: Gottesdienst) weist Dinkel hier auch auf die Manipulationsmöglichkeit in Interaktionen – und nicht nur auf die vermeintliche Täuschung durch Schrift und elektronische Medien – hin.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
bestimmtes Kommunikationsmedium binden. ³¹ Vielmehr liegen in jeder seelsorglichen Kommunikationsweise spezifische Grenzen und Chancen. So setzen z. B. Telefon- und Mail-Seelsorge gerade auf anonyme „Gesichtslosigkeit“ und sind so wesentlich niedrigschwelliger als direkte face-to-face Kommunikation bei leiblicher Kopräsenz – zwei Aspekte, auf die die „enorm hohe Akzeptanz“³² dieser Form von Seelsorge zurückzuführen sein mag. Der Vergleich mit interaktionsfreien Kommunikationssystemen oder Interaktionssystemen, die hinsichtlich ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten variieren, lässt demnach die Eigenarten der jeweiligen seelsorglichen Kommunikationsweise hervortreten. Allgemein formuliert, bindet sich religiöse Kommunikation nicht ausschließlich an Interaktion, auch wenn sie eine besondere Affinität zur Kommunikation unter Anwesenden aufweisen mag.³³ Speziell der christlichen Kommunikation sowie der Multiformität des Evangeliums wird die Einschränkung auf einen bestimmten Kommunikationsmodus nicht gerecht. Christliche Religion ist weniger an eine bestimmte Kommunikationsform als vielmehr an die sich in der Christentumsgemeinschaft ereignende Vergegenwärtigung des Evangeliums, das sich für jemanden – Deo volente – als gute Nachricht erweist, gebunden. Dies kann sowohl in einem Gottesdienst face-to-face oder im Fernsehen³⁴ als auch in der persönlichen Bibellese, im Gebet oder beim Lesen einer Internetpredigt geschehen.³⁵
S.o. 2.2.1. Vgl. Dinkel 2000: Gottesdienst, 133. – Anders als Dinkel betrachtet die vorliegende Untersuchung Telefonate ebenfalls als Interaktionen. Zwar setzen sie nicht wie ein „klassisches“ Gespräch leibliche Kopräsenz, jedoch zeitgleiche Kommunikations-„Teilnahme“ voraus, die – wenn auch eingeschränkt – gegenseitige Wahrnehmung ermöglicht; s.u. 3.2.1.2. Zur Bedeutung von Interaktion für religiöse Kommunikation vgl. aus religionssoziologischer Perspektive Tyrell (2002: Religiöse Kommunikation, 47 f; Hervorhebung im Original): „Ich plädiere nun nachhaltig dafür, Interaktionssysteme religionsbezogen stärker in Rechnung zu stellen, und die Frage, die sich religionssoziologisch vor allem aufdrängt und die einstweilen noch kaum gestellt ist, heißt dann: Wie weit kommt es der religiösen Kommunikation, explizit oder implizit, darauf an, daß sie spezifisch oder dominant Interaktion: Kommunikation unter Anwesenden ist?“ Ähnlich bereits Tyrell/Krech/Knoblauch (1998: Kommunikation, 24 ff). Anders als Schrift und Buchdruck nähert sich das Fernsehen der Interaktion wieder an, insofern es die „Synchronizität von ‚Sendung‘ und ‚Empfang‘“ (Tyrell/Krech/Knoblauch 1998: Kommunikation, 29) voraussetzt und sich so ähnlich der Kommunikation unter Anwesenden „oral“ geben kann. Adressiert ist die Kommunikation allerdings an ein „‚disloziertes‘, anonymes Publikum“ (ebd.). Darauf, dass für das Christentum außer der Sprache weitere Kommunikationsmedien eine bedeutende Rolle spielen, wurde bereits oben (2.2.1) hingewiesen. In diesem Zusammenhang wurde mit Tyrell (2002: Religiöse Kommunikation, 49 ff) für ein Zusammendenken der „religiösen Evolution“ des Christentums mit der Evolution der Verbreitungsmedien plädiert.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
289
Dennoch begegnet in der Praktischen Theologie häufig die These, dass die „eigentliche“ christliche Kommunikation die unter Anwesenden sei. Dabei werden die Anfänge der traditionell reformatorischen Präferenz für das Orale bzw. Verbale³⁶ nicht selten irrtümlich auf M. Luther zurückgeführt.³⁷ Die Kommunikation unter Anwesenden wird zur bevorzugten Kommunikationsform, die Verbalsprache zum Leitmedium. Diese Tendenz zieht sich bis in poimenische Modelle hinein, die häufig auf Verbalsprache fokussieren und die Möglichkeiten anderer Kommunikationsmedien übersehen. Eine generelle Privilegierung der Interaktion läuft jedoch nicht nur Gefahr, andere Vollzüge von christlicher Kommunikation, wie sie z. B. in der praktischtheologischen Publizistik³⁸ oder im Rekurs auf Bildtheorien³⁹ thematisiert werden, auszublenden, sondern tendiert darüber hinaus zu der Vorstellung, dass mit der „leibhafte[n] face-to-face-Kommunikation“ die vermeintliche „Urform der Kommunikation des Evangeliums“ gewahrt bleibt.⁴⁰ Damit geraten jedoch die medialen Transformationsprozesse der Kommunikation des Evangeliums im Laufe der „religiösen Evolution“⁴¹ aus dem Blick. Eine Rückkehr zum oral-verbalen Originalmodus der Glaubenskommunikation, wie sie in den Evangelien für die schriftlosen Anfänge der Christenheit schriftlich bezeugt ist, ist daher nicht möglich. Darüber hinaus geschieht das praktisch-theologische Insistieren auf den Vorrang der Interaktion häufig mit gesellschaftskritischer Intention. Zu beobachten ist v. a. die Abgrenzung von den modernen, „faszinierenden“ „neue[n] Medien wie Film und Fernsehen, Comics, Computerspiele[n] und vor allem […] [dem] Internet”.⁴² Findet in den archaischen, vormodernen Gesellschaften die Aus religionssoziologischer Perspektive vgl. Tyrell 2002: Religiöse Kommunikation, 81 ff. Vgl. Dinkel 2000: Gottesdienst, 156; Hervorhebung im Original: „Die existentielle Thematik, um die es in der christlichen Religion geht, bedarf der persönlichen Vermittlung, des mündlichen Wortes, wie Luther klar erkannte.“ – Aus performativer Perspektive wäre jedoch – ebenfalls mit M. Luther – weniger der Primat der Mündlichkeit, als der „Primat der Darstellung“ (Klie 2003: Zeichen, 323) hervorzuheben. Wesentlich für die Vergegenwärtigung des Evangeliums ist das äußerliche Wort, die performativ dargestellte Verheißung. Als leibliches Wort hat die Praxis des Evangeliums Vollzugscharakter; vgl. Leonhard/Klie 2003: Performative Religionspädagogik, 16. Einen Überblick über diese noch recht junge Teildisziplin der Praktischen Theologie gibt Nicol mit zahlreichen Hinweisen auf weitere Literatur (2000: Grundwissen, 183 ff). Dort (a.a.O., 190 ff) sind als publizistische Perspektiven u. a. Presse, Hörfunk, Fernsehen, Kino und Film sowie Internet angegeben. Stoellger/Klie 2010: Präsenz. Vgl. Preul 2000: Kommunikation, 12. Tyrell 2002: Religiöse Kommunikation, 47. Dinkel 2006: Face, 161. Ebd.; Hervorhebung im Original: „[D]ie Religion […] lässt sich nicht beliebig internet- und medienfähig machen. Die christliche Religion ist […] in elementaren
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gesamte gesellschaftliche Kommunikation in der Form von Interaktion statt, so koppelt sich diese im Laufe der „soziokulturellen Evolution“⁴³ – von der segmentäreren über die stratifikatorische hin zur funktional differenzierten Gesellschaftsform – immer weiter von der Interaktion ab. In der modernen Gesellschaft greift die Kommunikation zunehmend auf elektronische Medien zurück und findet zu einem großen Teil massenmedial statt.⁴⁴ Insbesondere im Hinblick auf die Überlegungen von Dinkel legt sich die Vermutung einer kritischen Position gegenüber dieser modernen Gesellschaft nahe. Hier wird die interaktionelle Form des Gottesdienstes als „eine echte Alternative und ein echtes Gegengewicht zur massenmedial gestützten Öffentlichkeit“⁴⁵ dargestellt. Dies ist jedoch ebenso wenig hilfreich, wie die in diesem Zusammenhang veranschlagte Unterscheidung zwischen massenmedial erzeugter Fiktion und interaktioneller Realität bzw. Authentizität.⁴⁶ Die Annahme, dass in der Interaktion wahrgenommen werden könnte, „was tatsächlich geschieht“,⁴⁷ erweist sich aus konstruktivistischer Perspektive als Illusion. Denn sowohl Massenmedien als auch Interaktionen bilden gleichermaßen kommunikative Wirklichkeiten,⁴⁸ die aus Sicht eines Beobachters sowohl „real“ als auch „fiktional“ bzw. möglich oder weniger möglich sein können. Dabei ist es durchaus vorstellbar, dass eine vermeintliche „Fiktion“ zur „Realität“ wird, oder umgekehrt die vermeintliche „Realität“ zur „Fiktion“. Außerdem ist die Verringerung der gesamtgesellschaftlichen Relevanz von Interaktionen in der modernen Gesellschaft nicht mit der Beziehungslosigkeit zwischen diesen Systembildungsebenen gleichzusetzen.⁴⁹ Bei Gerichtsprozessen,Verträgen
Vollzügen auf die interaktive Bezeugung des Glaubens und damit auf die alte, schwerfällige und irritationsgefährdete Kommunikation unter körperlich anwesenden Personen […] angewiesen. Bei all den verlockenden Chancen neuer Medien werden die zentralen religiösen Ereignisse wie Gottesdienst, Seelsorge und religiöser Unterricht auch künftig interaktiv anlaufen. Für das Entstehen und für die Pflege des Glaubens ist die Situation des face-to-face unverzichtbar.“ Tyrell 2002: Religiöse Kommunikation, 47. Vgl. Luhmann 19962: Realität, 9: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ Dinkel 2000: Gottesdienst, 124; Hervorhebung im Original. Dinkel (a.a.O., 123 f) schließt hier an Welker an. – Ähnlich unterscheidet Karle (2000: Kompetenz, 513) zwischen virtueller, leicht manipulierbarer Realität der Massenmedien und realistischer, glaubwürdiger Öffentlichkeit der Interaktion. Karle 2000: Kompetenz, 513; Hervorhebung L.K. Luhmann 1997: Gesellschaft, 1102; Hervorhebungen im Original: „Es hat […] wenig Sinn, zu fragen, ob und wie die Massenmedien eine vorhandene Realität verzerrt wiedergeben; sie erzeugen eine Beschreibung der Realität, eine Weltkonstruktion, und das ist die Realität, an der die Gesellschaft sich orientiert.“ Vgl. auch Luhmanns Schrift „Die Realität der Massenmedien“ (19962; Hervorhebung L.K.). Vgl. Luhmann 1980: Interaktion, 158.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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zwischen Staaten oder Tarifpartnern, Auslandsreisen von Politikern und wissenschaftlichen Kongressen greift die Gesellschaft regelmäßig auf Interaktionen zurück. Auch Verzeihung und Versöhnung scheint nur bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit von Tätern und Opfern möglich zu sein.⁵⁰ Ebenso finden weiterhin Gottesdienste, Konfirmanden- und Religionsunterricht sowie Seelsorge regelmäßig als face-to-face Begegnungen statt. Auch Professionsberufe, zu denen der Pfarrberuf zusammen mit der Berufsgruppe der Mediziner, Juristen und Lehrer professionssoziologisch gezählt wird, sind und bleiben auf Interaktionen angewiesen.⁵¹ Denn die Funktion der Professionen ist es, „kulturell relevante Sachthematiken“⁵² wie Krankheit, Schuld, Erziehung und Seelenheil in der „persönlichen Begegnung mit anderen Menschen“⁵³ zu vermitteln. Insofern Professionen auf derartige existentielle Lebenssituationen abzielen, erfordern sie das Vertrauen⁵⁴ in die Person, die einen Professionsberuf ausübt. Aus dieser Perspektive legt sich eine Präferenz für Interaktion nahe. Denn Vertrauen in Personen entsteht mit höherer Wahrscheinlichkeit in der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, in der aufgrund verschiedener Wahrnehmungskanäle weit mehr Informationen über eine Person zur Verfügung stehen als in gesichtslos-anonymer bzw. pseudonymer Kommunikation, wie sie z. B. das Internet ermöglicht. Interaktion zwingt die an der Kom-
Auf diese Interaktionen in der modernen Gesellschaft weist Dinkel (2000: Gottesdienst, 156) hin. Zur Interaktionsabhängigkeit der Profession sowie zum „Pfarrberuf als Profession“ vgl. Karle (1999b: Seelsorge; 2000: Kompetenz; 2001: Pfarrberuf), die an die professionssoziologische Arbeit von Stichweh (1994: Wissenschaft) anschließt; in Anlehnung an Karle vgl. auch Dinkel (2000: Gottesdienst, 116 u. ö.). Karle 1999b: Seelsorge, 41; im Original hervorgehoben. Ebd.; Hervorhebung im Original. Systemtheoretisch stellt sich Vertrauen als ein „Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität“ (so der Untertitel von Luhmann 19732: Vertrauen; vgl. auch ders. 1984: Soziale Systeme, 179 ff) dar. Vertrauen bzw. Misstrauen entsteht dann, wenn das sich Einlassen auf eine Situation mit doppelter Kontingenz als besonders riskant empfunden wird. „Der andere kann anders handeln, als ich erwarte; und er kann, gerade wenn und gerade weil er weiß, was ich erwarte, anders handeln als ich erwarte“ (Luhmann 1984: Soziale Systeme, 179). Als Strategie dazu, diese „immer präsente Angstschwelle“ (ebd.) zu überwinden und das Zustandekommen sozialer Beziehungen zu ermöglichen, dient die Differenz von Vertrauen und Misstrauen. Dabei gilt Vertrauen als „die Strategie mit der größeren Reichweite. Wer Vertrauen schenkt, erweitert sein Handlungspotential beträchtlich. […] Mißtrauen ist die stärker einschränkende (aber immer noch erweiternde) Strategie. Man läßt sich auf ein Risiko nur ein, wenn man für Eventualitäten vorgebeugt hat“ (a.a.O., 180). In der funktional differenzierten Gesellschaft kann zwischen Personen- und Systemvertrauen unterschieden werden.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
munikation beteiligten Personen permanent zur (Selbst‐)Darstellung.⁵⁵ Als Objekt des Vertrauens wird der /Pfarrer/ bzw. /Seelsorger/ zum Symbolkomplex – semiotisch: zum Signifikanten im kommunikativen Deutungsprozess – der als Vertreter einer Profession gleichsam ein gesellschaftliches Funktionssystem repräsentiert⁵⁶ und an den deshalb die Erwartung professionalisierter religiöser Kommunikation gerichtet wird. An den Pfarrer bzw. Seelsorger wird der Anspruch „berufsethischer Orientierung und professionsethischer Kompetenz“⁵⁷ gestellt. Für den Pfarrberuf ist es v. a. die Verpflichtung auf Amtsverschwiegenheit, das Beichtgeheimnis sowie die Präsenz- und Residenzpflicht, die als professionsethische Mechanismen zum Aufbau und Schutz einer auf Vertrauen gründenden Kommunikation fungieren. Bezogen auf die jeweilige Kommunikationssituation, fordert diese von der an der Kommunikation als /Pfarrer/ beteiligten Person pastorale, d. h. liturgische, pädagogische, homiletische oder seelsorgliche Präsenz.⁵⁸ Die Systemtheorie beschreibt die Interaktion als einfaches Sozialsystem, das sich als Kommunikation unter Anwesenden unter der vorsozialen Voraussetzung reflexiver Wahrnehmung bildet. Einfach sind Interaktionssysteme allerdings nicht „im Sinne eines nicht weiter analysierbaren Sachverhaltes“⁵⁹, sondern sie sind „einfach im Sinne einer unmittelbaren Überschaubarkeit für alle Beteiligten“⁶⁰. Zwar bezeichnet Interaktion den am wenigsten komplexen Systemtypus, dennoch handelt es sich um eine „in jeder Hinsicht anspruchsvolle Form von sozialer Ordnung“⁶¹. Ausdifferenziert nach der Leitdifferenz anwesend/abwesend schließen Interaktionssysteme alles ein, was als anwesend behandelt werden kann. Das Abgrenzungskriterium der Anwesenheit bringt die besondere Bedeutung von Wahrnehmungsprozessen zur Geltung: Nehmen sich Anwesende wechselseitig wahr, ist Kommunikation unvermeidlich. Durch die für die Interaktion spezifische Kopplung von Kommunikationsprozessen an Wahrnehmungsprozesse, wird die
S.u. 3.2.1.3.2 und 4.4. Es wundert daher nicht, dass der /Pfarrer/ in den EKD-Mitgliederbefragungen regelmäßig als Schlüsselfigur bezeichnet wird; vgl. Karle 2000: Kompetenz, 510. Vgl. Karle 2000: Kompetenz, 515 ff. Nachdem die Kategorie der Präsenz in der Liturgik (Meyer-Blanck 1996: Inszenierung; ders. 2002: Inszenierung; Kabel 20032 und 2007: Handbuch Bd. 1 und Bd. 2), Religionspädagogik (Stäblein 2003: Pädagogische Präsenz) und Homiletik (Meyer-Blanck/Seip/Spielberg 2010: Homiletische Präsenz) Eingang gefunden hat, ist analog eine seelsorgliche Präsenz zu entwerfen; s.u. Kapitel 4. Luhmann 20055: Einfache Sozialsysteme, 26. Ebd. Kieserling 1999: Kommunikation, 7.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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Interaktion zu einem komplexen, dynamischen, sozial unruhigen und irritationsanfälligen (Sozial)System, in dem – semiotisch formuliert – verschiedene Codes ineinander verschlungen sind. Im Unterschied zu anderen Sozialsystemen zeichnet sich die Interaktion durch das Zusammenspiel von Kommunikation (3.2.1.1), Anwesenheit (3.2.1.2) und (reflexiver) Wahrnehmung (3.2.1.3) aus. Um zu analysieren, wie sich Interaktionsfelder als kommunikative Orte der Seelsorge faktisch herausbilden, bietet es sich deshalb an, auf das wechselseitige Verhältnis dieser drei Kategorien einzugehen.
3.2.1.1 Interaktion: Ein präsentisches Kommunikationssystem Die Systemtheorie bestimmt Interaktionssysteme nicht handlungs-, sondern strikt kommunikationstheoretisch: Als Kommunikation unter Anwesenden differenzieren sich Interaktionen in der Gesellschaft als Kommunikationssysteme aus. Kommunikation wird hier verstanden als die basale Einheit der operativen Selbstproduktion sozialer Systeme.⁶² Im autopoietischen Prozessieren schließt Kommunikation an Kommunikation an und grenzt so das Sozialsystem von seiner Umwelt ab. Da sich dieser operative Vollzug des Systems nur geschlossen ereignet – andernfalls würde die System/Umwelt-Differenz hinfällig –, hat dies weitreichende Konsequenzen für das Verständnis von Kommunikation und damit auch für das Kommunikationssystem Interaktion: „Nicht der Mensch kann kommunizieren, nur die Kommunikation kann kommunizieren.“⁶³ Treffen also, wie in dem Beispiel von Scharfenberg⁶⁴ beschrieben, eine Seelsorge suchende Frau und ein Seelsorger aufeinander, so besteht die sich dabei ausdifferenzierende Interaktion etwa nicht aus zwei handelnden Subjekten,⁶⁵ sondern allein aus der Operation „Kommunikation“, präziser: aus einer autopoietischen Aneinanderreihung von Kommunikationen. Die häufig in der systemischen Therapie und in Folge in der systemischen Seelsorge anzutreffende Auffassung, Interaktion bezeichne eine meist nicht näher definierte Beziehung zwischen Subjekten,⁶⁶ ist ebenso unpräzise wie irreführend.
Luhmann 1997: Gesellschaft, 81: „Kommunikation […] ist eine genuin soziale (und die einzige genuin soziale) Operation.“ – Zu den grundlegenden Theoremen von System- und Zeichentheorie s.o. 1.1.1. Zum konstruktivistischen Zug des systemtheoretischen Kommunikationsbegriff s.o. 3.1.1. Luhmann 1997: Gesellschaft, 105. S.o. Einleitung zu Kapitel 3. Vgl. Luhmann 20055: Einfache Sozialsysteme, 25: „Hier ist das menschliche Individuum eine zu kompakte, gleichsam zu anspruchsvolle Größe, die einer schärferen Analyse der Strukturen sozialer Interaktion im Wege steht.“ Zur systemischen Therapie und Seelsorge s.o. 1.1.3.
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Dieses systemtheoretische Verständnis von Kommunikation schließt allerdings nicht aus, dass kommunikatives Verhalten als Handlung erscheint, d. h. Kommunikation auf Handlung verkürzt und den jeweiligen Kommunikaten nachträglich zugerechnet wird.⁶⁷ Dieses nach Luhmann „stark unrealistische[ ] Verhalten“⁶⁸, die Zurechnung von alltagsweltlichem Handeln auf Individuen, kann nach Meinung des Soziologen „nur mit einem Bedarf für Reduktion von Komplexität erklärt werden“⁶⁹. Gemäß dieser Alltagspraxis wird auch die seelsorgliche Interaktion die Begrüßungsszene, die sich im Anschluss an das Scharfenbergsche Beispiel so oder so ähnlich nach dem Eintreten der Frau in das Zimmer des Seelsorgers ereignet, der Frau und dem Seelsorger entsprechend zurechnen: „Guten Tag. – Grüß Gott. – Bitte, setzen Sie sich doch. – Danke.“ Die an der Kommunikation beteiligten Personen⁷⁰ fungieren auf diese Weise als verantwortliche Adressen der Kommunikation. Der Kommunikationsbegriff Luhmanns impliziert damit zugleich einen Handlungsbegriff, der sich explizit von gegenwärtig geläufigen Handlungstheorien abgrenzt.⁷¹ Die Bestimmung von „Handlung“ als zugerechnete Kommunikation, könnte auch die Praktische Theologie zu einer Reflexion des von ihr in Anspruch genommenen Handlungsbegriffs anregen. Dieser könnte vor systemtheoretischen Hintergrund hinsichtlich verschiedener Fragestellungen durchdekliniert werden und neue Sichtweisen eröffnen. Ein konstruktiver Beitrag ist z. B. zur (terminologischen) Präzisierung des in der Praktischen Theologie häufig gebrauchten, jedoch theoretisch meist nicht näher definierten Ritualbegriffs vorstellbar.⁷² So wäre aus der hier vertretenen Perspektive ein Ritual als eine Wirklichkeit performierende, fest geprägte Kommunikationsform aufzufassen.
Vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 228: „Handlungen werden durch Zurechnungsprozesse konstituiert.“ A.a.O., 229. Ebd. Mit „Person“ ist in der Systemtheorie Luhmanns die „soziale[ ] Identifikation eines Komplexes von Erwartungen […], die an einen Einzelmenschen gerichtet werden“ (Luhmann 1984: Soziale Systeme, 286) bezeichnet. Dabei sind Personen weniger als lebende Wesen, sondern als Konstruktionen der Kommunikation für Zwecke der Kommunikation zu verstehen. Zur Beschreibung von Person als Zwei-Seiten-Form vgl. Luhmann 20052: Form. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 86 und 332 ff. – Zum Verhältnis von Handlung und Kommunikation vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 226 ff. „[M]otiviert durch den inflationären Gebrauch des Ritualbegriffs“ unternimmt Klie (2009: Ritual; Zitat 97) eine „terminologische Umformatierung“. – Auf den Ritualbegriff der vorliegenden Untersuchung wird im Zusammenhang spezifisch christlich codierter Rituale in der Seelsorge eingegangen; s.u. 3.2.2.2.2.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
295
Es ist ausgeschlossen, dass das Aufgreifen der face-to-face Kommunikation in eine gesellschaftskritische Richtung tendiert. Als ephemere, triviale, kurzfristige System/Umwelt-Unterscheidung ohne weiteren Formzwang bilden Interaktionen die minimale Ebene der Produktion von Kommunikation und sind damit selbst „Vollzug von Gesellschaft in der Gesellschaft“⁷³. Denn „alles, was Kommunikation ist, ist Gesellschaft.“⁷⁴ Ohne Interaktionen wäre kein soziales System möglich: „Die Großformen der gesellschaftlichen Teilsysteme schwimmen auf einem Meer ständig neu gebildeter und wieder aufgelöster Kleinsysteme.“⁷⁵ Dabei sind Gesellschaft und Interaktion nicht identisch. Weder lässt sich die Gesellschaft in einzelne Interaktionen zerlegen, noch die Summe aller Interaktionen zum Gesellschaftssystem zusammenfügen. Das Gesellschaftssystem ist vielmehr Voraussetzung dafür, dass sich in der Gesellschaft Interaktionen distinguieren, und bleibt zugleich Umwelt des Interaktionssystems.⁷⁶ Ebenso wie die Systemtheorie den Terminus Interaktion gängiger AlltagsSemantik enthebt, bestimmt sie den Kommunikationsbegriff neu. Kommunikation bezeichnet einen dreistelligen Selektionsprozess, in dem der Unterschied von Information und Mitteilung beobachtet, d. h. verstanden wird. Kommunikation wird als eine Synthese aus den drei, in sich selbst kontingenten Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen vorgestellt. Konstitutiv für das Zustandekommen von Kommunikation ist das Verstehen, das nachträglich Kommunikation generiert. Von Kommunikation, speziell von religiöser Kommunikation, kann also auch dann gesprochen werden, wenn z. B. ein Gewitter als Mitteilung des göttlichen Zorns verstanden oder ein Traum auf Handlungskonsequenzen hin gedeutet wird.⁷⁷ Da Kommunikation nur von der dritten Selektion aus verstanden werden kann, bezeichnet Ego den Adressaten und Alter den Mitteilenden. Die Kommunikanten Ego und Alter fungieren als Zurechnungsfiguren der Selektionstriade. Hierbei kann der Akzent der Zurechnung entweder auf Information (Erleben) oder auf Mitteilung (Handlung) gelegt werden. Wird eine Selektion dem System selbst zugerechnet, kann von Handlung gesprochen werden, wird sie der Umwelt zu Luhmann 1997: Gesellschaft, 814; vgl. ders. 1984: Soziale Systeme, 555: „Gesellschaft betreibt Kommunikation, und was immer Kommunikation betreibt, ist Gesellschaft.“ Luhmann 1984: Soziale Systeme, 555. Luhmann 1997: Gesellschaft, 812. Vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 568: „Ohne Differenz zu Gesellschaft wäre keine Interaktion, ohne Differenz zu Interaktion wäre keine Gesellschaft möglich.“ – Zum Verhältnis von Interaktion und Gesellschaft vgl. z. B. Luhmann (a.a.O., 566 ff und 573 ff) und Kieserling (1999: Kommunikation, 213 ff). – Im Zusammenhang mit der Frage nach einer möglichen religiösen Codierung von Interaktion wird die systemtheoretische Bestimmung des Differenzverhältnisses von Gesellschaft und Interaktion erneut relevant s.u. 3.2.2.2.2. Auf diese Möglichkeit weist Tyrell (2002: Religiöse Kommunikation, 50 Anm. 32) hin.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
gerechnet, von Erleben. Die Identifikation von Mitteilung als Handlung bzw. von Information als Erleben ist dabei stets das Konstrukt eines Beobachters. Das Wesentliche des Kommunikationsprozesses liegt im rezeptiven Deutungsgeschehen und nicht länger in der Mitteilung bzw. im Übertragungsakt, wie es traditionelle kommunikationstheoretische Modelle anzeigen. Suggeriert die Übertragungsmetapher, dass die Kommunikation ein zweistelliger Prozess sei, in dem ein Absender einem Empfänger „etwas“ übergibt, so zielt der systemtheoretische Kommunikationsbegriff – analog dem Kommunikationsbegriff der Semiotik Ecos – in eine im weitesten Sinne rezeptionsästhetische Richtung. Eines der Spezifika der interaktionellen Kommunikation liegt darin, dass in der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht die drei Selektionen der Kommunikation nahezu gleichzeitig sind.Während Schrift die Kommunikation zeitlich und räumlich dadurch entzerrt, dass die Selektion des Verstehens erst später und an einem anderen Ort als die Verschriftung erfolgen kann – die Bibel wird z. B. weltweit auch noch Jahrhunderte nach ihrer Niederschrift gelesen –, duldet die Kommunikation unter Anwesenden kaum Verzögerungen. Solange das Interaktionssystem „existiert“, fordert es den unmittelbaren Anschluss von Kommunikation an Kommunikation und beschleunigt auf diese Weise das Kommunikationsgeschehen enorm. Das Verstehen der Differenz von Information und Mitteilung setzt in der Interaktion den direkten Anschluss einer neuen Selektionstriade in Gang. Die Interaktion zeichnet sich jedoch nicht nur durch kurzschrittige Interpunktion zwischen den Kommunikationseinheiten, sondern auch durch besondere Flüchtigkeit aus. Im Unterschied zur Sprache schreibt Schrift eine Mitteilungsabsicht regelrecht fest. Während gesprochene Worte bereits beim Aussprechen wieder verhallen, kann ein Text als wiederholbare Mitteilung verstanden und die Selektion des Verstehens bei jedem Lesevorgang wiederholt werden. Eine derartige Iteration ist dem „‚präsentischen‘ Kommunikationssystem der Interaktion“⁷⁸ nicht möglich. Vor dem Hintergrund der alle Kommunikation umfassenden Gesellschaft zerfallen Interaktionssysteme genauso schnell wieder, wie sie entstanden sind. Poimenisch ausgedrückt: Die „günstige Gelegenheit“ (T. Lohse) einer Begegnung ist nicht wiederholbar.⁷⁹ Der Kairos macht die seelsorgliche Interaktion zu einem einmaligen Ereignis, das sich weder iterieren noch auf einen späteren Zeitpunkt verschieben lässt.⁸⁰
Vgl. Tyrell/Krech/Knoblauch 1998: Kommunikation, 26 u. ö. S.o. 2.2.2. Zur seelsorglichen Kommunikation als ein Geschehen in der Zeit s.u. 4.2.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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In der face-to-face Kommunikation erfolgt die Rezeption von Zeichen simultan mit der Produktion von Zeichen. Die Anwesenden können sich allein aufgrund ihrer Anwesenheit der Kommunikation nicht entziehen. Der „soziale Druck“⁸¹, der sich in Gestalt der anwesenden anderen aufbaut, findet keine Entsprechung in anderen Sozialsystemen. „Es gibt […] keine Möglichkeit, dem ‚Kleben der Blicke‘ (Luhmann) auszuweichen.“⁸² Es ist nicht zu verhindern, dass das Verhalten vom Gegenüber als Mitteilung verstanden wird und umgekehrt. Sobald die Frau in das Zimmer das Seelsorgers eintritt, ist es unvermeidlich, dass ihr Kleidungsstil, ihre Frisur, ihre Art sich zu Schminken, kurz: ihr gesamtes Auftreten auf der interaktionellen „Bühne“ unwillkürlich als Mitteilung über eine bestimmte Lebensweise verstanden und auf eine bestimmte Art der (lebensweltlichen) Wirklichkeitskonstruktion hin gedeutet wird. Zeitgleich decodiert die Frau die Erscheinung des /Seelsorgers/ idiolektal⁸³ als «früheren Tanzstundenherr». Auf diese Weise zwingt die Interaktion sowohl die Frau als auch den Seelsorger faktisch zur Selbstdarstellung. Aus poimenischer Perspektive wird dann die Frage interessant, wie dieses Faktum im Hinblick auf intendierte Formgebungsprozesse taktisch in Anspruch genommen werden kann.⁸⁴ Die Systemtheorie Luhmanns stellt die Kommunikation als diejenige Operation vor, die die Autopoiese⁸⁵ sozialer Systeme durchführt und das System gegen seine Umwelt abgrenzt. Das heißt, Kommunikation kann nur im rekursiven Zusammenhang mit anderen Kommunikationen erzeugt werden: „Autopoietische Systeme sind Systeme, die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst erzeugen. Die Elemente (und zeitlich gesehen sind das Operationen), aus denen autopoietische Systeme bestehen, haben keine unabhängige Existenz. […] Sie werden vielmehr im System erst erzeugt, und zwar dadurch, daß sie […] als Unterschiede in Anspruch genommen werden. Elemente sind Informationen, sind Unterschiede, die im System einen Unterschied machen. Und insofern sind es Einheiten der Verwendung zur Produktion weiterer Einheiten der Verwendung, für die es in der Umwelt des Systems keinerlei Entsprechung gibt.“⁸⁶
Vgl. Tyrell/Krech/Knoblauch 1998: Kommunikation, 27. Kieserling 1999: Kommunikation, 48. Vgl. Eco 19948: Einführung, 151; Hervorhebung im Original: „[A]ls Idiolekt wird der private und individuelle Code eines einzigen Sprechers definiert“. S.u. 4.4. Zu den weitreichenden erkenntnistheoretischen Konsequenzen der Autopoiese-Theorie s. o. 3.1.1. Luhmann 1997: Gesellschaft, 65 f; Hervorhebung im Original.
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Der Autopoiese-Begriff besitzt einen recht „geringen Erklärungswert“⁸⁷. Autopoiesis stellt sich für das jeweilige System als ein „invariantes Prinzip“⁸⁸ dar, das allerdings nichts über die „Produktion einer bestimmten ‚Gestalt‘“⁸⁹ aussagt. Die Theorie der Autopoiese besagt, dass man von den spezifischen Operationen eines Systems, die ein System reproduzieren, auszugehen hat – und genau in diesem Punkt ist mit dem Autopoiesis-Begriff ein Ausgangspunkt für konkretere Analysen gewonnen. Sie sagt jedoch nichts darüber aus, welche spezifischen Strukturen sich in autopoietischen Systemen aufgrund ihrer strukturellen Kopplung mit der Umwelt entwickeln bzw. entwickelt haben. Bereits in der Biologie, in dessen Rahmen der Autopoiesis-Begriff erstmals begegnet,⁹⁰ kann Autopoiesis nicht die Differenz zwischen Würmern, Menschen,Vögeln und Fischen als Ergebnis der Autopoiesis des Lebens erklären. Ebenso sagt die autopoietische Operation der Kommunikation nichts darüber aus, welche Art von Sozialsystem – z. B. was für eine Gesellschaft oder was für ein Interaktionssystem – erzeugt wird. Um Aussagen über die Richtung der Systemstruktur oder über strukturelle Kopplungen treffen zu können, muss deshalb das System selbst untersucht werden. Autopoiesis bezeichnet also zunächst die Erzeugung der Differenz von System und Umwelt, d. h. die Erzeugung einer systeminternen Unbestimmtheit, die nur durch systemeigene Strukturbildungen reduziert werden kann. Insofern gestaltet ein sich autopoietisch ausdifferenzierendes System das Verhältnis zu seiner Umwelt selbst. Durch was und wie es sich irritieren lässt, entscheidet allein das System. Der Autopoiesis-Begriff zeigt in diesem Zusammenhang an, dass das System auf struktureller und operativer Ebene autonom ist, und es weder Input noch Output von Elementen in das System oder aus dem System geben kann.
Kommunikationssysteme operieren zwar geschlossen, ohne jeglichen Kontakt zu ihrer Umwelt, setzen jedoch, um sich autopoietisch reproduzieren zu können, stets Umwelt voraus. Denn mit operativer Geschlossenheit ist keineswegs Abgeschlossenheit eines Systems gemeint. Der Systembegriff kann deshalb nicht isoliert vom Umweltbegriff betrachtet werden, sondern verweist vielmehr auf diesen. Dies folgt bereits aus dem differenztheoretischen Ansatz der Luhmannschen Systemtheorie: Als zwei Seiten einer Form⁹¹ konstituieren sich System und Umwelt wechselseitig.⁹² In diesem Sinne verweisen Kommunikationssysteme stets auf „eine Mehrheit von mitwirkenden Bewußtseinssystemen“,⁹³ die die Voraussetzung für die auto A.a.O., 66. Ebd. Ebd. Maturana 1982: Erkennen. Im Anschluss an das Formenkalkül von Spencer Brown (1979: Laws) bezeichnet die ZweiSeiten-Form die Einheit der Differenz; vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 60 ff; s. o. 3.1.1. Vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 242; Hervorhebung im Original: Das „Umweltverhältnis [ist] konstitutiv für Systembildung.“ – Die Differenz von System und Umwelt gilt als das „zentrale Paradigma der neueren Systemtheorie“ (ebd.); zu dieser systemtheoretisch grundlegenden Unterscheidung vgl. a.a.O., 242 ff. Luhmann 1997: Gesellschaft, 81.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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poietische Ausdifferenzierung von Kommunikation bilden: „Ohne Bewußtsein ist Kommunikation unmöglich. Kommunikation ist total (in jeder Operation) auf Bewußtsein angewiesen“.⁹⁴ Die strukturelle Kopplung jeder Kommunikation an Bewusstsein⁹⁵ hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Kommunikation auf Wahrnehmungsleistungen angewiesen ist, nicht aber die Kommunikation, sondern nur das Bewusstsein wahrnehmen kann.⁹⁶ Als Theorie sozialer Systeme verzichtet die Systemtheorie Luhmanns darauf, ein einheitliches Bewusstseinskonzept vorzulegen. Im Unterschied zum Kommunikationsbegriff, der systemtheoretisch neu bestimmt wird, liegt mit dem Luhmannschen Ansatz keine ähnliche Umformulierung des Bewusstseinsbegriffs vor.⁹⁷ Wird Bewusstsein, ebenso wie ein Kommunikationssystem, als autopoietisches, operational geschlossenes System bestimmt, so geschieht dies nach Luhmanns eigenen Angaben „ohne Kontakt mit der Tradition der Bewußtseinsphilosophie“.⁹⁸ Der Bewusstseinsbegriff ist explizit nicht an den klassischen Terminus des Subjekts gebunden. Das psychische System wird verstanden als ein entsubjektiviertes, beobachtbares beobachtendes System. Dass die Systemtheorie nicht auf die Ausarbeitung einer kohärenten Bewusstseinstheorie zielt, wird bereits an dem terminologischen Changieren zwischen „Bewusstsein“ und „psychischem System“ deutlich. Auch wenn das Bewusstsein die operative Einheit des psychischen Systems bezeichnet,⁹⁹ werden beiden Termini häufig synonym gebraucht¹⁰⁰ – eine Inkonsequenz, die hinsichtlich des Sprachgebrauchs von „sozialem System“ und „Kommunikation“ nicht zu beobachten ist: Kommunikation ist klar als genuine Operation sozialer Systeme bestimmt. Weniger deutlich ist dagegen, was als Element psychischer Systeme gelten kann. Während die Sekundärliteratur meist auf Gedanken als Operation
A.a.O., 103; Hervorhebungen im Original. Vgl. ebd.: „[A]lle Kommunikation [ist] strukturell gekoppelt an Bewußtsein.“ S.u. 3.2.1.3. Zum Bewusstsein bzw. zum psychischen System vgl. v. a. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 346 ff; ders. 1990: Wissenschaft, 19 ff; ders. 20052: Autopoiesis. Hierzu auch Jahraus (2001: Bewußtsein, 28 ff), Fuchs (2003: System) und Konopka (1994: System). Luhmann 20052: Autopoiesis, 55. Vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 355: Unter „Bewusstsein“ wird „der spezifische Operationsmodus psychischer Systeme“ verstanden. Auf diese terminologische Inkonsequenz weist auch Krause (20054: Luhmann-Lexikon, 237) hin. Ebenfalls fällt Fuchs (2003: System, 28; Hervorhebungen im Original) auf, „dass die Theorie [Luhmanns; L.K.] […] sich nicht ganz schlüssig darüber ist, worauf sie eigentlich referiert, wenn sie die relevante Umwelt sozialer Systeme in den Blick nimmt. Sie hat sich nicht endgültig entschieden, ob sie diese Umwelt als psychische Umwelt mit dem Terminus des psychischen Systems belegen soll, mit dem des Bewusstseins oder gar mit dem des personalen Systems. […] Der Ausdruck psychisches System wird jedenfalls in der Systemtheorie eher rhetorisch als systematisch verwendet. Mit ihm wird die generell turbulente, irgendwie zu psychischen Operationen befähigte Umwelt sozialer Systeme plakatiert. Sobald es und je mehr es um eine Beschreibung dieser Umwelt geht, wird die Terminologie umgelagert auf Bewusstsein“.
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psychischer Systeme verweist,¹⁰¹ setzt Luhmann u. a. in seiner Einführungsvorlesung an einem anderen Punkt an. Dort ist die Rede von der „Theorieentscheidung […], die das Bewusstsein sehr stark unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmungsleistung sieht und diese und nicht so sehr das Denken als seine Hauptleistung ansieht. Das Denken geht viel zu leicht schief, als dass man die Existenz des Bewusstseins oder seine Autopoiesis auf es gründen könnte, aber Wahrnehmen ist eine außerordentlich anforderungsreiche, komplexe Einrichtung des Simultanprozessieren abhängig vom Gehirn und so weiter.“¹⁰² Ausgehend von dieser „Theorieentscheidung“ geht es der vorliegenden Untersuchung ebenso wie der Systemtheorie Luhmanns nicht um die Darlegung eines Bewusstseinskonzepts – v. a. nicht im Sinne des Idealismus oder der Bewusstseinsphilosophie. Das Interesse richtet sich vielmehr auf das Bewusstsein als eine Seite der Differenz von Kommunikation und Bewusstsein bzw. psychischem und sozialem System. Mit anderen Worten: Bewusstsein, v. a. das wahrnehmende Bewusstsein ist als die für Kommunikation relevante Umwelt im Blick. In diesem Sinne wird im Zusammenhang der sinnhaften Kopplungen auf die Kategorie des Bewusstseins zurückzukommen sein.¹⁰³
Kommunikation setzt zwar immer Bewusstsein voraus, kann jedoch keinem Einzelbewusstsein zugerechnet werden, so dass das Bewusstsein niemals Subjekt oder in irgendeinem anderen Sinne „Träger“ der Kommunikation sein kann. Folglich haben auch die an die Interaktion gekoppelten Bewusstseinssysteme keinen direkten Einfluss auf die interaktionelle Kommunikation, so wie umgekehrt die Interaktion nicht direkt in den operativen Vollzug der Bewusstseinssysteme eingreifen kann. Denn auch Bewusstseinssysteme differenzieren sich autopoietisch aus: „Ebenso wie Kommunikationssysteme sind auch Bewußtseinssysteme […] operativ geschlossene Systeme, die keinen Kontakt zueinander unterhalten können. Es gibt keine nicht sozial vermittelte Kommunikation von Bewußtsein zu Bewußtsein, und es gibt keine Kommunikation zwischen Individuum und Gesellschaft. […] Nur ein Bewußtsein kann denken (aber eben nicht: in ein anderes Bewußtsein hinüberdenken), und nur die Gesellschaft kann kommunizieren.“¹⁰⁴ Die Bewusstseinszustände der an der Kommunikation beteiligten Personen bleiben sowohl füreinander als auch für die Kommunikation undurchsichtig. Weder trägt das Bewusstsein zur Kommunikation irgendwelche Operationen – etwa im Sinne einer sukzessiven Abfolge von Gedanke-Rede-Gedanke-Rede – bei, noch gehen Bewusstseinsprozesse direkt in die Kommunikation ein. Es kann keine
Vgl. z. B. Baraldi/Corsi/Esposito (1997: GLU, 142), Scheibmayr (2001: Zeichen, 102 ff) und Krause (20054: Luhmann-Lexikon, 237); dies durchaus im Anschluss an Luhmann (20052: Autopoiesis, 60). Luhmann 20063: Einführung, 271. Ähnlich z. B. auch ders. 20052: Geschlossenheit, 31. S.u. 3.2.2. Luhmann 1997: Gesellschaft, 105.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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Kommunikation von psychischen Vorgängen geben, sondern immer nur Kommunikation über Bewusstseinszustände¹⁰⁵ – ganz davon abgesehen, dass das Einbringen von Bewusstseinszuständen in die Kommunikation gar nicht immer erstrebenswert wäre: „Stellen Sie sich vor, ein Arzt kommt ans Krankenbett und fragt, wie es Ihnen geht. Wie peinlich, wenn man dabei erfahren würde, was der Arzt wirklich denkt! Man würde nicht antworten können. Die Kommunikation würde zerbrechen“.¹⁰⁶ Wie peinlich auch für die Frau des Scharfenbergschen Beispiels, wenn der Seelsorger mittelbar erfahren würde, dass sie bei seinem Anblick an ihren früheren Tanzpartner denkt, an die Liaison, die sie mit diesem womöglich eingegangen ist und an die Bilder, die in diesem Zusammenhang vor ihrem inneren Auge auftauchen. Der unmittelbare Durchgriff psychischer Operationen steht zudem vor der Schwierigkeit, dass das Bewusstsein wesentlich schneller als die Kommunikation operiert – so ist es z. B. unmöglich, so schnell zu schreiben, wie gedacht werden kann.¹⁰⁷ Außerdem ist Kommunikation im Unterschied zum Bewusstseinssystem auf die sukzessive Aneinanderreihung von einzelnen Kommunikationseinheiten angewiesen. Wahrnehmungsvorgänge können dagegen synchron ablaufen. In der Seelsorge werden mit dieser strikten analytischen Trennung von psychischem und sozialem System psychologische Engführungen, wie sie die Poimenik als Folge ihrer Öffnung für die Humanwissenschaften in den 1970er bestimmen, vermieden. Wird die seelsorgliche Interaktion als autopoietisches Kommunikationssystem verstanden, so sind Gedanken, Wahrnehmungen und
Der Kommunikation ist es nie möglich, die Operationen des Bewusstseins abzubilden; vgl. Luhmann (20052: Kommunikation, 119): „[S]chon bei einer geringen Aufmerksamkeit auf das, was wir selber sagen, wird uns bewußt, wie unscharf wir auswählen müssen, um sagen zu können, was man sagen kann; wie sehr das herausgelassene Wort schon nicht mehr das ist, was gedacht und gemeint war, und wie sehr das eigene Bewußtsein wie ein Irrlicht auf den Worten herumtanzt: sie benutzt und verspottet, sie zugleich meint und nicht meint, sie auftauchen und abtauchen läßt, sie im Moment nicht parat hat, sie eigentlich sagen will, und es dann ohne stichhaltigen Grund doch nicht tut.“ Luhmann 20063: Einführung, 263. Luhmann erinnert in seiner Einführungsvorlesung (20063: Einführung, 263) an die Selbstbiographie von Tristram Shandy in dem monumentalen Roman von Laurence Sterne „The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman“, der 1760 bis 1769 in neun Bänden erschien. Der Protagonist versucht hier, über alle biologischen und psychologischen Prozesse seines Lebens kommunikativ Rechenschaft abzulegen, indem er alle Zustände seines Lebens aufschreibt, eingeschlossen des Aufschreibens dieser Zustände. Dass dieser Versuch misslingt, führt der Umfang des Romans vor Augen.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Gefühle¹⁰⁸ als Operationen psychischer Systeme zu ihrer Umwelt zu rechnen. Damit ist Scharfenbergs Befürchtung, dass „alle möglichen Gefühle und Einstellungen“ unkontrolliert „in das Gespräch einfließen“ könnten,¹⁰⁹ unbegründet. Aus kommunikationstheoretischer Sicht gehen weder offenkundige noch „latente Stimmungen und Gefühle“ (Scharfenberg) in die Interaktion ein. Die direkte Intervention psychischer in soziale Operationen und umgekehrt ist den autopoietischen Systemen verwehrt. Auch die Bewusstseinssysteme können den jeweils aktuellen Innenzustand eines anderen Bewusstseinssystems nicht kennen, da Bewusstseinsprozesse immer nur kommunikativ vermittelt werden. Dabei ist das Bewusstsein solchermaßen intransparent, dass es nicht nur für ein anderes Bewusstsein, sondern auch für sich selbst unerreichbar bleibt. Was der andere wirklich denkt, wie er sich wirklich fühlt, ist sowohl für die Kommunikation als auch für das Bewusstsein nicht direkt zugänglich und kann nur aufgrund von Interpretationsprozessen, die auf allgemeine Deutungsmuster der kulturellen Enzyklopädie¹¹⁰ zurückgreifen, vermutet bzw. unterstellt werden. Jedenfalls bleiben sie hypothetische Vermutungen. Aus dieser kommunikationstheoretischen Betrachtungsweise folgt, dass der Fokus der Seelsorge – ähnlich der systemischen Therapie – weniger auf den von Scharfenberg als „Gefühlsqualitäten“ bzw. als „Gefühlssituation“ bezeichneten Bewusstseinsvorgängen liegt. Es geht nicht um den Umgang mit psychischen Operationen, sondern um den Umgang mit der Kommunikation über psychische Operationen.Vor diesem Hintergrund ist die poimenische Forderung nach „Authentizität“, „Echtheit“ oder „Kongruenz“¹¹¹ neu zu durchdenken bzw. ganz aufzugeben. Denn Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühle sind nicht ohne kognitive und sprachliche Interpretation zugänglich. Auch Luhmann weist auf die „Authentizitätsprobleme“ hin: „Wer sagen kann, was er leidet, findet sich schon nicht mehr ganz in der Situation, die er ausdrücken möchte. So entstehen Sonderprobleme der Inkommunikabilität – nicht der Gefühle schlechthin, aber der Echtheit von Gefühlen –, die soziale Systeme betreffen, aber auch psychisch belastend wirken mögen.“¹¹²
Systemtheoretisch gesehen handelt sich bei einem Gefühl um „eine Selbstinterpretation des psychischen Systems im Hinblick auf die Fortsetzbarkeit seiner Operationen“; Luhmann 1984: Soziale Systeme, 372. Vgl. Scharfenberg 1972: Seelsorge, 67. S.u. 3.2.2.1. Ein „authentisches Verhalten“ fordert z. B. Ziemer 20042: Seelsorgelehre, 163 ff. Häufig beruft sich die Poimenik an diesem Punkt auf Rogers (z. B. 1983: Therapeut, 130 ff). Luhmann 1984: Soziale Systeme, 372; Hervorhebung L.K.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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Nun könnte sich die Vermutung nahe legen, dass die Beobachtungen der Frau, die in Scharfenbergs Beispiel den Seelsorger aufsucht, die Erinnerungen, die das Betreten des einen bestimmten Hauses in ihr hervorrufen, der Anblick des Kreuzes, der sie an Konfirmation und Kirche denken lässt, der Seelsorger, der wie ihr früherer Tanzpartner aussieht, als Operationen des Bewusstseins für die seelsorgliche Kommunikation irrelevant sind. Als Operationen des Bewusstseins gehören sie zwar zur Umwelt der Kommunikation, auf die diese jedoch unbedingt angewiesen ist. Mit anderen Worten: Die Operationen des Bewusstseins bilden für die Kommunikation einen relevanten Kontext, indem sie die laufende Kommunikation über strukturelle Kopplungen mit ständig neuem Irritationspotential versorgen. Da sich im Gespräch – wie Scharfenberg es formuliert – „bei jeder Frage, bei jeder Antwort“ aufs Neue die „Gefühlssituation der beiden Partner“, verändert,¹¹³ entsteht eine Dynamik, wie sie nur der Kommunikation unter Anwesenden eignet. Hierbei handelt es sich entgegen Scharfenbergs Annahme, jedoch nicht um ein „psychisches Grundgesetz“¹¹⁴, sondern ein interaktionelles „Grundgesetz“, das auf ein besonders enges Interdependenzverhältnis von psychischem und sozialem System zurückzuführen ist. Ist das Verhältnis von Kommunikation und Bewusstsein für die Systemtheorie Luhmanns ohnehin eine der fundamentalen Unterscheidungen – in der Literatur begegnet man sogar der Behauptung, Bewusstsein und Kommunikation sei die „Ur-Differenz“¹¹⁵ der Luhmannschen Systemtheorie – so gewinnt diese im Falle der Interaktion nochmals an besonderer Bedeutung. Man könnte es so ausdrücken, dass in der Kommunikation unter Anwesenden die analytische Trennung von Bewusstsein und Kommunikation auf dem Prüfstand steht. Denn in der interaktionellen Kommunikation, in der soziales und psychisches System gleichzeitig operieren, sind aufgrund des Abgrenzungskriteriums der Anwesenheit die Wahrnehmungsprozesse kaum von Kommunikationsprozessen zu trennen.¹¹⁶ In der Interaktion wird Kommunikation
Vgl. Scharfenberg 1972: Seelsorge, 67. Ebd.; Hervorhebung L.K. Jahraus 2001: Bewußtsein, 38 ff; Zitat 40; Hervorhebung im Original: „Im Komplexitätsaufbau der Systemtheorie erweist sich die Differenz von Bewußtsein und Kommunikation als UrDifferenz, als Fundament der Systemtheorie. Mit der Differenz von Bewußtsein und Kommunikation kommt die Systemtheorie überhaupt erst eigentlich zu sich; die Differenz von Bewußtsein und Kommunikation ist die Startdifferenz von Systemtheorie insofern, als Systemtheorie diese Differenz als Startdifferenz jeglicher Theoriebildung, jeglicher Bewußtseins- und Kommunikationsprozesse ansetzen muß.“ Vgl. Gronover 2006: Religionspädagogik, 32: „Die Interaktion unter Anwesenden hat Konsequenzen für die Theorie sozialer Systeme, weil in der Anwesenheit Wahrnehmung nicht von Kommunikation gelöst werden kann. An dieser Stelle wird also Luhmanns erkenntnistheoretische
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permanent durch Wahrnehmung irritiert – ebenso wie die psychischen Systeme permanent durch Kommunikation irritiert werden. Im interaktionellen Kommunikationsgeschehen koppeln sich fortlaufend prozessierende Bewusstseinssysteme an sich fortlaufend autopoietisch reproduzierende Kommunikation. Scharfenbergs Aussage über die sich ständig ändernde „Gefühlssituation der beiden Partner“ hebt vor dem Hintergrund einer psychotherapeutischen Zugangsweise in erster Linie auf psychische Operationen ab und läuft Gefahr, kommunikative mit psychischen Prozessen zu verwechseln und gleichzusetzen. Aus systemtheoretischer Sicht geht es dagegen um die strukturelle Kopplung von psychischem und sozialem System, um die interaktionelle Korrelation von Wahrnehmung und Kommunikation. Dieses, sich in der Interaktion verdichtende Interdependenzverhältnis von Kommunikation und Bewusstsein, im speziellen von Kommunikationsprozessen und Wahrnehmungsprozessen, sind maßgeblich an der interaktionellen Wirklichkeitsbildung beteiligt. Da das Zusammenspiel dieser autopoietischen Vorgänge in der Kommunikation unter Anwesenden einen kommunikativen Wahrnehmungsraum der Wirklichkeitsbildung konstituiert, bietet es sich an, unter dem Gesichtspunkt der strukturellen Kopplung diese wirklichkeitsbildenden Prozesse und deren wechselseitiges Irritationspotential zu fokussieren.¹¹⁷ Ebenso wie soziale und psychische operieren auch biologische Systeme geschlossen. Die Trennung dieser drei autopoietischen Systeme bei ihrer gleichzeitigen Kopplung exemplifiziert Luhmann in seiner Einführungsvorlesung anschaulich: „Lesen Sie einmal den Text von Wil Martens [Martens versucht die Kombination von Individuum und Gesellschaft;¹¹⁸ L.K.]. Ich habe einen Sonderdruck bekommen und habe auch einen Brief bekommen und kann den Brief und den Sonderdruck lesen, aber wenn ich das lese, stellt sich die Frage, was von dem Verfasser im Text ist oder: was kommuniziert wird. Sicherlich zum Beispiel nicht der Blutkreislauf, der sein Hirn durchblutete, als er den Text geschrieben hat. In dem Text in der Kölner Zeitschrift ist kein Blut, die würden das in der Redaktion abwehren, wenn da ein Blutstrom käme. Ein Bewusstseinszustand ist auch nicht da. Ich weiß nicht, was der Verfasser sich gedacht hat. Ich kann mir vorstellen, dass sein Gehirn durchblutet war, dass er vor
Prämisse virulent, dass Kommunikation wie Wahrnehmung ihren je eigenen Bedingungen unterliegen. Zur Interaktion würde es nicht kommen, wenn Kommunikation sie nicht formen würde; zur Interaktion würde es nicht kommen,wenn reziproke Wahrnehmung sie nicht fordern würde. In gewisser Weise haben wir die Parallelisierung einer soziologischen mit einer ästhetischen (und theologischen) Nagelprobe: Was nicht durch die Schleuse der Interaktion gelangt, kann nicht in einem Maße abstrahiert werden, dass es auf der Ebene der Gesellschaft zum Strukturelement wird.“ Zur Kopplung von Kommunikation und Bewusstsein s.u. 3.2.2.1.2. Vgl. Luhmann 20063: Einführung, 260 Anm. 3.
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seinem Computer genügend Muskelkraft hatte, um aufrecht zu sitzen, dass er Interesse hatte, an Wissenschaft teilzunehmen und sich bemerkbar zu machen, dass ein Fall ihn so faszinierte, dass er gedacht hat, das müssten andere auch zur Kenntnis nehmen. Das sind Konstruktionen – ich werde nachher von ‚Interpenetration‘ sprechen –, die in der Kommunikation nahe gelegt werden, die aber in der Kommunikation nicht selbst vorhanden sind.“¹¹⁹ Und mit deutungstheoretischer Implikation kommt Luhmann zu folgendem Schluss: In dem Text sind weder Blut noch Gedanken, sondern „nur Buchstaben und das,was man als geübter Leser aus diesen Buchstaben machen kann, Wörter, Sätze und dergleichen. Das ist die Kommunikation.“¹²⁰ Die Kopplungen von biologischem, psychischem und sozialen System sind so basal, dass sie in der Kommunikation in der Regel unbemerkt funktionieren und nur im Falle einer Störung thematisiert werden.
Auch die seelsorgliche Interaktion setzt stets biologische bzw. biochemische Prozesse voraus. Ein sich der von Scharfenberg beschriebenen Szene anschließendes Seelsorgegespräch ist nur möglich, wenn eine entsprechende Blutzirkulation und Sauerstoffzufuhr in den Körpern der Frau und des Seelsorgers gewährleistet ist. Durch einen plötzlichen Herzinfarkt des Seelsorgers oder Kreislaufzusammenbruch der Frau würde sich die Interaktion auflösen. Desgleichen sind Bewusstseinsprozesse an lebende Systeme gekoppelt. Damit der Anblick des an der Wand hängenden Kreuzes die Frau an „ihre Konfirmation und alles, was mit diesem Thema zusammenhängt“¹²¹ erinnern kann, sind eine ganze Reihe Prozesse auf biologischer Ebene vorausgesetzt. Durch die auf die Netzhaut treffenden Lichtstrahlen werden bestimmte neuronale Reize ausgelöst, die zum Gehirn geleitet werden, wo weitere biochemische Prozesse folgen. Sind diese somatischen Vorgänge nicht oder nur eingeschränkt möglich – ist die Frau gar blind –, könnte das Kreuz nicht kirchlich gedeutet werden. Seelsorglich relevant werden Operationen des biologischen Systems v. a. dann, wenn diese als Veränderungen wahrgenommen werden. Dies ist in erster Linie der Fall bei somatischen Veränderungen, die kommunikativ als Unterschiede, die Unterschiede machen, konkret als „Krankheit“, „Gesundung“, „Altersschwäche“ oder „Behinderung“ gedeutet werden. „Der kranke Mensch in der Seelsorge“¹²² wird in der Poimenik zum eigenständig behandelten Thema, das sich bis zur Herausbildung von Spezialseelsorge-Konzepten differenziert – besonders hervorzuheben ist hier der frame Krankenhausseelsorge,¹²³ der sich mit den seelsorglichen Möglichkeiten im Umfeld des gesellschaftlich institutionalisierten
A.a.O., 261; Kursivierung im Original. A.a.O., 262. Scharfenberg 1972: Seelsorge, 67. Ziemer 20042: Seelsorgelehre, 269 ff; vgl. auch Klessmann 2007: Seelsorge. Zum frame-Begriff s.u. 3.2.2.1.2.
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Umgangs mit Krankheit auseinandersetzt.¹²⁴ Da aus systemtheoretischer Perspektive der direkte Eingriff der Kommunikation in die autopoietische Reproduktion biologischer Systeme jedoch nicht möglich ist, geht es auch hinsichtlich biologischer Vorgänge, die als somatische Krankheiten erlebt und bezeichnet werden, um soziale, also kommunikative Konstruktionen – oder wie Ferel es auf den Punkt bringt: „Es gibt keine Krankheiten, es gibt nur Krankengeschichten.“¹²⁵ Orientiert sich die Poimenik an einer im weitesten Sinne konstruktivistischen Sichtweise, so wird sie bezüglich ihres Krankheits- bzw. Gesundheitsverständnisses ähnliche Einsichten wie die systemische Therapie zu Grunde legen.¹²⁶ Geht es in der Interaktion um kommunikative Deutungen von somatischen Prozessen, die als körperliche Gebrechen beobachtet werden, so hat die seelsorgliche Interaktion die Aufgabe, über diese somatischen Vorgänge religiös-christlich zu kommunizieren und tröstende Deutungsmuster anzubieten.¹²⁷ Ziel ist es, christliche Kommunikation über biologische Prozesse zu erproben und auf diese Weise neue Lebens- und Handlungsräume zu schaffen. Dabei sind mit dem evangelischen Trostbegriff vertröstende Deutungen – wie etwa „ist doch alles halb so schlimm“ oder „wird schon wieder“ – ausgeschossen.¹²⁸ Was in einer konkreten Situation von jemandem als tröstend erfahren wird, ist unterschiedlich. Dem Seelsorger obliegt daher die orthotomische Aufgabe, die passende Deutung zum passenden Zeitpunkt anzubieten.¹²⁹ Dabei kann auf unterschiedliche (praktisch‐)theologische Deutungsmuster zurückgegriffen werden.¹³⁰ In keiner anderen Situation wird Gebrechlichkeit und Vergänglichkeit – theologisch formuliert – die eigene Geschöpflichkeit so „hautnah“ erfahren wie in der Konfrontation mit den als „Krankheit“ bezeichneten somatischen Prozessen
Aus der zahlreichen Literatur zum Thema Krankenhausseelsorge vgl. z. B. das von Klessmann herausgegebene „Handbuch der Krankenhausseelsorge“ (1996); weitere Literaturhinweise finden sich bei Winkler (20002: Seelsorge, 476 ff), Ziemer (20042: Seelsorgelehre, 332 f) und Klessmann (20124: Seelsorge, 350 ff und 359 ff). Ferel 2003: Verwandlung, 76; im Original hervorgehoben. Zur systemischen Therapie s. o. 1.1.3.1. Zur christlich codierten Kommunikation s.u. 3.2.2.2.2. Ähnlich auch Ferel (1996: Verständnis, 371): Es geht nicht darum, „(vielleicht schwere) Krankheit, (vielleicht tiefes) Leid oder eine (im Augenblick unlösbare) Konfliktsituation zu bagatellisieren und sog. ‚positives Denken‘ zu propagieren.“ – Zum Trostbegriff der vorliegenden Untersuchung s. o. 2.2.1. Zur Modifikation des klassischen Orthotomie-Konzepts im Hinblick auf ein pragmatisch geweitetes Seelsorgeverständnis vgl. Klie 2003: Zeichen, 382 ff. Vgl. neben den in Anm. 122 genannten Publikationen z. B. auch die diversen theologischen Ansätze zur „Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft“ in dem gleichnamigen Sammelband (Thomas/Karle 2009: Krankheitsdeutung).
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des eigenen Körpers.¹³¹ Aus christlicher Perspektive kann es angesichts dieser leiblichen Erfahrung darum gehen, ein öffentlich, z. B. durch Werbung kommuniziertes jugendlich-vitales Gesundheitsideal, das mit einer unternehmungslustigen Leistungs- und Genussfähigkeit verbunden ist (forever joung oder AntiAging), in Frage zu stellen. Hier könnte z. B. ein Schwerpunkt der Seelsorge mit alten Menschen liegen. Denn spätestens mit dem Eintritt in das sog. vierte Lebensalter ist ein sich nahezu ausschließlich an Gesundheit ausrichtendes Lebensmotto – „Hauptsache gesund!“ – kaum mehr zu erfüllen.¹³² Seelsorge kann mit den ihr eigenen christlichen Deutungen vom Zwang zur Gesundheit befreien und damit Lebensräume trotz sowie mit Krankheit oder Altersgebrechen erschließen. Denkbar sind Impulse, die jenseits von Anti-Aging und Successful Aging auf die Bildung einer ars senescendi abzielen,¹³³ die sich primär nicht an Gesundheit, sondern an Lebenssattheit¹³⁴ orientiert. So könnte Altern im Sinne einer allgemeinen ars vivendi auch als biographische Aufgabe verstanden werden. Gerade angesichts des Alterns, bei langer oder lebensbedrohlicher Krankheit, vor einer schweren Operation oder an den Übergängen zwischen verschiedenen Lebensabschnitten stellt sich häufig die Frage nach einer „Lebensbilanz“ bzw. einer biographischen (Neu‐)Konstruktion.¹³⁵ Seelsorge könnte an dieser Stelle einen Raum eröffnen, in dem Biographie konstruiert sowie probeweise neu bzw. um-erzählt wird. Auf diese Weise wird Seelsorge zum kommunikativen Ort der gegenwärtigen Konstruktion vergangener Lebensgeschichte im Blick auf zukünftige Lebenswirklichkeit. Ein entscheidender Aspekt ist hierbei, unter welcher Perspektive die Lebengeschichte erzählt wird. Steht die Lebensdeutung z. B. unter der Maxime „Hauptsache gesund!“, so ist es denkbar, dass sich mit einer Erkrankung die gesamte Lebensführung auf „Krankheit“ hin ausrichtet und damit nicht auf ein grundsätzlich neues Lebensmotto, sondern – systemtheoretisch formuliert – lediglich auf die andere Seite der Form. Soll Biographie so konstruiert
In der Poimenik ist es v. a. Naurath (2000: Seelsorge), die Krankheit als Leiberfahrung thematisiert, „Seelsorge als Leibsorge“ in den Blick nimmt und „Perspektiven einer leiborientierten Krankenhausseelsorge“ (so der Untertitel) entwirft. Dies gilt v. a. dann, wenn mit dem Gesundheitsverständnis die Fiktion eines leidfreien Lebens impliziert ist, wie bspw. in der Definition der WHO (zitiert nach Eibach 1996: Gesundheit, 213; Hervorhebung im Original): „Gesundheit ist der ‚Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen.‘“ Vgl. Rüegger 2007: Altern. Von Abraham (Gen 25,8), Isaak (Gen 35,29), David (1. Chr 23,1), Jojada (2. Chr 24,15) und Hiob (Hi 42,17) wird berichtet, sie seien „alt und lebenssatt“ gestorben. Zur Konstruktion von Biographie in der Seelsorge unter systemisch-konstruktivistischer Perspektive vgl. Ferel (1996: Verständnis, 371 f; 2003: Verwandlung; 2006: Seelsorge) und Karle (1995: Seelsorge). – Zur Deutung von Lebensgeschichte in der Seelsorge s.u. 3.2.2.1.1.
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bzw. um-erzählt werden, dass jenseits der bisherigen Deutung neue Lebens- und Handlungsräume entstehen, so geht es in der seelsorglichen Kommunikation darum, biographische Wirklichkeit nicht mehr nach dem gewohnten Muster zu sehen, sondern gezielt eine neue Sichtweise einzuspielen und die festgefahrene, einschränkende Erzähllinie aufzubrechen.¹³⁶ Um Biographie experimentell unter ein anderes Leitthema zu stellen, kann die aus der systemischen Therapie bekannte Wunderfrage methodisch hilfreich sein: „Wie sähe Ihr Leben aus, wenn durch ein Wunder die Krankheit plötzlich geheilt ist?“¹³⁷ Denkbar ist auch, dass z. B. die Krankenseelsorge angesichts einer als sinnlos erfahrenen Krankheit zur Klage ermutigt.¹³⁸ Passend kann hier das Einspielen eines Klagepsalms sein, der in eindrücklich-bildhafter Weise den geschundenen, hinfälligen Körper des Beters beschreibt, die den Beter angreifenden Mächte – systemtherapeutisch formuliert – externalisiert,¹³⁹ trotz der ausweglos scheinenden, lebensfeindlichen Lage im Lob Jahwes endet und damit – ebenfalls in systemtherapeutischer Terminologie ausgedrückt – ressourcenorientiert angelegt ist. In ähnlichem Sinne könnte Krankenseelsorge „Sorge für den Willen zum Leben“¹⁴⁰, anstelle einer primären Sorge um die Krankheit sein. Gerade am Ort des Krankenhauses, das sich als „Problemdeterminiertes System“¹⁴¹ um das als „Krankheit“ bezeichnete „Problem“ herum ausdifferenziert, könnte seelsorgliche Kommunikation mit dieser ihr eigenen Ausrichtung tröstende Spielräume eröffnen. Indem Seelsorge nicht die Deutungsroutine des Krankenhausalltags übernimmt, d. h. sich nicht an dem medizinischen Code krank/gesund orientiert und den Seelsorgepartner nicht als „Patienten“, sondern als Glaubensbruder bzw. Glaubensschwester betrachtet,¹⁴² erschließen sich fundamental andere Deutungsund Handlungsräume als sie die Kommunikation in der Institution Krankenhaus anzubieten vermag. Der Seelsorger ist auf andere Themen hin ansprechbar als der Arzt.
Zum „Bruch“ s.u. 3.2.2.2.2. Zur systemischen Therapie s. o. 1.1.3.1. In der Einladung zur Klage sieht Josuttis (1974: Sinn) die primäre Aufgabe des Seelsorgers am Krankenbett. Ähnliches leistet die in Luthers Briefseelsorge zu beobachtende „Verteufelung“ von Symptomen, die heute als psychische Krankheiten bezeichnet werden; s. o. 2.2. Josuttis 1974: Sinn, 133. Goolishian/Anderson 19972: Menschliche Systeme. S.o. 2.2.1.
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Ferner ist vorstellbar, dass der Bericht von dem Verhalten der Freunde Hiobs als seelsorgliches Vorbild dienen kann (Hi 2,11– 13). Hatten sich die drei Freunde darüber geeinigt, Hiob zu besuchen, „um ihn zu beklagen und zu trösten“ (Hi 2,11), so sitzen sie angesichts seines „großen Schmerzes“ „mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und redeten nichts mit ihm“ (Hi 2,13). Insbesondere in Situationen, in denen es nichts mehr zu sagen gibt – zu denken ist hier speziell an den frame Notfallseelsorge, die an der „plötzlich aufbrechenden Schnittstelle von Leben und Tod“¹⁴³ handelt –, kann gemeinsames Schweigen anwesender Glaubensgeschwister die situativ gebotene Art der Kommunikation sein.¹⁴⁴ Es bleibt folgendes festzuhalten: Wird Seelsorge als Interaktion in den Blick genommen, so sieht diese Betrachtungsweise zunächst von handelnden Subjekten ab und beschreibt das sich distinguierende System strikt als Kommunikationssystem, in dem Kommunikation ausschließlich an Kommunikation anschließt. Subjekt der Kommunikation ist daher weder das an die Kommunikation gekoppelte Bewusstsein, noch die Person als Bewusstseinsträger. Der hierbei zugrunde gelegte differenztheoretische Systembegriff verhindert, das System analytisch oder ontologisch wichtiger als seine Umwelt zu bewerten. Deshalb enthält auch die Zuordnung von Personen zur Umwelt der seelsorglichen Kommunikation keinerlei Gewichtung der Bedeutung von Personen für sich selbst oder für andere. Sie wendet sich lediglich gegen die im Subjektbegriff liegende Überschätzung¹⁴⁵ und erprobt auf diese Weise – ähnlich der systemischen Seelsorge – einen anderen als den in der Poimenik üblichen „individuumszentrierten“ Ansatz, der auf das einzelne menschliche Subjekt fokussiert.¹⁴⁶ Die Voraussetzung zur Ausdifferenzierung von Kommunikationssystemen ist mithin nicht ein wie auch immer geartetes „Subjekt“, sondern die Umwelt, zu der u. a. auch Bewusstsein tragende Personen gehören. Die Systemtheorie Luhmanns ist damit durch eine „radikal antihumanistische“¹⁴⁷ Theorieanlage gekennzeichnet: Setzt sich Kommunikation nicht aus konkreten Menschen oder aus Beziehungen zwischen Menschen zusammen,
Waterstraat 2009: Chaos, 16; Hervorhebung im Original. – Den Hinweis auf die Vorbildfunktion der Freunde Hiobs verdanke ich Pastor und Notfallseelsorger Frank Waterstraat/ Rodenberg. Zum Reden und Schweigen als einer Zwei-Seiten-Form vgl. Luhmann/Fuchs 19922: Reden. Vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 244. S.o. 1.1.3. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 35.
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„bleibt nur die Möglichkeit, den Menschen voll und ganz, mit Leib und Seele, als Teil der Umwelt des Gesellschaftssystems [d. h. der Kommunikation, L.K.] anzusehen.“¹⁴⁸ In seinen Publikationen betont Luhmann immer wieder, dass sich sein systemtheoretischer Entwurf von individuumszentrierten Ansätzen der Interaktion abgrenzt und damit von der konventionellen Auffassung, dass Menschen kommunizieren können. Letzteres kann nur als eine Kausalattribution durch einen Beobachter verstanden werden: „Menschen können nicht kommunizieren, nicht einmal ihre Gehirne können kommunizieren, nicht einmal das Bewußtsein kann kommunizieren. Nur die Kommunikation kann kommunizieren.“¹⁴⁹ Doch aufgrund des differenztheoretischen Systembegriffs folgt auch hieraus keineswegs eine Geringschätzung des Menschen. Vielmehr avanciert der Mensch zur „besonderen Umwelt sozialer [und psychischer(!), L.K.] Systeme“:¹⁵⁰ „Das heißt nicht, daß der Mensch als weniger wichtig eingeschätzt würde im Vergleich zur Tradition. Wer das vermutet […], hat den Paradigmawechsel in der Systemtheorie nicht begriffen. […] Gewonnen wird mit der Unterscheidung von System und Umwelt […] die Möglichkeit, den Menschen als Teil der gesellschaftlichen Umwelt zugleich komplexer und ungebundener zu begreifen, als dies möglich wäre, wenn er als Teil der Gesellschaft aufgefaßt werden müßte; denn Umwelt ist im Vergleich zum System eben derjenige Bereich der Unterscheidung, der höhere Komplexität und geringeres Geordnetsein aufweist. Dem Menschen werden so höhere Freiheiten im Verhältnis zu seiner Umwelt konzediert, insbesondere Freiheiten zu unvernünftigem und unmoralischem Verhalten. Er ist nicht mehr Maß der Gesellschaft.“¹⁵¹ Mit der Differenz von System und Umwelt, ist es möglich, „einen radikalen Individualismus in der Umwelt des Systems zu denken“¹⁵² – anders als mit einer humanistischen Vorstellung, die den Menschen als Teil oder Zielvorstellung der Gesellschaft betrachtet. Auch hinsichtlich der Kommunikation unter Anwesenden gilt, dass „das menschliche Individuum eine zu kompakte, gleichsam zu anspruchsvolle Größe [ist], die einer schärferen Analyse der Strukturen sozialer Interaktion im Wege steht.“¹⁵³ Theoretisch betrachtet ist „der Mensch“ eine zu komplexe Kategorie, als
A.a.O., 30. – Auf das Verhältnis von Menschen und sozialen Systemen geht Luhmann unter der Überschrift „Interpenetration“ (1984: Soziale Systeme, 286 ff) ausführlich ein; vgl. auch die Beiträge in Luhmann 20052: „Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch“. Luhmann 20052: Bewußtsein, 38. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 286. A.a.O., 288 f; Hervorhebung im Original. Luhmann 20063: Einführung, 257. Luhmann 20055: Einfache Sozialsysteme, 25. – Ein ähnlicher Ansatz ist bereits bei Goffman (1971: Interaktionsrituale, 9) zu beobachten: „Es geht hier also nicht um Menschen und ihre Si-
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dass diese mit systemtheoretischen Mitteln zu erfassen wäre. Analoges gilt für die Möglichkeiten der Semiotik.¹⁵⁴ Aus zeichentheoretischer Perspektive wird der in der Interaktion anwesende Mensch selbst zum Signifikanten, der Semiose in Gang setzt, entsprechende Decodierungsprozesse auslöst und im Falle des Scharfenbergschen Exempels an den Tanzpartner der Jugendzeit erinnern kann. Entgegen der häufig in der systemischen Therapie und Seelsorge anzutreffenden Rede von „menschlichen Systemen“¹⁵⁵, kann der Mensch aus systemtheoretischer Perspektive nicht als ein System gelten kann – mag er auch für sich selbst oder für einen Beobachter als Einheit erscheinen. Im Unterschied zu systemtherapeutischen oder seelsorglichen Konzepten, die auf eine meist nicht näher definierte „Ganzheitlichkeit“ abzielen, erlaubt die strikte systemtheoretische Differenzierung unterschiedlicher autopoietischer Systeme sowie die Positionierung des Menschen in der Umwelt der Kommunikation eine nicht nur terminologisch präzisere Betrachtungsweise. Um die seelsorgliche Interaktion als einen kommunikativen Wahrnehmungsraum der Wirklichkeitsbildung zu beschreiben, wird auf das Verhältnis von psychischen und sozialen Prozessen unter dem Gesichtspunkt der sinnhaften Kopplung näher einzugehen sein.¹⁵⁶ Im Fokus des Interesses steht v. a. die interaktionelle Kopplung von Kommunikationsprozessen an Wahrnehmungsprozesse, die eine Korrelation mit wechselseitigem Irritationspotential darstellt. Es geht also um die in der Interaktion selbst „unbemerkt“ und „geräuschlos“¹⁵⁷ funktionierende strukturelle Kopplung zweier im Medium Sinn operierender, sich autopoietisch reproduzierender Systeme, d. h. um Systeme, die in ihrem prozessualen Vollzug operativ geschlossen sind. Folgt man dem operativen Systembegriff Luhmanns, so ist die „Existenz“ der Systeme von eben diesem ihren prozessualen Vollzug her zu verstehen. Die „Existenz“ autopoietischer Systeme ist also eine performative,¹⁵⁸ nicht jedoch ein kontextunabhängiger Seinszustand. Gedanken existieren nur, solange sie gedacht werden, Wahrnehmungen sind nur relevant, solange etwas wahrgenommen wird, (interaktionelle) Kommunikation existiert nur, solange kommuniziert wird. Die System/Umwelt-Differenz ist keine ontologische, sondern eine prozessuale Un-
tuationen, sondern eher um Situationen und ihre Menschen.“ Damit setzt auch der Interaktionsbegriff Goffmans nicht beim Individuum und seiner Psychologie an; vgl. a.a.O., 8. S.o. 3.1.2; vgl. Eco 2000: Kant, 160. Goolishian/Anderson 19972: Menschliche Systeme. Vgl. auch Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 73 ff. S.u. 3.2.2.1.2. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 106. Zur performativen Sichtweise der vorliegenden Arbeit s.o. 2.2.1.
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terscheidung. Neben der Performanz autopoietischer Prozesse sind auch strukturelle Kopplungen performativ zu verstehen, die ebenfalls nicht von dauerhaftem Bestand sein können. Autopoietische Systeme „existieren“ also in actu und haben solange Bestand, bis sie aufhören in der ihr spezifischen Weise zu operieren. Im operativen Vollzug reproduzieren autopoietische Systeme ihre Geschlossenheit, grenzen sich so von ihrer Umwelt ab und operieren aufgrund eben dieser Geschlossenheit umweltoffen. Eben dies ist mit der Theoriefigur der Autopoiese oder in ganz ähnlicher Weise zeichentheoretisch mit Semiose bezeichnet. Beide Konzepte, die als Theoriefiguren im weitesten Sinne analog gesehen werden können,¹⁵⁹ zielen auf die dynamische Prozessualität von Systemen bzw. Zeichen und beschreiben ateleologische, prinzipiell offene und unendliche Vollzüge, die lediglich aus pragmatischen Gründen zu einem vorläufigen Abschluss gebracht werden. Zeichen und Systeme existieren nur dann, wenn sie sich performieren und kontinuierlich prozessieren, indem eine Operation an die nächste angeschlossen wird bzw. eine Zeichenfunktion auf die andere folgt. Ein autopoietisches System ist nur dann real, wenn es operiert, d. h. eine System/Umwelt-Differenz prozessiert – ebenso wie ein Zeichen nur im Zeichenvollzug, d. h. in der Semiose, „existiert“. Diese genuin performative Prozessualität hat zur Folge, dass autopoietische Systeme als dynamische, temporalisierte Systeme erscheinen, deren „Existenz“ sich auf die Gegenwart beschränkt. Die Elemente bzw. Operationen, aus denen sie „bestehen“, haben Ereignischarakter, d. h. sie sind zeitlich instabil, haben keine Dauer und verschwinden im selben Augenblick, in dem sie auftauchen. Sie „existieren“ nur im gegenwärtigen Moment der jeweiligen Operation, sind im nächsten Augenblick bereits wieder verschwunden und zwingen daher fortwährend zu Anschlussoperationen. Anders formuliert: Kommunikation ist wie jede autopoietische Operation an ihre eigene Praxisgegenwart gebunden. Diese Dynamik wird besonders in dem präsentischen Kommunikationssystem der Interaktion deutlich. Hier geht es um Vergegenwärtigungsprozesse, die Wirklichkeitsräume erschließen. Wird vor diesem Hintergrund die seelsorgliche Interaktion als ein kommunikativer Wahrnehmungsraum der Wirklichkeitsbildung beschrieben, so stehen performative Korrelationsverhältnisse, zeitpunktmarkierte Kopplungen von sich beständig fortschreibenden Wahrnehmungsprozessen und Kommunikationsprozessen im Mittelpunkt. Letztlich geht es um die strukturelle Kopplung zweier autopoietischer Systeme, um das Verhältnis von Kommunikation und Bewusstsein, die auf analytischer Ebene strikt voneinander zu trennen, auf struktureller Ebene jedoch zugleich
S.o. 3.1.2; vgl. Kastner 2001: Autopoiese, 93.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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aneinander gekoppelt sind. Daher ist seelsorgliche Interaktion als Kommunikation von den beteiligten Bewusstseinssystemen vollständig abhängig, während sie in operativer Hinsicht vollständig autonom bleibt.
3.2.1.2 Die Grenze der Interaktion: Anwesenheit Als Kommunikationssysteme finden Interaktionen in der Gesellschaft statt, d. h. die Grenzen der Gesellschaft gelten auch für die Interaktion. Innerhalb der Gesellschaft differenzieren sie sich nach der Leitdifferenz anwesend/abwesend aus und schließen damit alles ein, was von ihnen als anwesend behandelt wird.¹⁶⁰ Damit sind die Grenzen der Interaktion nicht etwa von der Physik oder von dem Bewusstsein bestimmt, sondern das Korrelat systemeigener Operationen: Man „muß […] davon ausgehen, daß die Anwesenheit und also auch die Abwesenheit von Personen erst durch Kommunikationsprozesse konstituiert wird. Die Anwesenheit der Anwesenden ist selber schon ein Erzeugnis der Interaktion und nicht etwa eine Vorgabe“.¹⁶¹ Die Grenzen der Interaktion können – wie in dem von Scharfenberg¹⁶² vorgestelltem Beispiel – als Raumgrenzen gezogen werden, aber sie ergeben sich nicht notwendig aus dem Wahrnehmungsraum und den dort sichtbaren Menschen. Sucht die Frau den Seelsorger bspw. nicht in dessen Zimmer auf, sondern spricht ihn nach dem Gottesdienst an der Kirchentür an, so konvergieren die Grenzen der sich ausdifferenzierende Interaktion nicht mit den Grenzen des Wahrnehmungsraum. Die Interaktion behandelt die Frau und den Seelsorger als anwesend, nicht aber den Küster, der zeitgleich Gesangbücher ordnet oder weitere, ebenfalls wahrnehmbare Gottesdienstbesucher.¹⁶³ In diesem Fall wird also trotz kontinuierlicher Präsenz exkludiert. Da die Interaktion entscheidet, was als anwesend behandelt wird und was nicht, divergieren physische Präsenz und soziale Anwesenheit. Die Grenzen der Interaktion sind an die Aneinanderreihung ihre systemeigenen Operationen, d. h. an den Verlauf der Interaktion gebunden. Hieraus ergibt
Auch die Interaktionsanalyse von Goffman geht bzgl. der Interaktion von der gemeinsamen Anwesenheit aus; s. o. 3.2.1. Kieserling 1999: Kommunikation, 66; zum Abgrenzungskriterium der Anwesenheit vgl. a.a.O., 62 ff. – Anders als diese systemtheoretische Bestimmung gehen Karle (2000: Kompetenz, 512) und Dinkel (2000: Gottesdienst, 118 f; 2006: Face, 161) – im irrtümlichen Anschluss an Luhmann – bzgl. der Interaktion von körperlich Anwesenden aus. S.o. Einleitung zu Kapitel 3. Ähnliches gilt z. B. auch für den seelsorglichen Kontakt mit einem von mehreren Patienten eines Mehrbett-Zimmers im Krankenhaus.
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sich eine eigentümliche Beweglichkeit der Systemgrenzen. Bereits ein Themenwechsel oder die Aufnahme eines Hinzutretenden kann die Grenze verändern – eine Dynamik, wie sie unter den Kommunikationssystemen nur der Interaktion eignet. Nur indem die Interaktion „[f]ast alles, was sonst noch vorkommt“¹⁶⁴ als irrelevant ausschließt, wird es ihr möglich, nach innen hin eine „hochverfeinerte Sensibilität“¹⁶⁵ zu entwickeln, „die dann […] nicht nur die Kommunikation, sondern auch das sonstige Körperverhalten der Anwesenden“¹⁶⁶ in Bezug auf die Kommunikation würdigt.¹⁶⁷ Das bedeutet, dass wer als anwesend behandelt wird, sich an der Kommunikation zu beteiligen hat, auch wenn er nichts zu sagen weiß: „[M]an muß Abwesenheit wählen, wenn man Kommunikation vermeiden will.“¹⁶⁸ In der seelsorglichen Interaktion stehen sowohl der Seelsorger als auch der Seelsorgepartner mit ihrem Körperverhalten auf der seelsorglichen Bühne. Als – semiotisch ausgedrückt – leib-räumliche Zeichen werden die Anwesenden Teil des seelsorglichen Kommunikationsspiels der Wirklichkeitsbildung. Ebenso wie der Liturg Teil der inszenierten Liturgie ist, ist der Seelsorger durch seine Anwesenheit insofern Teil der Seelsorge als die Interaktion sein leib-räumliches Auftreten und Verhalten als positiven oder negativen Beitrag zum Fortgang der Kommunikation würdigt. Dabei kann, wenn Körperverhalten als Mitteilung verstanden wird, Kommunikation auch ohne Verbalsprache stattfinden.¹⁶⁹ Mit der Rede von der Anwesenheit ist keinesfalls ein „analytischer Rückfall auf den Menschen oder das Subjekt“¹⁷⁰ impliziert, sondern der Zusammenhang von Interaktion und Anwesenheit von Personen muss rekursiv verstanden werden: „Die Referenz auf Anwesende ist […] nur die umgeleitete Selbstreferenz der Kommunikation und nicht etwa ein Externum, an dem sie einen von ihr selbst unabhängigen Außenhalt fände.“¹⁷¹ Wie bei jedem autopoietischen System ist die Systemgrenze auch in der Kommunikation unter Anwesenden durch systemeigene Operationen bestimmt, während alles andere entweder strukturell an die Kommunikation gekoppelt oder ausgeschlossen ist. In operativer Hinsicht ist die Interaktion von den vorsozialen Vorfindlichkeiten des Körpers und des Bewusstseins Kieserling 1999: Kommunikation, 64. A.a.O., 63. A.a.O., 63 f. Zum Körperverhalten s.u. 4.4. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 562. – Der Grundsatz, dass man in Interaktionssystemen nicht nicht kommunizieren kann (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 19969: Kommunikation, 53), ergibt sich v. a. aus der reflexiven Wahrnehmung; s.u. 3.2.1.3.2. Zur nonverbalen, bzw. direkten und indirekten Kommunikation s.u. 3.2.1.3.2. Kieserling 1999: Kommunikation, 67. Ebd.
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zu unterscheiden. Menschen sind dabei – systemtheoretisch formuliert – als Träger von Körper und Bewusstsein als Personen¹⁷² in der Interaktion anwesend und damit relevante Umwelten der Kommunikation, die – semiotisch ausgedrückt – im Prozess der Wirklichkeitsbildung selbst zum Signifikanten einer Zeichenfunktion werden. Da soziale Anwesenheit nicht mit physischer Präsenz konvergiert, ist „Exklusion trotz kontinuierlicher Präsenz“¹⁷³ möglich. „Aber auch der umgekehrte Fall der Inklusion trotz diskontinuierlicher Präsenz ist weit verbreitet.“¹⁷⁴ Besucht der Seelsorger die Frau anlässlich ihres Geburtstags, und sie trinken zusammen mit ihrem Ehepartner Kaffee, so kann der Ehemann, der sich zwischenzeitlich kurz in die Küche begibt,von der Interaktion trotzdem als anwesend behandelt werden. Man wird dann keine Themen ansprechen, die sich bei gesicherter Absenz des Ehemanns anböten: z. B. ihn selbst oder sein Verhalten wenige Minuten zuvor. Hat sich der Ehemann hingegen ausdrücklich verabschiedet, kehrt jedoch danach noch einmal zurück, weil er etwas vergessen hat, so wird er sich in einer unklaren Situation wiederfinden, die ihn weder einschließen noch ausschießen kann. Denn die „Institution des Abschieds“¹⁷⁵ hat gerade die Aufgabe, Fragen der Inklusion und Exklusion zu regeln. Ähnliches gilt für die Begrüßung. Spricht die Frau den Pfarrer an der Kirchentür als Seelsorger an, so entscheidet sich mit der Begrüßung, wen oder was die Interaktion in ihrem Fortgang als anwesend behandelt. Denkbar ist auch, dass sich die interaktionelle Entscheidung über Inklusion und Exklusion räumlich performiert, indem die Frau und der Seelsorger als Anwesende z. B. ein paar Schritte abseits der Kirchentür rücken. Hierbei kann die Grenze der Interaktion auch am Körperverhalten der Anwesenden deutlich werden. Ignoriert die Interaktion „[f]ast alles, was sonst noch vorkommt“,¹⁷⁶ so bindet die Kommunikation die Aufmerksamkeit der Anwesenden, so dass sich diese füreinander und das soziale System interessieren. An Blicken, Gesten und Körperhaltung – anderen Gemeindegliedern wird z. B. der Rücken zugewandt – ist abzulesen, dass sie ganz „im Gespräch vertieft“ sind. Umgekehrt reagiert die Interaktion auch sensibel auf Körperverhalten, das – intentional oder nicht-intentional – eine Änderung der Systemgrenze begünstigt. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn der Seelsorger einem anderen Gemeindeglied Blicke zuwirft, durch die sich dieses eingeladen fühlt, hinzuzutreten.
Zum systemtheoretischen Person-Begriff s.o. Anm. 70. Kieserling 1999: Kommunikation, 65; Hervorhebung im Original. Ebd.; Hervorhebung im Original. Ebd. A.a.O., 64.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Analoges gilt für die seelsorgliche Kommunikation im Mehrbettzimmer eines Krankenhauses. Auch hier fungiert die Institution der Begrüßung für die Interaktion als Entscheidungshilfe, wer im Fortgang als anwesend behandelt wird: Eine „offene“ Begrüßung, die zu Beginn alle, die physisch präsent sind, integriert und diese Inklusion womöglich durch eine Begrüßungsgeste wie einen Händedruck verstärkt, eröffnet eine Kommunikation, die – zumindest zunächst einmal – alle wahrnehmbaren Menschen als Anwesende behandelt. Der Seelsorger bleibt während seiner physischen Präsenz grundsätzlich für alle ansprechbar. Anders verhält es sich, wenn der Pfarrer im Zimmer des Krankenhauses gezielt die Frau als Gemeindeglied besucht. Auch in diesem Fall kann die Grenze der Interaktion durch Körperverhalten und Raumgestaltung sichtbar werden: Etwa indem sich der Pfarrer von Beginn an gezielt der Frau zuwendet und einen Stuhl an ihr Bett rückt. Umgekehrt kann auch das Körperverhalten derjenigen, die trotz kontinuierlicher Präsenz von der Interaktion exkludiert werden, deren soziale Abwesenheit markieren. Als Mitpatient dreht man sich im Bett um, um sich von der räumlich performierenden Kommunikation abzuwenden, sieht fern, greift zu einer Zeitschrift, schließt die Augen und stellt sich schlafend oder man verlässt den Raum, so dass physische und soziale Absenz konvergieren. Insofern verlangt die Interaktion nicht nur von den Anwesenden Interesse an der Kommunikation, sondern zwingt umgekehrt die Abwesenden zum Desinteresse. Doch auch wenn die Interaktion bei kontinuierlicher Präsenz Menschen als sozial absent behandelt, bleiben deren Bewusstseine für die Kommunikation „rahmende“ Umwelt. Anders formuliert: Der frame „Krankenhausseelsorge in einem Mehrbettzimmer“ wirkt sich auf die Struktur der Interaktion aus. So wird z. B. die Wahl der Themen berücksichtigen, dass die Bewusstseine der sozial exkludierten bei physischer Präsenz weiterhin wahrnehmen – v. a. da Sprache das Bewusstsein derart fasziniert, dass es kaum möglich ist, nicht nicht zuzuhören.¹⁷⁷ Für die Poimenik bedeutet das, dass dem Beginn einer seelsorglichen Begegnung besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist. Hierauf weist z. B. Ziemer hin: „Oft entscheidet sich schon beim ersten Wortwechsel, ob es gelingt, eine hilfreiche Gesprächsatmosphäre herzustellen.“¹⁷⁸ Die Eröffnungsphase hat seiner Meinung nach die Funktion der ersten Orientierung, in der auch klärende Vereinbarungen getroffen werden. Dabei wird die Frage nach Inklusion und Exklusion in die seelsorgliche Kommunikation allerdings von vornherein ausgeklammert – dies liegt nicht nur an der von Ziemer vertretenen weitgehend pas Diese Überlegungen greifen bereits auf die reflexive Wahrnehmung (s.u. 3.2.1.3.2) vor. – Ähnliches gilt z. B. auch für den frame „Geburtstagsbesuch“, bei dem der Seelsorger nicht nur auf den Jubilar, sondern mit möglichen Gästen auf potentiell Anwesende und „Zuhörer“ treffen kann. Ziemer 20042: Seelsorgelehre, 165.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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toralpsychologisch-therapeutischen Zugangsweise, sondern auch daran, dass er für den Seelsorgekontakt einen „abgeschirmten Raum“ und eine „störungsfreie Zeit“ vorschlägt.¹⁷⁹ Es ist evident, dass damit die Beweglichkeit der Interaktionsgrenze aus dem Blick gerät. Stattdessen ist bei Ziemer eine Konzentration auf die Struktur der Kommunikation zu beobachten: Es geht darum, dass das Gegenüber „Vertrauen fasst“ und im Fortgang „offen“ redet¹⁸⁰ – also darum, wie die Anfangsphase die Wahl der Themen bestimmt. Auch die systemische Seelsorge setzt sich nicht mit der Frage nach sozialer Präsenz und Absenz auseinander, was daran liegen mag, dass sie sich anstelle der Systemtheorie an der an der systemischen Therapie orientiert. Das von Morgenthaler aus der systemischen Therapie rezipierte „Joining“, das den Anschluss eines Therapeuten bzw. eines Seelsorgers an ein System bezeichnet, geht bereits über die Begrüßungs-Phase hinaus und beinhaltet u. a. die „allparteiliche“ Kontaktaufnahme mit jedem Familienmitglied, also mit jeder von der Interaktion als anwesend behandelter Person.¹⁸¹ Die aus der systemischen Therapie bekannte „Auftragsklärung“¹⁸² zu Beginn einer Begegnung klärt – verbalsprachlich – jedoch nicht nur, welches inhaltliche Mandat dem Therapeuten bzw. dem Seelsorger übertragen wird, sondern auch – meist nonverbal –, wer überhaupt „dabei ist“, d. h. wer von der Interaktion als anwesend behandelt wird. Dies wird im Verlauf der Kommunikation besonders dann virulent, wenn physisch Abwesende von der Kommunikation als anwesend inkludiert werden. Selbstredend ist es nicht zuletzt für die Person des Seelsorgers hilfreich, sich über die schematisierende Funktion der Begrüßungsphase bewusst zu sein, um für die seelsorgliche face-to-face Begegnung intentional entsprechende Bedingungen der Möglichkeit zu schaffen.¹⁸³ Ähnliches wie für den Beginn gilt für das Ende der seelsorglichen Begegnung. Findet die Interaktion scheinbar kein Ende und könnte sich immer wieter Kommunikation an Kommunikation anschließen, so stellt sich bei den Anwesenden häufig Unzufriedenheit ein. Dies ist für T. Lohse der Grund, sich mit dem „schlüssigen Ende[ ] des Kurzgesprächs auseinanderzusetzen und nicht unschlüssig darauf zu hoffen, dass es schließlich schon irgendwie zu Ende gehen
Vgl. ebd.; ähnlich Klessmann 20124: Seelsorge, 128. Vgl. Ziemer 20042: Seelsorgelehre, 166. Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 146 ff. – VonSchlippe und Schweitzer (19996: Lehrbuch, 162) schlagen konkrete Anfangsfragen vor, da „in der Situation zu Beginn eines Gesprächs […] oft unausgesprochen Weichen gestellt“ werden, z. B. (ebd.) „Was soll heute hier passieren, daß dies ein gutes Gespräch wird?“ Vgl. z. B. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 164 ff. Zu den Gestaltungsmöglichkeiten in der Seelsorge s.u. Kapitel 4.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
wird.“¹⁸⁴ Und auch hier erweisen sich die systemtheoretischen Überlegungen von poimenischer Relevanz: Anders als die Gesellschaft sind Interaktionen zeitlich limitiert: „Denn keine Interaktion verspricht Dauerglück, und man kann sich nur auf sie einlassen, weil man sich von ihr wieder lösen kann.“¹⁸⁵ Dies gelingt deshalb, da trotz des Endes der Interaktion sichergestellt ist, dass es innerhalb der zeitlich nicht begrenzten Gesellschaft weitere Kommunikationsmöglichkeiten gibt. Die Wahrscheinlichkeit weiterer Interaktionen – mit denselben oder auch anderen Anwesenden, in einer anderen Situation – macht „Mut[ ] zum Schlußmachen“.¹⁸⁶ Dabei scheint es, als ob die Interaktion die (noch) Anwesenden mittels verschiedener „Bündnisgesten“¹⁸⁷ – wie ein fester Händedruck, ein langes Sich-Anblicken oder das Handauflegen auf die Schulter – über das Fortbestehen (gesellschaftlicher) Kommunikation versichert und damit das Loslösen aus dem aktuellen face-to-face Kontakt erleichtert. Vor diesem systemtheoretischen Hintergrund legt es sich nahe, die Schlussphase der seelsorglichen Begegnung mit dem Blick auf zukünftige (seelsorgliche) Begegnungen zu bedenken. In der poimenischen Literatur werden dabei häufig im Rückgriff auf die aktuelle Begegnung – v. a. thematische – Möglichkeiten aufgezeigt, an die in weiteren Interaktionen angeschlossen werden kann.¹⁸⁸ Möglich ist es auch, die Anwesenden zum Ende mit spezifisch christlichen Kommunikationsformen – wie ein Gebet oder eine Segnung – explizit in die christliche Kommunikationsgemeinschaft einzubinden. Dabei können spezifisch christliche Kommunikationsformen am Ende einer Begegnung stehen, grundsätzlich haben sie jedoch die Funktion, ein Gespräch nicht abzuschließen, sondern zu eröffnen.¹⁸⁹
Lohse 20062: Kurzgespräch, 122 ff; Zitat 123. Luhmann 1997: Gesellschaft, 818. – Zur Kategorie der Zeit s.u. 4.2. A.a.O., 819. Auf diese „Bündnisgesten“ weist Lohse (20062: Kurzgespräch, 134) hin. Dabei legt er allerdings den Fokus darauf, dass sich der Ratsuchende und der Beratende miteinander solidarisch erklären, so dass nach dem Gespräch der je eigene Weg allein fortgesetzt werden kann. So haben z. B. die Schlussinterventionen bei vonSchlippe/Schweitzer (19996: Lehrbuch, 182 ff) die Funktion, der Familie „etwas mit auf den Weg zu geben“, während die vorgeschlagenen „Abschlußfragen“ (a.a.O., 162) auf weitere therapeutische Interaktionen zielen. Vgl. Bukowski 19952: Bibel, 55 ff; vgl. hierzu Meyer-Blanck 1998: Identität, 840 f und ders. 1999: Entdecken. – Diese Sichtweise wendet sich u. a. gegen die in der Poimenik häufig anzutreffende Verortung christlicher Kommunikationsformen am Ende des Gesprächs; so z. B. Ziemer 20042: Seelsorgelehre, 167; Hervorhebung im Original: „In die Schlussphase des Gesprächs gehört […] die Frage nach einem Gebet, einem Segenswunsch o.Ä.“; ähnlich auch Lohse 20062: Kurzgespräch, 134. – Zu spezifisch christlichen Kommunikationsformen s.u. 3.2.2.2.2.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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Liegt der poimenische Fokus wie in der vorliegenden Untersuchung zunächst einmal auf dieser einen seelsorglichen Begegnung,¹⁹⁰ so lohnt es, die Mechanismen, mit denen die Interaktion die Anwesenden entlässt, in den Blick zu nehmen. Meist kündigt sich der Abschied durch direkte oder indirekte Kommunikation¹⁹¹ an, wobei – ähnlich wie zu Beginn der Interaktion – das Körperverhalten eine wesentliche Rolle spielt: Die Anwesenden zeigen durch Gähnen oder Schließen der Augen zunehmend Desinteresse an der Kommunikation oder nehmen eine Aufbruchhaltung ein, indem sie unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschen oder auf die Uhr blicken – besonders letzteres kann von der Kommunikation kaum ignoriert werden. Die Anwesenheit grenzt das Kommunikationssystem Interaktion ab. Das gilt auch für die Interaktionen, die sich nicht als klassisches „Gespräch“, d. h. bei leiblicher Kopräsenz ausdifferenzieren. Gerade bei der Telefon- oder Chat-Seelsorge wird deutlich, dass soziale Anwesenheit nicht mit physischer Präsenz gleichzusetzen ist. Sucht die Frau des Scharfenbergschen Beispiels den Seelsorger nicht in seinem Büro auf, sondern ruft ihn an, so inkludiert die Interaktion trotz partieller Präsenz bzw. Absenz beide als sozial anwesend und verlangt unmittelbare Präsenz zwar nicht in räumlicher, wohl aber in zeitlicher Hinsicht. Allerdings kann das Interesse der Anwesenden weniger stark an die Kommunikation gebunden sein als bei einer face-to-face Konstellation. Die Frau kann, während sie telefoniert, Zeitung lesen, Radio hören, im Internet surfen oder ihren Kindern bei den Hausaufgaben helfen, ohne dass der Seelsorger dies – zunächst einmal – bemerkt. Insofern hat die Umwelt der Kommunikation ein hohes Irritationspotential, was die Kommunikation dazu führt, sich des Interesses der Anwesenden oder gar ihrer Anwesenheit selbst zu vergewissern – etwa mit der Frage: „Hörst du mir noch zu?“ Dies ist deshalb notwendig, da die „interaktionellen Kontrollen“¹⁹², die sich v. a. aus dem leib-räumlichen Verhalten der Anwesenden ergeben, aufgrund der in physischer Hinsicht eingeschränkten sinnenhaften Wahrnehmung nicht in dem Maße möglich sind wie in einer face-to-face Begegnung. Hierdurch kann der Druck, der sich aus der Unmittelbarkeit der face-to-face Begegnung für die Anwesenden ergibt, geringer sein – woraus allerdings nicht folgt, das ein Telefongespräch „leichter“ zu führen ist als ein klassisches „Gespräch“ von Angesicht zu Angesicht. Es ist lediglich zu markieren, dass darin Spezifika der Kommunikation unter Anwesenden, die physisch nicht präsent sind, liegen. Muss man sich dem anderen nicht körperlich zeigen, so kann damit eine besondere
S.o. 2.2.2. Zur direkten und indirekten Kommunikation s.u. 3.2.1.3.2. Luhmann 1997: Gesellschaft, 290.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Niedrigschwelligkeit verbunden sein, die bei einem face-to-face Kontakt nicht möglich ist. Vermutlich ist es gerade diese anonyme Gesichtslosigkeit, der die Telefonseelsorge ihren hohen Zuspruch verdankt. Auch die Schwelle zum Abbruch der Kommunikation ist niedriger – systemtheoretisch formuliert: Die Interaktion entlässt die Anwesenden schneller als bei einer face-to-face Konstellation. So kann die Frau – v. a. wenn ihr der Seelsorger nicht bekannt ist – einfach auflegen. Und noch eine weitere Möglichkeit der Inklusion und Exklusion ist denkbar: Inklusion trotz kontinuierlicher physischer Absenz – wie die manchmal dominierende „Anwesenheit“ von Verstorbenen. Morgenthaler beschreibt aus familiendynamischer Sicht, wie der Tod eines Familienmitglieds das „System Familie“ irritiert und dazu zwingt, sich neu zu ordnen.¹⁹³ Vor dem Hintergrund des psychotherapeutischen Modells der Übertragung geht er der Frage nach, welche Rollen dem – z. B. zum Kasualgespräch erscheinenden – Seelsorger, angetragen werden können.¹⁹⁴ Morgenthalers Zugangsweise erweist sich zwar nicht als genuin systemtheoretisch, kann jedoch in dieser Hinsicht eingeholt werden: Gerade zu Beginn, an dem die Interaktion die Frage nach Präsenz und Absenz klärt, können sich die Erwartungen, die sich an den Seelsorger als anwesende Person richten, leib-räumlich performieren, indem dem Seelsorger z. B. der „Stammplatz“ des Verstorbenen als Sitzmöglichkeit angeboten wird. Im Fortgang wird es der Kommunikation leicht fallen, den Seelsorger nach ähnlichen Kommunikationsmustern zu behandeln, wie den Verstorbenen, so dass am Leibraum des physisch präsenten Seelsorgers die Anwesenheit des physisch Absenten Gestalt annimmt. Explizit kann die Anwesenheit des physisch Absenten mit Methoden aus der systemischen Therapie hineingeholt werden, etwa durch die Frage: „Was würde wohl die verstorbene Mutter dazu sagen, wenn sie gefragt werden könnte?“ Oder es kann ein freier Stuhl mit der Verstorbenen „besetzt“ werden, um mit ihr „ins Gespräch zu kommen“. Hierbei kann deutlich werden, dass sich z. B. die Struktur der Interaktion, wie die Wahl von Themen, von der Anwesenheit der Verstorbenen irritieren lässt. Wird dies zum Thema der Kommunikation gemacht, können andere, auch mögliche kommunikative Strukturen erschlossen und – aus Sicht der Anwesenden – neue Handlungsoptionen eröffnet werden. Doch nicht nur Menschen können von der Interaktion trotz kontinuierlicher Absenz inkludiert werden, sondern auch Transzendentes, also immanent Abwe-
Dies geschieht anhand einiger Fallbeispiele aus der seelsorglichen Praxis; vgl. z. B. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 24 ff und 56 ff. – Allerdings ist Morgenthalers Systemverständnis aus systemtheoretischer Sicht zu kritisieren; s. o. 1.1.3.2. Zur Familie als Sozialsystem vgl. Luhmann 20053: Sozialsystem. Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 242 ff.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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sendes. Dies ist dann der Fall, wenn die Kommunikation religiös codiert ist.¹⁹⁵ Denn Religion rechnet mit einer kommunikativ erreichbaren Transzendenz. Dabei sind die religiösen Konzeptionen und Vorstellungen eines Kontakts mit Gott meist mit interaktionsnahen Vorstellungsgehalten und „Anwesenheitsideen“ verbunden.¹⁹⁶ Aus strikt soziologisch-systemtheoretischer Sicht ist allerdings weder die Kommunikation Gottes (Offenbarung) noch die Kommunikation mit Gott (Gebet) einholbar.¹⁹⁷ Das Festhalten der Religion an einer, die Grenzen der Gesellschaft transzendierenden Kommunikation mag zwar aus soziologischer Perspektive problematisch scheinen, stellt sich auf der anderen Seite jedoch gerade als Spezifikum religiöser und damit seelsorglicher Kommunikation dar. Hierbei kann sogar der im weitesten Sinne rezeptionsästhetische Kommunikationsbegriff der Systemtheorie, aus dem Luhmann gerade die Unmöglichkeit der Kommunikation mit Gott ableitet, für die religiöse Kommunikation geltend gemacht werden. Denn wo immer es etwas zu verstehen gibt, bzw. wo jemand meint, es werde ihm etwas zu verstehen gegeben, vollzieht sich Kommunikation.¹⁹⁸ So liegt religiöse Kommunikation auch da vor, wo eine Deutungsinstanz etwas in gewisser Hinsicht einem göttlichen Adressaten zurechnet. Wird Seelsorge als wechselseitiges Gespräch anwesender Glaubensgeschwister zum Zwecke des Trosts untereinander beschrieben,¹⁹⁹ so handelt es sich um eine kommunikative Begegnung mindestens zweier Anwesender „in meinem Namen“, die sich unter die göttliche Verheißung des immanent Abwesenden, „mitten unter ihnen“ zu sein, stellt. Mt 18,20²⁰⁰ kann nun kommunikationstheoretisch aus interaktioneller Sicht im Hinblick auf das Abgrenzungskriterium der Anwesenheit erhellt werden.²⁰¹ Verweist der erste Teil – „wo zwei versammelt sind“ – zunächst auf eine Interaktion im oben beschriebenen Sinne, so zeigen das folgende Satzglied – „in meinem Namen“ – sowie die Verheißung an, dass sich die kommunikative Begegnung in einem spezifischen Rahmen ereignet, der diese als Aufeinandertreffen
Zur religiösen Codierung der Interaktion s.u. 3.2.2.2.2. Vgl. Tyrell 2002: Religiöse Kommunikation, 48. Vgl. Luhmann 20053: Gesellschaft, 243: „Es gibt […] keine Kommunikation mit Gott. […] Und in letzter Konsequenz heißt dies schließlich, daß weder Offenbarung noch Gebet als Kommunikation zu denken sind. Alle diese Vorstellungen führen letztlich zu einer Eingemeindung Gottes in die Gesellschaft.“ Hierauf weist bereits Tyrell (2002: Religiöse Kommunikation, 50) hin. S.o. 2.2. „Wo zwei […] versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Zur im weitesten Sinne theologischen Auslegung von Mt 18,20 s.o. 2.2.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
zweier wirklicher bzw. möglicher Glaubensgeschwister deutet und darüber hinaus Christus als Anwesenden in die Interaktion inkludiert. Hierbei ist interessant, dass „der Name“ dem Sinnrepertoire der Interaktion entstammt.²⁰² Denn auch wenn der Name dazu dient, von Abwesenden reden zu können, so ist seine ursprüngliche Funktion auf Anwesenheit bezogen, da er die Adressierung von Kommunikation ermöglicht. Die namentliche Anrede selegiert bei mehreren Anwesenden sicher die Adresse der Kommunikation. In eben diesem Sinne kann dies auch Gott sein, der im Gebet namentlich angesprochen wird. Nun setzt die Ansprache nicht nur einen Namen, sondern auch die Anwesenheit des Adressaten voraus. Diese wird in Mt 18,20 promissional von Christus zugesichert: „Da bin ich mitten unter ihnen“. Die Verheißung des Abwesenden, anwesend zu sein, macht die face-to-face Kommunikation zur Interaktion im Angesicht Christi, d. h. sie stellt die kommunikative Begegnung in einen christlichen Deutungshorizont. Mit dem Gebrauch der 1. Person Singular – „da bin ich mitten unter ihnen“ – offeriert sich der Sprecher grundsätzlich als „Du“. Die Differenz von „Ich“ und „Du“ hat ihren „genuine[n] Entstehungs- und kommunikative[n] Nutzungsort“²⁰³ ebenso wie der Name in der Interaktion, denn der Gebrauch des „Ich“ setzt immer ein mitanwesendes „Du“ voraus. Da Christus hier „Ich“ benutzt, kommt er entsprechend auch als „Du“, und damit als Adresse von Kommunikation in Frage. Allgemein auf die Kommunikation von und mit Gott hin formuliert: Die „Hineinziehung Gottes in die Ich/Du-Korrespondenz […] sichert ihn […] als angehbare Adresse, als kommunikativ erreichbares Gegenüber, als ‚Person‘.“²⁰⁴ Nun könnte hier der Einwand erhoben werden, dass in Mt 18,20 neben dem „Ich“ kein „Du“, sondern die 3. Person Plural steht. Bleibt man jedoch nicht an dem Einzelvers haften, sondern bezieht den Kontext mit ein, so ist die Zielrichtung des Verses evident: Zum einen schließt er konjunktional an den vorausgehenden Vers, der neben dem „Ich“ das „Du“ gebraucht,²⁰⁵ an, zum anderen ist Mt 18 als sog. Gemeinderede im Ich/Du-Schema konzipiert. – Auf die intendierte Ansprechbarkeit Christi verweist auch die Überschrift der Lutherbibel „[…] Gebet in der Gemeinde“. So von Gott bzw. Christus selbst zur Kommunikation mit ihm ermutigt, artikuliert sich der Kontakt mit Gott kommunikationsförmig als Gebet.²⁰⁶ Basierend
Vgl. Tyrell 2002: Religiöse Kommunikation, 61 f. Zum „Ich/Du-Schema“ vgl. a.a.O., 62 f; Zitat 62. A.a.O., 62 f. Mt 18,19: „Wahrlich, ich sage euch auch: Wenn zwei unter euch eins werden auf Erden, worum sie bitten wollen, so soll es ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel.“ An dieser Stelle sollen einige Hinweise genügen, denn eine hinreichend ausführliche Analyse des Gebets kann an dieser Stelle nicht geleistet werden.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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auf der promissio redet das Gebet, indem es Sprache und hörbare Worte nutzt, „den ‚nichtanwesenden anwesenden‘ göttlichen Adressaten an, nennt ihn beim Namen, und […] stattet den Adressaten mit allem aus, dessen es für die kommunikative Zugänglichkeit samt Antwortfähigkeit bedarf.“²⁰⁷ Insofern wird der aus – soziologischer Perspektive – unerreichbar scheinende Adressat²⁰⁸ aus religiöser Perspektive als Anwesender ansprechbar. Im Gebet geht es darum, sich selbst oder andere vor das Angesicht Gottes zu stellen, d. h. eine christliche Deuteperspektive hinsichtlich einer bestimmten Lebenssituation, der eigenen Lebensgeschichte oder der eines anderen einzunehmen.²⁰⁹ Insofern kann Gebet als die kommunikative Vergegenwärtigung einer christlichen Deuteperspektive verstanden werden – mehr noch: als die performative Vergewisserung eines für mich (pro me) aktuell anwesenden Gottes. Eine Gewissheit, die nur über die Kommunikation mit, jedoch nicht über Gott zu erreichen ist.²¹⁰ Um die Erreichbarkeit Gottes immer und überall zu gewährleisten, wird seine Anwesenheit als Omnipräsenz gedacht. Dies unterscheidet sich v. a.von der Anwesenheits-Vorstellung, wie sie im Alten Testament bei der Interaktion von Jahwe und Mose am Sinai beschrieben wird²¹¹ – eine Kommunikation, die sich realpräsentisch „von Angesicht zu Angesicht“²¹² ereignet. Auch an weiteren Stellen des Alten Testaments wird die Anwesenheit Jahwes ver-ortet – zu denken ist hier an die Bundeslade und dann später an den Tempel, die lokale Präsenz Jahwes auf dem Zion. Die im Neuen Testament begegnende Inkarnationsvorstellung kann als „Selbsteingemeindung Gottes in die Gesellschaft“²¹³ beschrieben werden, als crossing von der einen Seite der Form transzendent/immanent zur anderen. Das raum- und zeitlose Wort wird Fleisch und geht in Zeit und Raum ein, indem es sowohl greifbare als auch angreifbare Gestalt annimmt. Mit der Auferstehung konstituiert sich in der Gestalt des neuen Adams sodann ein neuer Zeit-Raum, der gleichwohl Anteil an der Immanenz hat. Die Himmelfahrtsvorstellung, die alle immanente Gestalt in einem erneuten crossing wieder in die Transzendenz enthebt, ermöglicht Omnipräsenz. Angesichts dieser Überlegungen bleibt im Blick auf die Seelsorge festzuhalten, dass es über alle theologischen Vorstellungen der Präsenz Gottes hinaus, darum geht, dass Gott bzw.
Tyrell 2002: Religiöse Kommunikation, 46. Vgl. Luhmann 20053: Gesellschaft, 245. Diese Sichtweise des Gebets hat eine andere Zielrichtung, als der häufig – so auch von Luhmann (20053: Gesellschaft, 246) – vorgebrachte provokative Einwand, welchem Zweck das Gebet diene, wenn Gott weder über etwas informiert werden könne, was dieser noch nicht weiß, noch zu erwarten sei, dass das Gebet ihn zu etwas motivieren könne, was er sonst nicht tun würde. Ähnlich hält bereits Luhmann (20053: Gesellschaft, 246 f) fest, dass sich die Kommunikation mit Gott – im Unterschied zur Kommunikation über Gott – dessen Existenz selbst bescheinigt. Zur Begegnung am Sinai als Interaktion vgl. Tyrell 2002: Religiöse Kommunikation, 56 ff. Vgl. Dtn 34,10: „Und es stand hinfort kein Prophet in Israel auf wie Mose, den der HERR erkannt hätte von Angesicht zu Angesicht“. In Anspielung auf Luhmann 20053: Gesellschaft, 243.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Christus in der seelsorglichen Begegnung, die sich in einem bestimmten Raum, zu einer bestimmten Zeit ereignet, ein Anwesender für mich wird.
In die seelsorgliche Kommunikation kann die promissionale Anwesenheit Christi nicht nur mit spezifisch christlichen Kommunikationsformen – wie mit einem Gebet oder Segen – hineingeholt werden, sondern auch mit systemtherapeutischen Methoden, die auf dem seelsorglichen Spielfeld dazu einladen, „sich selbst und die Welt […] probeweise unter die Hypothese zu stellen: etsi deus daretur, als ob es Gott gäbe.“²¹⁴ Ähnlich wie bei der Inklusion trotz kontinuierlicher Absenz kann gefragt werden: „Was würde wohl Gott dazu sagen, wenn er Sie hier so sehen würde?“ Indem jemand der Anwesenden die – am besten räumlich markierte – Rolle Gottes einnimmt, kann man auf spielerische Weise mit diesem „ins Gespräch zu kommen“. Hierbei nehmen verschiedene Gotteskonstrukte kommunikativ Form an, die ihrerseits in Frage gestellt und irritiert werden können.Vorstellbar ist auch, dass im Rahmen der systemtherapeutischen Techniken zur Visualisierung von Relationen, explizit nach der Position Gottes im Beziehungsgefüge gefragt wird, z. B. mit welchem Familienmitglied zu welchem Zweck Gott eine Koalition eingegangen ist und welche weiteren Möglichkeit denkbar wären.²¹⁵
3.2.1.3 Kommunikation auf der Wahrnehmungsbühne Das Abgrenzungskriterium der Anwesenheit verweist die Interaktion schon immer auf die besondere Bedeutung von Wahrnehmungsprozessen. Und tatsächlich sind bei Aufbau und Fortgang eines Interaktionssystems sowohl Kommunikations- als auch Wahrnehmungsprozesse konstitutiv. Zwar setzt auch die schriftliche oder massenmediale Kommunikation Wahrnehmung – z. B. die von Schriftzeichen – voraus, doch in keinem anderen sozialen System ist Kommunikation so eng an Wahrnehmung gekoppelt wie in der Interaktion. Dies wird auch in der von Scharfenberg beschriebenen Szene deutlich:²¹⁶ Noch bevor der Seelsorger und die Frau ein Wort wechseln, liegen auf beiden Seiten eine Reihe an „Sinneseindrücken“ vor, die „Verbindungen zu Erinnerungen herstellen“ und bereit sind, „in das Gespräch einzugehen“. So ruft z. B. der angesichts des Hauses bei der Frau gebildete „Sinneseindruck“ Erinnerungen an die alte Schulzeit hervor. Und als sich die Frau und der Seelsorger von Angesicht zu Angesicht begegnen, sieht die Frau das an der Wand hängende Kreuz, welches sie Dressler/Klie 2008: Performanz, 221; Kursivierung im Original. Zu weiteren aus der systemischen Therapie entlehnten Arbeitsformen, die „Gott ins System bringen“, vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 253 ff. Scharfenberg 1972: Seelsorge, 66 f; s. o. Einleitung zu Kapitel 3.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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mit ihrer „Konfirmation und alles, was mit diesem Thema zusammenhängt“ in Verbindung bringt. Hierbei nimmt der Seelsorger womöglich wahr, dass der Blick der Frau an dem Kreuz hängen bleibt, und die Frau nimmt womöglich wahr, dass der Seelsorger dies wahrnimmt. In dem gemeinsamen Wahrnehmungsraum, der sich durch das Aufeinandertreffen zweier Personen²¹⁷ konstituiert, nehmen diese also nicht nur „etwas“ wahr, sondern wissen sich auch vom anderen wahrgenommen. Nun ist es weiterhin möglich, dass die Wahrnehmung des Kreuzes zum Thema der Kommunikation wird, indem z. B. der Seelsorger die Frau auf das Kreuz hin anspricht – während gleichzeitig die Wahrnehmung weiter läuft u.s.f. Im Folgenden werden der Begriff der Wahrnehmung und damit der Wahrnehmungsprozess näher beleuchtet (3.2.1.3.1). Vor diesem Hintergrund kann dann auf die reflexive Wahrnehmung, durch die sich Interaktionssysteme regelrecht zur Kommunikation zwingen, eingegangen werden (3.2.1.3.2). Mit dem Rekurs auf Wahrnehmung verortet sich die vorliegende Untersuchung in einer im weitesten Sinne ästhetisch²¹⁸ orientierten Praktischen Theologie, die sich weniger als Handlungs- oder Erfahrungs-, denn als Deutungs- und Wahrnehmungswissenschaft versteht. Die Beschreibung des seelsorglichen Geschehens als Interaktion verweist auf dessen ästhetische Dimension und öffnet die Poimenik für eine im weitesten Sinne wahrnehmungstheoretische Perspektive. Denn in der Interaktion kommt der Wahrnehmung als ästhetische Kategorie eine konstitutive Funktion zu. In der Kommunikation unter Anwesenden performiert sich ein kommunikativer Wahrnehmungsraum. Kommunikation findet in einem Leib-Raum statt, in dem wirklichkeitsbildende Vergegenwärtigungsprozesse wahrnehmbare Formen annehmen. Sinnenhafte Gestalten und äußerliche Kommunikationsumstände rücken damit in den Fokus des Interesses, und so wird auch eine Poimenik, die Seelsorge als Interaktion beschreibt, auf leib-räumliche Darstellungen und raum-zeitliche Ausdrucksformen aufmerksam. Aus ästhetischperformativer Perspektive geht es im Hinblick auf die spezifisch seelsorgliche Kommunikation um Vergegenwärtigungsprozesse des Evangeliums, d. h. um die Frage, wie das Evangelium in einer bestimmten Kommunikationssituation konkrete Gestalt annimmt, um gute Nachricht pro me zu werden.²¹⁹ Die Inhaltsfrage wird so zur Formfrage.²²⁰
Zum systemtheoretischen Person-Begriff s.o. Anm. 70. S.o. 0.1. – Zu ästhetischen Bezügen in der Praktischen Theologie s.o. 1.1.3.3. S.o. 2.2– 2.2.1. – Bereits Roth (2006: Theatralität, 38 ff) weist darauf hin, dass der Wahrnehmungsbegriff zu den in performativer Hinsicht relevanten Termini zählt. Vgl. Grözinger, 19912: Theologie, 209: Die „ästhetische Dimension […] ist dort erreicht, wo sich die Inhalts-Problematik als Problem der Form entfaltet.“
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Vor einem im weitesten Sinne konstruktivistischen Hintergrund werden nun im Rückgriff auf system- und zeichentheoretische Theoriefiguren diese performativen Gestaltungsprozesse am Ort der seelsorglichen Interaktion aus kommunikationstheoretischer Perspektive erhellt. Hierbei soll aus pragmatischen Gründen keine konsistente Theorie der Wahrnehmung entfaltet, sondern lediglich die für Seelsorge und Poimenik relevanten Aspekte diskutiert werden. Denn ist gegenwärtig davon auszugehen, „dass die Thematik der Wahrnehmung in breiter Übereinstimmung als konstitutiv für die Praktische Theologie angesehen wird“,²²¹ so endet diese Übereinstimmung angesichts unterschiedlicher Herangehensweisen und verschiedener Akzentsetzungen. Die methodischen Anleihen reichen von phänomenologischen über hermeneutische, religionssoziologische, kulturwissenschaftliche bis hin zu semiotischen Konzepten.²²² Etymologisch gesehen, bezeichnet Wahrnehmung „das Gewahrwerden sinnlich vermittelter Gegebenheiten“.²²³ Argumentiert man strikt systemtheoretisch, so stellt Wahrnehmung eine Operation des Bewusstseins dar.²²⁴ Das heißt, Wahrnehmung ist die Leistung psychischer und nicht lebender oder sozialer Systeme. Als „ökologische Vorbedingung“²²⁵ fließen Wahrnehmungen daher nicht direkt in die Kommunikation ein, sondern soziale Systeme können Wahrnehmungen nur mit kommunikativen Mitteln thematisieren.²²⁶ So kann im Gespräch zwischen dem Seelsorger und der Frau zwar über die Wahrnehmung des Kreuzes gesprochen werden, die Wahrnehmung selbst – eingeschlossen der konkreten Erinnerungen, die sich auf Seiten der Frau damit verbinden – bleibt als Operation des Bewusstseins für die Kommunikation latent. Es ist evident, dass nicht alles,
Mädler 2006: Transfigurationen, 40. Einen Überblick bietet Mädler a.a.O., 40 ff. Busche 2004: Wahrnehmung, 190. – Die Komplexität des Wahrnehmungsbegriffs spiegelt sich in dessen philosophischer Theoretisierung. Einen Überblick bietet der Artikel „Wahrnehmung“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie. (Busche; Dewender; Puster; Ortland; SachsHombach; Vongehr; Willaschek; von der Lühe/Fischer-Loock 2004: Wahrnehmung I-VIII) – Die vorliegende Untersuchung begibt sich nicht in diese breit angelegte philosophische Diskussion. Zur Entscheidung Luhmanns, die Wahrnehmung und weniger das Denken als Operation des Bewusstseins zu beschreiben vgl. z. B. Luhmann 20063: Einführung, 271; oder auch ders. 1995: Kunst, 14 f. – Zur Wahrnehmung aus systemtheoretischer Perspektive vgl. Kieserling 1999: Kommunikation, 110 ff; Luhmann 1990: Wissenschaft, 19 ff und 224 ff; ders. 1995: Kunst, 13 ff; ders. 20055: Einfache Sozialsysteme, 27 ff; auf diese Literatur wird im Folgenden Bezug genommen. Kieserling 1999: Kommunikation, 113. Zur analytischen Trennung von biologischen, psychischen und sozialen Systemen s.o. 3.2.1.1. – Eine ähnliche Trennung konstatiert auch Eco 2000: Kant, 298: „Ein realer Sachverhalt ist ein realer Sachverhalt und eine Wahrnehmungserfahrung ist eine Wahrnehmungserfahrung, aber eben kein Satz. Ein Satz wird erzeugt, um einen realen Sachverhalt oder eine Wahrnehmungserfahrung auszudrücken.“
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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was wahrgenommen, auch kommuniziert wird bzw. werden kann. Vermutlich werden die mit dem Kreuz verbundenen Konnotationen eher Eingang in die Kommunikation finden, als die mit der äußeren Gestalt des Seelsorgers verbundenen Erinnerungen an den ehemaligen Tanzpartner der Frau. Zudem operiert das psychische System schneller als das soziale, so dass wesentlich mehr wahrgenommen als kommuniziert werden kann. Ordnet die Systemtheorie Wahrnehmung psychischen Systemen zu, so ist es nur konsequent, dass sie als Kommunikationstheorie, deren Gegenstand soziale Systeme sind, keine elaborierte Wahrnehmungstheorie anbietet, sondern diese Aufgabe der Psychologie zuweist. Deshalb ist es hinsichtlich dieser mikroskopischen Fragestellung angebracht, neben der Systemtheorie andere Theoriezugriffe heranzuziehen. Hier bietet sich die Ecosche Semiotik an, da diese als Kulturtheorie Wahrnehmung als einen kulturell vermittelten Prozess beschreibt und auf diese Weise mit einer im weitesten Sinne konstruktivistischen Zugangsweise konvergiert. So kann vor semiotisch-systemtheoretischem Hintergrund eine Annäherung an den Wahrnehmungsbegriff unternommen werden, um die für die seelsorgliche Interaktion wesentlichen Aspekte der Wahrnehmung adäquat in den Blick zu nehmen und in ihrer Bedeutung für die seelsorgliche Begegnung auszuloten. Dabei geht es weniger um einen psychologischen als um einen erkenntnistheoretischen Zugang.²²⁷
3.2.1.3.1 Wahrnehmung: Deutungsprozess im kulturellen Kontext Als Operation psychischer Systeme ist Wahrnehmung strukturell an neurophysiologische Vorgänge lebender Systeme gekoppelt. Nur über die Sinne, also per visueller, akustischer, taktiler, olfaktorischer oder gustatorischer Wahrnehmung gewinnt das Bewusstsein die Vorstellung über eine Außenwelt. In der eingangs beschriebenen Szene ist es vielleicht der spezifische Geruch des Hauses, die Berührung des Treppengeländers oder ein bestimmter Einrichtungsgegenstand, der bei der Frau Erinnerungen an deren alte Schule hervorruft. Um die operative Trennung von lebendem und psychischem System auch auf terminologischer Ebene einzuholen, ist es auch möglich, sinnenhafte Wahrnehmung als Perzeption und dessen Resultat als Perzept zu bezeichnen, während der Wahrnehmungsbegriff ausschließlich die Operation des Bewusstseins belegt. In Anlehnung an die Ecosche PeirceDarstellung, stellt das Perzept „noch keine vollendete Wahrnehmung“ dar, sondern steht „für
Einen ähnlichen Zugang vertritt vonFoerster (1989: Wahrnehmen, 27) mit der These, dass „Wahrnehmung ein logisch-philosophisches, ein sozio-kulturelles, manchmal sogar ein politisches Problem ist.“
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
sich selbst“.²²⁸ Das, was erscheint, bleibt „stumpf“. Das Perzept ist als „individuelle Sinnesempfindung“ „an sich ‚dumm‘“ und bedarf des weiteren Urteils, welches behauptet, dass das, was wahrgenommen bzw. perzipiert wird, wahr ist.²²⁹ Soweit kann die Bestimmung für die sinnenhafte Wahrnehmung übernommen werden. Sieht man allerdings genauer hin, so zeigt sich, dass der von der Semiotik in Anspruch genommene und ausgedeutete Terminus nicht mit der systemtheoretischen Trennung dreier autopoietischer Systeme kompatibel ist.²³⁰ Nun geht es in der vorliegenden Arbeit nicht darum, system- und zeichentheoretische Vorstellungen bzw. Terminologien aufeinander abzubilden, sondern darum, angeregt durch beide Theorien, einen für die Seelsorge adäquaten, poimenischen Zugang zu entwickeln. Für die Beschreibung des seelsorglichen Interaktionssystems trägt die terminologische Diskussion sowie die Einführung eines eigenen Begriffs für die sinnenhafte Wahrnehmung wenig aus. Im Folgenden ist deshalb von Wahrnehmung bzw. sinnenhafter Wahrnehmung die Rede.
Wahrnehmung externalisiert die Resultate neurophysiologischer Prozesse und konstruiert damit Wirklichkeit. Dabei werden Wahrnehmungen der Außenwelt zugerechnet, d. h. die Außenwelt ist ein im Gehirn erzeugtes Konstrukt, das „nur durch das Bewusstsein so behandelt wird, als ob sie eine Realität ‚draußen‘ wäre“.²³¹ Man sieht also etwas „draußen“, obwohl man – aufgrund der operationalen Geschlossenheit der Systeme – nur „drinnen“ sehen kann. Dies gilt nicht nur für die Ebene des Bewusstseins, sondern bereits für lebende Systeme: Auch die Neurophysiologie des Wahrnehmens arbeitet konstruktiv und lässt sich durch die Außenwelt reizen, nicht aber instruieren.²³² Da Wahrnehmung als Konstruktion immer schon Deutung, nicht aber Abbildung von Welt ist, wird es obsolet, die durch Wahrnehmung erzeugten Objekte zu ontologisieren und davon auszugehen, diese mittels Sprache objektiv erschließen zu können – ähnlich äußert sich auch Eco bezüglich des Wahrnehmungsurteils: „Dieses Urteil ‚repräsentiert‘ das Perzept nicht“.²³³ Ebenso wenig wie Wahrnehmung die Welt repräsentiert, repräsentiert Kommunikation die Wahrnehmung. Es kann keine „wirkliche Realität“ geben, die mit der „natürlichen Ausrüstung des Menschen“²³⁴ zu erfassen ist. Wird diese traditionelle „Guckkas-
Vgl. Eco 2000: Kant, 136 ff; Zitate a.a.O., 137. A.a.O., 137 f. Vgl. hierzu v. a. die Peirce-Interpretation von Fumigalli, die Eco (a.a.O., 519 Anm. 32; Hervorhebungen L.K.) angibt: Fumigalli weist darauf hin, „daß Peirces Perzept […] ‚schon Ergebnis einer unbewußten kognitiven Verarbeitung, die die Daten zu einer strukturierten Form synthetisiert‘ bzw. ‚ein sich aus psychischer Verarbeitung von bloßen Sinnesdaten, Nervenreizungen ergebendes Konstrukt‘“ ist. Luhmann 1995: Kunst, 15. Vgl. Luhmann 20052: Bewußtsein, 45. Eco 2000: Kant, 137. Luhmann 1995: Kunst, 243.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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tenphilosophie des unbeteiligten Beschreibers“²³⁵ aufgegeben, verändert sich das Weltbild und damit auch die Vorstellung von Wahrnehmung grundlegend. Hinsichtlich des Wahrnehmungsbegriffs steht man am „Übergang von einer phänomenbezogenen Wahrnehmungslehre zu einer operativen, von einer repräsentationalen Erkenntnistheorie zu einer konstruktivistischen“.²³⁶ Die Welt ist nicht so, wie sie der Wahrnehmung erscheint, sondern reizt als Vorfindliches zur Wahrnehmung und damit zur Konstruktion einer Außenwelt, näherhin von Wirklichkeit(en). Systemtheoretisch formuliert: Die Welt wird „zum Medium für die laufende Bildung […] spezifischer Formen, zum selbst nicht faßbaren ‚Horizont‘ von Konstruktionen, der als Medium deren Wechsel überdauert.“²³⁷ Und semiotisch eingeholt: Die Wahrnehmung bringt das amorphe Kontinuum in Form.²³⁸ Angeregt durch das unstrukturierte Feld der Welt schreibt Wahrnehmung etwas den Wert einer Information zu. Dieser Wahrnehmungsprozess setzt – hierauf weist bereits die Systemtheorie hin – „so etwas wie eine kulturelle Programmierung“²³⁹ voraus. Bedingt durch die Kopplung des Bewusstseins an die Kommunikation ist Wahrnehmung „kulturell und damit letztlich durch Kommunikation programmierte Wahrnehmung“²⁴⁰. Mittels kulturell vermittelter Muster laufen Wahrnehmungs- als formgebende Deutungsprozesse ab. In diesem Sinn ist die Informationsgewinnung per Wahrnehmung als ein kulturell bedingter Abgleichungsprozess zu beschreiben. Semiotisch formuliert: Wahrnehmung ist ein abduktiver Prozess, ein hypothetisches Schließen aus bereits Bekanntem und Erfahrenen.²⁴¹ Auch aus zeichentheoretischer Perspektive präsentiert sich Wahrnehmung als ein komplexer Akt, als verschlungene Prozesse der Interpretation von Sinnesdaten und Bewusstseinsoperationen, an deren Deutung private Erfahrungen und Kultur
VonFoerster 1989: Wahrnehmen, 31. Luhmann 1995: Kunst, 16. A.a.O., 22. Vgl. Eco 2000: Kant, 67 f. Vgl. Kieserling 1999: Kommunikation, 114 ff; Zitat a.a.O., 114. Ähnlich Luhmann 20052: Wahrnehmung, 184: Wahrnehmung ist „immer interpretierende Wahrnehmung und insofern gedächtnis- als auch kulturabhängig“. – Als Beispiel führt Kieserling (1999: Kommunikation, 115) die Unterscheidung der Geschlechter sowie die Fähigkeit, angesichts auf der Straße herumstehender Möbel zwischen Umzug und Sperrmüll zu unterscheiden, an: „Man sieht den Unterschied vielmehr sogleich und kann dann je nachdem, um was es sich handelt, zugreifen und Möbel abtransportieren oder eben nicht.“ Kieserling 1999: Kommunikation, 116. Vgl. Eco 1977: Zeichen, 132. – In seinem erkenntnistheoretischem Werk setzt sich Eco ausführlich mit Wahrnehmung auseinander; vgl. Eco 2000: Kant, 73 ff und 146 ff. Die folgenden Ausführungen nehmen darauf Bezug.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
beteiligt sind. In die Wahrnehmungsprozesse selbst „nistet“ sich die Semiose regelrecht ein,²⁴² so dass Wahrnehmung als semiotischer Prozess zu fassen ist. Mit Eco kann man sogar so weit gehen, von einer Wahrnehmungssemiose zu sprechen.²⁴³ Dies in dem Sinne, dass man „im Prozeß des Schließens ausgehend von etwas dahin gelangt, ein Wahrnehmungsurteil über eben dieses Etwas und über nichts anderes auszusprechen“.²⁴⁴ Damit dieses „Etwas“ zum Zeichen für etwas anderes werden kann, muss es zunächst einmal als etwas wahrgenommen werden.²⁴⁵ Das leuchtet an dem Beispiel von Scharfenberg²⁴⁶ unmittelbar ein: Damit das Haus von der Frau mit deren alten Schule in Verbindung gebracht werden kann, muss es als „Etwas-in-derWelt“ wahrgenommen werden. Die „voll entfaltete Semiose“, d. h. dass ein Phänomen²⁴⁷ Zeichen für etwas anderes wird, beruht auf einem Wahrnehmungsschluss, der auch als ein Prozess „primärer Semiose“ oder „perzeptiver PräSemiose“ bezeichnet werden kann.²⁴⁸ Hierbei ist die Primärphase eng an den weiteren Zeichenprozess gebunden – sogar beinahe in ihn verwoben, denn es entfaltet sich eine „Abfolge von Phasen […], bei der die frühere die nachfolgende bestimmt“²⁴⁹ ohne, dass deutliche Brüche auszumachen wären. Diese Beziehung erinnert an den aus systemtheoretischer Perspektive beschriebenen Zusammenhang von Bewusstsein und Kommunikation: Auch hier basiert Kommunikation auf Wahrnehmung, so dass letztere als vorsoziale Voraussetzung gelten kann. Semiosische Wahrnehmungsprozesse stellen für die zeichenhafte Kommunikation den relevanten Kontext dar, indem sie diese permanent rahmen und irritieren. Oder um es noch mal auf das Beispiel Scharfenbergs zu beziehen: Noch bevor das „eigentliche Gespräch“ – gemeint ist die verbalsprachliche Kommuni-
Vgl. Eco 2000: Kant, 75: „Daß die Semiose sich in die Wahrnehmungsprozesse einnistet, ist fast ein Dogma der von Peirce inspirierten Semiotik“. Vgl. a.a.O., 148 ff. – Dass die Operationen des psychischen Systems als Semiose aufgefasst werden können, zeigt auch der Beitrag von Kastner (2001: Autopoiese; Zitat a.a.O., 90): „Das, was man ‚Bewußtsein‘ eines Menschen nennt, könnte als eine unablässige Abfolge von vorstellungsbzw. wirklichkeitskonstituierenden Zeichenbildungshandlungen (‚Gedanken‘) – und so als ein Semioseprozeß im Peirceschen Sinne – begriffen werden.“ Scheibmayr (2001: Zeichen) konzipiert ebenfalls im Rekurs auf Peirce die Operationen psychischer Systeme als Zeichenprozess, wobei auch er von Gedanken ausgeht. Eco 2000: Kant, 149; Hervorhebung im Original. Vgl. a.a.O., 436: „Um ein Zeichen als solches zu verstehen, muß man zuerst Wahrnehmungsprozesse aktivieren, nämlich Substanzen als Form des Ausdrucks wahrnehmen.“ S.o. Einleitung zu Kapitel 3. „Phänomen“ bezeichnet hier das, was die Semiose in Gang setzt; s.u. Anm. 279. Vgl. Eco 2000: Kant, 150 f. A.a.O., 151.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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kation – beginnt, liegen eine ganze Reihe an Wahrnehmungen, genauer: liegen aus Wahrnehmungsprozessen resultierende Wahrnehmungsschlüsse vor, die die folgende Kommunikation rahmen und auf diese Weise beeinflussen werden. Hierbei wird deutlich, dass die mit der Interaktion in Gang gesetzte kommunikative Interpretations-Kette auch in ihrem Verlauf in dem Kontext von Wahrnehmungen, die zeitgleich zur Kommunikation prozessiert werden, abläuft – dieser, durch die Wahrnehmung generierte frame ist ein besonderes Merkmal der Interaktion.²⁵⁰ Wahrnehmung ist als ein semiosischer Prozess aufzufassen, der permanent in Bewegung ist und nur durch ein Wahrnehmungsurteil kurzzeitig zum Stillstand kommt. Die potentiell unendliche Kette der Interpretanten, die angeregt durch ein Reizfeld in Gang kommt, findet durch einen möglichen abschließenden Interpretanten für einen Augenblick einen vorläufigen Abschluss – so wie das Betreten des Hauses auf Seiten der Frau verschiedene Sinneseindrücke hervorruft und einen Wahrnehmungsprozess in Gang setzt, als ihr auf der Treppe „plötzlich“ einfällt, dass sie dieses Gebäude an ihre alte Schule erinnert. Die triadische Wahrnehmungssemiose kann als ein Abgleichungsprozess – semiotisch: als fortlaufende Abduktions-Schleife – verstanden werden, bei dem das Wahrnehmungsurteil durch den Abgleich des Wahrgenommenen mit bereits Bekanntem zustande kommt. Dieses kann sowohl aus dem subjektiv-privaten Erinnerungsraum – wie die Erinnerung an die alte Schule – als auch aus dem kulturell-öffentlichen Erfahrungsraum bzw. Wissen – wie bei der Deutung des an der Wand hängenden Kreuzes – stammen. In einem semiosischen Interpretationsprozess werden die zur Wahrnehmung reizenden Sinnesdaten mittels einer Deutungsinstanz auf ein bereits vorgebildetes Modell bezogen, das sowohl idiosynkratische als auch kulturelle Codes zur Verfügung stellt. Es wäre auch möglich, Wahrnehmung im Rückgriff auf Ecos Theorie der Codes als einen Decodierungsprozess zu beschreiben. Ausgearbeitet in seinem semiotischen Hauptwerk,²⁵¹ lenkt Eco jedoch bereits im Vorwort zur deutschen Ausgabe ein, dass er den Code-Begriff durch den der Enzyklopädie, der zum Zentralbegriff seines Denkens geworden ist, ersetzt.²⁵² Im Unterschied zur syntaktisch orientierten Code-Theorie, ist das Enzyklopädie-Modell semantisch bzw. pragmatisch orientiert,²⁵³ wobei Enzyklopädie das Gesamt des kulturell codierten Wissens bezeichnet – die Modifikation der Code-Theorie bis hin zu ihrer Relativierung im Enzyklopädie-Modell zeichnet Klie luzide nach.²⁵⁴ In den nachfolgenden Werken – ab
S.u. 3.2.2.1.2. Eco 19912: Semiotik, 76 ff. Vgl. a.a.O., 12. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 201. Vgl. a.a.O., 195 ff und 204 ff.
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„Semiotik und Philosophie der Sprache“ – benutzt Eco den Enzyklopädie-Begriff als ein „übergeordnetes Modell, innerhalb dessen Formen der Codierung lediglich spezifische Aspekte der Axiomatik bezeichnen“.²⁵⁵ Auch für die vorliegende Arbeit bietet sich der Rückgriff auf den Enzyklopädie- bzw. den Code-Begriff im Kontext des übergeordneten Modells der Enzyklopädie eher an als auf den der Codes. Für die folgenden Überlegungen bedeutet das, dass die Annäherung an den Decodierungsprozess der Wahrnehmung im Rekurs auf Wahrnehmungsschemata, für die eine ähnliche netzartige Organisation wie für die Enzyklopädie angenommen wird,²⁵⁶ erfolgt. Dieser Zugriff scheint im Hinblick auf die Komplexität des Wahrnehmungsprozesses angemessen.
Um zu einem Wahrnehmungsurteil zu gelangen, wird in einem Verallgemeinerungsprozess ein konkretes Exemplar einer bestimmten Situation auf einen allgemeinen Typus bezogen.²⁵⁷ Oder andersrum betrachtet: In einer bestimmten Situation performiert sich ein Typus in Form eines bestimmten Exemplars, nimmt wahrnehmbare Gestalt an und kann so von jemandem für wahr gehalten werden. Das Wechselspiel von Exemplar und Typus ergibt eine „einzigartige Kombination von Redundanz und Information. Man hat es zwar immer mit wiedererkennbaren Dingen zu tun, aber immer mit anderen. Die Bilder wechseln.“²⁵⁸ In der Seelsorge nimmt das Evangelium also in verschiedenen seelsorglichen Situationen verschiedene Gestalt an. Nur in diesen konkreten, wahrnehmbaren Formen kann es für jemanden zur guten Nachricht werden und gegebenenfalls trösten.²⁵⁹ Der Decodierungs- bzw. Deutungsprozess der Wahrnehmung kann semiotisch weiter erhellt werden:²⁶⁰ Damit eine Form, ein konkretes Exemplar von jemandem als etwas wahrgenommen werden kann, muss der Bezug zu einem bereits vorgebildeten Modell – einem kognitiven Typus (KT) – hergestellt werden. Im Anschluss an Eco wird unter KT ein privat-subjektives Schema verstanden, das sich „im Kopf befindet“²⁶¹ und es uns ermöglicht, etwas zu erkennen. Er ist vorzustellen als eine Regel, ein komplexes System von Anweisungen, das sich – ähnlich der Enzyklopädie – in netzartiger Weise organisiert. Da der KT in der black box – systemtheoretisch: auf Ebene des Bewusstseins – postuliert wird, sind für den Erkenntnis- bzw. Wahrnehmungsprozess keine Begriffe notwendig. Das Benen-
A.a.O., 195. Vgl. z. B. Eco 2000: Kant, 213 ff. Vgl. a.a.O., 149 f. u. ö. Luhmann 1995: Kunst, 27. Zur Performanz des Evangeliums s.o. 2.2.1. Zum Folgenden vgl. Eco 2000: Kant, 146 ff. A.a.O., 195.
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nen, das Aussprechen eines Wahrnehmungsurteils ist deshalb der „erste soziale Akt“²⁶² – systemtheoretisch: Kommunikation. Eng gekoppelt an Wahrnehmungsprozesse sind KTs „für alle Gegenstände oder Ereignisse“ anzunehmen „von denen man durch Wahrnehmungserfahrung Kenntnis erlangen kann“.²⁶³ Daher stellen KTs nicht nur visuelle Bilder zur Verfügung, d. h. sie berücksichtigen nicht nur morphologische Merkmale, sondern haben multimedialen Charakter. So erkennt man – so Ecos anschauliches Beispiel – eine Schnake gewöhnlich weniger an ihrem Aussehen als an dem charakteristischen Summen (auditiv) oder an dem brennenden Schmerz ihres Stichs (taktil).²⁶⁴ Bezüglich der von Scharfenberg beschriebenen Szene mag es der spezifische Geruch des Hauses, die Berührung des Treppengeländers oder ein bestimmter Einrichtungsgegenstand sein, der die Frau das Haus des Seelsorgers mit ihrer alten Schule in Verbindung bringen lässt. D. h. der KT „Schule“, auf den zurückgegriffen wird, besteht neben visuellen, auch aus olfaktorischen und taktilen Merkmalen. Dabei mag die Aktualisierung des KTs „Schule“ mit allerlei Erinnerungen an die Schulzeit verbunden sein, die bei der Frau verschiedene Konnotationen hervorrufen und ebenfalls zum KT gehören. Nun stellen KTs nicht nur solch multimedialen Bilder zur Verfügung, sondern auch ganze Abfolgen von Bildern, regelrechte Drehbücher, mit denen Situationen und Handlungssequenzen erkannt werden.Während zum Erkennen von „Schule“, „Raum der Stille“, „Supermarkt“, „Seelsorgeraum“ oder „Kirche“ noch eine vergleichbar einfache Grundstruktur ausreicht, sind für die Wahrnehmung von Handlungen und Situationen wie „durch ein Zimmer gehen“, „einen Gottesdienst feiern“ oder „in die Kirche gehen“ komplexe Erzählsequenzen notwendig. Solche KTs beinhalten einen frame, Bilder einer Szenerie oder eine Abfolge von Handlungen, die auf Ebene der Kommunikation bestimmte Kommunikations- bzw. Handlungsschemata aufruft – so verhält man sich beispielsweise in der Szenerie „Supermarkt“ anders als in der Szenerie „Kirche“. Auch wenn sich der KT als privat-subjektives Schema „im Kopf befindet“ – und so weder für die systemtheoretische noch die semiotische Kommunikationstheorie fassbar ist²⁶⁵ – so kann er doch nicht losgelöst von dem kulturellöffentlichen Wissen – dem Nuklearen Inhalt (NI) – betrachtet werden. Unter dem NI ist mit Eco die Gesamtheit der Interpretanten zu verstehen. Der NI beruht auf der öffentlichen, kommunikativen Übereinstimmung und stellt damit ein inter-
A.a.O., 156. A.a.O., 191. Vgl. a.a.O., 185. Eco (a.a.O., 160 u. ö.) betont wiederholt, dass er sich weigere, „die Nase in die black box zu stecken“.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
subjektives, öffentlich-kollektives Schema dar, das als Gegenstand der Vereinbarung stets interpretierbar bleibt. Ähnlich dem KT ist auch der NI vieldimensional und damit nicht unbedingt verbalsprachlich angelegt, sondern kann auch durch Worte, Gesten, Bilder etc. ausgedrückt werden. Der Zusammenhang von dem privat-subjektiven Schema des KTs und dem generalisierten Konsens des NIs zeichnet sich bereits bei der Genese der Schemata ab: Auf der einen Seite fungiert der KT als Disposition zur Erzeugung von NIs. Auf der anderen Seite setzt die Bildung eines KTs nicht unbedingt eine subjektive Wahrnehmungserfahrung voraus, sondern kann auch kulturell – wie durch Erziehung und Sozialisation – vermittelt werden. Im Kontext des kulturellen Wissens unterliegt der KT der öffentlichen Kontrolle durch die jeweiligen Kommunikationsumstände. Dies ist auf der Ebene der Wahrnehmung – und deshalb in der Kommunikation unter Anwesenden – ganz unmittelbar durch „interaktionelle Kontrolle“²⁶⁶ möglich. Beobachtungssätze basieren nicht nur auf privat-subjektiver, also individueller Wahrnehmung, sondern auch auf der jeweiligen kulturellen Sprachgemeinschaft, die dazu zwingen kann, Beobachtungssätze zu korrigieren – was dann auf kommunikativer Ebene geschieht. Bezeichnet der NI den common sense einer Kultur, so steht die Enzyklopädie für das gesamte kulturelle Wissen, das sich aus der Summe aller Molaren Inhalten (MI) ergibt. Nach Eco bezeichnet der MI das umfassende Wissen, die erweiterte Kompetenz, die jemand über „etwas“ hat. Der MI ist eine sektoriale Kompetenz in dem Sinne, dass eine Deutungsinstanz an bestimmten Sektoren des kulturellenzyklopädischen Wissens Anteil hat, das je nach situativen Kontext aktiviert wird – Eco spricht hier auch von einer „Teilung der kulturellen Arbeit“²⁶⁷. Demnach beinhaltet der MI je nach Deutungsinstanz Unterschiedliches. Dies lässt sich an dem Scharfenberg-Beispiel verdeutlichen: Sowohl der Frau eignet ein MI, ein System von Kenntnissen, vom /Kreuz/ als auch dem Seelsorger, wobei beide Bereiche nicht koextensiv sind. Während die Frau ein Grundwissen vom /Kreuz/ als Zeichen für «Kirche» – und damit privat verknüpft: «Konfirmation» – haben mag, kann der Seelsorger – zumal wenn er Theologe ist – als Experte gelten, der neben privaten Erinnerungen, die er mit diesem bestimmten Exemplar des an der Wand hängenden Kreuzes verbindet, über theologisch-historisches Wissen verfügt. Dennoch werden sich die Frau und der Seelsorger unter normalen Umständen darauf verständigen, die //zwei an der Wand angebrachten, rechtwinklig gekreuzten Stäbe// als christliches Zeichen, eben
Luhmann 1997: Gesellschaft, 290. Eco 2000: Kant, 167.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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als Kreuz zu deuten – so wie es im Übrigen auch der kulturellen Vereinbarung entspricht. Obwohl die Kompetenzen also recht unterschiedlich sind, gibt es einen gemeinsamen Bereich, in dem die Kenntnisse zusammenfallen. Auf diesen beziehen sich die Frau und der Seelsorger, und auf eben dieser Ebene können beide einige „Aussagen des gesunden Menschenverstandes“²⁶⁸ über das Kreuz machen. Anders wäre eine erfolgreiche Kommunikation nicht möglich, die Gesprächspartner würden permanent aneinander vorbei reden. Nun ist der gemeinsame Bereich, auf den sich die Frau und der Seelsorger beziehen, nicht statisch zu verstehen, sondern er wird ständig verhandelt bzw. vereinbart. Der Seelsorger ist einerseits in Bezug auf die aktuelle Interaktion bereit, einiges von dem, was er von dem Kreuz weiß, unberücksichtigt zu lassen. Andererseits kann in der Kommunikation auch der KT verändert werden, da dieser kein starres System von Anweisungen ist, sondern ein Verfahren, ein netzartig verzweigtes System von Kenntnissen, das prinzipiell beweglich und damit offen bleibt. So kann z. B. der KT der Frau bereichert werden, indem der Seelsorger im Verlauf des Gesprächs die Passionsgeschichte oder das „Wort vom Kreuz“ (1. Kor 1,18 – 2,5) einspielt. In dem wechselseitigen Deutungsgeschehen kann durch die Konfrontation mit unterschiedlichen religiösen Interpretationen auch der KT des Seelsorgers verändert werden. Eco, der sich eher für NIs als generalisierten Konsens interessiert, berücksichtigt den MI nicht weiter, und auch für die Poimenik scheint der Rekurs auf die Enzyklopädie-Vorstellung ertragreicher²⁶⁹ als auf das spezifische Theorem des MIs. Es ist deutlich geworden, dass die Wahrnehmungssemiose darauf abzielt, das amorphe Kontinuum in Form zu bringen. Hierzu werden, um eine konkrete Form zu erkennen bzw. wahrzunehmen, aus dem potentiell Wahrzunehmenden qua vorgebildetem Schema verschiedene Marker des Wahrnehmbaren herausgefiltert, die mit einem Wahrnehmungsmodell abgeglichen werden. Dabei lenkt das Schema die Aufmerksamkeit des psychischen Systems: Die Augen sind vielleicht auf etwas gerichtet, ohne von irgendeiner Absicht geleitet zu sein, und dann erregt etwas die Aufmerksamkeit²⁷⁰ – ähnlich der Frau, die das Haus des Seelsorgers betritt und dieses zunächst ohne eine bestimmte Intention wahrnimmt. Aus dem vorfindlichen Reizfeld sind es dann bestimmte Stimuli – semiotisch: Signifikanten –, die z. B. das Schema „Schule“ aktivieren. Auch im Zimmer des Seelsorgers nimmt die Frau aus der Fülle des Wahrzunehmenden das wahr, was für sie in dieser Situation relevant ist bzw. dem sie den Wert einer Information
A.a.O., 207. Zur Enzyklopädie s.u. 3.2.2.1. Vgl. Eco 2000: Kant, 137.
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beimisst. So wird es für sie relevant, dass der Seelsorger sie an ihren ehemaligen Tanzstundenpartner und das Kreuz an ihre Konfirmation erinnert, nicht aber, dass z. B. auf dem Tisch eine Kerze brennt oder ein Bücherregal an der Wand steht. Auf der einen Seite filtert das psychische System im Rückgriff auf vorgebildete Schemata permanent heraus, was aus dem nahezu unbegrenzten Reizfeld für jemanden als relevant gilt. Auf der anderen Seite kann die Wahrnehmung im Rückgriff auf das Schema, das verschiedene Informationen erhält, ergänzt werden: Bei einkanaliger Wahrnehmung werden z. B. die anderen Kanäle dazukonstruiert – so macht man sich ein „Bild“ des anderen, auch wenn man ihn nur am Telefon hört. Das Kontinuum bietet also die Möglichkeit, je nach Wahrnehmungsschema unterschiedliche Formen zu prägen. Anders formuliert: Das uninterpretierte Reizfeld der Welt bietet als prä-semiosisches Moment die Möglichkeit zur Segmentierung, die sich im noch nicht segmentierten Kontinuum abzeichnet.²⁷¹ Das heißt, es könnte auch ganz anders wahrgenommen werden. Denn Wahrnehmung ist ein konstruierender Deutungsprozess, der auf Selektion beruht. An diesem Punkt kann die Seelsorge ansetzen: Denn ist das Deutungsschema fest geschrieben und nicht mehr beweglich, so kann es die Wahrnehmung von Neuem bzw. eine andere Wahrnehmung von „etwas“ blockieren. Es wird dann darum gehen, zu irritieren und zur Modifikation des Schemas anzuregen.²⁷² So sind nicht nur die Wahrnehmungsschemata Konstrukte, sondern auch die wahrgenommen Formen. Mit Eco ausgedrückt: „Angesichts der unendlichen Segmentierbarkeit des Kontinuums schneiden die Wahrnehmungsschemata […] Entitäten und Beziehungen aus ihm heraus, die – wenngleich in unterschiedlichem Grad – stets hypothetisch […] bleiben“.²⁷³ Und systemtheoretisch eingeholt: Als sinnhafte Operation führt Wahrnehmung neben der aktuellen Seite der Form immer auch die andere Seite mit und verweist damit auf andere Möglichkeiten.²⁷⁴ So stellt sich Wahrnehmung auch aus dieser Perspektive als ein selektiv-kontingenter Prozess dar: „In der Sinnhaftigkeit allen menschlichen Erlebens liegt begründet, daß alles Wahrgenommene als Selektion aus anderen Möglichkeiten (und also, um mit Husserl zu formulieren, in einem Horizont der Verweisung auf andere Möglichkeiten) erlebt wird.“²⁷⁵
Ähnlich formuliert Eco (a.a.O., 140) im Zusammenhang mit dem Peirceschen Ground. S.u. 3.2.2.2. Eco 2000: Kant, 118. Für psychische und soziale Systeme stellt Sinn das Universalmedium dar, in das durch Wahrnehmung und Kommunikation mögliche Formen eingeprägt werden; s.u. 3.2.2.1. Luhmann 20055: Einfache Sozialsysteme, 27; Kursivierung im Original.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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In diesem Sinne ist Wahrnehmung im weitesten Sinne konstruktivistisch, jedoch nicht dekonstruktivistisch zu verstehen.²⁷⁶ Denn beruht der Wahrnehmungsprozess einerseits auf konstruierten Wahrnehmungsschemata, die je nach Kultur und Kommunikationsumstand veränderbar sind, so setzt er andererseits die Affektion – systemtheoretisch: die Irritation – durch äußere Gegenstände voraus.Was bleibt, sind die „Dinge“ „in ihrer aufdringlichen Präsenz“²⁷⁷, das „was uns unsere Umgebung unmittelbar anbietet“²⁷⁸. Es sind die Phänomene,²⁷⁹ die der sinnenhaften Wahrnehmung als unmittelbar vorfindlich erscheinen und als „Etwas-in-der-Welt“ zur Bildung von Sinnesdaten und zur Wahrnehmungssemiose reizen – so wie in dem Scharfenberg-Beispiel das //Haus//, das die Frau betritt, das //Kreuz an der Wand// und der //Seelsorger// als Referenten Wahrnehmungsprozesse auslösen. Das formlose Kontinuum, die unstrukturierte Welt bietet – mit Eco gesprochen – „Resistenzlinien des Seins“, die Direktive für eine intersubjektive gleichartige Wahrnehmung liefern.²⁸⁰ So sind die Schemata zwar Konstrukte, aber nicht völlig willkürlich, da sie neben Kultur und Konvention auch durch das Reizfeld bestimmt werden. Daher kann auch das Bewusstsein den Inhalt seiner Wahrnehmungen schwer kontrollieren: „Es [das Bewusstsein; L.K.] kann sich die Welt nicht nach eigenen Wünschen wahrnehmbar machen, nicht unwillkommene Wahrnehmungen einfach auslöschen, Geräusche weghören, sichtbare Dinge wegsehen. Das gilt selbst für durchschaute Wahrnehmungstäuschungen. Man kann sie wahrnehmungsmäßig nicht verhindern, obwohl man weiß, daß sie dem nicht entsprechen, was das Gesamtbewußtsein für Realität halten muß.“²⁸¹ Im Vergleich dazu ist die Kommunikation im Umgang mit der Außenwelt frei. Sie kann „lügen“. Ein solcher, im weitesten Sinne konstruktivistisch bestimmter Wahrnehmungsbegriff ist vom traditionellen, korrespondenztheoretischen WahrheitsVerständnis abgelöst.²⁸² Wahrnehmung entnimmt der Welt weder Information noch Wahres. Vielmehr wird etwas jemandem gewahr, nimmt bzw. hält jemand
Die konstruktivistische Perspektive führt nicht zwangsläufig zur Leugnung einer Außenwelt; s.o. 3.1.2. Eco 2000: Kant, 310. A.a.O., 294. „Phänomen“ bezeichnet hier den Referenten, also das, was die Semiose initiiert, auf was sich ein Zeichen „in der Wirklichkeit“ bezieht; vgl. Eco 19948: Einführung, 49. Als „Etwas-in-der-Welt“ ist das Phänomen eine außersemiotische Kategorie, die auch systemtheoretisch nicht zu fassen ist. – Eine phänomenologische Stoßrichtung ist mit der Verwendung des Terminus nicht intendiert. Vgl. Eco 2000: Kant, 294. Luhmann 1990: Wissenschaft, 35. S.o. 3.1.
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etwas für wahr. So erschließt sich Wahrheit nicht durch Repräsentation, sondern durch wahrnehmbare Formen. Dabei wird in der Regel nur das für wahr gehalten, was innerhalb des entsprechenden Kulturmodells als garantiert angesehen wird.²⁸³ „Auch wenn man annimmt, daß das Schema ein Konstrukt ist, darf man nie meinen, die Segmentierung, dessen Ergebnis es ist, sei völlig willkürlich, denn diese versucht […] dem Etwas Rechnung zu tragen, das da ist, Kräften, die außerhalb unseres Sinnesapparates wirken und so zumindest Resistenzen manifestieren. Das heißt, es gibt eine ‚Wahrheit‘ des Schemas, auch wenn sie perspektivisch […] ist, die uns etwas immer nur in einer bestimmten Hinsicht zeigt.“²⁸⁴ Es hat sich gezeigt, dass Wahrnehmung kein passiver Akt ist, bei dem sich etwas Gegebenes zeigt, das von jemandem bzw. einer Wahrnehmungsinstanz „wirklich“ und „wahrhaftig“ bzw. „objektiv“ abgebildet werden könnte, sondern Wahrnehmung ist ein aktiver, genauer: ein rezeptionsästhetischer Prozess, bei dem jemand bzw. eine Wahrnehmungsinstanz etwas in-der-Welt-Vorfindliches in gewisser Hinsicht als wirklich deutet und in einem bestimmten kulturellen Horizont für wahr nimmt. Wahrnehmung ist ein semiosischer, abgleichender Deutungsprozess im Kontext des privaten und kulturellen Erinnerungs- und Erfahrungsraums. Als Operation des Bewusstseins, die in der black box stattfindet, ist Wahrnehmung für die Kommunikation undurchsichtig, zugleich jedoch unabdingbar, da Wahrnehmungsprozesse permanent die Kommunikation rahmen. Dies wird v. a. in der Kommunikation unter Anwesenden deutlich. Aus diesem Grund ist in der seelsorglichen Interaktion dem Wahrzunehmenden besondere Aufmerksamkeit zu schenken. In faktischer Hinsicht ist Wahrnehmung als kontingenter Deutungsprozess zu beschreiben und auf die Multimedialität des Reizfeldes hinzuweisen. In taktischer Hinsicht wird sich eine ästhetisch orientierte Seelsorge darum bemühen, solch einen multimedialen Kommunikationsrahmen zu schaffen, dem das Potential eignet, religiös-christliche Deutungsmöglichkeiten zu initiieren.²⁸⁵
3.2.1.3.2 Interaktion: Kommunikationsraum der reflexiven Wahrnehmung Wird Wahrnehmung als kontingenter Deutungsprozess verstanden, potenziert sich diese Selektivität mit der Wahrnehmung anderer Wahrnehmungsinstanzen. Dies ist in der Interaktion der Fall. Wenn wahrgenommen wird, dass wahrgenommen wird, wird die psychische Informationsgewinnung der Wahrnehmung Vgl. Eco 2000: Kant, 296. A.a.O., 143 f; Hervorhebung im Original. Vgl. auch a.a.O., 295 ff. Einen Überblick über die verschiedenen raum-zeitlichen Ausdrucksformen des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens gibt Kapitel 4.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
339
sozial, d. h. für die Kommunikation relevant. Die face-to-face Kommunikation nutzt die „spezifischen Vorteile“ des reflexiven Wahrnehmens und „kapitalisiert“ diese gewissermaßen, um sie der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen.²⁸⁶ Im Folgenden wird der für die Interaktion spezifische Doppelprozess von Wahrnehmung und Kommunikation näher beleuchtet und auf diese Weise die Charakteristika der kommunikativen Wahrnehmungsbühne ausgelotet. Hierzu bietet es sich zunächst an, die Prozesse von Wahrnehmung und Kommunikation gegenüberzustellen.²⁸⁷ Sowohl Wahrnehmungsprozesse als auch Kommunikationsprozesse dienen der Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung. Evolutionär betrachtet ist Wahrnehmung die primäre und verbreitetste, zugleich jedoch auch anspruchslosere Form. Denn Wahrnehmung ermöglicht Information, die nicht unbedingt als Information ausgewählt und kommuniziert werden muss. Anders ausgedrückt: Wahrnehmung ist nicht auf den für die Kommunikation konstitutiven Unterschied von Information und Mitteilung angewiesen. Dies verringert die Negierbarkeit von Wahrnehmung erheblich. Denn mit der Unterscheidung von Information und Mitteilung bietet die Kommunikation gleich zwei Ansatzpunkte für ihre Ablehnung und ist damit viel riskanter als Wahrnehmung: Zum einen kann die Information als unzutreffend, zum anderen die Mitteilung für unangebracht gehalten werden. So kann z. B. in einem Gespräch, das sich im Anschluss an die von Scharfenberg²⁸⁸ beschriebene Szene ergibt, an Stelle des Kreuzes über ein Bild von M. Luther, an Stelle von Religiös-Christlichem über das Wetter oder ein anderes Thema geredet werden. Hinzu kommt, dass explizite Kommunikation immer als Handlung zugerechnet wird, Wahrnehmung hingegen als Erleben. Man wird also für das zur Verantwortung gezogen, was man sagt, aber nicht für das,was man wahrnimmt. Aufgrund ihrer geringen Rechenschaftspflicht und Negierfähigkeit stellt Wahrnehmung in der Interaktion einen gemeinsamen Informationsbesitz zur Verfügung, der bei aller Kontingenz der Deutungsprozesse ein hohes Maß an Sicherheit herstellt. Wenn Ego wahrnimmt, dass Alter wahrnimmt, was Ego wahrnimmt, erzeugt diese reflexive Wahrnehmung eine Art common sense des gleichzeitig Wahrnehmbaren, auf dessen Basis die riskantere Kommunikation möglich ist. Reflexive Wahrnehmung fungiert damit „als eine Art von Rückversicherung“²⁸⁹ gegen die Risiken der Kommunikation. Sie stellt Sicherheiten her,
Vgl. Luhmann 1984: Soziale System, 561. Zum Folgenden vgl. ebd.; Kieserling 1999: Kommunikation, 117 ff. S.o. Einleitung zu Kapitel 3. Kieserling 1999: Kommunikation, 123.
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die nicht explizit per Kommunikation erzeugt werden müssen, sondern zu der sich die explizite Kommunikation verhalten kann. So braucht man sich z. B. nicht darüber verständigen, dass während der seelsorglichen Begegnung die Tür geöffnet wird – oder bezogen auf das Scharfenberg-Beispiel: Ein Kreuz an der Wand hängt. Und: Nimmt die Frau wahr, dass der Seelsorger wahrnimmt, dass sie das Kreuz an der Wand sieht, so kann sich darüber ein Gespräch ergeben. Auch das „Erwarten von Erwartungen“²⁹⁰ wird durch reflexive Wahrnehmung erleichtert. Es stellt sich „ein wie immer diffuses Vorverständnis“, eine „gemeinsame Situationsdefinition“ ein,²⁹¹ an die explizite Kommunikation anschließen kann. Für die Frau und den Seelsorger besteht kein Zweifel, dass sie zu einem wie auch immer gearteten Gespräch im Zimmer des Seelsorgers aufeinandertreffen und nicht etwa im Supermarkt oder Mehrbett-Zimmer eines Krankenhauses. Letztere sind zwei völlig andere Situationen bzw. frames, die dementsprechend andere Kommunikationsmuster erwarten lassen.²⁹² Häufig stimuliert die Wahrnehmungssituation Kommunikation bzw. initiiert Themen der Kommunikation. Dies ist häufig – und v. a. unter Unbekannten – zu Beginn der Kommunikation der Fall. Hier geht es dann weniger darum, Selbstverständliches kommunikativ zu bestätigen, sondern grundsätzliche Gesprächsbereitschaft auszuloten. Das geschieht z. B. in der Anfangsphase einer seelsorglichen Begegnung im Krankenhaus, in der die Kommunikation bei der „Einrichtung“ des Nachttischs, wie einem Blumenstrauß oder Foto beginnen kann.²⁹³ Für die Kommunikation über Anwesendes stellt der common sense der reflexiven Wahrnehmung eine Grenze dar. Denn wird die Kommunikation den Wahrnehmungen nicht gerecht und verstößt allzu offen gegen die Evidenzen des für die Anwesenden wahrnehmbar Zugänglichen, so muss sie damit rechnen, dass dies Protest hervorruft: „Man kann nicht einfach das Blaue vom Himmel herunterlügen, während die anderen ihn gleichzeitig wahrnehmen“.²⁹⁴ Nun kann dank Sprache Kommunikation auch über Abwesendes stattfinden.²⁹⁵ Dies geschieht meist recht zwanglos – sowohl über Dinge als auch und v. a.
Ebd. Vgl. ebd. Auf diesen für die seelsorgliche Interaktion wesentlichen Aspekt der Rahmung wird unten ausführlicher eingegangen; s.u. 3.2.2.1.2. Überhaupt initiieren Einrichtungsgegenstände, wie sie z. B. bei einem „Hausbesuch“ begegnen, häufig Themen der Kommunikation; s.u. 4.3. Kieserling 1999: Kommunikation, 128. Zu möglichen Äquivalenten für Wahrnehmungsleistungen, die die Kommunikation über Abwesendes begrenzen vgl. Kieserling 1999: Kommunikation, 129 ff.
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über Personen.²⁹⁶ Und so ist es in der von Scharfenberg beschriebenen Szene möglich, dass das Gespräch seinen Ausgangspunkt bei dem sichtbaren Kreuz nimmt und von da aus die Konfirmation, die die Frau als Mädchen erlebt hat, „und alles, was mit diesem Thema zusammenhängt“ (Scharfenberg) thematisiert. Verlässt die Kommunikation das „Sicherheitsnetz“²⁹⁷ des gleichzeitig Wahrnehmbaren und damit den Kontrollbereich der reflexiven Wahrnehmung, so kann sie in aktuell abwesende, jedoch potentielle Welten führen, andere Wirklichkeiten konstruieren und sich probeweise in Möglichkeitsräumen, in imaginären oder auch religiös-transzendenten²⁹⁸ Welten bewegen. In der Interaktion wird die gemeinsame Wahrnehmung der Anwesenden einfach vorausgesetzt, werden die Leistungen der Wahrnehmung für die Kommunikation schlichtweg unterstellt. Denn der kommunikative Nachvollzug wäre viel zu komplex und zu zeitaufwendig, da das Bewusstsein im Unterschied zur Kommunikation sehr schnell operiert. Informationen werden in annähernder Gleichzeitigkeit und mit hohem Tempo prozessiert, was eine hohe Komplexität der Informationsaufnahme garantiert, die jedoch zulasten der „Analyseschärfe“ geht. Das heißt, reflexive Wahrnehmung leistet „einen weitreichenden, aber nur ‚ungefähren‘ Modus des Verständigtseins, der in der Kommunikation nie eingeholt werden kann“.²⁹⁹ Denn Kommunikation operiert immer sequenziell³⁰⁰ und damit langsamer als das Bewusstsein. Da das Bewusstsein während des Redens unaufhörlich mit Wahrnehmen beschäftigt ist, d. h. in der Interaktion Wahrnehmung und Kommunikation simultan prozessiert werden, entsteht ein Überschuss an Wahrnehmung. Nicht alles, was wahrgenommen wird, kann auch kommuniziert werden. Oder in der Terminologie Scharfenbergs: Es liegt zwar „eine ganze Fülle von bisher nur latenten Stimmungen und Gefühlen [genauer: eine Fülle an Wahrnehmungsprozessen und -schlüssen; L.K.] bereit, sich zu äußern und in das Gespräch einzu-
Die systemische Therapie überführt die Kommunikation über Abwesendes mit der Methode des „Tratschen[s] über Anwesende“ (vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 142) wieder in die Anwesenheit und stellt der Kommunikation damit überraschende Informationen und neue Perspektiven zur Verfügung. Kieserling 1999: Kommunikation, 131. Zum Verhältnis von Wahrnehmung und religiöser Kommunikation vgl. Tyrell (2002: Religiöse Kommunikation, 50 ff und 56 ff): Religiöse Kommunikation bediene sich v. a. der wahrnehmungsentbundenen Sprache und richte sich nach der Differenz sichtbar/unsichtbar. – Dagegen wird in der vorliegenden Arbeit die Auffassung vertreten, dass das Evangelium immer nur in leibräumlichen, d. h. immanent-wahrnehmbaren Formen zugänglich ist; s.o. 2.2.1. Luhmann 1984: Soziale System, 561. Mit der Sequenzierung der Kommunikation manifestiert sich die Mutualität des seelsorglichen Geschehens (s.o. 2.2.1) auf kommunikativer Ebene: Erst spricht der eine, dann der andere.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
gehen“,³⁰¹ doch vieles von dem wird „latent“ bleiben. Für die Kommunikation werden die zeitgleichen Wahrnehmungsprozesse insofern relevant, als sie diese permanent rahmen. So kann, während die Frau mit dem Seelsorger über das Kreuz spricht, die mitlaufende Erinnerung an den ehemaligen Tanzpartner ihrerseits bestimmte Kommunikationsmuster aktivieren, die tiefenpsychologisch mit dem Theorem der „Übertragung“ gedeutet werden.³⁰² In der Interaktion stellen mithin die die Kommunikation rahmenden Wahrnehmungsprozesse jener ein großes Irritationspotential zur Verfügung. Die parallel zur Kommunikation laufenden Wahrnehmungen sorgen für eine fortwährende Perturbation der Kommunikation. Vor dem Hintergrund, dass sich Kommunikation nur durch Bewusstsein irritieren lässt,³⁰³ und nur das Bewusstsein fähig ist, wahrzunehmen, kann dessen Relevanz für die Interaktion bzw. allgemein für die Kommunikation kaum unterschätzt werden: „Ohne Bewußtsein ist Kommunikation unmöglich. Kommunikation ist total (in jeder Operation) auf Bewußtsein angewiesen – allein schon deshalb, weil nur das Bewußtsein, nicht aber die Kommunikation selbst, sinnlich wahrnehmen kann und weder mündliche noch schriftliche Kommunikation ohne Wahrnehmungsleistungen funktionieren könnte.“³⁰⁴ – Darüber hinaus ist Kommunikation auch deshalb „total auf Bewusstsein angewiesen“, da sie nur durch das wahrnehmende Bewusstsein mit der Außenwelt verbunden ist.³⁰⁵ Die Systemumwelt der Kommunikation ist nur durch den Filter des Bewusstseins zugänglich: „Das Bewußtsein hat […] eine privilegierte Stellung. Es kontrolliert gewissermaßen den Zugang der Außenwelt zur Kommunikation, […] dies […] dank seiner Fähigkeit zur (ihrerseits hochfiltrierten, selbsterzeugten) Wahrnehmung“.³⁰⁶ Es hat also nur das, was wahrgenommen wird, das Potential, Kommunikation zu irritieren.³⁰⁷ Daher sind wahrnehmbare Formen für die Interaktion von großer Relevanz. Hierzu ist auch die Wahrnehmung von Kommunikation bzw. Kommunikationsmedien zu rechnen:³⁰⁸ Dem Bewusstsein fällt in seiner Umwelt etwas auf, das seine besondere Aufmerksamkeit erregt: Es wird geredet, ge Scharfenbergs 1972: Seelsorge, 67. Vgl. Scharfenbergs (a.a.O., 68 ff) Deutung dieser Szene. Vgl. Luhmann 20052: Bewußtsein, 45: „Bewußtsein […] hat die privilegierte Position, Kommunikation stören, reizen, irritieren zu können.“ Und ebd.; Hervorhebung im Original: „Bemerkenswert […] ist vor allem, daß die Kommunikation sich nur durch Bewußtsein reizen lässt“. Luhmann 1997: Gesellschaft, 103; Hervorhebungen im Original. Vgl. Luhmann 1990: Wissenschaft, 45. Luhmann 1997: Gesellschaft, 114. Diese Überlegungen werden im Zusammenhang von Umcodierungen wieder aufgegriffen und präzisiert; s.u. 3.2.2.2. S.u. 4.1.
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schrieben, ferngesehen. All diese von der Kommunikation verwendeten Medien binden das Bewusstsein in besonderer Weise an sich, wobei Luhmann die Sprache als das Medium anführt, das das Bewusstsein am meisten fasziniert – man kann nicht einfach weghören, wenn gesprochen wird, so wie man von einem Text wegsehen kann. Klar ist auch, dass derjenige, der spricht, nicht mehr leugnen kann, Kommunikation zu beabsichtigen. Mit anderen Worten: Bei verbalsprachlicher Kommunikation kann die Differenz von Information und Mitteilung nicht ignoriert werden. Auch die Adresse der Kommunikation steht nicht in Frage. Doch auch wenn Sprache das Bewusstsein in besonderer Weise fesselt, nimmt das Bewusstsein nicht nur auditiv, sondern auch visuell, olfaktorisch, taktil und gustatorisch wahr. Es wird gestikuliert, sich zu- oder abgewendet, gemustert, auf die Uhr geblickt, aus dem Fenster gesehen, ein bestimmter Einrichtungsgegenstand präsentiert oder vor der Begegnung entfernt, es werden die Hände zum Gebet gefaltet. All diese vielfältigen, in der Interaktion permanent prozessierten Wahrnehmungen fügen sich zu einem vieldimensionalen, dynamischen Bild zusammen, in dem der „Text“ der Kommunikation permanent von Subtexten „begleitet“ bzw. gerahmt wird. Dabei muss der „Text“ nicht unbedingt verbalsprachlich sein. In diesem Zusammenhang ist mit Kieserling die geläufige Unterscheidung zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation zugunsten der Differenzierung von direkter und indirekter Kommunikation aufzulösen: „Indirekte Kommunikation liegt vor, wenn der Absender in der anschließenden Kommunikation bestreiten kann, etwas mitgeteilt zu haben, und wenn andererseits der Empfänger bestreiten kann, etwas verstanden zu haben. Die Kommunikation läuft dann unter der Prämisse, daß die beiden normalen Effekte der Selbstbeobachtung dieser Operation, nämlich erstens die Bindung des Absenders an den Sinn des Gesagten und zweitens die Freiheit des Adressaten, das Gesagte entweder anzunehmen oder abzulehnen, suspendiert sind und bis auf weiteres in der Schwebe bleiben.“³⁰⁹ Insofern kann sowohl verbalsprachliche als auch nonverbale Kommunikation direkte und indirekte Kommunikation sein. Auf der einen Seite wird z. B. entsprechendes Körperverhalten wie standardisierte Gesten als verbindliche Kommunikation verstanden – so versteht die z. B. Gottesdienstgemeinde eine entsprechend ausgeführte Handbewegung des Pfarrers als Aufforderung, aufzustehen. Auch wenn derartiges Körperverhalten „eine größere Randunschärfe als das klar ausgesprochenen Wort“³¹⁰ hat, so kann auch „nichtsprachliche Kom-
Kieserling 1999: Kommunikation, 158; Hervorhebung im Original. Zur direkten und indirekten Kommunikation vgl. a.a.O., 147 ff. A.a.O., 149.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
munikation […] verbindliche Kommunikation sein“³¹¹. Auf der anderen Seite kann auch verbalsprachliche Kommunikation jene schwebende Ambivalenz erzeugen, die sich nicht festlegen lässt. So kann man etwa „eine Bemerkung fallenlassen“, die etwas „durchblicken lässt“³¹² oder Sonderformen wie Witz und Ironie gebrauchen. Ausschlaggebend für indirekte Kommunikation ist also weniger die Wahl des Kommunikationsmediums, sondern dass immer auch bestritten werden kann, etwas gemeint, d. h. Kommunikation beabsichtigt zu haben. Indirekte Kommunikation weicht damit der Zurechnung als Handlung aus, so dass das Risiko expliziter Kommunikation vermieden wird. Es entsteht eine ambivalente Situation, eine Art „Zwischenzeit“, die zur „Sondierung des Terrains“ genutzt werden kann:³¹³ „Gelingt es […], die Zurechnung als Handlung in der Schwebe zu halten, dann kann man an der Art und Weise, wie der andere auf indirekte Kommunikation reagiert, ablesen, was im Falle einer direkten Kommunikation geschehen würde, und diese Kommunikation dann je nachdem wagen oder nicht wagen.“³¹⁴ Im Unterschied zur direkten Kommunikation ist es möglich, „unter Revisionsvorbehalt“³¹⁵ zu kommunizieren. Indirekte Kommunikation läuft damit als Subtext der direkten Kommunikation mit – von daher ist indirekte Kommunikation häufig kontextgebunden und nur situativ verständlich. Auf Ebene der direkten Kommunikation kann zwar auf indirekte Kommunikation reagiert, doch – im systemtheoretischen Sinne – nie angeschlossen werden. Das heißt, indirekte Kommunikation – wie ein aufmunternder Blick, ein Lächeln oder Kopfnicken – kann zu direkter Kommunikation motivieren, so dass kommunikativ etwas möglich wird,was ohne sie nicht möglich geworden wäre. Insofern haben verbale wie nonverbale Subtexte das Potential, laufende Direktkommunikation zu irritieren bzw. zu modellieren, sei es um sie zu verstärken, zu dementieren oder abzuschwächen. Derartige Subtexte sind z. B. wesentlich zur Steuerung von Ironie, beim Flirten, zur Vorbereitung eines Themenwechsels, der Kontaktbeendigung oder der Kontrolle von Takt und Höflichkeit. Bei allen Vorzügen, die der Verbalsprache eignen, ist Kommunikation nicht auf Verbalität zu verengen. Dies räumt bereits Luhmann, der generell auf die hervorragende Bedeutung der Verbalsprache insistiert, ein: Sobald eine Differenz von Information und Mitteilung verstanden wird, ist „Kommunikation […] auch
A.a.O., 150. Vgl. a.a.O., 147. Vgl. a.a.O., 165. A.a.O., 166. Ebd.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
345
ohne Sprache möglich, etwa durch ein Lächeln, durch fragende Blicke, durch Kleidung, durch Abwesenheit und ganz allgemein und typisch durch Abweichen von Erwartungen, deren Bekanntsein man unterstellen kann.“³¹⁶ Vor allem in der Interaktion, die sich mittels komplexer Wahrnehmungsprozesse als kommunikativer Leib-Raum distinguiert, ist den leib-räumlichen Formen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Denn in der face-to-face Begegnung wird eben nicht nur verbalsprachlich, sondern auch leib-räumlich kommuniziert.³¹⁷ Insofern ist die häufig zu beobachtende Konzentration von Poimenik und Seelsorge auf Verbalsprache, wie sie sich z. B. an der Bedeutung von Verbatims für die Seelsorgeausbildung manifestiert, nicht haltbar, da sie der Komplexität des interaktionellen Kommunikationsgeschehens nicht gerecht wird.³¹⁸ Vielmehr sind hier die unterschiedlichen „Sprachen“ in den Blick zu nehmen: Denn neben dem verbalen Wort können z. B. auch der spezifische Geruch eines Krankenhauses, einer Altenheimwohnung, eines Gesprächspartners, die Berührung beim Segen, ein unbequemer Stuhl, der Geschmack der Torte beim Geburtstagsbesuch zum Signifikanten innerhalb eines Zeichenprozesses werden – von Gegenständen sowie Gestik und Mimik ganz zu schweigen. Eine Poimenik, die Seelsorge als Interaktion beschreibt, macht daher auf die sinnenhafte Dimension des seelsorglichen Geschehens aufmerksam und motiviert gleichsam, diese Einsicht in der seelsorglichen Begegnung taktisch zu nutzen.³¹⁹ Dies gilt insbesondere für die Performanz des Evangeliums: In der seelsorglichen Interaktion ereignet sich die gute Nachricht multimedial. Die Performanz des Evangeliums ist an kein bestimmtes Inszenierungsmuster gebunden, d. h. sie ist nicht notwendig verbalsprachlich – oder mit M. Luther: nicht notwendig „mundlich Wort“.³²⁰ Diese Überlegungen sind auch im Hinblick auf die seelsorglichen Begegnungen relevant, in denen verbalsprachliche Kommunikation nicht zum Aufbau einer stringenten Kette von Kommunikationen verwendet werden kann – oder alltagssprachlich ausgedrückt: in Situationen, in denen mittels Verbalsprache kein „sinnvolles“ Gespräch zustande kommt.³²¹ Zu denken ist hier an Gehörlose, Menschen, die nur noch ihre Augen bewegen können, an Begegnungen auf der Luhmann 1984: Soziale Systeme, 208. S.u. 4.3 und 4.4. In der Poimenik zeichnet sich allmählich eine zunehmende Aufmerksamkeit für „nonverbale“ Kommunikation ab; vgl. z. B. Morgenthaler 20122: Seelsorge, 239 ff. S.u. Kapitel 4. S.o. 2.2.1. Systemtheoretisch betrachtet, kann ohne Sinn nicht kommuniziert werden. Sobald verstanden wird, dass eine Mitteilungsabsicht vorliegt, ist Sinn bereits aktualisiert. Das gilt auch dann, wenn ein verbalsprachlich Stummer – wie z. B. ein Gehörloser – nur sieht, wie gesprochen wird und dadurch versteht, dass jemand etwas sagen möchte. Zum Sinnbegriff s.u. 3.2.2.1.1.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Intensivstation oder mit anderssprachigen Menschen. Tritt die verbalsprachliche Dimension der Kommunikation zurück, gewinnen leib-räumliche Formen um so mehr an Bedeutung. So funktioniert z. B. die Gebärdensprache, die als funktionales Äquivalent zur Verbalsprache gelten kann, über Bewegung im Raum. Auch in der Begegnung mit Menschen, in denen keine gemeinsame Verbalsprache gefunden werden kann, bedient sich der „Text“ der Kommunikation leib-räumlicher Formen: Es wird gestikuliert, pantomimisch dargestellt oder auf ein Blatt Papier gezeichnet – was nicht ausschließt, dass währenddessen geredet und damit ein verbaler Subtext erzeugt wird, der die Kommunikation z. B. durch Tonfall, Sprechgeschwindigkeit oder Betonung modalisiert. Im Gegensatz dazu stellen die Begegnungen mit am ganzen Körper Gelähmten sowie komatösen Menschen Grenzfälle der Kommunikation dar. Da es nicht möglich ist, eindeutig festzustellen, ob Reflexivität der Wahrnehmung vorliegt, kann aus der Position eines Beobachters bestritten werden, dass die Mitteilungsabsicht des Seelsorgers verstanden wird – in diesem Fall kommt im Sinne eines rezeptionsästhetischen Kommunikationsbegriffs, wie er von der Ecoschen Semiotik und der Luhmannschen Systemtheorie vertreten wird, keine Kommunikation zustande. Auf jeden Fall fordern derartige Situationen die Wahrnehmungsfähigkeit des Seelsorgers in besonderem Maße, wenn es darum geht, minimale Bewegungen im Raum – wie ein Blinzeln oder eine veränderte Atmung – als Reaktion bzw. Anschlusskommunikation, die das Verstandene annimmt oder ablehnt, zu verstehen. Bei allem Insistieren auf die Bedeutung von Wahrnehmung ist evident, dass Wahrnehmung als solche freilich noch keine Kommunikation ist. Jedoch ist in der Interaktion der Zusammenhang von wechselseitiger Wahrnehmung und Kommunikation so eng, dass an diesem Ort reflexive Wahrnehmung in Kommunikation übergeht: „So entsteht aus reflexiver Wahrnehmung ein Prozeß anderer Art, nämlich ein Prozeß der Kommunikation. Und dieser Prozeß führt zur Ausdifferenzierung eines sozialen Systems, nämlich eines Interaktionssystems, ob die Beteiligten das nun wollen und beabsichtigen oder nicht.“³²² Insofern kann reflexive Wahrnehmung nicht nur als „ökologische Vorbedingung“³²³ der Kommunikation, sondern als „präkommunikative Sozialität“³²⁴ verstanden werden. Reflexive Wahrnehmung stellt „so etwas wie den Minimalfall von Sozialität“³²⁵ dar.
Kieserling 1999: Kommunikation, 122 f. A.a.O., 113. A.a.O., 118. A.a.O., 117. – Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die klassischen Interaktionstheorien wie die von Mead, Goffman, Simmel oder Sartre gerade an diesem Punkt ansetzen; vgl. ebd.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
347
Es bleibt festzuhalten, dass unter der Bedingung von Anwesenheit Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesse so eng aufeinander bezogen sind, dass sie letztlich nur noch auf theoretischer Ebene strikt unterschieden werden können. Im wechselseitigen Wahrnehmungsraum der Interaktion sind kommunikative und psychische Deutungsprozesse zu einem multiformen Kommunikationsgeschehen verflochten, spielen wahrnehmbare Formen bzw. raum-zeitliche Ausdrucksformen syntagmatisch als Partitur³²⁶ zusammen. Nun stellen Interaktionen nicht nur die genannten Wahrnehmungsmöglichkeiten zur Verfügung, sondern zwingen sich durch reflexive Wahrnehmung regelrecht zur Kommunikation: Wer wahrnimmt, dass er wahrgenommen wird und dass sein Wahrnehmen des Wahrgenommenwerdens wahrgenommen wird, kann nicht vermeiden, dass sein Verhalten als Mitteilung verstanden, d. h. als Kommunikation aufgefasst wird. „Praktisch gilt: daß man in Interaktionssystemen nicht nicht kommunizieren kann“.³²⁷ Oder semiotisch ausgedrückt: „Man kann nicht nicht Zeichen gebrauchen.“³²⁸ Denn „zwischenmenschliche Beziehungen“ sind stets mit Zeichenprozessen durchsetzt.³²⁹ „So kommt eine Dichte und Ausweglosigkeit des Beobachtetwerdens zustande, zu der es in anderen sozialen Systemen keine Entsprechung gibt.“³³⁰ In der Interaktion findet die Begegnung der Anwesenden auf einer Wahrnehmungsbühne statt, die permanent zur Darstellung zwingt – genauer: auf der die anwesenden Körper sowie deren wirkliche und mögliche Inszenierung relevant werden. Sobald die Frau und der Seelsorger sich begegnen, können sie nicht mehr wählen, ob sie sich selbst darstellen möchten oder nicht. Sobald sie von der Interaktion als anwesend behandelt werden, zwingt sie die reflexive Wahrnehmung zur Darstellung. „Es gibt […] keine Möglichkeit, dem ‚Kleben der Blicke‘ (Luhmann) auszuweichen“³³¹ – außer durch Abwesenheit, denn selbst Schweigen wird – neben dem weiteren Körperverhalten – von der Interaktion als Kommunikation verstanden, indem es als Zustimmung gedeutet und diese Deutung ih-
Bieritz (2004: Liturgik, 37) verwendet diesen Terminus in Bezug auf das gottesdienstliche Kommunikationsgeschehen; s.o. 1.2.2.1. Zur „Partitur“ des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens s.u. Kapitel 4. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 562; Hervorhebung im Original; dies in Bezug auf das metakommunikative Axiom von Watzlawick/Beavin/Jackson 19969: Kommunikation, 53. Engemann 2003: Semiotik, 173. Vgl. Eco 1977: Zeichen, 48; dies mit Verweis auf Goffman. Kieserling 1999: Kommunikation, 51. A.a.O., 48.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
rerseits der Kommunikation aussetzt wird.³³² Auf der interaktionellen Wahrnehmungsbühne sind die Körper schon immer faktisch in Szene gesetzt, da sie in reflexive Wahrnehmungsprozesse verwickelt sind. Die Körperinszenierung geschieht vornehmlich durch Körpergestaltung – wie durch Kleidung, Schmuck, Schminke, Frisur – oder durch Körperverhalten, also der Bewegung der Körper im Raum.³³³ Es fällt auf, dass die poimenische Theoriebildung den Körper und dessen Inszenierung in der seelsorglichen Kommunikation wenig beachtet – paradigmatisch sei hier auf die Lehrbücher von Ziemer³³⁴ und Winkler³³⁵ verwiesen. Ähnlich kritisiert auch Naurath, dass in den meisten Seelsorgekonzeptionen das Gespräch auf „verbale Kommunikation“ reduziert wird und „nonverbale Elemente“ nahezu keine Rolle spielen.³³⁶ Diese lange zu beobachtende Tendenz der poimenischen Literatur weitet sich allmählich. So bezieht z. B. Klessmann in sein Verständnis von Kommunikation neben „Worten“ auch „Schriftzeichen, Bilder, Gesten, Mimik oder auch Gegenstände“ mit ein.³³⁷ Auch Morgenthaler verweist auf nonverbales Verhalten der Kommunikationspartner und macht auf die „wechselseitige Wahrnehmung“ der Kommunikationspartner aufmerksam.³³⁸ In seiner Habilitation „Seelsorge als Beziehungsgeschehen“ entwickelt Schirrmacher u. a. im Rekurs auf Naurath eine knappe „Anthropologie des Leibes in der Seelsorge“.³³⁹ Im Rahmen eines schöpfungstheologischen Deutungshorizonts plädiert er dafür, „menschliche Körperlichkeit“ seelsorglich in die „Beziehungsrelationalität des Glaubens“ zu integrieren.³⁴⁰ Der sich zeigende Umgang mit dem eigenen Körper sowie Gestik und Mimik sind insofern seelsorglich relevant, da sie „Aspekte der jeweiligen Lebenssituation, aber auch der Befreiung in die Liebe Gottes leiblich zum Ausdruck [bringen]“.³⁴¹ Wenn nach Schirrmacher körperliche Inszenierungsformen „als Ausdrucksweisen seelischer Befindlichkeit und Bedürftigkeit“ Sinn ergeben,³⁴² veranschlagt er zur Interpretation letztlich einen Code – und
Vgl. a.a.O., 124 Anm. 21. – Auf die Bedeutung des Körpers macht z. B. Goffman (1971: Verhalten, 45) im Rahmen seiner Interaktionstheorie aufmerksam: „Ein Mensch kann aufhören zu sprechen, er kann aber nicht aufhören, mit seinem Körper zu kommunizieren; er muß damit entweder das Richtige oder das Falsche sagen; aber er kann nicht gar nichts sagen.“ Vgl. Bieritz 2004: Liturgik, 205. Zu Körpergestalt, Körpergestaltung und Körperverhalten s.u. 4.4. Ziemer 20042: Seelsorgelehre. Winkler 20002: Seelsorge. Vgl. Naurath 2000: Seelsorge, 84 Anm. 321. Vgl. Klessmann 20124: Seelsorge, 117. Vgl. Morgenthaler 20122: Seelsorge, 239 ff; Zitat 241. Schirrmacher 2012: Seelsorge, 94 ff. Vgl. a.a.O., 94. A.a.O., 96; Hervorhebung im Original. Vgl. ebd.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
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zwar den der „eschatologischen Wirksamkeit der Liebe Gottes“.³⁴³ Er insistiert auch darauf, die „Leiblichkeit des Menschen“ insgesamt praktisch-theologisch stärker miteinzubeziehen und die Praktische Theologie „theologisch-körperhermeneutisch“ als „Wissenschaft von der Gestaltwerdung menschlicher Körperlichkeit“ zu verstehen.³⁴⁴ Schirrmachers Votum ist sicherlich ein wichtiger Impuls für eine Disziplin, die sich lange Zeit verbalsprachlich ausgerichtet hat. Allerdings ist anzumerken, dass die Deutung von körperlichen Ausdrucksformen zwar nicht – wie sonst häufig zu beobachten – psychologisch kurz geschlossen, aber auf eine (systematisch‐)theologische Deutemöglichkeit verengt wird. Hier ergibt sich mit einer weiteren – z. B. einer semiotischen – Sichtweise ein breiteres (Be‐)Deutungsfeld, das auch die rezeptionsästhetische Dimension mehr berücksichtigt.³⁴⁵
Naurath plädiert am Exempel der Krankenhausseelsorge für eine „Seelsorge als Leibsorge“ – so der Titel ihrer Untersuchung.³⁴⁶ Unter der systemtheoretisch bzw. systemisch orientierten Literatur berücksichtigt z. B. T. Lohse neben den verbalen (Wörter) auch explizit nonverbale (Körpersprache) und paraverbale (Stimme) „Ausdrucksformen des Menschen“.³⁴⁷ Und auch Karle weist am Beispiel des Hausbesuchs auf die Relevanz des Leib-Raums – wie des äußeren Erscheinungsbilds, der Gestik und Mimik, aber auch der wahrnehmbaren Gegenstände – für die seelsorgliche Kommunikation hin.³⁴⁸ Als wahrnehmbare Formen sind die Körper der Anwesenden jedoch nicht nur relevanter Kontext der Kommunikation, sondern können selbst zu kommunikativen Zeichen werden, wenn ihre Inszenierung – also ihr Verhalten oder ihre Gestaltung – von jemandem als Mitteilung verstanden wird. In der face-to-face Begegnung kann deshalb jedes Verhalten, jede Einzelhandlung an „symbolischer Brisanz“³⁴⁹ gewinnen, semiotisch: zum Signifikanten einer Zeichenfunktion werden. Wahrnehmbares Verhalten und wahrnehmbare Körpergestaltung werden benutzt, um den Gesprächspartner hinsichtlich seiner Einstellungen, seiner Ansprüche und seiner Kommunikationsfähigkeit zu deuten. Begrenzt wird die mögliche Körperinszenierung zum einen durch die Kommunikationsumgebung, die bestimmte Inszenierungsmuster nahe legt, zum anderen durch die beobachtete Rolle, die ebenfalls Körpergestaltung und Körperverhalten sowie deren Erwartung steuert. Hinsichtlich der leiblich dargestellten Rolle kommt es allerdings
A.a.O., 97. Vgl. ebd. S.u. 4.4. Naurath 2000: Seelsorge. Lohse 20062: Kurzgespräch, 68 ff. Karle 1999b: Seelsorge, 47 f; ähnlich dies. 2000: Kompetenz, 513. Kieserling 1999: Kommunikation, 121.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
v. a. in seelsorglichen Inszenierungskontexten zu Verunklarungen.³⁵⁰ Lässt in der gottesdienstlichen Praxis der „Talar als prominentestes pastorales Verkleidungsstück“³⁵¹ bestimmte Kommunikations- und Handlungsmuster erwarteten, so zeichnet sich die seelsorglichen Praxis gerade durch die Nicht-Verkleidung bzw. private Kleidung des Seelsorgers aus – Klerikal-konservative im schwarzen Collarhemd ausgenommen. Um hier Rollendiffusion zu vermeiden, wird deshalb häufig auf verbalsprachliche und kinetische Codierungen zurückgegriffen. Die Wahrnehmung der Selbstinszenierung der anderen ist immer mit Deutungsprozessen verbunden. Aufgrund der wahrnehmbaren Körperinszenierung werden Hypothesen aufgestellt, die kommunikativ überprüft werden können. So bringt man z. B. einen bestimmten Kleidungsstil mit einem bestimmten Milieu in Zusammenhang.³⁵² Als Interpretationen bleiben diese Wahrnehmungen stets hypothetisch und damit revidierbar. Denn die black box des psychischen Systems ist weder der Kommunikation, noch anderen Bewusstseinen, ja nicht einmal dem eigenen Bewusstsein zugänglich. „Gesicht und Körper des Gegenübers“ können daher nicht – wie Dinkel mit psychoanalytischen Anleihen behauptet – „als Spiegel der Seele“³⁵³ verstanden werden, sondern sie sind wahrnehmbare Formen, die wie jede andere wahrnehmbare Form mittels bestimmter Muster interpretiert werden. Das Verstehen von Körpergestaltung und Körperverhalten ist an kontingente Deutungen gebunden – und nicht an psychologisch motivierten Interpretationen, die auf eine Ontologisierung hinauslaufen. Geht man von der analytischen Trennung biologischer und psychischer Systemen aus, kann der Körper nicht als Abbild psychischen Vorgänge verstanden werden. Vielmehr wird er auf psychische Vorgänge hin gedeutet, wird von seinem Verhalten hypothetisch auf die Psyche geschlossen. Insofern kann der Seelsorgepartner auch nicht besser verstanden werden, als dieser sich selbst versteht. Der Seelsorger kann keine Deutungshoheit über das psychische System des Seelsorgepartners beanspruchen – überdies stände mit diesem asymmetrischen Verhältnis, das einer Defizitper-
Vgl. Klie 2003: Zeichen, 148 ff. A.a.O., 150. Vgl. die praktisch-theologische Rezeption sozialwissenschaftlicher Milieutheorien, die z.T. mit groß angelegten Forschungsprojekten einhergeht; einen Überblick hierüber gibt Kretzschmar 2007: Kirche. – Für einen ästhetisch orientierten Umgang mit Milieutheorien plädiert Kemnitzer 2011: Spieglein. Dinkel 2006: Face, 163; vgl. Scharfenbergs (1972: Seelsorge, 69) Darstellung des psychoanalytischen Gesprächs nach Freud: „Haltung, Gebärde und Ausdrucksweise des anderen wurden zu sprechenden Spiegelbildern seiner seelischen Situation.“ Und auch bei Lohse (20062: Kurzgespräch, 56; Hervorhebung L.K.) stößt man auf eine ähnliche unpräzise Formulierung: „Offene Augen sind der Spiegel einer Seele, die hofft“.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
351
spektive entspricht, die grundsätzliche Mutualität der Seelsorge³⁵⁴ auf dem Spiel. Dies ist besonders hinsichtlich einer pastoralpsychologisch orientierten Seelsorge festzuhalten: Während der seelsorglichen Begegnung kontrolliert der entsprechend geschulte Blick des Seelsorgers unentwegt, ob die verbale Kommunikation mit dem Körperverhalten „kongruent“ ist, mit der Absicht, zu ergründen, was sich „hinter“ den Äußerungen verbirgt und was „eigentlich“ gemeint ist. Es liegt nahe, dass die faktische Wahrnehmung der Körperinszenierung auch taktisch genutzt werden kann. Die face-to-face Begegnung stellt eine Situation doppelter Kontingenz³⁵⁵ dar: „[I]ch überlege mir, was ich tun muss, damit du tust, was du für mich tun sollst“.³⁵⁶ Deshalb ist die Analyse des anderen nicht sehr aussichtsreich: „Ich komme nicht sehr weit, wenn ich immer genauer festzustellen versuche, was im anderen vor sich geht. Wenn ich den anderen gleichsam auf der Couch habe, und ich sitze im Sessel und ich überlege,was in ihm vor sich geht, und wenn ich das immer weitertue, habe ich die Situation, dass ich selber beobachtet werde und dass derjenige, der gleichsam behandelt wird, allmählich herausfindet, was er tun muss, damit er die Behandlung abkürzt, verlängert oder sonstige Effekte beim anderen erzeugt.“³⁵⁷ Eine Poimenik, die Seelsorge als Interaktion beschreibt, wird deshalb auch darauf achten, ob und wie der Seelsorger seinen Körper taktisch in Szene setzt.³⁵⁸ Neben der Körperhaltung, dem Blickkontakt, dem Distanzverhalten der Körper und der Stimmlage sind es die Gestik der Hände und die Mimik des Gesichts, die als Körperverhalten auffallen – Tyrell spricht sogar von einer „Gesichtszentrierung“ der Kommunikation unter Anwesenden.³⁵⁹ Und – bis auf den Tastsinn, für den neben dem gesamten Körper in erster Linie die Hände wesentlich sind – sind die wahrnehmenden „Sozialorgane“ im Gesicht verortet. Das Gesicht ermöglicht einerseits Wahrnehmung, konstituiert ein reziprokes Blick- und Hörfeld, in dem sich Anwesende anblicken und ansprechen lassen müssen, und entzieht sich andererseits gleichzeitig der eigenen Wahrnehmung. Es ist „primär etwas für die anderen, für die anderen Gesichter“.³⁶⁰ Unter der Bedingung von Anwesenheit wird Kommunikation deshalb zur face-to-face Kommunikation, zur
S.o. 2.2.1. „Doppelte Kontingenz“ bezeichnet das Faktum, dass Ego und Alter füreinander black boxes sind, die ihre Selektionen wechselseitig als kontingent beobachten; vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 148 ff. Luhmann 20063: Einführung, 241. Ebd. S.u. 4.4. Vgl. Tyrell 2002: Religiöse Kommunikation, 59 f. Ebd.; Hervorhebung im Original.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, die sich u. a. durch die Zuwendung der Gesichter auszeichnet. Als religiös-christliche Kommunikation ereignet sich Seelsorge jedoch nicht nur als face-to-face Kommunikation unter Anwesenden, sondern als Kommunikation im Angesicht Christi.³⁶¹ Systemtheoretisch formuliert: Der reziproke Wahrnehmungsraum wird auf Transzendenz hin aufgebrochen, der Abwesende, der seine Anwesenheit promissional zusichert (Mt 18,20), inkludiert. Als Glaubensgeschwister lösen sich die Anwesenden von dem ausschließlich immanenten Feld der reflexiven Wahrnehmung und treten in das „Blickfeld“ Gottes bzw. in den Gotteshorizont ein. Sie richten ihren Blick auf Christus und lassen sich von ihm anblicken, sprechen ihn an und machen sich ansprechbar. Auch hier sind es leib‐räumliche Formen, die die promissionale Anwesenheit des Abwesenden einholen: Die Hinwendung zu Christus wird z. B. am Körperverhalten, das als Gebetshaltung gedeutet wird, wahrnehmbar. So zeigen etwa die Körperhaltung, Blickrichtung, Haltung der Hände, aber auch Stimmlage und Sprachstil die intendierte Sprechrichtung an – die Wendung des Gesichts auf Christus hin wird besonders in der Liturgie deutlich: Die Gebetsrichtung versus altarem markiert den „Blickkontakt“ zwischen Gläubigen und Gott. Ebenso sind auch das Abendmahl und der Segen als spezifisch religiös(‐christlich) geprägte Formen an leib-räumliche Inszenierungen gebunden. Da währenddessen die Anwesenden füreinander wahrnehmbar bleiben, eignet dem Körperverhalten des Seelsorgers exemplarischer Charakter. Auf der interaktionellen Wahrnehmungsbühne werden die Anwesenden jedoch nicht nur dazu gezwungen, ihre Körper als Kommunikation zu kontrollieren, sondern – soweit möglich – den gesamten Leib-Raum, da alle leib-räumlichen Formen als Mitteilung verstanden, d. h. als Kommunikation aufgefasst werden können. Mit der Wahrnehmung wird Kommunikation in der Interaktion zum raum-bezogenen Geschehen. Es distinguiert sich ein kommunikativer Leibraum. Oder wie Engemann formuliert: „Alles, was Gestalt annehmen, alles, was gesehen, gehört, gefühlt, gerochen, geschmeckt, alles, was wahrgenommen werden kann, alles das gehört zur Welt der Zeichen.“³⁶² Der Leib-Raum der interaktionellen Wahrnehmungsbühne entsteht durch Zeichensetzung und Zeichendeutung, performiert sich durch das Zusammenspiel verschiedener wahrnehmbarer Formen bzw. deren Interpretation(en). Insofern gewinnen nicht nur die Körper als leib-räumlich Formen an Bedeutung, sondern auch die aktuelle Zeit sowie der aktuelle Ort der Interaktion und dessen wirkliche
S.o. 2.2.1 und 3.2.1.2. Engemann 2003: Semiotik, 167.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
353
und mögliche Gestaltung.³⁶³ Faktisch vorfindliche Kommunikationsumgebungen – wie z. B. die Wohnungseinrichtung beim Hausbesuch – regen auf Ebene des Bewusstseins unweigerlich zur Hypothesenbildung an. Als Wahrnehmbareres rahmen sie die Kommunikation unter Anwesenden und können zu bestimmten Mustern oder Themen der Kommunikation motivieren. Im Unterschied zur therapeutischen Praxis gehören zur pastoralen Berufspraxis Hausbesuche.³⁶⁴ „Seelsorgerinnen und Seelsorgern wird gestattet, dass sie Menschen zu Hause aufsuchen, Zugang zu ihrer Privatsphäre und zum Intimbereich haben.“³⁶⁵ Aufgrund der jeweiligen Wohnsituation, der familiären Kommunikationsmuster, aufgrund dessen, was sich bei einem Hausbesuch dem Pfarrer zeigt, stellt dieser erste Hypothesen auf und macht sich ein Bild von seinem Gegenüber – das ihn seinerseits dabei wahrnimmt. Karle formuliert dies folgendermaßen: Der Seelsorger gewinnt z. B. bei einem Geburtstagsbesuch „innerhalb kürzester Zeit ein verhältnismäßig genaues Bild von den Lebensumständen, den Gestaltungsmöglichkeiten und dem Selbstverständnis eines Gemeindeglieds. Umgekehrt nimmt aber auch die besuchte Jubilarin den Pastor wahr und sieht, ob seine Schuhe geputzt sind oder nicht und ob er sich ihr freundlich und aufmerksam zuwendet oder ob er schon nach wenigen Minuten nervös und zerstreut auf seine Uhr schaut.“³⁶⁶ Abgesehen von der semiotischen Unterbestimmung wird hier sowohl die (vor‐)kommunikative Relevanz des vorfindlichen Raums und der Präsentation von Körpern als auch die interaktionelle Situation reflexiver Wahrnehmung deutlich. Der Hausbesuch ermöglicht „besondere Möglichkeiten – aber auch Schwierigkeiten – des Joinings“.³⁶⁷ Wahrnehmbares lässt sich z. B. auf Hobbies oder besondere Vorlieben der Besuchten deuten, was insbesondere für den Beginn der Kommunikation Anknüpfungspunkte bieten kann und „Vertrautheit“ bzw. „Vertrauen“ zum Seelsorger in der Vertrautheit des eigenen Heims herstellen kann. Dabei erklärt die Fülle möglicher Deutungen, die sich aufgrund dessen, was bei einem Hausbesuch wahrnehmbar ist, ergibt, zugleich auch, „warum manche Gemeindeglieder den Pfarrer nicht gern ins Haus lassen bzw. welch großes Vertrauen sie der Pfarrerin entgegenbringen, wenn sie dies tun.“³⁶⁸ Im Hausbesuch verschränkt sich privater Raum mit kirchlicher Praxis.³⁶⁹ Es ist eine Begegnung, für die zunächst die gängigen Umgangsformen ziviler Begegnungen gelten, die jedoch zugleich als Teil kirchlicher – bzw. aus Sicht des Pfarrers – beruflicher Praxis verstanden wird. Insofern „verschiebt sich auch der Deutungshorizont. Die private Lebens-
Ausführlicher dazu s.u. 3.2.2. und 4.3. Vgl. Hargens (1993: Haus), der Hausbesuche aus seiner systemisch-therapeutischen Praxis reflektiert. In der therapeutischen Praxis bleibt der Hausbesuch jedoch eine Ausnahme. Schneider-Harpprecht 2007: Person, 122. Karle 2000: Kompetenz, 513. Vgl. auch dies. 1999b: Seelsorge, 47 f. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 148. Karle 1999b: Seelsorge, 47. Den Aspekt des Vertrauens hebt auch Kohler (2007: Gemeinde, 487 f) hervor. – Zum Vertrauen aus systemtheoretischer Sicht s.o. Anm. 54. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 387.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
sphäre gerät zum Kontext einer biblisch-christlich interpretierbaren Begegnungsform.“³⁷⁰ Lebenswirklichkeit kann in diesem Kontext religiös-christlich umgedeutet werden.³⁷¹
Nun ist es möglich, intentional leib-räumliche Formen als potentielle Signifikanten zu erzeugen und damit taktisch Raum zu gestalten. Dies geschieht z. B. durch die Präsentation von Gegenständen – ähnlich dem Seelsorger des Scharfenberg-Beispiels, der das Kreuz offenbar so an die Wand angebracht hat, dass es der eintretenden Frau regelrecht ins Auge sticht. Damit hat der Seelsorger eine Handlungsoption dazu gewonnen, die er ohne es nicht hätte: Er kann darauf zeigen, wann immer es ihm im Verlauf des Gesprächs opportun erscheint (deiktische bzw. hermeneutische Option), er könnte es auch für ein Gebet nutzen (liturgische Option). Insofern kann die Raumgestaltung Kommunikationsmöglichkeiten und potentielle Themen eröffnen, die ohne sie erst einmal nicht im Blick sind. Wie im Falle des an der Wand hängenden Kreuzes können leib-räumliche Formen auf ein gesellschaftliches Funktionssystem hin gedeutet werden und die Kommunikation in einen entsprechenden Funktionskontext stellen. Auf diese Weise erzeugen wahrnehmbare Systemgrenzen ein gewisses Vorverständnis der Situation: Noch ehe es zur direkten Kommunikation kommt, lassen sie bestimmte Verhaltensweisen und Themen erwarten und unterstellen bestimmte Ansprechbarkeiten. Ereignet sich Seelsorge als Kommunikation unter Glaubensgeschwistern im christlich-religiösen Kontext,³⁷² so rücken in diesem Zusammenhang leibräumliche Formen in den Blick, die auf christlich-religiöse Codierung hin gedeutet werden können. Zweifellos ist dies z. B. beim Pfarrer, der nach dem Gottesdienst im Talar an der Kirchentüre steht, der Fall. Ist dagegen keine oder keine eindeutige funktionale Differenzierung wahrnehmbar, kann der Kontext der Kommunikation verbalsprachlich hergestellt werden – wie z. B. in der Krankenhausseelsorge: Oft weist hier nur ein kaum wahrnehmbares Ansteckschild auf die Rolle des Seelsorgers hin, so dass dies im Rahmen der Begrüßung – etwa mit den Worten „Ich komme von der Krankenhausseelsorge“ – eingeholt wird. Das durch leib-räumliche Formen evozierte Deutungsgeschehen ist dabei konsequent rezeptionsästhetisch zu verstehen. Denn der von der Ecoschen Semiotik und Luhmannschen Systemtheorie implizierte Deutungsbegriff führt zur Abkehr von einem dyadischen Symbol-Verständnis hin zu einem triadischen Zeichen-Verständnis.³⁷³ So werden sowohl psychologisch motivierte Ontologisie
Ebd. S.u. 3.2.2.2.2. S.o. 2.2; zur religiös-christlichen Codierung der seelsorglichen Interaktion s.u. 3.2.2.2.2. S.o. 1.2.1 und 3.1.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
355
rungen von Körperverhalten sowie die Annahme interpretationsunabhängiger „Atmosphären“ in Räumen obsolet.³⁷⁴ Auch letztere sind als Kommunikationsund Zeichenprozesse zu beschreiben, die auf der Deutung leib-räumlicher Formen beruhen. Es ist die wahrnehmbare Textur eines Raumes, die Partitur einer interaktionellen Begegnung, die qua kulturabhängiger Wahrnehmungsschemata³⁷⁵ auf eine bestimmte Stimmung hin interpretiert wird. Es sind die Lichtverhältnisse, die Architektur, Möblierung, Klänge und Gerüche, „[a]lles, was Gestalt annehmen, alles, was gesehen, gehört, gefühlt, gerochen, geschmeckt, alles, was wahrgenommen werden kann“,³⁷⁶ die den Rezipienten ein stimmungsvolles Bild einer Situation konstruieren lassen. Aus faktischer Sicht geht es der Poimenik darum, für leib-räumliche Formen und damit für die Kommunikationsumgebung der seelsorglichen Interaktion zu sensibilisieren. Dies ist explizit mit keiner Wertung verbunden. Das heißt, die „günstige Gelegenheit“³⁷⁷ einer seelsorglichen Begegnung kann sich an diversen Orten performieren – eingeschlossen der Orte, die von Seiten des Seelsorgers zunächst einmal nicht als „günstig“ empfunden werden. Es stellt sich also nicht die Frage, ob der „geschützte“ Rahmen des Zimmers eines Seelsorgers der unruhigen, höchst störanfälligen Umgebung eines Tür-und-Angel-Gesprächs vorzuziehen ist, welches also der „günstigste“ Ort für Seelsorge ist, sondern es geht darum, wie der sich als „günstig“ performierte Ort die Kommunikation als Kontext rahmt. So zielt die vorliegende Arbeit u. a. darauf ab, fundamentale Kategorien zu beschreiben, mit welchen die Kommunikationsumgebung möglichst umfassend erfasst werden kann.³⁷⁸ Auf taktischer Ebene können die Deutungspotentiale verschiedener leib-räumlicher Formen ausgelotet werden, um mittels intentionaler Gestaltung zu einem spielerischen Umgang mit dem Kontext zu gelangen und so mögliche Handlungsräume zu öffnen. Dies gilt insbesondere für die Inszenierung des Evangeliums: Auf der seelsorglichen Wahrnehmungsbühne performiert sich die gute Nachricht für jemanden „nicht einerleiweise“ (non uno modo),³⁷⁹ sondern vielgestaltig. Das Evangelium findet seine Gestalt nicht nur verbalsprachlich, sondern die für die Kommunikation relevanten leib-räumlichen Formen reichen von der Gestaltung eines Raums der Stille bis hin zur betenden Körperhaltung bei einem Einsatz der Notfallseelsorge.
Josuttis 1993: Gespräche; vgl. Klie 2003: Zeichen, 176: „Die Rede von interpretationsunabhängigen ‚Atmosphären‘ […] ist semiotisch nicht darstellbar.“ S.o. 3.2.1.3.1. Engemann 2003: Semiotik, 167. Vgl. Lohse 20062: Kurzgespräch, 21 ff; s. o. 2.2.2. S.u. Kapitel 4. S.o. 2.1.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Aus der Bedeutung des Leib-Raums für die Kommunikation unter Anwesenden folgt, dass Interaktionssysteme „in hohem Maße störanfällig“³⁸⁰ bzw. positiv formuliert: dynamischer und offener für Veränderungen sind als andere Sozialsysteme. Unter der Bedingung von Anwesenheit ist die Kommunikation in einen Komplex von Wahrnehmungsmöglichkeiten eingebettet, die dem Bewusstsein neben der laufenden Kommunikation eine Vielzahl konkurrierender Zentren für dessen Aufmerksamkeit anbieten und es ablenken können. Von den Anwesenden wird erwartet, dass sie ein „Minimum[ ] an Aufmerksamkeit für den Kommunikationsprozeß“³⁸¹ darstellen. Wird dagegen Unaufmerksamkeit für den Kommunikationsprozess sichtbar, kann das vom Themenwechsel bis zum Abbruch der Interaktion führen.Vor allem in der Kommunikation unter mehreren Anwesenden multipliziert die reflexive Wahrnehmung die Konsequenzen, die sich aus der Ablenkung eines einzelnen wahrnehmenden Bewusstseins für die Kommunikation ergeben: „Man sieht, daß jemand fasziniert aus dem Fenster blickt, und folgt seinen Blicken, um zu sehen, was es dort zu sehen gibt. Die Kommunikation muß dann angehalten oder kurzfristig auf andere Themen umdirigiert werden.“³⁸² Findet eine Begegnung als „Gespräch unter vier Augen“ statt, liegt die Schwelle der Störbarkeit höher. Dies mag daran liegen, dass unter weniger Anwesenden die Rolle des Sprechers viel öfter wechselt, das Bewusstsein hier also aufmerksam die Kommunikation verfolgen muss, um nicht den Anschluss zu verlieren. Die Kapazität, sich mit weiteren Wahrnehmungen zu beschäftigen, wird hierdurch geringer. Doch auch die seelsorgliche Interaktion unter wenigen Anwesenden ist ein dynamisches und unruhiges Kommunikationsgeschehen. Selbst im „geschützten“ Rahmen eines verabredeten Gesprächs im Zimmer des Seelsorgers kann z. B. das Öffnen der Tür, ein Telefon- oder Türklingeln nicht ignoriert werden. Die Kommunikationsabsicht bzw. die Absicht, die laufende Kommunikation zugunsten einer neuen Interaktion zu beenden oder hinsichtlich ihrer Interaktionsgrenzen³⁸³ zu verändern, ist so offensichtlich, dass sie nicht nicht bemerkt werden kann – so ist es z. B. in der Krankenhausseelsorge möglich, das Öffnen der Tür durch eine Krankenschwester als „willkommen Störung“ und Anlass zum Beenden der laufenden Interaktion zu begrüßen.
Luhmann 1984: Soziale Systeme, 562. Kieserling 1999: Kommunikation, 138. A.a.O., 137. – Als klassisches Beispiel für derartige „Kollektivphänomene“ (ebd.) kann der Schulunterricht gelten. Deshalb finden Schulstunden in der Regel in einem „beruhigten Wahrnehmungsraum“ (a.a.O., 136) statt. Auf die Störanfälligkeit der gottesdienstlichen Interaktion weist Dinkel (2000: Gottesdienst, 135 ff) hin. S.o. 3.2.1.2.
3.2.1 Von Angesicht zu Angesicht: Kommunikation unter Anwesenden
357
Die besondere Dynamik der Interaktion liegt überdies bereits in dem für sie konstitutiven Doppelprozess von Wahrnehmung und Kommunikation. Unter der Bedingung von Anwesenheit sind mit Wahrnehmung und Kommunikation zwei semiosischen Prozesse unlösbar aneinander gebunden – systemtheoretisch: strukturell aneinander gekoppelt³⁸⁴ –, die als Operationen autopoietischer Systeme ereignishafte, also performative Prozesse sind, die mit ihrem Vorkommen sofort wieder verschwinden. Das heißt, Wörter verhallen in dem Augenblick, in dem sie ausgesprochen werden, und das Bewusstsein bleibt nicht an einem einmal gewonnen Eindruck kleben.³⁸⁵ So sind sowohl psychische als auch soziale Systeme ständig in Bewegung. Gleich einer unendlichen Semiose generieren sie sich durch permanent aneinander anschließende Operationen, performieren sich mittels einer dynamischen Kette von Interpretanten, die erst mit Ende des Interaktionssystems abreißt und zum Stillstand kommt. Sind in dem interaktionellen Doppelprozess diese bereits in sich dynamischen Prozesse aneinander gekoppelt, so wird die Kommunikation unter Anwesenden selbst zu einem höchst unruhigen bzw. beweglichen Ort. Die bisherigen Überlegungen haben v. a. face-to-face Kommunikation bei leibräumlicher Kopräsenz im Blick, doch auch Interaktionen bei physischer Absenz der Anwesenden³⁸⁶ – wie bei der Telefon- oder Chat-Seelsorge – finden in einem Wahrnehmungsraum statt. Da die Möglichkeit zur reflexiven Wahrnehmung im Vergleich zur face-to-face Begegnung bei leiblicher Kopräsenz eingeschränkt ist, wird hier der gemeinsame Wahrnehmungsraum kleiner. Die Anwesenden entziehen sich der gegenseitigen Wahrnehmung ihrer Körper, was den „Druck“ der Interaktion verringert: „Telefonieren spart in hohem Maße […] Informationen ein, die man lieber für sich behält: Beim Telefonieren bleibt in aller Regel verborgen, welche Kleidung man gerade trägt, wer sich sonst noch im Raum befindet, ob man neben dem Gespräch Strichmännchen aufs Papier malt, um die Langeweile zu vertreiben, ob man in der Badewanne liegt oder die Katze streichelt.“³⁸⁷ Die Möglichkeiten – und auch der Zwang – zur Körperinszenierung sind eingeschränkter als bei leiblicher Kopräsenz. Durch die Gesichtslosigkeit der Kommunikation mag diese niedrigschwelliger und auch anonymer sein – weshalb es leichter sein kann, bei der Telefonseelsorge anzurufen als einen Seelsorger aufzusuchen. Die indirekten Subtexte der direkten Kommunikation sind weniger am
Zur strukturellen Kopplung von Kommunikation und Bewusstsein s.u. 3.2.2.1.2. Zum Ereignischarakter von Operationen autopoietischer Systeme s. o. 3.2.1.1. Speziell zur Ereignishaftigkeit der Elemente des Bewusstseins vgl. Luhmann 20052: Autopoiesis, 56. S.o. 3.2.1.2. Dinkel 2000: Gottesdienst, 133. – Anders als die vorliegende Untersuchung fasst Dinkel Telefongespräche allerdings nicht als Interaktion auf.
358
3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Körperverhalten oder anderen leib-räumlichen Formen auszumachen. So konzentriert sich z. B. beim Telefonieren die Körperinszenierung neben der Verbalsprache auf den Klang und die Modulation der Stimme. Ausgehend von diesem Wahrnehmbaren werden Hypothesen über das Nichtwahrnehmbare aufgestellt, die Leerstellen abwesender Zeichen ergänzt und dazu konstruiert – man macht sich ein Bild des anderen, auch wenn man ihn nur hört. Dies gilt auch für die Kommunikationsumgebung bzw. den Versuch, die Anwesenden zu lokalisieren: Anhand der Hintergrundgeräusche beim Telefonieren wird vermutet, wo sich der andere gerade befindet. Damit bleibt das ohnehin „diffuse Vorverständnis“ (Kieserling) der Kommunikationssituation eher in der Schwebe als bei leiblicher Kopräsenz – v. a. angesichts der durch Handy und mobil abrufbarem Internet möglichen Mobilität. Während der gemeinsame Wahrnehmungsraum kleiner wird, erhöht sich das Irritationspotential der Kommunikationsumgebung, die der reflexiven Wahrnehmung unzugänglich bleibt. Denn das Bewusstsein kann – zunächst von den anderen unbemerkt – seine Aufmerksamkeit auf anderes als die laufende Kommunikation richten, so dass die Interaktion noch fragiler wird. Ist man während eines Telefonats damit beschäftigt, auf den Verkehr zu achten oder in der Fußgängerzone eine Kollision mit anderen Passanten zu verhindern, so wird die Kommunikation mangels notwendiger Aufmerksamkeit komplexe Themen vermeiden oder sich auflösen – ganz davon abgesehen, dass man wahrnimmt, dass man von anderen, nicht an der laufenden Interaktion Beteiligten, wahrgenommen wird. So performieren sich neben der interaktionellen Wahrnehmungsbühne weitere Schau-Plätze der reflexiven Wahrnehmung, die zur Körperinszenierung zwingen. Auch in Interaktionen ohne leibliche Kopräsenz werden also leib-räumliche Formen für die Kommunikation relevant, die Möglichkeiten ihrer intentionalen Gestaltung sind jedoch weitaus eingeschränkter als bei leib-räumlicher Kopräsenz. Im Hinblick auf die seelsorgliche Interaktion bleibt festzuhalten, dass unter der Bedingung von Anwesenheit nicht nicht kommuniziert werden kann. Hieraus folgt eine verstärkte Aufmerksamkeit für leib-räumliche Formen, also wirkliche und mögliche Körperinszenierungen, wirkliche und mögliche Orte sowie wirkliche und mögliche Gegenstände – wobei die Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit auf die Kontingenz der konkreten Situation verweist. Das heißt, in der Aktualisierung einer bestimmten Form wird zugleich die Möglichkeit anderer Formen mitführt. ³⁸⁸ Wie alle Anwesenden so wird auch der Seelsorger im multimedialen Kommunikationsgeschehen der Interaktion zur leib-räumlichen Form, zum Signifikanten einer Zeichenfunktion. Den durch den aktuellen Leib-Raum eröffneten Spielraum der
S.u. 3.2.2.1.1.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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Seelsorge gilt es – im Sinne faktischer Performanz – auf seinen Möglichkeitshorizont hin auszuloten.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien Nachdem der formgebende Ort der Seelsorge, die Interaktion, als kommunikativer Wahrnehmungsraum ausgelotet wurde (3.2.1), geht es nun um die Frage, wie an diesem Ort Wirklichkeiten gebildet und umgebildet werden. Es geht um die sich an dem interaktionellen Ort performierenden wirklichkeitsbildenden Prozesse. Dies geschieht – ebenso wie die makroskopische Abgrenzung des Interaktionsfeldes – zunächst aus kommunikationstheoretischer Perspektive. Im Rekurs auf den Enzyklopädie-Begriff Ecos und den Sinn-Begriff Luhmanns sind die sich in der Interaktion performierenden Prozesse der Wirklichkeitsbildung als Aktualisierung von „Sinnlinien“, die Komplexität reduzieren, zu beschreiben (3.2.2.1.1 und 3.2.2.1.2). In einem zweiten Schritt gilt es, mögliche Umbildungen von Wirklichkeit in den Blick zu nehmen (3.2.2.2): Es geht um die Irritation von Erwartungsstrukturen, um das Aufbrechen fester Deutungsroutinen (3.2.2.2.1) und darum, ob und wie in der seelsorglichen Kommunikation spezifisch christliche Sichtweisen Deutungs- und Handlungsoptionen eröffnen (3.2.2.2.2).
3.2.2.1 Sinnhafte Kopplungen: Formbildungen im Medium der kulturellen Enzyklopädie Grundsätzlich stehen der seelsorglichen Interaktion potentiell unendlich viele Möglichkeiten der Konstruktion von Wirklichkeit zur Verfügung. Dies beginnt bereits bei der Frage, in welch konkreter Situation sich der seelsorgliche Zeit-Raum performiert: Sucht die Frau in dem Beispiel Scharfenbergs¹ einem Rat folgend den Seelsorger in dessen Büro auf, so ist es gleichermaßen denkbar, dass dieser die Frau zu einem Taufgespräch in deren Wohnung besucht oder die Frau den Seelsorger in der Nacht anruft, als sie vom Verkehrunfalls ihres Mannes erfährt. Weiterhin können im Fortgang der Begegnung verschiedene Wege beschritten werden: Ausgehend von der Wahrnehmung des Kreuzes, das in der von Scharfenberg beschriebenen Szene an der Wand hängt, kann über die Konfirmation der Frau, die vor kurzem erfolgte Beerdigung ihres Vaters, die Passionsgeschichte oder ein anderes Thema gesprochen werden – ebenso wie es möglich ist, dass die Wahrnehmung des Kreuzes kommunikativ überhaupt nicht eingeholt wird.
S.o. Einleitung zu Kapitel 3.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Überdies kann jedes gewählte Thema multiperspektivisch betrachtet werden, können die Frau und der Seelsorger gleicher oder verschiedener Auffassung sein. So ist die aus dem systemtherapeutischen Zusammenhang bekannte Aussage – „Es könnte auch alles ganz anders sein.“² – für die unterschiedlichen Ebenen des kommunikativen Geschehens zu veranschlagen. Oder aus konstruktivistischer Perspektive formuliert:³ Die wirklichkeitsbildenden Deutungs- und Vergegenwärtigungsprozesse des seelsorglichen colloquiums performieren sich in einem Möglichkeitsraum, der prinzipiell unendliche Interpretationen eröffnet. Als ereignishafte, d. h. einmalige und dynamische Prozesse machen sie die in ihrer Gesamtheit unbestimmbare Welt in actu als Wirklichkeit zugänglich, indem sie mittels kontingenter Unterscheidungen Komplexität reduzieren bzw. interpretieren. Kommunikationstheoretisch ist zu erhellen, wie potentielle Wirklichkeiten in der konkreten seelsorglichen Interaktion zur aktuellen Wirklichkeit werden (3.2.2.1.1). Letztlich geht es um die Muster, mit denen Wirklichkeit erzeugt wird (3.2.2.1.2).
3.2.2.1.1 Enzyklopädischer Sinn: Möglichkeitsraum der Interpretation Die Unterscheidung potentiell/aktuell ist für den Sinn-Begriff der Luhmannschen Systemtheorie konstitutiv.⁴ Im Anschluss an Husserl formuliert Luhmann: „Man kann Sinn phänomenologisch beschreiben als Verweisungsüberschuß, der von aktuell gegebenem Sinn aus zugänglich ist. Sinn ist danach […] ein endloser, also unbestimmbarer Verweisungszusammenhang, der aber in bestimmter Weise zugänglich gemacht und reproduziert werden kann. Man kann die Form von Sinn bezeichnen als Differenz von Aktualität und Möglichkeit“.⁵ Als Einheit der Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit wird Sinn als Zwei-Seiten-Form vorgestellt, welche die andere, nicht aktualisierte und damit operativ bedeutungslose Seite stets als Möglichkeitshorizont mitführt.⁶ Insofern erweist sich Sinn als „Verweisungsüberschuss“ auf weitere Möglichkeiten in der aktuell gewählten Möglichkeit. Aktualisiertes ist immer im Horizont anderer Möglichkeiten aktualisiert oder anders ausgedrückt: Sinn erfordert immer Appräsentation, Mitverge-
VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 273. S.o. 3.1. Zum Sinn-Begriff vgl. v. a. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 92 ff und ders. 1997: Gesellschaft, 44 ff; eine Zusammenfassung bietet Baraldi/Corsi/Esposito 1997: GLU, 170 ff. – Auf die genannten Publikationen wird im Folgenden Bezug genommen. Luhmann 1997: Gesellschaft, 49 f. Zum Formbegriff s.o. 3.1.1.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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genwärtigung von anderen Möglichkeiten im konkreten Akt, so dass die momentan vollzogene Operation auf einen Horizont anderer Möglichkeiten verweist. Damit entzieht sich der für die Systemtheorie grundlegende Sinn-Begriff einer ontologischen Bestimmung. Er ist subjektlos, ohne Referenz auf einen „Sinnträger“ bzw. auf ein „ontisches Substrat“ konzipiert.⁷ Sinn trägt sich vielmehr selbst und ermöglicht so seine selbstreferentielle Reproduktion als psychische oder soziale Struktur: „Sinn gibt es ausschließlich als Sinn der ihn benutzenden Operationen, also auch nur in dem Moment, in dem er durch Operationen bestimmt wird, und weder vorher noch nachher. Sinn ist demnach ein Produkt der Operationen, die Sinn benutzen, und nicht etwa eine Weltqualität, die sich einer Schöpfung, einer Stiftung, einem Ursprung verdankt.“⁸ „Zugänglich“ wird Sinn demnach pragmatisch als operative Verwendung zur Bezeichnung von etwas und nichts anderem. Die Reproduktion von Sinn geschieht performativ in konkreten Formen, die von psychischen und sozialen Systemen als Vernetzung innerhalb der Sinnverweisungen aktualisiert werden. Auf der einen Seite aktualisiert sich Sinn ausschließlich in psychischen und sozialen Systemen, auf der anderen Seite sind diese in all ihren Operationen an Sinn gebunden. Da sich alle psychischen und sozialen Formen, also Kommunikation und Wahrnehmung, ausschließlich sinnhaft realisieren, beschreibt Luhmann Sinn als „Universalmedium aller psychischen und sozialen, aller bewußt und kommunikativ operierenden Systeme“.⁹ Damit ist angezeigt, dass Sinn nahezu unendliche Möglichkeiten zur Bildung wirklicher Formen bereithält – dieser kulturelle Möglichkeitsraum kann mit Eco auch als Enzyklopädie bezeichnet werden. In den von den Sinnsystemen gebildeten Formen prozessiert Sinn selbstreferentiell: Durch die Autopoiesis psychischer und sozialer Systeme, die ständig dazu zwingt, Operation an Operation anzuschließen, regeneriert sich Sinn laufend selbst. Sind Sinnsysteme in all ihren Vollzügen stets an ihr Medium Sinn gebunden sind, hat alles – eingeschlossen der eigenen Negation – Sinn. Aus systemtheoretischer Perspektive ist es deshalb unmöglich, Unsinn zu erzeugen, denn die Unterscheidung von Sinn/Unsinn nimmt im Moment ihrer Verwendung bereits Sinn an und reproduziert damit wieder „Sinn als Medium aller Formbildungen“.¹⁰ – Aus dieser Perspektive hat dann z. B. auch „sinnlos“ erscheinende Kommunikation mit Dementen „Sinn“.
Vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 141 ff. Luhmann 1997: Gesellschaft, 44; Hervorhebung im Original. A.a.O., 51. – Die systemtheoretische Differenz von Medium und Form lehnt sich an die Unterscheidung „Ding und Medium“ von F. Heider an und dehnt dessen ursprüngliche Bedeutung aus; vgl. a.a.O., 190 ff. A.a.O., 52.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Damit divergiert der systemtheoretische Sinn-Begriff mit einem alltagssprachlichen Verständnis. Luhmann schlägt in diesem Zusammenhang die terminologische Unterscheidung von Sinnhaftem – in Bezug auf die universale, nicht negierbare Kategorie des Sinns – und einen engeren Begriff des Sinnvollen vor, der dann „verwendet werden kann, wenn es um Integration mit Selbstbeschreibungen geht.“¹¹ Als sinnlos erscheint dann etwas, das nicht zur Selbstbeschreibung – z. B. des eigenen Lebens – passt. Dabei nimmt mit erhöhten Selbstbeschreibungsanforderungen die Beobachtung mit der Differenz sinnvoll/sinnlos zu – dies verstärkt mit dem Legitimationsdruck der Spätmoderne, der Rechenschaft darüber fordert, was denn der „eigentliche Sinn“ des Lebens, einer Institution oder Organisation sei. In der seelsorglichen Interaktion – die als Kommunikation stets sinnhaft ist – geht es dann darum, die Differenz sinnvoll/sinnlos, die nach Luhmann mit steigendem Legitimationsdruck regelrecht „oktroyiert“ wird,¹² im Angesicht Christi als eine mögliche Beobachtungsperspektive aufzuzeigen und andere, insbesondere christliche Sichtweisen anzubieten. So kann z. B. gelebtes Leben im Licht der Rechtfertigung gedeutet und ein tröstendes „te absolvo“ zugesprochen werden. Im Blick auf die seelsorgliche Interaktion ist entscheidend, dass Sinn als Universalmedium die „selektive Erzeugung aller sozialen und psychischen Formen“¹³ und damit aller Formen, die in der Kommunikation unter Anwesenden zusammenspielen, erlaubt. Die seelsorgliche Interaktion ist daher nicht nur ein sinnenhaftes,¹⁴ sondern auch ein sinnhaftes Geschehen. Verweist Sinn stets auf weiteren Sinn, so ergibt sich ein „endloser, unbestimmbarer Verweisungszusammenhang“¹⁵. Dabei erscheint die „zirkuläre Geschlossenheit dieser Verweisungen […] als Letzthorizont alles Sinnes: als Welt.“¹⁶ Die selbstreferentielle Geschlossenheit des Sinngeschehens ist damit gleichbedeutend mit der endlosen Offenheit der Welt. Welt wird vorgestellt als Gesamtheit der Sinnverweisungen, in der man – mit Eco formuliert – wie in einem rhizomartig verzweigten Netz von jedem Ausgangspunkt zu allen anderen Möglichkeiten der Welt gelangen kann. Der Sinnbegriff führt also zu einem azentrischen Weltbegriff. Dabei ist der „Sinnreichtum der Welt“¹⁷ auf die jeweilige
Luhmann 20063: Einführung, 245; im Rekurs auf A. Hahn. Vgl. a.a.O., 246. Baraldi/Corsi/Esposito 1997: GLU, 170. S.o. 3.2.1.3. Luhmann 1997: Gesellschaft, 49 f. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 105; Hervorhebung im Original. Luhmann 1997: Gesellschaft, 56.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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Beobachtungsperspektive, d. h. auf die der Beobachtung zugrundeliegende Unterscheidung zurückzuführen. Da aktualisierter Sinn nur als Zwei-Seiten-Form reproduziert werden kann und ausnahmslos selektiv zustande kommt, verweist er auf weitere Selektionen: „Seine Kontingenz ist notwendiges Moment sinnhaften Operierens.“¹⁸ Vom „Postulat unveränderlicher Letztprinzipien“ geht der Sinnbegriff „über zur Möglichkeit, alles als kontingent zu beobachten.“¹⁹ Das Kennzeichen allen Sinngeschehens ist, dass alles auch ganz anders sein könnte. Für psychische und soziale Systeme bestimmt Sinn den „Verweisungsüberschuss“, der die Weltkomplexität konstituiert und als Voraussetzung für die Aktualisierung konkreter Formen – Kommunikation und Wahrnehmung – dient. Als die spezifische Form der Unterscheidung von Aktualität und Möglichkeit dient Sinn dazu, Weltkomplexität bearbeitbar zu machen. Insofern kann Sinn als Selektionsform beschrieben werden, die kommunikativen und bewussten Operationen „punktuellen Zugriff“²⁰ auf Weltkomplexität ermöglicht. Es bleibt festzuhalten, dass Sinn einerseits soziale und psychische Systeme dazu zwingt, nur eine der potentiellen Möglichkeiten zu aktualisieren, und dass Sinn andererseits als „Verweisungsüberschuss“ sozialen und psychischen Systemen erlaubt, sich auf alles weitere zu beziehen und damit auch das Potentielle zugänglich zu halten: „Sinn erlaubt die gleichzeitige Reduktion und Erhaltung der Weltkomplexität im System.“²¹ In der vergegenwärtigten Möglichkeit appräsentiert Sinn Weltkomplexität. Ist der Sinn-Begriff der Luhmannschen Systemtheorie eher formal bestimmt, so bietet sich im Hinblick auf die inhaltliche Beschreibung des Möglichkeitsraums, in dem sich wirklichkeitsbildenden Deutungsprozesse performieren, der Enzyklopädie-Begriff der Ecoschen Semiotik an. Dieser zielt in diversen Aspekten auf Ähnliches wie der Sinn-Begriff und hat für die Zeichentheorie Ecos ebenso fundamentale Bedeutung wie der Sinn-Begriff für die Systemtheorie Luhmanns: Er wird zur „Grundlagenkategorie seiner [Ecos; L.K.] gesamten semiotischen Bedeutungstheorie“.²² Enzyklopädie kann beschrieben werden als das gesamte
A.a.O., 55. Baraldi/Corsi/Esposito 1997: GLU, 172. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 95. Baraldi/Corsi/Esposito 1997: GLU, 172. Mersch 1993: Eco, 220 Anm. 82. – Den Enzyklopädie-Begriff arbeitet Eco v. a. in „Semiotik und Philosophie der Sprache“ (1985: Semiotik, 77 ff) aus. Mersch (1993: Eco, 105 ff) und Klie (2003: Zeichen, 204 ff) bieten luzide Zusammenfassungen. Auch in den früheren Publikationen verwendet Eco bereits den Enzyklopädie-Begriff – allerdings noch nicht mit der grundlegenden Bedeutung, die ihm später zukommt: Im Rahmen der Code-Theorie finden sich für die Enzyklo-
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kulturelle Wissen, das sich aus der Summe aller Molaren Inhalten (MI) ergibt – dann liegt der Fokus auf der individuellen Deutungskompetenz.²³ Im Folgenden steht jedoch das kulturell-enzyklopädische Wissen, das den Möglichkeitsraum sinnhafter Deutungen eröffnet, im Mittelpunkt. Das Gesamt des kulturellen Wissens umfasst „sämtliche in einer Kultur verbreiteten Kenntnisse, Ideologien, Glaubensinhalte, Illusionen, Dummheiten und Lügen“.²⁴ Gleich einem vieldimensionalen, ungeordneten Netz spannt es als „Umfassendes Semantisches Universum“²⁵ einen potentiell unendlichen Möglichkeitsraum auf, dessen Inhalt sich im Prozess einer unendlich zirkulierenden Semiose präsentiert. Die „Interpretanten-Sukzession, nach der jeder Inhalt neue Signifikanten erzeugt, die ihrerseits wieder neue Interpretationen provozieren usf.“²⁶ ad infinitium, erzeugt ein globales Bedeutungsuniversum, das hermeneutisch-pragmatische Komplexe bildet. So bezeichnet das kulturell-enzyklopädische Wissen ein dynamisches Gebilde aus multiplen Verästelungen, das sich – kontradiktorische Bedeutungseinheiten eingeschlossen – in einem azentrischen Geflecht aufspannt. In dieser Komplexität entzieht sich die „globale semantische Kompetenz einer gegebenen Kultur“²⁷ einer systematischen, v. a. aber einer wörterbuchartigen Darstellung, deren Idee auf den Porphyrischen Baum zurückgeht.²⁸ Als Wörterbuch wird der Versuch verstanden, ein begrenztes Universum zu konstruieren, das eine endliche Anzahl Primitiva²⁹ umfasst, die hierarchisch in einem zweidimensionalen Kategorien„baum“ geordnet sind. Damit stellt ein Wörterbuch ein endliches System nicht interpretierbarer Merkmale dar, das die Produktion von Depädie-Vorstellung wesentliche Darstellungen; vgl. Eco 19912: Semiotik, v. a. 143 ff, 174 ff, 178 ff; und aus Perspektive der Textsemiotik, die jedoch verallgemeinert werden kann: ders. 19983: Lector, v. a. 15 ff und 94 ff. Auch die spätere Publikation (ders. 2000: Kant, 258 ff) greift auf die EnzyklopädieVorstellung zurück. Die Entwicklung von Ecos Code-Theorie hin zum Enzyklopädie-Modell zeichnet Klie (2003: Zeichen, 195 ff) nach. – Auf die genannten Publikationen wird im Folgenden Bezug genommen. S.o. 3.2.1.3.1. Mersch 1993: Eco, 111. Eco 19912: Semiotik, 179. Klie 2003: Zeichen, 205. Eco 1985: Semiotik, 108. Eco diskutiert verschiedene linguistische Modelle; vgl. z. B. Eco 1985: Semiotik, 77 ff. Beim Porphyrischen Baum handelt es sich um ein Modell der Definition von Porphyrius (3. Jh.), auf das nach Eco viele der heutigen semantischen Theorien zurückgehen; vgl. a.a.O., 77. – Eco (1985: Semiotik, 92 ff) unterzieht das Modell des Porphyrischen Baums einer eingehenden Kritik. Vgl. Eco 1985: Semiotik, 81 f: „Primitiva sind ‚einfache‘ (oder die ‚einfachsten‘) Konzepte. Es ist jedoch sehr schwer zu entscheiden, was ein ‚einfaches‘ Konzept ist.“ – In gewissem Sinne sind Primitiva auch vergleichbar mit dem, was Luhmann als „ontischen Substrate“ bezeichnet.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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finitionen erlaubt und eine totalitäre Beschreibung des semantischen Universums versucht. Geht man indessen davon aus, dass das semantische Universum als Universum einer unendlichen Semiose vorzustellen ist, so setzen die „Merkmale“ eine potentiell unendliche Kette von Interpretanten in Gang – und sind interpretierbar. Damit kann jedoch ihre Anzahl nicht mehr endlich und ihre Menge nicht länger geordnet sein. Ecos kritische Betrachtung führt deshalb zu dem Schluss, dass sich die wörterbuchartige Darstellung letztlich in ein nicht-hierarchisches Netzwerk auflöst: „Das Wörterbuch wird in eine potentiell ungeordnete und begrenzte Galaxis von Stücken von Weltwissen aufgelöst. Das Wörterbuch wird so zu einer Enzyklopädie, weil es ohnehin eine verkleidete Enzyklopädie war.“³⁰ Folgt man Eco, so „existieren“ Wörterbücher „nur als theoretische Fiktionen“.³¹ So entspricht eine enzyklopädieartige Darstellung der unbegrenzten Semiose des semantischen Universums am ehesten: „Die regulative Idee der Enzyklopädie ist der einzige Weg, um das mögliche Format eines solchen Universums zu umreißen und Mittel auszuprobieren, die es teilweise beschreiben.“³² Dabei bleibt auch die „epistemologische Metapher“ der Enzyklopädie ein theoretisches Konstrukt, eine „terminologische Fixierung“ dessen, was – mit Luhmann formuliert – unbeobachtbar ist.³³ Denn letztlich kann jeder Versuch einer Beschreibung des umfassenden semantischen Universums, das als dynamisches, in sich widersprüchliches System von inneren Bezügen vorzustellen ist, „nur ein semiotisches Postulat, eine regulative Idee“ sein, die ihrerseits „das Format eines vieldimensionalen Netzes“ annimmt.³⁴ Jenes mehrdimensionale Netz beschreibt Eco in seinem zeichentheoretischen Hauptwerk „Semiotik“ als Modell Q.³⁵ Das n-dimensionale Modell Q definiert jedes Zeichen durch die Verknüpfung mit einem anderen, als Interpretant fungierenden Zeichen, das seinerseits zu einem von anderen Zeichen interpretierten Zeichen werden kann: „[D]as Modell, in seiner ganzen Komplexität, beruht auf einem Prozeß unbegrenzter Semiose.“³⁶ Jedes Zeichen, jede kulturelle Einheit kann so zum Zentrum werden und unendliche Peripherien erzeugen. Oder anders ausgedrückt:Von
Eco 1985: Semiotik, 107; Hervorhebung im Original. – Eco bestimmt den Enzyklopädie-Begriff, ähnlich N. L. Wilson, von dem er den Terminus übernimmt, in Abgrenzung zur WörterbuchSemantik. Im Unterschied zu Wilson weitet Eco die Bedeutung der Enzyklopädie allerdings auf die gesamte Geschichte des Wissens aus; vgl. Mersch 1993: Eco, 220 Anm. 82. Eco 1985: Semiotik, 119 und 121. A.a.O., 121. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 205. Vgl. Eco 1985: Semiotik, 108. Zu M. Ross Quillians Modell des semantischen Gedächtnisses – von Eco als Modell Q bezeichnet – vgl. Eco 19912: Semiotik, 174 ff. Eco 19912: Semiotik, 176; Hervorhebung im Original.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
jedem Punkt des Universums kann man zu jedem anderen Punkt gelangen. Zweidimensional lassen sich aufgrund dieser Komplexität immer nur Teile des Modells darstellen. Im Gesamt bleibt es graphisch jedoch unerreichbar. Dieses Netz „kultureller Einheiten“ – das Eco mit einer riesigen Menge magnetischer Murmeln in einer Schachtel vergleicht³⁷ – ist ständig in Bewegung und daher veränderbar. Die Bedeutungen sind nicht „zu einem System relevanter Einheiten erstarrt“, sondern bilden ein „offenes System“, das durch neue Informationen bereichert werden kann:³⁸ „Das Modell Q ist ein Modell der sprachlichen Kreativität.“³⁹ – Oder um es ohne Begrenzung auf Verbalsprache zu formulieren: Das Modell Q ist ein Modell der kommunikativen Kreativität. Diese Überlegungen führen Eco dazu, den Code-Begriff zu präzisieren:⁴⁰ „Was man ‚den Code‘ nannte, betrachtet man deshalb besser als ein komplexes Netz von Subcodes“.⁴¹ Wird der Code als soziale Konvention verstanden, so bedeutet das – um zu dem Bild der Schachtel mit den Murmeln zurückzukehren –, dass die Magnetisierung der Murmeln – die Regeln des Anziehens und des Abstoßens – ein kulturelles Phänomen, also ein vorübergehender, historischer Zustand ist. Auch an dieser Stelle kommt Eco deshalb zu dem Schluss, dass ein zweidimensionaler „Komponentenbaum“ als „rein temporäres Hilfsmittel“, als „Arbeitshypothese“ zur Darstellung der unmittelbaren Umgebung einer aktualisierten kulturellen Einheit aufzufassen ist,⁴² nicht jedoch als Repräsentation des umfassenden semantischen Universums. Überdies führt die Einsicht, dass jeder Versuch, die – postulierte – Struktur des semantischen Universums zu beschreiben, diese verändert, der Semiotik die eigenen Grenzen vor Augen.
In „Semiotik und Philosophie der Sprache“ präzisiert Eco die Enzyklopädie-Vorstellung mit der Metapher des Labyrinths.⁴³ Im Unterschied zur statischen Struktur eines zwei-dimensionalem Komponentenbaums bietet das Modell des Labyrinths die Dynamik, die dem semantischen Universum, das unablässig in Bewegung ist, am ehesten entspricht. Und letztlich kommt – wie Eco am Porphyrischen Baum
Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 178. Ebd.; im Original hervorgehoben. Vgl. a.a.O., 178 ff. A.a.O., 179; Hervorhebung im Original. – Die Ausarbeitung des Enzyklopädie-Begriffs in „Semiotik und Philosophie der Sprache“ führt Eco letztlich zur Kritik des Code-Begriffs; vgl. Eco 1985: Semiotik, 242 ff. Vgl. Eco 19912: Semiotik, 180. Vgl. Eco 1985: Semiotik, 125 ff. – Bereits in „Semiotik“ spricht Eco von einem „labyrinthischen Netz verschlungener Zeichen-Funktionen“ (vgl. 19912: Semiotik, 86), das durch sich überschneidende Signifikate erzeugt wird. Während Eco sich hier ausschließlich auf das Modell Q bezieht, beschreibt er in „Lector“ (19983: Lector) dieses bereits als rhizomatisch, also mit jener Kategorie, die in „Semiotik und Philosophie der Sprache“ grundlegend wird. Zu dieser Entwicklung vgl. Mersch 1993: Eco, 221 Anm. 89. – Auch für Ecos „narrative Semiotik“ seiner Romane wird die labyrinthische Verzweigung zur Zentralmetapher; vgl. Klie 2003: Zeichen, 206 Anm. 172 und Mersch 1993: Eco.
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zeigt – kein Versuch, die labyrinthische Ordnung zu zähmen, umhin, wieder ein Labyrinth hervorzubringen. Zur Beschreibung der labyrinthischen Struktur der Enzyklopädie bezieht sich Eco auf das der Biologie entlehnte Bild des Rhizoms: „Das ist der Typ von Labyrinth, an dem wir interessiert sind. Er stellt ein Modell (ein Modell Q) für eine Enzyklopädie als regulative semiotische Hypothese dar.“⁴⁴ Das rhizomatische Labyrinth grenzt sich von zwei weiteren Arten von Labyrinth ab, dem klassischen des Minotaurus und dem neuzeitlichen Irrgarten. In seiner linearen Struktur hat das antike Labyrinth nichts mit einer Enzyklopädie gemein: Beherrscht wird es von einer „blinden Notwendigkeit“.⁴⁵ Für seine Durchquerung ist keine Logik erforderlich. „Strukturell gesehen, ist es einfacher als ein Baum: es ist ein Knäuel, und wenn man ein Knäuel aufwickelt, erhält man eine ununterbrochene Linie.“⁴⁶ In einem derartig eindimensionalen Labyrinth ist es unmöglich, in die Irre zu gehen oder den Weg zu verlieren. Es gibt weder richtige noch falsche Wege, sondern nur einen einzigen, vorgezeichneten Weg, der ins Zentrum führt – systemtheoretisch eingeholt: Das Labyrinth funktioniert ohne Unterscheidung. Im Zentrum wartet der Minotaurus, „um die ganze Sache ein bißchen aufregender zu gestalten“.⁴⁷ Der neuzeitliche Irrgarten kommt hingegen ohne einen Minotaurus aus: „[E]r ist sein eigener Minotaurus; mit anderen Worten: der Versuch des Besuchers, den Weg zu finden, ist der Minotaurus.“⁴⁸ Ein Irrgarten bietet Wahlmöglichkeiten zwischen alternativen Pfaden, von denen einige nicht weiterführen, d. h. es können Fehler gemacht werden. Man ist gezwungen umzukehren und den einzig richtigen Weg zu finden – systemtheoretisch formuliert: Diese Art von Labyrinth zeichnet sich durch die Unterscheidung richtig/falsch aus. Im Unterschied zum antiken Labyrinth wird dieser zweidimensionale Irrgarten von einer Notwendigkeit beherrscht. Bei seiner Durchquerung ist ein „systematisches Vorgehen“, eine „empirische Wissenschaft und zweiwertige Logik“ erforderlich.⁴⁹ Strukturell ist dieses Labyrinth strikt binär konzipiert und gleicht daher dem Porphyrischen Baum. Im Unterschied zu diesen beiden Arten von Labyrinth bezeichnet das moderne Rhizom „ein Gewirr von Knollen und Knoten und sieht aus wie ‚Ratten, die durcheinanderwimmeln‘.“⁵⁰ Dieses Labyrinth erscheint als ein multidimensio-
Eco 1985: Semiotik, 127. Vgl. a.a.O., 125. Ebd. Ebd. A.a.O., 125 f; Hervorhebung im Original. Vgl. Mersch 1993: Eco, 118 f. Eco 1985: Semiotik, 126; im Anschluss an G. Deleuze und F. Guattari.
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nales Netz, in dem jeder Punkt mit jedem anderen Punkt verbunden werden kann und deshalb auch die Möglichkeit von Widersprüchen enthält. Da es weder ein Zentrum noch eine Peripherie hat, gleicht es einem „unbegrenzten Territorium“,⁵¹ „das sich kreuz und quer bereisen läßt und in dem die Gänge von überall her kommen und sich in alle Richtungen ausbreiten“⁵². Ein rhizomatisches Labyrinth kann man nicht durchqueren, man betritt es nicht, um ein Abenteuer zu erleben, sondern ist in ihm schon immer gefangen – das Rhizom selbst ist das Abenteuer, näherhin: das „Abenteuer der Interpretation“⁵³. Die Suche nach einem Ziel oder Schlüssel ist vergeblich. Eine globale Beschreibung des Rhizoms ist nicht nur deshalb unmöglich, weil es „multidimensional kompliziert“⁵⁴ ist, sondern sich überdies in dauernder Fluktuation befindet. Die rhizomatische Struktur kann nur als „potentielle Summe lokaler Beschreibungen beschrieben werden“.⁵⁵ Als eine „Struktur ohne Außen“⁵⁶ ist das Rhizom nur von innen beobachtbar. Das heißt, der Beobachter ist in seine Beobachtung immer mit eingeschlossen – oder anders formuliert: Es ist unumgänglich, mit einem blinden Fleck zu beobachten.⁵⁷ Jede Beobachtung, jede Beschreibung ist daher nicht nur partiell, sondern auch hypothetisch und grundsätzlich revidierbar: „[I]n einem Rhizom ist Blindheit die einzige Art des Sehens (lokal), und Denken heißt, nach dem Weg zu tasten.“⁵⁸ Letztlich verlässt eine rhizomartige Darstellung den „Bereich der logischen Vernunft“⁵⁹. Dem tastenden Denken entspricht vielmehr eine abduktive Logik. Beherrscht wird das Rhizom durch Kontingenz: Seine Wege sind weder unmöglich noch notwenig. In einem rhizomatischen Labyrinth geht es dann auch nicht darum, den einzig „richtigen“ Weg zu finden, d. h. keine Fehler zu machen, sondern im Geflecht möglicher Pfade einen aktuellen Weg zu erproben, der auch ganz anders sein könnte – systemtheoretisch ausgedrückt: Hier ist nicht die Unterscheidung richtig/falsch oder wahr/unwahr bestimmend, sondern aktuell/möglich. Und dennoch ist für Eco dieses kontingente, multidimensionale Labyrinth kein Ort dekonstruktivistischer
Vgl. ebd. Mersch 1993: Eco, 119. Unter diesen Titel fasst Mersch (a.a.O., 122 ff) die auf der Abduktion beruhende semiotische Interpretationstheorie. Eco 1985: Semiotik, 127. Ebd.; Hervorhebung im Original. Ebd. Zu dieser konstruktivistischen Implikation s.o. 3.1. Eco 1985: Semiotik, 127; Hervorhebung im Original. Mersch 1993: Eco, 121.
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Verwirrung, sondern Ort und „Quelle eines Spiels“⁶⁰ – oder auf die seelsorgliche Interaktion bezogen: Es ist Ort eines Deutungsspiel. Das Rhizom bietet für Eco ein adäquates Modell für die enzyklopädieartige Darstellung des umfassenden kulturellen Wissens: „Das Universum der Semiose, d. h. das Universum menschlicher Kultur, muß man sich wie ein Labyrinth der dritten Art [wie ein Rhizom; L.K.] strukturiert vorstellen:“⁶¹ (1.) Seine Struktur ist von einem „Netz von Interpretanten“ bestimmt. (2.) Es beinhaltet „multiple Interpretationen“ und ist daher – gleich der Semiose, auf der es beruht – „virtuell unendlich“. Denn „ein gegebener Ausdruck kann so viele Male interpretiert werden und auf so viele Arten, wie er tatsächlich in einem gegebenen kulturellen Rahmen interpretiert worden ist“. Der Inhalt der globalen semantischen Kultur wird mithin durch Interpretanten repräsentiert, die ihrerseits im Prozess der unendlichen Semiose interpretierbar sind – wobei nicht-verbalsprachliche Interpretanten mit eingeschlossen sind.⁶² (3.) Dies führt zur innersemiotischen Suspendierung der Wahrheitsfrage:⁶³ Das kulturelle Universum umfasst keine vermeintlich ontische Wahrheit, sondern kulturell codierte Wahrheiten, und damit „vielmehr das,was über die Wahrheit gesagt wurde oder was für wahr gehalten wurde“, also: die über irgendein Thema geführten Diskurse. (4.) Eine derartige semantische Enzyklopädie kann nicht endgültig abgeschlossen werden. Sie „existiert nur als regulative Idee“, auf die in einer aktuellen Situation Bezug genommen wird. (5.) Und nicht zuletzt steht ein solcher Enzyklopädie-Begriff der Verabsolutierung eines einzigen Diskurses – im Bild gesprochen: eines einzigen, im Rhizom möglichen Weges – entgehen und widersetzt sich einer „ideologischen“ Verengung des globalen Universums, das immer nur lokal darstellbar und partiell zugänglich bleibt. So wird das Bild des Rhizoms zum „Analogon für die Grund-, Wahrheits- und Ursprungslosigkeit der Semiose“.⁶⁴ Es steht für ein unendlich zirkulierendes und dynamisches (Be‐)Deutungsgeschehen, das zu kontingenten Möglichkeiten explodiert. Aus dieser semiotischen Perspektive ist „Sinn […] keine rationale Größe, sondern ein fragmentarischer Prozeß, der vom jeweiligen Zugang abhängt. Und allein unserer Freiheit bleibt es überlassen, in einer ordnungslosen Welt Zusam-
So Eco (1985: Semiotik, 275) im Zusammenhang mit einem enzyklopädisch gedeuteten CodeBegriff. Eco 1985: Semiotik, 129. – Zu den folgenden Kriterien, anhand derer Eco das „Universum menschlicher Kultur“ (ebd.) bestimmt, vgl. a.a.O., 129 f. Zu „nicht-sprachlichen“ Interpretanten vgl. a.a.O., 114 und Eco 19912: Semiotik, 317 ff. Zur Suspendierung der Wahrheitsfrage aus konstruktivistischer Sicht s.o. 3.1. Mersch 1993: Eco, 121.
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menhänge aufzusuchen, zu identifizieren und wieder aufzulösen.“⁶⁵ – Diese Aussage ist hinsichtlich ihres pragmatisch-performativen Aspekts an den systemtheoretischen Sinn-Begriff anschlussfähig: Auch aus systemtheoretischer Sicht stellt sich das Sinngeschehen als ein performativer Prozess dar, der in usu konkrete Gestalt annimmt. Hierbei bietet die Welt ein „unermessliches Potential“⁶⁶ an Möglichkeiten, um konkrete Gestalten zu bilden bzw. um aktuelle Formen ins Universalmedium Sinn einzuprägen. Der performative Zugriff hängt davon ab, welche Unterscheidung zur Beobachtung von Welt getroffen wird und bleibt so stets selektiv. Der Horizont der Welt bzw. des Sinns ist für sinnhafte Operationen daher unerreichbar – wenngleich er nur in diesen zugänglich ist. Und auch der semiotisch bestimmte Sinn bleibt v. a. deshalb ein „fragmentarischer Prozeß“⁶⁷, weil der Zugriff auf die globale Enzyklopädie immer nur vorübergehend – also performativ – und selektiv erfolgen kann. Ähnlich dem systemtheoretisch bestimmten Sinn, der als universale Zwei-Seiten-Form immer nur partiell aktualisiert werden kann, entzieht sich das Weltwissen in seiner „unvorstellbaren Globalität“⁶⁸ jeder Darstellung. Würde jede Möglichkeit vergegenwärtigt, entstände ein „unmögliches geistiges Diagramm“⁶⁹, ein vieldimensionales Netz miteinander zu verknüpfender kultureller Einheiten gleich dem Modell Q, das aufgrund seiner Komplexität die Ausdifferenzierung eines Systems unmöglich machte. Der Zugriff auf das enzyklopädische Wissen erfolgt als „lokale Repräsentation“.⁷⁰ Das semantische Universum wird im konkreten (Be‐)Deutungsgeschehen partiell aktualisiert, während ähnlich einer Zwei-Seiten-Form die anderen, gegenwärtig nicht aktualisierten Möglichkeiten stets mitgeführt werden: Und so konstatiert Eco – hier (noch) im Bezug auf die Textinterpretation: „Gewöhnlich bleiben die Eigenschaften eines Semems virtuell, das heißt sie sind weiterhin in der Enzyklopädie des Lesers verzeichnet, der sich ganz einfach darauf einrichtet, jene Eigenschaften nach und nach zu aktualisieren, so wie dies im Verlauf des Textes [bzw. im Verlauf eines Deutungsgeschehen; L.K.] erforderlich wird. Von all dem, was semantisch umfaßt oder impliziert wird, expliziert der Leser [bzw. eine Deutungsinstanz; L.K.] nur, was er gebrauchen kann. Dabei hebt er einige Eigenschaften hervor, während er andere in Narkose versetzt.“⁷¹ Hierbei „ist eine
Ebd. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 46; s.o. 3.1.3. Mersch 1993: Eco, 121. Eco 1985: Semiotik, 129. Eco 19983: Lector, 107. Eco 1985: Semiotik, 108. Eco 19983: Lector, 107; Hervorhebungen im Original.
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narkotisierte keine eliminierte Eigenschaft. Sie wird zwar nicht eigens hervorgehoben, aber sie wird auch nicht verneint.“⁷² – Oder systemtheoretisch formuliert: Die aktuell diskriminierten Möglichkeiten werden als „Verweisungsüberschuss“ auf der anderen Seite der Form als Potentialität mitgeführt und können durch crossing erreicht werden. Mit den Worten Luhmanns: „Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Etwas steht im Blickpunkt, im Zentrum der Intention, und anderes wird marginal angedeutet als Horizont für ein Und-soweiter des Erlebens und Handelns.“⁷³ Aktualisierungen performieren sich stets in einem Möglichkeitshorizont, d. h. mit der Möglichkeit, dass auch anderes aktualisiert hätte werden können. Das Enzyklopädie-Modell beschreibt ähnlich der systemtheoretischen SinnVorstellung einen sich der Interpretation eröffnenden Möglichkeitsraum. Und dementsprechend formuliert Mersch: „Die Enzyklopädie ermöglicht die Selektion differenter Texturen und damit die Wahl zwischen verschiedenen semantischen Universen.“⁷⁴ Aufgrund ihres azentrischen, ungeordneten Geflechts und ihrer globalen Extension erlaubt sie „immer wieder neue Systematisierungen“ und kann „nach völlig anderen Gesichtspunkten beurteilt oder in die verschiedensten Richtungen ausgelegt werden“.⁷⁵ Aktuelle Interpretationen prägen in das rhizomatische Netz lokale Lesewege ein und loten innerhalb der kulturellen Enzyklopädie (Be‐)Deutungspfade aus. Aus dem umfassenden semantischen Universum werden Bedeutungseinheiten herausgeschnitten und miteinander zur aktuellen Wirklichkeit verknüpft – die immer kontingent bleibt, denn: „Grundsätzlich sind immer auch andere Konstruktionen denkbar“.⁷⁶ Diese Perspektive führt zu einer „pluralistische[n] Zersplitterung der Welt“, die von Eco jedoch weder nihilistisch noch dekonstruktivistisch, sondern als „Möglichkeit einer Freiheit“, die jedem offensteht, gedeutet wird.⁷⁷ Es ist eine Freiheit, die es erlaubt, „Fehler“ zu machen bzw. unterschiedliche Deutungswege zu erproben – systemtheoretisch eingeholt: Da jeder bestimmte Sinn sich selbst und anderes meint, kann man andere Möglichkeiten aus den Augen lassen, ohne dass sie verschwinden, und sich anderem zuwenden. Nur so kann man riskieren, loszulassen und neue, ungewohnte Deutungswege zu beschreiten: „Man kann
A.a.O., 108. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 93; in Anlehnung an Husserl. Mersch 1993: Eco, 114. Vgl. ebd. A.a.O., 108. Vgl. a.a.O., 115 f. – Sowohl die Semiotik Ecos als auch die Systemtheorie Luhmanns distanzieren sich von einer dekonstruktivistischen Sichtweise; s. o. 3.1.2.
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sich Fehlgriffe leisten, weil die Möglichkeiten damit noch nicht erschöpft sind. Man kann zum Ausgangspunkt zurückkehren und einen anderen Weg wählen.“⁷⁸ Die Unsicherheit, die mit jeder Selektion einhergeht, wird damit durch den Sinn selbst kompensiert: Aktualisiertes wird mit redundanten Möglichkeiten ausgestattet. Gleichwohl erlaubt der potentiell unendliche Möglichkeitsraum keine beliebigen Deutungen wie Eco – hier in Bezug auf die Textsemiotik – bemerkt: „Zu sagen, daß ein Text potentiell unendlich sei, bedeutet nicht daß jeder Interpretationsakt gerechtfertigt ist. Selbst der radikalste Dekonstruktivist akzeptiert die Vorstellung, daß es Interpretationen gibt, die völlig unannehmbar sind.“⁷⁹ Wie zum Beispiel: „Würde Jack the Ripper uns sagen, er habe seine Taten aufgrund einer Inspiration begangen, die ihn beim Lesen des Evangeliums überkam, so würden wir zu der Ansicht neigen, er habe das Neue Testament auf eine Weise interpretiert, die zumindest ungewöhnlich ist.“⁸⁰ Und so lotet Eco in der gleichnamigen Schrift die „Grenzen der Interpretation“ aus:⁸¹ Der „unbegrenzten Abdrift des Sinns“ setzt Eco die „begrenzte Abdrift“ entgegen.⁸² Zwar kann man im Verlauf der unendlichen Semiose von jedem Punkt des Netzes zu jedem anderen gelangen, dabei sind jedoch „Regeln der Zusammenhangssetzung zu beachten, die die Geschichte unserer Kultur in gewisser Weise legitimiert hat“.⁸³ Die Freiheit einer Deutungsinstanz, potentiell unendlich viele Deutungspfade in das rhizomatische Netz einzuprägen, bewegt sich demnach in einem kulturellen Netzwerk, durch das sie zugleich begrenzt wird. Wird der systemtheoretische Sinn-Begriff mit dem semiotischen EnzyklopädieModell inhaltlich eingeholt und kulturell abgeglichen, so lässt sich wie folgt formulieren: Das aktuelle Deutungsgeschehen der seelsorglichen Kommunikation, das Hervorbringen konkreter Bedeutungen bewegt sich in einem potentiell unendlichen, jedoch nicht beliebigen Möglichkeitsraum, der vom sinnhaften Universum kulturellen Wissens eröffnet wird. Interaktionelle Deuteprozesse generieren im enzyklopädischen Universalmedium des Sinns konkrete Formen und konstruieren auf diese Weise Wirklichkeit als aktuelle Möglichkeit. Im rhizomartig aufgespannten Netz der Kultur performieren sich aktuelle Lesepfade und werden
Luhmann 1984: Soziale Systeme, 94. Eco 1995: Grenzen, 22; Hervorhebung im Original. A.a.O., 77. A.a.O. – Eco bezieht sich hier zwar in erster Linie auf die Interpretation von Texten, die Ausführungen können jedoch auf eine allgemeine Interpretationstheorie hin ausgedehnt werden. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 199 ff. Eco 1995: Grenzen, 144.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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mögliche Sinnlinien vergegenwärtigt. Im enzyklopädischen Netz der Kultur eröffnen sich z. B. von der Wahrnehmung eines Fotos ausgehend, das die von einem Seelsorger besuchte Frau im Krankenhaus zusammen mit Kindern vor Palmen und Wasser zeigt, einige mögliche Kommunikationspfade: Denkbar sind Gespräche, die sich auf dem Bedeutungsfeld /Urlaub/ oder – wenn es sich bei den auf dem Foto zu sehenden Kindern um die Enkel handelt – /Familie/ bewegen und diese in Bezug auf das konkrete Leben dieser einen Frau näher ausloten. Dabei ergeben sich nahezu unendlich viele Möglichkeiten des wirklichen Kommunikationsverlaufs, der sich als aktualisierter Deutepfad im kulturellen Rhizom seinen Weg sucht.Vom Urlaubsort kann man auf die aktuelle politische Lage des Urlaublandes kommen, von dem Zeitpunkt des Urlaubs auf einen Vergleich des gesundheitlichen Zustandes von damals mit heute und über Überlegungen, wie oft man in seinem Leben noch solch einen Urlaub erleben wird, bis hin zu der Einsicht, dass Lebenszeit als dem Menschen von Gott gewährte Zeit gedeutet werden kann. Welcher Kommunikationspfad aktualisiert wird, hängt dabei auch von den an die Kommunikation gekoppelten psychischen Systeme ab. Das Hervorbringen von konkreter Aktualität aus virtueller Potentialität kann als Einprägen von Formen in das Medium des enzyklopädischen Sinns beschrieben werden. Koppeln sich die Operationen psychischer und sozialer Systeme aneinander – spielen also Wahrnehmung und Kommunikation wechselseitig zusammen –, wird Sinn reproduziert bzw. Enzyklopädie lokal repräsentiert. Das Sinn-Medium stellt mit lose gekoppelten kulturellen Einheiten eine nahezu unendliche Menge an Kombinationsmöglichkeiten zur Verfügung, die im performativen Deutegeschehen in konkreten Formen fest zu Sinnlinien gekoppelt werden. Bezieht man sich auf die von Luhmann gebrauchte Unterscheidung von Medium und Form, wird in diesem Zusammenhang aufs Neue der pragmatischperformative Aspekt des Deuteprozesses deutlich: Zum einen kann ein Medium immer nur über Formenbildung reproduziert werden, zum anderen ist das Medium als Möglichkeit daran gebunden, dass es in konkreten Formen benutzt wird. – So bleibt bspw. das Evangelium bloße Möglichkeit, d. h. nur eine virtuelle Weltsicht und damit ohne Bedeutung, wenn sich seine multiformen Möglichkeiten nicht zur konkreten – z. B. ethischen, liturgischen oder seelsorglichen – Form und damit zur gelebten und erlebten Wirklichkeit verdichten. Gleichwohl sind die im Medium eingeprägten Formen flüchtig. Die Vergegenwärtigung konkreter Sinnlinien bleibt immer ein ereignishaftes Geschehen, das nur von kurzer Dauer ist. Stabiler als die Formbildung ist hingegen das unbestimmte Medium, das sich in ständiger Fluktuation befindet und so zeichnet sich das Sinngeschehen aus durch „eine merkwürdige Mischung von Dauerhaftigkeit des Möglichen auf der einen und temporärer Formbildung, die zur Re-
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produktion der Möglichkeiten führt“.⁸⁴ Das bedeutet, dass das Evangelium immer wieder neu konkrete Gestalt gewinnt und seine Inszenierung durch ein unablässiges Wechselspiel von Kondensieren und Konfirmieren bestimmt ist.⁸⁵ Wird z. B. in einem konkreten Seelsorgegeschehen auf die kondensierte christliche Kommunikationsform des Segens zurückgegriffen, so changiert diese zwischen Singularität und Iteration. Insofern Sinn an die performative Vergegenwärtigung gebunden ist, ist das Sinngeschehen ein dynamischer Prozess: „In alles Sinnerleben […] ist […] ein Moment der Unruhe eingebaut. Sinn zwingt sich selbst zum Wechsel.“⁸⁶ Demnach sind auch alle Sinnsysteme, d. h. psychische und soziale Systeme, durch Instabilität geprägt. Da die sinnhaften Operationen – Wahrnehmung und Kommunikation – als zeitpunktfixierte Ereignisse in ihrem Auftauchen sogleich wieder verschwinden, ist das Prozessieren von Sinn ein „ständiges Neuformieren der sinnkonstitutiven Differenz von Aktualität und Möglichkeit. Sinn ist laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten.“⁸⁷ Die Instabilität des Sinns liegt also darin, dass die Aktualität nicht gehalten werden kann und entlang von Möglichkeitsanzeigen permanent neu aktualisiert werden muss.⁸⁸ Um das Sinngeschehen in Gestalt eines konkreten Sinnsystems aufrecht zu halten, zwingt Sinn zum fortwährenden Anschluss, zur Bildung von Nachfolgeaktualität: Sinn zwingt zum Gebrauch. Denn wenn jede Operation zeitpunktbezogen ist und im nächsten Moment gleich wieder zerfällt, muss sie fortlaufend durch eine andere Operation ersetzt werden. Hierbei wird die Grenze der Zwei-Seiten-Form von Aktualität und Möglichkeit ständig überschritten (crossing), indem nun etwas anderes als vorher bezeichnet wird, d. h. etwas aktualisiert wird, das vorher nur als Möglichkeit mitgeführt wurde. Paradoxerweise garantiert so gerade der Dauerzerfall – ähnlich einer unendlichen Semiose – den Bestand des autopoietischen Systems. Insofern gewinnt auch für das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen die Gegenwart als aktualisierte Zeit an Bedeutung. Die seelsorgliche Interaktion ist vorzustellen als ein dynamischer Akt performativer Wirklichkeitsbildung. Aktualisierter Sinn nimmt in actu konkrete Gestalt an und generiert Bedeutungen. Jeder Interpretationsakt konstituiert sinnhafte Wirklichkeit: „Sinn wird durch immer neue Interpretationen erzeugt, erweitert, übersetzt und umgewandelt.“⁸⁹
Luhmann 20063: Einführung, 228. S.o. 2.2.1. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 98. A.a.O., 100. Vgl. ebd. Mersch 1993: Eco, 105.
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Dies beinhaltet auch, dass sich die Struktur, die „Agende“ der seelsorglichen Kommunikation performativ einstellt. Die Unterscheidung von Medium und Form widersetzt sich außerdem dem, was Eco als „ideologische“ Verengung bezeichnet.⁹⁰ Denn die Möglichkeiten eines Mediums können nie in nur eine Form „gebannt“ werden.⁹¹ Positiv formuliert resultiert hieraus die Freiheit, mit verschiedenen Deuteperspektiven experimentieren zu können. Das heißt, die Welt ist grundsätzlich mit unterschiedlichen Unterscheidungen beobachtbar – eine Sichtweise, die jeder Verabsolutierung entgegensteht: „Distinction is perfect continence“ – wie Luhmann in diesem Zusammenhang Spencer Brown zitiert.⁹² Wird jedoch eine virtuelle Möglichkeit, eine lokale Organisationen des kulturellen Universums globalisiert, so erstarrt eine mögliche Interpretation, als ob diese die vermeintlich einzig richtige und wahre Sichtweise wäre. Andere Möglichkeiten werden strikt ausgeschlossen, weitere Perspektiven scheinen nicht mehr zugänglich. Mit anderen Worten: Ideologie führt zur „Bornierung der Semiose“.⁹³ Mersch zeichnet den Mechanismus nach, dem ideologische Wirklichkeitskonstruktionen folgen: „Vieles von menschlichem Glauben oder Handeln folgt solcher Eigendynamik – eine Möglichkeit verdichtet sich zur Wahrscheinlichkeit, das Wahrscheinliche verselbständigt sich zum Wirklichen, die Wirklichkeit schlägt um in Terror, dessen mörderische Konsequenzen Katastrophen auslöst. Der Psychiater Paul Watzlawick prägte dafür den Ausdruck einer Selffulfilling prophecy, eines unaufhaltsam selbstgeschaffenen Ablaufs der Ereignisse. Wirklichkeit ist, was wir jeweils zu ihr machen; sie ist ein Konstrukt, auf dessen Rücken, gleichwohl unterdrückt, Gewalt ausgeübt und Kriege entfacht werden.“⁹⁴ Ein ähnliches Muster prägen Konflikte:⁹⁵ Nach Luhmann sind Konflikte hoch integrierte Systeme, d. h. Systeme, deren Optionen verringert und deren mögliche Ressourcen ausgeblendet werden, so dass nur noch wenig Handlungsspielraum bleibt. Konfliktreiche Systeme funktionieren daher mit nur wenigen und starren Spielregeln. Systemtheoretisch gesehen, aktualisieren Konflikte die mit jeder Kommunikation einhergehende Möglichkeit, Kommunikation abzulehnen und dies mitzuteilen. Gibt der andere im Falle eines „Neins“ nicht sofort nach, sondern insistiert trotz Ablehnung weiterhin z. B. auf seiner Meinung, bildet sich ein
Vgl. Eco 19948: Einführung, 168 ff und ders. 19912: Semiotik, 385 ff; s. o. 3.1.2 . Vgl. Luhmann 20063: Einführung, 228. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 57. Vgl. Mersch 1993: Eco, 183. A.a.O., 182; Kursivierung im Original. Vgl. Luhmann 20063: Einführung, 335 ff und ders. 1984: Soziale Systeme, 488 ff; Kieserling 1999: Kommunikation, 257 ff.
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Konfliktsystem aus. Die Gegnerschaft wirkt systembildend und organisiert in den meisten sozialen Situationen die Anschlusskommunikation. Wird jemand – entsprechend aggressiv – als Gegner angesprochen, so spielt ihn diese Situation in der Regel in begrenzte Handlungsvariationen hinein: Man reagiert entsprechend, und dies häufig nach der Regel, dass alles, was dem anderen nützt, einem eben deshalb selbst schade und umgekehrt alles, was einem selbst nützt, dem anderen schade. Es bilden sich Freund-Feind-Verhältnisse, wie meist „geheime“ Koalitionen zweier Familienmitglieder gegen ein Drittes,⁹⁶ die Wirklichkeit auf eine Möglichkeit reduzieren und festschreiben. Die Kommunikation ist ganz von dem Muster der Gegnerschaft bestimmt und insofern geschlossen. Offen zeigt sie sich hingegen im Blick auf die von ihr behandelten Themen. Denn der „Konflikt tendiert […] deutlich dazu, weitere und immer weitere Themen in sich hineinzuziehen“.⁹⁷ Der Widerspruch an einem Punkt wird generalisiert, es bildet sich die fest geprägte Erwartung, dass auch bzgl. anderer Themen widersprochen werden wird. So reduziert z. B. das Deutungsmuster „meiner Schwiegermutter ist nie etwas recht“ die Wirklichkeit. In Bezug auf ideologische Einschränkungen bzw. Konflikte geht es ähnlich der systemischen Therapie auch in der Seelsorge darum, den Circulus vitiosus, in den sich ideologisch verengte Systeme verstrickt haben, das „Spiel ohne Ende“⁹⁸ zu unterbrechen, indem andere Spielregeln eingeführt werden. Es geht darum, die Freiheit des Möglichkeitsraums wiederzugewinnen und Sinnlinien, die zu einengenden „Seinszuständen“ erstarrt sind, wieder zu dynamischen, veränderbaren Prozessen zu „verflüssigen“.⁹⁹ Ziel ist es, die semiotische Zirkulation wieder anzuregen, andere – v. a. religiös-christliche – Deutungspfade zu erproben und dadurch neue Kommunikations- und Handlungsoptionen zu eröffnen. In diesem Sinne eröffnet das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen einen Freiheitsraum, der das Erproben verschiedener Möglichkeiten erlaubt. Im seelsorglichen Spiel der Interpretationen geht es darum, „tastend“ Wege im Rhizom des enzyklopädischen Sinns zu suchen. Es verlockt, das „Wagnis einer immer wieder neu ansetzenden Suche“¹⁰⁰ einzugehen und Perspektiven sowie Möglichkeiten zu entdecken. Dies kann z. B. durch das Erfragen von Ausnahmen von der Regel geschehen – wann bzw. was der Schwiegermutter einmal doch recht war – oder in den Angebot, den
Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 58. Kieserling 1999: Kommunikation, 269. Vgl. Watzlawick 19892: Wesen, 26 u. ö. Zur systemischen Therapie und Beratung s.o. 1.1.3.1. – Zum Wiedergewinnen von Komplexität durch Umcodierung s.u. 3.2.2.2.1. Mersch 1993: Eco, 124.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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anderen als einen Menschen zu sehen, der von Gott ebenso geliebt wird wie man selbst. Ein solch seelsorgliches Deutungsspiel ist ein abduktives Geschehen, in dem begründete Annahmen gemacht und Vermutungen aufgestellt werden. Als „reiner Möglichkeitsschluss“ bleibt die Abduktion¹⁰¹ ein probeweise, stets revidierbar Schluss, dessen „logischer Status“ die Kontingenz ist.¹⁰² Folgt man Mersch, so bildet für Eco die Abduktion die „formulierbare ‚Logik‘ der Interpretation […]. Im Labyrinth der Zeichen ist die Semiose weder der ‚Willkür‘ ausgeliefert noch das Produkt rationaler Ableitungen, sondern das Ergebnis einer Reihe riskanter und unerhörter Konjekturen.“¹⁰³ Dessen Ergebnis wiederum die Reproduktion von Sinn ist: „Sinn entsteht nicht aufgrund präziser Zuordnungen, sondern als das Resultat einiger gewagter Plausibilitäten.“¹⁰⁴ Die enzyklopädisch-kulturelle Dimension des Universalmediums Sinns verweist jeden Zeichenprozess auf einen kulturell-historischen (Deute‐)Kontext. Mit Mersch formuliert: „Sinn ist ein Geschehen, an dem ein ganzes Universum von Geschichte beteiligt ist.“¹⁰⁵ Und weiter: „[B]ildet die Enzyklopädie als Gesamtheit des historischen Wissens den Ort der kulturellen Kontextuierung der Zeichen[, so bleibt] Sinn […] stets zurückverwiesen auf die Komplexität der Geschichte.“¹⁰⁶ Das heißt, der Bezugspunkt jeder Interpretation, jeder möglichen Semiose ist das kulturell-enzyklopädische Wissen. Jede Deutung ist von ihrem Kontext abhängig, jedes Zeichen ist nur im Ensemble mit anderen Zeichen zu verstehen: „Verstehen heißt, sich auf eine kulturelle ‚Totalität‘ beziehen, die freilich so relativ ist wie die Kulturen selber und so vielfältig wie die Zeiten, die sie hervorbringen. Jedes Zeichen ist abhängig von der Gesamtheit jener Kultur, die es produziert“.¹⁰⁷ Welche Interpretation man für plausibel hält, hängt hier davon ab, wie man die Welt insgesamt interpretiert.
Peirce fügt den beiden logischen Schlussweisen der Deduktion und Induktion die Abduktion hinzu. Eco übernimmt diesen Terminus (vgl. 1985: Semiotik, 66 ff; 19912: Semiotik, 185 ff; Zitat 186; Hervorhebungen im Original): „Im Fall der logischen Deduktion besteht eine Regel, aus der ich, wenn ein Fall gegeben ist, ein Resultat ableite […]. Im Fall der Induktion leite ich, wenn ein Fall und ein Resultat gegeben sind, eine Regel ab […]. Im Fall der Hypothese oder Abduktion wird von einer Regel und einem Resultat auf einen Fall geschlossen.“ Vgl. Mersch 1993: Eco, 126. A.a.O., 125. A.a.O., 107. A.a.O., 112. – Auch wenn der Sinn-Begriff hier in einer von der Luhmannschen unterschiedenen Bedeutung verwendet wird, kann der Terminus an dieser Stelle systemtheoretisch umgedeutet werden. A.a.O., 180 f. A.a.O., 110.
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Erlaubt die globale Enzyklopädie der Gesellschaft die Systematisierung zu verschiedenen Universen kulturellen Wissens, so erhellt aus dieser Perspektive die spezifische seelsorgliche Begegnung, die Schneider-Harpprecht als „interkulturelle Seelsorge“ bezeichnet¹⁰⁸ – also die Kommunikation unter Anwesenden, die ihre jeweilige Wirklichkeit aufgrund differenter kultureller common senses konstruieren. Die privat-subjektive Wirklichkeitskonstruktion vollzieht sich im Horizont eines kulturell-öffentlichen Wissens, das eine bestimmte Weltanschauung nahe legt.¹⁰⁹ Werden von der seelsorglichen Interaktion nun Menschen verschiedener „Kulturkreise“ als Anwesende inkludiert, so wirkt sich das auf die Kommunikation aus. Im Laufe des Kommunikationsgeschehens werden unterschiedliche „kulturelle Muster“¹¹⁰ eingespielt, die wirklichkeitsbildenden Prozesse greifen auf differente semantische Universen zu. Ist der Überschneidungsbereich der MIs¹¹¹ der beteiligten Personen gering, so kann es zu Differenzen und Irritationen kommen. Aufgabe des Seelsorgers ist es dann – in Anlehnung an Paulus –, sich „um des Evangeliums willen“ (1. Kor 9,23) in das jeweilige kulturelle Netzwerk hineinzubegeben und in der Kommunikation den „kulturellen Aspekt der Wirklichkeitskonstruktionen“¹¹² zu entdecken.¹¹³ Dies schließt Irritationen im systemtheoretischen Sinne ein: Als ein mögliches „kulturelles Muster“ kann es –
Schneider-Harpprecht 2001: Interkulturelle Seelsorge. – Zu Schneider-Harpprechts Versuch, die interkulturelle Seelsorge mit einer systemischen Perspektive in Verbindung zu bringen vgl. Schneider-Harpprecht 2005: Interkulturelle systemische Seelsorge; s.o. 1.1.3.2. – Zur interkulturellen Seelsorge vgl. auch die Sammelbände von Federschmidt/Hauschildt/Schneider-Harpprecht/Teme/Weiß (2002: Handbuch interkulturelle Seelsorge) und Körtner/Müller/KleteckaPulker/Inthorn (2009: Spiritualität). Beide enthalten auch Beiträge in „interreligiöser“ Perspektive. – Auch in den Seelsorge-Lehrbüchern wird die interkulturelle bzw. interreligiöse Dimension berücksichtig vgl. Klessmann (20124: Seelsorge, 101 ff) und Morgenthaler (20122: Seelsorge, 215 ff). S.o. 3.2.1.3.1. Vgl. Schneider-Harpprecht 2005: Interkulturelle systemische Seelsorge, 225. S.o. 3.2.1.3.1. Schneider-Harpprecht 2005: Interkulturelle systemische Seelsorge, 225. Vgl. 1. Kor 9,20 – 23: „Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden […], damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne. Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden […], damit ich die, die ohne Gesetz sind, gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an ihm teilzuhaben.“ – Oder wie Schneider-Harpprecht (2005: Interkulturelle systemische Seelsorge, 224) aus Perspektive des Seelsorgers formuliert: „Um einen Menschen zu verstehen, sind wir darauf angewiesen, die Kultur zu verstehen, auf die er sich bezieht.“
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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wie jeder mögliche (Be‐)Deutungspfad im sinnhaften Möglichkeitsraum der Welt – in Frage gestellt und (christlich) umcodiert werden.¹¹⁴ Von hier aus ist der Schritt zum „interreligiösen Dialog“ – Schneider-Harpprecht spricht sogar von „interreligiöser Seelsorge“¹¹⁵ – nicht mehr groß. Gemeint sind die seelsorglichen Kommunikationssituationen, in denen Christen und Personen, die sich in anderen religiös-kulturellen Horizonten als dem christlichen bewegen, als Anwesende in die Interaktion inkludiert werden. Aus kommunikationstheoretischer Perspektive, die Seelsorge nicht von den anwesenden Menschen, sondern von der Kommunikation bzw. von der christlichen Codierung der Kommunikation her definiert, behandelt seelsorgliche Interaktion sowohl Christen als auch Nicht-Christen als Anwesende. Die Unterscheidung Christen/NichtChristen stellt dabei eine spezifische Beobachtungsform der seelsorglichen Kommunikation dar. Oder aus poimenischer Sicht formuliert: Ist Seelsorge als wechselseitiges Gespräch anwesender Glaubensgeschwister zum Zwecke des Trosts untereinander zu beschreiben,¹¹⁶ so erscheinen „interreligiöse“ und multireligiöse Begegnungen als Kommunikation wirklicher und möglicher Glaubensgeschwister. Des Weiteren kann in dem dargelegten Zusammenhang der Wirklichkeitsbildung die Deutung von Lebensgeschichte – ein weiteres, häufiges Thema der
Zur (christlichen) Umcodierung s.u. 3.2.2.2. Vgl. Schneider-Harpprecht 2005: Interkulturelle systemische Seelsorge, 225. – Vgl. auch das Handbuch zur „interreligiösen Seelsorge“ (Weiß/Federschmidt/Temme 2010: Handbuch Interreligiöse Seelsorge). 2011 erscheint ein Kursbuch zur Ausbildung von muslimischen Notfallbegleitern (Lemmen/Yardim/Müller-Lange 2011: Notfallbegleitung). Dieses geht zurück auf einen Kurs, den die Christlich-Islamische Gesellschaft in Köln zusammen mit dem Landespfarramt für Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland anbot, um muslimische Helfer zu Notfallbegleitern auszubilden. – Mittlerweile ist der Terminus Seelsorge auch von Seiten des Islams aufgenommen. Es entsteht ein Netzwerk muslimischer Seelsorge, wie etwa der muslimischen Krankenhausseelsorge oder muslimischen Telefonseelsorge; vgl. Guschas (2009: Rat) oder z. B. http://www.mutes.de/home.html (Zugriff am: 28.12. 2013). Der Sammelband „Seelsorge und Islam in Deutschland“ (Wenz/Kamran 2012: Seelsorge) bringt u. a. die muslimische Theologie und Seelsorge mit systemischen Seelsorgeansätzen ins Gespräch (Krauss 2012: Seelsorgeansätze). Der Band „Islamische Seelsorge zwischen Herkunft und Zukunft“ (Ucar/Blasberg-Kuhnke 2013) beleuchtet die Notfall-, Gefängnis-, Altenheim- und Krankenhausseelsorge aus muslimischer sowie christlicher Sicht und bietet entsprechende Praxisberichte. – In der vorliegenden Untersuchung wird „Seelsorge“ als ein christlich codierter Terminus verstanden; s. o. 2.2.1. Aus dieser Perspektive erscheint es angebracht, anstelle von „interreligiöser Seelsorge“ von „spiritueller Begleitung“, die religiös (immanent/transzendent), aber nicht notwendig christlich codiert ist, zu sprechen. S.o. Kapitel 2.
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Seelsorge und Poimenik – erhellt werden.¹¹⁷ Seelsorgliche Begegnungen sind konfrontiert mit Situationen, in denen sich die Frage nach biographischer Konstruktion stellt. Und folgt man Engemann, so kann behauptet werden, dass es in der Seelsorge u. a. um die Rezeption des Lebenskunst-Werks des Seelsorgepartners geht: Auf der einen Seite hat der „Seelsorge nachfragende einzelne […] – wie jeder Künstler – […] ein Interesse an der Rezeption seines Werkes“, auf der anderen Seite wird der „Ratsuchende […] unausweichlich mit einer Reaktion auf seinen Versuch, sein Leben zu gestalten, konfrontiert“.¹¹⁸ Explizit wird die Frage nach der Lebensgeschichte z. B. im Kontext biographischer Übergangsphasen, die nicht zuletzt durch die rituelle Gestaltung bei Kasualien eine hervorgehobene Bedeutung erhalten.¹¹⁹ Doch auch bei Krankheit, Geburtstag, Auszug der Kinder sowie dem Wechsel von Wohnort oder Arbeitsstelle kann die Deutung bzw. Umdeutung von Lebensgeschichte eine Rolle spielen. War die Poimenik bis in die 1960er Jahre kerygmatisch ausgerichtet, so bildet sich mit der „Erosion traditionaler Lebensformen“, die in Deutschland seit etwa Mitte der 1960er Jahre zu beobachten ist, die „Deutung des Lebenslaufs“ als Paradigma der beratenden Seelsorge heraus.¹²⁰ In Anlehnung an die psychoanalytische Theorietradition steht hierbei die Rekonstruktion von Lebensgeschichte im Mittelpunkt. Lebensgeschichte wird vor dem Hintergrund frühkindlicher Erfahrungen gedeutet, was zur Ontologisierung vermeintlich anthropologischer Konstanten führt. Dieser scheinbaren „lebensgeschichtlichen Kausalität“¹²¹ widerspricht die Biographieforschung: „Das geschichtliche Ereignis kommt nicht notwendig so zur Auswirkung, wie es in der Vergangenheit geschehen ist, sondern wie es […] beurteilt und bewertet wurde. Das impliziert verschiedene, plurale Lesarten von Lebensgeschichte“.¹²² Demnach geht es weniger um Rekonstruktion als um Konstruktion von Lebensgeschichte.
Vgl. z. B. Grözinger (1986: Seelsorge), Karle (1995: Seelsorge), Ferel (1996: Verständnis, 371 ff; 2003: Verwandlung; 2006: Seelsorge) und Drechsel (2002: Lebensgeschichte) sowie Klessmann (20124: Seelsorge, 178 ff, dort v. a. 202 ff) und Morgenthaler (20122: Seelsorge, 144 ff). Engemann 2003: Lebenskunst, 344; Hervorhebung im Original. – In diesem Artikel rückt Engemann die Seelsorge in den Horizont der Philosophie der Lebenskunst. Zur „Biographie in der Perspektive kirchlicher Amtshandlungen“ vgl. Böhm (1995: Biographie) mit dem gleichnamigen Untertitel. Vgl. Karle 1995: Seelsorge, 199. – Karle stellt hier die Frage nach Biographie und Identität in den sozialen Kontext der spätmodernen Gesellschaft. Im Folgenden wird auf diesen Artikel Bezug genommen. Karle 1995: Seelsorge, 205. Ebd.; Hervorhebung im Original.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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Mit der Unterscheidung von Lebenslauf und Biographie lässt sich dies wieter erhellen:¹²³ Lebenslauf ist als ein „Insgesamt von Ereignissen, Erfahrungen, Empfindungen usw. mit unendlicher Zahl von Elementen“¹²⁴ zu beschreiben. Biographie hingegen „macht für ein Individuum den Lebenslauf zum Thema.“¹²⁵ Systemtheoretisch formuliert: „Der Lebenslauf ist die Umwelt der auf Selbstthematisierung bezogenen Kommunikation.“¹²⁶ Insofern wird Biographie zur „Beobachtungs- und Beschreibungsleistung“, die den Lebenslauf als „‚Material‘ erlebten Lebens“ zu mehr oder weniger elaborierten Mustern kondensieren lässt.¹²⁷ Als „selektive Vergegenwärtigung“¹²⁸ reduziert Biographie die ungeordnete Komplexität des Lebenslaufs und konstruiert auf diese Weise sinnvolle Zusammenhänge. In das virtuell unendliche Medium des Lebenslaufs wird Biographie als aktuelle Form eingeprägt. Dies schließt – gemäß dem Sinn als Zwei-SeitenForm – ein, dass auch andere biographische Formen möglich sind. Der Lebenslauf ist daher immer nur über aktuelle biographische Konstruktionen als Wirklichkeit zugänglich. Dabei beschränkt sich die biographische Selektion nicht notwendig auf den empirischen Lebenslauf, sondern kann auch über das eigene Leben hinaus auf Vergangenheit zurück- und auf Zukunft vorgreifen. Für die Seelsorge wird dies relevant, wenn Biographie im christlichen Deute-Horizont konstruiert und z. B. in die Heilsgeschichte eingeschrieben wird – ähnlich wie es Paul Gerhardt in der zweiten Strophe des Liedtextes „Ich steh an deiner Krippen hier“ (EG 37) ausdrückt: „Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren und hast mich dir zu eigen gar, eh ich dich kannt, erkoren. Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du schon bei dir bedacht, wie du mein wolltest werden.“ Konstruktion von Biographie ist also als Einprägen konkreter (Deute‐)Formen in das Möglichkeitsnetz des Lebenslaufs zu beschreiben. Es geht um die Deutung eines grundsätzlich offenen, sich in Fluktuation befindlichen Geschehens, um das Einzeichnen von Biographielinien, die auch ganz anders hätten sein können. In diesem Zusammenhang wird die Annahme, dass der Lebenslauf auf statistischen „Daten“ oder vermeintlichen „Fakten“ eines Lebens referiert, obsolet. Diese sind eben gerade nicht vorgegeben, vielmehr wird ihnen mittels biographischer Selektion aus dem amorphen Kontinuum „von Ereignissen, Erfahrungen, Empfin-
Vgl. Hahn 1995: Identität, 140 ff. A.a.O., 140. Ebd. Ebd. Vgl. Nassehi 1995: Religion, 103. Hahn 1995: Identität, 140.
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dungen usw.“¹²⁹ die Bedeutung als „Faktum“ und erinnerungswürdiges „Datum“ verliehen. Die Biographie erzeugt mittels Erinnern und Vergessen „Bezugspunkte“, an die mit weiteren Erleben und Handeln angeschlossen, d. h. Biographie fortgeschrieben wird. Hierbei können die selektiven Erinnerungselemente durch unterschiedliche Deutungsmuster immer wieder neu geordnet, kann die Biographie immer wieder umstrukturiert und narrativ angeeignet werden. Biographie ist daher eine Form der Selbstbeobachtung, die auf kontingenten Unterscheidungen beruht. Das heißt, die konkrete, aktualisierte Biographie hängt – wie jede Realitätskonstruktion – von der jeweils getroffenen Unterscheidung ab, die das selektive Gedächtnis der Biographie steuert. Damit gilt auch hinsichtlich der Deutung von Lebensgeschichte die für die Systemtheorie Luhmanns grundlegende Weisung von Spencer Brown: „Draw a distinction!“¹³⁰ Und so ist es möglich, dass einem „Element“ des Lebenslaufs, d. h. etwas, das für jemanden zunächst ohne Bedeutung war, mit einer anderen Unterscheidung, also unter einer anderen Perspektive und in einem anderen Deutekontext Bedeutung zugeschrieben wird. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn ein längst vergessener Klassenkamerad zum Lebenspartner wird – wie das Verbatim eines Traugesprächs die Erzählung einer Frau wiedergibt: „Gekannt haben wir uns ja schon von de Schul – Aber da isser mir net aufgefallen. Denach simmer ganz verschiedene Wege gegangen. Ein paar Jahr ham wir sogar im gleische Haus gelebt und uns nie gesehen. […] Mit seiner Schwester bin ich befreundet, und die hat immer mal so erzählt, was er grad so anstellt. Und dann war’n wir zusammen auf’m (Fastnachts‐)Ball von de Gecken, da war auch der J. dabei. Und eigentlich hat’s da angefangen …“¹³¹ Diese kontingente Dimension jeder Biographie wird besonders im Kontext der Spätmoderne deutlich: „Das Ich begreift sich […] vor dem Hintergrund alternativer Schicksale“.¹³² So kann sich die Frau des Traugesprächs bspw. fragen, welche Pfade ihr Leben genommen hätte, wenn sie sich damals entschieden hätte, nicht auf den Ball zu gehen. Es wäre weder unmöglich noch notwendig, dass andere Wege zur Hochzeit eben dieses Paares geführt hätten. In der Spätmoderne, in der die „sogenannte ‚Normalbiographie‘“ an Kontur verliert,¹³³ wird die Lebensgeschichte vor der Folie eines Netzwerks kontingenter Möglichkeiten verstanden: „Die Wege, die mich zu dem Punkt geführt haben könnten, an dem ich jetzt angelangt bin, hätten ganz andere sein können, und an jedem Punkt des Weges, den
Ebd. Spencer Brown 1979: Laws, 3. Böhm 1995: Biographie, 181. Hahn 1995: Identität, 145. Vgl. Karle 1995: Seelsorge, 210.
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ich wirklich zurückgelegt habe, waren andere Ziele möglich als das wirklich erreichte.“¹³⁴ Enttraditionalisierung und Pluralisierung von Lebensformen führt zu einem „pluralistische[n] Gesamtlebenslauf, der […] durch Vielfalt und Diskontinuitäten gekennzeichnet ist“.¹³⁵ Oder mit Luhmann formuliert: „Die Gesellschaft […] tritt dem Menschen […] gegenüber […] als Komplexität, zu der man sich auf je individuelle Weise kontingent und selektiv zu verhalten hat.“¹³⁶ Dies zwingt nicht nur zur Konstruktion einer sinnvollen Biographie,¹³⁷ sondern auch zu Entscheidungen – wobei letztere in der Retrospektive meist als unterscheidende Entscheidungen, d. h. als Entscheidungen, die einen Unterschied machen oder als sog. biographische Wende- und Knotenpunkte des Lebenslauf gedeutet werden. Dabei sind die auf Unterscheidungen basierende Entscheidungen wiederum kontingent, und selbst Wahlalternativen sind nichts anderes als selektive Konstruktion. Das Bild des Rhizoms entspricht am ehesten dem „pluralistischen Gesamtlebenslauf“¹³⁸ spätmoderner Lebensgeschichten. Denn diese präsentieren sich weder im Sinne eines klassischen Labyrinths als determinierte, lineare Wege, noch als einzig richtiges Lebensmodell mit festgesetztem Ziel, das es im Sinne eines neuzeitlichen Irrgartens mittels binärer Wahlmöglichkeiten zu erreichen gilt.Vielmehr schreiben sich Lebensgeschichten in einem rhizomartig verzweigten Netz an Möglichkeiten ein. Sie sind vorzustellen als dynamisches Geschehen, in dem nahezu jeder Punkt zu jedem anderen Punkt führen kann, in dem Ziele flexibel bleiben und die biographisch unter immer neuen Perspektiven konstruiert werden können. Geht man davon aus, dass Biographien konstruiert werden und nicht das „Eigentliche“ oder „Wesentliche“ eines Lebens erfassen,¹³⁹ so stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Identität als konstanter Einheit. Ist der Mensch gezwungen, sein Leben zu deuten, d. h. Biographie zu konstruieren und immer wieder unter neu gewonnenen Perspektiven umzudeuten, so kann man nicht länger von einem „Identitätskern“ ausgehen, den es im Laufe des Lebens zu entfalten gilt.¹⁴⁰ Vielmehr wird Identität immer wieder neu konstruiert.¹⁴¹ In der Hahn 1995: Identität, 144. Karle 1995: Seelsorge, 210. Luhmann 1993: Individuum, 225. Zum Druck der Spätmoderne, mit der Unterscheidung sinnvoll/sinnlos zu operieren s.o. im vorliegenden Kapitel. Karle 1995: Seelsorge, 210. Vgl. Hahn 1995: Identität, 142 f. Vgl. Karle 1995: Seelsorge, 212. Ausführlich hierzu vgl. Karle 1996: Seelsorge, 127 ff. – Gleiches gilt für das Geschlecht; vgl. dies. 1996: Seelsorge, 166 ff.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Interaktion stützt sich die Identitätsunterstellung in erster Linie auf den Namen, der die Kommunikation gegen die komplexen Möglichkeiten der „‚empirischen‘ raumzeitlichen Existenz“ immunisiert.¹⁴² Wird in der seelsorglichen Kommunikation Biographie konstruiert, so geht es also nicht um die „Rekonstruktion von Lebensgeschichte“¹⁴³ – als ob das Biographische eines Lebenslaufes immer schon vorgegeben ist und nur noch narrativ nachvollzogen werden müsste.¹⁴⁴ Vielmehr wird Biographie als eine Version von vielen möglichen konstruiert. Wird Lebensgeschichte im Rahmen christlich codierter Kommunikation wie der Seelsorge – sichtbares Zeichen hierfür kann z. B. ein anwesender Pfarrer sein¹⁴⁵ – erzählt, kann das „der Entfaltung der religiösen Dimension einer Lebensgeschichte in besonderer Weise Raum geben“.¹⁴⁶ Es gilt neue Zusammenhänge zu entdecken und die Biographie unter einer anderen – vornehmlich unter christlicher Perspektive – umzuschreiben.¹⁴⁷ Ziel ist es, Erstarrtes aufzubrechen und neuen Freiraum zu gewinnen. In der Seelsorge geht es also darum, erzählte Lebensgeschichten dekonstruierend, transformierend und konstruierend so zu rezipieren, dass aus alten Geschichten neue Biographien produziert werden. Letztere eröffnen insofern andere Lösungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen, als sie neue Bezugspunkte, an die weiteres Erleben und Handeln anschließen kann, herstellen. Dabei wird das Biographische des Lebenslaufs nicht nur genommen, wie es aktuell erscheint, sondern auch wie es coram Deo sein könnte bzw. sollte. So kann Biographie z. B. tentativ aus der Perspektive des Tauf- oder Konfirmationsspruchs konstruiert werden – eine Option, von der häufig die Traueransprache als Form der Fremdbeobachtung eines Lebenslaufs durch die Predigenden Gebrauch macht.
3.2.2.1.2 Rahmende Kopplungen: Selektionsmuster zur Reduktion von Komplexität Die seelsorgliche Interaktion differenziert sich im Möglichkeitsraum der Interpretation als Sequenz kontingenter, aneinander anschließender Operationen aus. Vgl. Hahn 1995: Identität, 141. – Zum Namen in der Interaktion s.o. 3.2.1.2. So der gleichnamige Aufsatz von Grözinger (1986); Hervorhebung L.K. Vgl. Ferel 1996: Verständnis, 372. – Im Folgenden werden die dort vorgeschlagenen Impulse für die Seelsorge aufgenommen. Zur christlichen Codierung von Kommunikation s.u. 3.2.2.2.2. Vgl. Ferel 2006: Seelsorge, 248. – In diesem Beitrag beschreibt Ferel mit Bezug auf die konkrete Seelsorgepraxis, die den Seelsorger als Mit-Konstrukteur von Biographie in den Blick nimmt, die Konstruktion von Biographie als Aufgabe und Chance der Seelsorge. Im Hinblick auf kranke und alte Menschen vgl. ders. 2003: Verwandlung. Zur Umcodierung s.u. 3.2.2.2.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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Dieses dynamische Geschehen bildet mittels performativer Sinnprozesse, die stets Selektionsprozesse sind, Wirklichkeit. Die Konstruktion von Wirklichkeit ist mithin ein performatives, kontingent-selektives Geschehen, das fortwährend unbestimmbare Komplexität des enzyklopädischen Sinns in bestimmbare – und damit in eine vom Kommunikationssystem zu bewältigende – Komplexität aktualisierter Formen reduziert. Die Bildung konkreter Wirklichkeit ist immer nur als Aktualisierung eines möglichen (Be‐)Deutungspfads möglich. Als Kommunikation unter Anwesenden erhält sich das seelsorgliche (Be‐)Deutungsspiel durch permanente Reduktion von Komplexität aufrecht. Im Folgenden ist zu zeigen, wie sich im konkreten seelsorglichen Geschehen eine bestimmte Sinnlinie performiert, d. h. eine Möglichkeit aktualisiert wird, während andere narkotisiert bleiben. Zum einen geht es um Disambiguierungen, die sich aus der jeweiligen kontextuellen Situation ergeben, zum anderen um selegierende Deutungsmuster, auf die bei der komplexitätsreduzierenden Transformation des Möglichkeitsraums der Interpretation zum Wirklichkeitsraum der seelsorglichen Interaktion zurückgegriffen werden kann. Die potentiell unendlichen Möglichkeiten des enzyklopädischen Sinns, auf die das interaktionelle Kommunikationsgeschehen bei der Bildung von Wirklichkeit performativ zugreifen kann, werden durch die jeweilige kontextuelle Situation rahmend begrenzt. Denn jeder Signifikant ist nur in seinem Kontext, d. h. im Ensemble mit anderen Signifikanten zu verstehen. Konkrete (Be‐)Deutung ist stets in ein vieldimensionales Deutungsnetz eingebunden, so dass Zeichen erst im Zusammenspiel mit ihrem Umfeld verstehbar werden. Mit Mersch formuliert: „Der Prozeß der Semiose bildet ein komplexes Geschehen, das einzig im Verweis auf ein ganzes Netz anderer Zeichen abgerundet werden kann. Keinem Zeichen käme für sich alleine Bedeutung zu; vielmehr sind innerhalb eines Systems alle Zeichen ausschließlich in Beziehung zueinander deutbar.“¹⁴⁸ So setzt bspw. /Wein/, der im Abendmahlskelch vom Pfarrer einem Gottesdienstbesucher gereicht wird, einen anderen Deutungsprozess in Gang – bzw. dem gesamten Geschehen wird eine andere Bedeutung zugeschrieben – als /Wein/ in einem Weinglas, das neben einer schmalen, weißen Kerze und zwei Gedecken auf einem Tisch platziert ist, oder /Wein/, der sich in einem Park stehenden Tetrapack befindet. Für die seelsorgliche Kommunikationssituation bedeutet diese Kontextualisierung von Zeichenprozessen, dass der kommunikative Signifikationsprozess, also das wirklichkeitsbildende Deutegeschehen von seiner jeweiligen Kommunikationsumgebung abhängt. So wird sich bspw. eine seelsorgliche Begegnung im Rahmen eines Notfallseelsorgeeinsatzes bei einem Zugunglück von der seel-
Mersch 1993: Eco, 59.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
sorglichen Begegnung des Scharfenberg-Beispiels oder auch von einer seelsorglichen Kommunikation, die sich zufällig im Supermarkt ergibt, unterscheiden. Das sinnhafte Kommunikationsgeschehen spielt mit dem sinnenhaften Leibraum zusammen. Wirklichkeitsbildende Deutungen können nicht anders generiert werden als auf der interaktionellen Wahrnehmungsbühne, die sich durch eine Vielzahl leib-räumlicher Formen in einer bestimmten zeitlichen Situation performiert. Diese Überlegungen verweisen erneut darauf, dass Seelsorge als interaktionelle Kommunikation in einem für die Kommunikation relevanten LeibRaum stattfindet und dass sich das Sinngeschehen nur im Zusammenspiel mit seinem jeweiligen sinnenhaften Kontext erschließt¹⁴⁹ – oder semiotisch eingeholt –, dass ein zeichentheoretisches Verständnis des Kommunikationsgeschehens auch den jeweiligen Kontext bzw. die jeweilige Situation in seine Theorie mit einbeziehen muss. „Man muß, um eine Theorie der Situationen zu erarbeiten, annehmen, daß eine Semantik der Verbalsprache erst entworfen werden kann, wenn man als allgemeinen Hintergrund den Einfluß vieler ineinander verschlungener semiotischer Codes akzeptiert. Auch die objektive äußere Situation muß zum Gegenstand semiotischer Behandlung und Konvention werden.“¹⁵⁰ Insofern die Semiotik Ecos beansprucht, sich „mit allem“ zu beschäftigen,¹⁵¹ versteht sie nicht nur verbale, sondern auch nicht-verbale Formen als kulturelle Einheiten. Und so ist es nur folgerichtig, dass Ecos Ansatz auch eine „Theorie der kontextuellen und situationellen Selektionen (der settings)“¹⁵² umfasst, d. h. sich mit der „Codierung von Kontexten und Situationen“ auseinandersetzt.¹⁵³ Geht man von einer Semiotisierung der „äußeren Situation“ aus, so kann diese nicht länger als „objektiv“ angesehen werden, sondern sie ist interpretierbar. Dass sich Kommunikation vor dem Hintergrund „vieler ineinander verschlungener semiotischer Codes“¹⁵⁴ vollzieht, wird gerade am interaktionellen Kommunikationsgeschehen, das aus einem Ensemble verschiedenster Modi der Semiotisierung besteht, deutlich. Und so gilt das, was Bieritz in Bezug auf das gottesdienstliche Kommunikationsgeschehen formuliert, auch für die seelsorgliche Interaktion: „Im Bilde gesprochen: Gottesdienst gleicht [ebenso wie Seelsorge; L.K.] einem vielstimmigen, von unterschiedlichen Instrumenten bestrittenen Konzert, das sich nur mittels einer ‚Partitur‘ darstellen lässt, die die einzelnen
S.o. 3.2.1.3.2. Eco 19912: Semiotik, 161 f. Vgl. Eco 1977: Zeichen, 15; zur Semiotik als Universaltheorie s. o. 1.2.1 und Einleitung zu Kapitel 3. Eco 19912: Semiotik, 159; Kursivierung im Original. Vgl. a.a.O., 159 ff. A.a.O., 161.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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Stimmen in eine Beziehung zueinander setzt. Ein solcher Zugang wehrt der theologisch geläufigen Verengung auf den verbalen Austausch“.¹⁵⁵ Damit kann ein poimenischer Verbozentrismus nicht länger aufrecht erhalten werden. Seelsorge ist nicht als eindimensional-verbales Sprachspiel, sondern als vieldimensionalkommunikatives (Deutungs‐)Spiel zu verstehen, das unterschiedliche Formen und leib-räumliche Ausdrucksweisen präsentiert, rezipiert, produziert und interpretiert. Und dies verweist weiterhin darauf, dass sich die Interaktion nicht anders als ein kommunikativer Wahrnehmungsraum ausdifferenziert. Denn um für die „Partitur“ des interaktionellen Deutungsgeschehens kommunikativ relevant werden zu können, müssen die leib-räumlichen Formen zuerst wahrgenommen werden: „Alles, was kommuniziert wird, muss durch den Filter des Bewusstseins in der Umwelt des Systems laufen. Kommunikation ist in diesem Sinne total abhängig von Bewusstsein“¹⁵⁶ und – so ist zu ergänzen – von dessen Wahrnehmungsvermögen. Das seelsorgliche Sinngeschehen wird somit zum Kopplungsgeschehen von psychischen und sozialen Formen, die als lokale Aktualisierung im Medium des enzyklopädischen Sinns eingeprägt werden. In dem performativen Sinngeschehen, das die interaktionelle Dynamik fortwährend bestimmt, wird durch die permanente (strukturelle) Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation fortwährend Sinn generiert. Die hervorgebrachten (Be‐)Deutungen prägen als aktualisierte Sinnlinien einen möglichen Deutepfad in den rhizomartigen Möglichkeitsraum der Interpretation, indem sie kulturelle Einheiten zu einem linear-kontingenten Weg vernetzen, der beim Abschreiten bereits wieder in die Unbestimmbarkeit entschwindet. Das sich durch dieses enge Zusammenspiel der beiden Sinnsysteme performierende (interaktionelle) Sinngeschehen kann mit Luhmann als Aktualisierung in der Sachdimension, Zeitdimension und Sozialdimension beschrieben werden.¹⁵⁷ Die oben angeführte Szene (3.2.2.1) ist dann wie folgt zu dekomponieren: Die seelsorgliche Interaktion performiert sich in einer konkreten Situation (Sachdimension und Zeitdimension): Sucht die Frau in dem Beispiel Scharfenbergs einem Rat folgend den Seelsorger in dessen Büro auf (Sachdimension), so ist es gleichermaßen denkbar, dass dieser die Frau zu einem Kasualgespräch in deren Wohnung besucht (Sachdimension) oder die Frau den Seelsorger in der Nacht (Zeitdimension) anruft, als sie vom Verkehrunfalls ihres Mannes erfährt (Sachdimension). Weiterhin können im Fortgang der Begegnung verschiedene, mögliche Wege beschritten werden: Ausgehend von der Wahrnehmung des Kreuzes, das in der von Schar-
Bieritz 2004: Liturgik, 37. Luhmann 20063: Einführung, 272. Zu den Sinndimensionen vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 111 ff. – Eine Zusammenfassung bietet Baraldi/Corsi/Esposito 1997: GLU, 173 ff.
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fenberg beschriebenen Szene an der Wand hängt, (Sachdimension) kann über die Konfirmation der Frau (Sachdimension und Zeitdimension), die vor kurzem erfolgte Beerdigung ihres Vaters (Sachdimension und Zeitdimension), den Kreuzestod Christi (Sachdimension und Zeitdimension) oder ein anderes Thema (Sachdimension) gesprochen werden – ebenso wie es möglich ist, dass die Wahrnehmung des Kreuzes kommunikativ überhaupt nicht eingeholt wird. Überdies kann jedes gewählte Thema (Sachdimension) aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden, können die Frau und der Seelsorger gleicher oder verschiedener Auffassung sein (Sozialdimension).
Diese analytische Dekomposition von Sinn in drei Sinndimensionen ist wiederum als Dekomposition in Differenzen vorzustellen: „Jede dieser Dimensionen gewinnt ihre Aktualität aus der Differenz zweier Horizonte, ist also ihrerseits eine Differenz, die gegen andere Differenzen differenziert wird.“¹⁵⁸ Mit der Differenzierung in Doppelhorizonte sind auf Ebene der Sinndimensionen noch alle Negationsmöglichkeiten, d. h. andere, nicht aktualisierte Möglichkeiten eingeschlossen. Damit hält auch das Konzept der Sinndimensionen die Universalität des Geltungsanspruchs aufrecht, indem es nicht vorschnell auf Bevorzugtes, d. h. auf Sinnvolles verengt. Sinn bleibt auch auf Ebene der Sinndimensionen als Form weiterer Verweisung zugänglich. Für das konkrete Sinngeschehen gilt: „Die primäre Dekomposition von Sinn […] liegt […] in diesen drei Dimensionen, und alles weitere wird zur Frage ihrer Rekombination.“¹⁵⁹ Im Hinblick auf das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen bedeutet das: Die Komposition von Sinn geschieht in der (Re‐)Kombination der drei Sinndimensionen als konkrete, interaktionelle Partitur. – Im Übrigen erinnert die systemtheoretische Dekomposition des Sinngeschehens in drei Dimensionen an T. Lohses kairologische Bestimmung des Seelsorgegeschehens als Koinzidenz von „günstiger Zeit“, „günstigem Ort“ und „günstiger Person“ zur „günstigen Gelegenheit“.¹⁶⁰ Wie sich im Folgenden zeigen wird, sind diese drei Kategorien allerdings nicht vollständig auf die systemtheoretischen Sinndimensionen abbildbar. Dass das Sinngeschehen nicht nur verbalsprachliche, sondern auch nichtverbalsprachliche Formen sowie direkte und indirekte Kommunikation um-
Luhmann 1984: Soziale Systeme, 112. A.a.O., 114. Vgl. Lohse 20062: Kurzgespräch, 21 ff. – Auf eine ähnliche analytische Dekomposition des Seelsorgegeschehens zielen die im vierten Kapitel (4.1– 4.4) vorgestellten fundamentalpoimenischen Kategorien, die in der konkreten Kommunikationssituation aktualisiert werden. – Auch Hermelink und Müske (1995: Predigt) skizzieren – in Bezug auf „mentale Modelle“ (s.u. im vorliegenden Kapitel) – ein „idealtypisches Ordnungsschema“ (a.a.O., 226) bzw. ein „allgemeines Rahmenkonzept“ (a.a.O., 230), das je nach Situation spezifiziert wird.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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fasst,¹⁶¹ wird an der Sachdimension deutlich. Sie strukturiert sich nach der Differenz „dies“ und „anderes“, „wobei die Bestimmung von etwas (‚das‘) die (implizite) Negation dessen erfordert, was anderes ist: ein Pferd ist keine Kuh“,¹⁶² ein Kreuz kein Kreis, ein Pfarrer kein Bankier und das Büro des Seelsorgers kein Supermarkt. Im Hinblick auf psychische Systeme betrifft die Unterscheidung Gegenstände, auf die das Bewusstsein aufmerksam wird, im Hinblick auf soziale Systeme die Themen, über die kommuniziert wird – in diesem Sinne schließt die sachliche Dimension von Sinn auch Personen oder Themen ein. Für jeden Gegenstand und jedes Thema gilt, dass der weitere Fortgang entweder nach innen oder nach außen erfolgen kann: Man kann bei einem Gegenstand oder Thema bleiben, sich gleichsam hineindenken und „hineinanalysieren“ oder man kann von einem Gegenstand oder Thema weggehen hin zu einem anderen Thema, man kann einen Gegenstand im Kontext anderer Gegenstände betrachten, ihn z. B. räumlich lokalisieren. Man kann einen Gegenstand oder ein Thema mit Beziehungen nach außen hin ausstatten und Verweisungen nachgehen.¹⁶³ Da letztlich „alles“ in der Form des Doppelhorizontes von „innen“ und „außen“ behandelt werden kann, ist die Sachdimension „universal“.¹⁶⁴ Von der Differenz „innen“ und „außen“ wird überdies die Form von Horizonten erhellt: Diese steht einerseits für „die Endlosigkeit des Und-so-weiter möglicher Aktualisierung“, andererseits für „die Unergiebigkeit des aktuellen Vollzugs dieser Unendlichkeit“¹⁶⁵ – semiotisch: für die potentiell unendliche Semiose eines Signifikationsgeschehen. Deshalb muss der Deutungsvorgang irgendwann zum vorläufigen Stillstand kommen, muss man auf die andere Seite der Form wechseln, d. h. in die Richtung des Gegenhorizont umkehren. Letzterer ist stets mitrepräsentiert, so dass die aktuell negierten Möglichkeiten als Verweisungsüberschuss unmittelbar zugänglich bleiben.
Dass an der sachlichen Konstitution von Sinn immer zwei Horizonte mitwirken, ist besonders im Blick auf die Sprache zu betonen. Denn diese suggeriert mit ihrer Tendenz zur Ontologisierung, dass es „um ‚Dinge‘ gehe“.¹⁶⁶ Doch vielmehr bietet das „Dingschema […] nur eine vereinfachte Version der Sachdimension. Dinge sind Beschränkungen von Kombinationsmöglichkeiten in der Sachdimension.“¹⁶⁷ Und damit wird die auf Entdinglichung zielende systemtherapeutische Methodik
Zu diesen Unterscheidungen s.o. 3.2.1.3.2. Baraldi/Corsi/Esposito 1997: GLU, 173. Vgl. Luhmann 20063: Einführung, 240 f. Vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 114. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 115. Ebd.
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systemtheoretisch fundiert darstellbar:¹⁶⁸ Der in der aktualisierten Möglichkeit mitgeführte Verweisungshorizont wird expliziert, so dass an Stelle der Ontologisierung Semiotisierung tritt.¹⁶⁹ Bei der sachlichen Dimension von Sinn handelt es sich insofern um Reduktion von Komplexität, als jedes von der Kommunikation gewählte Thema und jeder vom Bewusstsein mit Aufmerksamkeit bedachte Gegenstand weitere Anschlüsse des jeweiligen Systems möglich macht. Die Komplexität wird dabei ihrerseits in Form anderer Themen oder anderer Gegenstände mitgeführt. Die Zeitdimension ist durch die Differenz „vorher“ und „nachher“ konstituiert, die auf den Doppelhorizont von Vergangenheit und Zukunft hin verlängert wird. Zwischen den beiden unerreichbaren Horizonten Vergangenheit und Zukunft ist die Zeit selbst aufgespannt. Dabei bleiben auch hier die Horizonte unerreichbar – allein schon deshalb, da sie sich mit dem Voranschreiten der Zeit permanent verschieben. „Zeit ist demnach für Sinnsysteme die Interpretation der Realität im Hinblick auf eine Differenz von Vergangenheit und Zukunft“.¹⁷⁰ Die Zeitspanne zwischen Vergangenheit und Zukunft wird als Gegenwart erfahren, wobei der Eindruck des „Fließens der Zeit“ durch die Gleichzeitigkeit einer punktuellen und einer dauerhaften Gegenwart erzeugt wird.¹⁷¹ Die eine Gegenwart ereignet sich zeitlich punktuell als Ereignis und markiert, dass sich etwas irreversibel verändert. Zukunft wird hier ständig zur Vergangenheit. Das ist die Zeit, die vergeht und z. B. mit der Uhr gemessen werden kann –, obgleich sie nicht von einer Zeitmessung abhängt. Die andere Gegenwart dauert und garantiert die Möglichkeit der Reversibilität trotz der Irreversibilität der Ereignisse: „Ein Ding ist noch da, wo man es verlassen hatte; ein Unrecht kann wieder gut gemacht werden.“¹⁷² Das ist die Zeit, in der Perioden festgestellt, Prozesse verlangsamt oder beschleunigt werden. Nur diese Unterscheidung von Punktualität und Dauer, die Differenz von Dauer und Wandel als die sich die beiden Gegenwarten gleichzeitig herausbilden, „ermöglicht das Präsentwerden einer am irreversiblen Ereignis noch sichtbaren Vergangenheit und schon sichtbaren Zukunft in einer noch dauernden Gegenwart“.¹⁷³
Zur systemischen Therapie und Beratung s.o. 1.1.3.1. Vgl. Meyer-Blanck 1998: Identität, 842. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 116. Vgl. a.a.O., 117 f. A.a.O., 117. Ebd.
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Die Seelsorge trägt in die Unterscheidung des „nicht mehr“ und „noch nicht“ den „eschatologischen Code“¹⁷⁴ des „noch nicht“ und „doch schon“ ein und markiert, dass sich die Zukunft als Verheißung bereits in der Gegenwart zeigt. Diese christliche Unterscheidung bezeichnet eine Zukunft, die im Auferstehungsereignis proleptisch in der Vergangenheit sichtbar wurde, wobei die Verschränkung der Zeitebenen auf die Einheit der Differenz von Vergangenheit und Zukunft, die als Ewigkeit erscheint, verweist. Ewigkeit bezeichnet mithin eine punktuelle Dauer bzw. eine dauerhafte Punktualität. Hier kommt das, was metaphorisch als „Fließen der Zeit“ bezeichnet wird, zum Stillstand. In diesem Sinne holt das Seelsorgegeschehen eine Hoffnung, die auf Vergangenes gründet und auf Zukünftiges zielt, in die Gegenwart hinein und kann auf diese Weise selbst zum „ewigen Moment“ werden. Am seelsorglichen Ort schlägt futurische Eschatologie in präsentische um. Erfahrbar wird dies an Vergegenwärtigungsprozessen, die im seelsorglichen Sinngeschehen sinnenhafte Formen erzeugen, die konkret als Trost pro me, als personalisiertes Evangelium verstanden werden.¹⁷⁵ Die Zeitdimension verweist auf den performativen Aspekt von Sinn. Sinn „erzeugen“ bedeutet, ihn „in der Gegenwart präsent machen“.¹⁷⁶ Aktualisierung von Sinn ist also nur als Vergegenwärtigungsprozess zugänglich. Denn Sinn entsteht zeitpunktbezogen und zerfällt sofort wieder in die Unbestimmbarkeit einer sinnhaft-amorphen Enzyklopädie. Damit ist die Gegenwart „vorrangig“,¹⁷⁷ da nur von der Gegenwart aus Vergangenheit und Zukunft zugänglich sind und sich nur in der Gegenwart Sinn performieren kann. Sinn erscheint mithin in der Zeit. Sinn benutzt Zeit, d. h. er benutzt zeitliche Unterscheidungen, „um Komplexität zu reduzieren, nämlich Vergangenes als nicht mehr aktuell und Künftiges als noch nicht aktuell zu behandeln.“¹⁷⁸ In der zeitlichen Dimension von Sinn kann Geschichte konstituiert werden – wobei mit Luhmann Geschichte nicht als „faktische Sequenz der Ereignisse“¹⁷⁹ zu verstehen ist. Entgegen der Annahme einer sequenziellen Kausalität greift Sinngeschichte wahlfrei auf vergangene Ereignisse zurück bzw. auf zukünftige Ereignisse vor. Ein Sinnsystem hat in dem Sinne Geschichte, als es sich durch Vergangenes – etwa die Zerstörung des Tempels, oder im kleinen: die Hochzeit – und Zukünftiges limitiert. „Geschichte ist demnach immer: gegenwärtige Ver-
Der Terminus stammt von Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 214; zu seiner inhaltlichen Bestimmung s.u. 3.2.2.2.1. S.o. 2.2.1. Luhmann 1997: Gesellschaft, 53. Vgl. ebd. Ebd. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 118. – S.o. 3.2.2.1.1 zur Deutung von Lebensgeschichte.
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gangenheit bzw. gegenwärtige Zukunft“,¹⁸⁰ und immer Reduktion der möglichen Zugriffe auf alles Vergangene und alles Zukünftige. – Seelsorgliche Kommunikation bietet die Möglichkeit, (Lebens‐)Geschichte umzuschreiben.¹⁸¹ Auch aus systemtheoretischer Perspektive, geht es ganz ähnlich darum, andere Zugriffe zu erproben und auf diese Weise eine andere Geschichte zu konstituieren. Während der Zeitdimension die Kategorie der „günstigen Zeit“ und der Sachdimension der „günstige Ort“ sowie die „günstige Person“ (T. Lohse) vergleichbar sind, erinnert die Sozialdimension am ehesten an den allgemeinen Ansatz des systemischen Denkens.¹⁸² Die soziale Dimension von Sinn „betrifft das, was man jeweils als seinesgleichen, als ‚alter Ego‘ annimmt“¹⁸³. Da sie auf alles angewendet werden kann, hat sie ebenso wie die Sachdimension „weltuniversale Relevanz“.¹⁸⁴ Konstituiert wird die Sozialdimension durch die Möglichkeitshorizonte von Ego und Alter. Alter wird nicht nur als Körper in der Sachdimension aufgefasst, sondern als Beobachter dessen, was Ego tut – und zwar als ein Beobachter, der kontingent und unvorhersehbar operiert. Beobachten sich Alter und Ego wechselseitig, so baut sich doppelte Kontingenz¹⁸⁵ als sozialer Verweisungshorizont auf. Die Sozialdimension kann als „Pluralität der Beobachtungsperspektiven“¹⁸⁶ verstanden werden und ermöglicht „einen ständig mitlaufenden Vergleich dessen, was andere erleben können bzw. erleben würden und wie andere ihr Handeln ansetzen könnten.“¹⁸⁷ Auf diese Weise bleiben unterschiedliche Perspektiven nicht in der Sachdimension verhaftet, sondern werden in Bezug auf andere mögliche Perspektiven bestimmt. Sinn kondensiert in den „Unterschiedlichkeit der Perspektiven von Ego und Alter“.¹⁸⁸ Es geht um den Gegensatz von Konsens und Dissens. „Man kann allen Sinn daraufhin abfragen, ob ein anderer ihn genau so erlebt wie ich oder anders. Sozial ist also Sinn nicht qua Bindung an bestimmte Objekte (Menschen), sondern als Träger einer eigentümlichen Reduplizierung von Auffassungsmöglichkeiten.“¹⁸⁹ – Kultursemiotisch betrachtet ist (sozialer) Sinn an die kulturelle Enzyklopädie gebunden. Unterschiedliche Signifikationsprozesse ergeben sich dann weniger aus den „Bewußtseinsleistungen eines monadischen
Ebd. S.o. 3.2.2.1.1. Zum systemischen Denken s.o. 1.1.2. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 119. Vgl. ebd. Zur doppelten Kontingenz s.o. 3.2.1.3.2. Baraldi/Corsi/Esposito 1997: GLU, 175. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 121. Baraldi/Corsi/Esposito 1997: GLU, 174. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 119.
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Subjekts“¹⁹⁰ als aus dem sinnhaften Möglichkeitsraum des enzyklopädischen Horizonts. Von hier aus ergibt sich die für das systemische Denken grundlegende Aussage: „Es könnte auch alles ganz anders sein.“¹⁹¹ Ähnlich wie die Sachdimension auf das „Dingschema“¹⁹² verengt werden kann, kann die Sozialdimension auf Moral reduziert werden. Das heißt, das „Undso-weiter“ der Verweisungsmöglichkeiten wird durch „Bedingungen, unter denen Personen einander und sich selbst achten bzw. mißachten können“¹⁹³ eingeschränkt – dies ist vergleichbar mit dem, was Karle als „Takt“ beschreibt.¹⁹⁴ In Bezug auf das Alltagsleben gilt für beide Reduktionen, dass sie als Orientierung unentbehrlich sind. Wird in der seelsorglichen Kommunikation jedoch deutlich, dass solche komplexitätsreduzierende Deutungsoptionen ideologisiert werden, so gilt es, im Rekurs auf weitere Möglichkeiten Dissens zu erzeugen, um derart Erstarrtes durch Umdeutung aufzubrechen und Beobachtungsperspektiven zu pluralisieren. Die sachliche, zeitliche und soziale Konstitution von Sinn können zwar als drei Sinndimensionen getrennt analysiert werden, faktisch stehen sie jedoch unter „Kombinationszwang“¹⁹⁵ und treten – v. a. unter der Bedingung von Anwesenheit – nicht getrennt auf. Auseinandergezogen werden sie durch Schrift, durch die das kommunikative Sinngeschehen als reine Kommunikation aufbewahrbar und unabhängig von der Interaktion wird. Wird ein solcher durch Schrift „konservierter“, d. h. festgeschriebener Sinn in einer konkreten Situation vergegenwärtigt, so kann je nach situationellem Kontext eine andere Sinnlinie aktualisiert werden, kann je nach Situation der konkrete (Be‐)Deutungsprozess modifiziert werden. In der Kommunikation unter Anwesenden spielen die Dimensionen jedoch ähnlich einer Partitur als komplexes Sinngeschehen zusammen – vergleichbar dem Kairos einer seelsorglichen Begegnung, der „günstigen Gelegenheit“, die sich aus der Kombination von „günstiger Zeit“, „günstigem Ort“ und „günstiger Person“ (T. Lohse) ergibt. Dabei verhindert bspw. die Zeitdimension die dinghafte Verfestigung der Sozialdimension. Und die Sozialdimension zeigt an, dass andere im nächsten Moment anderes beobachten können, d. h. innerhalb der Sachdimension zeitlich beweglich sind.
A.a.O., 120. VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 273. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 115. A.a.O., 121. Vgl. Karle 1999b: Seelsorge, 48; ähnlich dies. 2000: Kompetenz, 514. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 127.
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Speziell in der Interaktion wird Komplexität durch Schematismen reduziert.¹⁹⁶ In der Kommunikation unter Anwesenden wird Komplexität in die Erfahrung von Kontingenz umgesetzt, d. h. sowohl das eigene als auch fremdes Handeln wird als kontingent erfahren. Zur Behandlung dieser Kontingenz greift die Interaktion auf Schematismen zurück, die durch Zurechnungsprozesse vermittelt werden und die drei Sinndimension betreffen. In der Sachdimension wird intern als Handeln und extern als Erleben zugerechnet. In der Zeitdimension bezieht sich die Zurechnung auf konstante oder variable Faktoren. In der Sozialdimension werden Ego und Alter für Zurechnungsprozesse personalisiert. Diese binäre Schematisierung reduziert Komplexität bzw. Kontingenzerfahrung und ermöglicht durch ihre Verkürzungen weitere Anschlüsse. Angesicht des „ständigen Fluktuieren[s] der Verknüpfungen im Kommunikationsprozeß wie im Gehirn“ garantiert sie „momentane Eindeutigkeit“, die wieder aufgelöst werden kann.¹⁹⁷ Da sie von der Kommunikation vorausgesetzt und nicht mehr thematisiert, sondern „schlicht praktiziert“¹⁹⁸ wird, beschleunigt die Schematisierung den Kommunikationsprozess und sichert die Flüssigkeit des Prozessierens: „Wenn jemand ‚Ich‘ sagt, wird nicht mehr eigens darüber verhandelt, ob er nicht eigentlich sich als (abhängiges) Du eines anderen Ich vorführt.“¹⁹⁹
Das Zusammenspiel der drei Sinndimensionen entfaltet sich nicht als gegenseitige Bestimmung, sondern als wechselseitige Begrenzung²⁰⁰ bzw. Rahmung. Das heißt, die Aktualisierung in einer Sinndimension bestimmt nicht, was in den anderen aktualisiert werden kann, als ob sie einen direkten Einfluss auf die anderen Dimensionen hätte. Vielmehr rahmt die Aktualisierung in einer Sinndimension im Sinne eines Interdependenz-Verhältnisses die (sinnvollen) Bestimmungsmöglichkeiten von Sinn in den anderen Dimensionen. Mit anderen Worten: Die Reduktion von Komplexität in einer Sinndimension begrenzt die Aktualisierungsmöglichkeiten von Sinn in den anderen Dimensionen, indem einige der möglichen Aktualisierungen wahrscheinlicher und sinnvoller werden als andere. Auf diese Weise wird sich das Sinngeschehen in seinen Dimensionen selbst zum rahmenden Kontext. Die Komplexität des unendlichen Möglichkeitsraums der sinnhaften Enzyklopädie wird im konkreten Sinngeschehen reduziert. So ist es bspw. wahrscheinlicher – im Sinne von: erwartbar –, dass im Büro der Bahnhofsmission, dessen geschlossene Tür einen abgegrenzten Interaktionsraum markiert, andere Themen angesprochen und besprochen werden als an der Theke derselben Station, die sich im mit Menschen überfüllten Eingangsbereich befindet.
Vgl. a.a.O., 122 ff; ders. 20054: Schematismen. Vgl. a.a.O., 126. A.a.O., 127. Ebd. Vgl. Baraldi/Corsi/Esposito 1997: GLU, 176.
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Die wechselseitige Rahmung innerhalb des dreidimensionalen Sinngeschehens kann einerseits als Begrenzung beschrieben werden,²⁰¹ andererseits aber auch als Erweiterung dessen, was in einer konkreten Situation in den anderen Dimensionen möglich ist – d. h., als Wiedergewinn von Komplexität und damit von Möglichkeiten der Sinnerzeugung und folglich der Konstruktion von Wirklichkeit. Nimmt die Aktualisierung einer Sinnlinie einen überraschenden Verlauf, so irritiert das den Verlauf der Aktualisierungen in den anderen. Das Sinngeschehen ist mithin kein statisches, sondern ein dynamisches, variables und irritierbares Geschehen. Betritt z. B. in der von Scharfenberg beschriebenen Szene eine weitere Person das Büro des Seelsorgers, die von der Kommunikation inkludiert wird, (Sachdimension) so ergeben sich Veränderungen in der Sozialdimension: Herrschte über ein bestimmtes Thema bis dahin Konsens, so können sich nun differente Meinungen ergeben.²⁰² Oder setzt sich bspw. der Seelsorger bei einem Besuch im Krankenhaus auf einen Stuhl, der an das Bett des Gesprächspartners gezogen wurde, kann diese Aktualisierung des Sachsinns die Sinnkonstitution in den anderen Dimensionen so irritieren, dass ein anderer Verlauf des Kommunikationsgeschehens möglich wird, der ohne diese räumliche Modifikation so nicht aktualisiert worden wäre: Auf „Augenhöhe“ sind andere Themen ansprechbar (Sachdimension) als in einer Situation, deren räumliche Anordnung als asymmetrische Beziehung verstanden werden kann. Außerdem dauern Begegnungen mit sitzenden Personen in der Regel länger (Zeitdimension) als mit einer Person, deren Körperhaltung so gedeutet werden kann, als ob sie sich „auf dem Sprung“ befindet. An diesen Beispielen wird erneut deutlich, dass das seelsorgliche Sinngeschehen diverse raum-zeitliche Formen umfasst.²⁰³ Seelsorge entfaltet sich als ein sinnhaftes Zusammenspiel sowohl von Themen, Gegenstände, Personen als auch von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft sowie unterschiedlichen Sichtweisen. Dabei kann jede Sinndimension sowohl als soziale als auch als psychische Form konstituiert werden. Das heißt, das Sinngeschehen umfasst nicht nur die Kombination der Sinndimensionen, sondern auch die Kombination sozialer und psychischer Sinnlinien. Wird die Unterscheidung dieser zwei Sinnsysteme – psychisches und
So ebd. Ganz ähnlich kann die Aussage von Morgenthaler (20023: Systemische Seelsorge, 147), dass sich eine Familie bereits durch die Anwesenheit eines Seelsorgers verändert, analysiert werden: Als Vertreter einer Profession repräsentiert der Seelsorger das gesellschaftliche Funktionssystem der Religion, so dass seine sichtbare Anwesenheit eine christliche Codierung ins Spiel bringt; vgl. 3.2.2.2.2 und 4.4. Zur Relevanz wahrnehmbarer, leib-räumlicher Formen für die Interaktion s. o. 3.2.1.3.2.
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soziales System²⁰⁴ – quasi „quer“ in die Differenzierung der drei Sinndimensionen eingetragen, so schließt das sowohl Kommunikation als auch Wahrnehmung in das Sinngeschehen ein. Bei der Erzeugung von Sinn spielen mithin psychische als auch soziale Formen, d. h. Kommunikationsprozesse und Wahrnehmungsprozesse, zu einem komplexen und dynamischen Geschehen zusammen. Dies gilt umso mehr für die Interaktion, in der Kommunikationsprozesse kaum von den simultan laufenden Wahrnehmungsprozessen zu trennen sind.²⁰⁵ Die Interaktion performiert sich als ein sinnhaftes Kopplungsgeschehen von Kommunikation und Wahrnehmung, die sich hinsichtlich ihrer Aktualisierungsmöglichkeiten wechselseitig rahmen und begrenzen. Und so gilt auch bezüglich des interaktionellen Zusammenspiels von psychischen und sozialen Systemen, dass die Reduktion von Komplexität in einem Sinnsystem durch die Aktualisierung einer möglichen Sinnlinie einige der potentiellen Aktualisierungen des anderen Sinnsystems wahrscheinlicher und sinnvoller werden lässt als andere. Im interaktionellen Sinngeschehen generiert Kommunikation – sowohl als verbalsprachliche und nicht-verbalsprachliche als auch als direkte und indirekte Form – Sinn im Kontext der jeweiligen Situation. Sinn entsteht im Zusammenspiel mit der jeweiligen Kommunikationsumgebung, die als Ensemble leib-räumlicher Formen, also wirklicher und möglicher Körperinszenierungen, wirklicher und möglicher Orte sowie wirklicher und möglicher Gegenstände²⁰⁶ erscheint. Oder anders ausgedrückt: In der Interaktion wird Wirklichkeit im sinnhaften Wechselspiel eines vieldimensionalen Bedeutungsnetzes diverser sinnenhafter Formen konstruiert. In diesem sinnhaften Wechselspiel spielen die beiden Sinnsysteme im Verhältnis der strukturellen Kopplung zusammen. Strukturelle Kopplung bezeichnet das Verhältnis eines autopoietischen Systems zu seinen Umweltvoraussetzungen, die ihm das Fortsetzen seines Operierens ermöglichen.²⁰⁷ Insofern bietet der Begriff der strukturellen Kopplung die Möglichkeit, ein System trotz operativer Schließung und autopoietischer Reproduktion mit der Umwelt verbunden zu denken. Im Blick ist die notwendige Umweltangepasstheit eines Systems. Findet
Zu psychischem und sozialem System als Sinnsystem s.o. 3.2.2.1.1. Zu dem engen Zusammenhang von Wahrnehmung und Kommunikation in der Interaktion s.o. 3.2.1.1. S.o. 3.2.1.3.2. Den Terminus „strukturelle Kopplung“ übernimmt Luhmann von Maturana; vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 100. – Zur strukturellen Kopplung von psychischen und sozialem System vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 100 ff; ders. 20052: Bewußtsein; ders. 20052: Geschlossenheit, 32 ff. Eine Zusammenfassung bietet Baraldi/Corsi/Esposito 1997: GLU, 186 ff. – Auf die genannten Publikationen wird im Folgenden Bezug genommen.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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strukturelle Kopplung als gegenseitige Abhängigkeit von Systemen statt, so dass keines der Systeme ohne die Kopplung an das andere existieren könnte, spricht Luhmann auch von Interpenetration.²⁰⁸ Dies ist z. B. bei dem Verhältnis von Nervenzellen und Gehirnen sowie bei der Kopplung von psychischen und sozialen Systemen der Fall: „[A]lle Kommunikation [ist] strukturell gekoppelt an Bewußtsein. Ohne Bewußtsein ist Kommunikation unmöglich.“²⁰⁹ Das Verhältnis der beiden autopoietischen Systeme ist dabei asymmetrisch: „Ein Bewußtseinssystem kann […] auch in Momenten ohne Kommunikation tätig sein. […] Kommunikation kommt dagegen kaum ohne Koinzidenz von Bewußtsein zustande.“²¹⁰ Strukturelle Kopplungen bestimmen nicht direkt, was im System geschieht, sondern beschränken den Bereich möglicher Strukturen, mit denen ein System seine Autopoiesis durchführt. Strukturelle Kopplungen begrenzen den Spielraum des Systems, in dem es sich selbst reproduziert, indem sie die im System möglichen Aktualisierungen zu einer Sinnlinie rahmen. Da psychische und soziale Systeme im sinnhaften Möglichkeitsraum des Verweisungsüberschusses operieren, benötigen sie zur Transformation unbestimmter Komplexität in bestimmte, systeminterne Komplexität – d. h. zur Reduktion von Komplexität – Anhaltspunkte, die sie neben dem eigenen Gedächtnis aus der strukturellen Kopplung entnehmen können. Dabei fungiert die strukturelle Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation als Zwei-Seiten-Form, die etwas dadurch einschließt, indem sie anderes ausschließt: Sie bündelt das, was auf das gekoppelte System einwirken, d. h. es irritieren kann, und schließt alle anderen Einflüsse aus bzw. beschränkt diese auf eine destruktive Wirkung. Die Kopplungen sind mithin hochselektiv. Sie erfassen immer nur einen „extrem beschränkten Ausschnitt der Umwelt“²¹¹ und reduzieren auf diese Weise (Umwelt‐)Komplexität, um systeminterne Komplexität als aktualisierte Sinnlinie im Horizont weiterer Verweisungen zu erzeugen. Insofern gilt: „Reduktion von Komplexität ist Bedingung der Steigerung von Komplexität.“²¹² Da strukturelle Zusammenhänge immer nur systemintern verfügbar sind, kann ein System über strukturelle Kopplung an hochkomplexe Umweltbedingungen angeschlossen werden, ohne diese Komplexität selbst bewältigen zu müssen – und zu können. So profitieren bspw. Kommunikationssysteme von der komplexitäts-
Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 108. – In „Soziale Systeme“ (1984: Soziale Systeme, 286 ff) verwendet Luhmann ausschließlich den Terminus „Interpenetration“. Eine Zusammenfassung bietet Baraldi/Corsi/Esposito 1997: GLU, 85 ff. Luhmann 1997: Gesellschaft, 103. Luhmann 20052: Bewußtsein, 40. Luhmann 1997: Gesellschaft, 107. Luhmann 20063: Einführung, 121.
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reduzierenden Selektivität eines psychischen Systems: Diese „wirkt wie ein Panzer, der im großen und ganzen verhindert, daß die Gesamtrealität der Welt [die Komplexität des enzyklopädischen Sinns; L.K.] auf die Kommunikation einwirkt. Kein System wäre komplex genug, um dies aushalten und seine eigene Autopoiesis dagegen durchhalten zu können.“²¹³ Psychische und soziale Systeme stellen sich mithin wechselseitig reduzierte Komplexität in Form von aktualisierten Sinnlinien zur Verfügung, die als Komplexität für das jeweils andere System intransparent bleibt und nicht in die eigenen Operationen übernommen wird: „Immer geht es darum, geordnete (strukturierte, aber gerade nicht: berechenbare!) Komplexität nach Maßgabe der eigenen Operationsmöglichkeiten […] zu verwenden.“²¹⁴ Das heißt, die gekoppelten Systeme rahmen sich wechselseitig in ihrer Strukturbildung bzw. hinsichtlich ihrer sinnvollen und wahrscheinlichen Aktualisierungsmöglichkeiten systeminterner Sinnlinien, bleiben auf operativer Ebene jedoch geschlossen. Und so kann dasselbe Ereignis als Kommunikation Element eines sozialen Systems und zugleich als Wahrnehmung oder Gedanke Element eines psychischen Systems sein. Vor diesem Hintergrund ist die auf strukturelle Kopplung basierende Irritation eines Systems immer nur „systemeigenes Konstrukt“, immer nur „Selbstirritation“:²¹⁵ „Irritationen ergeben sich aus einem internen Vergleich von (zunächst unspezifizierten) Ereignissen mit eigenen Möglichkeiten, vor allem mit etablierten Strukturen, mit Erwartungen.“²¹⁶ Wird ein autopoietisches System etwa durch eine überraschende Information oder die Enttäuschung von Erwartungen irritiert, so wird das System gleichsam angeregt, für diese Störung selbst nach einer Lösung zu suchen. Die Funktion struktureller Kopplung liegt gerade in der Steigerung der Irritabilität autopoietischer Systeme durch Ausschluss anderer Irritationsquellen. Die Besonderheit von Kommunikation liegt darin, dass sie sich nur durch Bewusstsein irritieren lässt: „Bewußtsein […] hat die privilegierte Position, Kommunikation stören, reizen, irritieren zu können.“²¹⁷ Da das Bewusstsein wahrnehmen kann, werden leib-räumliche Formen mittels struktureller Kopplung für die Kommunikation relevant. Wie der situationelle Kontext – im folgenden Beispiel auf die Person des Seelsorgers beschränkt – das Kommunikationsgeschehen rahmt, wird an der von Karle beschriebenen Szene deutlich: „So bemerkt die Jubilarin, wenn die Pfarrerin ihr gar nicht recht zuhört, während sie von ihren Kindern erzählt, sondern hektisch auf die Uhr schaut, aus dem Fenster blickt oder
Luhmann 1997: Gesellschaft, 114. A.a.O., 108; Hervorhebung L.K. Vgl. a.a.O., 118. – Zur Irritation von Systemen bzw. Umcodierungen s.u. 3.2.2.2. Ebd. Luhmann 20052: Bewußtsein, 45.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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sich nervös die Hände reibt. Nicht nur jedes Wort des Pfarrers, auch seine Gesten, seine Kleidung, seine ungeputzten Schuhe, sein Auftreten, sein Körpergeruch – all dies hat oft entscheidenden Informationswert und wirkt sich er- oder entmutigend für den Fortgang des Gespräches aus.“²¹⁸ Der Terminus „strukturelle Kopplung“ bezeichnet außerdem ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit. Dies leuchtet im Zusammenhang mit der Interaktion unmittelbar ein. Denn wie in der Beispielszene von Karle deutlich wird, operiert hier das soziale mit den psychischen Systemen – ungeachtet unterschiedlicher Operationsgeschwindigkeiten – simultan, so dass sich die autopoietischen Systeme permanent wechselseitig mit Irritationspotential versorgen. Die strukturelle Koinzidenz performiert sich wie die gekoppelten Systeme als Ereignis: „Alles, was geschieht, geschieht zum ersten und zum letzten Mal.“²¹⁹ Da das Bewusstsein immer schon tätig gewesen ist, wenn Kommunikation Ereignisse erzeugt, bleibt die Nachträglichkeit der strukturellen Kopplung unbemerkt und wird als Gleichzeitigkeit gelesen. „Unbemerkt“, „unaufhörlich“ und „geräuschlos“ funktioniert auch die strukturelle Kopplung insgesamt.²²⁰ Das heißt, sie funktioniert, wenn sich die Interaktion im sinnhaften Zusammenspiel von Wahrnehmungsprozessen mit Kommunikationsprozessen autopoietisch reproduziert – ohne dass dies eigens thematisiert wird. Bemerkt wird hingegen eine Störung des Funktionierens – etwa wenn die Bewusstseinssysteme der Kommunikation nicht mehr die nötige Aufmerksamkeit schenken und drohen, als notwendige Umwelt der Kommunikation wegzubrechen, so dass das Fortbestehen der Interaktion gefährdet ist. Nun liegt nach Luhmann das Spezifikum der strukturellen Kopplung von psychischen und sozialen Systemen darin, dass ihre Koinzidenz nicht zufällig passiert, sondern erwartet und dank Sprache sogar geplant werden kann. Evolutionär gesehen ist Sprache – Luhmann hat hier zunächst die Verbalsprache im Blick – eine „extrem unwahrscheinliche Art von Geräusch“, die gerade deshalb einen „hohen Aufmerksamkeitswert“ besitzt.²²¹ Wenn gesprochen wird, kann das Bewusstsein dies leicht von anderen Geräuschen unterscheiden und ist davon in besonderer Weise fasziniert. Verbalsprache schließt also eine Vielzahl an Geräuschen aus, um wenige hoch artikulierte Geräusche einzuschließen. Mit anderen Worten: Sprache reduziert Komplexität. Sie funktioniert mit „hochselekti-
Karle 1999b: Seelsorge, 48. Luhmann 20052: Geschlossenheit, 32. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 106. Vgl. a.a.O., 110.
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ven patterns“, die, gerade weil sie so reduziert sind, hochkomplexe Kombinationen ermöglichen.²²² Ähnliches gilt für Schrift, Buchdruck und die Massenmedien. Auch diese Kommunikationsmedien differenzieren besondere Wahrnehmungsgegenstände aus, die auffallen oder faszinieren, weil sie keine Ähnlichkeit mit dem sonst Wahrnehmbaren besitzen. Sie „faszinieren und präokkupieren das Bewußtsein“²²³ – dabei lenkt ein laufender Fernseher die Aufmerksamkeit des Bewusstseins in der Regel noch stärker auf sich als die verbalen Formen eines seelsorglichen Gesprächs. Auf diese Weise binden die Kommunikationsmedien das Bewusstsein, das aufgrund seiner Operationsgeschwindigkeit permanente Ablenkungen bereithält, an die Kommunikation. Sie sichern die „ständige Bewußtseinsangepaßtheit der Kommunikation“²²⁴ und rahmen den Spielraum der Autopoiesis der Kommunikation. Auf der anderen Seite kann Bewusstsein Sprache und die anderen Kommunikationsmedien dazu benutzen, seinen eigenen Operationen Gestalt zu verleihen, sich auf diese Weise an Kommunikation zu koppeln und diese zu irritieren – dass Sprache hierbei die Operationen des autopoietischen Bewusstseins nicht abbildet, ist evident.²²⁵ Es bleibt festzuhalten, dass Sprache – in Gestalt unterschiedlicher Kommunikationsmedien – nicht nur als Kopplungsmechanismus von Kommunikation und Bewusstsein fungiert, sondern zugleich als Selektionsmuster. Sprache bietet (Welt‐)Komplexität reduzierende Äußerungsformen, die Wirklichkeit konstruieren.²²⁶ Das heißt, Kommunikationsmedien haben eine disambiguierende Funktion.
Vgl. Luhmann 20063: Einführung, 123. – Ähnliches gilt für die Schrift und die Benutzung von Buchstaben. Luhmann 20052: Bewußtsein, 42. Ebd. Die Inkommunikabilität der psychischen Operationen beschreibt Luhmann 20052: Kommunikation, 119: „[S]chon bei einer geringen Aufmerksamkeit auf das, was wir selber sagen, wird uns bewußt, wie unscharf wir auswählen müssen, um sagen zu können, was man sagen kann; wie sehr das herausgelassene Wort schon nicht mehr das ist, was gedacht und gemeint war, und wie sehr das eigene Bewußtsein wie ein Irrlicht auf den Worten herumtanzt: sie benutzt und verspottet, sie zugleich meint und nicht meint, sie auftauchen und abtauchen läßt, sie im Moment nicht parat hat, sie eigentlich sagen will, und es dann ohne stichhaltigen Grund doch nicht tut.“ Mit der Konstruktion von Wirklichkeit durch Sprache setzt sich auch die systemische Therapie auseinander; s.o. 1.1.3.1. – Sowohl Verbalsprache als auch andere Kommunikationsmedien vermögen es nicht, Welt zu repräsentieren. Vielmehr erschließt sich die Bedeutung der hochselektiven Signifikanten (Zeichen) der Sprache durch ihre Differenz und damit im Kontext mit anderen Zeichen. Dass (Verbal‐)Sprache nicht auf Referenten, sondern auf „kulturelle Einheiten“ verweist, die ihre semantische Bedeutung in Opposition zu weiteren „semantischen Einheiten“ erhält, zeigt sich z. B. an dem Vergleich der unterschiedlichen Bedeutungsumkreise von /Baum/, /Holz/ und /Wald/ mit den französischen, dänischen und italienischen Wörtern und deren z.T.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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Außerdem ist zu beobachten, dass die Veränderungen der Formen, in denen „Sprache“ für das Bewusstsein wahrnehmbar wird – also die Entwicklung der Kommunikationsmedien²²⁷ – jeweils in relativ kurzen Zeiträumen „immense Komplexitätsschübe auslösen“.²²⁸ Dies wird unmittelbar am Massenmedium des Internets deutlich. Im weitesten Sinne bietet Sprache kulturelle Sinn-Formen als feste Deutungsmuster an, auf die beim Prozessieren von Sinn zurückgegriffen werden kann. Als kulturelles Konstrukt zur Reduktion von Welt-Komplexität und Konstruktion von Wirklichkeit sind die Selektionsmuster in der Enzyklopädie enthalten. Im Deuteschema sind lose gekoppelte Elemente der sinnhaften Enzyklopädie fest zu einer kulturell codierten Form gekoppelt und auf diese Weise als Deutungsform im enzyklopädischen Universalmedium des Sinns einprägt. Dabei wird das schematisiert, was sich im Unterschied zu anderem bewährt hat, so dass Bewährtes festgehalten und in anderen Situationen reproduziert werden kann – wie es bspw. Rituale ermöglichen.²²⁹ Das wechselseitige Zusammenspiel von Wahrnehmung und Kommunikation hat also die Möglichkeit, bei der Erzeugung von Sinnlinien kondensierte SinnFormen in einer konkreten Situation zu konfirmieren, d. h. zu aktualisieren.²³⁰ Eine konkrete Sinnlinie muss nicht ex novo generiert werden, sondern kann auf bewährte Konventionen zurückgreifen. Damit changiert sinnhaftes Prozessieren letztlich zwischen Generalisierung und Konkretisierung. Auf der einen Seite entsteht Sinn performativ und ist damit unwiederholbar, auf der anderen Seite ist er Kondensat einer sinnhaften Möglichkeit. Folgt man Luhmann, so ist diese Sinngeneralisierung als Festschreiben von Sinnformen für das selbstreferentielle Prozessieren von Sinn unabdingbar.²³¹ Denn Sinn muss nicht nur im Moment seiner Aktualisierung in einer bestimmten Situation, sondern bei Bedarf auch in einer anderen Situation wieder verfügbar sein. Nur so ist der operative Selbstbezug und überhaupt Identität möglich. Dabei wird Sinn nicht nur verbalsprachlich, sondern bereits auf pragmatischer Ebene „im konkreten Umgang mit Objekten und Ereignissen“²³² generalisiert. Letztlich verdichten Sinngeneralisierungen die differierenden Bedeutungsumkreisen (vgl. Eco 19948: Einführung, 86 f). Mit Eco (19948: Einführung, 93) ist zu konstatieren, „daß eine sehr enge Wechselbeziehung besteht zwischen der Weltanschauung einer Kultur und der Art, wie diese ihre semantischen Einheiten relevant macht.“ Zur Evolution der „Verbreitungsmedien“ vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 202 ff. Vgl. Luhmann 20052: Bewußtsein, 42. Zum Ritual-Verständnis der vorliegenden Untersuchung s.u. 3.2.2.2.2. Zu den von Luhmann verwendeten Begriffen „Kondensieren“ und „Konfirmieren“ s.o. 2.2.1. Luhmann spricht hier von „symbolischen Generalisierungen“; zum Folgenden vgl. Luhmann 1984: Soziale Systeme, 135 ff. A.a.O., 136.
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Verweisungsstruktur von Sinn zu Erwartungen. Im Rekurs auf Bewährtes reduzieren Erwartungen die Komplexität einer Situation. Sie „bilden sich […] durch Zwischenselektion eines engeren Repertoires von Möglichkeiten, im Hinblick auf die man sich besser und vor allem rascher orientieren kann.“²³³ Damit reduziert Sinngeneralisierung Komplexität: „Als Selektion ist die Generalisierung Einschränkung des Möglichen und zugleich Sichtbarmachen anderer Möglichkeiten. Als Einheit dieser beiden Aspekte führt Generalisierung zur Entstehung strukturierter Komplexität“.²³⁴ Nur so ist z. B. Christliches als Christliches (wieder) erkennbar, nur so bewahren sich die über Jahrhunderte in verschiedenen Situationen rezipierten – in Gottesdiensten gehörten, für sich selbst gelesenen, theologisch ausgelegten oder in der Seelsorge zugesprochen – biblischen Texte ihre Identität als „Heilige Schrift“. Ähnlich der Systemtheorie Luhmanns kennt auch die Semiotik Ecos festgeprägte, kulturelle Deuteschemata, die die Komplexität der sinnhaften Enzyklopädie reduzieren. Eco greift hierzu den Wörterbuch-Begriff neu auf ²³⁵ und bestimmt die wörterbuchartige Darstellung als „angemessenes Werkzeug“ für die lokale Repräsentation der globalen Enzyklopädie:²³⁶ „[D]ie Enzyklopädie ist ein semantisches Konzept, und das Wörterbuch ist ein pragmatisches Mittel.“²³⁷ Geht man davon aus, dass die Enzyklopädie eine Menge ungeordneter kultureller Einheiten darstellt, so „sind die wörterbuchartigen Arrangements, die wir ständig aufstellen, ihre vorübergehende und pragmatisch nützliche hierarchische Neueinschätzung.“²³⁸ Ein Wörterbuch ist eine mögliche, partielle Systematisierung des enzyklopädischen Geflechts. Es sind mögliche Deutungen, im semantischen Universum von einer Kultur häufig beschrittene Lesepfade, die sich mit der Zeit zum kulturellen Konsens – und zuweilen zu Wahrheiten – verfestigen und so zu fest geprägten Deutungsmustern und zur kulturellen Deutungsroutine werden – oder mit den Worten Ecos: Es sind im „Format eines provisorischen Wörterbuchs ‚eingefrorene‘“ Deutungen.²³⁹ In diesem Sinne repräsentieren „wörterbuchartige Arrangements“ die „‚zentralen‘ Voraussetzungen eines kulturellen Systems“, die „als selbstverständlich betrachtet werden“.²⁴⁰
A.a.O., 140. Ebd.; Hervorhebungen im Original. Zum Terminus des „Wörterbuchs“, den Eco gegen den Enzyklopädie-Begriff abgrenzt s. o. 3.2.2.1.1. Vgl. Eco 1985: Semiotik, 130 ff. A.a.O., 131; im Original hervorgehoben. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd.; Hervorhebung im Original.
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Lokale Wörterbücher stellen einen kulturell bewährten Selektionsmechanismus zur Verfügung. Sie sind eine „abkürzende Entscheidung“,²⁴¹ in der die unendlich zirkulierende Semiose, zu einem vorläufigen Stillstand kommt und die enzyklopädische Kette unterbrochen wird. Wird im konkreten (Be‐)Deutungsgeschehen – also im Wahrnehmungsprozess oder Kommunikationsgeschehen der Interaktion – auf ein solch lokales Wörterbuch zurückgegriffen, spart dies in erheblichen Maße „Definitionsenergien“, da (Be‐)Deutungen nicht jedes Mal neu verhandelt werden müssen. So wird das Wörterbuch zu einer ökonomischen Möglichkeit, die den „glatten Verlauf der Konversationsinteraktion“ ermöglicht.²⁴² – So brauchen sich bspw. in der von Scharfenberg beschriebenen Szene der Seelsorger und die Frau nicht darüber zu verständigen, dass sie es bei den //zwei rechtwinklig ausgerichteten Stäben// mit einem /Kreuz/ zu tun haben, dem im christlichen Kontext eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Die Enzyklopädie ist in der aktuellen Situation kulturell codiert. Da Wörterbücher kulturelle, historisch gewachsene Gebilde sind, können sie verändert werden. Dass sie eine gewisse prästabile Grundform aufweisen, steht nicht im Widerspruch dazu. Dies gilt grundsätzlich auch für die „zentralen Konzepte“ einer Kultur, die in der „Weltsicht unserer Kultur seit Jahrtausenden fest verwurzelt“ sind.²⁴³ Allerdings sind letztere nur durch eine „radikale wissenschaftliche Revolution“ zu erschüttern – oder durch überraschende, unerwartete Interpretationen, wie sie Eco poetischen Texten zuschreibt.²⁴⁴ Entscheidend ist, dass das Wörterbuch – wie jedes Deuteschema – „kein festes und eindeutiges Bild des semantischen Universums ist“, woraus die Freiheit resultiert, es je nach Situation zu benutzen – oder umzuschreiben.²⁴⁵ Wesentlich komplexere Deuteschemata bieten frames, die als weiterer Kopplungsmechanismus von Bewusstsein und Kommunikation fungieren.²⁴⁶ Auch sie „bezeichnen Sinnkombinationen, die der Gesellschaft und psychischen Systemen dazu dienen, ein Gedächtnis zu bilden, das […] einiges in schematisierter Form […] behalten und wiederverwenden kann.“²⁴⁷ Als „standardisierte Formen der Be-
Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 130 f. Vgl. a.a.O., 132. Vgl. ebd. – Zur umcodierenden Irritation durch ästhetische Codes s.u. 3.2.2.2. Vgl. ebd. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 110 f. – Luhmann zieht den Begriff „Schema“ dem des frame vor; vgl. a.a.O., 110. A.a.O., 110 f.
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stimmung von etwas als etwas“²⁴⁸ beinhalten frames ganze Ensemble zeiträumlicher Formen, d. h. sie umfassen Szenerien und Handlungsabfolgen. Damit dienen sie nicht nur der Erzeugung einer eindimensionalen Sinnlinie, sondern eines vieldimensionalen Sinngeschehens wie es die seelsorgliche Interaktion eines darstellt. Da frames explizit auch nicht-verbalsprachliche Gestalten beinhalten, sind sie für eine Poimenik, die darauf abzielt, Seelsorge von ihrer Fokussierung auf Verbalsprache zu emanzipieren, um sie als komplexes, kommunikatives Geschehen in den Blick zu nehmen, von Bedeutung. Die wirklichkeitsbildenden Prozesse in der Seelsorge sind als vieldimensionales Geschehen zu beschreiben, das sich im sich wechselseitig rahmenden Sinn-Spiel von Kommunikation und Wahrnehmung unter Rückgriff auf kulturell geprägte, Komplexität reduzierende Deuteschemata performiert. Im Rückgriff auf das semiotische frame-Konzept können die Konstruktion von Wirklichkeit und die Vergegenwärtigungsprozesse der seelsorglichen Interaktion weiter erhellt werden.²⁴⁹ Nach Eco betreffen frames „codierte Vorkommnisse des Kontextes und der Umgebung“²⁵⁰, d. h. sie beziehen sich auf komplexe Situationen, in denen eindimensionale wörterbuchartige Informationen nicht ausreichen,
A.a.O., 110. Entwickelt wurde das frame-Konzept im Zusammenhang mit Forschungen zur künstlichen Intelligenz. Doch auch in der Literaturtheorie wird es breit angewendet. – Vgl. Eco 19983: Lector, 98 ff; ders. 1985: Semiotik, 111 ff. Müske (1992: Diskurssemiotik) integriert das frame-Konzept vor dem Hintergrund des Ecoschen Textverständnisses in ein Modell des literarisch-künstlerischen Diskurses. Gemeinsam mit Hermelink (ders./Müske 1995: Predigt) bezieht er dieses textsemiotische Modell auf die Predigtanalyse; s.o. 1.2.2.2. Dieser Aufsatz bietet außerdem eine vereinfachende Zusammenfassung des Modells von Müske (a.a.O., 224 ff). – Alle genannten Publikationen beziehen sich auf die Interpretation von Texten. Dies wird v. a. der Komplexität der homiletischen Situation, die sich in der Regel ebenso wie die seelsorgliche Situation als Interaktion performiert, nicht gerecht. Die dynamische Kommunikationssituation des Predigtgeschehens als Hörereignis im gottesdienstlichen Rahmen einer Kirche wird hier stark vereinfacht bzw. aus „praktischen Gründen“ (a.a.O., 230, Anm. 37) ganz vernachlässigt. Der Aufsatz geht vom „Vorliegen eines schriftlichen Textes der Predigt“ (ebd.) aus. Nun sind jedoch Sprache und Schrift unterschiedliche Kommunikationsmedien, und die Interaktion ist eine besondere Kommunikationssituation, in der (Be‐)Deutungsprozesse – wie beim Verstehen einer Predigt-Rede – vieldimensional und multiform zusammenspielen. Die Komplexität der Produktions- und Rezeptionsvorgänge beim Hören einer Predigt oder beim seelsorglichen Gespräch können also nicht von der Dynamik der interaktionellen Situation getrennt werden. Eben darauf weist Dinkel (2000: Gottesdienst) für den Gottesdienst hin. – Erst Klie (2003: Zeichen, 385 ff) wendet das semiotische frame-Konzept auf eine interaktionelle Situation an, indem er es auf die Poimenik überträgt. Damit ist es von seinem exklusiven Bezug auf die Textinterpretation gelöst und auf allgemeine (Be‐)Deutungsvorgänge entschränkt. Im Blick sind nun auch gegenständliche Formen – „verbale oder nonverbale Markierungen“ (a.a.O., 386; Hervorhebung L.K.), die bestimmte Deutungsschemata aktivieren. Eco 1985: Semiotik, 109.
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sondern in denen eine „vergrößerte[ ] enzyklopädische[ ] Kompetenz“²⁵¹ erforderlich ist. „Ein frame ist eine Datenstruktur, die dazu dient, eine stereotype Situation zu repräsentieren“.“²⁵² Als fest geprägte und zugleich veränderbare Deuteschemata bieten sie dem konkreten (Be‐)Deutungsgeschehen komplexitätsreduzierende Muster – oder mit Müske formuliert: „Frames repräsentieren typisierte und zugleich dynamische komplexe Szenen der realen Welt (komplexe Situationen, Objekte, Prozesse usw.) als mentale Konzepte im Sinne von beschränkt flexiblen Strukturierungsleitlinien von Produktions- und Verstehensprozessen.“²⁵³ Sie sind „Repräsentationen über die ‚Welt‘“²⁵⁴, die vorerst nicht auf Begriffe zielen, d. h. nicht verbalsprachlich gebunden sind, sondern eher „bildhaft-analogen Vorstellungen“ ähneln²⁵⁵ – gleichsam dem „Entstehen eines Filmes vor dem inneren Auge“.²⁵⁶ Insofern vollzieht sich eine derartige „‚Welt‘-Verarbeitung“, also der Aufbau eines mentalen Modells, wie z. B. der eines frames,²⁵⁷ als „Prozeß der Veranschaulichung“.²⁵⁸ Frames beinhalten ein Ensemble an Sinnformen, „die entsprechend einer aktuellen Aufgabe abrufbar und zweckentsprechend einsetzbar sind“,²⁵⁹ d. h. die sich in einer konkreten Situation performieren. Ähnlich einem multidimensionalen Drehbuch umfassen frames prototypische Situationen, komplexe Szenerien, bestehend aus zur Routine gewordenen Ereignis- und Handlungsabläufen, Orten, typischen Gegenständen, Personen und Rollen etc. Eco bezeichnet einen frame deshalb auch als einen „virtuelle[n] Text oder eine kondensierte Geschichte“.²⁶⁰ Solche Rahmengeschichten steuern Erwartungen: „Jeder frame umfaßt eine bestimmte Anzahl von Informationen. Einige davon beziehen sich auf das, was man an nachfolgenden Ereignissen erwarten kann, andere auf das, was man tun muß, A.a.O., 111. Eco (19983: Lector, 99; Kursivierung im Original) zitiert hier Minsky. Müske 1992: Diskurssemiotik, 31; Hervorhebungen im Original. Eco (19983: Lector, 99) zitiert hier vanDijk. Vgl. Müske 1992: Diskurssemiotik, 32 f. Hermelink/Müske 1995: Predigt, 225. Zur verzweigten Terminologie eines – wie Luhmann (1997: Gesellschaft, 110) kritisiert – „schlecht koordinierten Forschungsgebiet[s]“ vgl. Müske 1992: Diskurssemiotik, 124 ff. Müske ordnet die Begriff Script, Scene, Schema, Frame und Bild als verschiedene Typen mentaler Modelle auf und definiert diese. – In der vorliegenden Untersuchung wird von einer terminologischen Differenzierung abgesehen. Bevorzugt wird der Terminus frame in dem oben beschriebenen Sinne. Dieser verdeutlicht, dass sich im interaktionellen (Be‐)Deutungsgeschehen Wahrnehmungsprozesse und Kommunikationsprozesse hinsichtlich ihrer Erzeugung von Sinnlinien wechselseitig rahmen. Vgl. Müske 1992: Diskurssemiotik, 118. A.a.O., 31. Eco 19983: Lector, 100; im Original hervorgehoben.
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wenn sich diese Erwartungen nicht bestätigen“.²⁶¹ Insofern eignet dem frame – ähnlich dem Wörterbuch – eine pragmatisch-operationale Dimension.²⁶² Als typisches Beispiel eines frames nennt Eco den frame bzw. die Szenographie „Supermarkt“.²⁶³ Frames bzw. mentale Modelle beziehen sich auf einen „konventionellen alltagsweltlichen Tätigkeitszusammenhang“²⁶⁴ und stellen „Regeln für praktische Handlungen“²⁶⁵ dar. Sie „entstammen […] der enzyklopädischen Kompetenz“ einer Deutungsinstanz, die diese „mit dem größten Teil der Mitglieder [ihres] Kulturbereiches teilt“.²⁶⁶ In diesem Sinne sind frames kulturelle Kondensate. In einer konkreten Situation setzt die Kommunikation deshalb voraus, dass jeder bzw. jedes beteiligte Bewusstsein weiß, was mit derart kulturell-konventionell geprägten Deuteschemata gemeint ist. Ebenso wie sich die Enzyklopädie einer umfassenden Darstellung entzieht,²⁶⁷ kann es „niemals ein vollständiges Lexikon zur Beschreibung mentaler Modelle“²⁶⁸ geben – nicht zuletzt deshalb, da diese ständig modifiziert werden. Als mentale Modelle sind frames „Elemente eines ‚kognitiven Bewußtseins‘“,²⁶⁹ „kognitive Vorstrukturierungen“,²⁷⁰ die basierend auf Wahrnehmungsprozessen die Aktualisierungsmöglichkeiten des Kommunikationsgeschehens rahmend begrenzen.²⁷¹ Sie erinnern an die Wahrnehmungsschemata²⁷² und
Eco (a.a.O., 99; Kursivierung im Original) zitiert hier Minsky. In diesem Zusammenhang führt Eco (1985: Semiotik, 112) die operationale Definition des Elements Lithium, die er von Peirce übernimmt, an. Eco (19983: Lector, 99) verwendet hier die Begriffe frame und Szenographie synonym, wobei er „Szenographie“ auch als „Sammelkonzept“ (a.a.O., 103) bestimmen kann. – Eco 19983: Lector, 100: „Die Szenographie ‚Supermarkt‘ enthält […] den Begriff eines Ortes, den die Leute betreten, um Waren verschiedener Art zu kaufen, die sie sich direkt und ohne Vermittlung von Verkäufern nehmen und dann an der Kasse bezahlen. Wahrscheinlich müßte eine gute Szenographie dieses Typus auch die Art der Waren berücksichtigen, die in einem Supermarkt verkauft werden (zum Beispiel: Bürsten ja, Autos nein).“ – Müske (1992: Diskurssemiotik, 126 ff) expliziert seine Überlegungen an dem häufig angeführten Beispiel „Restaurantbesuch“, an dem er zugleich die „sozialkulturelle“ (vgl. a.a.O., 125) Gebundenheit eines mentalen Modells aufzeigt. Hermelink/Müske 1995: Predigt, 226; im Original hervorgehoben. Eco 19983: Lector, 104; im Original hervorgehoben. Ebd. S.o. 3.2.2.1.1. Müske 1992: Diskurssemiotik, 121. Eco (19983: Lector, 99) unter Rekurs auf vanDijk. Müske 1992: Diskurssemiotik, 131. Vgl. a.a.O., 119: „Die mentalen Modelle […] sind an die unmittelbare Wahrnehmung oder an die Vorstellung einer solchen gebunden.“ S.o. 3.2.1.3.1.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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sind als umfassendes, vorstrukturiertes Wissen zu verstehen, das in einer konkreten Situation aktualisiert werden kann. Als Kopplungsmechanismus von Bewusstsein und Kommunikation fungieren sie insofern, als zeit-räumliche Formen auf Ebene des psychischen Systems einen frame initiieren, der auf Ebene der Kommunikation expandiert werden kann. Dieses Kopplungsgeschehen rahmt die interaktionellen (Be‐)Deutungsprozesse, indem es das sinnhafte Signifikationsgeschehen begrenzt. Folgt man Müske, so sind es „Schlüsselsachverhalte an Schnittstellen der Ereigniskette“ die zur Expandierung eines frames anregen, d. h. hierfür einen Anstoß geben (initiieren) und dessen Entfaltung in Gang setzen (aktivieren).²⁷³ Dabei können die „Schlüsselsachverhalte“ in Bezug auf den aktivierten frame durchaus „marginal“ sein.²⁷⁴ Bezogen auf die Seelsorge bedeutet das: Auf der interaktionellen Wahrnehmungsbühne initiieren „verbale oder nonverbale Markierungen“²⁷⁵ ein Rezeptionsgeschehen, in dem das Vorwissen einer Deutungsinstanz aktiviert wird und die wahrgenommenen zeit-räumlichen Formen – „das System der Signifikanten“²⁷⁶ – abduktiv mit einem frame abgeglichen werden. Bei den Seelsorgepartnern werden „entsprechende Stereotype“ wachgerufen, die sie z. B. in entsprechende „Handlungs- und Sprechweisen“ verfallen lassen.²⁷⁷ So orientiert ein frame – wie jedes feste Deutungsmuster –, wo der Prozess der unbegrenzten Semiose fortgesetzt und wo eingedämmt werden soll, welche „kulturellen Einheiten“ hervorgehoben und zu einer Sinnlinie aktualisiert werden und welche narkotisiert bleiben. Insofern werden die Spielregeln der Kommunikation, wie die Erwartung bestimmter Handlungsabläufe und Verhaltensmuster, durch das Ensemble zeit-räumlicher Formen vorgeklärt. „Bevor überhaupt das Gespräch recht in Gang [kommt]“ – wie Scharfenberg formuliert²⁷⁸ – ist auf der Ebene des Bewusstseins durch wahrnehmbare Gestalten bereits ein frame initiiert, der die sinnvollen bzw. erwarteten Aktualisierungsmöglichkeiten der Kommunikation reduziert und den weiteren Verlauf des kommunikativen Sinngeschehens rahmend begleitet. Dinkel pointiert: „Man benimmt sich im Gottesdienst nicht ‚wie zu Hause‘, sondern wie in der Kirche.“²⁷⁹ Und in der seelsorglichen Begegnung verhält man sich eben nicht wie bei einem „existentiellen Gespräch unter Freunden“²⁸⁰, sondern – gemäß der
Vgl. Müske 1992: Diskurssemiotik, 37 f. Vgl. a.a.O., 132. Klie 2003: Zeichen, 386. A.a.O., 385. Vgl. a.a.O., 386. S.o. Einleitung zu Kapitel 3. Dinkel 2000: Gottesdienst, 134. So bestimmt Nicol (1990: Gespräch, 162 f) das Paradigma der Seelsorge.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
allgemeinen kulturellen Erwartung zunächst einmal – wie bei einem „Gespräch mit einem Vertreter der Kirche“. Es sind wahrnehmbare Formen – wie das in der von Scharfenberg beschriebenen Szene an die Wand gehängte Kreuz –, die auf das gesellschaftliche Funktionssystem der Religion, näherhin des Christentums gedeutet werden und beim Rezipienten den frame „Seelsorge“ initiieren können.²⁸¹ Wird der frame „Seelsorge“ als „Gespräch unter Glaubensgeschwistern“²⁸² verstanden, so zeigt sich diese poimenische Bestimmung taktisch, d. h. bei seiner aktualisierenden Expandierung im seelsorglichen Kommunikationsgeschehen an entsprechend christlich codierten, – theologisch formuliert – tröstlichen²⁸³ Kommunikationsformen. Ebenso wie auch entsprechende, vom Seelsorger intentional gesetzte, „verbale oder nonverbale Markierungen“ auf ein „Gespräch unter Glaubensgeschwistern“ hin deutbar sind. Wird ein frame initiiert, so bestimmt dies weder, wie eine Deutungsinstanz mit ihm umgeht, noch die Anschlussoperationen, die sich aus der Aktivierung ergeben. Denn frames werden nicht gleichförmig angewandt. Sie fungieren insofern als „Verstehenserleichterung“²⁸⁴, als sie in einer konkreten Situation „als Reduktionen struktureller Komplexität dem Aufbau operativer Komplexität und damit der laufenden Anpassung der strukturellen Kopplung psychischer und sozialer Systeme an sich ändernde Vorgaben“²⁸⁵ dienen. Oder wie Klie es ausdrückt: „Ein kognitiv vorstrukturierter Rahmen wird situativ eingesetzt, um die Komplexität eines Sachverhalts sinnvoll zu reduzieren.“²⁸⁶ Denn bei einem frame handelt es sich um ein offenes, grundsätzlich unabgeschlossenes Deutungsmuster,²⁸⁷ das es in einer konkreten Situation zu spezifizieren gilt. Jeder frame enthält „Leerstellen […], die erst im Verlauf des Wahrnehmungsprozesses [bzw. im konkreten Signifikationsprozess eines Sinngeschehens; L.K.] gefüllt werden.“²⁸⁸ Die situationsadäquate Füllung geschieht unter Rückgriff auf das enzyklopädische Vorwissen des Rezipienten, so dass „[d]ie Disambiguierung einer Situation […] letztlich von Hypothesen über einen konsistenten Handlungsverlauf [gesteuert wird].“²⁸⁹ Und so geht es bei der Expandierung eines frames letztlich nicht im Zu wahrnehmbaren Systemgrenzen s.o. 3.2.1.3.2. – Zur christlichen Codierung von Interaktion s.u. 3.2.2.2.2. S.o. 2.2. S.o. 2.2.1. Müske 1992: Diskurssemiotik, 32. Luhmann 1997: Gesellschaft, 111; Hervorhebungen im Original. Klie 2003: Zeichen, 385. Hermelink/Müske (1995: Predigt, 226) sprechen in diesem Zusammenhang auch von „vagen, gleichsam unscharfen Modellszenen“ und „idealtypischen Ordnungsschemata“. Müske 1992: Diskurssemiotik, 120; Hervorhebung im Original. Klie 2003: Zeichen, 386 f.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
409
Sinne eines zwei-stelligen Deutungsbegriffs um eine „konventionalisierte Zuordnung“ eines Signifikats zu einem Signifikanten, sondern um die „Ergänzung und Modifizierung […] kognitiver Vorstrukturierungen“ in einem konkreten Sinngeschehen.²⁹⁰ Ist die Konkretisierung eines frames in einer bestimmten Situation nicht von seiner gleichzeitigen Modifizierung zu trennen, so eignet jeder Aktualisierung eines frames etwas ereignishaft Innovatives. Insofern bewegt sich ein frame zwischen Konvention und Innovation. Dies wird besonders bei Umcodierungen, also (Be‐)Deutungsumschreibungen bzw. bei Prozessen des Reframings relevant.²⁹¹ Folgt man Müske, so ist die Modifizierung eines frames bzw. eines mentalen Modells als „Wissenserwerb“ zu verstehen. Er unterscheidet hierbei drei Fälle:²⁹² (1.) Die Leerstellen eines Modells werden erwartungsgemäß mit neuen Informationen aufgefüllt, das Modell selbst jedoch nicht verändert (Expansion). Diese Modifikation entspricht der Konvention. (2.) Ein Modell wird umstrukturiert, indem entweder angesichts ungewöhnlicher Formen in einem längeren Prozess das Modell selbst verändert und ein neues Schema aufgebaut wird oder – und dieser Fall ist wesentlich häufiger – „auf ein bereits vorhandenes mentales Schema neue Information abgebildet wird“.²⁹³ In den nicht übereinstimmenden Teilen wird das Modell modifiziert, indem z. B. eine neue Leerstelle hinzugefügt wird. Auf diese Weise werden unkonventionelle Elemente integriert, etwas erscheint in einer „neuen, ungewohnten Perspektive“.²⁹⁴ Diese Modifizierung ähnelt am ehesten der systemtherapeutischen Methode des Reframings. (3.) Auch die „Feinabstimmung“ verändert ein Schema. Jedoch nicht, indem eine Leerstelle hinzugefügt wird, sondern indem einer vorhandenen Leerstelle feste Werte zugewiesen werden. Insofern wird das Modell hier eingeschränkt. – Darüber hinaus kann ein aktualisiertes Modell auch durch ein neues abgelöst werden, indem Formen, die eher auf ein anderes Schema hin gedeutet werden, einen „Umschlag“ anregen. An diesen Modifizierungen wird deutlich, wie ein Ensemble zeit-räumlicher Formen im Sinne eines ästhetischen Codes²⁹⁵ den Rezipienten bzw. eine Deutungsinstanz ausgehend von einem vorstrukturierten Wissen zur Umstrukturierung bzw. zum Umschreiben der jeweiligen Wirklichkeitskonstruktion und damit zu einer neuen Sichtweise auffordert.
Auch der frame „Seelsorge“ wird in jeder seiner Aktualisierungen modifiziert. Ort, Zeit und Person bzw. Sach-, Zeit- und Sozialdimension des interaktionellen Sinngeschehens sind in der jeweils konkreten Situation entsprechend zu füllen. Es macht einen Unterschied, ob der 50-jährige, alteingesessene Pfarrer der Gemeinde in der Rolle des Seelsorgers erscheint, eine junge Vikarin oder eine ältere Dame,
Vgl. Müske 1992: Diskurssemiotik, 120. S.u. 3.2.2.2. Vgl. Müske 1992: Diskurssemiotik, 122 ff. A.a.O., 122. Hermelink/Müske 1995: Predigt, 229; im Original hervorgehoben. Zum ästhetischen Code bzw. zur ästhetischen Botschaft s.u. 3.2.2.2.1.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
die sich ehrenamtlich in einem Besuchsdienstkreis engagiert. Ebenso wie es einen Unterschied macht, ob ein dunkles Sakko, Jeans mit Pulli, ein Minirock, ein Hosenanzug oder ein Collarhemd bzw. – etwa im Rahmen einer Andacht im Pflegeheim – ein Talar getragen wird. Dabei geht es stets um die Frage, ob Erwartungen und Erwartungserwartungen erfüllt oder nicht erfüllt werden und was sich daraus für den Verlauf des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens ergibt. Auf Ebene der poimenischen Pragmatik sind es z. B. die Modelle der Alltagsseelsorge²⁹⁶ und Kurzzeitseelsorge²⁹⁷, die die „klassische“ Füllung von Zeit und Ort – wie sie vermutlich auch einen kulturell codierten frame „Seelsorge“ bestimmen – modifizieren: Seelsorge wird explizit von der Vorstellung eines tiefsinnigen und „tief“ gehenden Gesprächs mit einem professionell-hauptamtlichen Seelsorger zu einem vereinbarten Termin an einem „geschützten“ Ort – wie dem eines Büros – gelöst. Überdies erhellt das semiotisch inspirierte frame-Konzept seelsorgliche Modellszenen wie „Hausbesuch“, „Notfallseelsorge“, „Militärseelsorge“, „Schaustellerseelsorge“, „Krankenhausseelsorge“ als „funktionale Vorstellungszusammenhänge“, als „Konstruktion[en] auf der Ebene poimenischer Pragmatik“.²⁹⁸ Diese Modellszenen sind fest geprägte Deutungsschemata unterschiedlicher seelsorglicher Kommunikationsumgebungen, die als poimenische frames ein „Erklärungsmodell für die Regelhaftigkeit empirisch wahrnehmbarer Zeichenfolgen“²⁹⁹ bieten. Sie liegen dem konkreten seelsorglichen Geschehen voraus, klären mittels komplexitätsreduzierender Deutungsmuster die Spielregeln der Kommunikation vor und steuern damit Erwartungen.³⁰⁰ Poimenische frames füllen als Spezialseelsorgekonzepte oder Modelle für Zielgruppenseelsorge die Leerstellen des frames „Seelsorge“ hinsichtlich spezifischer Kommunikationsumgebungen wie z. B. Gefängnis oder Altenpflegeheim bzw. spezifischer Themen wie Aids oder Wohnungslosigkeit.³⁰¹ D. h. sie spezifizieren den frame „Seelsorge“, indem sie das kondensieren, was sich unter spezifischen, wiederkehrenden Umständen bewährt hat, um es in einer neuen – also zu einer anderen Zeit, mit anderen Personen, in einem anderen Raum –, jedoch ähnlichen Situation wieder
Hauschildt 1996: Alltagsseelsorge. Lohse (20062: Kurzgespräch) und Theobold (2013: Smalltalk). Vgl. Klie 2003: Zeichen, 386. Ebd. Klie (a.a.O., 387 ff) stellt dies anhand der frames „Geburtstagsbesuch“ und „Kasualbesuch“ dar. Einige der zahlreichen poimenischen Publikationen sind in Kapitel 2 genannt. Einen Überblick geben außerdem die Lehrbücher von Winkler (20002: Seelsorge, 472 ff und 371 ff), Ziemer (20042: Seelsorgelehre, 329 ff und 249 ff), Herbst (2012: Beziehungsweise, 343 ff), Klessmann (20124: Seelsorge, 345 ff) und Morgenthaler (20122: Seelsorge, 99 ff und 297 ff).
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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zur Verfügung zu stellen. Insofern bilden Spezialseelsorgekonzepte und Modelle für Zielgruppenseelsorge das poimenische Gedächtnis seelsorglicher Kommunikationssituationen. Sie kondensieren das Proprium eines seelsorglichen Kommunikationsgeschehens, das sich unter spezifischen, wiederholbaren Umständen vollzieht. Festgeschrieben werden z. B. Themen, die unter spezifischen Kommunikationsumständen immer wiederkehren. So wird sich ein poimenisches Modell, das auf die Seelsorge im Hospiz ausgerichtet ist, u. a. mit den Themenkomplexen „Trauer“ sowie „Sterben und Tod“ auseinandersetzen. Und in zeitlicher Hinsicht wird es die in der Regel kurze Gesprächdauer sowie die – aufgrund der kurzen Verweildauer der Gäste – einmalige Begegnung berücksichtigen.³⁰² Doch Spezialseelsorgekonzepte bieten nicht nur Orientierung hinsichtlich erwartbarer Themen, sondern auch hinsichtlich Kommunikationsformen, die sich in einer spezifischen Kommunikationsumgebung als hilfreich und tröstlich³⁰³ bewährt haben. So sind es bspw. in der Notfallseelsorge fest geprägte Kommunikationsformen des christlichen Glaubens – Rituale – die in der Erfahrung von Hilflosigkeit als hilfreich empfunden werden.³⁰⁴ So mag ein Vaterunser in einer Notsituation, die sprachlos macht, zu mehr Sprachfähigkeit verhelfen als ein frei formuliertes Gebet oder ein gut gemeintes Gespräch. Ähnlich bietet auch das Neue Evangelische Pastorale „kleine liturgische Formen“ als fest geprägte Folien für bestimmte seelsorgliche Situation, wie eine Agende zur Aussegnung oder zum „Tod eines Kindes unmittelbar vor oder nach seiner Geburt“, ein Beichtformular, aber auch ein Segensformular zum Geburtstag.³⁰⁵ Außerdem ist zu beobachten, dass Spezialseelsorgekonzepte häufig interdisziplinär angelegt sind und auf psychologische, psychotherapeutische, sozialpädagogische, pädagogische und medizinische Beschreibungsmuster sowie Methodik zurückgreifen. So berücksichtigen in der Regel poimenische Modelle zur Seelsorge mit Suchtkranken oder mit Menschen im Altenpflegeheim oder der Psychiatrie entsprechende, in diesem Rahmen wiederholt beobachtete Krankheitsbilder.³⁰⁶ Nun kann eine derart spezielle Kompetenz für den Verlauf des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens durchaus angebracht sein, und daher ist es für den Seelsorger sinnvoll, sich dieses Wissen anzueignen. Das ist z. B. dann der Fall, wenn in einer seelsorglichen Begegnung im Altenpflegeheim entsprechende Markierungen mit den Symptomen des Krankheitsbild Demenz abgegli-
Zum Ort des Hospizes vgl. Gerstenkorn (2004: Hospizarbeit) und das „Handbuch Integrierte Sterbebegleitung“ von Lilie und Zwierlein (2004). Zum Trost als Funktion der Seelsorge s.o. 2.2.1. Vgl. Waterstraat 2009: Chaos. Neues Evangelisches Pastorale 20073: 135 ff. Zum Krankheits-Verständnis der vorliegenden Arbeit s. o. 3.2.1.1.
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chen werden und auf Kommunikationsformen, die sich in dieser spezifischen Situation als hilfreich bewährt haben, zurückgegriffen werden kann. Jedoch darf die Seelsorge hierüber nicht ihre eigene Perspektive, die christliche Codierung der Kommunikation vergessen. Denn es kann auch als Spezifikum der Seelsorge angesehen werden, dass sie gerade nicht über breites medizinisches oder psychologisches Wissen verfügt und die Seelsorgepartner nicht – wie in Teilen der sog. Seelsorgebewegung – als Patienten, sondern als Glaubensgeschwister in den Blick nimmt. Wird nicht auf ein bestimmtes Krankheitsbild festgeschrieben, so entstehen Freiräume und damit neue Möglichkeiten, die es in medizinisch codierter Kommunikation so nicht gibt. Poimenische frames bieten einen möglichen kondensierten Sinnzusammenhang, der in der konkreten Situation „auch ganz anders sein könnte“³⁰⁷, und können daher bei ihrer Aktualisierung auch modifiziert werden. Zu Ideologien erstarren sie dann, wenn der Kommunikations- und Handlungsverlauf durch das Deutungsangebot fest geschrieben wird und die Offenheit für Irritation fehlt. Hierhin mag der Grund dafür liegen, weshalb „Laienseelsorger“³⁰⁸ in ihrer Sichtweise weniger eingeschränkt zu sein scheinen, als poimenische bzw. pastoralpsychologisch geschulte Spezialseelsorger, die häufig dazu tendieren, Kommunikation zu psychologisieren und „hinter“ den Aussagen des Seelsorgepartners „Tiefgründiges“ zu vermuten. Dagegen fallen „Laienseelsorger“ gerade durch ihre oftmals unbefangene Herangehensweise auf Ebene des alltäglichen Umgangs auf, die es ihnen z. B. erlaubt, eigene Lebenserfahrungen in die Kommunikation mit einzubringen. So werden sie zu einem Gegenüber im Gespräch. Folgt man Karle, so ist nicht die pastoralpsychologische Ausbildung Basis gelingender Interaktion, sondern Höflichkeit, „Takt, Güte und soziale Geschicklichkeit“ sind die „grundlegende[n] kommunikative[n] Kompetenzen im pastoralen Berufsalltag“³⁰⁹ – und damit die grundlegenden Kompetenzen des alltäglichen, interaktionellen Miteinanders. Es sind die sich in kommunikativen Formen äußernde Mitmenschlichkeit und Menschenfreundlichkeit, die als gelebte christliche Nächstenliebe seelsorgliche Kommunikation fördern und im besten Fall gelingen lassen. Darüberhinaus mag sich die seelsorgliche Begegnung zwischen Glaubensgeschwistern als grundsätzliche symmetrische Beziehung³¹⁰ eher im Gegenüber mit einem Gemeindeglied, das sich ehrenamtlich im Besuchsdienstkreis
Vgl. vonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 273. Der vorliegende Ansatz bezieht die sog. „Laien“-Seelsorge ausdrücklich in seinen Ansatz mit ein s.o. 2.2.1. Karle 2000: Pastorale Kompetenz, 514; Hervorhebungen im Original. Vgl. auch dies. 1999b: Seelsorge, 48. S.o. 2.2.1.
3.2.2 Wirklichkeitsbildung in der Interaktion: Aktualisierung von Sinnlinien
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engagiert, verwirklichen, als mit der Person des Pfarrers. Da letzterer häufig mit einem theologischen und poimenischen Wissensvorsprung verbunden wird, ist in die Kommunikation a priori eine Asymmetrie eingetragen – und tatsächlich kann der professionelle Seelsorger in der Regel auf komplexere poimenische frames zurückgreifen als sein Seelsorgepartner. An dieser Stelle wird deutlich, dass die immer feinere Ausdifferenzierung der Poimenik in Spezialseelsorgekonzepte unter dem Theoriehorizont der vorliegenden Untersuchung an einen einheitlichen poimenischen Ansatz rückgebunden werden kann. Es wird ein fundamentalpoimenischer Ansatz vertreten: So war bereits das zweite Kapitel daraufhin angelegt, das poimenische Feld im Allgemeinen aufzuspannen. Die Bestimmung von „Seelsorge als wechselseitiges Gespräch anwesender Glaubensgeschwister zum Zwecke des Trosts untereinander“ erhebt den Anspruch, für jedes seelsorgliche Kommunikationsgeschehen zu gelten, gleich auf welche spezifische Zielgruppe es bezogen ist oder in welch spezifischer Situation es sich vollzieht. Gleiches gilt für das vorliegende Kapitel, welches das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen aus semiotisch-systemtheoretischer Perspektive beschreibt. Und auch das vierte Kapitel bietet fundamentalpoimenische Kategorien bzw. Leerstellen des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens, die in der jeweils konkreten Situation zu füllen und aktualisieren sind. Im Anschluss an Klie kann konstatiert werden, dass der „Erkenntnisgewinn“ der Rezeption des frame-Konzepts in der Poimenik u. a. „in der konsequenten Semiotisierung des Seelsorgegeschehens“ liegt.³¹¹ „Es ermöglicht die Auflösung interpersonaler, methodischer und materialer Aspekte des mutuum colloquium in Wahrnehmungsperspektiven, Funktionen und Lesarten.“³¹² Und somit ist das gesamte seelsorgliche Kommunikationsgeschehen, das diverse Interaktionszusammenhänge, einschließlich textgebundener Rezeptionsvorgänge – wie z. B. die von biblischen Texten – umfasst, an das Verstehen einer Deutungsinstanz gebunden. Das semiotische frame-Konzept bietet ein Modell, mit dem seelsorgliche Rezeptionsvorgänge und damit Prozesse zur Konstruktion von Wirklichkeit näher beleuchtet werden können. Doch nun werden in der Seelsorge zeit-räumliche Formen nicht nur faktisch rezipiert, sondern auch taktisch produziert – v. a. in der Interaktion, in der Rezeptionsprozesse kaum von Produktionsvorgängen zu trennen sind. Denn es geht darum, die Kommunikationsumgebung so zu gestalten, dass der frame durch intentional gesetzte Zeichen zum Setting, zum „Gesetzten“
Vgl. Klie 2003: Zeichen, 389. Ebd.; Kursivierung im Original.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
wird. Performativ können bestimmte Leerstellen „unterstützt“ oder „verstärkt werden“, z. B. indem sie mit christlich codierten Formen gefüllt werden – wie die Gestaltung eines „Raum der Stille“. Und auch vorfindliche Kommunikationsumgebungen – wie die Unfallstelle, zu der ein Notfallseelsorger gerufen wird – bieten Leerstellen, die entsprechend gestalterisch gefüllt werden können. Mit der Begrifflichkeit Scharfenbergs ausgedrückt geht es darum, mit dem „in der Regel unbewussten“ „äußeren Rahmen“ des „Gesprächs“³¹³ intentional, spielerischgestaltenden umzugehen. Die Poimenik hat sich in diesem Zusammenhang dann auch mit der Frage auseinanderzusetzen, wie zeit-räumliche Formen Prozesse der Bedeutungsbildung so initiieren, dass andere, ungewohnte Sichtweisen entstehen.³¹⁴ Folgt man Müske, so liegt auf der Produktionsseite die Möglichkeit zur „Frame-Innovation und -Durchbrechung“³¹⁵ – mit anderen Worten: zur Umcodierung bzw. zum Reframing. Systemtheoretisch formuliert geht es um die Irritation des Kommunikationsgeschehens. Da dies jedoch nur über das an die Kommunikation gekoppelte Bewusstsein möglich ist, lässt sich das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen u. a. über wahrnehmbare zeit-räumliche Formen irritieren. Das wird v. a. hinsichtlich der Interaktion deutlich, die sich als Kommunikation unter Anwesenden auf einer Wahrnehmungsbühne performiert, auf der Kommunikations- und Wahrnehmungsprozesse eng zusammenspielen. Wahrnehmbare Formen klären sowohl präkommunikativ als auch synkommunikativ die Spielregeln der Interaktion. Als Kommunikationsumgebung schränken sie die Möglichkeiten der Kommunikation ein und gewinnen so für die seelsorgliche Interaktion an Bedeutung. Über die strukturelle Kopplung stellen sich Wahrnehmung und Bewusstsein permanent rahmende Selektionsmuster zur Reduktion von Komplexität zur Verfügung, generieren in diesem wechselseitigen Zusammenspiel das seelsorgliche Sinngeschehen und erzeugen interaktionelle Wirklichkeit.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen Hat der vorherige Abschnitt eingehend die Konstruktion von Wirklichkeit in der Interaktion dargelegt, soll hier die Umbildung von Wirklichkeit theoretisch umrissen werden. Zielt die Reflexionsfigur des frame darauf, Komplexität mittels fester Deutungsmuster zu reduzieren, steht im Folgenden mit dem Reframing das
Vgl. Scharfenberg 1972: Seelsorge, 65. So ähnlich formulieren Hermelink und Müske (1995: Predigt, 222) in Bezug auf die Homiletik. Hierbei kann die „Methodik einer Analyse mentaler Bilder in der Predigt“ (a.a.O., 230 ff) zugleich als Anregung zur Produktion bzw. zum Initiieren mentaler Modelle gelesen werden. Müske 1992: Diskurssemiotik, 32.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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Aufbrechen ideologisch erstarrter Deutungsmuster und damit der Wiedergewinn von Komplexität sowie das Erzeugen von Ambiguität im Fokus. Es geht darum, mit der Irritation von Wirklichkeitsdeutungen, mit dem Einspielen anderer, neuer Sichtweisen, Möglichkeitsräume zu eröffnen und dadurch neuen Handlungsspielraum zu gewinnen. Seelsorge erscheint hier als ein Deutungsspiel unter anwesenden Glaubensgeschwistern, als kommunikative Wirklichkeits-(Um‐)Bildung coram Deo, im Angesicht Christi (Mt 18,20).¹ Dies gilt es zunächst aus semiotischer und systemtheoretischer Perspektive zu erhellen (3.2.2.2.1), um die Ergebnisse dann im Speziellen auf die seelsorgliche Interaktion als Vergegenwärtigung des Evangeliums ad personam zu beziehen. Hierbei können sowohl Verbindungen zur systemischen Therapie und Beratung hergestellt als auch der kommunikationstheoretische Zugang mit der poimenischen Kategorie des „Bruchs“ eingeholt werden (3.2.2.2.2).
3.2.2.2.1 Umcodierung: Erwartungsstrukturen und ihre Irritation Die strukturelle Kopplung von Kommunikations- und Wahrnehmungsprozessen² kann nun unter dem Blickwinkel der wechselseitigen Irritation, d. h. unter dem Blickwinkel möglicher Umcodierungsprozesse beschrieben werden. Der Begriff der Irritation – Luhmann spricht auch von „Perturbation“, „Reizung“ oder vom System her gesehen von „Resonanzfähigkeit“ – „hat seinen theoretischen Ort in der These eines Zusammenhangs von operativer Schließung (Autopoiesis) und struktureller Kopplung“.³ Da die Autopoiesis eines Systems jeden direkten Eingriff in seine Operationen ausschließt, können strukturelle Kopplungen das System nicht determinieren, sondern es lediglich mit Störungen versorgen. Die Determination eines Systems kann immer „nur im rekursiven Netzwerk der eigenen Operationen […] erzeugt werden“,⁴ d. h. es bleibt an seine eigenen Strukturen gebunden, die Rekursionen und entsprechende Operationen ermöglichen. Insofern ist die Irritation ein „Systemzustand“,⁵ der zur Fortsetzung autopoietischer Prozesse anregt, dabei jedoch zunächst offen lässt, ob dabei Strukturen geändert werden oder nicht. Ein System hat also zwei Möglichkeiten:
S.o. 2.2.1 und 3.2.1.2. Zu Kommunikationsprozessen s. o. 3.2.1.1, zu Wahrnehmungsprozessen s. o. 3.2.1.3 sowie zu ihrer strukturellen Kopplung s.o. 3.2.2.1.2. Luhmann 1997: Gesellschaft, 790. – Zur Irritation vgl. v. a. ders. 1990: Wissenschaft, 39 ff; ders. 1997: Gesellschaft, 118 f und 789 ff; ders. 20063: Einführung, 124 ff; auf die genannten Publikationen wird im Folgenden Bezug genommen. Luhmann 1997: Gesellschaft, 790. Ebd.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Entweder behält es seine Struktur bei und verlässt sich darauf, dass die Irritation ein einmaliges Ereignis ist, das mit der Zeit wieder von selbst verschwindet oder es nimmt die „Ausgangsirritation“ auf, vermehrt diese im autopoietischen Prozessieren und gleicht sie solange mit seinen Strukturen ab, bis sich die Strukturen an die Irritation anpassen.⁶ Um irritiert werden zu können, sind die Strukturen eines Systems so angelegt, dass sie „Erwartungshorizonte“⁷ bilden. Irritationen registriert das System dann als „momentane Inkonsistenzen“, als „enttäuschte Erwartungen“ – wobei es sich sowohl um „positive“ als auch um „negative“ Überraschungen handeln kann.⁸ Tritt die Irritation in Widerspruch zu den Erwartungsstrukturen und stellt für die Fortsetzung der Autopoiesis des Systems gemäß der gewohnten Struktur ein Problem dar, wird für diese strukturelle Unsicherheit systemintern nach einer Lösung gesucht. Man kann die Struktur auch als einem System zur Verfügung stehenden Möglichkeitsbereich beschreiben.⁹ Dieser wird sowohl durch die in Frage kommenden Operationen als auch durch das, was innerhalb bestimmter Strukturmuster bzw. Deutungsschemata ohne weitreichende Veränderungen behandelt werden kann, abgesteckt. Demnach verfügt jedes System über einen bestimmten Möglichkeitsraum, der von seinen Strukturen bestimmt wird. Nur wenn ein System strukturierte Erwartung bildet, kann es überhaupt Möglichkeiten sehen, nur wenn es über Selektionsmuster verfügt, kann es überhaupt deuten. Wird eine Störung bzw. Irritation mit den Erwartungsstrukturen verglichen, so wird sie am Möglichkeitsbereich sinnhafter Operationen, d. h. an dem, was sich im System bewährt hat, gemessen. Eine Irritation reizt zur Aktualisierung einer sinnhaften Möglichkeit, wodurch im System ein operativer „Informationsverarbeitungsprozess“ angeregt werden kann.¹⁰ Das heißt, die Kommunikation behandelt den „Informationsverarbeitungsprozess“ kommunikativ, das Bewusstsein wird zur Überlegung oder Umlenkung der Wahrnehmung auf die Störstelle angeregt. Mit anderen Worten: Irritation ist eine – zunächst noch – undefinierte Überraschung, die als Information für ein System relevant werden kann. Ein System greift also auf eigene Zustände, auf Irritationen zurück, um daraus Informationen zu machen und mit diesen Informationen im Abgleich mit seiner Struktur weiter zu operieren. Damit wird ebenso wie die Irritation auch die Information vom System produziert – damit steht die systemtheoretische Sichtweise
Vgl. a.a.O., 790 f. A.a.O., 790. Vgl. a.a.O., 791. Zum Folgenden vgl. Luhmann 20063: Einführung, 126 ff. Vgl. a.a.O., 127.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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der Vorstellung einer Übertragung von vermeintlich in der Umwelt vorhandener Information in ein System entgegen. Als systemeigenen Zustand gibt es für die Irritation in der Umwelt keine Entsprechung. Irritation ist immer Selbstirritation¹¹ – oder rezeptionsästhetisch bzw. in poimenischer Begrifflichkeit ausgedrückt: „Der ‚Bruch‘ kann nur vom Rezipienten selbst herbeigeführt werden“.¹² Die Struktur eines Systems ist vorzustellen als ein systeminternes, festes Deutungsmuster, das mit Wiederholungen rechnet, Bewährtes konserviert, auf diese Weise Rekursivität ermöglicht und für das System keinen weiteren Informationswert besitzt. Sie bezeichnet die Ausbildung einer dynamischen Stabilität strukturierter Erwartungen eines Systems. Demgegenüber stellt eine Information ein irritierendes Ereignis dar, das gerade deshalb überraschend ist, da etwas anderes erwartet wurde. Eine Information ist „ein Unterschied, der einen Unterschied macht.“¹³ Oder anders formuliert: Information ist eine unerwartete Selektion aus einem Feld von Möglichkeiten. Insofern kann Irritation auch als ZweiSeiten-Form beschrieben werden, als „Differenz von normaler, strukturell vorgezeichneter Operationsabfolge und einem Zustand, dessen Konsequenzen unklar, dessen Überleitung in Anschlußoperationen unentschieden ist“.¹⁴ Das systemtheoretische Theoriekonstrukt bestehend aus Autopoiesis, struktureller Kopplung und Irritation erklärt also, wie sich Bewusstseinssysteme und Kommunikationssysteme trotz operationaler Geschlossenheit einander wechselseitig beeinflussen – und dies auch langfristig. Dauerirritationen als langfristige Kopplung eines Systems an eine bestimmte Umwelt lenken die Strukturentwicklungen in eine bestimmte Richtung, da sich das System fortwährend mit ähnlichen Problemen beschäftigt. Strukturelle Kopplungen wirken auf die structural drift (Maturana) der Systeme.¹⁵ „Wenn Menschen laufend an Kommunikation teilnehmen, die normative Erwartungen formuliert, bestimmt das ihre Sozialisation“.¹⁶ Wenn jemand jeden Sonntag einen Gottesdienst besucht, bestimmt das seine Sicht auf Wirklichkeit. Es bilden sich entsprechende systemeigene, z.T. ideologisierte Deuteschemata in Form strukturierter Erwartungen, die den systeminternen Möglichkeitsbereich bestimmen. Letztlich ist es einem autopoietischen System nur durch laufende Perturbation möglich, eigene Komplexität aufzubauen sowie „eine Konstruktion der Umwelt anzufertigen, an der es die
Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 118. S.o. 3.2.2.1.2. Meyer-Blanck 1999: Entdecken, 30. – Zum „Bruch“ als poimenische Kategorie s.u. 3.2.2.2.2. Luhmann 20063: Einführung, 128; in Anlehnung an Bateson. Luhmann 1997: Gesellschaft, 792. Vgl. Luhmann 20052: Geschlossenheit, 33. Ebd.
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eigene Autopoiesis orientieren kann“.¹⁷ Und so legt sich das System mit der Zeit auf eine structural drift fest. Da dies im Vollzug der eigenen Autopoiesis geschieht, „ist es so schwer, am Resultat einer solchen historischen Entwicklung etwas zu ändern“.¹⁸ Dies bedarf in der Regel „Irritationen anderer Art“¹⁹ – z. B. im therapeutischen Rahmen oder im Zusammenhang seelsorglicher Kommunikation. In systemtheoretischer Sicht werden in der Seelsorge christlich codierte Sichtweisen eingespielt, mit der Absicht, erstarrte Strukturen so zu irritieren, dass sie sich unter Generierung neuer Information transformieren. Die Umformung einer Irritation zur Information in die Struktur hängt also von den jeweiligen Systemstrukturen und damit von der jeweiligen Systemgeschichte ab. Sie variiert daher von System zu System. In dem beschriebenen Sinne ist Kommunikation ein an Bewusstsein gekoppeltes und nur durch Bewusstsein irritierbares System, das die eigenen Operationen nur durch die eigenen Strukturen und die eigenen Strukturen nur durch die eigenen Operationen determinieren kann. Insbesonders in der Interaktion, in der wahrnehmendes Bewusstsein permanent an Kommunikation gekoppelt ist, benutzen sich die beiden autopoietischen Systeme zur gegenseitigen Anregung von Strukturänderungen und wirken damit wechselseitig auf die (Um‐)Bildung ihres Möglichkeitsbereichs ein. Dabei erscheint dem System das, was es über die strukturelle Kopplung voraussetzt, als „beständig“.²⁰ Das heißt, Bewusstsein und Kommunikation nehmen sich nicht in ihrer autopoietischen Dynamik – die im wechselseitigen Kopplungsgeschehen gerade die Dynamik der Interaktion ausmacht – wahr, sondern beobachtet sich als „relative Statik“ und verkürzen sich damit wechselseitig auf den Moment.²¹ Da Kommunikation und Bewusstsein simultan operieren, bezeichnet die strukturelle Kopplung ein Verhältnis der Synchronizität bzw. Akausalität. Das heißt, eine Operation des Bewusstseins kann nie der direkte Grund für eine Kommunikation sein und umkehrt – was nicht ausschließt, dass ein Beobachter Kausalität konstruiert. Man kann also durchaus formulieren, dass sich Kommunikation und Bewusstsein wechselseitig „beeindrucken“ und zwar in dem Sinne, dass das jeweils andere System ein Co-Ereignis produziert. Wie das jeweilige System jedoch mit diesem „Eindruck“ umgeht, wie es ihn eingrenzt und gegebenenfalls zur Strukturbildung, d. h. zur Bildung von Erwartungen bzw. Umbildung seines Möglichkeitsbereichs verwendet, entscheidet das System selbst.²² Die
Luhmann 1990: Wissenschaft, 45. Luhmann 20052: Geschlossenheit, 33. Ebd. Vgl. Luhmann 1990: Wissenschaft, 44. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 58.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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strukturelle Kopplung stellt einem autopoietischen System also Ereignisse zur Verfügung, überlässt deren Spezifizierung jedoch dem System. In diesem Sinne wird durch strukturelle Kopplung die Resonanz eines Systems aktiviert. Zugleich ist ein System durch strukturelle Kopplung immer schon an seine Umwelt angepasst – anders könnte es gar nicht operieren. So kann sich z. B. Kommunikation auf das gleichzeitige „Vorhandensein von Bewußtsein“ verlassen:²³ „Bewußtsein ist […] notwendige Umwelt für Kommunikation, so wie Kommunikation notwendige Umwelt für Bewußtsein.“²⁴ Dies schließt jedoch wechselseitige Irritationen gerade nicht aus, sondern ein. Das System wird für seine eigene Autopoiesis mit Irritationen versorgt. Insofern stellen strukturelle Kopplungen für ein System verdichtete Veränderungschancen – Luhmann spricht hier von „Lernchancen“²⁵ – zur Verfügung. Soziale und psychische Systeme irritieren und überraschen sich einander also kontinuierlich und halten sich dadurch gegenseitig am Laufen – dies wird v. a. in der Interaktion deutlich. Das Kommunikationssystem entwickelt sich mit Bezug auf das, was „im Bewußtsein als Wahrnehmung konstruiert wird“²⁶ – wobei im wechselseitigen Kopplungsgeschehen kommunikative und kulturelle Muster mit beeinflussen, „was und wie wahrgenommen wird“.²⁷ Dieses Verständnis der Störung eines Systems widerspricht der Auffassung, ein System kehre nach einer Störung in einen Gleichgewichtszustand zurück – so wie es z. B. von Modellen der Kybernetik erster Ordnung vertreten wird.²⁸ Vielmehr entspricht der systemtheoretische Begriff der Irritation „dem Übergang zu einer Theorie nichttrivialer Maschinen (Heinz von Foerster) und dem Übergang von struktureller zu dynamischer Stabilität“.²⁹ Dies führt in der seelsorglichen ebenso wie in der therapeutischen Praxis zu dem, was in der systemischen Therapie als „Therapeutendilemma“ (Ludewig) bezeichnet wird:³⁰ Geht man davon aus, dass die seelsorgliche – wie die therapeutische – Kommunikation darauf abzielt, das an der Kommunikation beteiligte Bewusstsein auf Heilung hin zu lenken bzw. in heilsamer Absicht Trost zu bezwecken,³¹ so steht sowohl der Therapeut als auch der Seelsorger vor der Schwierigkeit, entsprechend wirksam handeln zu sollen,
Vgl. a.a.O., 40. A.a.O., 44. A.a.O., 40. A.a.O., 41. Ebd. – Zur Wahrnehmung s. o. 3.2.1.3.1. Zur Kybernetik s.o. 1.1.2.2. Luhmann 1997: Gesellschaft, 792. Zur systemischen Therapie und Beratung s. o. 1.1.3.1. Zur Seelsorge „zum Zwecke des Trost untereinander“ s.o. 2.2.1.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
ohne seine Intervention kausal kontrollieren zu können. Denn bleibt man in der Terminologie von vonFoerster, sind autopoietische Systeme – wie soziale und psychische Systeme – eben keine trivialen Maschinen, die einen Input nach einer bestimmten Regel in einen Output transformieren, so dass das Resultat zuverlässig vorhersehbar wäre, sondern autopoietische Systeme funktionieren nach dem Muster nichttrivialer Maschinen. Doch da man im alltäglichen Umgang auf „die Zuverlässigkeit des Funktionierens der anderen angewiesen“³² ist, werden diese so behandelt, als ob diese triviale Maschinen wären, deren Verhalten berechenbar ist. V. a. im Erziehungssystem ist zu beobachten, dass Schüler als triviale Maschinen angesehen werden.³³ Schüler werden schulisch durch fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräche meist so konditioniert, dass sie auf bestimmte Fragen „richtige“ Antworten geben müssen. Ist die Antwort „falsch“ hat die Maschine einen Fehler. Doch „[i]n dem [Erziehungs]System ist nicht vorgesehen, dass der Schüler zum Beispiel die Frage infrage stellt oder kreative Auswege sucht, also die mathematische Formel auf ihre Ästhetik hin betrachtet, wie konkrete Poesie auf dem Blatt verteilt“,³⁴ d. h. in einem nahezu unbegrenzten Möglichkeitsraum andere Sinnlinien aktualisiert und mittels abduktiver Kreativität neue Deutemöglichkeiten erschließt. Diesen kreativen Umgang mit vermeintlichen „Wahrheiten“ bzw. der Unterscheidung richtig/falsch behält die Gesellschaft vornehmlich dem Funktionssystem der Kunst und in gewissem Sinne der Religion vor.³⁵ Theißen zeigt anhand der Jesusverkündigung, dass religiöser Kommunikation „semantisches Störungspotential“³⁶ – verstanden als ungewohnte Zuordnung von Signifikant und Signifikat – eignet. Religiöse und poetische Kommunikation provozieren bewusst semantische Störungen, „um die Wirklichkeit anders als bisher wahrzunehmen“³⁷ und evozieren auf diese Weise neue Einsichten und Haltungen. Der Gewinn einer im weitesten Sinne ästhetischen Perspektive liegt also darin, ungewöhnliche Sichtweisen abseits der Deutungsroutine anzubieten und die sinnhafte Enzyklopädie³⁸ nach möglichen Sinnlinien auszuloten. Dies ist auch für eine sich an einer im weitesten Sinne ästhetischen Perspektive orientierenden Seelsorge zu veranschlagen.
In nichttriviale Maschinen ist eine Art „selbstreferenzielle Schleife“³⁹ eingebaut, die sie vor dem Output auf ihren systemeigenen Zustand – d. h. auf den durch ihre
Luhmann 20063: Einführung, 99. Vgl. a.a.O., 97 f. A.a.O., 99. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 790. Theißen 1994: Zeichensprache, 20. A.a.O., 19. Der Ausdruck „sinnhafte Enzyklopädie“ geht auf die enzyklopädische Bestimmung des Universalmediums Sinn zurück; s. o. 3.2.2.1.1. Er bezeichnet den Möglichkeitsraum des kulturellen Wissens, innerhalb dessen sinnhafte Formen Wirklichkeit als aktuelle Möglichkeit konstruieren. Luhmann 20063: Einführung, 98.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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Struktur abgegrenzten Möglichkeitsbereich – zurückgreifen lässt. Dementsprechend gibt es keine feste Regel, mit der ein Input verarbeitet wird. Damit ist die Reaktion auf einen Input unberechenbar bzw. nur dann berechenbar, wenn der sich in ständiger Dynamik befindliche Zustand des Systems bekannt ist. Für die Kommunikation unter Anwesenden bedeutet das, dass sie als black-box-Interaktion, d. h. auf der Basis wechselseitiger Intransparenz bzw. doppelter Kontingenz⁴⁰ verläuft.Wird die Vorstellung eines direkten Eingriffs in ein operativ geschlossenes System obsolet, so geht es in der therapeutischen Praxis darum, durch „passende“ Methoden zu „verstören“ bzw. in der seelsorglichen Praxis darum, durch entsprechend christlich codierte Formen zu unterbrechen. Irritationen zielen darauf, den Möglichkeitsbereich zu erweitern, Komplexität zu erzeugen und solche Deuteschemata zur Reduktion von Komplexität anzubieten, dass andere Konstrukte von Wirklichkeit gewonnen werden, die als neue Sichtweisen neuen Handlungsspielraum eröffnen. In den Möglichkeitsbereich der sinnhaften Enzyklopädie werden verschiedene Deutepfade eingeprägt, der Horizont der Möglichkeiten erweitert.⁴¹ Gemäß dem „ethischen Imperativ“ des systemischen Denkens⁴² wird Ambiguität erzeugt und taktisch so gehandelt, dass die Anzahl der Möglichkeiten vergrößert werden und neue (Deutungs‐)Spielräume entstehen. Dabei führt das Sinngeschehen die Möglichkeit zum Aufbrechen ideologischer Deutungsmuster bereits mit.⁴³ Denn jede interaktionelle Sinnlinie performiert sich schon immer im Horizont des Verweisungsüberschusses. Die Sinnsysteme Kommunikation und Bewusstsein operieren im Wechselspiel zwischen „Überschußerzeugung und Selektion“.⁴⁴ Das heißt, jede Operation – sei es eine Kommunikation, eine Wahrnehmung oder ein Gedanke – reduziert dadurch, dass sie etwas Bestimmtes aktualisiert und etwas anderes nicht, den Bereich der Anschlussmöglichkeiten, hält aber, da sie es in der Form von Sinn tut, ein weites Spektrum möglicher Anschlusskommunikationen offen – eingeschlossen der Möglichkeit, die mitgeteilte Information zu negieren.⁴⁵ Als andere Seite der aktualisierten Operation werden die nicht aktualisierten Möglichkeiten als Potentialität mitgeführt. Eine Irritation regt das System zum crossing von der aktualisierten Seite zu den mitgeführten potentiellen Möglichkeiten an. Sie reizt das System, Unerwar-
Zur doppelten Kontingenz s.o. 3.2.1.3.2. Zum enzyklopädischen Sinn als Möglichkeitsraum der Wirklichkeitskonstruktion s. o. 3.2.2.1.1. Vgl. vonFoerster 19982: Abbau, 51: „Handle stets so, daß Du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst!“ S.o. 3.2.2.1.1. Vgl. Luhmann 1990: Wissenschaft, 49. Vgl. Luhmann 20052: Bewußtsein, 41.
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tetes zu aktualisieren, potentielle Anschlussmöglichkeiten zu erproben und auf diese Weise nicht nur die aktuelle Sinnlinie in einer überraschenden Richtung weiterzuführen, sondern Überrraschendes auch als Information in die eigene Struktur zu transformieren, so dass die entdeckte Möglichkeit unter anderen Umständen – z. B. in einem anderen frame als dem der „Seelsorge“ – wiederholt werden kann. So stellt sich jede konkrete Sinnlinie als eine Möglichkeit neben anderen dar. Sie ist kontingent und könnte auch ganz anders aktualisiert werden. Das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen zielt also darauf, einen anderen als den erwarteten „Lesepfad“ in die nahezu unbegrenzte, rhizomartig verzweigte Enzyklopädie einzuprägen und auf diese Weise zur Umbildung von Systemstrukturen bzw. zur Umbildung von Wirklichkeitskonstruktionen anzuregen. Insofern kann der „ethische Imperativ“ des systemischen Denkens (vonFoerster) systemtheoretisch präzisiert werden: Handle stets so, dass die aktualisierte Sinnlinie in ihrer Kontingenz deutlich und ihr sinnhafter Verweisungsüberschuss als neue Deutemöglichkeit zur Bildung von Wirklichkeit zugänglich wird! Lässt sich Kommunikation nur durch Bewusstsein irritieren, und ist Bewusstsein in erster Linie wahrnehmendes Bewusstsein,⁴⁶ das seine selbsterzeugten Wahrnehmungen über Kopplungen kommunikativ zugänglich machen kann, so eignet auch und gerade den leib-räumlichen Formen der Kommunikationsumgebung (Umwelt) Irritationspotential. Dies wird besonders hinsichtlich der seelsorglichen Interaktion relevant, die sich im Kommunikationsraum der reflexiven Wahrnehmung als enges, strukturelles Kopplungsgeschehen von Kommunikations- und Bewusstseinsprozessen und damit im fortlaufenden Zusammenspiel der wechselseitigen Irritation vollzieht. Das interaktionelle Sinngeschehen performiert sich unter Bezug auf sinnenhafte Formen. Als religiöser, näherhin als christlicher Kommunikation muss der Seelsorge daran liegen, zu einer im weitesten Sinne christlichen Sicht auf Welt und einer dementsprechenden (Um‐)Bildung von Wirklichkeit anzuregen. Dies geschieht durch das Einspielen christlich codierter Formen in die Kommunikation. Das Evangelium kann die Kommunikation nur dann irritieren, wenn es als konkrete Form inszeniert wird, die von jemandem wahrgenommen und im Idealfall als gute Nachricht verstanden, also rezipiert wird. Das Verstören der Struktur einer Sinnlinie, das Unterbrechen der Deutungsroutine birgt für die gekoppelten Systeme Irriationspotential: „Jede Änderung
Zu dieser Theorieentscheidung s. o. 3.2.1.3.Vgl. auch Luhmann 1997: Gesellschaft, 113: „Anders als Bewußtseinssysteme, die sinnlich wahrnehmen können, ist die Kommunikation nur durch Bewußtsein affizierbar. Alles, was von außen, ohne Kommunikation zu sein, auf die Gesellschaft [d. h. auf die Kommunikation; L.K.] einwirkt, muß daher den Doppelfilter des Bewußtseins und der Kommunikationsmöglichkeit passiert haben.“
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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eines Systems ist Änderung der Umwelt anderer Systeme; jeder Komplexitätszuwachs an einer Stelle vergrößert die Komplexität der Umwelt für alle anderen Systeme“.⁴⁷ Mit Eco formuliert gleicht das interaktionelle Kommunikationsgeschehen dem dynamischen Gleichgewicht eines Schachbretts: „[Ä]ndert man ein Kontextelement, so verlieren die übrigen ihre vorige Funktion und übernehmen gewöhnlich eine andere“.⁴⁸ In diesem dynamischen Sinngeschehen, das als komplexes Zusammenspiel von psychischen und kommunikativen Sinnlinien sowie der sachlichen, zeitlichen und sozialen Sinndimensionen beschrieben werden kann,⁴⁹ irritiert jede Veränderung einer Komponente des Sinngeschehens die interaktionelle Sinnlinie und damit die Bildung von Wirklichkeit. Stellt die strukturelle Kopplung beiden autopoietischen Systemen verdichtete Veränderungschancen zur Verfügung, so reizen strukturelle Änderungen der Kommunikation auch die psychischen Systeme zur Selbstirritation. Im Bewusstsein werden die im Seelsorgegeschehen angebotenen kommunikativen (Deutungs‐)Muster mit den strukturierten Erwartungen abgeglichen und gegebenenfalls in die Struktur transformiert, so dass sie auch außerhalb der seelsorglichen Kommunikationsumgebung zur Verfügung stehen. Insofern bietet die Seelsorge einen Kommunikationsraum, in dem mögliche Umdeutungen und verschiedene Deutepfade der sinnhaften Enzyklopädie erprobt werden können. Folgt man Luhmann, so ist es in Bezug auf das Gesellschaftssystem v. a. Aufgabe der Kunst, Irritation als admiratio – verstanden als Zusammenfassung von Verwunderung und Bewunderung – zu erzeugen.⁵⁰ Irritationspotential eignet der „Ausnahme“, dem „‚Neuen‘ als Abweichung von erwarteter Kontinuität und Wiederholung“.⁵¹ Und so liegt es nahe, dass sich gerade die Ecoschen Überlegungen zur ästhetischen Botschaft bzw. zum ästhetischen Text an den systemtheoretischen Begriff der Irritation anschlussfähig zeigen.⁵² Die ästhetische Botschaft führt insofern in die „kreative Dimension jedes semiotischen Systems“⁵³
Luhmann 1984: Soziale Systeme, 243. Eco 19912: Semiotik, 361; Hervorhebung im Original. S.o. 3.2.2.1.2. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 789 f. A.a.O., 790. Zum ästhetischen Text bzw. zur ästhetischen Botschaft vgl. v. a. Eco 19948: Einführung, 145 ff; ders. 19912: Semiotik, 347 ff. Auf die genannten Publikationen wird im Folgenden Bezug genommen. – Zwar hat Eco bei der semiotischen Analyse der ästhetischen Botschaft zunächst die Textsemiotik im Blick, die Untersuchung kann jedoch auf jeden irritierenden Signifikationsprozess verallgemeinert werden. Eco (19948: Einführung, 332 ff) selbst erhellt z. B. die ästhetische Dimension der Architektur. Eco 19948: Einführung, 144.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
ein, als sie kulturelle Einheiten der sinnhaften Enzyklopädie auf ungewöhnliche Art kombiniert und damit bestehenden Codes verletzt und „radikal“ verändert.⁵⁴ Codes werden hierbei – wie im Folgenden – als strukturierende Interpretationsmuster verstanden, die mögliche Deutepfade im rhizomatischen Netz der sinnhaften Enzyklopädie einprägen. Die vorliegende Untersuchung interpretiert den Terminus des Codes im weitesten Sinne von der kulturellen Enzyklopädie her und orientiert sich damit an Ecos revidiertem bzw. relativiertem Code-Begriff. Definiert Eco in „Einführung in die Semiotik“ den Code noch „als einen Komplex von semantischer Übereinkünfte und Kombinationsregeln“,⁵⁵ so schließt er sich später in gewissem Sinne Barthes an, der den Code als „Gesamtheit der enzyklopädischen Kompetenz“⁵⁶ versteht. „Es ist die Enzyklopädie und deshalb die Regel, aber als Labyrinth.“⁵⁷ Weiterhin präzisiert Eco: „Ein Code ist nicht nur eine Regel, die schließt, sondern auch eine Regel, die öffnet. Er sagt nicht nur ‚du mußt‘, er sagt auch ‚du kannst‘ oder ‚es wäre auch möglich, jenes zu tun‘. Wenn er eine Matrix ist, so ist er eine Matrix, die unendliche Vorkommnisse möglich macht, von denen einige noch nicht einmal vorhersagbar sind, er ist Quelle eines Spiels.“⁵⁸ Hierbei ist es nach Eco „möglich, an eine offene Matrix zu denken, an eine unbegrenzte Regel, ohne daß man annehmen muß, sie könne nicht kulturell erzeugt sein.“⁵⁹ Insofern kann behauptet werden, dass ein Code als labyrinthische, dynamische Regel die Verknüpfung von kulturellen Einheiten im Netz der Enzyklopädie zu möglichen Deutepfaden fixiert und das Spiel der Möglichkeiten in der sinnhaften Enzyklopädie evoziert.
Ecos semiotische Aussagen⁶⁰ können systemtheoretisch abgeglichen werden: Eine Botschaft mit ästhetischer Funktion kann dem irritierten System – z. B. einem psychischen System oder vereinfacht ausgedrückt: dem Seelsorgepartner – einerseits „als äußerst informativ“ erscheinen, da sie auf multiple, darunter auch auf bisher nicht bekannte Deutemöglichkeiten verweist, andererseits kann sie auf ein „bloßes Geräusch“, auf ein „Rauschen“⁶¹ reduziert werden. Letzteres ist dann der Fall, wenn sich das System gegenüber einer „Störung“ nicht resonanzfähig zeigt, also davon ausgeht, dass die Irritation ein einmaliges Ereignis bleibt und aus ihm keine Information generiert. Eine „produktive Ambiguität“ – im vorliegenden
Vgl. a.a.O., 143. Klie 2003: Zeichen, 195. – Zur Modifikation der Code-Theorie bis hin zu ihrer Relativierung vgl. a.a.O., 195 ff und 204 ff. Eco 1985: Semiotik, 275. Ebd. Ebd.; Hervorhebungen im Original. A.a.O., 276. Vgl. Eco 19948: Einführung, 146; die folgenden Zitate beziehen sich auf die angegebene Stelle. Eco 19967: Kunstwerk, 178.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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Zusammenhang verstanden als Mehrdeutigkeit⁶² – hingegen ist die, welche „Aufmerksamkeit erregt“, also in dem Sinne irritiert, dass sie als Information die Resonanzfähigkeit des Systems anregt. Diese spornt zu einer „Interpretationsanstrengung“ an, die „eine viel besser abgemessene Ordnung finden läßt, als es die Ordnung ist, die in redundanten Botschaften herrscht“⁶³ – oder systemtheoretisch reformuliert: Eine ästhetische Botschaft, die von einer Deutungsinstanz als informative Irritation verstanden wird, reizt zu einer anderen, auch möglichen Sicht auf Wirklichkeit, die die systeminternen Strukturen bzw. die durch die Struktur „geordneten“ Erwartungen modifiziert. Diese Umbildung von Wirklichkeit führt insofern zu einer „besseren Ordnung“ bzw. Struktur, als sie den der Interpretation zugrunde gelegten Code bereichert und damit ganz im Sinne des „ethischen Imperativs“ des systemischen Denkens (vonFoerster) mehr Deutungsoptionen eröffnet als die vorherige „Ordnung“. Eco konstatiert: „Die Botschaft mit ästhetischer Funktion ist vor allem in Bezug auf das Erwartungssystem, das der Code darstellt, zweideutig strukturiert.“⁶⁴ Das kann weiter präzisiert werden: Die ästhetische Kommunikation verweist vor dem Hintergrund strukturierter Erwartungen auf multiple Deutungspfade der sinnhaften Enzyklopädie und zeigt zugleich deren Kontingenz auf. Die ästhetische Botschaft initiiert etwas, das „überrascht, etwas, was über unsere Erwartungen hinausgeht und […] der gewöhnlichen Meinung entgegengesetzt[ ] ist“⁶⁵. Die ästhetische Dimension einer Botschaft liegt in ihrem Potential, ideologisierte Interpretationsschemata aufzubrechen sowie Deutungsroutine in Frage zu stellen. Sobald eine ästhetisch ausgelegte Seelsorge das interpretatorische Spiel auslöst, veranlasst sie, „den Code und seine Möglichkeiten neu zu bedenken“.⁶⁶ Indem ästhetische Kommunikation den Code erschüttert, zeigt sie „unvermutete Möglichkeiten“ in ihm auf, „indem [sie] ihn verletzt, vervollständigt [sie] ihn und gestaltet ihn um“,⁶⁷ so dass sich die Haltung der Deutungsinstanz gegenüber dem Code und damit gegenüber der von ihm hervorgebrachten Wirklichkeitskonstruktion verändert. Ähnlich der Aktualisierung eines frames, der in einer konkreten Situation durch das Auffüllen von „Leerstellen“ in actu „vervollständigt“ In „Einführung in die Semiotik“ spricht Eco von der „Zweideutigkeit“ der ästhetischen Botschaft. In seinem semiotischen Hauptwerk (19912: Semiotik) ersetzt Eco den Terminus durch „Mehrdeutigkeit“. – Es ist Engemanns Verdienst, mit seiner „Semiotischen Homiletik“ (1993; dort 153 ff) den Begriff der Ambiguität als Mehrdeutigkeit in die Praktische Theologie einzuführen; s. o. 1.2.2.2. Eco 19948: Einführung, 146. Ebd. Ebd. A.a.O., 163; im Original hervorgehoben. Vgl. ebd.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
wird,⁶⁸ fordert die ästhetische Kommunikation „eine verantwortungsvolle Mitarbeit“ des Empfängers.⁶⁹ Dieser muss „semantische Lücken“ füllen, um die – analog zu einem frame – angebotenen Möglichkeiten zu disambiguieren und seine „eigenen Interpretationspfade zu wählen“.⁷⁰ „So wird der ästhetische Text zu einer Quelle unvorhergesehener ‚Sprechakte‘, deren wirklicher Autor unbestimmt bleibt, da es manchmal der Sender und manchmal der Empfänger der Botschaft sein kann, der bei ihrer semiosischen Entfaltung mitarbeitet“.⁷¹ Systemtheoretisch betrachtet, handelt es sich dabei um die Einsicht, dass Kommunikation und die kommunikativ hervorgebrachten Wirklichkeitskonstruktionen nicht an irgendein „Subjekt“ – wie z. B. an die an der Kommunikation beteiligten Bewusstseine oder gar Menschen – gebunden ist, sondern sich autopoietisch prozessiert und reproduziert. Da nun die „Vervollständigung“ eines Codes ähnlich wie die eines frames zugleich seine Modifikation bedeutet, handelt es sich bei der durch eine ästhetische Botschaft initiierten Kommunikation um einen innovativen Prozess, der sich auf Wiederholungen stützt. Insofern verortet sich eine ästhetische Botschaft in der Dialektik zwischen Innovation und Konvention, zwischen Information und Redundanz. Zum einen bricht in der ästhetischen Botschaft etwas auf, das nicht den Erwartungen entspricht, zum anderen muss sich jedes informative Aufbrechen auf „Redundanzstreifen“⁷², „auf Verweise auf die schon vorhandenen Codes“⁷³ stützen, um überhaupt irritieren zu können. Ist ein Ereignis also nicht mit bereits bekannten Deutungsmustern kompatibel, d. h. stammt es nicht aus dem systemeigenen Möglichkeitsbereich, hat es für das System keine weitere Relevanz – es sei denn eine destruktive. Denn steuern Strukturen die Operationen eines Systems und damit auch dessen Fähigkeit, Welt zu beobachten und Wirklichkeit zu konstruieren, müssen Ereignisse, die als Irritation verstanden werden und als Information die Struktur modifizieren, in gewisser Weise mit der Struktur kompatibel sein, um von dem System überhaupt beobachtet und als innovativ wahrgenommen werden zu können.⁷⁴ Daher kann es keine „radikalen Erfindungen“ geben,⁷⁵ – mit anderen S.o. 3.2.2.1.2. Vgl. Eco 19912: Semiotik, 367. Vgl. ebd. Eco a.a.O., 368; Hervorhebung im Original. Eco 19948: Einführung, 147 A.a.O., 337 Anm. 13; im Original hervorgehoben. Luhmann (20063: Einführung, 99) verdeutlicht die Notwendigkeit der Wiederholung anhand der „Verstehensfähigkeit […] im Bereich des Kunsterlebens“: „Wir müssen 90 % der ästhetischen Reize schon kennen, um von 10 % überrascht zu sein.Vieles muss so funktionieren, wie es immer funktioniert hat, damit man im Kontrast dazu einiges sieht, was innovativ ist“. Vgl. Eco 19912: Semiotik, 338.
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Worten: Eine von einer ästhetischen Kommunikation initiierte „Semiose entsteht niemals ex novo und ex nihilo“.⁷⁶ Auch der „Bruch“ in der seelsorglichen Interaktion kann nicht radikal sein. Eingespielte christliche Deutungsformen, die eine „neue“ Sichtweise anbieten, müssen sich, um überhaupt „verstören“ zu können, auf bereits vorhandene Interpretationsmuster stützen. Von Seiten des Seelsorgers ist orthotomische Kompetenz⁷⁷ gefragt. Dem Wechselspiel von Redundanz und Information korrespondiert die Dialektik von interpretatorischer Treue und interpretatorischer Freiheit.⁷⁸ Hierbei wird die Freiheit der Interpretation, also der grundsätzlich offene Prozess der Semiose, durch die jeweilige konkrete Situation begrenzt. Die Kommunikationsumgebung legt bestimmte Interpretationen als sinnvoll⁷⁹ nahe, während sie andere als weniger sinnvoll ausschließt und auf diese Weise einen Möglichkeitsraum der Interpretation absteckt.⁸⁰ Das multidimensionale Sinngeschehen der Interaktion erzeugt einen „kontextuellen Druck“⁸¹, der insofern zur interpretatorischen Treue anhält, als „Signifikanten […] nur aus der kontextuellen Wechselwirkung passende Signifikate [bekommen]“.⁸² Im Kontext werden sie mit immer neuen Ambiguitäten belebt und erscheinen noch reicher an anderen Möglichkeiten. Bezogen auf christliche Kommunikation ist dies z. B. unmittelbar an einem Bibelvers einsichtig, dem in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen beigelegt werden – zugesprochen am Krankenbett, als Konfirmationsspruch, als Spruch auf einer Geburtstagskarte, als ein das Leben gleichsam überschreibender Leitspruch in einer Traueransprache oder im Zusammenhang einer Predigtperikope. Diese – wie Eco sie bezeichnet – „Kontextsolidarität“⁸³ ähnelt dem bereits erwähnten dynamischen Gleichgewicht einer Schachpartie: „Wenn ich ein Element des Kontextes verändere, verlieren auch die anderen ihr Gewicht.“⁸⁴
Ebd.; Kursivierungen im Original. Zur Modifikation des klassischen Orthotomie-Konzepts aus semiotisch-pragmatischer Perspektive vgl. Klie 2003: Zeichen, 382 ff. Die „Dialektik zwischen interpretatorischer Treue und interpretatorischer Freiheit“ (Eco 19948: Einführung, 165 f) bzw. „Form und Offenheit“ untersucht Eco in 19967: Kunstwerk. Zu den „Grenzen der Interpretation“ vgl. den gleichnamigen Band (ders. 1995: Grenzen). Zur Unterscheidung von „sinnhaft“ und „sinnvoll“ s.o. 3.2.2.1.1. Zur Relevanz der Kommunikationsumgebung, insbesondere in der Interaktion s. o. 3.2.1.3.2 und 3.2.2.1.2. Eco 19912: Semiotik, 361. Eco 19948: Einführung, 147; Hervorhebung im Original. Eco 19912: Semiotik, 361. Eco 19948: Einführung, 147.
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In diesem Zusammenhang wird überdies deutlich, dass das, was eindimensional als ästhetische „Botschaft“ analysiert wird, sich im Kommunikationsgeschehen als multidimensionaler „Text“ präsentiert.⁸⁵ Das interaktionelle Sinngeschehen besteht aus einem regelrechten „Netzwerk von Botschaften“, in dem verschiedene Codes ineinander verschlungen sind, und gleicht damit einer Partitur: „[Z]um Beispiel ist eine verbale Botschaft immer mit paralinguistischen, kinesischen oder proxemischen Elementen verbunden“.⁸⁶ In diesem Sinne kann Eco behaupten, dass die Botschaft „eine Matrix von Zwängen [bildet], die optionale Resultate erlauben“,⁸⁷ d. h. die den Möglichkeitsraum der Interpretation abstecken. Die ästhetische wird zu einer multidimensionalen Erfahrung. Wie Eco treffend bemerkt, „geschieht etwas anderes“, wenn man einen Renaissance-Palast „direkt betrachtet“ und ihn be-greift, indem man ihn begeht, aus verschiedenen Blickwinkeln erfasst und die Steine, aus denen er gebaut ist, anfässt, als wenn man sich ein Foto von ihm ansieht.⁸⁸ Ebenso wie „etwas anderes geschieht“, bzw. auf andere Kommunikationsmedien zurückgegriffen wird,⁸⁹ wenn man einen Gottesdienst im Kirchenraum feiert, als wenn man sich auf dem häuslichen Sofa einen Fernsehgottesdienst ansieht. Oder wie die Erfahrung bei einer seelsorglichen Begegnung unter Anwesenden eine andere ist als bei der Brief- oder Mail-Seelsorge. Diese Beispiele machen deutlich, dass in der ästhetischen Kommunikation bzw. in der ästhetisch verstandenen Kommunikation Inhalt und Form nicht voneinander zu trennen sind,⁹⁰ dass Kommunikation an konkrete leib-räumliche Formen gebunden ist: „Die Materie, aus der die Signifikanten gemacht sind, erscheint nicht willkürlich in Bezug auf die Bedeutungen [Signifikate; L.K.] und die kontextuelle Beziehung der Signifikanten“.⁹¹ Nun ist es bei einem Kunstwerk unmittelbar einsichtig, dass Ausdruck und Inhalt untrennbar sind,⁹² dass die „Ausdruckssubstanz“⁹³ nur als konkrete Gestalt zugänglich ist. Dies gilt nicht nur für künstlerische, sondern allgemein für alle Kommunikationsprozesse – und damit auch für das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen. So kann z. B. nach Vgl. Eco 19912: Semiotik, 199. Ebd. Ebd. Vgl. a.a.O., 352 f. Zum Unterschied von interaktioneller Kommunikation und Kommunikation, die sich nicht unter der Bedingung von Anwesenheit ereignet s.o. 2.2.2 und 3.2.1; zu verschiedenen Kommunikationsmedien s.u. 4.1. Zum ästhetischen Paradigma der Praktischen Theologie s.o. 3.2.1.3. Eco 19948: Einführung, 148; Hervorhebung im Original. Vgl. Eco 1985: Semiotik, 210. Eco 19948: Einführung, 148.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
429
den Regeln der Alltagssprache ein Wort auf vielerlei Art ausgesprochen werden, indem etwa die Klangfarbe oder Betonung verändert wird.⁹⁴ Ähnliches ist für solch multidimensionale scripts ⁹⁵ wie die Feier des Abendmahls zu veranschlagen. Auch hier ist mit Bedeutungsverschiebungen zu rechnen, wenn das eine Mal im Rahmen eines Gemeindegottesdienstes am Sonntagvormittag und ein anderes Mal im Altenpflegheim mit dementen Menschen oder am Krankenbett Brot und Wein bzw. Saft miteinander geteilt werden –, obwohl ähnlich dem ausgesprochen Wort das script „Abendmahl“ unverändert bleibt. Das heißt, für den in der Seelsorge initiierten Signifikationsprozess ist es von Bedeutung, in welcher konkreten Form ein christlich codierter Signifikant eingespielt wird. Es macht einen Unterschied, ob z. B. ein Bibelvers in Form einer am Ende des Gesprächs überreichten Bildkarte, auf der auch die Kontaktdaten des Seelsorgers vermerkt sind, ins Spiel gebracht wird, ob er in Verbindung mit einer Segensgeste auswendig zugesprochen, mit Blick ins Evangelische Pastorale⁹⁶ vorgelesen wird oder ob von ihm in einem Kasusalgespräch als Taufspruch die Rede ist. In faktischer Hinsicht kann behauptet werden, dass eine Botschaft „verschiedene Realitätsebenen ins Spiel“⁹⁷ bringt, die im Kommunikationsgeschehen zu einem multidimensionalen Sinngeschehen zusammenspielen. In taktischer Hinsicht geht es darum, das Evangelium im seelsorglichen Kontext zu inszenieren,⁹⁸ d. h. es orthotomisch geschickt in konkreter Form zu präsentieren, um performativ einen entsprechenden Rezeptionsrahmen zu schaffen. Dabei wird die Kommunikationsumgebung, die „Gegenwart der ‚materiellen Realität‘“, zum „unumgängliche[n] Rahmen jeder Kommunikationsbeziehung“, indem sie die Kommunikationsprozesse moduliert.⁹⁹ Die konkrete Situation als Kontext der Interaktion bzw. als Kommunikationsumgebung befindet sich im permanenten Wechselspiel mit dem Kommunikationsgeschehen: Während die Situation „ständig in ein Universum der Codierung übersetzt wird“, trägt die Kommunikation gleichzeitig zur Veränderung der Situation bei.¹⁰⁰ Folglich kann „die Situation zu einem intentionalen Element der Kommunikation“ werden.¹⁰¹
Vgl. Eco 19912: Semiotik, 354. Zu Sprechcodes s.u. 4.1. Unter script wird eine „typische Abfolge von Ereignissen“ verstanden; vgl. Müske 1992: Diskurssemiotik, 124. Neues Evangelisches Pastorale 20073. Eco 19948: Einführung, 148; Hervorhebung im Original. Zur „Inszenierung des Evangeliums“ (Meyer-Blanck) in der Seelsorge s.o. 2.2.1 und s.u. Kapitel 4. Vgl. Eco 19912: Semiotik, 200 f Anm. 27. Vgl. a.a.O., 201 Anm. 27. Vgl. ebd.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Stecken leib-räumliche Formen als Kommunikationsumgebung den Möglichkeitsbereich der Interpretation ab und rahmen auf diese Weise disambiguierende Vorgänge, so bedeutet dies, dass anstatt die Botschaft zu verändern, ihr Inhalt auch durch „Einwirkung auf die Situation“ verändert werden kann, in der die Botschaft rezipiert wird.¹⁰² Systemtheoretisch formuliert: Eine Veränderung der die Kommunikationsumgebung konstituierenden leib-räumlichen Formen kann über die strukturelle Kopplung das Kommunikationsgeschehen irritieren. Eco spricht hier auch von einer „Taktik der Decodierung […], bei der die Botschaft als Ausdrucksform sich nicht ändert, aber der Empfänger seine Freiheit bei der Decodierung [und damit potentielle Deutepfade der sinnhaften Enzyklopädie; L.K.] entdeckt.“¹⁰³ Dies erinnert an die systemtherapeutische Methode des Reframings. Denn beim Reframing geht es gerade darum, „etwas“ in einen anderen Kontext (frame) zu stellen und so dessen Bedeutung zu ändern. Evoziert wird die Aktualisierung einer anderen, überraschenden „Sinnlinie“, die etwas „Neues“ zum Vorschein bringt und so die „interpretatorische Freiheit“ entdecken lässt. Da Umcodierungen bzw. Umstrukturierungen über die konkrete Irritation hinaus auf die grundsätzliche interpretatorische Freiheit der sinnhaften Enzyklopädie und damit auf die Kontingenz eines jeden Deutungspfades verweisen, können sie den „Eindruck der ‚Kosmizität‘“¹⁰⁴ erwecken. Der ästhetischen CodeVeränderung eignet das Potential, eine neue Weltsicht zu erzeugen. „Sobald das Spiel der miteinander verschlungenen Interpretationen beginnt, zwingt […] der Text zu einer Neubetrachtung der gängigen Codes [Deuteschemata; L.K.] und ihrer Möglichkeiten.“¹⁰⁵ In der ästhetischen Kommunikation erschließen sich neue semiosische Wege, die dazu „zwingen“, „das ganze Erbe dessen, was gesagt worden ist, gesagt werden kann und gesagt werden könnte oder sollte [also: die die Komplexität der sinnhaften Enzyklopädie reduzierenden Deuteschemata und damit die aktualisierte Weltsicht; L.K.], neu zu überdenken“.¹⁰⁶ Damit stellt eine ästhetische Umcodierung nicht nur die aktuelle Wirklichkeitskonstruktion in Frage, sondern legt darüber hinaus die Einsicht nahe, dass die sinnhafte Enzyklopädie auch ganz andere Weltbilder ermöglicht – oder in den Worten Ecos –, „daß das semantische System auch anders aufgebaut sein könnte, wenn seine gegenwärtige Organisation nur genügend oft […] in Frage gestellt worden wäre.“¹⁰⁷
Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 202 Anm. 27; Hervorhebungen im Original. Vgl. Eco 19948: Einführung, 163 – in Bezug auf Croce; vgl. auch ders. 19912: Semiotik, 364. Eco 19912: Semiotik, 365. Ebd; Hervorhebung L.K. Ebd.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
431
Und weiter: „Semantische Systeme zu verändern, bedeutet aber, die Art zu ändern, in der die Kultur die Welt ‚sieht‘“.¹⁰⁸ Verweist ein ästhetischer Text auf die Kontingenz der aktuellen „Organisation“ der Enzyklopädie, so schließt das auch zu Wahrheiten erstarrte Deutungsmuster ein. Das, was aktuell als wahr angenommen wird, kann dann weder „die beste noch die endgültige“¹⁰⁹ Möglichkeit sein: „Die Welt könnte auch mittels anderer semantischer […] Modelle [also als Selektionsmuster fungierender Deuteschemata; L.K.] definiert und strukturiert (und deshalb wahrgenommen und erkannt) werden.“¹¹⁰ Konkret erfahrbar ist dieses „epistemologische Prinzip“¹¹¹ z. B. beim Lesen eines Gedichts, beim Sehen eines Theaterstückes – und beim Hören einer Predigt, Feiern eines Gottesdienstes oder beim Beten eines Psalms in einer seelsorglichen Begegnung, wenn man erahnt, „daß möglicherweise die ‚Dinge‘ nicht ganz so sind, wie wir sie gewöhnlich sehen.“¹¹² In dem Kommunikationsgeschehen mit ästhetischer Dimension bricht etwas Neues auf, das den Rezipienten – und sei es nur für einen Moment – zur Umbildung von Wirklichkeit und zu einer neuen Sicht auf Welt reizt. In der ästhetischen Kommunikation zeigt sich nicht nur die Sinnhaftigkeit der kulturellen Enzyklopädie, sondern sie regt auch dazu an, deren kreative Flexibilität zu entdecken. Hierzu bewegt sich die ästhetische Kommunikation im Sinne der prinzipiell infiniten Semiose in der rhizomatischen Enzyklopädie, verfremdet, indem sie im kulturellen Universum Wege beschreitet, die kulturelle Einheiten und auch scheinbar unzusammenhängende Punkte auf ungewohnte Weise miteinander verbinden, und stellt so konventionelle, d. h. oft beschrittene und auch die zum Teil widerstandfähigsten Deutepfade einer Kultur in Frage. Hierbei gilt: Je schneller diese Verknüpfungen hergestellt werden, desto überraschender und intuitiver erscheinen sie einem Beobachter. Dies wird z. B. am Phänomen des Scherzes deutlich: Entstanden im Netzwerk sinnhafter Möglichkeiten, bietet er eine Interpretationsweise, die „eine Diskussion über ganze Bereiche anerkannte Werte auslösen“¹¹³ kann. In diesem Zusammenhang können auch die poimenischen Überlegungen zum „Humor in der Seelsorge“ – so der Titel eines Bandes von Bukowski¹¹⁴ – verstanden werden. Entgegen der Tendenz, das Problematische und Schwere, also den vermeintlichen
Ebd; Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd. A.a.O., 366. Ebd., 366. A.a.O., 382. – Eco beleuchtet dies im Zusammenhang der rhetorischen Substitution; vgl. a.a.O., 377 ff. Bukowski 2001: Humor.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Ernst eines „tief gehenden“ Seelsorgegesprächs zu betonen, steht die Einsicht, dass Humor durch Komisches und Überraschendes neue Frei- und Spielräume eröffnen kann. Dies geschieht z. B. – wie Finzer beschreibt¹¹⁵ – dadurch, dass Humor und Ironie Distanz zu sich selbst und zur Welt schaffen, d. h. Wirklichkeitskonstruktionen relativieren. Bukowski, der zum Humor in der Seelsorge animieren möchte, hält fest, dass ein humorvoller Blick auf „Probleme“ – wie etwa „eine witzige Bemerkung“ oder „eine lustige Geschichte“ – „eine verblüffend neue Sichtweise“ eröffnen sowie „erstarrte Sicht- oder Verhaltensweisen“ durchbrechen kann.¹¹⁶ Und Pfandl-Waidgasser plädiert am Beispiel der Krankenhaus-Seelsorge für einen clownesken Zug der seelsorglichen Kommunikation, der ein „produktives ‚Kippen‘ mancher bedrohlichen, belastenden oder beschämenden Situation“ ermöglicht.¹¹⁷ Die Metapher lotet auf ganz ähnliche Weise die Möglichkeiten des kulturellen Universums aus:¹¹⁸ Hervorgebracht wird sie aufgrund eines „reichen kulturellen Rahmens“, d. h. auf der Grundlage einer durch verschiedene Deuteschemata strukturierten sinnhaften Enzyklopädie, der in ihrer rhizomartigen Verzweigung das Potential eignet, sich in einer konkreten (seelsorglichen) Situation durch „metaphorische Produktion und Interpretation“ – allgemeiner formuliert: durch ästhetische Kommunikation – „in neue Knoten von Ähnlichkeiten und Unterschieden neu zu strukturieren“.¹¹⁹ Dies birgt die Möglichkeit neuer Entdeckungen – auch von bereits Bekanntem, das auf ungewohnte Weise wie z. B. in einem anderen Kontext (Reframing) präsentiert werden kann. Ästhetische Kommunikation schafft auf der Basis eines im Möglichkeitsraum der sinnhaften Enzyklopädie gebildeten semiotischen Netzes neue „Netze semiosischer Beziehungen“,¹²⁰ in welchen visuelle, taktile, olfaktorische, akustische und gustatorische Wahrnehmungen zusammenspielen. Als ästhetische Kommunikation zeigt die Metapher die multiplen Deutungspfade der sinnhaften Enzyklopädie auf. In diesem Sinne kann auch Ecos Behauptung, dass die „Metapher das Werkzeug [ist], das es uns erlaubt, die Enzyklopädie zu verstehen“¹²¹, aufgefasst werden.
Als Einheit von Inhalt und Form stellt die ästhetische Botschaft gewohnte Deuteschemata in Frage, wobei jede Code-Verletzung einer „allgemeinen Abweichungsmatrix“¹²², d. h. einer der ästhetischen Kommunikation eigenen Struktur, folgt: „Alle Ebenen der Botschaft verletzen die Norm nach derselben Regel. Diese
Finzer 1997: Humor. Vgl. Bukowski 2001: Humor, 9. Pfandl-Waidgasser 2011: Spielerischer Ernst; Zitat Klappentext. Zum Folgenden vgl. Eco 1985: Semiotik, 133 ff; dort v. a. 189 ff. Vgl. a.a.O., 189. A.a.O., 191. Ebd. Eco 19912: Semiotik, 361.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
433
Regel, dieser Code des Werks, ist von Rechts wegen ein Idiolekt“,¹²³ ein „privater Code“.¹²⁴ Der ästhetische Idiolekt bestimmt nicht nur eine Botschaft, sondern er ist ein Code, ein „strukturale[s] Schema“¹²⁵, das die verschiedenen Botschaften, aus denen sich das komplexe Geflecht eines ästhetischen Textes zusammensetzt, beherrscht, so dass sich die ästhetische Kommunikation als „eine Art Netz von homologen Formen“¹²⁶ etabliert. Insofern organisiert der Idiolekt auch das wechselseitige Zusammenspiel verschiedener leib-räumlicher Formen zum sinnhaften Kommunikationsgeschehen und damit auch die Kommunikationsumgebung. Jedem Signifikanten wird „im Lichte des Idiolekts, welcher den Kontext organisiert, und im Lichte der anderen Signifikanten, die aufeinander einwirken“,¹²⁷ (neue) Bedeutung verliehen. Das multidimensionale Sinngeschehen der ästhetischen Kommunikation richtet sich in Inhalt und Form nach einem ihr eigenen Deuteschema. Da dieses Deuteschema einen anderen, auch möglichen Deutepfad in der sinnhaften Enzyklopädie darstellt, „verstört“ der ästhetische Idiolekt nicht nur bestehende Interpretationsmuster, sondern schlägt zugleich neue Codiermöglichkeiten vor. Bleibt man mit Eco zunächst einmal bei der Kunst, so wendet ein (Wort‐) Künstler einen ästhetischen Idiolekt auf viele seiner Werke an. Der Idiolekt wird zum „persönlichen Stil“ und, wenn er zur Nachahmung reizt, zum Idiolekt einer bestimmten Periode oder Gruppierung.¹²⁸ So sichert der ästhetische Idiolekt die Wiedererkennbarkeit bestimmter ästhetischer, „verstörender“ Kommunikation. Auf die Seelsorge übertragen, stellt sich die Frage, welcher Idiolekt ihren Stil prägt, welcher Code ihr Ensemble der raum-zeitlichen Formen so arrangiert, dass die einzelnen Signifikanten des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens im Licht eben dieser spezifischen Sichtweise gedeutet werden. Wird die seelsorgliche ähnlich der gottesdienstlichen Kommunikation als multidimensionales Sinngeschehen, als „Partitur“ (Bieritz), verstanden, so kann in Anlehnung an Eco angenommen werden, dass ihre Einheit von Inhalt und Form, die sie im weitesten Sinne als „Gesamtkunstwerk“ beobachtbar macht, von einem Code bestimmt wird. Da nun seelsorgliche Interaktion nicht nur als Kommunikation unter Anwesenden, sondern auch als Kommunikation coram Christo, im Angesicht Christi
Eco 19948: Einführung, 151; Hervorhebung im Original. Vgl. ebd. – Später (1995: Grenzen, 169) ersetzt Eco den Begriff des „Idiolekts“ durch den Terminus „Textstrategie“. Eco 19948: Einführung, 151. Ebd. A.a.O., 154. Vgl. Eco 19912: Semiotik, 362.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
(Mt 18,20) verstanden wird,¹²⁹ liegt es nahe, dass sie sich durch eine spezifisch christliche Codierung auszeichnet. An diesem Punkt bietet es sich an, den eschatologischen Code, der in der semiotisch orientierten Praktischen Theologie begegnet,¹³⁰ auch für die Poimenik nutzbar zu machen. Meyer-Blanck führt den eschatologischen Code ein: „Entscheidend ist der Zeitbezug der Semiose, die im Neuen Testament zwischen den Zeiten verortet wird. Damit nämlich ist die Aufforderung zur Semiose nicht völlig offen, sondern wie die gesamte neutestamentliche Botschaft von dem zugrundeliegenden eschatologischen Code bestimmt, der der Interpretation der Signifikanten eine bestimmte Richtung verleiht. […] Die Semiotisierung biblischer Signifikate in christlicher Praxis ist von daher im Sinne Ecos zwar als unabschließbar, aber nicht als beliebig offen zu beschreiben. Der eschatologische Code gibt eine Richtung vor, die zwar bewußt umcodiert, aber nicht einfach naiv ignoriert werden kann.“¹³¹
Der eschatologische Code steht für die Verschränkung verschiedener Zeiten. Es ist das paradoxe Ineinander von präsentischer und futurischer Eschatologie, das das Reich Gottes als „doch schon“ und „noch nicht“ bezeichnet. Systemtheoretisch betrachtet kann der eschatologische Code als Einheit der Form von Vergangenheit und Zukunft, die sich in der Gegenwart performiert, verstanden werden. In der Seelsorge manifestiert sich der eschatologische Code darin, dass der noch Kommende zugleich der bereits Dagewesene ist, der von der Kommunikation als der bereits Anwesende behandelt wird. ¹³² In konkreten Formen – wie z. B. im Gebet – kann die Gegenwart des anwesenden Abwesenden eingeholt werden und leibräumliche Gestalt gewinnen. Insofern schließt der eschatologische Code den systemtheoretischen Code des Religionssystems immanent/transzendent¹³³ in sich ein – wobei „Transzendenz“ im vorliegenden Zusammenhang als das, was über das in der Welt Mögliche (Immanenz) hinausgeht, verstanden wird. Es ist evident, dass Transzendenz nur in der Immanenz, d. h. in leib-räumlichen Formen zugänglich, ist – eine Einsicht, die mit der christlichen Vorstellung der Inkarnation eingeholt wird: An der konkreten Gestalt Jesu Christi werden Mensch und Gott gleichsam begreifbar. An dieser Stelle wird außerdem deutlich, dass der eschatologische Code eine Grenze der kommunikationstheoretischen Beschreibung
S.o. 3.2.1.2. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 214; Kumlehn 1998: Grundzüge, 299; Bieritz 2000: Kränkungen, 234 ff. – Zum eschatologischen Code der Seelsorge s.o. 3.2.2.1.2. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 214; Hervorhebung im Original. Zur Inklusion des Abwesenden in die seelsorgliche Interaktion s.o. 3.2.1.2. Vgl. Luhmann 2000: Religion, 77; Hervorhebungen im Original: Als Code der Religion „eignet sich am ehesten die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz. Man kann dann auch sagen, daß eine Kommunikation immer dann religiös ist, wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet.“
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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markiert: Ein Seelsorgegeschehen, das in seiner Einheit von Inhalt und Form vom eschatologischen Code bestimmt ist, kann von keiner Kommunikationstheorie in Gänze erfasst werden.¹³⁴ Insofern gilt in taktischer Hinsicht, dass seelsorglich immer nur ein bestimmter Rezeptionsrahmen geschaffen, nicht jedoch die Rezeption selbst beeinflusst werden kann.¹³⁵ Dies geht soweit, dass es zu unvorhersehbaren Decodierungen kommen kann, wenn das Deutesystem einer Deutungsinstanz „eine Interpretation, die der Sender nie vorausgesehen hätte“ legitimiert.¹³⁶ Bestimmt der eschatologische Code das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen in all seinen Dimensionen, so „organisiert“ er im Sinne Ecos den Kontext, d. h. die Kommunikationsumgebung und rahmt auf diese Weise den Kommunikationsprozess. In diesem Sinne kann die Aussage Meyer-Blancks, dass der eschatologische Code „der Interpretation der Signifikanten eine bestimmte Richtung verleiht“ verstanden werden.¹³⁷ Dies gilt insofern als die prinzipiell infinite Semiose in einer konkreten Kommunikationssituation nicht länger „beliebig“, sondern ihr Bereich sinnvoller Möglichkeiten mit der Kommunikationsumgebung begrenzt ist und ihr eben so „eine bestimmte Richtung verliehen“ wird.¹³⁸ Der eschatologische Code rahmt die unendliche Semiose eines seelsorglichen Sinngeschehens, indem er mit der von ihm codierten Kommunikationsumgebung den Deutungsrahmen absteckt und auf diese Weise Interpretationen sowie Wirklichkeitsbildungen ausrichtet. Die leib-räumlichen Formen eines seelsorglichen Kommunikationsgeschehens– wie z. B. Auftreten und Verhalten des Seelsorgers, präsentierte Einrichtungsgegenstände, (religiös-christliche) Sprach- und Sprech-
Zur Grenze der kommunikationstheoretischen Analyse s. o. 2.2.2 und die Einleitung zu Kapitel 3. Ähnlich Eco 19948: Einführung, 156; Hervorhebung im Original: „[D]as, was man ‚ästhetische Erfahrung‘ zu nennen versucht ist, [ist] eine Reihe von Möglichkeiten, die keine Theorie der Kommunikation in den Griff bekommen kann. Die Semiotik […] [kann] uns zwar immer sagen, was aus einem Werk werden kann, niemals aber, was aus ihm geworden ist!“ Die Irritation bzw. die Umcodierung oder der „Bruch“ kann nur vom Rezipienten selbst herbeigeführt werden; vgl. Meyer-Blanck 1999: Entdecken, 30. Vgl. Eco 19912: Semiotik, 200. Vgl. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 214. – Ähnlich deutet auch Kumlehn (1998: Grundzüge, 299) die infinite Semiose im Licht des eschatologischen Codes, wobei sie sich primär auf seine futurische Dimension stützt: „Unter dem Vorzeichen eines eschatologischen Codes wird die ‚unendliche Semiose‘ so interpretierbar, daß diese nicht nur letztlich in Gott gründet […], sondern schließlich auch bei ihm an ihr Ziel kommen wird, indem das Gesetz der Interpretanten und der unendlichen Ersetzung des Signifikats durch neue Signifikanten im Eschaton aufgehoben wird“. Zum Zusammenspiel von Kommunikationsumgebung und Kommunikation s.o. 3.2.1.3.2 und 3.2.2.1.2.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
formen – werden mit dem spezifischen Code der seelsorglichen Kommunikation abgeglichen. Wird das seelsorgliche Ensemble raum-zeitlicher Formen von dem eschatologischen Code ähnlich einem Idiolekt arrangiert, so organisiert er die „Beziehungsverhältnisse“¹³⁹ der einzelnen Formen, die ein Kommunikationsgeschehen als Seelsorge (wieder)erkennbar machen. Damit ist der „Stil“ der Seelsorge soweit geprägt, „daß theoretisch die einzelnen Steine [Formen; L.K.] ersetzbar sind und das Spiel ihrer materiellen Konsistenz einige Veränderungen erfahren kann, ohne daß sich der Gesamtzusammenhang verändern würde.“¹⁴⁰ Die „materielle Konsistenz“ des wechselseitigen Zusammenspiels zum multidimensionalen Seelsorgegeschehen kann in seinen aktualisieren Formen verändert werden – so sind z. B. die Person des Seelsorgers, die Gegenstände, der Raum oder Meinungen über ein bestimmtes Thema austauschbar –, ohne dass sich der „Gesamtzusammenhang“ Seelsorge verändern würde. Seelsorgliche Kommunikation, die sich an einer Unfallstelle, auf dem Flur eines Krankenhauses, an der Kaffeetafel beim Geburtstagsbesuch oder in der Kantine einer Kaserne performiert, bleibt als „Gesamtzusammenhang“ Seelsorge beobachtbar und beschreibbar, obwohl sie die konkreten Formen ihres multidimensonalen Sinngeschehens unterschiedlich aktualisiert.¹⁴¹ Diese Überlegungen zum eschatologischen Code erinnern an das frameModell.¹⁴² Versucht man, beide Vorstellungen miteinander zu verbinden, so kann behauptet werden, dass der eschatologische Code den „Gesamtzusammenhang“ Seelsorge – also den frame „Seelsorge“ – inhaltlich ausrichtet, indem er eine „bestimmte Richtung vorgibt“, die „bewusst umcodiert“.¹⁴³ Nach Bieritz erlaubt der eschatologische Code „eine neue Lesart meines Lebens“.¹⁴⁴ Er reizt dazu, Welt und Leben unter einer spezifisch christlichen Perspektive wahrzunehmen sowie Wirklichkeit(en) (um)zubilden.¹⁴⁵ Bleibt man zunächst im Ecoschen Argumentationszusammenhang, bestimmt der eschatologische Code ähnlich einem Idiolekt den spezifischen „Stil“ der Seelsorge und steht damit in gewissem Sinne auch für ein bestimmtes poimeni Eco 19948: Einführung, 155. Ebd. – Eco (ebd., Hervorhebung im Original) veranschaulicht dies am Beispiel eines Renaissancepalastes, dessen „Struktur […] durch ein System von in Rustikaquadern realisierten räumlichen Beziehungen definiert“ wird. Auch wenn einzelne Steine ersetzt werden, bleibt der Gesamtzusammenhang (Renaissancepalastes) unverändert. Einige mögliche Aktualisierung des seelsorglichen Sinngeschehens zeigt Kapitel 4 auf. S.o. 3.2.2.1.2. Vgl. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 214. Bieritz 2000: Kränkungen, 235. S.u. 3.2.2.2.2.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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sches Paradigma. Dieses ist wie der Idiolekt im Verlauf der Zeit veränderbar. Und so sind – ähnlich den Idiolekten, welche die Epochen der Kunstgeschichte prägen – in der Geschichte der Seelsorge und Poimenik verschiedene Paradigmen zu beobachten. Das im weitesten Sinne ästhetische Paradigma, an dem sich die vorliegende Untersuchung orientiert, nimmt im Rekurs auf die semiotischen Einsichten zur ästhetischen Botschaft inhaltlich weiter Kontur an: Die ästhetische Kommunikation wird als multidimensionales Sinngeschehen, das durch die Einheit von Inhalt und Form gekennzeichnet ist, in den Blick genommen. Damit wird die Kommunikationsumgebung poimenisch relevant und das Interesse auf leib-räumliche, sinnenhafte Formen gelenkt. Überdies sind die Überlegungen im Allgemeinen mit einer im weitesten Sinne konstruktivistischen Sichtweise kompatibel. ¹⁴⁶ Nicht zuletzt verweist der ästhetische Idiolekt die Seelsorge auf die ihr eigene inhaltliche Zielrichtung. Freilich geht es hier nicht darum, das semiotische Modell des ästhetischen Idiolekts vollständig auf poimenische Zusammenhänge abzubilden. Dies gelingt schon deshalb nicht, da es sich bei seelsorglicher Kommunikation – mit Eco gesprochen – um ein „standardisiertes“ Geschehen handelt, das insofern den „Bestimmungen des Marktes“ unterliegt,¹⁴⁷ als es sich an den „Bestimmungen“ des Funktionssystems der Religion bzw. des Christentums orientiert. Je weniger ein „Werk“ jedoch „innoviert“, desto mehr erscheint es „als Anleihe bei schon bekannten Kommunikationserfahrungen“¹⁴⁸ – d. h. desto mehr greift Seelsorge auf christlich geprägte Kommunikationsformen zurück und sichert dadurch ihre (Wieder‐)Erkennbarkeit als spezifisch christliche Kommunikation. Als abduktives Spiel mit verschiedenen Möglichkeiten versorgt die Seelsorge die interaktionelle Semiose mit Irritation, damit „[d]ie semiotische Spirale, bereichert durch neue Zeichen-Funktionen und Interpretanten, […] bereit [ist] für weitere Drehungen.“¹⁴⁹ Die Wirklichkeitsbildung des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens gleicht dabei einem tastenden Gang durch das rhizomatische Labyrinth der sinnhaften Enzyklopädie, dem „Spielen und Experimentieren mit Unvorhersehbarem und offenem Ausgang“.¹⁵⁰ Seelsorge wird zu einem – mit Mersch formuliert – semiotischen „Abenteuer der Interpretation“.¹⁵¹ Im „Labyrinth der Zeichen“ geht es um „ein Finden und Gestalten von Zugängen“, „ein Ausloten und Strukturieren von Verbindungen“, mittels derer sich kontingente
S.o. 3.1. Vgl. Eco 19948: Einführung, 153. Vgl. ebd. Eco 19912: Semiotik, 337. Mersch 1993: Eco, 124. Vgl. a.a.O., 122 ff.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Räume performieren.¹⁵² In der Seelsorge geht es darum, im christlich codierten Kontext „immer wieder andere Schritte vorzunehmen, um […] sich in neue Richtungen fortzuentwickeln.“¹⁵³ Die prinzipielle Unabgeschlossenheit der Semiose sowie die für eine nahezu unendliche Anzahl an Interpretationsmöglichkeiten offene Enzyklopädie stiften hierbei „das Spiel immer neuer Variationen und damit einen schöpferischen Reichtum an noch unentdeckten, ja sogar unwahrscheinlichen Möglichkeiten“.¹⁵⁴ Eine semiotisch orientierte Seelsorge zielt ähnlich der Semiotik auf „eine höchst direkte Form der Einmischung“, die „versucht, die Zeichen unablässig in Bewegung zu halten, um ihre totalitären Muster aufzusprengen und ihren Verhärtungen entgegenzuwirken. Ihr Anliegen ist […] die Öffnung der Semiose für die unterschiedlichsten Formen der Freiheit [präziser: für die Formen der christlichen Freiheit ähnlich wie sie Gal 5,1 beschreibt; L.K.], indem sie deren Strukturen gleichsam ‚zum Tanzen bringt‘.“¹⁵⁵ In faktischer Hinsicht kann sich die Seelsorge an der systemischen Therapie und Beratung orientieren.¹⁵⁶ Diese entwickelt auf der Basis eines vernetzten und zirkulären Denkens – eine Vorstellung, die an die rhizomartige Struktur der sinnhaften Enzyklopädie erinnert – methodische Möglichkeiten der Irritation bzw. Intervention, um „Spiele ohne Ende“ (Watzlawick) zu „verstören“. Die systemtherapeutische Methodik zielt darauf, die Kontingenz von Sichtweisen aufzuzeigen und den Möglichkeitsraum der Interpretation in der Annahme zu vergrößern, dass mit einer veränderten Sichtweise ein sog. „Problem“ „möglicherweise gar nicht bestünde, auf jeden Fall aber völlig anders aussähe“.¹⁵⁷ So werden z. B. mittels zirkulärer Fragen neue Perspektiven auf ein „Problem“ und damit neue Deutepfade eingespielt, die den „Möglichkeitssinn“, die „Konjunktivitis“¹⁵⁸ – oder mit Morgenthaler: die „Eschatologitis“¹⁵⁹ – wecken. Die „Eschatologitis“ kann in einen Zusammenhang mit dem eschatologischen Code gebracht werden: Denn als religiös codierte Kommunikation, als Kommunikation unter Anwesenden im Angesicht Christi verfügt die Seelsorge im Horizont der verschränkten Zeiten über
Vgl. a.a.O., 133. Ebd. A.a.O., 134. A.a.O., 135 f. Zur systemischen Therapie und Beratung s.o. 1.1.3.1. VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 101. – VonSchlippe und Schweitzer beziehen diese Aussage allerdings auf die verbal-„sprachliche Organisation“, die sich um bzw. als ein vermeintliches Problem generiert. Dies kann jedoch auf jede Form, in der sich eine Sichtweise zeigt, verallgemeinert werden. Vgl. Simon/Weber 1988: Konjunktivitis, 365. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 157.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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ganz eigene Möglichkeiten der Wirklichkeitskonstruktion und unterscheidet sich gerade dadurch von nicht-christlich codierter Kommunikation. Auch bei der paradoxen Intervention – um ein weiteres Beispiel systemtherapeutischer Methoden zu nennen – handelt es sich semiotisch betrachtet um einen innovativen Lesepfad der sinnhaften Enzyklopädie, der auch Oppositionen ins Spiel bringt bzw. zunächst unzusammenhängend erscheinende Punkte des Rhizoms miteinander verbindet und damit für Überraschung sorgt. In dem systemtherapeutischen Spiel der Möglichkeiten wird Ambiguität erzeugt, um verabsolutierenden Ideologien und zu Circuli vitiosi erstarrten Deuteschemata die sinnhafte Freiheit der Enzyklopädie entgegenzuhalten und Möglichkeiten in Wirklichkeit zu überführen. Dies geschieht meist durch Verbalsprache, deren Möglichkeit zur Wirklichkeitskonstruktion die systemische Therapie neu für sich erschließt. Die systemische Therapie zielt darauf ab, Verbalsprache anders als im Alltag üblich zu verwenden und Mehrdeutigkeiten zu erzeugen.¹⁶⁰ In Kommunikationszusammenhänge, die sich in einer Wirklichkeitssicht festgefahren haben, werden neue Optionen eingespielt, um den am Kommunikationssystem beteiligten Personen mit einer neuen Wirklichkeitskonstruktion einen größeren Spielraum als mit der alten Perspektive zu eröffnen. „Eine Veränderung der Art, wie und worüber gesprochen wird, bedeutet immer auch eine Veränderung von Formen der Verhaltenskoordination innerhalb des entsprechenden Realitätsausschnittes.“¹⁶¹ So wird aus dem ontologischen Spiel ein Spiel um (Be)Deutungen. Semiotisch gesehen eignet den systemtherapeutischen Methoden – ganz analog zur ästhetischen Kommunikation – ein gewisser „Verfremdungseffekt“:¹⁶² „Der Verfremdungseffekt realisiert sich durch die Entautomatisierung der Sprache.“¹⁶³ Um etwas zu beschreiben, werden „Wörter (oder andere Arten von Zeichen) auf eine andere Art [gebraucht]“, so dass ein „Gefühl der Fremdheit“ entsteht, das das bekannte Objekt kaum wiedererkennen lässt.¹⁶⁴ Dieses von einer Irritation evozierte „Gefühl der ‚Merkwürdigkeit‘“¹⁶⁵ reizt dazu, das Dargestellte auf verschiedene Weise zu betrachten. Ästhetische Kommunikation beschreibt
Ähnlich nimmt auch Luhmann (1990: Wissenschaft, 49) Sprache in den Blick: „Das, was als Sprache wahrnehmbar wird, muß Imagination [Deutungs-Spielraum; L.K.] freigeben (so daß nicht bei jedem Wort, das man hört oder liest, nur genau ein Bild erzeugt wird)“. VonSydow et. al. 2007: Wirksamkeit, 19 f. Vgl. Eco 19948: Einführung, 164 f. A.a.O., 164. Vgl. ebd.; Hervorhebung im Original. Ebd.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
also „etwas“, als ob man es zum ersten Mal sähe, und bezweckt damit, „eine besondere Wahrnehmung des Gegenstandes zu schaffen“.¹⁶⁶ Ganz ähnlich ist die mäeutische Fragetechnik, die T. Lohse für das seelsorgliche Kurzgespräch vorstellt, zu verstehen.¹⁶⁷ „Dabei wird das für selbstverständlich Gehaltene infrage gestellt, Scheinwissen durch Hinterfragen entlarvt“,¹⁶⁸ um zu einer differenzierten Sichtweise anzuregen. Mäeutisches Fragen soll „die ratsuchende Person anleiten, ihre Erfahrungen, Erkenntnisse und Erlebnisse so zu verknüpfen“,¹⁶⁹ dass eine differenziertere Wahrnehmung erzeugt wird, die Handlungsalternativen entdecken lässt. Es geht um das „Verflüssigen“ von Seinsvermutung,¹⁷⁰ um die Irritation erstarrter Deutungsmuster und das Erproben eines anderen, auch möglichen Deutepfades in der sinnhaften Enzyklopädie. Anstelle empathischer Kommentierungen – wie „Sie sehen bedrückt aus“ – geschieht dies konkret durch bestimmte „W-Fragen“, die zum „kreativen Differenzieren“¹⁷¹ einladen. Dabei schließt T. Lohse Fragen, die auf Begründungszusammenhänge zielen, strikt aus, da jene das Festschreiben herkömmlicher Deuteschemata lediglich weiter „festzurren“.¹⁷² T. Lohse illustriert die mäeutische Fragetechnik an einem konstruierten Fallbeispiel: „‚Ich habe Probleme …‘ gesenkter Kopf, schlaffe Körperhaltung, leise Stimme. – ‚Welche Probleme genau?‘ Aufforderung, selber aktiv zu definieren. – ‚Womit haben Sie Probleme?‘ Aufforderung, Bezüge herzustellen. – ‚Woher wissen Sie, dass Sie Probleme haben?‘ Aufforderung, sich zu hinterfragen. – ‚Wie merken Sie Ihre Probleme?‘ Aufforderung, alle Sinneswahrnehmungen ernst zu nehmen. – ‚Was machen die Probleme mit Ihnen?‘ Aufforderung, aus dem Statischen ins Dynamische zu wechseln. […] Angenommen, die Antwort der ratsuchenden Person auf eine der obigen W-Fragen lautet: ‚Ich glaube, mein Mann liebt mich nicht mehr.‘, dann lassen sich weitere W-Fragen anschließen: – ‚Woran merken Sie, dass Ihr Mann Sie nicht mehr liebt?‘ – ‚Womit bestärkt er Ihren Glauben?‘ – ‚Wozu brauchen Sie die Liebe Ihres Mannes?‘
Vgl. ebd. Vgl. Lohse 20062: Kurzgespräch, 75 ff. A.a.O., 75. A.a.O., 81. S.o. 1.1.3.1. Lohse 20062: Kurzgespräch, 79. Vgl. ebd.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
441
– ‚Wann spüren Sie die fehlende Liebe Ihres Mannes?‘ – ‚Wie ist dieser Glaube in Ihnen entstanden?‘“¹⁷³
In taktischer Hinsicht geht es angesichts der Vielzahl möglicher Fragen nicht darum, die „einzig richtige“ zu finden, sondern mit orthotomischer Kompetenz – T. Lohse spricht hier vom „Fingerspitzengefühl“ –, „die angemessene Wortwahl und den treffenden Tonfall“,¹⁷⁴ d. h. die „angemessenen“ leib-räumlichen Formen zu finden. Ähnlich der ästhetischen Kommunikation erfüllt die systemtherapeutische Technik des Reframings eine verfremdende Funktion. Wie in der Praktischen Theologie wiederholt darauf hingewiesen,¹⁷⁵ bietet sich das Reframing v. a. dazu an, das Einspielen christlicher Kommunikationsformen in das Seelsorgegeschehen neu zu bewerten und die poimenische Kategorie des „Bruchs“ zu reinterpretieren.¹⁷⁶ Die auch als „Umdeutung“ bezeichnete Interventionstechnik zielt darauf, „etwas“ in einen anderen Rahmen (frame) zu stellen, die bisherige Sinnsicht durch eine fundamental andere zu „verstören“.¹⁷⁷ Dabei dient die Kontextualisierung zunächst dazu, die „Ambiguitätstolerenz zu erhöhen“:¹⁷⁸ „Wenn ‚alles auch anders sein‘ könnte, anders gesehen werden könnte, ist schon viel dafür getan, daß die Dinge nicht mehr so festgefahren und rigide erlebt werden wie bisher.“¹⁷⁹ Die Erwartungen, die den Spielregeln der bisherigen Sichtweise entsprechen, sind mit den Regeln eines anderen Spiels durchbrochen. Es wird deutlich, dass noch andere Deutepfade in der sinnhaften Enzyklopädie möglich sind. Damit zeigt sich das Reframing besonders für eine semiotische Perspektive auf das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen anschlussfähig: „Man unterlegt dem wahrgenommenen Konflikt einen vom konventionellen Deutungsmuster abweichenden Code; durch diese neue Rahmung wird es gleichsam entkonventionalisiert. Oder semiotisch ausgedrückt: Die Wahl eines anderen Deutungsmusters initiiert einen Referentenwechsel. Dadurch daß die bisherige Deutung auf einen anderen Kontext appliziert wird, verändern sich zwangsläufig auch die Interpretanten.“¹⁸⁰
A.a.O., 78 f; Hervorhebungen im Original. Vgl. a.a.O., 79. Vgl. z. B. Morgenthaler (1994: Trauer, 327 ff; 20023: Systemische Seelsorge, 246 f), MeyerBlanck (1998: Identität, 842) und Klie (2003: Zeichen, 368 f und 392 ff). Zur Reformulierung des „Bruchs“ s.u. 3.2.2.2.2. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 392. Vgl. a.a.O., 392 Anm. 230. VonSchlippe/Schweitzer 19996: Lehrbuch, 180 f. Klie 2003: Zeichen, 368.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Bezogen auf die Poimenik bedeutet das, dass in der Seelsorge Deutungsangebote aus christlichen Kommunikationszusammenhängen heraus zu machen sind. Hierbei „übernehmen traditionell biblische Texte und christliche Riten (Gebet, Segen, Lieder) die Funktion, den Deutungsrahmen zu modifizieren.“¹⁸¹ Wie Morgenthaler bereits bemerkt, besitzt das Reframing „direkte Relevanz für die zentrale Aufgabe der kirchlichen Seesorge“,¹⁸² also für die Inszenierung des Evangelium ad personam ¹⁸³ – und zwar in dem Sinne, dass das „Evangelium […] als ein ‚Reframing der Wirklichkeit‘ ganz besonderer [bzw. ganz eigener; L.K.] Art verstanden werden [kann].“¹⁸⁴ Es bleibt festzuhalten, dass die Umbildung von Wirklichkeit in der seelsorglichen Interaktion systemtherapeutisch als Reframing, poimenisch als „Bruch“, semiotisch als Umcodierung und systemtheoretisch als Irritation von Erwartungsstrukturen bzw. als „Aktualisierung der eher potentiellen Möglichkeit“¹⁸⁵ beschrieben werden kann. Damit stehen verschiedene (Theorie‐)Figuren zur Verfügung, die insofern auf Ähnliches zielen, als sie mit dem „Verstören“ konventioneller Sinnsichten und dem Einspielen anderer, auch möglicher und manchmal überraschender Deutepfade zum Entdecken des ambiguitären Möglichkeitsraums der sinnhaften Enzyklopädie anregen. Sie erhellen die Umbildungsprozesse des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens theoretisch präzise und können für eine semiotisch-systemtheoretisch orientierte Poimenik nutzbar gemacht werden: Einer Seelsorge, die mit dem wirklichkeitsbildendem Potential des Evangeliums rechnet, liegt daran, unter der Bestimmung des eschatologischen Codes, rigide Sinnsichten mittels christlicher Deutungsangebote im wahrsten Sinne des Wortes zu durchzukreuzen.
3.2.2.2.2 „Bruch“: Kommunikation im Angesicht Christi In den vorigen Teilkapiteln wurde das colloquium kommunikationstheoretisch als seelsorglicher Ort der Performanz des Evangeliums sowie als Ort der Bildung und Umbildung von Wirklichkeit untersucht. Nun werden die Umdeutungsprozesse am Ort der seelsorglichen Interaktion, die mit der Frage nach der Vergegenwärtigung des Evangeliums einhergehen, in den Blick genommen und in Bezug auf die
A.a.O., 393. Morgenthaler 1994: Trauer, 328. S.o. 2.2. – Morgenthaler (1994: Trauer, 328) bestimmt die Aufgabe der Seelsorge als „Verkündigung“ in einer konkreten Situation wie z. B. der eines Trauerfalls. Dabei rechnet er die „Umdeutung“ zu den „zentralen Tätigkeiten in der Seelsorge“ (ebd.). Morgenthaler 1994: Trauer, 328. Diese Formulierung verdanke ich Pastor Dr. Frank Uhlhorn/Osnabrück.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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christliche Codierung von Kommunikation, in professionstheoretischer Perspektive sowie hinsichtlich leib-räumlicher Formen untersucht. Eingeholt werden die Überlegungen mit der poimenischen Kategorie des „Bruchs“, insbesondere im Hinblick auf das Einspielen geprägter Kommunikationsformen des christlichen Glaubens und der taktischen Kompetenz des Seelsorgers. Damit nehmen die folgenden Ausführungen u. a. auf die Ergebnisse des zweiten Kapitels Bezug, die Seelsorge bestimmen als Kommunikation anwesender Glaubensgeschwister im Angesicht Christi, in der sich das Evangelium ad personam vergegenwärtigt. In der Seelsorge wird Wirklichkeit nicht nur gedeutet, sondern auch umgedeutet. Dies geschieht unter einer der Seelsorge eigenen Perspektive, die theologisch als „eschatologischer Code“ (Meyer-Blanck) bezeichnet werden kann¹⁸⁶ – oder systemtheoretisch formuliert: In der funktional differenzierten Gesellschaft vertritt Seelsorge als religiöse Kommunikation eine ganz bestimmte Sinnsicht, mit der sie sich von den anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen – wie z. B. dem der Medizin oder Wirtschaft – unterscheidet. ¹⁸⁷ Folgt man Luhmann, so beobachtet jedes der gesellschaftlichen Funktionssysteme die Welt nach einem ihm eigenen binären Code. Anders als der Code-Begriff der Ecoschen Semiotik bezeichnet der Code in der Systemtheorie Luhmanns eine „Duplikationsregel“,¹⁸⁸ einen binären Schematismus, der aus einem positiven und einem negativen Wert besteht und damit strikt jeden weiteren Wert ausschließt. Bezogen auf die Sprache, die nach dem Code Ja/Nein funktioniert, bedeutet das z. B., dass jede positive Aussage („heute regnet es“) als Negation der negativen Aussage („heute regnet es nicht“) aufgefasst werden kann.¹⁸⁹ Die Aktualisierung eines Wertes verweist also immer auf den anderen Wert. Der Code fungiert als rigide Zwei-Seiten-Form, die die andere nicht aktualisierte Seite stets als Möglichkeit mitführt und damit das crossing erleichtert. Ähnliches gilt für die gesellschaftlichen Funktionssysteme: Jedes Funktionssystem behandelt alles in der Form seines Codes, in der Form seiner ihm eigenen Sinnsicht. Dabei steht der positive Wert – wie z. B. „wahr“ – für die Anschlussfähigkeit der Operationen, und der negative Wert – wie z. B. „unwahr“ – für „die Kontingenz der Bedingungen der Anschlußfähigkeit“,¹⁹⁰ d. h. er verweist als mitgeführte Potentialität darauf, dass „alles auch anders sein könnte.“ Der Zugewinn binärer Codierung liegt in einer „klare[n] Entschei-
S.o. 3.2.2.2.1. Zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft in verschiedene Funktionssysteme sowie zur Religionstheorie Luhmanns s.o. 1.1.1. – Zur Bestimmung von Seelsorge als religiöse Kommunikation vgl. z. B. Luhmann (1977: Funktion, 57 f) oder Karle (1996: Seelsorge, 214 ff). – Zur explizit religiös-christlichen Weltsicht von Seelsorge s.o. 3.1.3. Luhmann 20053: Distinctions, 13. – Zum Code-Begriff vgl. außerdem z. B. ders. 1997: Gesellschaft, 359 ff. Vgl. Baraldi/Corsi/Esposito 1997: GLU, 33. Luhmann 1997: Gesellschaft, 363; Hervorhebung im Original.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
dungsfrage, die für Alter wie für Ego dieselbe ist“:¹⁹¹ Eine wissenschaftliche Kommunikation ist damit entweder wahr oder unwahr, aber nicht „nur ein wenig wahr“.
Das Medizinsystem z. B. konstruiert Wirklichkeit nach der Codierung Krankheit/ Gesundheit, das Wirtschaftssystem nach Zahlen/Nichtzahlen und das Religionssystem nach Immanenz/Transzendenz. Jedes gesellschaftliche Funktionssystem verfügt über ein ihm eigenes Deuteschema, mit dem es die Komplexität des Möglichkeitsraums der sinnhaften Enzyklopädie zu aktuellen Wirklichkeiten reduziert. Auch der Religion – und damit dem Christentum – stehen disambiguierende Interpretationsformen zur Verfügung, die sie als religiöse bzw. christliche Kommunikation kenntlich machen und sie von anders codierter Kommunikation unterscheiden. Aus theologischer Perspektive kann diese eher als formales Prinzip zu verstehende systemtheoretische Bestimmung inhaltlich als Vergegenwärtigung des Evangeliums unter der Sinnsicht des eschatologischen Codes präzisiert werden. Wird Seelsorge als religiöse Kommunikation bestimmt, erhellt hieraus das Spezifische des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens, wenn man so will, das „Proprium der Seelsorge“: Als religiös-christliche Kommunikation hat Seelsorge christliche Deutungsangebote zu machen, andernfalls enthebt sie sich ihrer gesellschaftlichen Funktion. Damit verbleibt die christliche Sinnsicht – wie in der sog. therapeutischen Seelsorge – nicht im Horizont des implizit Möglichen,¹⁹² sondern wird explizit und intentional in die Wirklichkeit überführt.¹⁹³ Seelsorge zeichnet sich durch eine erkennbar christliche Perspektive aus. Im vieldimensionalen Sinngeschehen der seelsorglichen Kommunikation geht es deshalb konkret um die Vergegenwärtigung des Evangeliums ad personam, also taktisch gesehen um die Inszenierung einer kommunikativen Kategorie mittels verschiedener leibräumlicher Ausdrucksformen. Hierzu steht der Seelsorge mit den Kommunikationsformen der biblisch-christlichen Tradition – wie z. B. einem Bibeltext, einem
A.a.O., 360. So konstatiert z. B. Ziemer (20042: Seelsorgelehre, 171; Hervorhebung im Original), dass der Seelsorge „in gewisser Weise eine Art implizite[ ] Religiosität“ eignet. – Überhaupt ist Ziemer hinsichtlich christlich geprägter Ausdrucksformen, die das Kommunikationsgeschehen explizit codieren, recht zurückhaltend. Dies zeigt sich z. B. an seinen Überlegungen zum Segen oder Gebet, die nur auf den „ausgesprochenen oder erahnbaren Wunsch der Ratsuchenden“ (a.a.O., 167) hin eingespielt werden sollen, und mag in seiner pastoralpsychologischen Ausrichtung begründet sein. Ähnlich versteht z. B. auch Karle (1996: Seelsorge, 216; Hervorhebung im Original) Seelsorge als „explizit religiöse Kommunikation“.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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Gebet oder Segen – eine große Ressource an Interpretationsformen zur Verfügung, auf die sie bei der Inszenierung einer christlichen Sinnsicht zurückgreifen kann. Eine so verstandene Seelsorge grenzt sich klar von einer medizinischen bzw. therapeutischen Sinnsicht ab.¹⁹⁴ Seelsorge erscheint nicht als therapeutische Kommunikation mit Kranken oder Patienten, sondern als christliche Kommunikation unter Glaubensgeschwistern: Die Anwesenden begegnen sich im Namen bzw. im Angesicht Christi, der seine Anwesenheit promissional zusichert (Mt 18,20), nicht länger nur als Mitmenschen – wie es einer genuin therapeutischen Perspektive entspräche –, sondern als fratres et sorores der christlichen Glaubensgemeinschaft, die coram Deo als gleichberechtigte Glieder am Leib Christi in einer grundsätzlich symmetrischen Beziehung wechselseitige Tröstungsverhältnisse eingehen. Damit ist das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen an die christliche Trost- und Deutungsgemeinschaft gebunden, d. h. im gemeindlichkirchlichen Kontext verortet.¹⁹⁵ Tröstlich kann eine solche seelsorgliche Kommunikation z. B. für einen Menschen sein, der im Rahmen der Codierung gesund/krank eines Krankenhauses behandelt wird. Denn erduldet er als „Patient“ nicht nur somatisches Leiden, sondern auch die mit der „totalen Institution“¹⁹⁶ des Krankenhauses einhergehende Infantilisierung, den Entzug von Privatsphäre sowie die asymmetrische Beziehung zum Arzt, so verwirklicht die seelsorgliche Begegnung coram Christo eine Sinnsicht, die gegenüber dem medizinischen Behandlungsraum neuen Handlungsspielraum eröffnen kann. Die Anwesenden als wirkliche und mögliche Glaubensgeschwister in die christliche Trost- und Deutungsgemeinschaft integrierend, bewegt sich die seelsorgliche Kommunikation in einem anderen Sinnhorizont als dem, der von der therapeutisch-medizinischen Codierung aufgespannt wird. In diesem Sinne kann die Forderung von Meyer-Blanck verstanden werden: Seelsorge darf sich „nicht darauf beschränken, Hilfe zum Leben und Hilfe zum Sterben sein zu wollen. Dies liegt noch innerhalb der therapeutischen Funktion des Krankenhauses […]. Die darüber hinausgehende Funktion kirchlichen Handelns ist es traditionell gewesen, auch Hilfe zum Leben nach dem
Auch Karle (1999b: Seelsorge, 40 ff) plädiert für den „Abschied vom therapeutischen Leitmodell der Seelsorge“; vgl. hierzu v. a. ihre „Kritik der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre“ – so der Untertitel ihrer Dissertation (1996: Seelsorge). S.o. 2.2.1; hier finden sich auch Überlegungen zur (seelsorglichen) Kommunikation unter Christen und Nicht-Christen. Zu interkulturellen, interreligiösen bzw. multireligiösen Begegnungen im seelsorglichen Rahmen s. o. 3.2.2.1.1. Vgl. Goffman 1973: Asyle.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Tod zu sein.“¹⁹⁷ Diese Funktion ist – so Meyer-Blanck weiter – „nicht medizinisch substituierbar“.¹⁹⁸ Dies lässt sich weiter einholen, denn im Horizont des eschatologischen Codes, der vom Auferstehungsereignis her als Einheit der Differenz von Leben/Tod verstanden werden kann, verfügt die Seelsorge über ein Repertoire christlicher Kommunikationsformen, die angesichts von Grenzerfahrungen zwischen Leben und Tod als Deutungsangebote in die Kommunikation nicht nur eingebracht werden können, sondern müssen. Wird es auf diese Weise möglich, Leben angesichts des Todes und Tod angesichts des Lebens zu deuten, kann das als tröstende Vergegenwärtigung des Evangeliums erfahren werden. Darüber hinaus verweist die futurische Dimension des eschatologischen Codes auf die Hoffnung, dass Heil und Heilung einst zusammenfallen. Da die Codierung des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens alle Dimensionen des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens bestimmt, steuert sie auch das Selbstverständnis des Seelsorgers. Hierzu hält Karle fest: „Nicht wenige Pfarrerinnen und Pfarrer, deren eigene Stellung zu den relevanten religiösen Themen und Fragen nicht zuletzt durch die Fremdorientierung an der Therapie zu marginal geworden ist, fühlen sich deshalb in Bezug auf ihre eigene Seelsorgepraxis ‚inkompetent‘ und verunsichert, solange sie nicht eine pastoralpsychologische Zusatzausbildung absolviert haben. Pfarrerinnen und Pfarrer sind aber keine Therapeutinnen und Therapeuten, sondern Seelsorgerinnen und Seelsorger.“¹⁹⁹ Ähnliches bemerkt auch Klie hinsichtlich der „professionsspezifische[n] Kompetenzen“: „Besonders in der Poimenik und in der Religionspädagogik, die ihre Theoriebildung über weite Strecken an nicht-pastoralen Professionen orientieren, erscheint der kirchliche Dienst – im Gegenüber zum Psychotherapeuten bzw. zum Religionslehrer – darum tendenziell als ein defizitärer beruflicher Modus.“²⁰⁰ Die „Frage nach dem unterscheidend Kirchlichen“ wird in diesen
Meyer-Blanck 1998: Zeichen, 417; Hervorhebungen im Original. – In dem genannten Beitrag geht es Meyer-Blanck im Speziellen um das Kasualhandeln im Krankenhaus. Ebd. Karle 1999b: Seelsorge, 42; Hervorhebung im Original. Klie 2003: Zeichen, 456. – Darüber hinaus werden die „professionsspezifischen Kompetenzen“ zugunsten einer immer weiter fortschreitenden Differenzierung und Spezialisierung der Praktischen Theologie in unterschiedliche Teilbereiche kaum noch in den Horizont einer integrierenden Theorie gebracht. Dies gelänge – so Klie – unter einer zeichentheoretischen Perspektive. Denn die Semiotik bietet in der „Allgemeinheit ihres theoretischen Horizonts“ die Voraussetzung für eine „Diskussion des Gesamtverständnisses“ der Praktischen Theologie (a.a.O., 457). In der Integration der Poimenik in den Gesamtzusammenhang der Praktischen Theologie liegt eines der Ziele der vorliegenden Untersuchung.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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Kontexten kaum noch gestellt, so dass das „Spezifikum christlicher Praxis“ aus dem Blick gerät.²⁰¹ Die Ablösung vom therapeutischen Paradigma der Seelsorge zu Gunsten einer explizit christlichen Codierung der Kommunikation ist daher mit einer Umcodierung der leib-räumlichen Form des /Seelsorgers/ verbunden.²⁰² Ist seelsorgliche Kommunikation als genuine Funktion der Gemeinde Christi an die Glaubensgemeinschaft der fratres et sorores gebunden, so ist weniger eine Professionalisierung im berufstheoretischen Sinne als eine christliche Deutungskompetenz erforderlich. Professionell ist Seelsorge also nicht dann, wenn sie professional ist, sondern wenn im wörtlichen Sinne einer professio, ein öffentliches Bekenntnis vor einem Zweiten abgelegt wird. Dies stärkt nicht nur die sog. Laienseelsorge, sondern entbindet auch den professionell Hauptamtlichen von vermeintlich unerlässlichen Zusatzqualifikationen. Notwendig ist vielmehr, dass der /Seelsorger/ als erkennbarer Vertreter einer christlichen Sinnsicht erscheint und diese im Rückgriff auf christliche Deutungsformen in das Kommunikationsgeschehen einzuspielen vermag. Folgt man Karle, so korrespondiert dies mit dem, was von der Seelsorge erwartet wird: „An Seelsorgerinnen und Seelsorger werden andere Erwartungen gerichtet als an Therapeutinnen und Therapeuten. Seelsorgerinnen und Seelsorger sollten deshalb prinzipiell als geistliche Personen ansprechbar und erkennbar sein – ebenso wie die Ärztin auf Fragen der Krankheit ansprechbar ist.“²⁰³ Im Kontext miteinander konkurrierender Codes performiert sich das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen damit schon immer in einem – wenn auch oftmals diffusen – religiös-christlich geprägten Erwartungshorizont. Dies liegt u. a. daran, dass der als /Seelsorger/ auftretende /Pfarrer/ das Funktionssystem der christlichen Religion repräsentiert. Daran anschließend hat Seelsorge im Unterschied zur Nicht-Seelsorge – wie der Psychotherapie, einem Gespräch unter Nachbarn oder mit einem Freund²⁰⁴ – im Horizont der promissionalen Anwesenheit Christi christliche Deutungsangebote zu machen, so dass der Seelsorger zum kompetenten, d. h. ausdrucksfähigen Mit-Konstrukteur von (Lebens‐)Wirklichkeit wird. So ist z. B. in einem Hospiz in diakonischer Trägerschaft, in dem seelsorgliche Besuche nur auf ausdrücklichen Wunsch des Gastes hin stattfinden, häufig zu
Vgl. Klie 2003: Zeichen, 456. S.o. 2.2.1. Karle 1999b:Seelsorge, 50; Hervorhebung im Original. Das schließt nicht aus, dass diese zunächst in der Regel nicht-religiös codierten Interaktionen in ihrem Verlauf christlich codiert und damit auch zur seelsorglichen Kommunikation werden können. Auf den Wechsel zwischen verschiedenen Codes in der Interaktion wird unten im vorliegenden Abschnitt eingegangen.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
beobachten, dass christliche Deutungsangebote nicht nur erwartet, sondern erhofft werden. Ähnliches gilt für diejenigen, die sich – gleich der Frau in der von Scharfenberg beschriebenen Beispielszene²⁰⁵ – an einen Seelsorger und eben nicht an einen Nicht-Seelsorger wenden. Nun steht Seelsorge als Kommunikation unter Anwesenden – systemtheoretisch betrachtet – jedoch vor der Schwierigkeit, dass sich Interaktionen gerade nicht über eine bestimmte Codierung definieren:²⁰⁶ „Interaktionen sind durchaus in der Lage, auch die codierte Kommunikation der Funktionssysteme mitzuvollziehen. […] Nur so sind Politik,Wirtschaft,Wissenschaft usw. auch als Interaktion möglich. […] Aber die Interaktion realisiert ihre eigene Gesellschaftlichkeit nicht durch den Zwang, die eigenen Kommunikationen nach einem und nur einem Code abzuwickeln. Die Gesellschaftlichkeit der Interaktion besteht vielmehr in ihrer eigenen Autonomie: darin, daß sie als System auf keinen dieser Codes und nicht einmal auf das Prinzip der Codierung selber verpflichtet ist. In der Interaktion sind Operationen, die einen solchen Wechsel von Code zu Code (und mehr noch: von Code zu Nichtcode oder von Nichtcode zu Code) vollziehen, völlig normal. Eine von Anfang bis Ende durchgehaltene Codierung dürfte eher zu den Ausnahmen zählen.“²⁰⁷ Es ergeben sich drei Möglichkeiten, wie sich eine Interaktion zur binären Codierung gesellschaftlicher Funktionssysteme verhalten kann – wobei sich diese „Zuordnungsfragen“ immer als „Fragen der Selbstzuordnung“ stellen,²⁰⁸ d. h. im autopoietischen Vollzug der Interaktion entschieden werden: Zum einen kann sich ein Interaktionssystem innerhalb eines gesellschaftlichen Funktionsbereichs bilden, dem es dann auch eindeutig zugeordnet werden kann. Dabei ist die Wahl dieser Systemreferenz mit zusätzlichen Prämissen verbunden, die die Interaktion sehr viel spezifischer führen lassen. So kann man z. B. mit einem Zahnarzt zunächst einmal nur über Zähne reden, dies aber umso folgenreicher und mit solch differenzierten Anschlüssen, die in anderen Interaktionen so nicht möglich wären. Ähnlich präsentiert sich z. B. ein Gottesdienst in der Regel als eindeutig christlich codierte Kommunikation, in dem mit den liturgischen Ausdrucksformen eine solch spezifische Kommunikation in der Gemeinschaft von Glaubensgeschwistern im Angesicht Christi sichtbar wird,wie in keiner anderen Interaktion. Dies schließt allerdings nicht aus, dass auch in solch eindeutig codierten Interaktionen Codes
S.o. Einleitung zu Kapitel 3. Dies ist u. a. auch darauf zurückzuführen, dass Interaktionssysteme in der „vertikalen“ Differenzierung der Gesellschaft zu verorten sind, während die gesellschaftlichen Funktionssysteme die Gesellschaft „horizontal“ differenzieren; s.o. 1.1.1. Kieserling 1999: Kommunikation, 81; Hervorhebung im Original. Vgl. a.a.O., 79; Hervorhebung im Original. – Zum Folgenden vgl. a.a.O., 76 ff.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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anderer Funktionssysteme aktualisiert werden können: So kann der Zahnarzt nach der medizinischen Untersuchung auf die Kosten der Behandlung zu sprechen kommen, und auch in der gottesdienstlichen Interaktion kommt es – wie Dinkel aufzeigt – zu regelmäßigen Kopplungen mit anderen Funktionssystemen: etwa bei der Kollekte mit dem Wirtschaftsystem oder bei der Aufführung von Orgelmusik mit dem Kunstsystem.²⁰⁹ Es ist jedoch davon auszugehen, dass der Code eines gesellschaftlichen Teilsystems die Interaktion steuert. Anders hingegen verhält es sich, wenn sich Interaktionen „an den Grenzen“ der gesellschaftlichen Funktionssysteme ausdifferenzieren und als „Verbindungsinteraktionen“ zwischen verschiedenen Teilsystemen der Gesellschaft fungieren, indem sie diese in der Kommunikation unter Anwesenden aneinander koppeln.²¹⁰ Da die Interaktion mehreren Funktionssystemen zugeordnet werden kann – von welchen keines sie zu steuern vermag – erscheint sie hinsichtlich ihrer Codierung mehrdeutig. Deshalb kann in der Interaktion etwas entschieden werden, das in allen gekoppelten Großsystemen als Irritation erscheint. An einer solchen Grenze bewegen sich z. B. Schulgottesdienste, die Dinkel als „vollständige Kopplung von Erziehungs- und Religionssystem“ beschreibt.²¹¹ Diese Aussage ist allerdings hinsichtlich der die Kommunikationsumgebung konstituierenden leibräumlichen Formen zu ergänzen und zu präzisieren. Denn die Steuerung des interaktionellen Sinngeschehens eines Schulgottesdienstes ist erheblich davon abhängig, wie die verschiedenen zusammenspielenden Sinndimensionen²¹² codiert sind: Das heißt, welche Personen (Pfarrer, Lehrer, Schüler) auf der interaktionellen Bühne des Schulgottesdienstes auftreten, in welchem Raum (Aula der Schule, Kirchenraum, Gemeindehaus) der Schulgottesdienst stattfindet und welches Thema (Einschulung, Schöpfung) sich der Gottesdienst auswählt. Um ähnlich mehrdeutig codierte Interaktionen handelt es sich auch in den von der Poimenik beobachteten Kommunikationssituationen, die sich im Kontext nicht religiös codierter Kommunikationsumgebungen ausdifferenzieren – etwa wenn sich aus dem Aufeinandertreffen eines Pfarrers und einer Pflegekraft einer Hospizstation, die der Pfarrer als Seelsorger besucht, ein Kommunikationssystem bildet. Da sich seelsorgliche Interaktionen häufig im Kontext nicht-religiöser
Vgl. Dinkel 2000: Gottesdienst, 159 ff. Vgl. Kieserling 1999: Kommunikation, 78. – Dass die Kopplung der Teilsysteme mit dem Aufhören der Interaktion beendet ist, ist evident. Deshalb können Interaktionen auch keine dauerhaften Abstimmungen der Funktionssysteme leisten; vgl. a.a.O., 78 Anm. 21. Vgl. Dinkel 2000: Gottesdienst, 161 f. S.o. 3.2.2.1.2.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Funktionssysteme performieren,²¹³ und sich – im Vergleich zu anderen christlich codierten Interaktionen wie dem Religionsunterricht oder Gottesdienst – ohnehin durch ein prinzipiell offenes Setting auszeichnen,²¹⁴ ist die Poimenik dazu angehalten, das Spezifische der seelsorglichen Kommunikation aufzuzeigen, um Seelsorge von Nicht-Seelsorge abgrenzen zu können. Und schließlich können Kommunikationssysteme unter Anwesenden – wie die „gesellige Interaktion“ – auch ohne Codierung durch ein gesellschaftliches Funktionssystem ablaufen und damit keinem Teilsystem zugeordnet werden.²¹⁵ Mit Kieserling bleibt festzuhalten: „Codierte Interaktion ist insofern etwas durchaus Unwahrscheinliches, ‚decodierte‘ Interaktion nichts völlig Unmögliches.“²¹⁶ Die Wahl einer bestimmten Codierung sowie der Wechsel zwischen verschiedenen Codes bzw. zwischen Codierung und Nicht-Codierung ist also wie die Interaktion selbst ein höchst dynamischer Vorgang. Auf der einen Seite kann Kommunikation unter Anwesenden dazu verwendet werden, „gesellschaftlich undifferenzierte Alltagskommunikation in den Einzugsbereich bestimmter Funktionssysteme zu bringen“²¹⁷ – in der Poimenik lässt sich dies am ehesten mit Hauschildts Modell der Alltagsseelsorge abgleichen,²¹⁸ das darauf abzielt, alltägliche Kommunikation in seelsorglich und damit christlich codierte Kommunikation zu überführen. Auf der anderen Seite können Interaktionen dazu benutzt werden, „um aus der Enge einer codierten in die Weite einer decodierten Kommunikation zurückzukehren“²¹⁹ – bzw. um überhaupt in diese „decodierte Weite“ zu gelangen. So kann eine im seelsorglichen Rahmen als erkennbar christlich codiert begonnene Interaktion im weiteren Verlauf zu einem Smalltalk über das Wetter werden oder ein Taufgespräch seinen Gang von der Thematisierung des Taufgottesdienstes über Erziehungsfragen hin zur „geselligen Kommunikation“ bzw. Alltagskommunikation nehmen. Dabei entscheidet sich sowohl die Transformation von Alltagskommunikation in codierte Kommunikation oder die Entgrenzung codierter in nicht-codierte Kommunikation als auch der Zeitpunkt dieses Wechsels im interaktionellen Vollzug.
Z. B. bewegt sich seelsorgliche Kommunikation in der Bahnhofsmission oder in kirchlichen Beratungsstellen an der Grenze zur Sozialarbeit, im Krankenhaus an der Grenze zum Medizinsystem, im Gefängnis an der Grenze zum Recht oder bei der sog. „Zielgruppenseelsorge“ an Kindern und Jugendlichen an der Grenze zum Erziehungssystem. S.o. Einleitung zu Kapitel 3. Vgl. Kieserling 1999: Kommunikation, 78. A.a.O., 80. Ebd. Hauschildt 1996: Alltagsseelsorge. Kieserling 1999: Kommunikation, 80.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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Dass sich die „einfachen“ Sozialsysteme der Interaktion nicht nur durch ein hohes Maß an Dynamik und Komplexität,²²⁰ sondern auch durch ein hohes Maß an Eigenständigkeit – Kieserling spricht hier von „Automobilität“²²¹ – auszeichnen, wird u. a. daran deutlich, dass selbst „organisatorisch vorentschiedene Interaktionen mit strenger Codebindung“ jederzeit dem Funktionssystem, in dem sie zu Beginn der Kommunikation verortet waren, entfremdet werden können.²²² Die Systemgrenze eines gesellschaftlichen Teilsystems lässt sich auf Ebene der Interaktion nur teilweise durchhalten, da es von der Interaktion aus betrachtet, eine „Zumutung“ ist, sich nur auf zwei Werte beschränken zu lassen.²²³ Interaktionen distanzieren sich gewissermaßen „in der Gesellschaft von der Gesellschaft“:²²⁴ Dies gilt nicht nur hinsichtlich der binären Codes gesellschaftlicher Funktionssysteme, sondern auch in Bezug auf Rollen und die Programme von Organisationen. Seelsorgliche Interaktion zeichnet sich deshalb durch zweierlei aus: Als Interaktion ist sie einerseits nicht auf das Prinzip der Codierung verpflichtet, als Seelsorge hingegen liegt ihr Spezifikum gerade in der christlichen Codierung der Kommunikation. Zieht man zudem in Betracht, dass das grundsätzlich offene Setting der Seelsorge diese weder auf einen eindeutig christlich codierten Raum, noch auf eindeutig christlich codierte Ausdrucksformen festlegt, stellt sich aus poimenischer Sicht die Frage, wie eine christliche Codierung in das Sinngeschehen eingespielt werden kann, so dass sich christlich codierte Interaktion in einem entsprechenden Rahmen als Seelsorge performiert.Während Seelsorge aus faktischer Sicht als explizit christlich codierte Interaktion zu beschreiben ist, liegt die Aufgabe aus taktischer Perspektive darin, den mittels leib-räumlicher Formen initiierten frame „Seelsorge“ in seiner Aktualisierung so zu modifizieren, dass er zum intentional gestalten Setting wird, das einen christlich codierten Kommunikationsraum generiert. Da sich Wirklichkeits(um)bildungen in der Seelsorge im Horizont der Vergegenwärtigungsprozesse des Evangeliums bewegen, ist das Evangelium in dem komplexen seelsorglichen Sinngeschehen mittels leib-räumlicher Formen zu inszenieren. Hierbei spielt bereits die Kommunikationsumgebung eine wesentliche Rolle, da diese präkommunikativ die „Spielregeln“ klärt, damit den Möglichkeitsraum der Kommunikation disambiguiert und den weiteren Verlauf der
S.o. Einleitung zu Kapitel 3. Vgl. Kieserling 1999: Kommunikation, 80: „Die Interaktion ist im Schema der gesellschaftlichen Differenzierung nicht fest, sondern selbstbeweglich placiert“. Vgl. ebd. Vgl. Kieserling 1999: Kommunikation, 82. Vgl. a.a.O., 62 f.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Kommunikation fortlaufend modifizierend rahmt. Besondere Aufmerksamkeit verdienen hier die leib-räumlichen Formen, die qua kultureller Vereinbarung auf das gesellschaftliche Funktionssystem der Religion, näherhin des Christentums verweisen,wie ein Kreuz oder ein Kruzifix an der Wand, ein Talar oder Collarhemd, eine Kirche oder Kapelle, eine biblische Geschichte oder ein gebetetes Vaterunser, eine aufgestellte Krippe oder ein Abendmahlsgedeck. Dabei können die in der Kommunikation unter Anwesenden zur interaktionellen Partitur zusammenspielenden Sinndimensionen schwach oder stark bzw. implizit oder explizit christlich codiert werden. Unter einer starken – also expliziten Codierung – wird eine im Sinne kultureller Vereinbarung deutlich erkennbare christliche Codierung verstanden und unter einer schwachen – also impliziten Codierung – eine ambiguitäre Form, die nicht nur auf eine christliche Sinnsicht hin rezipiert werden muss, sondern im Rahmen der sinnhaften Enzyklopädie verschiedene Deutepfade initiieren kann. Solche nicht eindeutigen Formen sind z. B. gefaltete Hände, eine Berührung oder Geste. Aus taktischer Perspektive kann mit den Codierungen der verschiedenen Sinndimensionen experimentiert werden, indem mittels leib-räumlicher Formen intentional Zeichenprozesse initiiert werden, wie etwa bei der Wahl des Kleidercodes, der Positionierung und Bewegung des eigenen Körpers im Raum, beim Einspielen eines Bibelverses oder bei der Gestaltung des Gratulationsakt im Rahmen eines Geburtstagsbesuchs.²²⁵ Denn wie Klie festhält, disambiguiert z. B. der Gratulationsakt die Möglichkeiten des weiteren Kommunikationsverlaufs, indem die konkreten leib-räumlichen Formen – wie die Gestik oder das Präsent – sowie die konkrete verbalsprachliche Formulierung beim Jubilar bereits „Vorstellungen über den möglichen Verlauf, die Intentionen und die Umgangsformen des Besuchs“ aktivieren.²²⁶ So ruft ein Segensgruß – „Gott segne Sie in Ihrem neuen Lebensjahr!“ – andere Erwartungen hervor als ein konventionell alltäglicher Glückwunsch – „Alles Gute zum Geburtstag!“ Auch das Anbieten explizit christlich geprägter Kommunikationsformen kann irgendwo auf der Achse schwache vs. starke christliche Codierung angeordnet werden, indem in taktischer Hinsicht verschiedene Modi gewählt werden können: Der Seelsorger kann z. B. eine Bildkarte mit einem Bibelvers mitbringen, einen Psalmtext vorlesen, ein festgeprägtes Gebet wie das Vaterunser sprechen, vorschlagen, für den Seelsorgepartner oder mit ihm gemeinsam zu beten oder ein freies Gebet sprechen.
S.u. Kapitel 4. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 388.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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Das Einspielen einer christlichen Codierung kann durchaus auch Unerwartetes aktualisieren, d. h. überraschend sein. Denn Seelsorge zielt primär nicht darauf, die im Menschen liegenden Ressourcen zu aktivieren²²⁷ – dies ist bereits durch eine als Trostgeschehen verstandene Seelsorge ausgeschlossen²²⁸ –, sondern Raum für die Vergegenwärtigung des Evangeliums ad personam, das sich in der Inszenierung als unverfügbare Heilszueignung und damit als ein Geschehen extra nos performiert, zu schaffen. Als im seelsorglichen Kommunikationsgeschehen durch Inszenierung verleiblichtes Evangelium, irritiert und konfrontiert die Einspielung dabei mit z.T. „fremden Welten“²²⁹ und überraschenden Sinnsichten. Der Seelsorger wird zu einem Gegenüber, der die ihm zur Verfügung stehenden Ausdrucksformen einer christlichen Sinnsicht als mögliche Deutungsmuster anbietet und fungiert – überspitzt formuliert – nicht länger als empathischer Spiegel für die Befindlichkeiten des Seelsorgepartners und der in ihm liegenden Möglichkeiten. Vielmehr wird der Seelsorger als christgläubiger Mensch und damit im Horizont einer Geschwisterschaft im Glauben mit seinen ihm eigenen Erfahrungen und Hoffnungen erkennbar und ansprechbar. Diese Überlegungen können im Rückgriff auf die Seelsorgelehre von Thurneysen, insbesondere mit der Rede vom sog. Bruch im seelsorglichen Gespräch eingeholt werden.²³⁰ Dass die Seelsorgelehre von Thurneysen in der Praktischen Theologie reinterpretiert und entsprechend gewürdigt wird, ist längst kein Novum mehr. Die scharfe und zum Teil polemische Kritik der frühen Seelsorgebewegung²³¹ ist der sachbezogenen Auseinandersetzung einer „post-therapeutischen Thurneysen-Rezeption“²³² gewichen und selbst seitens der Pastoralpsychologie wird eine Revision angestrebt.²³³ Auch für die vorliegende Untersuchung zeigt sich Thurneysens Seelsorgelehre – über den „Bruch“ hinaus – in einigen Aspekten anschlussfähig.Versteht Thurneysen Seelsorge als ein Geschehen im „Licht des Wortes Gottes“²³⁴, das von Beginn an über dem Gespräch
Ähnlich grenzt sich Dinkel (2002: Gedächtnis, 439; erste Hervorhebung im Original, zweite Hervorhebung L.K.) im religionspädagogischen Zusammenhang unter Rückgriff auf Schleiermacher von einer sokratisch-mäeutischen Unterrichtsmethode ab: „Der Unterricht kann es sich nicht zum Ziel setzen, nur das, was schon in den Jugendlichen ist, durch das Gespräch aus ihnen hervorzulocken.“ In dem Beitrag plädiert Dinkel vor dem Hintergrund einer systemtheoretisch reflektierten Pädagogik für das Auswendiglernen zentraler christlicher Texte. S.o. 2.2.1. Vgl. Dressler 2002: Zeichen. Vgl. Thurneysen 19947: Lehre, 114 ff. Vgl. z. B. Scharfenberg 1972: Seelsorge. Klie 2003: Zeichen, 390. Vgl. z. B. das Themenheft Pastoraltheologie 77 (1988, 425 ff) zum 100. Geburtstag von Thurneysen. Thurneysen 19947: Lehre, 115 u. ö.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
„errichtet war und errichtet bleibt“,²³⁵ so bestimmt dies nicht nur die explizit christliche Codierung des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens, sondern auch eine spezifisch christliche Sicht auf den Menschen: Bei der Seelsorge handelt es sich „um ein neues Sehen und Verstehen des Menschen […] von Gott her“.²³⁶ Dieses „von Gott her“, das für das Seelsorgeverständnis Thurneysens zentral ist, ist von der Rechtfertigungslehre Luthers her zu lesen, wie folgender Passus zeigt: „Seelsorge ist nicht Sorge um die Seele des Menschen, sondern Sorge um den Menschen als Seele. Und wir verstehen darunter: der Mensch wird auf Grund der Rechtfertigung gesehen als der, den Gott anspricht in Christus.“²³⁷ Oder aus Sicht der vorliegenden Untersuchung reformuliert: Der Seelsorgepartner wird als wirklicher oder möglicher Glaubensbruder im Angesicht Christi, und damit als gerechtfertigter Sünder ansprechbar.²³⁸ Aus systemtheoretischer Perspektive kann dieses „von Gott her“ mit Karle auch so interpretiert werden, dass die menschlichen Anliegen nicht nur in sozialer, psychologischer, und damit in immanenter Hinsicht verstanden werden, sondern in den Horizont des rechtfertigenden Gottes gerückt, also auch und v. a. in transzendenter Hinsicht beleuchtet werden: „Die Immanenz wird im Licht der Transzendenz interpretiert“²³⁹ – ebenso wie es die systemtheoretische Codierung des Funktionssystems der Religion beschreibt. Dass Thurneysens Seelsorgelehre deshalb von einer Heilszueignung, die einem z. B. in der Therapie vertretenen positiven Menschenbild entgegen steht, ausgeht, ist in diesem Zusammenhang evident.²⁴⁰ Findet Seelsorge im hoffnungsvollen Horizont des Evangeliums statt, das für jemanden zur guten Nachricht wird, so wird es in der seelsorglichen Kommunikation obsolet, das Leiden zu fokussieren wie dies etwa mit dem Ergründen von Problemursachen und einem allzu emphatischen Einsteigen in das jeweilige „Konfliktkarussell“²⁴¹ geschieht. Ähnliches stellt bereits W. Kurz fest: Seelsorge beteiligt sich nicht „an der peniblen Rekonstruktion mißlingenden Lebens“,²⁴² sondern leitet dazu an, im Horizont der Hoffnung des Reiches Gottes – also unter einem eschatologischen Code – „vorläufig-bedingtes Glück in theologischer Perspektive als den Vorschein endgültigen Glückens [des] Lebens wahrzunehmen“.²⁴³
A.a.O., 121. Thurneysen 19883: Rechtfertigung, 93. A.a.O., 85. – Thurneysen wendet sich in diesem Zusammenhang gegen die Vorstellung, dass der Mensch aus „verschiedenen Teilen“ – aus Leib, Geist und Seele – besteht (a.a.O., 80 ff; Zitat 80). Es geht ihm um den „ganzen Menschen“, der „nach Leib, Seele und Geist“ von Gott angeredet wird (a.a.O., 85). Dieser „von Gott angeredete und dadurch gerechtfertigte Mensch, das ist die Seele (es ist das paulinische Pneuma)“ (a.a.O., 85).Vgl. hierzu auch a.a.O., 45 ff. – Klie (2003: Zeichen, 391 Anm. 226) zeigt an dieser Vorstellung, dass Thurneysen immer wieder auch die „leibräumlichen Dimensionen des Seelsorgegeschehens“ hervorhebt. S.o. 2.2.1. Karle 2003: Seelsorge, 169; Hervorhebungen im Original. – Ähnlich bereits Kurz (1985: Bruch, 440) im Zusammenhang mit der Kategorie des „Bruchs“. Zur poimenischen Substitution des theologischen extra nos durch ein humanwissenschaftlich-therapeutisches intra me s. o. 2.2.1. Hiervor warnt Lohse 20062: Kurzgespräch, 38 ff. Kurz 1985: Bruch, 449. Ebd.
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In methodischer Hinsicht können sich Seelsorge und Poimenik dabei an der systemischen Therapie und Beratung orientieren.²⁴⁴ Als „Verkündigung des Wortes Gottes“²⁴⁵ – reformuliert: als Inszenierung des Evangeliums – geht es in einer so verstandenen Seelsorge dann auch um das explizite Einspielen geprägter Sprachformen des christlichen Glaubens. Bei Thurneysen spielen v. a. das Bibelwort und das Gebet eine zentrale Rolle. Seinen Aufsatz „Rechtfertigung und Seelsorge“ schließt er mit der Zuspitzung: „Seelsorge ist Beten.“²⁴⁶ Nicht zuletzt ist Thurneysens Seelsorgelehre ekklesiologisch ausgerichtet. Ort der Seelsorge ist die Kirche.²⁴⁷ Damit ist das seelsorgliche Geschehen als christlich codierte Kommunikation im kirchlich-gemeindlichen Kontext verortet und strikt von den anderen Teilsystemen der funktional differenzierten Gesellschaft abgegrenzt. Auch hierauf insistiert Thurneysen auf eine Weise, die an eine systemtheoretisch orientierte Bestimmung des Spezifikums der Seelsorge erinnert: „[D]as seelsorgerliche Gespräch soll sich grundsätzlich und darum auch praktisch unterscheiden von dem Gespräch, das der an uns sich Wendende etwa führt oder führen könnte mit dem Arzt, mit dem Psychologen, dem Psychanalytiker, dem Juristen, selbst dann, wenn es um ganz die gleichen Dinge sich handelt, über die er […] auch mit den genannten Instanzen reden wird.“²⁴⁸ Dem entsprechen – auch darauf weist Thurneysen in diesem Zusammenhang hin – die an die Seelsorge gerichteten Erwartungen.²⁴⁹
Von Thurneysens Seelsorgelehre ist insbesondere der sog. „Bruch“ im seelsorglichen Gespräch poimenisch neu bewertet worden.²⁵⁰ Mitte der 1980er ist es W. Kurz, der die bis dahin vorherrschende polemische Verzeichnung revidiert, indem er den „Sinn“ dieser „verfemten poimenischen Kategorie“ vor der Folie der therapeutisch orientierten Seelsorge, insbesondere des klientenzentrierten Ansatzes von Rogers, erhellt und ihn damit rehabilitiert.²⁵¹ W. Kurz zeigt dabei „frappierende“ Strukturanalogien zwischen den beiden Ansätzen auf.²⁵² Den neueren Deutungen ist – wie Klie beobachtet – ein funktionales Verständnis der
Ähnlich plädiert Meyer-Blanck (1999: Entdecken, 34 f) – mit Hinweis auf die systemische Therapie – wider den „kerygmatische[n] Ernst und das therapeutische Schwergewicht“ für „Witz und Heiterkeit“: „Seelsorge mit der Bibel müßte […] auch etwas spielerisch Heiteres, Hypothetisches und Humorvolles haben.“ Thurneysen 19883: Rechtfertigung, 86. A.a.O., 94. – Zum „Gebet als Medium der Seelsorge“ vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Dinkel (2004), der allerdings hinter einer (kommunikations‐)theoretischen Perspektive zurückbleibt. Vgl. Thurneysen 19947: Lehre, 9 ff; ders. 19883: Rechtfertigung, 86 ff. – Zur ekklesiologischen Dimension von Seelsorge s.o. 2.2.1. Thurneysen 19883: Rechtfertigung, 86 f. Vgl. a.a.O., 87. Einen knappen und luziden Überblick über die poimenische Neudeutung des „Bruchs“ gibt Klie 2003: Zeichen, 390 f. Kurz 1985: Bruch. Vgl. a.a.O., 442 ff.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Kategorie des „Bruchs“ gemeinsam: „Sie wird aus ihrem theologiegeschichtlichen Rahmen herausgelöst und damit in methodischer Hinsicht vom Odium des Autoritären und Doktrinären befreit.“²⁵³ Dies gilt für Winklers²⁵⁴ tiefenpsychologische Lesart, für Gräbs²⁵⁵ hermeneutische Deutung und Grözingers²⁵⁶ ästhetische Interpretation im engeren Sinne. Analog zur Poetik der Gegenwart beschreibt Grözinger den „Bruch“ als etwas „Neues“, eine „Erschütterung“, die „absolut unerwartet“ eintritt.²⁵⁷ Das erinnert an die von Eco skizzierte ästhetische Kommunikation, deren Charakteristika wiederum der systemtheoretischen Irritation bzw. semiotischen Umcodierung ähneln.²⁵⁸ Es wird deutlich, dass es sich beim „Bruch“ nicht „im Sinne eines pfarramtlich-autoritären Gesprächsverhaltens“²⁵⁹ um einen Abbruch des Gesprächs handelt. Thurneysen geht es nicht – wie er selbst formuliert – um „geistliche[ ] Anrempelungen“²⁶⁰ des Seelsorgepartners, vielmehr nimmt er das Gespräch als wechselseitige Kommunikation ernst, wie in der praktisch-theologischen Neubewertung bereits mehrfach darauf hingewiesen wurde.²⁶¹ Für die Aufnahme der poimenischen Kategorie des „Bruchs“ in einen semiotisch-systemtheoretischen Kontext ist in erster Linie die Reinterpretation von Klie²⁶² in Kombination mit den Lesarten von Meyer-Blanck²⁶³ und Karle²⁶⁴ weiterführend. Dabei liegt der Zugewinn der reinterpretierenden Rezeption des Bruchs darin, dass mit ihm neben den außertheologischen Figuren der systemtheoretischen Irritation, der semiotischen Umcodierung und dem systemthera-
Klie 2003: Zeichen, 391. Winkler 1988: Thurneysen. Gräb 1997: Deutungsarbeit, 337 ff. Grözinger 1996: Thurneysen, 283 f; sowie bereits ders. 1994: Differenz-Erfahrung, 49 ff. Vgl. Grözinger (1996: Thurneysen, 283) bezieht sich hier auf Botho Strauß. S.o. 3.2.2.2.1 . Meyer-Blanck 1999: Entdecken, 29. Thurneysen 19947: Lehre, 121. Vgl. z. B. Gräb 1997: Deutungsarbeit, 337 f; Klie 2003: Zeichen, 391 Anm. 228; Karle 2003: Seelsorge, 172. – Thurneysen 19947: Lehre, 120 f: „Es darf nicht geschehen, daß uns der Bruch, die Entscheidung, auf die hin wir unser Gespräch zu führen haben, zu einem doktrinären Vorhaben werden, welches wir, kaum ins Gespräch eingetreten, abrupt und unvermittelt zur Ausführung bringen. So entsteht gar kein wirkliches Gespräch, sondern nur ein Scheingespräch, bei dem wir den Nächsten gar nicht richtig anhören, sondern ihn sofort mit der vermeintlich liniengeraden und radikal ausgerichteten ‚Botschaft‘ überfallen. Er ist uns dann gar nicht zum Nächsten geworden […], sondern er ist für uns das Objekt einer ‚Missionierung‘, die in keiner Weise wirksam werden kann, weil sie nicht aus einer aufrichtigen Begegnung herauswächst. Das darf nicht geschehen.“ Vgl. Klie 2003: Zeichen, 392 ff. Meyer-Blanck 1999: Entdecken. Karle 1996: Seelsorge, 214 ff.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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peutischen Reframing, eine poimenische Kategorie zur Beschreibung seelsorglicher Umbildungsprozesse zur Verfügung steht. Klie bietet eine „systemische bzw. semiotische Deutung“,²⁶⁵ indem er den Bruch vor dem Hintergrund der systemtherapeutischen Interventionstechnik des Reframings als „biblischchristliche[ ] ‚Neurahmung‘“²⁶⁶ interpretiert. Aus semiotischer Sicht ergänzt er die von Thurneysen beschriebene Grundstruktur der Seelsorge des Aufnehmens der „menschlichen Lebenslage“ und Mitnehmens zum „Worte Gottes“²⁶⁷ um die rezeptionsästhetische Kategorie des Aneignens durch den Seelsorgepartner.²⁶⁸ Außerdem plädiert er dafür, die in das Seelsorgegeschehen eingespielten biblischen Texte als „offene Kunstwerke“²⁶⁹ zu verstehen, ähnlich wie dies bereits in der semiotisch orientierten Homiletik für das Predigtgeschehen geschieht.²⁷⁰ Damit behebt er zugleich das von ihm konstatierte „Hauptdefizit“ bisheriger Entwürfe systemischer Seelsorge, das Fehlen rezeptionsästhetischer Fragen der Texthermeneutik.²⁷¹ Ähnlich geht auch Meyer-Blanck von den Einsichten einer semiotisch orientierten Homiletik aus, um aus dieser Perspektive den „Bruch“ des kerygmatischen Seelsorgeverständnisses von Thurneysen neu als „Perspektivenwechsel“²⁷² zu interpretierten. Anstelle einer abschließenden Funktion der Bibel ergibt sich eine eröffnende: Der Bibel eignet „Entdeckungspotential“.²⁷³ In ihrer Dissertation, in der Karle „Seelsorge als Störung“ bzw. „Seelsorge als religiöse Kommunikation“ beschreibt, verweist sie aus systemtheoretischer bzw. systemtherapeutischer Perspektive auf eine mögliche Integration des „Bruchs“ in die seelsorgliche Kommunikation.²⁷⁴ In ihrer späteren Antrittsvorlesung²⁷⁵ reinterpretiert sie den „Bruch“ aus spezifisch systemtheoretischer Perspektive.
Aus semiotisch-systemtheoretischer Perspektive stellt sich der „Bruch“ also weniger als „Abbruch“, denn als „Perspektivenwechsel“²⁷⁶ dar, dem das Potential eignet, eingefahrene, dysfunktional wahrgenommene Deutungsmuster in Frage zu stellen und zu verändern – also zu brechen – und auf diese Weise das permanent um sich selbst kreisende (incurvatus in se ipsum) „Problemkarussell“ (T. Lohse) von außen (extra nos) zu unterbrechen. Der „Bruch“ im seelsorglichen Klie 2003: Zeichen, 392. A.a.O., 394. Vgl. Thurneysen 19947: Lehre, 114 ff. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 395. Vgl. Eco 19967: Kunstwerk. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 396; zur semiotisch orientierten Homiletik s.o. 1.2.2.2. Vgl. a.a.O., 389. Meyer-Blanck 1999: Entdecken, 30. Vgl. a.a.O., 28 ff. Vgl. Karle 1996: Seelsorge, 214 ff. S.o. 1.1.3. Karle 2003: Seelsorge. Vgl. Kurz (1985: Bruch, 443), Meyer-Blanck (1998: Identität, 842;1999: Entdecken, 30) und Klie (2003: Zeichen, 392).
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Kommunikationsgeschehen reizt zur heilsamen Umbildung von Wirklichkeit, indem er im Horizont des eschatologischen Codes eine irritierende Perspektive einspielt und so die Interaktion als Seelsorge explizit christlich codiert. ²⁷⁷ Theologisch formuliert: Als leib-räumliche Form (per formam) eröffnet der „Bruch“ den Sinnhorizont des Reiches Gottes und kann daher mit Karle auch als „Perspektive der Hoffnung und des Glaubens“²⁷⁸ bezeichnet werden. Die explizit christliche Codierung bzw. Umcodierung des Kommunikationsgeschehens zielt als Inszenierung des Evangeliums darauf, die promissionale Anwesenheit des Abwesenden (Mt 18,20) zur Darstellung zu bringen. Aus dieser Perspektive sind die Anwesenden in eine Kommunikation, die im Angesicht Christi stattfindet, inkludiert. Ausgehend von z. B. einer Alltagskommunikation handelt es sich um einen „Wechsel der Wahrnehmungsform“:²⁷⁹ Coram Deo werden die Anwesenden als grundsätzlich gleichberechtigte Glaubensgeschwister wahrgenommen und angesprochen. Es geht um „ein gemeinsames Ringen um Wirklichkeitsdefinitionen“,²⁸⁰ darum, die Welt neu im Licht des christlichen Glaubens wahrzunehmen und aus dieser Perspektive Wirklichkeit(en) zu konstruieren. In diesem Sinne sieht Seelsorge nicht nur das, was der Fall ist, sondern das, was sub ratione Dei der Fall sein oder werden könnte. Mit dieser Intention werden alte, gewohnte Weltsichten und Wirklichkeitskonstruktionen aufgebrochen, um neue, ungewohnte und überraschende Umdeutungen einzuspielen. So kann z. B. die Erfahrung, bei einem Unfall unverletzt geblieben zu sein, nicht nur als „Glück des Zufalls“, sondern auch als „Bewahrung […], für die man Gott danken kann“ verstanden werden.²⁸¹ Ebenso wie die Erfahrung einer Gefährdung nicht nur als „Schicksalsschlag“ hingenommen, sondern im Gebet klagend vor Gott gebracht werden kann – ähnlich wie es im Hiobbuch und in den Psalmen begegnet oder auch vom biblischen Jesus berichtet wird.²⁸² Dabei kann das Einbringen des Gedankens, dass der biblische Jesus am Kreuz Gott-Vater klagend fragt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46 bzw. Mk 15,34 und Ps 22) in die seelsorgliche Kommunikation für jemanden, der Leid erfahren hat, eine überraschende Neuentdeckung sein, die ihn
Thurneysen (19947: Lehre, 128) selbst bezeichnet den „Bruch“ als „Widerschein von der großen Störung“, in dem „das Licht der großen Verheißung“ anbricht, und deutet ihn damit eschatologisch. Karle 2003: Seelsorge, 171; Hervorhebung im Original. A.a.O., 180; im Original hervorgehoben. VonSchlippe 1995: Perspektive, 23 f; Hervorhebung L.K. Vgl. Karle 2003: Seelsorge, 170. Vgl. ebd.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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selbst zur Klage und zum Gebet ermutigt.²⁸³ Das heißt, die Leiderfahrung führt nicht dazu, die christliche Sinnsicht als „unrealistisch“, d. h. als nicht mögliche, unwahrscheinliche Wirklichkeitskonstruktion abzulehnen, sondern die eingebrachte christliche Sinnsicht wird probeweise als Wirklichkeit aktualisiert, indem z. B. ein Klagepsalm gelesen oder gebetet wird. Dabei wird mit der promissionalen Anwesenheit Christi gerechnet (Mt 18,20), der im Glauben als Adresse der Kommunikation fungiert. Hat ein so verstandener „Bruch“ also „die Funktion, vorgefundene Wirklichkeitskonstruktionen […] nachhaltig zu irritieren“, ist er „formal durchaus als eine Interventionsform reinterpretierbar, die einer ‚Umdeutung‘ bzw. einem ‚Reframing‘ sehr nahe kommt.“²⁸⁴ Ähnlich dem Reframing geht es auch beim „Bruch“ darum, durch „die Einführung unerwarteter Sichtweisen auf die als bedrängend wahrgenommene Wirklichkeit“ „ungewohnte Verhaltensoptionen“ zu imaginieren und den „individuelle[n] Deutungsraum“ zu erweitern.²⁸⁵ Der „Bruch“ im seelsorglichen Kommunikationsgeschehen reizt dazu, etwas aus einer anderen Perspektive zu betrachten, etwas in einen anderen Rahmen zu stellen, kurz: zur Umcodierung und heilsamen Umbildung von Wirklichkeit im Horizont eines christlich-eschatologischen Codes. In diesem Sinne kann der „ethische Imperativ“ des systemischen Denkens²⁸⁶ mit Morgenthaler wie folgt modifiziert werden: „Handle so, dass du der Geschichte deiner Gemeindeglieder etwas Hoffnungsvolles hinzufügen kannst!“²⁸⁷ Anders als in der Seelsorgelehre von Thurneysen geht es aus systemtheoretisch-semiotischer Sicht beim „Bruch“ jedoch darum, die christliche Sinnsicht als Deutungsangebot einzuspielen – was im Übrigen auch der im weitesten Sinne konstruktivistischen Perspektive von System- und Zeichentheorie entspricht.²⁸⁸ Zwar verbindet sich – wie Klie vermerkt – mit der christlichen Sinnsicht „ausdrücklich eine Wahrheitsbehauptung“, in der funktional differenzierten Gesellschaft „vermag sie sich jedoch nur zwanglos einsichtig zu machen“.²⁸⁹ Das heißt, die christliche Sinnsicht erscheint als ein mögliches Deuteschema von Welt,
Ähnliches stellt Bukowski (19952: Bibel, 71 ff; Zitat 76) hinsichtlich der Rachpsalmen fest, die als Gebete dazu ermutigen, „mit unserer Wut, ja sogar mit unseren Vernichtungsphantasien vor Gott [zu] treten“. Klie 2003: Zeichen, 392. Vgl. a.a.O., 393. Vgl. vonFoerster 19982: Abbau, 51: „Handle stets so, daß Du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst!“ Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 142. S.o. 3.1. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 393 f.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
als eine mögliche Wirklichkeitskonstruktion und damit als ein Angebot zur Interpretation von „lebensgeschichtliche[r] und alltagsweltliche[r] Erfahrungen“.²⁹⁰ Deshalb gilt: „Sie kann nur zugespielt werden – eine Evidenzgarantie besteht nicht.“²⁹¹ Im seelsorglichen Deutungsspiel werden Alltagserfahrung und christliche Sinnsicht aufeinander bezogen, so dass im Idealfall eine neue Perspektive gewonnen und mit ihr Handlungsfreiraum eröffnet wird. Hierzu bietet der „Bruch“ einen möglichen Deutepfad in der sinnhaften Enzyklopädie an, mit dem Ziel, die gewohnte und erwartete Sinnlinie zu unterbrechen. Dabei wird dem Spiel der Deutungen, das sich um ein bestimmtes Thema performiert – wie z. B. eingefahrene und als bedrängend empfundene Beziehungsmuster – zunächst einmal probeweise ein anderes Interpretationsschema zu Grunde gelegt als das habitualisierte. So kann z. B. in die Beziehung von Ehepartnern die Perspektive des promissional anwesenden Dritten mit dem F. M. Dostojewski zugeschriebenen Diktum eingespielt werden: „Einen Menschen lieben heißt, ihn so zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat.“ Mit dem Angebot, den anderen in der Beziehung zu sich selbst coram Deo zu betrachten, rückt die Kommunikation gemäß Mt 18,20 explizit vor das Angesicht Christi und kann den Deutungsspielraum erweitern, indem festgefahrene Wahrnehmungsmuster relativiert werden.²⁹² Das kann auch mit einer zirkulären Frage geschehen: „Wenn Christus Sie hier so mit ihrem Partner sieht, was meinen Sie, würde er wohl über ihn sagen?“ So eröffnet der „Bruch“ im Rückgriff auf den enzyklopädischen Sinn als Möglichkeitsraum der Interpretation einen „semiosische[n] Raum“,²⁹³ der dem abduktiven Spiel der Seelsorge neue Möglichkeiten hinzufügt. Er versorgt die interaktionelle Semiose mit Irritation, damit „[d]ie semiotische Spirale, bereichert durch neue Zeichen-Funktionen und Interpretanten, […] bereit [ist] für weitere Drehungen.“²⁹⁴ Als Perspektivenwechsel markiert der „Bruch“ im seelsorglichen Gespräch das Angebot eines anderen, auch möglichen Selektionsmusters zur Reduktion von Komplexität und damit ein anderes, auch mögliches Wirklichkeitskonstrukt. Poimenisch kommt es – wie bereits Klie festhält – bei dieser unterbrechenden Umcodierung darauf an, „deutlich werden zu lassen, daß die christliche Sinnsicht andere Perspektiven nicht ausschließt, sich aber von ihnen abhebt, da sie ein-
Vgl. a.a.O., 394. Ebd. In diesem Sinne kann der „Bruch“ mit Grözinger (1994: Differenz-Erfahrung, 53) auch als „fundamentale[ ] Differenz-Wahrnehmung zwischen dem, was mich die uns umgebende Wirklichkeit sein läßt, und was ich in den Augen Gottes sein soll, ja schon bin“ verstanden werden. Klie 2003: Zeichen, 395. Eco 19912: Semiotik, 337.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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gebettet ist in eine religiös [genauer: christlich; L.K.] bestimmte Lebensform. Sie verdankt sich dem Gottesglauben und betrifft insofern auch den Seelsorger selbst.“²⁹⁵ Damit verweist die christliche Sinnsicht auf ein christliches Deutungsuniversum, auf eine spezifische Weltsicht mit den ihr eigenen Ausdrucksformen, denen (Um‐)Deutungspotential eignet: „Religiöse Zeichen können keine andere Welt generieren, aber sie generieren diese Welt als eine andere […], sie codieren die Wirklichkeit um“.²⁹⁶ Da mit einer religiös-christlichen Umcodierung die Glaubensgewissheit der Anwesenden nicht nur ins Spiel kommt, sondern immer auch auf dem Spiel steht, unterscheidet sich Seelsorge auch in diesem Punkt von nicht-religiös codierter Kommunikation, wie etwa der Therapie. In der seelsorglichen Interaktion geht es also darum, mit der christlichen Sinnsicht eine andere Perspektive als die gewohnte und erwartete einzuspielen, neben dem aktualisierten Interpretationsschema einen weiteren möglichen Deutepfad der sinnhaften Enzyklopädie abzuschreiten und auf diese Weise im distinguierten Zeitraum der Seelsorge probeweise Wirklichkeit umzubilden. Ob diese angebotene und im Idealfall in der Seelsorge erprobte Wirklichkeitskonstruktion das gewohnte Deutungsmuster – wie z. B. ein Beziehungsmuster – in seiner Struktur so irritiert, dass diese verändert und auch außerhalb des seelsorglichen Rahmens abrufbar ist, liegt dabei beim zum irritierenden System und bleibt deshalb zunächst einmal offen. Rezeptionsästhetisch zugespitzt kann deshalb mit Meyer-Blanck formuliert werden: „Der ‚Bruch‘ kann nur vom Rezipienten selbst herbeigeführt werden, aber es ist die Aufgabe der Seelsorgerin, solche biblischen Texte anzubieten, die helfen, die Wahrnehmung zu verändern.“²⁹⁷ Es sind v. a. geprägte Kommunikationsformen des christlichen Glaubens – wie biblische Texte, Lieder, Gebete oder Segenshandlungen –, die in der seelsorglichen Kommunikation die Funktion der Umdeutung bzw. der Modifikation des Deutungsrahmens übernehmen.²⁹⁸ Gerade im Rückgriff auf „konventionelle reli-
Klie 2003: Zeichen, 393 Anm. 234. Meyer-Blanck 1999: Phänomene, 92. Meyer-Blanck 1999: Entdecken, 30. – Zwar reflektiert Bukowski seine Überlegungen, die Bibel ins Gespräch zu bringen, weder rezeptionsästhetisch, noch integriert er in seinen Ansatz die Kategorie des „Bruchs“, aber auch er (19952: Bibel, 55 ff) weist darauf hin, dass allein der Seelsorgepartner darüber entscheidet, ob ihm eine biblische Geschichte nützt. Als Seelsorger warnt Bukowski deshalb (a.a.O., 63): „Wir dürfen in unsere Einfälle nicht verliebt sein; wenn unser Gegenüber auf eine biblische Geschichte nicht ‚anspringt‘, sollten auch wir nicht bei ihr verharren und sie keinesfalls verteidigen.“ Vgl. Klie (2003: Zeichen, 393). Ähnlich auch Karle (1999b: Seelsorge, 43; Hervorhebung im Original): „Seelsorge deutet das Leben […] mit den vielfältigen und komplexitätsreichen Medien religiöser Kommunikation: mit Gebeten und Liedern, mit der Poesie der Psalmen und den fun-
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giöse Zeichen“ sieht Klie den „Zugewinn einer biblisch-christlichen ‚Neurahmung‘ gegenüber einer rein systemtherapeutisch angelegten Verstörungsstrategie“.²⁹⁹ Anders als „verstörende“ Einspielungen in der systemischen Therapie sind geprägte Kommunikationsformen des christlichen Glaubens zum einen an den Kontext einer christlich codierten Lebensform gebunden, zum anderen sind sie, da sie zum gesellschaftlichen Funktionssystem der Religion gehören, grundsätzlich unmittelbar zugänglich. Und selbst wenn man mit Meyer-Blanck von einem „immer wieder beklagten Traditionsabbruch“³⁰⁰ hinsichtlich christlich codierter Ausdrucksformen ausgeht, liegt darin eine Chance. Denn mit der Abnahme ihrer Bekanntheit, steigt ihr Irritationspotential. Zudem performiert sich das gesamte Interaktionsgeschehen als Seelsorge – zumindest implizit – im Horizont des eschatologischen Codes, so dass alle Sinndimensionen der seelsorglichen Kommunikation für eine explizite christliche Codierung offen sind: „Religion und Religiosität zeigen sich auf allen Ebenen des Seelsorgegeschehens als mögliche ‚Konfliktherde‘ bzw. ‚Ressourcen‘.“³⁰¹
dierenden Geschichten des christlichen Glaubens, mit religiösen Gesten und Symbolhandlungen.“ Ebenso Morgenthaler (20023: Systemische Seelsorge, 267) – hier noch in Bezug auf familiäre Deutemuster: „Dabei erweisen sich auch biblische Traditionen und Praktiken der Frömmigkeit als heilsame ‚Unterbrechungen‘ des eingeschliffenen Familienspiels.“ Oder a.a.O., 247: „Das Evangelium eröffnet als ein ‚Reframing der Wirklichkeit‘ ganz besonderer Art im wahrsten Sinn Einmaliges und Unerhörtes“. – Überhaupt ist seit den 1990er Jahren eine Rehabilitierung christlicher Ausdrucksformen in der Seelsorge zu beobachten. Spielten diese in den Lehrbüchern von Ziemer (20042: Seelsorgelehre) und Winkler (20002: Seelsorge) noch keine explizite Rolle, so weist bereits Klie (2003: Zeichen, 393 Anm. 233) darauf hin, dass in der Poimenik seit einiger Zeit unter dem Stichwort der sog. „Spiritualität“ über die Integration spezifisch christlicher bzw. „kirchlicher Ausdrucksformen“ in das seelsorgliche Geschehen v. a. im Krankenhaus nachgedacht wird. Exemplarisch nennt er das Themenheft der „Wege zum Menschen“ Jg. 46/H. 7 (1994, 389 ff) zur „Spiritualität in der Seelsorge im Krankenhaus“. Ganz ähnlich setzt auch Gronauer (2003: Rückkehr, 108) bei der sog. „Spiritualität“ an: „Die Bezugsgröße der Psychotherapie ist die Psychologie als Wissenschaft; die Bezugsgröße der Seelsorge dagegen ist die gelebte Spiritualität. In dieser Weise ist der Glaube in die Seelsorge zurückgekehrt.“ Und der Blick in die neueren Lehrbücher zur Poimenik zeigt, dass christliche Ausdrucksformen in Bezug auf Seelsorge wieder reflektiert werden: Zu Segen und Gebet vgl. z. B. Herbst (2012: Beziehungsweise, 297 ff und 305 ff) und Klessmann (20124: Seelsorge, 155 ff), der unter der Überschrift „rituell-symbolisches Handeln“ Gebet, Segen, Abendmahl und Salbung fasst. Und Meyer-Blanck (2003: Segen) macht die Weiterentwicklung des Ecoschen Zeichenverständnisses (2000: Kant) für den theologischen Begriff des christlichen Segens fruchtbar. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 394. – Klie bezieht sich im Weiteren auf den Erfahrungsbegriff von Ebeling. Meyer-Blanck 1999: Entdecken, 30. Klie 2003: Zeichen, 369.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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Darin liegt ein Unterschied zu Ansätzen der Familien- und Systemtherapie, in der Religiosität keine explizite Rolle spielt.³⁰² In die systemtherapeutische Praxis wird das Thema Religiosität z.T. integriert. So befragt z. B. Essen³⁰³ das systemische Arbeiten auf seine sog. „spirituellen“ Implikationen hin: Er ist der Ansicht, dass „[z]entrale Konzepte des Systemischen Denkens wie Konstruktivismus, Ressourcenorientierung und Vernetztheit […] als spirituelle Konzepte gelesen werden [können].“³⁰⁴ Morgenthaler ist der Ansicht, dass Religiosität im Familiensystem immer schon eine Rolle spielt – sei es in der Form von Familienreligiosität oder „Gotteskonstrukten“. Deshalb ist es Aufgabe systemischer Seelsorge – anderes als der systemischen Therapie – diese Religiosität in ihrer durchaus ambivalenten Funktion „als Konfliktherd und Ressource im System“ in den Blick zu nehmen.³⁰⁵ Es geht Morgenthaler darum, „Gott ins System“ zu bringen.³⁰⁶ Allerdings argumentiert er hier nicht theologisch, sondern aus therapeutischer Perspektive und orientiert sich an systemtherapeutischer Methodik.³⁰⁷ Dies zeigt sich auch an seinem Beitrag zum „religiösen Coping“,³⁰⁸ in dem Morgenthaler dafür plädiert, die Pastoralpsychologie als Bezugsgröße der Poimenik durch die empirische Religionspsychologie zu ersetzen. Letztere arbeitet heraus, dass Religiosität in Belastungssituationen eine salutogenetische Funktion erfüllt. Aus theologischer Sicht bleibt jedoch mit dieser psychologisch-medizinischen Perspektive auf Christentum dieses als christliche Lebensform unterbestimmt. Denn in Bezug auf die christliche Sinnsicht geht es nicht nur um „Lebensbewältigung“,³⁰⁹ sondern um eine Lebensweise, die – im Sinne des eschatologischen Codes – über das Leben hinausgeht, indem sie die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod in ihre Lebensform mit einschließt. Ähnliches ist auch im Hinblick auf das Modell der „religiös-existentielle[n] Beratung“, das Morgenthaler zusammen mit Schibler entwickelt,³¹⁰ zu konstatieren. Ausgehend von der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie basiert dieses Beratungsmodell auf der These, dass religiöse Beziehungen und Alltagsbeziehungen immer zusammenspielen. Deshalb hat die Arbeit an religiös-theologischen Themen immer auch Konsequenzen für die anderen Lebensbereiche.
Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 90 ff. Essen 1995: Aspekte. A.a.O., 41. Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 76 ff. Vgl. a.a.O., 257 ff. Vgl. a.a.O., 253 ff. Morgenthaler 2002: Pastoralpsychologie. – „Coping“ wird „als stabilisierender Faktor verstanden, der Individuen dabei hilft, während Lebensphasen voller Stress ihre psychosoziale Anpassung aufrechtzuhalten“ (a.a.O., 290) und kann daher im weitesten Sinne auch als „Bewältigungsstrategie“ (a.a.O., 291 Anm. 3) bezeichnet werden. Vgl. die religionspsychologische Referenzliteratur Morgenthalers 2002: Pastoralpsychologie, 288 Anm. 1. Morgenthaler/Schibler 2002: Beratung.
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Unter den christlich codierten Kommunikationsformen sind es v. a. biblische Texte, denen in der Poimenik besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.³¹¹ Diese verfügen – wie Karle im Anschluss an G. Theißen und Harnisch beschreibt – über ein „semantisches Störungspotential“,³¹² das sie zur Umbildung von Wirklichkeit als besonders geeignet erscheinen lässt: „Die biblischen Metaphern und Geschichten, die Gleichnisse vom Reich Gottes oder der Gottesherrschaft konfrontieren […] mit einem Wirklichkeitsverständnis, das die alltäglichen Wahrnehmungsmuster, Zuordnungen und ‚Spiele ohne Ende‘ stört und in einem neuen Licht wahrnehmen läßt – und darin liegt ihre kreative Kraft. Sie stellen unsere Vorannahmen über die Welt und uns selbst in Frage und distanzieren auf diese Weise von der dominierenden Sprachkonvention und dem geläufigen Alltagswissen. Gerade in ihrer Fremdheit und Sperrigkeit liegt damit ein nicht zu unterschätzendes Moment ihrer Wirksamkeit.“³¹³ Die Fremdheit der Texte schafft Distanz zur alltagsweltlichen Sichtweise: „Alltagswissen erscheint in einer religiös verfremdeten Lesart.“³¹⁴ Die (Um‐)Bildung von Wirklichkeit vollzieht sich im Spielraum der den Seelsorgepartnern je eigenen Sinnsicht und der zugespielten christlichen Lesart. So berichtet z. B. Bukowski, wie er einem im „Konfliktkarussell“ (T. Lohse) aus Selbstmitleid und Selbstbeschimpfung verstrickten Alkoholabhängigen das Jesuswort „Willst du denn gesund werden?“ (Joh 5,6) zuspielt.³¹⁵ Oder weiter, wie er einem in seiner Verzweiflung gefangenen Suizidgefährdeten das Gleichnis vom Feigenbaum (Lk 13,6 ff) anbietet: „Schließlich sage ich [Bukowski; L.K.]: ‚Wie Sie über sich reden, das klingt so, wie Leute einmal im Beisein Jesu über einen Baum geredet haben, der ganz verdorrt war und keine Frucht mehr brachte. Da sagte der Besitzer: ‚Der ist unnütz – weg damit!‘ […] ‚Genau‘, sagt Herr K., ‚weg damit!‘ […] Ich fahre fort: ‚Darauf hat Jesus gesagt: ‚Gib ihm noch ein Jahr!‘“³¹⁶ Hier wird zugleich deutlich, dass es Bukowski weniger um die textgetreue Nacherzählung einer biblischen Geschichte geht, sondern vielmehr um ihr Irritationspotential, das er situativ dadurch steigert, indem er den Satz des Weingärtners Jesus in den Mund legt.³¹⁷ Vgl. Klessmann 20124: Seelsorge, 209: „Lebensdeutung im Horizont der christlichen Tradition greift auf die Bibel als das zentrale Medium christlicher Wirklichkeitsdeutung zurück.“ – Zum Gebrauch der Bibel in der Seelsorge vgl. Morgenthaler (20122: Seelsorge, 255 ff) und Klessmann (20124: Seelsorge, 209 ff). Theißen 1994: Zeichensprache, 20. Karle 1996: Seelsorge, 215. Klie 2003: Zeichen, 394. Vgl. Bukowski 19952: Bibel, 55 f; Hervorhebung im Original. A.a.O., 58. Vgl. a.a.O., 62 f.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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Im Kontext eines als Perspektivenwechsels gedeuteten „Bruchs“ erhalten die biblischen Texte im Unterschied zur „kerygmatischen Verengung“ eine „neue Funktion“ im Seelsorgegeschehen.³¹⁸ Ihr Einbringen erfolgt weder autoritär noch abschließend, sondern geschwisterlich und eröffnend. Im seelsorglichen Deutungsspiel laden sie zu Entdeckungen im Horizont einer christlichen Sinnsicht ein. In diese Reformulierung des „Bruchs“ – als Unterbrechung, nicht jedoch als Abbruch – fügt sich stimmig die von Bukowski aufgestellte Maxime: „Wir können mit einer Geschichte eine neue Sichtweise ins Gespräch bringen, aber wir dürfen nicht das Thema wechseln!“³¹⁹ Wie jede geprägte Ausdrucksform des christlichen Glaubens eröffnen biblische Geschichten einen „semiosische[n] Raum“, der „durch den Gesprächskontext, […] durch das ‚orthotomische‘ Kalkül des Seelsorgers und durch die Deutungsressourcen seines Gegenübers“ bestimmt ist.³²⁰ Damit markiert Klie drei Aspekte, die für das Einbringen christlich codierter Kommunikationsformen in die seelsorgliche Interaktion maßgeblich sind und im Folgenden näher beleuchtet werden. Wie jede Kommunikation spielt auch die Kommunikation christlicher Sinnformen mit ihrer konkreten Kommunikationsumgebung zusammen.³²¹ Analoges ist für die zu veranschlagen. Biblische Texte wirken eben nicht ex opere operato, sondern sind von ihrem jeweiligen „Gesprächskontext“ abhängig.³²² Es macht einen Unterschied, ob das Bibelwort „Wir sind unnütze Knechte; wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren“ (Lk 17,10) in ein Gespräch mit jemandem, der mit dem Erfolg seiner Arbeit unzufrieden ist, eingespielt wird oder als Zitat am Ende einer Kirchenvorstandssitzung, die sich mit der Finanzmisere der Gemeinde auseinandergesetzt hat, oder ob der Vers jemandem, der das Vertrauen in sich selbst verloren hat und depressiv verstimmt scheint, angeboten wird.³²³ In verschiedenen Kommunikationssituationen kann deshalb dasselbe Bibelwort autoritär und abschließend, witzig und humorvolle Selbstdistanz erzeugend, oder als provokative Hypothese verstanden werden. Vgl. Meyer-Blanck 1999: Entdecken, 28 und 30. – Meyer-Blanck (a.a.O., 32 f) unterscheidet fünf Kategorien für die Verwendung der Bibel im seelsorglichen Kommunikationsgeschehen: „kerygmatisch“ (als Zuspruch), „empathisch“ (als Ausdruck von Gefühlen), „auffordernd“ (als provokativer Gesprächsimpuls), „alternativ“ (als widersprüchliche Deutungsangebote), „diskursiv“ (als Impuls für eine sachliche Auseinandersetzung). Klie (2003: Zeichen, 394 f Anm. 239) fügt die Kategorie „‚performativ‘ (als Segen oder Gebetsformular)“ hinzu. Bukowski 19952: Bibel, 62; im Original hervorgehoben. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 395. S.o. 3.2.1.3.2 und 3.2.2.1.2. Vgl. Bukowski 19952: Bibel, 61. Vgl. Meyer-Blanck 1999: Entdecken, 31.
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Dies verweist zugleich darauf, dass auch im Seelsorgeprozess christlich geprägte Kommunikationsformen – wie biblische Texte – analog zum Predigtgeschehen faktisch als „offene Kunstwerke“³²⁴ rezipiert werden,³²⁵ d. h. von den „Deutungsressourcen“ der jeweiligen Rezeptionsinstanz abhängen. Dies leuchtet am Beispiel einer biblischen Geschichte unmittelbar ein:³²⁶ Mit ihrer oft bildhaften und verdichteten Sprache sind Geschichten nicht nur einprägsam, und können deshalb über den seelsorglichen Kommunikationsraum hinaus „mitgenommen“, d. h. erinnert werden, sondern sie eröffnen auch einen größeren Deutungsspielraum als eine nicht-narrative Darstellung. Gerade in ihrer Ambiguität können sie überraschen und haben das Potential, festgefahrene Deutungsmuster zu unterbrechen. Dies ist jedoch von den jeweiligen Verstehensvoraussetzungen des seelsorglichen Gegenübers abhängig. Dieser kann sich das eingespielte Deutungsangebot „zurechthören“, muss er aber nicht.³²⁷ Damit entscheidet sich situativ, ob das Gegenüber das Gehörte „näher oder weniger nah (oder gar nicht) an sich heranläßt“.³²⁸ Das heißt, ob der mögliche „Bruch“ als „Auredit“ (Engemann) für jemanden wirklich zur Neuigkeitserfahrung wird, ob das als leib-räumliche Kommunikationsform (per formam) eingespielte und so inszenierte Evangelium (extra nos) tatsächlich zur guten Nachricht für jemanden (pro me) wird,³²⁹ „ist theologisch als Wirkung des Heiligen Geistes und semiotisch als ambiguitärer Rezeptionsvorgang zu beschreiben“³³⁰ sowie systemtheoretisch davon abhängig, ob eine Deutungsinstanz etwas als mitgeteilte Information versteht.³³¹ Mit Klie ist deshalb davon auszugehen, dass in der Poimenik dasselbe Lektüremodell zu veranschlagen ist, wie das der semiotischen Homiletik.³³² Das Verstehen einer biblisch-christlichen Einspielung hängt von der „Kooperation des Hörers“³³³ ab und damit von den Verstehensvoraussetzungen eines Rezipienten – also von dem jeweiligen kognitiven Typus (KT) und Molaren Inhalt (MI).³³⁴ Der
Eco 19967: Kunstwerk. Vgl. Klie 2003: Zeichen, 396. Vgl. Bukowski 19952: Bibel, 60 f. Vgl. a.a.O., 61. Ebd. – Bereits Klie (2003: Zeichen, 395 Anm. 242) weist darauf hin, dass Bukowskis Darlegung rezeptionsästhetisch unterbestimmt bleibt. Zum evangelischen Trostbegriff, der durch die Trias extra nos, per formam und pro me bestimmt ist, s.o. 2.2.1. Klie 2003: Zeichen, 395 f. Zu den drei Selektionen der Kommunikation Information, Mitteilen, Verstehen s.o. 3.2.1.1. Vgl. Klie (2003: Zeichen, 396) auf den im Folgenden Bezug genommen wird; zur semiotischen Homiletik s.o. 1.2.2.2. Ebd. S.o. 3.2.1.3.1.
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Seelsorgepartner ist in seiner Deutungskompetenz gefordert, sich das Angebot einer christlichen Kommunikationsform im Rahmen einer „spielerische[n] Logik“³³⁵ subjektiv anzueignen (pro me). Für die seelsorgliche Praxis fordert MeyerBlanck deshalb in taktischer Hinsicht: „Die biblischen Impulse müssen für die Person passend gesetzt werden, und zwar immer in der Haltung der spielerischen Hypothese, welche mehr Freiheiten und Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Das angebotene Bibelwort ist in diesem Sinne kein sicher wirkendes Wundermittel, sondern ein Angebot, um sich etwas von der ‚herrlichen Freiheit der Kinder Gottes‘ (Röm 8,21) zu erspielen bzw. zuspielen zu lassen.“³³⁶ Ähnlich der Predigt soll der „Bruch“ in der seelsorglichen Kommunikation in das Spiel mit dem biblischen Text bzw. einer christlichen Sinnsicht verwickeln. Dabei offeriert die Offenheit des biblisch-christlichen Impulses einen Interpretationsraum, in dem verschiedene Deutungspfade probeweise abgeschritten werden können, und innerhalb dessen sich der Seelsorgepartner zu einer christlichen Sinnsicht auf sein konkretes Leben anregen lassen kann. Im „Überschneidungsfeld von Text und eigener Lebenssituation“ regt die biblisch-christliche Einspielung an, Entdeckungen zu machen.³³⁷ In taktischer Hinsicht steckt der Seelsorger „durch seine Vorgabe ein Signifikationsfeld ab, das gemeinsam begangen werden kann.“³³⁸ Ähnlich der Predigt geht es deshalb auch in der Seelsorge um ein „Neues Sehen“.³³⁹ Ziel ist es, dass sich die „Zuhörenden“ „selbst neu im Licht des Glaubens sehen lernen, indem sie Neues an einem biblischen Text sehen lernen, der im Gottesdienst unter der Voraussetzung von Gottes Gegenwart zur Sprache kommt“³⁴⁰ bzw. in der Seelsorge unter der Voraussetzung der promissionalen Anwesenheit Christi (Mt 18,20) angeboten wird. Ähnlich der Predigt sind auch in der seelsorglichen Kommunikation Impulse zu diesem „Neuen Sehen“ zu geben, um dann den „Hörer in das eigene Sehen zu entlassen“.³⁴¹ Mit dieser im weitesten Sinne rezeptionsästhetischen Sichtweise ist das „Hauptdefizit in den bislang vorliegenden Entwürfen zur systemischen Seelsorge“³⁴² behoben: „das unausgeglichene Nebeneinander von dreistelligem Zei-
Klie 2003: Zeichen, 396. Meyer-Blanck 1999: Entdecken, 34. Vgl. a.a.O., 29. Klie 2003: Zeichen, 397. Meyer-Blanck (1995: Predigt) veranschlagt die von dem russischen Literaturwissenschaftler Viktor Šklovskij stammende Formel „Neues Sehen“ (vgl. a.a.O., 314) für das Predigtgeschehen. Seine Thesen können für das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen reformuliert werden. Meyer-Blanck 1995: Predigt, 316; im Original hervorgehoben. Ebd. Klie 2003: Zeichen, 389.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
chenbegriff (in der Darstellung der systemischen Sicht auf soziale Wirklichkeit) und zweistelligem Zeichenbegriff (in der Darstellung der Funktion biblischer Texte).“³⁴³ Denn nicht nur das Beziehungsgefüge, sondern auch geprägte Ausdrucksformen des christlichen Glaubens werden in „Wahrnehmungsperspektiven, Funktionen und Lesarten“ aufgelöst und damit an die „Deutungsaktivitäten der beteiligten Subjekte“ gebunden.³⁴⁴ Semiotisch-systemtheoretisch betrachtet, initiieren sowohl interpersonale Vorgänge als auch textgebundene Rezeptionsgeschehen semiosische Deuteprozesse und beruhen als Sinnformen auf kulturellen Einheiten der sinnhaften Enzyklopädie. Dass die Bedeutung christlicher Sinnformen weder von ihrem Kontext noch von der Deutung durch eine Rezeptionsinstanz zu trennen ist, führt zu dem dritten, von Klie benannten Aspekt, dem „‚orthotomischem‘ Kalkül des Seelsorgers“.³⁴⁵ Vor dem Hintergrund, dass eine biblisch-christliche Einspielung nicht als „Abbruch“, sondern als Perspektivenwechsel fungieren soll, sowie angesichts des dynamischen und komplexen Interaktionsgeschehens, ist von Seiten des Seelsorgers eine abduktive Situationsanalyse erforderlich, um den Zeitpunkt zur Intervention als „passenden“ zu bestimmen. Die christliche Konturierung sollte ein Signifikationsfeld abstecken, das in der gemeinsamen Begehung dazu anleitet, zu den Bedingungen der biblisch-christlichen Einspielung Entdeckungen hinsichtlich der eigenen Lebenssituation zu machen.Wie Meyer-Blanck festhält, ist „dabei mehr gefordert als das bloße Zuhören, mehr aber auch als das bloße Zitieren von Bibelworten.“³⁴⁶ Deshalb plädiert er im Rahmen der Professionalität nicht nur für eine „zugewandte Grundhaltung“, sondern auch für eine „persönliche Bibelkunde“.³⁴⁷ Nun geht es beim „Bruch“ in der seelsorglichen Kommunikation jedoch nicht nur um verbalsprachliche Formen. Die kommunikationstheoretische Beschreibung der Seelsorge als sinnenhaftes und damit vieldimensionales Deutungsspiel steht einer solchen verbalsprachlichen Verengung gerade entgegen. Und auch beim „Aufspannen des poimenischen Feldes“ aus theologischer Perspektive hat sich die Gestaltenvielfalt des sich performierenden Evangeliums gezeigt.³⁴⁸ –
Ebd. – Klie argumentiert an dieser Stelle mit dem frame-Konzept. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 395. – Der Orthotomie-Begriff geht auf Nitzsch (1857: Seelenpflege; Zitat 168) zurück, der in Anlehnung an 2. Tim 2,15 Orthotomie definiert als die „rechte[ ] Austheilung und Anwendung des göttlichen Wortes in Bezug auf die Eigenthümlichkeit der Zustände und Anlässe“; vgl. Klie (2003: Zeichen, 382 ff), der das klassische Orthotomie-Konzept modifiziert. Meyer-Blanck 1999: Entdecken, 34. Vgl. ebd. S.o. Kapitel 2.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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Nebenbei bemerkt erscheint der christliche Sinn im Anschluss an den JohannesProlog (Joh 1,1 ff) nicht nur als verbalsprachliches Wort, sondern bereits als „Verkörperung“, als eine an einen Leib in der Zeit gebundene Form. Im Interaktionsgeschehen, deren Komplexität einer sich in actu schreibenden Partitur ähnelt, ist direkte Kommunikation in einen Subtext des Wahrnehmungsraums eingebettet und kann mittels indirekter Kommunikation modifiziert werden.³⁴⁹ Das heißt, „Brüche“ auf verbalsprachlicher Ebene können von „Brüchen“ auf nonverbaler Ebene begleitet werden – und umgekehrt. Besonders eindrücklich ist dies in der liturgischen Kommunikation, in der der Perspektivenwechsel von der Rede zur Gemeinde zur Rede zu Gott mit entsprechenden leibräumlichen Formen – wie dem Wechsel der Blickrichtung, einer veränderten Handhaltung oder auch der Sprechweise – einhergeht.³⁵⁰ Doch auch in der Seelsorge wird ein Perspektivenwechsel auf primär verbalsprachlicher Ebene – wie z. B. das Zitieren eines Psalmtextes – stets von leib-räumlichen Formen auf nicht-verbalsprachlicher Ebene begleitet und modifiziert. So kann der Psalmtext auswendig zitiert, von einer Spruchkarte abgelesen, aus dem Evangelischen Pastorale³⁵¹ oder aus einer eigens dafür aufgeschlagenen Bibel vorgelesen werden. Geprägte Kommunikationsformen des christlichen Glaubens, die die leib-räumliche Dimension explizit integrieren, werden in der Praktischen Theologie unter dem Begriff Ritual geführt.³⁵² Mit Klie ist festzustellen: „Kaum ein Begriff trifft derzeit in praktisch-theologischen Diskursen auf eine größere Akzeptanz als der des Rituals.“³⁵³ Zugleich führt seine inflationäre Verwendung in eben diesen Diskursen jedoch zu einer theoretischen Unterbestimmung.³⁵⁴ Doch: „Wenn heute
S.o. 3.2.1.3.2 . Vgl. Kabel (20032: Handbuch), der sich unter dem Stichwort „Liturgische Präsenz“ mit der Inszenierung des Körpers zu geprägten liturgischen Kommunikationsformen auseinandersetzt. Neues Evangelisches Pastorale 20073. Klessmann (20124: Seelsorge, 92 f) spricht für die Poimenik von einer „Wiederentdeckung der Rituale“. – Zu Ritualen in der Seelsorge vgl. Morgenthaler (20122: Seelsorge, 268 ff) und Klessmann (20124: Seelsorge, 88 ff). Klie 2010: Sonntag, 183. – Vgl. bereits Hauschildt 1993: Ritual, 24: „Das Ritual avancierte […] zum Modewort“; oder auch Preul 2004: Ritus/Ritual, 558: „Die Praktische Theol[ogie] der letzten Jahrzehnte widmet dem Thema R[itus]/R[itua]l verstärkte Aufmerksamkeit.“ – In der TRE fehlt ein eigener Artikel zum Ritual. Im praktisch-theologischen Artikel zum Ritus wird er als dessen Synonym vorgestellt; vgl. Heimbrock 1998: Ritus, 279. – Die RGG4 Bd. 7 (2004) bietet einen kombinierten Artikel „Ritus/Ritual“. Ein Blick in das Sachregister von Gräb/Weyel (2007: Handbuch, 862) zeigt: Es ist die Rede von Alltagsritualen, Bestattungsritualen, Eheschließungsritualen, Hochzeitsritualen, Opferritualen, Passageritualen, Scheidungsritualen, Schwellenritualen, Taufritualen, Trennungsritualen und
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
(fast) alles ein Ritual sein kann, dann ist (fast) nichts mehr wirklich Ritual.“³⁵⁵ Der Ritual-Begriff ist „zu einem Signal ohne Signifikanz“³⁵⁶ geworden. Bei aller theoretischen Unschärfe besteht in der Praktischen Theologie jedoch Konsens darüber, dass es sich beim Ritual um eine von einer Gemeinschaft wiederholt ausgeübte Handlungsform handelt, insofern die sog. Rituale Einzelner außer Acht gelassen werden. Mit Meyer-Blanck: „Rituale sind Handlungsgewohnheiten einer Gemeinschaft, die wiederkehrende Situationen wiedererkennbar machen“.³⁵⁷ Dabei sind explizit sinnenhafte Kommunikations- und leibräumliche Ausdrucksformen im Blick: Rituale werden beschrieben als „komplexe Handlungssequenz[en]“,³⁵⁸ die als „vorstrukturierte Aktionsformen“ „symbolisierte Einzelhandlungen und Gesten“ zu „vorstrukturierten […] Handlungsketten“ verknüpfen.³⁵⁹ In den Interessenfokus rücken „fest kodierte und konventionalisierte […] Symbole (z. B. Licht, Cruzifixus, Hand) und Handlungen (Segensgesten, einen Kreis bilden, Wohnzimmertisch zum Altar gestalten)“.³⁶⁰ Es geht um die „Gestalthaftigkeit religiöser Routinen“,³⁶¹ wie z. B. die „sinnlich wahrnehmbare Hinwendung“³⁶² von Christen zu Gott im Gottesdienst. Nun ist mit Klie zu präzisieren, dass es Rituale als solche nicht „gibt“.³⁶³ Vielmehr „sind“ Rituale „wissenschaftliche Konstrukte“,³⁶⁴ die dazu dienen, „augenfällige Phänomene unter einem Handlungsmodell“ zu bündeln, „um sie perspektivisch zu ordnen“.³⁶⁵ Insofern bezeichnet der Ritual-Begriff eine Beobachtungsperspektive für kulturell kondensierte Kommunikationsformen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass ihre Ausdrucksformen sinnenhafte, also leibräumliche Formen mit einschließen – oder wie Waterstraat formuliert: Es handelt sich um „mehrkanalige Kommunikation“.³⁶⁶ Systemtheoretisch eingeholt liegt das Spezifische von Ritualen nicht etwa darin, dass sie besondere Handlungen darstellen, die von Kommunikation zu unterscheiden wären, sondern dass sie als
Übergangsritualen, die je nach Theoriezugang nach Ritualangeboten, Ritualisierung, Ritualkultur, Ritualsystemen, Ritualteilnehmern oder Ritualtheorien aufgeordnet werden. Klie 2010: Sonntag, 184. A.a.O., 185. Meyer-Blanck 1997: Inszenierung, 43. Hutter 2004: Ritus/Ritual, 547. Vgl. Soeffner 2009: Rituale, 7. Waterstraat 2009: Chaos, 17. Klie 2010: Sonntag, 191. Meyer-Blanck 1997: Inszenierung, 43. Vgl. Klie 2010: Sonntag, 192 f. A.a.O., 192; Hervorhebung im Original. Vgl. a.a.O., 193. Waterstraat 2009: Chaos, 19.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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kondensierte Kommunikationsformen bereits vieldimensional angelegt sind und sich gerade in dieser Komplexität von z. B. ausschließlich verbalsprachlicher oder schriftlicher Kommunikation unterscheiden. Denn systemtheoretisch erscheint Handlung als nachträglich zugerechnete Kommunikation.³⁶⁷ Klie schlägt angesichts eines „an seinen Rändern merklich ausfranst[en]“ Ritual-Begriffs für die Praktische Theologie, näherhin für die Liturgik, eine „terminologische Umformatierung“ vor und „plädiert für eine sprachliche Differenzierung innerhalb des semantischen Feldes Ritual und Ritus“.³⁶⁸ Ein tribal und ethnologisch bestimmter sowie invariabler Ritual-Begriff ebnet den religiösen Idiolekt ritueller Kommunikation vorschnell kulturanthropologisch ein und sei daher nicht länger geeignet, das „performative[ ] Ineinander[ ] von gestischem Vollzug und verbaler Deutung“³⁶⁹ zu beschreiben. Dagegen lasse sich mit einem semiotisch verstandenen, also konventionell und daher variablen Ritus-Begriff, der sprachgeschichtlich der Liturgie entstammt, die Differenz von Form und Inhalt überwinden. Ritus sei für die Liturgik deshalb der angemessenere Begriff: „[D]as Evangelium subsistiert in Zeichen, die von jemandem für jemanden, an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit mit dem Ziel inszeniert werden, Glaubenskommunikationen zu eröffnen. Er gibt keinen gestaltfreien Gehalt, aber es gibt eben auch keine aus sich selbst heraus gehaltvollen Gestalten (mehr).“³⁷⁰ Doch das, was Klie am Ritus-Begriff hervorhebt, kann ebenso für den RitualBegriff veranschlagt werden. Denn folgt man Krieger und Belliger, so bezeichnete „Ritual“ zum einen „ursprünglich ‚Gottesdienst‘“ – wäre damit also genuin liturgisch verankert – und wird erst seit dem 19. Jh. auf „symbolische Handlungen im Allgemeinen“ ausgedehnt.³⁷¹ Zum anderen wird an dem von Belliger und Krieger herausgegebenen Handbuch „Ritualtheorien“³⁷² deutlich, dass die von Klie veranschlagte primär ethnologische Bestimmung des Ritual-Begriffs – in dem Beitrag von 2009 bezieht er sich ausschließlich auf V. Turner – längst obsolet geworden ist. Der von Klie konstatierte Gegensatz zwischen einem ethnologisch ausgelegten Ritual-Begriff und einem semiotisch formatierten Ritus-Begriff gilt im Blick auf die jüngere Ritual-Debatte, in der „die Elemente des Kreativen, Äs-
S.o. 3.2.1.1. Klie 2009: Rituale; Hervorhebungen im Original. – Eine überarbeitete und erweiterte Fassung bietet er in „Fremde Heimat Liturgie“ (2010) unter dem Titel „Jeden Sonntag dasselbe – vom Ritual zum Ritus“. Klie 2009: Ritual, 102. A.a.O., 106. Vgl. Krieger/Belliger 20084: Einführung, 7. Belliger/Krieger 20084: Ritualtheorien.
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thetischen, Performativen etc. in den Vordergrund“ treten,³⁷³ eben gerade nicht mehr. Dass die von Klie geforderte Relecture eines rein anthropologisch bzw. ethnologisch bestimmten Ritual-Begriffs in einer im weitesten Sinne performativen Hinsicht in der Ritualforschung bereits geschehen ist,³⁷⁴ dokumentiert das genannte Handbuch der „Ritualtheorien“, das die wichtigsten Beiträge des interdisziplinären Forschungsgebiets der ritual studies, das sich seit den 1980er Jahren v. a. in den USA etabliert, zusammenstellt. Die Ansätze reichen von den Klassikern wie Geertz, Turner, Douglas, Goffman bis hin zu neueren, z. B. soziologischen oder epistemologischen Beiträgen. Die Einführung von Krieger und Belliger, die „einen möglichen Weg (unter vielen) durch den ‚Dschungel‘ der heutigen Ritualforschung aufzuzeigen“³⁷⁵ versucht, ordnet die vielfältigen Perspektiven unter den Überschriften „Ritual als Performance“ und „Ritual als Kommunikation“ auf. In der erweiterten Fassung seines Aufsatzes bietet Klie zwar eine differenziertere Sicht auf die Ritualforschung,³⁷⁶ seine grundsätzliche These, den Begriff des Rituals durch den des Ritus zu ersetzen, bleibt allerdings dieselbe – auch wenn er diese insofern modifiziert, als es dann „sinnvoll“ sei, vom Ritual zu sprechen, wenn „das Moment der Wiederholung eines bereits etablierten Sujets“ dominiert.³⁷⁷ Nun kritisiert er, dass es „[t]rotz des gemeinsamen Fokusses“ von geistesund sozialwissenschaftlicher Ritualforschung, die auch spezifisch religiöse Rituale beschreibt, und der Praktischen Theologie „nach wie vor keine allgemein anerkannte Theorie des Rituals [gibt]“, sondern „unterschiedliche Ritualtheorien“.³⁷⁸ Doch sowohl die praktisch-theologische Verengung des Ritual-Begriffs auf den Ansatz von V. Turner – oder auch auf den von vanGennep (rites de passa-
Vgl. Stausberg 2004: Ritus/Ritual, 548. Vgl. Klie 2010: Sonntag, 189. Krieger/Belliger 20084: Einführung, 9. Klie (2010: Sonntag, 191 ff) bezieht sich hier auf Wulf/Zirfas (2004: Kultur) und Dücker (2007: Rituale). Vgl. Klie 2010: Sonntag, 201. – Anders als im Beitrag der BThZ ordnet Klie (a.a.O., 202; Hervorhebung im Original) hier die Begriffe Ritual und Ritus einander zu und bietet eine Definition des Ritus: „Sieht man […] im Ritus eine variable Handlungsroutine, dann lässt sich zwar jeder Ritus unter Umständen auch als ein Ritual verstehen, aber nicht jedes Ritual ist damit zugleich auch ein Ritus. Ritual ist so gesehen ein dem Ritus übergeordneter Gattungsbegriff. – Ritus soll hier definiert werden als eine in sich stimmige, kontingente Handlungsüblichkeit, bei der im Modus somatischer Kommunikation vor und mit anderen ein Sinnzusammenhang kommuniziert wird. Im Ritus verdichten sich Wort und Gestus zu einem deiktischen Performativ. Er ist auf eine offene Iteration hin komponiert.“ Vgl. Klie 2010: Sonntag, 192.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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ge)³⁷⁹ – als auch die Ausdifferenzierung des Gebiets der Ritualforschung sollten nicht dazu führen, den Ritual-Begriff als solchen zu verabschieden. Vielmehr ist die Praktische Theologie dazu angehalten, sich im konstruktiven Dialog mit der jüngeren Ritual-Debatte an der Reformulierung des Ritual-Begriffs sowie an der Ausarbeitung einer (theologischen) Ritualtheorie³⁸⁰ aus der ihr eigenen Perspektive zu beteiligen. Hierbei wären neuere Lesarten des Ritual-Begriffs im Rahmen praktisch-theologischer Fragestellungen kritisch zu rezipieren. Dass sich hierbei gemäß der Interdisziplinarität des Forschungsgebiets der ritual studies unterschiedliche Ansätze anbieten, sollte der Praktischen Theologie, die ebenfalls unterschiedliche theoretische Zugänge und Sichtweisen auf ihren Gegenstand erprobt, entgegen kommen. Mit der Beibehaltung des Ritual-Begriffs hält sich die Praktische Theologie nicht nur die terminologische Anschlussfähigkeit offen, sondern trägt auch dem Rechnung, dass sie hinsichtlich der „Phänomene bzw. […] der auf sie gerichteten Erschließungsperspektiven“³⁸¹ mit der jüngeren Ritualforschung kompatibel ist. Dieses Desiderat einzulösen, übersteigt den Rahmen der vorliegenden Untersuchung, doch aus genannten Gründen wird im Folgenden – durchaus im inhaltlichen Anschluss an Klie – am Ritual-Begriff festgehalten. Aus systemtheoretisch-semiotischer Perspektive lässt sich der Ritual-Begriff als Bezeichnung für kulturell kondensierte und damit konventionell fest geprägte Kommunikationsformen – z. B. des christlichen Glaubens – reformulieren. Rituale sind Beobachtungs- und Deutungsschemata, die auf Iteration hin angelegt sind, und es ermöglichen, verdichtete Kommunikationsformen wieder erkennbar zu aktualisieren. Trotz ihrer festen Codierung sind sie kontingente und damit variable Deutepfade, die als kommunikative Ausdrucksform (Welt‐)Komplexität reduzieren und in ihrer Aktualisierung an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit performativ Wirklichkeit konstruieren.³⁸² Das heißt, sie „existieren“ nur in usu: „Das Ritual vermag nichts außerhalb des Gebrauchs. […] Das Ritual lebt von den Bedeutungszuschreibungen der Menschen, die es vollziehen, reformatorisch: von Glauben.“³⁸³ Insofern wird die Welt im Ritual nicht beschrieben, sondern rituell als Wirklichkeit gestaltet.³⁸⁴
VanGennep 1986: Übergangsriten. Letzteres fordert bereits Heimbrock 1998: Ritus, 281. Klie 2010: Sonntag, 186. Diese Bestimmung des Ritual-Begriffs grenzt sich von Luhmann (1997: Gesellschaft, 235 f; Zitate 235) ab, der Rituale als „Kommunikationsvermeidungskommunikation“ auffasst, da „Kontingenz auf Notwenigkeit reduziert“ werde. Meyer-Blanck 1997: Inszenierung, 47.
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Eines der Spezifika des Rituals liegt darin, dass es sich durch sinnenhafte Komplexität auszeichnet, da es – ähnlich einem script – neben verbalsprachlichen explizit auch nicht-verbalsprachliche, also leib-räumliche Darstellungsformen zu einer fest codierten Sinnform kombiniert. Die „mehrkanalige Kommunikation“³⁸⁵ des Rituals wird zur „multimediale[n] Performance“,³⁸⁶ das Ritual zur „Verleiblichung“ von Sinn, zur „Verkörperung“ einer bestimmten Sinnsicht.³⁸⁷ Die rituelle Form der Wirklichkeitskonstruktion geschieht vor dem Hintergrund einer bestimmten Sicht auf Wirklichkeit, die im rituellen Vollzug vergegenwärtigt wird – ähnlich wie Soeffner für soziale Kollektive veranschlagt: „Sie [die rituelle Gemeinschaft; L.K.] repräsentiert sich und ihr Weltbild, indem sie sich präsentiert.“³⁸⁸ In fest codierten und daher in unterschiedlichen Situationen aktualisierbaren Sinnformen werden bestimmte Weltsichten als Rituale zur Darstellung gebracht. Insofern bringt ein Ritual eine bestimmte Sinnsicht als Inhalt in eine multimedial verdichtete, konkret darstellbare Sinnform. Aus dieser Perspektive erscheinen Rituale nicht als Formen ohne Inhalt und damit als „sinnentleert“, sondern in ihrer Aktualisierung zeichnen sie sich gerade durch das Ineinander von Inhalt und Form aus – in Anlehnung an Klie formuliert: Es geht um das performative Ineinander von leib-räumlichem Vollzug und verbalsprachlicher Deutung.³⁸⁹ „Verkörpern“ Rituale z. B. eine christliche Sinnsicht, wird diese im Aktualisierungsprozess als christlich codierte Sinnform vergegenwärtigt. Konkret auf die Seelsorge bezogen, geht es um die Vergegenwärtigung des Evangeliums unter der theologischen Voraussetzung der Anwesenheit Gottes, die dem Glaubenden promissional zugesagt ist (Mt 18,20). Damit ist das Ritual nicht nur durch Iteration, sondern auch durch Interpretation bestimmt – anderenfalls wäre es eine inhaltslose Form. Rituelle Kommunikation – wie fest geprägte Sinnformen des christlichen Glaubens – ist daher nicht nur zu inszenieren, sondern ähnlich eines „offenen Kunstwerks“³⁹⁰ auch zu rezipieren. Denn ohne diesen Deutungsprozess kann das Evangelium nicht zur guten Nachricht für jemanden werden. Der „Trost“ von Ritualen kann gerade im seelsorglichen Kontext darin liegen, dass sie als ordnend und Orientierung gebend empfunden werden. Dies zeigt
Vgl. Krieger/Belliger (20084: Einführung, 27) im Zusammenhang mit einer Skizze des Beitrags von Jennings (20084: Wissen). Waterstraat 2009: Chaos, 19. Platvoet 20084: Ritual, 187. Ähnlich insistiert Jennings (20084: Wissen) darauf, dass rituelles Wissen an „Körperlichkeit, d. h. die ‚Verkörperung‘ von Sinn“ gebunden ist; vgl. Krieger/Belliger 20084: Einführung, 26. Soeffner 2009: Rituale, 10; Hervorhebungen im Original. Vgl. Klie 2010: Sonntag, 191; dort als Kennzeichen des Ritus formuliert. Eco 19967: Kunstwerk.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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Waterstraat eindrücklich an der Schilderung eines seiner Einsätze als Notfallseelsorger:³⁹¹ Die Nachricht vom plötzlichen Tod der Ehefrau und Mutter stürzt die Familie in eine chaotische, „gestaltlose“ Situation, in der den Betroffenen die Kontrolle entgleitet – Waterstraat berichtet davon, dass der Tochter die Gesichtszüge entgleisen. Durch die kommunikative Gestaltung der Situation mittels christlicher Rituale wird – zumindest für die Dauer des rituellen Vollzugs – eine minimale Restabilisierung erfahren. „Verkörpert“ wird die christliche Sinnsicht dabei in verschiedener Hinsicht: Eine auf den Wohnzimmertisch gestellte und angezündete Kerze gestaltet diesen zum Altar um. Es werden „alte Kirchenlieder“ gesungen. Die promissionale Anwesenheit des Abwesenden – hier der Muttergottes – wird an einem von der Familie herbeigebrachten Marienbildnis im Wortsinn „begreifbar“. Und auch die vom Notfallseelsorger gesprochenen Gebete sowie der aaronitische Segen werden von entsprechenden leib-räumlichen Formen begleitet sein. In der konkreten Situation werden also Sinnformen der christlichen Sinnsicht aktualisiert, d. h. die „Leerstellen“, die das multimediale Kommunikationsformular des Rituals bietet, werden – ähnlich dem Aktualisierungsprozess eines frames ³⁹² – gefüllt. Orientiert sich die Kommunikation unter Anwesenden in ihrem Verlauf an solch fest geprägten Sinnformen des christlichen Glaubens, so steuert dies die Erwartungen an die zeit-räumliche Struktur der Kommunikation, was besonders in einer Situation, in der die Orientierung verloren gegangen ist, als orientierend und stabilisierend empfunden werden kann. Am Beispiel des Rituals wird deutlich, dass das Einbringen einer christlichen Codierung in die seelsorgliche Interaktion – der „Bruch“ – nicht nur ein verbalsprachliches, sondern vieldimensionales, und damit auch leib-räumliches Geschehen ist. Im Rückgriff auf christlich codierte Sinnformen kann die Seelsorge zu einem sinnenhaften, religiös-christlichen Deutungs- und Formspiel werden. So beinhaltet z. B. das Segensformular neben einem Segensspruch auch entsprechende Ausrichtungen der anwesenden Körper im Raum: Einer „spendenden“ Handhaltung des Seelsorgers korrespondiert eine „empfangende“ Körperhaltung des Seelsorgepartners. Neben dem Sprach- und Sprechcode spielen also auch somatische Codes – wie der gestische (Mimik, Gestik, Haltung, Gebärde), hodologische (Bewegung im Raum, Positionierung), proxemische (Nähe und Distanz, Blickkontakt) und hierarchische sowie evtl. auch taktile Codes (Berührung) – eine wesentliche Rolle.³⁹³ Wird die Segnung mit einer Salbung verbunden, wird auch die olfaktorische Dimension angesprochen. Insofern stellt sich eine Vgl. Waterstraat 2009: Chaos, 23 ff. – Zu Ritualen in der Notfallseelsorge vgl. auch Böntert 2012: Rituale. S.o. 3.2.2.1.2. S.u. 4.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Segnung als ein vieldimensionales, sinnenhaftes Kommunikationsgeschehen dar, das die promissionale Gegenwart Gottes zuspricht und diese durch leib-räumliche Ausdrucksformen wie Gesten und Berührungen „greifbar“ macht. Ähnlich dem Segen nimmt der „unterbrechende“ Perspektivenwechsel auch beim Gebet leib-räumliche Form an. Der Wechsel der Sprechrichtung – von den Glaubensgeschwistern untereinander zur Ansprache des promissional Anwesenden – zeigt sich am Wechsel der Blickrichtung bzw. am Verbergen des Blicks durch Schließen der Augen, an einer „betenden“ Handhaltung sowie an einer veränderten Sprach- und Sprechweise. Dabei kann die Hinwendung zu Christus, die sich mittels der gesprochenen Worte performiert (akustisch), auch durch einen christlich lesbaren Gegenstand verstärkt werden – z. B. indem der Blick auf ein Kreuz gerichtet (visuell) oder dieses berührt wird (taktil). Die gebetsförmige Verortung vor dem Angesicht Christi wird leib-räumlich zum Ausdruck gebracht. Das „Aufbrechen“ der immanenten Relationen der Anwesenden auf Transzendenz hin wird in Szene gesetzt. In taktischer Hinsicht erfordert ein solch seelsorgliches Formspiel vom Seelsorger neben einer „persönlichen Bibelkunde“³⁹⁴ einen reflektierten Gebrauch leibräumlicher Ausdrucksformen wie Gestik, Mimik, der Positionierung und Bewegung im Raum sowie der Wahl von Kleidung und Gegenständen. Anders formuliert: Das mehrdimensionale Interaktionsgeschehen der Seelsorge erfordert „mehrdimensionale persönliche Kompetenzen“³⁹⁵ – was im Übrigen auch in der Aus- und Fortbildung zu berücksichtigen wäre. Geht es – entsprechend der Lutherschen Formel – um die seelsorgliche Inszenierung des sich in vielerlei Gestalten performierenden Evangeliums,³⁹⁶ so reichen verbalsprachliche Kompetenzen, die sich auf das Gespräch beziehen, nicht aus. Denn Wirklichkeit wird in der seelsorglichen Interaktion nicht ausschließlich verbalsprachlich, sondern sinnenhaft konstruiert. Es geht nicht nur um die Verbalisierung des Evangeliums, sondern um die mehrdimensionale, sinnenhafte Inszenierung mittels verschiedener leib-räumlicher Formen.
Vgl. Meyer-Blanck 1999: Entdecken, 34. – Als Anregung, in der seelsorglichen Praxis „Gott ins Spiel [zu] bringen“ (vgl. Eulenberger/Friedrichs/Wagner-Rau 2007: Gott), dient das „Neue[ ] Evangelische[ ] Pastorale“ (20073), das neben christlich codierten Texten auch „kleine liturgische Formen“ (a.a.O., 135 ff), die u. a. auch die Gestaltung des Raums berücksichtigen, anbietet. So wird z. B. bei der Aussegnung vorgeschlagen, medizinische Geräte wegzuräumen, eine Kerze anzuzünden, Blumen auf das Bett des Toten zu legen oder Gegenstände mit einzubeziehen, die für die Trauernden als Zeichen für ihre Beziehung zum Verstorbenen stehen (vgl. a.a.O., 170). So Waterstraat (2009: Chaos, 27) im Hinblick auf Rituale. S.o. 2.1.
3.2.2.2 Wirklichkeitsumbildung: Eröffnen von Möglichkeitsräumen
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Zu der taktischen Kompetenz gehört deshalb auch die Inszenierung des Seelsorgers als Seelsorger auf der interaktionellen Wahrnehmungsbühne. Der Seelsorger fungiert selbst als leib-räumliche Form, die die Kommunikation rahmt,³⁹⁷ und damit allein mit seiner Anwesenheit die konkrete Wirklichkeit des Interaktionsgeschehens mitbestimmt. Schon indem der /Seelsorger/ als «Seelsorger» den Raum betritt, eröffnet sich der Raum für Religion bzw. für eine christlich codierte Wirklichkeit. Professionssoziologisch eingeholt: Der Seelsorger repräsentiert das Funktionssystem des Christentums.³⁹⁸ Dabei ist die leib-räumliche Form des Seelsorgers durchaus ambiguitär, d. h. die durch sie initiierte Semiose ruft unterschiedliche Deutungsprozesse und damit Bedeutungszuschreibungen hervor. So kann z. B. das Auftreten eines Seelsorgers im Krankenzimmer als Erscheinen eines «Repräsentanten der Kirche» verstanden werden, aber auch als das eines «Todesboten»³⁹⁹ zur „letzten Ölung“ – wie die „Krankensalbung“ (vgl. Jak 5,14) volkstümlich noch immer bezeichnet wird. Taktisch gesehen ist deshalb die Kennzeichnung des Seelsorgers, d. h. welche Formen ihn als Seelsorger auszeichnen von Bedeutung. Neben Körperhaltung, Körperbewegung, Geruch, Alter, Kleidung, Geschlecht, Sprechweise, die gleich einer Partitur zu einem Gesamtbild seines Auftretens konstruiert werden, macht es einen Unterschied, ob ein Seelsorger z. B. während des Einsatzes bei einer Großveranstaltung eine lila Weste mit der Aufschrift „Notfallseelsorge“ oder eine orange Weste mit der Aufschrift „Helfer“ trägt. Ebenso wie es einen Unterschied macht, ob ein kleines Ansteckschild – wie es in der Krankenhausseelsorge üblich ist – jemanden als Mitarbeiter der Bahnhofsmission auszeichnet oder ob eine leuchtend blaue Weste, auf deren Rücken groß das Logo der Bahnhofsmission zu sehen ist, die den Mitarbeiter auch noch von Weitem als diesen erkennbar und damit ansprechbar macht.
S.o. 3.2.1.3.2. – Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 147: „Die Situation der Familie muss nicht zuerst mühsam verändert werden. Sie ist bereits dadurch verändert, dass die Familie einen Seelsorger in ihren Kreis aufnimmt.“ – Im Zusammenhang mit der körperlichen Anwesenheit beschreibt Dinkel (2000: Gottesdienst, 217 ff) den Pfarrer als „symbiotisches Symbol“ des Glaubensmediums – Analoges wäre für den Seelsorger zu veranschlagen. Vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 378; Hervorhebungen im Original: „Die Notwendigkeit, in der Kommunikation auf Körperlichkeit Rücksicht zu nehmen, kann man als Symbiosis bezeichnen und die entsprechenden Ausdrucksmittel als symbiotische Symbole. Symbiotische Symbole ordnen die Art und Weise, in der Kommunikation sich durch Körperlichkeit irritieren läßt; die Art und Weise also, in der Effekte struktureller Kopplung im Kommunikationssystem verarbeitet werden“. S.o. 3.2.1. Darauf, dass der Seelsorger nicht nur als „Repräsentant der Gemeinschaft des Lebens“, sondern auch als „Agent und Vorbote des Todes“ wahrgenommen wird, weist z. B. auch Josuttis (1974: Sinn, 134) hin.
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3. Das seelsorgliche colloquium: Zeichenprozesse im System
Sollen in diesen sinnhaften Zusammenhängen Prozesse zur christlich codierten Umbildung von Wirklichkeit initiiert werden, so liegt die besondere Herausforderung der Seelsorge – im Unterschied z. B. zur gottesdienstlichen Kommunikation – in der außerordentlichen Dynamik des Kommunikationsgeschehens. Was in der Seelsorge konkret „gespielt“ wird, entscheidet sich in actu, d. h. im Verlauf der Kommunikation, die damit zum permanenten Aushandlungsprozess wird. In diesem dynamischen und komplexen Kommunikationsgeschehen wird das Einbringen explizit christlicher Deutungsangebote – der sog. „Bruch“ – zum kairologischen Geschehen, das vom Seelsorger orthotomisches Geschick erfordert. Mit orthotomischer Kompetenz, d. h. mit dem Gespür sowohl für den rechten Zeitpunkt als auch für die in einer konkreten Situation angemessene Form, ist aus dem Möglichkeitsraum der sinnhaften Enzyklopädie eine christlich codierte Sinnform einzuspielen, d. h. ein möglicher Deutungspfad als wirklicher zu inszenieren, so dass mit dem Deutungsangebot ein entsprechender Rezeptionsrahmen generiert wird innerhalb dessen der Seelsorgepartner das Evangelium als gute Nachricht verstehen kann. Dabei stecken die Einspielungen ein Signifikationsfeld ab, das im Fortgang der Kommunikation gemeinsam beschritten wird. In professioneller Hinsicht ist der Seelsorger daher nicht nur als Vertreter einer Profession und damit als Repräsentant des Religionssystems gefordert, sondern im Wortsinn von professio als jemand, der sich öffentlich vor einem Zweiten zu der Lebensweise bekennt, in der die christlichen Sinnformen eingebettet sind.⁴⁰⁰ Der Seelsorger ist nicht nur als jemand gefragt, der über ein „handwerkliches“ Wissen christlich codierter Sinnformen verfügt, sondern als jemand, der im wechselseitigen Gespräch wirklicher und möglicher Glaubensgeschwister auch auf seine Glaubensgewissheit und seinen Glaubenszweifel ansprechbar ist. Das seelsorgliche Sinnspiel erfordert eine seelsorgliche Präsenz,⁴⁰¹ um den distinguierten Zeit-Raum des interaktionellen Kommunikationsgeschehens in seinen verschiedenen Dimensionen taktisch in Gebrauch zu nehmen sowie in dessen Rahmen explizit christlich codierte Sinnformen einzubringen. Dies ist im folgenden Kapitel hinsichtlich der seelsorglichen Praxis zu beleuchten.
S.o. 2.2.1. S.o. Einleitung zu Kapitel 4.
4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz Das folgende Kapitel bezieht die Einsichten der Untersuchung auf die seelsorgliche Praxis. Ist das seelsorgliche Spielfeld bislang im Sinne faktischer Performanz theologisch abgegrenzt und kommunikationstheoretisch ausgelotet worden, wird es nun im Sinne taktischer Performanz illustriert.¹ Hierzu ist zunächst der Gang der Untersuchung im Hinblick auf seine zentralen Ergebnisse zusammenzufassen. Sodann wird die Kategorie der Präsenz auf die Seelsorge bezogen, um daran anschließend eine Morphologie seelsorglicher Präsenz zu entwerfen. Dies geschieht, indem die „Partitur“² des dynamischen und komplexen Kommunikationsgeschehens anhand der Kategorien Kommunikationsmedium, Zeit, Raum und Leib in mögliche raum-zeitliche Darstellungsformen aufgeordnet wird (4.1– 4.4). Das erste Kapitel ordnet die Rezeption von systemtheoretischen, systemischen und semiotischen Theorieansätzen in der Praktischen Theologie kritisch auf und befragt sie hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Poimenik. Es hat sich gezeigt, dass systemtheoretisch ansetzende Entwürfe die Luhmannsche Systemtheorie häufig unter soziologischen Aspekten rezipieren, um im Kontext einer funktional differenzierten Gesellschaft mit Hilfe des religiösen Codes das Spezifische religiöser Kommunikation zu beschreiben, was sich in ähnlicher Weise für die Poimenik anbietet. Auch der bereits vorliegende Rekurs auf die Interaktion ist für die Seelsorgelehre weiterführend. Die Durchsicht der Ansätze der systemischen Therapie und Beratung sowie die der Konzepte systemischer Seelsorge hat ergeben, dass bislang keine theoretisch fundierte Rezeption von Systemtheorie vorliegt. In der Orientierung an systemischer Therapie bleiben die Entwürfe systemischer Seelsorge bis auf wenige Ausnahmen (Karle, Emlein) theoretisch unterbestimmt, Bezugnahmen auf die Systemtheorie Luhmanns erfolgen über Sekundärliteratur und bleiben eklektisch. Damit steht die systemische Seelsorge in weiten Teilen in der Tradition des therapeutischen Paradigmas, das die Poimenik seit den 1970er Jahren dominiert. Allerdings sind die Reintegration genuin christlicher und biblischer Deutungen ins Seelsorgegespräch sowie der Rekurs auf die gemeindlich-kirchliche Dimension Zur Unterscheidung von taktischer und faktischer Performanz vgl. Leonhard/Klie 2008: Ästhetik, 15; s.o. 2.2.2. Bieritz (2004: Liturgik, 37) verwendet diesen Terminus in Bezug auf das gottesdienstliche Kommunikationsgeschehen; s. o. 1.2.2.1. DOI 10.1515/9783110520750-004
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4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
der Seelsorge in einigen systemischen Ansätzen wieder eine Option. Besonders systemtheoretisch orientierte Konzepte machen das spezifisch christliche Profil der Seelsorge, die als religiöse Kommunikation beschrieben wird, deutlich. Weiter haben sich in den semiotisch orientierten Entwürfen verschiedene Aspekte ergeben, die eine lohnende Weiterführung in poimenischer Hinsicht versprechen und auch für die Seelsorgelehre einen zeichentheoretische Herangehensweise nahelegen: Die Liturgik reflektiert die leib-räumlichen Formen des vieldimensionalen, gottesdienstlichen Kommunikationsgeschehens und schließt damit auch sog. nonverbale Kommunikationsformen in ihre Analyse mit ein. Fortgeführt wird der semiotische Ansatz mit dem Rekurs auf die Theatermetapher, wobei sich für die Poimenik besonders der Inszenierungsbegriff anbietet. Die semiotisch-rezeptionsästhetische Perspektive kann aus der semiotischen Homiletik aufgenommen werden. Und hinsichtlich der Religionspädagogik erweist sich die Weiterführung des semiotischen Ansatzes hin zu performativen Fragestellungen für die Poimenik als ertragreich. Ähnlich wie im Religionsunterricht geht es auch in der Seelsorge darum, Religion zu zeigen. Mit der Systemtheorie Luhmann und der Semiotik Ecos liegen also zwei Kommunikationstheorien vor, die in der Praktischen Theologie als Theoriezugriffe bereits erprobt sind und auch für die Poimenik eine lohnende Aufnahme versprechen. Da beide Theorien im weitesten Sinne konstruktivistisch ansetzen, kann der Zugriff sowohl auf die Systemtheorie Luhmanns als auch auf die Semiotik Ecos adäquat nur unter einer im weitesten Sinne ästhetischen Perspektive geschehen – was v. a. in der praktisch-theologischen Rezeption der Systemtheorie nicht ausreichend beachtet wird. Wie das zweite Kapitel zeigt, kann unter Rückgriff auf Luthers Formel „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“ das poimenische Feld theologischinhaltlich abgegrenzt werden: Seelsorge ist demnach zu beschreiben als wechselseitiges Gespräch anwesender Glaubensgeschwister zum Zwecke des Trosts untereinander. Mit Bezug auf einen semiotisch inspirierten Performanz- und Inszenierungsbegriff stellt sich Seelsorge dar als performative Vergegenwärtigung des Evangeliums im Spannungsfeld von göttlicher Verheißung und menschlicher Gestaltungskunst. In ästhetischer Perspektive ergibt sich eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die Wechselbeziehung zwischen Inhalt, Form und Rezeption sowie für leib-räumliche, sinnenhafte Gestalten äußerlicher Kommunikationsumstände. Dem multiplex modus Evangelii der Lutherschen Formel entspricht die poimenische Pluralität der Zueignungsformen. Seelsorge liegt deshalb daran,
4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
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„das eine Evangelium vielfältig, angemessen in Szene zu setzen, damit es wahrgenommen und für wahr genommen wird, um neu wahr zu werden.“³ Entsprechend der Formel Luthers wird das Evangelium in der Seelsorge vergegenwärtigt, um zu trösten. Wie das Evangelium selbst, beschreibt auch der evangelische Trostbegriff ein konstitutives Spannungsverhältnis: Als eine für den Menschen unverfügbare Form der Heilszueignung bezeichnet consolatio ein Geschehen extra nos, das sich per formam sowie pro me erweist. Damit verschränken sich in Luthers Formel Form (colloquium), Inhalt (evangelium) und Rezeption (consolatio). Gerade deshalb wurde die Formel Luthers als ästhetische Leitkategorie für die Poimenik gewählt. Es konnte gezeigt werden, dass die seelsorgliche Performanz des Evangeliums zwar an eine konkrete Kommunikationssituation gebunden ist, jedoch nicht an eine bestimmte personale, örtliche oder zeitliche Darstellungsform. Sie ereignet sich im Rahmen der christlichen Trost- und Deutungsgemeinschaft, die sich durch grundsätzlich mutuale Tröstungsverhältnisse auszeichnet (reziproke Hierarchie) und die sog. „Laienseelsorge“ explizit einschließt. Das der Lutherschen Formel zur näheren Erläutung angefügte Zitat aus Mt 18,20 („‚Ubi duo fuerint congregati‘ etc.“), markiert, dass die seelsorgliche Begegnung unter der promissionalen Zusage Christi „da bin ich mitten unter ihnen“ steht. Dieser explizit christliche Deutungshorizont erhellt das Spezifikum der Seelsorge gegenüber anders codierter Kommunikation – wie z. B. der Therapie. Als Gegenstand der poimenischen Untersuchung hat sich das colloquium ergeben: Das colloquium ist der seelsorgliche Ort, an dem sich das Evangelium performiert, an dem sich Vergegenwärtigungs- und wirklichkeitsbildende Deutungsprozesse zu äußerlichen, wahrnehmbaren Formen verdichten. Dementsprechend hat sich das poimenische Interesse auf das colloquium zu richten, wie es das dritte Kapitel geleistet hat. Es hat sich gezeigt, dass der durch das colloquium distinguierte kommunikative Wahrnehmungsraum der Seelsorge adäquat als Interaktion beschrieben werden kann, ohne dabei interaktionsfreie seelsorgliche Kommunikation aus dem Blick zu verlieren. Aus einer im weitesten Sinne konstruktivistischen Perspektive konnte unter Rückgriff auf systemtheoretische und semiotische Theorieelemente dargestellt werden, wie sich das seelsorgliche Kommunikationsgeschehen faktisch herausbildet. Der Gewinn dieser Zugangsweise wurde darin deutlich, dass die vieldimensionalen Prozesse der interaktionellen Konstruktion von Wirklichkeit theoretisch reflektiert und unter einem einheitlichen Theoriehorizont gefasst werden konnten: Die performativen Vollzüge am Ort des seelsorglichen colloquiums
Meyer-Blanck 1996: Inszenierung, 5; Hervorhebungen L.K.
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4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
stellen sich als semiosische Prozesse im System dar. Das Spezifikum der Seelsorge liegt in ihrer religiös-christlichen Codierung. Dabei konnten die Ergebnisse immer wieder an die seelsorglichen Praxis rückgebunden werden. Interaktion bezeichnet ein Sozialsystem, das sich als Kommunikation unter Anwesenden unter der Voraussetzung reflexiver Wahrnehmung bildet. Damit spielen im Interaktionsgeschehen Kommunikation, Anwesenheit und reflexive Wahrnehmung zusammen. Die Grenze der Interaktion ist durch Anwesenheit markiert. Diese ist nicht mit physischer Präsenz gleichzusetzen, wie u. a. an der promissionalen Anwesenheit des Abwesenden (Mt 18,20), die die seelsorgliche Interaktion in den Deutehorizont coram Christo rückt, gezeigt werden konnte. In keinem anderen Sozialsystem ist Kommunikation so eng an Wahrnehmung gekoppelt wie in der Interaktion. Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesse laufen simultan, rahmen und irritieren sich deshalb permanent wechselseitig. Wahrnehmung ist zu verstehen als ein rezeptionsästhetischer, selektiv-kontingenter Prozess, bei dem eine Wahrnehmungsinstanz etwas In-der-Welt-Vorfindliches in bestimmer Hinsicht als wirklich deutet und in einem bestimmten kulturellen Horizont Für-wahr-Nimmt. Wahrnehmung ist ein semiosischer, abgleichender Deutungsprozess im Kontext des privaten und kulturellen Erinnerungs- und Erfahrungsraums. Reflexive Wahrnehmung zwingt Interaktionssysteme zur Kommunikation: Wer wahrnimmt, dass er wahrgenommen wird und dass sein Wahrnehmen des Wahrgenommenwerdens wahrgenommen wird, kann nicht vermeiden, dass sein Verhalten als Kommunikation aufgefasst wird. Dies schließt die Verengung von Kommunikation auf Verbalität aus. In der face-to-face Begegnung wird nicht nur verbalsprachlich, sondern auch leib-räumlich kommuniziert. Unter der Bedingung von Anwesenheit sind Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesse so eng aufeinander bezogen, dass sie im wechselseitigen Wahrnehmungsraum der Interaktion zu einem vieldimensionalen Kommunikationsgeschehen verflochten sind. Wahrnehmbare Formen und raum-zeitliche Ausdrucksformen spielen syntagmatisch als Partitur zusammen. Verbale wie nonverbale Subtexte modellieren die laufende Kommunikation. Dabei ist das jeweils evozierte Deutungsgeschehen konsequent als rezeptionsästhetisches zu verstehen. Die Interaktion distinguiert eine Wahrnehmungsbühne, auf der nicht nicht kommuniziert (Watzlawick) werden kann. Man ist permanent zur Darstellung gezwungen. Relevant sind deshalb wirkliche und mögliche Körperinszenierungen (Körpergestalt, Körpergestaltung und Körperverhalten), wirkliche und mögliche Orte sowie wirkliche und mögliche Gegenstände. Poimenisch sind religiöschristlich codierte leib-räumliche Formen von Bedeutung.
4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
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Der durch den interaktionellen Leib-Raum eröffnete Spielraum der Seelsorge ist durch seine Möglichkeiten der Bildung und Umbildung von Wirklichkeiten bestimmt. Zentral ist hier die aus der systemischen Therapie bekannte Aussage, dass alles auch ganz anders sein könnte. Wirklichkeitsbildende Deutungs- und Vergegenwärtigungsprozesse performieren sich in einem Möglichkeitsraum, der prinzipiell unendliche Interpretationen eröffnet. Mittels kontingenter Unterscheidungen wird Komplexität reduziert bzw. Welt als Wirklichkeit interpretiert. Es konnte gezeigt werden, dass der systemtheoretische Sinn-Begriff mit dem semiotischen Enzyklopädie-Modell inhaltlich eingeholt und kulturell abgeglichen werden kann. Das sinnhafte Universum kulturellen Wissens eröffnet einen potentiell unendlichen, jedoch nicht beliebigen Möglichkeitsraum. Interaktionelle Deuteprozesse generieren im enzyklopädischen Universalmedium des Sinns konkrete Formen und konstruieren auf diese Weise Wirklichkeit als aktuelle Möglichkeit. Im rhizomartig aufgespannten Netz der Kultur performieren sich aktuelle Lesepfade und werden mögliche Sinnlinien vergegenwärtigt. Diese Sichtweise steht einer „ideologischen“ Verengung eines möglichen Deutepfades entgegen. Die interkulturelle Seelsorge, die interreligiösen bzw. multireligiösen Begegnungen sowie die Deutung von Lebensgeschichte als Konstruktion von Biographie explizieren diesen kommunikationstheoretischen Zugang. Das seelsorgliche (Be‐)Deutungsspiel hält sich als Kommunikation unter Anwesenden durch permanente Reduktion von Komplexität aufrecht, da die Bildung konkreter Wirklichkeit nur als kontingente Aktualisierung eines möglichen (Be‐)Deutungspfads möglich ist. Diese Disambiguierung ergibt sich zum einen aus der kontextuellen Situation. Die Interaktion vollzieht sich vor dem Hintergrund „vieler ineinander verschlungener semiotischer Codes“.⁴ Sie performiert sich als ein sinnhaftes Kopplungsereignis, in dem soziale und psychische Sinnlinien sowie sachliche, zeitliche und soziale Sinndimensionen zu einem sinnenhaften Geschehen zusammenspielen, sich wechselseitig rahmen, irritieren und auf diese Weise Komplexität reduzieren. Zum anderen greifen interaktionelle Prozesse der Wirklichkeitsbildung auf (kulturell) bewährte Selektionsmuster zurück. So fungiert z. B. die (Verbal‐)Sprache als Kopplungsmechanismus von Bewusstsein und Kommunikation. In diesem Zusammenhang ist das semiotisch inspirierte frame-Konzept auf die seelsorgliche Interaktion und Poimenik anwendbar.
Eco 19912: Semiotik, 161 f.
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Mögliche Umbildungen von Wirklichkeit zielen darauf, ideologisch erstarrte Deutungsmuster aufzubrechen, Ambiguität zu erzeugen und auf diese Weise Möglichkeitsräume und einen neuen Handlungsspielraum zu eröffnen. Systemtherapeutisch kann die Umbildung von Wirklichkeit als Reframing verstanden werden, poimenisch als „Bruch“, semiotisch als Umcodierung und systemtheoretisch als Irritation von Erwartungsstrukturen bzw. als „Aktualisierung der eher potentiellen Möglichkeit“.⁵ Alle vier Theoriefiguren zielen darauf, mittels „Verstören“ konventioneller Sinnsichten und dem Einbringen anderer, auch möglicher und manchmal überraschender Deutepfade zum Entdecken des ambiguitären Möglichkeitsraums der sinnhaften Enzyklopädie anzuregen. In dem dynamischen und komplexen Sinngeschehen der Interaktion geschieht dieses „Verstören“ durch leib-räumliche Formen – häufig durch Veränderungen der wahrnehmbaren Kommunikationsumgebung. Das Ensemble der raum-zeitlichen Formen prägt in der Seelsorge der eschatologische Code. Dieser richtet den frame Seelsorge inhaltlich aus, indem er eine „bestimmte Richtung vorgibt“, die „bewusst umcodiert“.⁶ Bei der Umbildung von Wirklichkeit kann sich Seelsorge an der Methodik der systemischen Therapie und Beratung orientieren. Die seelsorglichen Vergegenwärtigung des Evangeliums ad personam in der Kommunikation anwesender Glaubensgeschwister im Angesicht Christi ⁷ kann im Rückgriff auf die poimenische Kategorie des Bruchs dargestellt werden. Aus systemtheoretischer Sicht stellt sich Seelsorge als religiöse Kommunikation dar. Das Spezifikum der Seelsorge liegt also in einer erkennbar religiöschristlichen Perspektive. Seelsorge hat religiöse Deutungsangebote zu machen, andernfalls enthebt sie sich ihrer gesellschaftlichen Funktion. Taktisch, d. h. absichtsvoll ist das Evangelium mittels verschiedener leib-räumlicher Formen so zu inszenieren, dass religiös-christliche Codierungen in die seelsorgliche Interaktion eingebracht werden. Hieraus erhellen die Abgrenzung von Therapie und Medizin, das Selbstverständnis des Seelsorgers sowie die an die Seelsorge gerichteten Erwartungen. Als Perspektivenwechsel stellt der Bruch eingefahrene, dysfunktional wahrgenommene Deutungsmuster in Frage. Er reizt zur heilsamen Umbildung von Wirklichkeit, indem er im Horizont des eschatologischen Codes christliche Deutungsangebote einbringt. Auf diese Weise werden permanent um sich selbst
Diese Formulierung verdanke ich Pastor Dr. Frank Uhlhorn/Osnabrück. Vgl. Meyer-Blanck 1997: Ertrag, 214. S.o. 3.2.1.2.
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kreisende (incurvatus in se ipsum) Circuli vitiosi von außen (extra nos) unterbrochen. Die Funktion der Umdeutung bzw. der Modifikation des Deutungsrahmens übernehmen in der Seelsorge v. a. geprägte Kommunikationsformen des christlichen Glaubens wie biblische Texte, Lieder, Gebete oder Segenshandlungen. Diese werden in der Seelsorge analog zum Predigtgeschehen als „offene Kunstwerke“⁸ rezipiert.⁹ In diesem Zusammenhang konnte das Ritual als kulturell kondensierte und damit konventionell fest geprägte Kommunikationsform reformuliert werden. Rituale sind Beobachtungs- und Deutungsschemata, die auf Iteration hin angelegt sind und es ermöglichen, verdichtete Kommunikationsformen wieder erkennbar zu aktualisieren, wie Segen und Gebet explizieren. Taktisch erfordert die sinnenhafte Inszenierung des Evangeliums im mehrdimensionalen Interaktionsgeschehen der Seelsorge „mehrdimensionale persönliche Kompetenzen“.¹⁰ Was in der Seelsorge konkret „gespielt“ wird, entscheidet sich in actu. Das sinnenhafte Sinnspiel erfordert eine seelsorgliche Präsenz, um das interaktionelle Kommunikationsgeschehen in seinen verschiedenen Dimensionen darzustellen und mittels explizit christlich codierter Sinnformen zu gestalten. Die Kategorie der Präsenz wird zunächst in der Liturgie aufgenommen.¹¹ Der Begriff „liturgische Präsenz“ geht auf den Regisseur und Schauspieler Kabel zurück. Mit seinem zweibändigen, auf die Praxis hin ausgerichteten „Handbuch Liturgische Präsenz“ (Bd. 1: 20032; Bd. 2: 2007) ermöglicht er eine breite Rezeption seines Programms.¹² In der Zwischenzeit liegen verschiedene konzeptionelle Vorstellungen „liturgischer Präsenz“ vor, die Stäblein aufordnet:¹³ Liturgische Präsenz 1. als „Stimmigkeit im Ausdruck“ (Kabel), 2. als „durch das Bewusstsein des Inszenatorischen gebrochene Authentizität“ (Meyer-Blanck, Bieritz) und 3. als „mediale Existenz“ (Josuttis). Bei seinem Entwurf einer religionspädagogischen Präsenz verfährt Stäblein mit diesen Konzepten integrativ. Neben Liturgie und Religionspädagogik ist die Kategorie der Präsenz nun auch in homiletischen Zusammenhängen rezipiert.¹⁴
Bei der Beschreibung der seelsorglichen Inszenierung des Evangeliums ist die Kategorie der seelsorglichen Präsenz miteinzubeziehen. Seelsorge als religiöse
Vgl. Eco 19967: Kunstwerk. Zur semiotischen Homiletik s.o. 1.2.2.2. So Waterstraat (2009: Chaos, 27) im Hinblick auf Rituale. S.o. 1.2.2.1. – Einen Überblick über die Literatur bietet Stäblein 2003: Pädagogische Präsenz. Vgl. auch Kabel 2011: Übungsbuch. Vgl. Stäblein 2003: Pädagogische Präsenz, 212 ff; sowie ders. 2003: Präsenz. Vgl. Meyer-Blanck/Seip/Spielberg 2010: Homiletische Präsenz.
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Kommunikation ist – wie auch die Liturgie bzw. das Predigtgeschehen – bestimmt vom Ineinander der Unverfügbarkeit des Evangeliums und formalem „Handwerk“, d. h. der konkreten Gestaltung. Die seelsorgliche Inszenierung des Evangeliums ereignet sich in der Wechselbeziehung von Inhalt, Form und Rezeption. Auf der seelsorglichen Wahrnehmungsbühne kommt es darauf an, dass die Akteure ihre Rolle gut ver-körpern. ¹⁵ Im Anschluss an Meyer-Blanck stellt die „Präsenz“ die pastoraltheologische bzw. „persönliche Komponente“¹⁶ des Inszenatorischen dar und bezeichnet eine Person in einer bestimmten Rolle: „Präsenz ist die durch das Bewußtsein des Inszenatorischen gebrochene Authentizität.“¹⁷ Es geht um die „Person im Einklang mit dem inszenierten Evangelium“.¹⁸ Diese Bestimmung lässt die „Alternative von kirchlichem Funktionär oder authentischer Persönlichkeit“¹⁹ hinter sich. Die seelsorgliche Kompetenz resultiert deshalb weder allein aus poimenischen Wissen noch aus individueller Authentizität, sondern liegt in der „darstellerischen Sorgfalt“, die die leibräumlichen Kommunikationsformen gestaltet. Diese ist lernbar und kann z. B. analog zu einem Handwerk²⁰ vermittelt und eingeübt werden. Systemtheoretischsemiotisch betrachtet nimmt seelsorgliche Präsenz die leib-räumliche Form der Person des Seelsorgers und dessen psychisches System als semiosisches Phänomen in den Blick. Analog zur liturgischen Präsenz ist für die seelsorgliche Präsenz zu formulieren: „‚Präsenz‘ meint das Dasein in der liturgischen [und seelsorglichen; L.K.] Rolle, welches mit dem eigenen Glauben ebenso viel zu tun hat wie mit darstellerischer Sorgfalt. Es geht in Liturgie [und Seelsorge; L.K.] wie Theater insgesamt nicht darum, eine ‚Show‘ abzuziehen, sondern sich mit den anderen in eine andere Wirklichkeit hineinzuspielen.“²¹ Ähnlich dem Gottesdienstsgeschehen gilt es auch in der Seelsorge, „sich gemeinsam den Glauben an Gottes Präsenz zu erspielen, oder, wie Thomas Kabel gern formuliert, ‚sich von der Rolle ins eigene Sein‘ führen zu lassen“,²² in eine Wirklichkeit coram Christo (Mt 18,20).²³ Die
Vgl. Meyer-Blanck (1997: Inszenierung, 19) bzgl. der Liturgie. Meyer-Blanck 1996: Inszenierung, 12. Ebd.; hier bestimmt Meyer-Blanck die Präsenz pastoralästhetisch im Zusammenhang mit der Kategorie der Inszenierung, holt sie allgemein praktisch-theologisch ein und verdeutlicht sie exemplarisch an der liturgischen Präsenz. Später (2010: Präsenz) spitzt er diese Beschreibung homiletisch zu. Meyer-Blanck 1996: Inszenierung, 12. Ebd. Vgl. Josuttis 2002: Religion. Meyer-Blanck 2007: Geleitwort, 9. Ebd. S.o. 2.2.1 und 3.2.2.2.2.
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Seelsorge rechnet damit, dass in der Kommunikation unter Anwesenden die Anwesenheit des Abwesenden, die praesentia Christi präsent wird.²⁴ In der seelsorglichen Kommunikation wird etwas präsentiert, das promissional präsent und somit unverfügbar ist. Das Spezifikum seelsorglicher Interaktion liegt gegenüber liturgischer, religionspädagogischer und homiletischer Interaktion in ihrer hohen performativen Dynamik.²⁵ Das, was „gespielt“ wird – die seelsorgliche „Agende“ – ergibt sich nur in actu und ist weniger vorhersehbar als in Liturgie, Predigt und Unterricht, wo es schriftlich codifizierte Requisiten gibt. Dies gilt z. B. hinsichtlich des Themas der Kommunikation, das bei Predigt, Unterricht und Liturgie in der Regel anhand einer Perikope, dem Thema einer Unterrichtseinheit oder dem Ordinarium und Proprium eines Sonntags vorbereitet wird. Dort bieten die Spielregeln einen fester geprägten Kommunikationsrahmen als in der Seelsorge, der die jeweilige Situation als liturgische, homiletische oder religionspädagogische (wieder‐)erkennbar macht. Seelsorgliche Kommunikation hingegen orientiert sich in der Regel nicht an einem Skript, einem Stundenverlauf oder einer (liturgischen) Agende. Weiterhin sind bspw. in der liturgischen Interaktion textile, hodologische, proxemische, musikalische, akustische und kinetische Codes konkret erwartbar, wie das Beispiel des Schlusssegens zeigt: Der mit Talar und Beffchen bekleidete Pfarrer geht zum Altar, wendet sich zur Gemeinde, steht, blickt die Gemeinde an, singt Salutatio und Sendungswort, hebt die Hände, breitet diese aus, spricht den Segen und schlägt das Kreuz. Im Unterschied dazu ist die seelsorgliche Kommunikation in allen ihren Äußerungsformen – Kommunikationsmedium, Zeit, Raum und Leib – kontingent. Das kairologische Zusammentreffen von „günstiger Person“, „günstiger Zeit“ und „günstigem Ort“ zur „günstigen Gelegenheit“²⁶ ist häufig gerade nicht erwartbar und planbar. Das sich jeweils ergebende Thema der Seelsorge korrespondiert damit, wie sich die Person in der Rolle des Seelsorgers präsentiert und wie sie wahrgenommen wird – mit Karle formuliert geht es um den Aufbau von „Vertrauen“. ²⁷ Auch Zeitpunkt und Zeitdauer von Seelsorge sind weniger fest geprägt als bei einem Gottesdienst oder einer Schulstunde. Analoges gilt für den seelsorglichen Ort, der vorher verabredet werden kann, sich aber auch häufig spontan ergibt – z. B. nach einem Gottesdienst an der Kirchentür, im Kontext einer Gemeindeveranstaltung oder bei einer zufälligen Begegnung.
S.o. 3.2.1.2. S.o. 2.2.2 und Einleitung zu Kapitel 3. Vgl. Lohse 20062: Kurzgespräch, 21 ff. Vgl. Karle 2000: Kompetenz, 515 ff und dies. 2001: Pfarrberuf, 72 ff.
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Dieses prinzipiell offene Setting verlangt vom Seelsorger ein hohes Maß an Flexibilität, Spontaneität und orthotomischem Geschick, um mittels christlicher Deutungsangebote Inszenierungsformen des Evangeliums kairologisch angemessen einbringen zu können. Der Seelsorger muss sein „Handwerk“ (Josuttis) beherrschen, d. h. im Umgang mit Äußerungs- und Darstellungsformen des (eigenen) christlichen Glaubens geübt sein und über ein Repertoire christlich geprägter Kommunikationsformen (Rituale)²⁸ verfügen, auf die er je nach Situation zugreifen kann.²⁹ Es können bspw. liturgische Kleinformen wie Gebetshaltungen, Segensgebärden oder Salbungsgesten eingeübt werden. Zum seelsorglichen „Handwerk“ (Josuttis) gehört auch das Bereithalten optionaler „Requisiten“, mit denen auf der Wahrnehmungsbühne der seelsorgliche Kommunikationsraum religiös-christlich gestaltet werden kann. Solch mögliche „Requisiten“ sind: das Evangelische Pastorale,³⁰ Kerze, Feuerzeug, Abendmahlsgeräte, Salböl, Bibel, Gesangbuch, Tisch-Kreuz, Teelichter, Steine, Bildkarten mit einem Bibelvers, (Tisch‐)Decke, Plastiken aus Holz, Stein o. ä., Bilder und Zeichnung etc. Die tatsächlichen seelsorglichen „Handwerkszeuge“ werden je nach Person, Ort und (Kirchenjahres‐)Zeit variieren und z. B. im frame Notfallseelsorge andere sein als im frame Geburtstagsbesuch. Die seelsorgliche Präsenz berücksichtigt die Dynamik des seelsorglichen Kommunikationsgeschehen und kann wie folgt bestimmt werden: Seelsorgliche Präsenz ist die durch die Sensibilität für die prinzipielle Offenheit und dynamische Performanz der Interaktion gebrochene Präsenz. Sie zielt darauf, die Wirklichkeit einer konkreten Lebenssituation als Wirklichkeit coram Christo zu deuten. Aus dieser Perspektive ist nun die Partitur des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens in den Blick zu nehmen. Die folgende Aufordnung richtet zum einen den Blick auf die Vieldimensionalität des seelsorglichen Kommunikationsgeschehens und verweist zum anderen auf die Gestaltungsaufgabe, das Evangelium mittels leib-räumlicher Formen so zu inszenieren, dass es für jemanden zur guten Nachricht werden kann. Insofern zielt das die Untersuchung abschließende Kapitel auf zweierlei: Einerseits geht es um eine differenzierte Wahrnehmung vorfindlicher und nicht-veränderbarer Settings, andererseits um das Aufzeigen von Möglichkeiten, die Kommunikationssituation intentional zu gestalten und umzugestalten.
Zum Ritual-Begriff der vorliegenden Untersuchung s. o. 3.2.2.2.2. Meyer-Blanck (1999: Entdecken, 34) spricht hier von einer „persönlichen Bibelkunde“. Neues Evangelisches Pastorale 20073.
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Zentral ist hierbei die Frage, wie das christlich codierte sinnhafte Deutungsgeschehen der Seelsorge im colloquium sinnenhafte Gestalt(en) annimmt. Anhand möglicher Gestaltungsformen wird der Möglichkeitsraum der seelsorglichen Praxis exemplarisch dargestellt. Den Kategorien Kommunikationsmedium, Zeit, Raum und Leib sind verschiedene Codes – verstanden als Deutungsmuster – zugeordnet. Diese strukturieren die Wahrnehmung einer seelsorglichen Kommunikationssituation und regen in der seelsorglichen Praxis zum abduktiven Experimentieren mit verschiedenen Formen an.³¹ Illustriert wird diese Aufordnung mit möglichen Szenen der seelsorglichen Praxis. Jeder der vorgeschlagenen Codes kann auf verschiedene Möglichkeiten hin abgefragt werden: Aktuell Verwirklichtes (Anwesendes) verweist auf potentiell Mögliches (Abwesendes), das als Deutungsangebot eingebracht werden, Wirklichkeit umbilden und eine neue Sichtweise eröffnen kann. Als religiöser Kommunikation liegt der Seelsorge an den Deutungsangeboten, die Wirklichkeit als Wirklichkeit coram Christo konstruieren. Das syntagmatische Zusammenspiel – oder auch Gegeneinanderspiel – der verschiedenen leib-räumlichen Codes evoziert in der Wahrnehmung einer Deutungsinstanz die konkrete „Atmosphäre“ einer seelsorglichen Kommunikationssituation, rahmt den Verlauf der Kommunikation und das „Handeln“ des Seelsorgers. Die Motopädin Weiß, die in einem stationären Hospiz in Düsseldorf beschäftigt ist, beschreibt dies folgendermaßen: „Wenn ich das Zimmer eines Patienten betrete, öffnen sich meine Sinne: Welcher Geruch ist im Raum? Wie fühlt sich die Stille oder der Klang im Raum am? Was höre ich? Gibt es Geräuschquellen, wie Fernseher oder Radio? Sind Besucher im Raum? Gibt der Patient Geräusche von sich? Was sehe ich? Wie ist der Raum durch den Patienten gestaltet? Wo befindet sich der Patient? In welcher Haltung liegt, sitzt, steht er? […] Diese ganzen Eindrücke werden sekundenschnell aufgenommen. Sie erzeugen Resonanzen, die mein weiteres Vorgehen leiten.“³² Der Gewinn der vorliegenden Untersuchung
Eine ähnliche Aufordnung – allerdings unter dem Terminus „Sprachen“ – erstellt Bieritz (2004: Liturgik, 42 ff) für die Liturgie. In Aufnahme von Bieritz erarbeitet Neijenhuis (2007: Gottesdienst, 137 ff) „Sprachen“ und „Codes“, um einen „Gottesdiensttext“ adäquat analysieren zu können. Weiss 2004: Sterbebegleitung, 109. – Auch Ziemer (2007: Beziehung, 144) räumt ein, dass „Sympathie oder Antipathie“ für den Verlauf einer seelsorglichen Begegnung „nicht unwichtig“ sind. „Persönlichkeitsmerkmale innerer und äußerer Natur“ (ebd.) spielen eine Rolle. „Es gibt […] situative Faktoren, die eine Beziehung prägen: der Raum, die Zeit, die unmittelbare Veranlassung des Gesprächs, Alters-, Geschlechts- und Bildungsunterschiede“ (ebd.). Ebenso weist Morgenthaler (20122: Seelsorge, 249) auf die Relevanz der „Gestaltung des Gesprächssettings“ hin: „Die Gestaltung des Kontexts, in dem ein Seelsorgegespräch stattfindet, prägt die Atmosphäre. Welche Sitzordnung erleichtert das Gespräch? Was bedeutet der Lichteinfall? Welche Symbole schmücken den Raum, und was signalisieren sie von dem in diesem Raum zu Erwartenden? Solche Fragen
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liegt darin, diese Beobachtung aus der Praxis theoretisch einzuholen und aus semiotischer Sicht präzise zu fassen. Auf allen Ebenen der seelsorglichen Partitur finden permanente Abgleichungsprozesse der Codes miteinander statt, so dass ein Kommunikationsgeschehen von jemanden als «stimmig» oder «unstimmig» empfunden werden kann – etwa wenn mit einem Lächeln im Gesicht vom Tod des Ehepartners gesprochen wird. Die Intention des Kapitels liegt – analog zum zweiten und dritten Kapitel – auf fundamentalpoimenischer Ebene. Die Codes, mit denen das seelsorgliche (Spiel‐) Feld abgeschritten wird, fungieren als allgemeine Analysekategorien für jedes seelsorgliche Kommunikationsgeschehen. Je nach seelsorglicher Kommunikationssituation, je nach poimenischem frame – sei es nun Krankenhaus-, Notfall-, Schausteller- oder Alltagsseelsorge – werden bestimmte Codes aktualisiert oder narkotisiert. So sind z. B. bei der Telefonseelsorge proxemische Codes – wie der Blickkontakt zwischen dem Seelsorger und dem Seelsorgepartner – irrelevant, wohingegen Sprechcodes – wie die Stimmmodulation – in der Regel bedeutsamer werden als in der Kommunikation mit physischer Kopräsenz. Mit den hier explizierten analytischen Kategorien ist es möglich, verschiedene seelsorgliche Kommunikationssituationen miteinander zu vergleichen. Auf diese Weise sind Spezial-Seelsorge-Konzepte nicht nur an einen einheitlichen Theoriehorizont rückgebunden,³³ sondern auch an einen allgemeinen Beobachtungs-, Deutungs- und Aktionsrahmen.
4.1 Kommunikationsmedium Die Seelsorge kann auf verschiedene Kommunikationsmedien zugreifen: V. a. Verbalsprache, aber auch auf Musik, Schrift, Bilder, Filme, Telefon oder das Internet. Je nachdem, welches Medium gewählt wird, werden bestimmte Codes aktualisiert bzw. narkotisiert.
spielen auch dann eine Rolle, wenn eine Seelsorgerin in ein ihr fremdes Zimmer kommt […]. Wo und wie setzt sie sich etwa im Spital neben dem Krankenbett hin? Wie findet sie eine angenehme Augenhöhe?“ – Unter dem Theoriezugriff der vorliegenden Studie, wird es möglich, diese vortheoretischen Aussagen unter einem einheitlichen Horizont zu fassen und einzuordnen. S.o. Kapitel 2 und Kapitel 3.
4.1 Kommunikationsmedium
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Die Verbalsprache ist das Kommunikationsmedium, das in der Poimenik meist im Vordergrund steht und in der seelsorglichen Interaktion die Aufmerksamkeit an sich bindet.³⁴ Sprachcodes können auf ganz unterschiedliche Weise aktualisiert werden: Gesprochenes kann in der eigenen Muttersprache, einer Fremdsprache oder im Dialekt geformt werden. So wird es z. B. Seelsorge in der Bahnhofsmission immer wieder mit Menschen aus anderen, nicht deutschsprachigen Ländern zu tun haben. Das Hören der gebrochen gesprochenen eigenen Muttersprache, die Wahrnehmung, dass sich jemand aufgrund seiner fehlenden Sprachkenntnisse für den anderen nicht oder kaum verständlich ausdrücken kann, ruft ganz unterschiedliche Deuteprozesse hervor – z. B. Abwertung in intellektueller Hinsicht, Interesse an der anderen (Sprach‐)Kultur, Hilflosigkeit oder den Ehrgeiz, sich mittels eines Wörterbuchs und anderer leib-räumlicher Darstellungsformen wie Zeichnungen, Gestik oder Mimik „verständlich“ zu machen. Ebenso kann das Hören von bestimmten Dialekten Zu- oder Abneigung evozieren. Auch der Sprachstil lässt Hypothesen über das Gegenüber aufstellen und ihn bspw. einem bestimmten „Milieu“³⁵ zuordnen. Diese Deutung liegt umso näher, wenn sich der Seelsorgepartner besonders elaboriert, restringiert oder dialektal ausdrückt. Die Verwendung unterschiedlicher Sprachstile der Seelsorgepartner kann hierarchisch codiert sein – ebenso der Rückgriff auf pastoral codierte Sprache oder theologische Fachtermini. Es ist möglich, dass Menschen durch Krankheit keine verbalsprachlichen Ausdrucksformen (mehr) generieren können. Menschen, die als dement gelten oder einen Schlaganfall erlitten haben, finden häufig für das, was sie ausdrücken wollen, nicht (mehr) die passenden Wörter. Einige Geräusche – wie bestätigendes oder ablehnendes „Hm“, häufig in Verbindung mit einem Kopfnicken oder Kopfschütteln (gestischer Code) – sind in ihrer Bedeutung kulturell so fest geprägt, dass sie als direkte Kommunikation verstanden werden und deshalb als verbalsprachlich codiert gelten können. Auch die Abwesenheit von Sprache, also Schweigen, ist möglich, manchmal nötig und „auszuhalten“³⁶ – wie z. B. bei einem Trauergespräch. Gerade in Situationen verbalsprachlicher Stille gewinnen die anderen leib-räumlichen Formen der interaktionellen Kommunikation an Bedeutung: Der Notfallseelsorger entzieht angesichts des Leids gerade nicht seine Präsenz und ist nach dem Vorbild der Freunde Hiobs (Hi 2,13) „einfach da“. Zur „Sprache als Medium des seelsorglichen Gesprächs“ vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Grözinger (2007). Zu den in der Praktischen Theologie rezipierten Milieutheorien vgl. Kretzschmar 2007: Kirche. Zum „‚aktiven‘ Schweigen“ als Interventionsform vgl. Ziemer 20042: Seelsorgelehre, 168.
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Es können explizit christliche Sprachspiele bedient werden: Segensworte bei einer Segnung, beim Gratulationsakt im Rahmen eines Geburtstagsbesuchs oder ein religiös codierter Abschiedsgruß wie „Behüt’ Sie Gott!“ Das mündliche Einbringen eines – in der Bibel verschrifteten – Bibelverses oder einer biblischen Geschichte, der Valetsegens am Sterbebett oder bei der Aussegnung aktualisiert geprägte Kommunikationsformen des christlichen Glaubens, die zudem auch liturgisch codiert sein können wie der aaronitische Segen. Den gesprochenen Worten sog. christlicher „Rituale“ eignet das Potential, in Situationen, die sprachlos machen (Freude, Trauer, Schock), einen Gestaltungsraum zu eröffnen. Emotionen und Gedanken finden in den ausgesprochenen Worten der Tradition kommunikativen Ausdruck. Im vieldimensionalen Zusammenspiel wird die Kommunikationssituation verdichtet und in der rituellen Struktur intentional gestaltet. Besonders in der Seelsorge mit altersdementen Menschen bieten sich geprägte Kommunikationsformen der christlichen Tradition an, wie z. B. einen Choral zu singen oder das Vaterunser zu beten. Denn ist vieles aus dem Leben bereits vergessen, werden diese Worte oft noch erinnert und können mitgesprochen oder mitgesungen werden.³⁷ Im letzten Fall werden musikalische Codes relevant, die mit der Modellierung von Verbalsprache – wie Tonhöhe, Tempo, Lautstärke, individueller Stimmklang – korrespondieren.³⁸ Der Seelsorger sollte daher nicht nur über eine „persönliche Bibelkunde“ (Meyer-Blanck) verfügen, sondern auch über einen „persönlichen Liedschatz“ und einige für die christliche Tradition prägende Lieder und Gebete auswendig kennen und sie auch singen können bzw. wollen. Das gemeinsame Singen eines Chorals oder Beten des Vaterunsers umgeht die für die verbalsprachliche Kommunikation notwenige Sequenzierung und synchronisiert die Ausdrucksformen der Anwesenden. Es perfomiert sich eine Sprechoder Singgemeinschaft, die sich mit den Worten der Tradition zugleich in die Christentumsgemeinschaft einschreibt. Gebetete Worte ändern die Adresse der Kommunikation und wenden sich an den Abwesenden, der in der Seelsorge promissional anwesend ist. Klage, Bitte, Lob und Dank können in frei gewählten oder fest geprägten Worten formuliert,von allen Anwesenden gemeinsam oder nur vom Seelsorger gesprochen werden. Es kann mit den Worten eines Psalms gebetet werden – auswendig oder vorgelesen
Zur Seelsorge mit alten Menschen vgl. z. B. Kobler-von Komorowski/Schmidt (20062: Seelsorge) und Pechmann (2011: Altenheimseelsorge). – Zur Seelsorge mit an Demenz erkrankten Menschen vgl. z. B. Depping (20083 und 20002: Altersverwirrte Menschen Bd. 1 und Bd. 2; 2009: Demenz), Hille/Köhler (2013: Seelsorge) und Roy (2013: Demenz). Zur Musik in der Seelsorge vgl. Heymel 2004: Nacht. Zur Liedseelsorge vgl. ders. 2012: Gesangbuch, 89 ff.
4.1 Kommunikationsmedium
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aus der Bibel oder dem Evangelischen Pastorale.³⁹ Verschriftetes wird so in Mündlichkeit transformiert, Schriftzeichen werden zum Klangleib. Verbalsprache wird mittels Sprechcodes modelliert. Es macht einen Unterschied, ob das Gesprochene auf einen Rezipienten «hektisch» oder «ruhig», «beschwingt» oder «niedergeschlagen» wirkt. Das, was gesagt wird (Inhalt), wird von einer Deutungsinstanz mit der Sprechweise (Form) auf Stimmigkeit hin abgeglichen. Besonders relevant ist die Modulation der Stimme in Situationen wie der Telefonseelsorge, in denen die Anwesenden nicht physisch kopräsent sind. Sprechcodes formen den aktuellen Sprechleib durch Sprachmelodie, Sprechgeschwindigkeit, Tonfarbe, Tonhöhe, Lautstärke, Aussprache, Lachen, Weinen. Derselbe Satz – „es ist genug“ – evoziert unterschiedliche Deutungen, wenn er geschrien oder von einem Sterbenden geflüstert wird, unter Lachen oder Weinen gesagt wird, klar ausgesprochen, gestottert, genuschelt oder von einem Schlaganfallpatienten gelallt wird. Gebete oder Segenshandlungen sind häufig durch eine ritualisierte Sprechweise und einen liturgischen Habitus geprägt, die sie von der Alltags- und Umgangssprache abheben. Graphemische Codes werden in der Seelsorge dann relevant, wenn handschriftlich etwas geschrieben wird, Gedrucktes gelesen oder ein Schriftbild mithilfe einer Tastatur oder einem Touchscreen erzeugt wird. Handschriften evozieren Deutungen und sind häufig Gegenstand von psychologisch motivierten Interpretationen über den Schreiber. Der Schriftzug kann klein oder groß sein, das Schriftbild gleichmäßig oder unruhig, die Schriftzeichen ausgeschmückt oder auf die notwendigen Linien beschränkt, die Schrift undeutlich oder gut lesbar. Geschriebene Worte werden häufig dann als Kommunikationsmedium benutzt, wenn der Seelsorgepartner – z. B. aufgrund einer Krankheit – nicht (mehr) sprechen kann. Da das Schreiben der Worte mehr Zeit in Anspruch nimmt als das Aussprechen, ist das Geschriebene im Vergleich mit dem Gesprochenen meist kürzer. Es wird auf das gekürzt, was Alter am wichtigsten erscheint. Sätze werden bspw. fragmentarisch aufgeschrieben und Wörter abgekürzt. Während gesprochene Worte mit ihrem Aussprechen verklingen, können geschriebene Worte mehrmals gelesen werden. Dies gilt v. a. für interaktionsfreie Seelsorge (Briefseelsorge, interaktionsfreie Formen der Internetseelsorge), in der nicht auf Verbalsprache zurückgegriffen wird. Der Kommunikationsprozess ist zeitlich entzerrt. Der interaktionelle Druck der reflexiven Wahrnehmung entfällt. Graphemische Codes begegnen in Form von Gedrucktem. Dieses kann z. B. in der Seelsorgesituation vorgelesen werden – wie ein Psalm aus dem Evangelischen
Neues Evangelisches Pastorale 20073.
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4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
Pastorale,⁴⁰ ein Text aus der Bibel, ein Gedicht oder ein Liedtext aus dem Gesangbuch⁴¹. Schrift kann auch schweigend rezipiert werden – wie ein Brief, der dem Seelsorger gereicht wird oder den graphemischen Zeichen auf dem Bildschirm eines Rechners, Laptops, Tablets oder Smartphones. Eher als Subtexte der direkten Kommunikation kann im Raum Diverses gelesen werden: Die Titel der Bücher im Wohnzimmerregal, der Schriftzug auf einer Postkarte (ikonischer Code), der Speiseplan eines Krankenhauses, die Titelüberschriften einer umher liegenden Zeitung, die Beschriftung einer Medikamentenverpackung, der Name auf dem Anstecksteckschild des Seelsorgers. Permanent ist das Bewusstsein mit solchen Wahrnehmungsprozessen beschäftigt. Sie verlaufen simultan zur direkten Kommunikation und stellen dieser eine Menge an Irritationspotential zur Verfügung. Zugleich können sie Impulse werden für ein neues Thema. So kann z. B. gefragt werden, wer die Postkarte geschrieben hat. Weil Alter weiß, dass Ego all dies wahrnimmt, kann versucht werden, die Aufmerksamkeit des Gegenübers intentional auf gewisse Themen zu lenken oder beim anderen einen bestimmten Eindruck zu erwecken. Eine aufgeschlagene, auf dem Tisch liegende Tageszeitung in einem sonst aufgeräumten Altenheimzimmer, kann das Bild eines «informierten», «geistig beweglichen» Senioren hervorrufen. Oder ein an einem exponierten Ort platziertes Buch über Suizid offeriert der Seelsorge geradezu dieses Thema. Der Seelsorger kann nicht nicht darauf eingehen. Und es ist anzunehmen, dass genau das von ihm erwartet wird. An diesen Beispielen wird außerdem deutlich, dass Schriftcodes nicht von ihrem pragmatischen Kontext – wie Gegenständen – zu trennen sind. Das Medium des Internets wird von der Seelsorge mit diversen Angeboten zur Onlineseelsorge genutzt:⁴² Landeskirchliche, katholische, überregionale-ökumenische Anbieter, christliche Ordensgemeinschaften, haupt- und ehrenamtliche, ausgebildete oder autodidaktische Internetseelsorger offerieren die Kontaktaufnahme per Mail, Chat oder Forum. Die Telefonseelsorge bietet neben der „Mailberatung“ z. B. auch eine „Chatberatung“ an.⁴³ Wird wie bei der Internetseelsorge Schrift mit einer Tastatur oder einem Touchscreen erzeugt, so kann der produzierte Text gestaltet werden durch Wahl der Schriftart, der Schriftgröße, Groß- und Kleinschreibung, Iterationen von Buchstaben und Satzzeichen, Sperren (Auseinanderziehen von Buchstaben), Fettdruck oder Unterstreichen. Das Kommunikationsmedium des Internets hat
Neues Evangelisches Pastorale 20073. Evangelisches Gesangbuch 19952. Zur Internetseelsorge vgl. Vauseweh (2007: Onlineseelsorge) und Knatz (2013: Handbuch). Vgl. http://www.telefonseelsorge.de/ (Zugriff am 12.09. 2013).
4.1 Kommunikationsmedium
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eine Art Internetsprache generiert, die eine „eigene Schrift- und Kommunikationskultur entwickelt“:⁴⁴ Elemente der Muttersprache werden mit Elementen aus dem Englischen vermischt. Verwendet werden Abkürzungen, Akronyme und der Comic-Sprache entlehnte Inflektive (Aktions- und Soundwörter). Emoticons und Smileys dienen der Transkription von Gefühlen. Sie greifen auf ikonische Codes zurück und produzieren – eingefügt in einen Text – Schriftbilder. Auch die Kombination mit bewegten Bildern – wie das Posten von Filmen – oder musikalische Rahmungen sind möglich. Insofern kann die Kommunikation im Internet eine ganze Reihe an Codes aktualisieren (graphemische, ikonische, musikalische, kinetische, visuelle, akustische, musikalische, Sprach- und Sprechcodes) und präsentiert sich damit als ähnlich komplexe Kommunikationssituation wie die face-to-face Begegnung,⁴⁵ mit der die Nutzer zu experimentieren wissen: „Vielen macht das Spielen mit Buchstaben und Zeichen einfach Freude. Kreativität wird mit der Tastatur ausgelebt.“⁴⁶ Auch Gedrucktes oder Handschriftliches wird oft mit ikonischen Codes in Verbindung gebracht: auf einer Postkarte, in einem schriftlich kommentierten Fotoalbum, auf einer Bildkarte mit Bibelvers. Weiterhin werden ikonische Codes für die Seelsorge relevant, wenn z. B. in der Seelsorge mit Kindern und Jugendlichen kreative Ausdrucksformen wie das Malen eines Bildes oder Gestalten einer Collage gewählt werden.⁴⁷ Auch Fotos von Haustieren, Kindern, Enkelkindern oder dem verstorbenen Ehepartner sowie an der Wand hängende Bilder oder Zeichnungen können in der Seelsorge eine Rolle spielen. Medien wie Radio und Fernsehen, die während der seelsorglichen Interaktion angeschaltet sind, bergen für die Kommunikation ein hohes Irritationspotential, da sie die Aufmerksamkeit des Bewusstseins auf sich ziehen und an sich binden. Telefon und Handy werden im Rahmen der Telefonseelsorge relevant oder auch in
Knatz 2013: Handbuch, 26; zur Sprache im Internet und Sprache der Internetseelsorge vgl. a.a.O., 25 ff. Zu den Charakteristika virtueller Kommunikation vgl. Vauseweh (2007: Onlineseelsorge, 148 ff); zu denen der Internetseelsorge vgl. Knatz 2013: Handbuch, 51 ff. – „[B]esonders komplex und eventuell auf völlig neuen Ebenen anspruchsvoll“ wird nach Vauseweh (2007: Onlineseelsorge, 152) die Kommunikation im Internet dadurch, dass sich ein Nutzer gleichzeitig an mehreren „virtuellen Gesprächen“ (ebd.) beteiligen kann und zwischen „öffentlicher“ (Forum, Chatroom) und „privater Kommunikation“ (ebd.) (Mail, privater Chatroom) wechseln kann. Systemtheoretisch sind diese unterschiedlichen „virtuellen Gespräche“ als voneinander zu unterscheidende Kommunikationssysteme aufzufassen, die eine – hier zeitgleich dieselbe – Person inkludieren. Diese Betrachtungsweise reduziert die Komplexität der Kommunikationssituation, macht sie beschreibbar und anhand der aktualisierten Codes differenziert beobachtbar. Knatz 2013: Handbuch, 32. Zur Seelsorge mit Kindern vgl. Mack 2010: Handbuch Kinderseelsorge.
496
4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
der Notfallseelsorge, um den Kontakt zu Angehörigen herzustellen. In der face-toface Begegnung ist es meist das Läuten eines Handys oder Telefons, das die Aufmerksamkeit bindet und zur Unterbrechung dessen zwingt, was man gerade tut.⁴⁸ Es bleibt festzuhalten, dass Seelsorge als Kommunikationsgeschehen auf Medien zugreift, um überhaupt Sinnformen prägen und kommunizieren zu können. Welches Kommunikationsmedium in der Seelsorge faktisch gewählt wird, hängt von der jeweiligen Kommunikationssituation ab und wird in der vorliegenden Arbeit explizit nicht mit einer normativen Präferenz verbunden. Die Annahme, face-to-face Kommunikation sei „authentischer“ als schriftliche oder Kommunikation im Internet, ist insofern obsolet, als es bei den unterschiedlichen Erscheinungsweisen von Seelsorge nicht um ein fundamental anderes Verständnis von Kommunikation, sondern um die Aktualisierung anderer Kommunikationsmedien geht, die den Kommunikationsprozess womöglich auf zeitlicher Ebene entzerren. Der Vieldimensionalität des Evangeliums entspricht die Pluralität der seelsorglichen Zueignungsformen, die sich nicht auf ein bestimmtes Kommunikationsmedium einschränken lässt. Jedem Kommunikationsmedium sind Spezifika eigen, die in einer bestimmten seelsorglichen Situation „passend“ sind oder nicht.
4.2 Zeit Im Unterschied zum Raum ist die Zeit nicht unmittelbar sinnenhaft wahrnehmbar. Doch erschließt sich der Raum kategorial über die Zeit, da die Gegenwart ausschließlich über konkrete Formen zugänglich ist. Seelsorge distinguiert sich als ein personaler Zeitort. Die menschliche Zeiterfahrung wird durch vorfindliche kosmische, vegetative und biologische Rhythmen bestimmt.⁴⁹ Die Gliederung der Zeit in Tag, Monat und Jahr geht auf kosmische Vorgänge zurück. Insofern eignet menschlicher Zeiterfahrung ein zyklisches Moment. Die Wahrnehmung der kosmisch-vegetative Zyklen ist kulturell codiert: Kalender und Festzeiten folgen in unterschiedlicher Weise lunaren und solaren Rhythmen. Der Beginn und die Einteilung eines Tages oder Jahres sind durch
Vgl. Kieserling 1999: Kommunikation, 150: „Die Türklingeln, die Telefone, die Hupen […] zwingen zwar nicht dazu, durch entsprechendes Gegenhandeln in die Kommunikation einzutreten, aber wenn man es nicht will, bedarf das einer spürbaren Anstrengung. Vor allem unterbrechen sie die anderweitig schon laufende Interaktion.“ Zum Folgenden vgl. Bieritz 2004: Liturgik, 58 ff; und ders. 20016: Kirchenjahr, 23 ff.
4.2 Zeit
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kulturelle Konvention bestimmt und unterscheiden sich je nach Kulturkreis. Der Wochenrhythmus korreliert mir kulturellen und sozioökonomischen Faktoren. Auch hier variiert die Dauer in verschiedenen Kulturen. Gemeinsam ist ein hervorgehobener, häufig religiös exponierter Tag als Anfangs- bzw. Endpunkt der Woche. „Kalendarisch-heortologische Codes vergegenständlichen in gewisser Weise das kollektive Gedächtnis der Kultur.“⁵⁰ Kollektive Übergangsriten markieren sich zyklisch wiederholende Interpunktionen, die kulturell als Festpunkte oder Festzeiten codiert sind und sich von Nicht-Festzeiten abgrenzen (Weihnachten, Silvester). Dabei unterliegen Feste einer generativen Logik. Sie können neu entstehen (Halloween) bzw. in Vergessenheit geraten (Michaelis). In diesem Zusammenhang erhellen auch Umdeutungen wie die Nivellierung der Sieben-Tage-Woche durch gleitende Arbeitszeiten oder die wirtschaftliche Destruktion des Sonntags durch verkaufsoffene Sonntage (z. B. in der Adventszeit). Was das für die Zeiterfahrung und das Zeitempfinden der eigenen Lebenszeit bedeutet, kann ein Thema der Seelsorge werden – z. B. die Bedeutung der Schichtarbeit für Freundschaften, Familie oder ehrenamtliches Engagement. In der Bibel begegnet Zeiterfahrung primär als lineare Deutung der Zeit. Die Geschichte des alten und neuen Bundes wird als Heilsgeschichte, die einem Ziel zustrebt, konstruiert. Das Kirchenjahr orientiert sich an den heilsgeschichtlichen Ereignissen, v. a. am Christusgeschehen. In zirkulären Vergegenwärtigungen schreibt sich das christlich codierte Jahr in die lineare Heilsgeschichte ein – gleich einer „Spirale“, die sich bei jeder Umdrehung ein Stück weiter, ihrem endgültigen Zielpunkt näher schraubt.⁵¹ In der Seelsorge kann der jeweilige Festkreis des Kirchenjahres zum relevanten Kontext der Kommunikation werden. So legen sich z. B. zu einer bestimmten Zeit bestimmte Themen nahe, die – in einer entsprechend situativ „passenden“ Form – als christliche Deutungen eingespielt werden können: In der Passionszeit Schmerz und Leiden, in der Osterzeit Auferstehungshoffnung, in der Weihnachtszeit, die die mit der Inkarnation und Intemporierung einhergehende Paradoxie, dass Gott in einem hilfsbedürftigen Säugling Mensch wird und sich gerade hierhin die Zuneigung Gottes zum Menschen zeigt. Für Menschen, die ihre Lebenszeit ohne Partner und Familienangehörige verbringen, kann sich das Empfinden von Einsamkeit an den kulturell bedeutenden Festen des Kirchenjahres noch verstärken – dies v. a. an Weihnachten, das traditionell als Familienfest gefeiert wird. Auch religiös codierte Zeiten anderer Religionen können seelsorglich relevant werden, wie der islami-
Bieritz 2004: Liturgik, 61; mit Verweis auf Aleida und Jan Assmann. Vgl. Bieritz 20016: Kirchenjahr, 50.
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4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
sche Fastenmonat Ramadan in der Begegnung mit muslimisch-christlichen Ehen und Freundschaften. Zeiterfahrung und Zeitempfinden entstehen im Wechselverhältnis von zyklischen und linearen Deutungen. Je mehr sich die Zeiterfahrung linear konstituiert, desto wichtiger werden zirkuläre Vergegenwärtigungen wie „runde“ Geburtstage oder Hochzeitsjubiläen. Heortologische Codes vergegenständlichen auf der Ebene des individuellen Gedächtnisses die kulturelle und religiöse Identität eines Menschen. Die Zeiterfahrung der eigenen Lebenszeit steht in dem Spannungsfeld von kosmisch-vegetativ-biologisch vorfindlichen sowie kulturell und religiös codierten Zeiten. Lebenszeit vollzieht sich im Horizont der Erfahrung verschiedener Zeitebenen. Mit dem Tageslauf und einzelner seiner Abschnitte können sich bestimmte Bedeutungen verbinden: Zeiten der Arbeit und der Ruhe, die Zeiten der Mahlzeiten und der Stille wie die „blaue Stunde“ am frühen Morgen. Für die seelsorgliche Kommunikation macht es einen Unterschied, ob sie am Morgen, Mittag, Abend oder in der Nacht stattfindet. Der Zeitpunkt korreliert direkt mit der Wahrnehmung des seelsorglichen Zeitorts. Die Woche kann Bedeutung erhalten im Blick auf Werktage und einen Ruhe-, Haushalts- oder Familientag, Zeit für einen Sportverein oder einen Gottesdienstsbesuch. Auf Ebene des Monats können der weibliche Menstruationszyklus oder der Erhalt des Lohns im Kontext der anstehenden Zahlungen relevant werden. Das Jahr erhält seine Bedeutung durch Alltags- und Urlaubszeiten, Festzeiten und Nicht-Festzeiten, und – nicht nur im dörflichen Kontext – durch die Jahreszeiten, die kulturelle Üblichkeiten mit ihren dazu passenden Gefühlszuständen in Verbindung bringen wie mit Frühlingsgefühlen, einer Herbstdepression oder der winterlichen Agonie. Hier spielen auch textile Codes der Modebranche eine Rolle (Sommer-, Winterkollektion; jahreszeitliche Farbskalen).⁵² Auch der regelmäßige Besuch des Gottesdienstes am Heiligen Abend oder die Zeit der Stille „zwischen den Jahren“ ist auf der Zeitebene des Jahres verortet. Für die Seelsorge werden die Jahreszeiten als Kommunikationsumgebung relevant. In der Sommerzeit, die sich kulturell mit Wärme und Lebensgewinn verbindet, kann z. B. die individuelle Trauer um einen Menschen umso unerträglicher erscheinen. In der sog. „dunklen Jahreszeit“ ist bereits in den Massenmedien immer wieder die Rede von Depressionen. Ob in diesem Kontext z. B. die Selbsttötungsrate steigt, wäre zu untersuchen. Überhaupt wäre es ein prak-
Zu textilen Codes s.u. 4.4.
4.2 Zeit
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tisch-theologisch lohnender Gegenstand einer empirischen Untersuchung, wie und ob sich innerhalb des Kirchenjahres und Naturjahres die Sterberate ändert. Im Blick auf Trauungen und Taufen (Kasualseelsorge), die vermehrt in den wärmen Jahreszeiten stattfinden, legt sich eine Verbindung nahe. Ebenfalls auf der Zeitebene des Jahres ist die Urlaubsseelsorge zu verorten. In der Zeit der Abwesenheit von Erwerbsarbeit eröffnet sich am Urlaubsort als einem nicht-alltäglichen Ort Frei-Zeit und Frei-Raum für religiös-existentielle Fragen der eigenen Lebenszeit. Diese Beispiele machen deutlich, dass Zeit innerhalb eines kulturellen Rahmens individuell und abhängig vom jeweiligen Lebenskontext codiert wird. So verschieben sich z. B. die Codierungen der verschiedenen Zeitebenen in der Situation der Arbeitslosigkeit. Werktage oder Urlaubszeiten verlieren an Bedeutung für den Einzelnen. Dies kann z. B. auch für Hausfrauen und Hausmänner gelten, deren „Eigenzeit“⁵³ sich im Kontext der Konstruktion der jeweiligen Familienzeit bildet. Für die Seelsorge ist es hilfreich, auch im Blick zu haben, dass das Zeitempfinden und Zeiterleben Einzelner im Kontext der jeweiligen Lebensphase und dem jeweiligen Lebensalter steht. Beobachtbar ist eine Kinderzeit, in der sich der Zeitbegriff im Zusammenhang mit der Sozialisation formt, eine Frauenzeit, die z. B. hinsichtlich eines Kinderwunsches relevant wird, eine Männerzeit, eine Rentenzeit, die oft aktiv gestaltet wird, und eine Altenzeit.⁵⁴ Gerade die Zeit am Ende des Lebens wird häufig dann als «lang» und «schleppend» empfunden, wenn das hohe Alter zunehmend dem Körper zusetzt und der Aktionskreis immer weiter eingeschränkt wird. Hier zeigt sich, ob im Laufe des Lebens eine ars senecendi ausgebildet wurde.⁵⁵ Dass eigene Lebenszeit im Bezug auf und in Abgrenzung von anderen als eigene Zeitkonstruktion wahrgenommen wird, zeigt sich an verschiedenen „Familienphasen“: Die Zeit der Paarbildung, der Schwangerschaft, die Zeit mit Kleinkindern, das Zeitmanagement einer Familie mit berufstätigen Eltern, die Zeit mit Adoleszenten, der Auszug erwachsener Kinder, die fragmentierte Zeit von Patchworkfamilien.⁵⁶
Vgl. Schneider 1994: Bedeutung, 3; in Bezug auf Helga Nowotny. Auf diese Zeitkonstruktionen der einzelnen Lebensphasen macht Schneider (a.a.O., 3) aufmerksam. Zu einer „Praktischen Theologie des Alterns“ vgl. die gleichnamige Aufsatzsammlung (Klie/ Kumlehn/Kunz 2009: Praktische Theologie) und zu „Altersdiskursen in theologischer Deutung“ den von Kumlehn und Klie herausgegebenen Sammelband (2009: Aging). Vgl. Morgenthaler 2002: Zeit, 169 f.
500
4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
Morgenthaler macht darauf aufmerksam, dass Konflikte häufig mit der Kollision verschiedener Zeitkonstruktionen korrespondieren. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn in die individuellen und familiären Zeitkonstruktionen der Zeitrhythmus einer Krankheit bzw. die Zeitvorgaben standardisierter Behandlungspläne einbrechen. Gebrochen von medizinischen Schätzungen der noch verbleibender Lebenszeit werden Zeitkonstruktionen umgeschrieben. Individuelle oder familiäre „Eigenzeiten“ können auch in Spannung zu (inter‐)kulturellen Zeitkonstruktionen treten. Zu denken ist hier an islamisch codierte Festzeiten im christlich-kulturell codierten Kontext. Als bedrohlich kann mit dem Beginn der Moderne die sog. „Beschleunigung der Zeit“⁵⁷ empfunden werden, was sich u. a. am Erfolg des Romans „Entdeckung der Langsamkeit“ von S. Nadolny zeigt.⁵⁸ In diesem Zusammenhang erschließt sich auch das Thema der „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, das in der Kasualseelsorge (Taufgespräch, Traugespräch) relevant werden kann. Menschliche Zeit ist immer limitierte Zeit, was besonders in Krisensituationen wie schwerer Krankheit, Leiden und Sterben erfahrbar wird. Zeit kann hier als „unerbittlich“ erfahren werden, die in Krankheit und Tod nach dem Menschen „greift“. Das chronologische Fortschreiten der Zeit kann schmerzlich als endgültiger Abbruch von Beziehungen oder heilsam als „Erlösung“ von Leiden erfahren werden. Der Tod wird v. a. dann als „unzeitig“ erlebt, wenn Kinder oder junge Menschen sterben – sei es durch einen Unfall (Notfallseelsorge) oder durch Krankheit (Seelsorge im Gemeindepfarramt, Kinderhospizseelsorge). Krisensituationen stellen Zeitkonstruktionen radikal in Frage und durchkreuzen Zukunftspläne. Oft verändert sich in solchen Situationen das Zeitempfinden: „seltsam verlangsamt, verdichtet oder ruckweise verschoben“ und manchmal wie eine „leere Zeit“.⁵⁹ Beim Empfang einer Todesnachricht kann es zur Empfindung einer stehengebliebenen Zeit kommen. Die Chronologie scheint sistiert. Deshalb verstört es in einer solchen Situation unheilsam bis hin zum Abbruch der Kommunikation, z. B. wenn der Notfallseelsorger auf seine Armbanduhr blickt.⁶⁰ Die Begegnung mit dem Tod von Angehörigen und Freunden erinnert an die Begrenztheit der eigenen Lebenszeit. Dies spielt z. B. in Trauergesprächen dann verstärkt eine Rolle, wenn mit dem Verstorbenen der letzte Vertreter einer Generation stirbt. Die noch lebenden Generationen rücken in der Wahrnehmung der Familie gleichsam dem Tod einen Schritt näher.
Vgl. Rosa 2005: Beschleunigung. Vgl. Schneider 1994: Bedeutung, 4. Vgl. Morgenthaler 2002: Zeit, 174. Dieses Beispiel verdanke ich Pastor und Notfallseelsorger Frank Waterstraat/Rodenberg.
4.2 Zeit
501
Die Begrenztheit der Lebenszeit drängt zu ihrer Deutung – ähnlich wie es Psalm 90,12 in der Lutherübersetzung formuliert: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Lebens- und Todesdeutungen spielen immer zusammen. Zyklische Deutungen der eigenen Lebenszeit fassen den Tod als Wiedergeburt auf,⁶¹ lineare Deutungen als Vollendung – sei es als endgültiges Ende des Lebens oder im Rahmen christlicher Auferstehungshoffnung als neue Existenz. Zeit kann betrachtet werden als Erfolgsfaktor, den man nicht verschwenden darf, oder gleich dem Sprichwort „Zeit ist Geld“ als wirtschaftliche Ressource, die es zu nutzen gilt. Lebenszeit kann als erfüllte Zeit im Sinne von „Lebenssattheit“ (z. B. Gen 25,8) gedeutet werden oder als verlorene Zeit, in der Möglichkeiten unwiederbringlich verpasst wurden. Seelsorglich sind diese Interpretationen von Zeit aufzunehmen – etwa mit einem Abschiedsritual, das ermutigt, bislang Unausgesprochenes auszusprechen, das dem Raum und Zeit gibt, „das noch im Raum steht“ – evtl. noch am Totenbett wie bei einer Aussegnung. Mit der kulturell durchschnittlich erreichten „Lebensmitte“ wird der noch zur Verfügung stehenden Lebenszeit oft eine andere Qualität zugeschrieben, da sie im Vergleich zur schon gelebten Zeit abnimmt. Es ist oft die Zeit für berufliche oder familiäre Veränderungen und Brüche – v. a. wenn eigene Kinder bereits erwachsen sind. Aus biblischer Perspektive erscheint Lebenszeit nicht nur als ablaufende Zeit bis hin zu dem Zeitpunkt, an dem die Stunde für jemanden geschlagen hat, sondern als vom Schöpfer gewährte Zeit. In der Bibel finden sich eine Reihe von Zeitinterpretationen, die in der Seelsorge als Deuteangebote eingebracht werden können: Prediger 3,1– 15 leitet mit seinem „Alles hat seine Zeit“ zu einer gewissen Gelassenheit im „Umgang“ mit der Lebenszeit an, in der sich Höhen und Tiefen abwechseln. Die Vergänglichkeit des Menschen und dessen – im Vergleich mit der gesamten Schöpfung – kurze Lebensspanne drückt Psalm 144,4 aus: „Ist doch der Mensch gleich wie nichts; seine Zeit fährt dahin wie ein Schatten.“ Ähnlich beschreibt Psalm 90,3 – 6 die Vergänglichkeit: „Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst, das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt.“ Diese Worte formulieren den Eindruck, die Lebenszeit sei geradezu „dahingeflogen“ und bringen die – gerade angesichts von Tod und Sterben – häufig begegnende Frage, wo denn die Zeit geblieben sei, auf den Punkt.
Vgl. Sachau 1996: Inkarnationsvorstellungen.
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4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
Dass dem Glauben Lebenszeit nicht als ablaufende biologische Uhr erscheint, sondern als bei Gott geborgene Zeit, drückt Psalm 31,16 aus: „Meine Zeit steht in deinen Händen.“ Anfang und Ende des Lebens rücken so in die Perspektive der Unverfügbarkeit, sie liegen sozusagen in „Gottes Hand“. Der hier verwendete Anthropomorphismus kann vom Seelsorgerpartner ganz unterschiedlich interpretiert werden: als Gestaltung und Zerstörung, Macht und Gewalt oder Geborgenheit und Vertrauen wie das gleichnamige Lied von Peter Strauch („Meine Zeit steht in deinen Händen“, 1981) das Psalmwort auslegt.⁶² Gerade in der Hospizseelsorge kann es für Sterbende tröstlich sein, sich selbst in Leib und Zeit glaubend in der Hand Gottes zu wissen. Das Noch-nicht-sterben-Können oder Noch-nichtsterben-Wollen wird eingeschrieben in die Geschichte Gottes mit dem Menschen. Die Perspektive des individuellen Lebens wird so auf Gott hin transzendiert und in einen religiösen Kontext gestellt. Möglich wird dann z. B. auch, sich mit Klage über den nahe gerückten Tod oder mit der Bitte um einen schnelles Sterben an den Gott zu wenden, der als Herr über die Zeit des Menschen geglaubt wird. Anders als die menschliche Zeit – als die der Schöpfung gewährten Zeit – ist Gottes Zeit durch die Abwesenheit von Zeit gekennzeichnet. Prediger 3,15 nimmt die Ewigkeit als das Zusammenfallen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in den Blick: „Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist.“ Ähnlich sieht Psalm 90,4 die chronologischen Zeitebenen in der göttlichen Zeit aufgehoben: „Tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist“. Die Eschatologie entzieht sich der Chronologie. Der eschatologische Code, der die Eigenheit der Seelsorge bestimmt, überformt den chronologischen Code der menschlichen (Lebens‐)Zeit in die Spannung des „doch schon“ und „noch nicht“, an die der Glaubende mit der Taufe hineingenommen ist. Die Begrenztheit der Lebenszeit gilt damit nunmehr für den immanenten Zusammenhang und wird – mit der Auferstehungshoffnung – im Hinblick auf das Ende des irdischen Lebens transzendiert ins ewige und damit zeitlose Leben. Seelsorge bietet an, individuelle Zeiterfahrung von Lebenszeit im Horizont kultureller Zeitkonstruktionen und der im biblischen Zeugnis kommunizierten Heilsgeschichte zu deuten. Sie ermutigt dazu, Zeit als eigene Zeit wahrzunehmen, die gestaltet werden kann und verweist auf offene Möglichkeit der noch verfügbaren Zeit (Zukunft). Dabei kann sich der Blick auch auf die Integration der Vergangenheit richten. Versöhnung und Vergebung können im Rahmen eines Lebensrückblicks oder einer (Lebens‐)Beichte v. a. in der Seelsorge mit Menschen
Kommt, atmet auf 2011: 023.
4.2 Zeit
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am Ende ihres Lebens bedeutsam werden. Ein zugesprochenes te absolvo kann heilsam sein und auf das Kommende hin befreien. Seelsorge wird so zum Zeitort, an dem Lebensgeschichten konstruiert werden. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Menschenlebens können so „gelesen“ werden, dass ein sinnvoller Zusammenhang entsteht. Durch den Eindruck der Kontinuität des eigenen Lebens bildet sich Identität als ein individuelles Gedächtnis, das durch Erinnern und Vergessen immer selektiv ist. In der Begegnung mit Menschen, die ihre Erinnerungsfähigkeit z. B. durch Demenz verloren haben, stellt sich die Frage nach der eigenen Identität umso dringlicher. Visuelle, taktile und olfaktorische Codes⁶³ werden dann oftmals wichtiger als verbalsprachliche Konstruktionen der Lebenszeit. Fotos (von der Hochzeit oder den Kindern), Gegenstände (eine von der Mutter geerbte Kommode, ein Schmuckstück) oder ein bestimmter Raum (Elternhaus) können Deutungen evozieren und in der Erinnerung mit Ereignissen der vergangenen Lebenszeit verbunden werden, zur Selbstvergewisserung beitragen und so ein Stück Identität schaffen.⁶⁴ Die Erinnerung immer wiederkehrende Fragmente z. B. eines schweren Unfalls oder von Kriegsereignissen ist v. a. ein Thema der Notfallseelsorge. Bei einem sog. Trauma spielen nicht nur visuelle Codes in Form erinnerter Bilder eine Rolle, sondern auch auditive (Quietschen von Autoreifen, das Knirschen von Metall) oder olfaktorische Codes (Brandgeruch). Ruft etwas dieses in das Gedächtnis eingeprägt Erinnerungsbild hervor, so können auch die anderen Sinneswahrnehmungen dazu konstruiert werden. Nicht zuletzt ist die Seelsorge selbst ein Geschehen in der Zeit. Seelsorgliche Kommunikation distinguiert einen Zeitraum, an dem Wirklichkeit(en) konstruiert werden. Hierbei gewinnen zunächst weniger chronologische als kairologische Codes an Bedeutung. Die Bildung eines seelsorglichen Kommunikationssystems ist wesentlich vom „rechten Augenblick“ abhängig. Es ist die „günstige Gelegenheit“ (T. Lohse), die sich im komplexen Zusammenspiel verschiedener zeiträumlicher Formen ergibt. Hat sich Seelsorge an einem Zeitpunkt performiert, so wird ein Zeitraum eröffnet, der über eine gewisse Zeit hinweg andauert. Während in interaktionsfreier Kommunikation (Mailseelsorge, Briefseelsorge) der Kommunikationsprozess zeitlich entzerrt ist und die seelsorgliche Kommu-
S.u. 4.3. Ähnlich bereits Depping 2009: Demenz, 374: Es kann „sinnvoll sein, haptische Angebote zu machen. Man sucht nach Gegenständen, die biographisch relevant sind. […] Sind die Dinge vertraut, so lösen sie Assoziationen aus, führen zu kleinen Geschichten und bringen Emotionen hervor.“ – Zur praktisch-theologischen Bedeutung von alltäglichen Gegenständen, an denen „das Herz hängt“ vgl. Mädler 2006: Transfigurationen.
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4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
nikation länger dauert, bildet sich in der Interaktion ein kürzerer, verdichteter Zeitraum, der in der face-to-face-Begegnung durch die leibliche Kopräsenz der Anwesenden noch verstärkt wird. Die Produktion und Rezeption von Zeichen finden dort zeitgleich statt. Im Internet ist es außerdem möglich, dass sich ein Nutzer gleichzeitig an mehreren „virtuellen Gesprächen“ (Vauseweh) beteiligt – also von mehreren Interaktionen (wie z. B. Chats) zeitgleich als Anwesender inkludiert wird. Wie lange sich eine seelsorgliche Interaktion zeitlich erstreckt, ist von ihrer Kommunikationsumgebung abhängig. Sind es auf der Intensivstation drei Minuten⁶⁵ und im Hospiz häufig nicht mehr als zehn Minuten, kann ein Geburtstagsbesuch eines Gemeindepfarrers im dörflichen Umfeld durchaus einen Nachmittag lang dauern.⁶⁶ Die Zeitdauer der seelsorglichen Kommunikation wird sehr unterschiedlich empfunden. Sie kann für jemanden «kurzweilig» oder «langweilig» sein – z. B. wenn sich die Kommunikation durch Wiederholungen scheinbar „im Kreis dreht“. Die Verteilung der Redezeit und Redezeitpunkte unter den Anwesenden kann hierarchisch codiert sein. Bei einem Hausbesuch kann entweder der „Hausherr“ oder die „Dame des Hauses“ begrüßen. Gerade in Familiensystemen regeln oft eingespielte Muster, wer wann „was zu sagen hat“. Dabei bestimmt nicht zwangsläufig die Verbalsprache die Kommunikation. Die Anwesenden können zeitgleich zum Sprecher leib-räumliche Formen als Zeichen der Ablehnung oder Kritik produzieren – wie hoch gezogene Augenbrauen, Lächeln, Räuspern, Rümpfen der Nase oder Abwenden vom Sprecher. Analoges gilt für leib-räumliche Formen, die Zustimmung evozieren sollen oder können.⁶⁷ Für den seelsorglichen Zeitraum wird auch relevant, ob der Eindruck entsteht, dass der anwesende Seelsorger Zeit hat oder ob sein Verhalten Zeitmangel und Zeitdruck evoziert⁶⁸ – wie wiederholte Blicke auf die Uhr oder das Hin-und-herRutschen auf dem Stuhl. Diese Formen können auch – je nachdem, ob und wann
Vgl. Morgenthaler 2002: Zeit, 173 Anm. 19. Für die Praxis des seelsorglichen Gesprächs schlägt Klessmann (20124: Seelsorge, 128) einen „Zeitrahmen von 30 – 45 Minuten“ vor. Ebd.: „Gespräche, die länger als eine Stunde dauern, sind, außer in bestimmten Krisensituationen (Begleitung von Sterbenden, Präsenz bei Trauernden etc.), nicht zu empfehlen“. S.u. 4.4. Nach Reuter (2001: Seelsorge) liegt ein Spezifikum der Seelsorge darin, dass der Seelsorger im Kontext einer zeitökonomisierten Gesellschaft als eine Person mit Zeit ansprechbar ist. – Theobold (2013: Smalltalk) lässt sich gerade von der Erfahrung der Zeitknappheit im Gemeindepfarramt zur Rezeption von Ansätzen der Kurzzeittherapie für die seelsorgliche Gemeindepraxis anregen.
4.2 Zeit
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man auf sie aufmerksam wird – nach einer bereits länger dauernden Kommunikation auf ein gewünschtes Ende der Begegnung hin gedeutet werden. Ebenso wie der Beginn des seelsorglichen Zeitraums ist dessen Ende aufmerksam in den Blick zu nehmen und im Rahmen seiner Möglichkeiten zu gestalten. Der Seelsorger muss deshalb nicht nur die Kunst beherrschen, die zeitlich ersten Sequenzen der Kommunikation zu gestalten („Joining“), sondern auch die zeitlich letzten („Trennungskompetenz“).⁶⁹ Neben den Grußformeln wie „Auf Wiedersehen“ oder ein religiös codiertes „Behüt Sie Gott“ kann die in der Begegnung gemeinsam verbrachte Zeit im stillen oder laut gesprochenen Gebet vor Gott gebracht werden. Dies kann zum Zeichen dafür werden, dass im Unterschied zum Weggang des Seelsorgers die Präsenz Gottes bleibt. Der Zeitrahmen der Seelsorge unterscheidet sich von dem einer Beratung. Dies betrifft zum einen die Taktung der Begegnungen: Therapeutische Beratung findet über einen bestimmten Zeitraum hinweg zu vereinbarten Zeitpunkten statt. Zum anderen orientiert sich auch die zeitliche Struktur der Sitzungen an strikten Vorgaben, die je nach therapeutischem Konzept variieren. Morgenthaler z. B. schlägt für sein Konzept der „religiös-existentielle Beratung“⁷⁰ folgende zeitliche Taktung vor: „Rund vierzig Minuten dienen dem Gespräch, fünf bis zehn Minuten einer ‚meditativen Pause‘ […], und einige Minuten einer Schlusssequenz, in der [der Ratsuchende; L.K.] eine würdigende Rückmeldung und kreative Anregungen erhält“.⁷¹ Eine seelsorgliche Begegnung hingegen findet aufgrund ihres prinzipiell offenen Settings die zeitliche Struktur im situativen Zusammenspiel ihres vieldimensionalen Sinngeschehens in actu. Auch folgen die seelsorglichen Begegnungen häufig keinem bestimmten Rhythmus, wie z. B. der Gottesdienst, der traditionell am Sonntagmorgen erwartbar ist, oder der Religionsunterricht, der laut Stundenplan während der Schulzeit jede Woche zu einem bestimmtem Zeitpunkt, für eine bestimmte Zeitdauer erwartet werden kann. Seelsorge ist ein Angebot, das prinzipiell jedem zu jeder Zeit zur Verfügung steht. Dies wird v. a. an dem Grundsatz der Telefonseelsorge „rund um die Uhr erreichbar“⁷² deutlich. Im Gemeindepfarramt kann ein Notfallhandy, das zwischen den Pfarrern einer bestimmten Region weitergereicht wird, diese Funktion übernehmen. Dieses gewährleistet dann auch, dass ein Seelsorger zeitnah „vor Ort“ sein und Seelsorge face-to-face stattfinden kann.
Vgl. Morgenthaler 2002: Zeit, 172. Vgl. Morgenthaler/Schibler 2002: Beratung. Morgenthaler 2002: Zeit, 164 f. http://www.telefonseelsorge.de/?q=node/12#. (Zugriff am 12.09. 2013). – Analoges gilt für die Internetseelsorge; vgl. Knatz 2013: Handbuch, 46 f.
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4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
Möglich ist auch, das Angebot der Seelsorge zeitlich zu takten: Wie z. B. seelsorgliche Besuche im Hospiz, die jeden Montagnachmittag stattfinden, ein monatlicher „Seelsorgetag“ im Gemeindepfarramt, an dem die Arbeitszeit eines Pfarrers als Zeit angeboten wird, in der seelsorgliche Begegnungen explizit erwünscht sind. Die Besonderheit der Seelsorge im Gemeindepfarramt liegt im Unterschied zur Seelsorge, die sich auf bestimmte frames spezialisiert hat (Krankenhausseelsorge, Notfallseelsorge), darin, dass Begegnungen generationenübergreifend über eine längeren Zeitraum hinweg möglich sind. Diese eröffnen gerade an den Übergängen des Lebens wie Trauung, Konfirmation, Taufe, Aussegnung und Beerdigung die Möglichkeit für seelsorgliche Kontakte und Gestaltung individuellfamiliärer Übergangsriten (Kasualseelsorge). Hier ist Seelsorge explizit an einen gemeindlichen Kontext, an die Gemeinschaft der Glaubensgeschwister rückgebunden, die innerhalb eines begrenzten Ortes (Stadtteil, Dorf) Zeit verbringt. Eine rhythmisierte Reihe von seelsorglichen Begegnungen ist eher selten. Häufig haben die einzelnen seelsorglichen Kontakte den Charakter von Kurzgesprächen⁷³ und sind – v. a. im Arbeitsalltag eines Gemeindepfarrers – durch die Begrenzung von Zeit geprägt. Diese begrenzte Zeit so zu gestalten, dass sie zur verdichteten Zeit wird, die von jemandem als «erfüllt» erfahren wird, als eine Zeit, in der sich das Evangelium für jemanden vergegenwärtig, ist Aufgabe der Seelsorge. Dies gilt umso mehr, als es gerade in der Krankenhaus-, Hospiz- und Notfallseelsorge oft bei einer einzigen seelsorglichen Begegnung bleibt. Relevant ist deshalb die kairologische Gegenwart dieser einen Begegnung. Die seelsorgliche Vergegenwärtigung des Evangeliums zielt auf die „günstige Gelegenheit“, den poimenischen Kairos zum expliziten Einbringen eines christlichen Deutungsangebots. Es geht also nicht nur darum, in welcher Form ein Deutungsangebot eingespielt wird, sondern auch zu welchem Zeitpunkt. Hinsichtlich der zeitlichen Dimension bleibt festzuhalten: Im Kontext kulturell und religiös geprägten Zeiterlebens distinguiert sich Seelsorge als ein personaler Zeitort, an dem religiöse Lesarten individueller Zeiterfahrung von Lebenszeit angeboten werden. Dies kann konkret im Rückgriff auf biblische Deutungen geschehen und richtet sich im weitesten Sinne am eschatologischen Code aus.
Vgl. Morgenthaler (2002: Zeit, 166); Lohse (20062: Kurzgespräch) und Theobold (2013: Smalltalk).
4.3 Raum
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4.3 Raum Die Kategorie des Raums umfasst den konkreten seelsorglichen Ort, an dem sich Kommunikation ereignet, sowie die konkreten Gegenstände, mit welchen ein Ort gestaltet werden kann. Relevant wird, was jemand sinnlich wahrnimmt und mit einer Bedeutung verbindet. Das Zusammenspiel (leib‐)räumlicher Formen generiert die sog. „Atmosphäre“, die bestimmte Stimmung eines Raums, die – in einem gewissen Rahmen – durch intentionale Produktion von Zeichen geformt werden kann. So macht es bspw. einen Unterschied, ob ein Raum mit Leuchtstoffröhren oder nur mit Kerzenlicht erhellt wird, ob man sich im Amtszimmer des Pfarrers trifft oder auf der Straße begegnet. Der Raum selbst kann zum kommunikativen Ort werden – und damit über die Kommunikationsumgebung hinaus, selbst zur Kommunikation. Im ausgegrenzten Zeit-Raum der Seelsorge kann mit der Wechselbeziehung von Inhalt und Form im Blick auf ihre Rezeption experimentiert werden. Grundsätzlich ist es für die Seelsorge erhellend, zwischen konkreten räumlichen Formen, die von jemandem gestaltet werden können, und Formen, die einem vorfindlichen, nicht weiter gestaltbaren Setting zuzurechnen sind, zu unterscheiden. Das Setting, also das „Gesetzte“, sind meist durch Immobilität gekennzeichnete Formen und Komponenten der „günstigen Gelegenheit“ (T. Lohse), zu der sich die seelsorgliche Kommunikationssituation performiert. Ein Seelsorgegespräch ergibt sich auf einem Volksfestplatz, auf der Straße, im Amtszimmer des Pfarrers, an der Kirchentür nach dem Gottesdienst, an einer Kaffeetafel, während eines Spaziergangs im Wald, im Mehrbettzimmer eines Krankenhauses, an der Unfallstelle auf der Autobahn, Online im Chatroom, im Wohnzimmer eines Gemeindeglieds oder nach dem Religionsunterricht – eben weil es jemandem gerade dort als „günstig“ erscheint. Dieser konkrete Ort ist als räumlicher Kairos der Seelsorge zu verstehen, der nicht auf einen anderen Ort und eine andere Zeit verschoben werden kann. Dies schließt nicht aus, dass im weiteren Verlauf der Kommunikation vereinbart wird, sich zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort erneut zu treffen, um an die gegenwärtige Kommunikation inhaltlich anzuschließen. Möglich ist auch, dass während der seelsorglichen Interaktion der Ort gewechselt wird, weil er im Kommunikationsverlauf für die Anwesenden „ungünstig“ wird. So kann man ein Gespräch, das an der Kirchentür begonnen hat, etwas abseits oder in der Kirchenbank fortsetzen, um die Interaktion klar von den weiteren Menschen, die in Sicht- und Hörweite sind, abzugrenzen. Oder man kann vom Wohnzimmer, in dem ein Trauergespräch begonnen wurde, in das Zimmer des Verstorbenen gehen und auf diese Weise das Setting wechseln.
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4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
Hinsichtlich des Settings sind architektonische Codes – das Korrespondieren von Länge, Breite und Höhe eines Raums – relevant.⁷⁴ Es macht einen Unterschied, ob eine Begegnung auf der Straße, unter freiem Himmel in einer Wohngegend stattfindet, im funktionalen Patientenzimmer eines Krankenhauses, der Wohnstube eines alten Bauernhauses oder in einem Kirchenraum, dessen Architektur darauf zielt, diesen Ort als sakralen wahrzunehmen. Es macht einen Unterschied, ob Seelsorge an einem profan oder religiös codierten Ort stattfindet. Als Kontext der Kommunikation eröffnen religiöse Funktionsräume den Raum für Religion: wie eine Kirche, ein Andachtsraum im Altenheim, ein „Raum der Stille“, eine Kapelle oder Seelsorgezimmer im Krankenhaus. An einem explizit religiös-christlich codierten Ort legt sich die religiöschristliche Codierung der Kommunikation zwanglos nahe, da die „Atmosphäre“ bereits als religiös-christliche empfunden wird. Hierbei ist zu bedenken, dass eine explizite religiös-christliche Codierung von jemandem auch als «bedrängend» und «einengend» empfunden werden kann, weshalb religiöse Funktionsräume gerade auch nicht zum „günstigen Ort“ für Seelsorge werden können. So ergeben sich z. B. mit Kindern und Jugendlichen seelsorgliche Begegnungen eher am Basteltisch, an der Tischtennisplatte oder am Kicker (Schulseelsorge, Kinderseelsorge, Jugendseelsorge). Bei dieser Zielgruppe werden außerdem kreative Ausdrucksformen und kinetische Codes bedeutsam.⁷⁵ Für die Seelsorge ist es von Bedeutung, an welchem Ort sie sich performiert. In diesem Zusammenhang ist dafür zu plädieren, die Möglichkeit einer „peripatetischen Seelsorge“ zu erproben. Zu denken ist hierbei an eine seelsorgliche Begegnung, die nicht notwendig im Sitzen und „Aushalten“ verharrt, sondern die die Bewegung und Dynamik des Lebens nicht nur verbalsprachlich, sondern auch im Fortschreiten leib-räumlich in Szene setzt (kinetische Codes).⁷⁶ Dies kann bei einem Spaziergang in einer als «Natur» empfundenen Umgebung wie in einem Wald, am Strand oder Ufer eines Flusses geschehen oder auf einem Pilgerweg. In dieser Kommunikationsumgebung ist es möglich, die Witterung zu spüren (taktil) und sich selbst als Teil der Schöpfung zu erfahren. Analog eines „Gottesdienstes im Grünen“ wären die Spezifika einer solchen „Seelsorge im Grünen“ zu bedenken. Durch den während der Kommunikation zurückgelegten Weg befindet sich auch die Kommunikationsumgebung in Bewegung und bietet eine Vielzahl an kommunikativen Irritationsmöglichkeiten.
Eco (19948: Einführung, 293 ff) entwickelt eine „Semiotik der Architektur“. S.u. 4.4. S.u. 4.4.
4.3 Raum
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Wie ein Raum auf jemanden wirkt, welche Stimmung er evoziert, ergibt sich aus dem Wechselverhältnis verschiedener Formen, die zunächst einmal als Kommunikationsumgebung wahrgenommen werden. Schreibt jemand einigen dieser räumlichen Formen eine bestimmte Bedeutung zu, so werden diese zum kommunikativen Zeichen, das semiosische Prozesse in Gang setzt. Relevant werden können die Temperatur eines Raums, sein Geruch, die Farben von Wänden und Gegenständen sowie die Lichtverhältnisse. Ein dunkler, kalter Raum ruft eine andere Atmosphäre hervor als ein heller, warmer Raum. Wie ein konkreter Ort von jemandem empfunden wird, hängt von individuellen und kulturellen Deutungsmustern ab. Mag dem einen ein Raum «kalt, unfreundlich und steril» erscheinen, kann er für einen anderen «modern und stilvoll» sein. Ein konkreter Ort, kann mittels verschiedener räumlicher Formen gestaltet und damit seine Stimmung geformt werden: Die Raumtemperatur kann reguliert, Licht angemacht oder eine Kerze angezündet werden. Binnentopologisch eröffnet sich innerhalb des vorfindlichen architektonischen Rahmens ein Raum, der als Kommunikationsumgebung intentional gestaltet werden kann. Bei der Einteilung und Einrichtung des Raums werden Möblierung und Platzierung mobiler Gegenstände von Bedeutung.⁷⁷ Es können einzelne Gegenstände sein, denen von jemandem einen besondere Bedeutung zugeschrieben und in der Seelsorge kommunikativ relevant werden – wie z. B. ein Familienfoto (ikonischer Code) oder eine von den Großeltern geerbte Kommode, die beim Besitzer Erinnerungen evoziert und zu lebensgeschichtlichen Konstruktionen anregt. Für die Seelsorge bietet sich besonders der Anschluss an religiös-christlich codierte Gegenstände an, wie ein Kreuz an der Wand, eine auf dem Tisch liegende Bibel, eine aufgestellte Bildkarte, eine kleiner Engel oder eine Marienfigur. Hierbei werden der Kontext einzelner Gegenstände und ihre Anordnung als Ensemble relevant. Es macht einen Unterschied, ob die Urkunde einer Auszeichnung sorgfältig gerahmt auf einem eigens dafür angebrachten Regalbrett präsentiert wird, so dass sie sich durch ihren exponierten Ort der Kommunikation geradezu aufdrängt, ob sie neben einer Reihe Bücher für den Betrachter zunächst einmal nicht auffällt oder ob sie gar nicht zu sehen ist, weil sie im Schrank aufbewahrt wird. Das Präsentieren von Gegenständen, denen eine besondere Beutung zugeschrieben wird – etwa weil sie einen hohen finanziellen oder ideellen Wert haben –, kann auch als zur Zur-Schau-Stellung empfunden werden und mit hier-
Mädler (2006: Transfigurationen) richtet als erste den praktisch-theologischen Blick auf die „materielle Kultur“.
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4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
archischen Codes verbunden sein. Die präsentierten Gegenstände werden damit Teil der Selbstdarstellung, Selbstvergewisserung bzw. Identitätsbildung oder Identitätsstilisierung. Man zeigt etwas von sich her und präsentiert sich damit sowohl der eigenen als auch der Wahrnehmung anderer. In der Seelsorge ist dann zu entscheiden, ob die von sichtbaren Gegenständen evozierten Kommunikationsimpulse explizit angenommen oder (zunächst einmal) abgelehnt werden und als Kontext die Kommunikation begleiten. V. a. im süddeutschen und österreichischen Raum findet sich in Wohnstuben mit dem „Herrgottswinkel“⁷⁸ ein explizit christlich codiertes Ensemble: Ein meist in einer Ecke befestigtes Kreuz ist mit Andachtsbildern von Schutzheiligen, einem Rosenkranz, geweihten Palmkätzchen, Blumen und Fotos von Familienangehörigen oder Erinnerungsstücke an Verstorbene zu einem Ort der alltäglichen Frömmigkeit komponiert.⁷⁹ Ein signifikanter Unterschied zwischen Therapie und Seelsorge sind die im Pfarrberuf üblichen Hausbesuche (Kasualseelsorge, Geburtstagsbesuch, Notfallseelsorge).⁸⁰ Das räumliche Zusammenspiel verschiedener Gegenstände ruft beim Seelsorger einen bestimmten Eindruck hervor.Von der Wohnungseinrichtung wird häufig auf das „Milieu“⁸¹ geschlossen. Ausgehend von dem, was zu sehen bzw. was gezeigt wird, macht sich der Seelsorger ein Bild vom Seelsorgepartner und stellt erste Hypothesen z. B. über dessen Bildung oder Interessen auf. Mit Blick auf die Wohnung kann man den Eindruck bekommen, dass jemand besonders viel Wert auf Ordnung legt oder dass eine Familie so um die Kinder herum organisiert ist, dass (vermutlich) nur Zeit blieb, Herumliegendes vor dem Besuch des Seelsorgers zu verstauen. Gerade bei Hausbesuchen zeigt sich der Seelsorge etwas von der Form gewordenen Lebensdeutung der Menschen. Es ist Aufgabe der Seelsorge, anhand der räumlichen Formen die jeweils konkrete Lebenssituation wahrzunehmen und in der Kommunikation auszuloten, damit sich die seelsorgliche Kommunikation des Evangeliums in entsprechend orthotomischen Formen ereignen kann.⁸² An den Orten „totaler Institutionen“ (Goffmann) verdient die Gestaltung privater Räume besondere Aufmerksamkeit. Im Patientenzimmer eines Krankenhauses erhält z. B. die Gestaltung des Nachttisches im Gegenüber zur funk-
http://www.gobayern.eu/herrgottswinkel.html (Zugriff am 14.09. 2013). Vgl. ebd. S.o. 3.2.1.3.2. – Für die systemische Therapie reflektiert Hargens (1993: Haus) das in diesem Rahmen ungewöhnliche Setting eines Hausbesuchs. Zu den in der Praktischen Theologie rezipierten Milieutheorien vgl. Kretzschmar 2007: Kirche. Hier ergeben sich Verbindungen zur seelsorglichen Dimension von Kasualansprachen – wie z. B. anlässlich einer Taufe.
4.3 Raum
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tionalen Ausstattung mit medizintechnischen Geräten besondere Bedeutung: Es entsteht ein Raum im Raum. Anwesende Gegenstände wie Süßigkeiten, ein Buch, ein aufgestelltes Foto, ein (frischer oder verwelkter) Blumenstrauß, das Foto der Kinder, eine Postkarte, eine aufgeschlagene Tageszeitung, eine kleine Marienoder Engelstatue erleichtern die seelsorgliche Kommunikation, indem sie im Kontext des Krankenhauses andere Themen als Krankheit und Gesundheit offerieren. Ähnliches gilt für die Anordnung privater Dinge in einer Gefängniszelle. Auch an die Gestaltung möblierter Zimmer im Altenheim oder Hospiz lässt sich kommunikativ anschließen.⁸³ Der Raum kann personalisiert sein durch aufgehängte Bilder und Gemälde, aufgestellte Figuren, Pflanzen, eine Tischdecke oder gar ein eigenes Möbelstück als Erinnerungsstück. Oft können diese Formen auch als Ausdruck für die familiären oder freundschaftlichen Beziehungen, in denen der Seelsorgepartner steht, verstanden werden. Ebenso kann das Fehlen persönlicher Gegenstände auf das Fehlen solcher Beziehungen hin gedeutet werden: Da gibt es niemanden, der den Transport dieser Gegenstände organisiert oder übernimmt. Diese Wahrnehmungen können in die Kommunikation eingebracht, Hypothesen bestätigt oder verworfen werden. Durch die Bewegung von Gegenständen (kinetische Codes), wird deren Position im Raum verändert. Während der seelsorglichen Kommunikation kann etwas in den Aufmerksamkeitsfokus gerückt oder ein neues Ensemble gestaltet werden. Dies bietet sich v. a. beim Einbringen geprägter Kommunikationsformen des christlichen Glaubens (Rituale) an. Hier schaffen eine angezündete Kerze oder ein Holzkreuz visuelle Aufmerksamkeitspunkte, die als Kommunikationsumgebung christlich codierte Kommunikation wie ein Gebet erleichtern können – ein Wohnzimmertisch kann zu einem Altar umgestaltet werden.⁸⁴
Auf die für alte Menschen oftmals wichtige Funktion eigener Gegenstände und Möbel im Altenheimzimmer weist Kapust (2008: Gott, 7) hin: „Die Einrichtungsgegenstände sind ein sichtbarer Rest des Lebens vor dem Umzug.“ Sie dienen als Kristallisationspunkte der Identität, als Erinnerungsstücke, deren Verlust oder nicht mehr Auffinden können das Selbstbild in Frage stellen (ebd.): „Da weiß eine alte Frau ganz genau, wo sie […] die Fotos von ihrem Haus liegen hat. Sie sind immer in einem Album in ihrem Wohnzimmerschrank gewesen. Aber nun? Verzweifelt geht sie in ihrem Zimmer auf und ab, öffnet ihre Schränke. Endlich findet sie einen Plastikbeutel. Dort sind die Alben verstaut. Doch das Bild ist nicht zu finden.“ Vgl. das von Waterstraat (2009: Chaos, 25 ff) angeführte und ausgedeutete Beispiel der Notfallseelsorge: Nach dem Überbringen der Nachricht vom Tod einer Frau bietet der Seelsorger an, zu beten: „Zustimmung signalisierend ging eine ältere Frau in ein anderes Zimmer und holte ein Marienbildnis. Das gab sie dem Mädchen [der Tochter der tödlich Verunglückten; L.K.] in die Hand, brachte eine Kerze, stellt sie auf den Wohnzimmertisch und zündete sie an. Es war eine christliche, aber keine evangelische Familie, und Deutsch war nicht ihre Muttersprache. Die Frau, die Marienbild und Kerze geholt hatte, begann mit anderen zusammen alte Kirchenlieder in ihrer
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4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
Auch bei einer Aussegnung ist es ratsam, auf die Raumgestaltung zu achten: Medizinische Geräte können entfernt werden, eine Kerze angezündet, ein Kreuz aufgestellt, Blumen auf das Totenbett gelegt werden. Denkbar ist auch, dass Gegenstände kommunikativ miteinbezogen werden, die für die Trauernden Zeichen ihrer Beziehung zu dem Verstorbenen sind.⁸⁵ In Anlehnung an die systemische Therapie (Familienaufstellung) können mit Gegenständen sowohl zwischenmenschliche Beziehungen – z. B. in ihrer Nähe und Distanz – als auch die Beziehung zwischen Gott und Mensch visualisiert und verändert werden. So entsteht ein Spielraum, in dem mit verschiedenen Möglichkeiten experimentiert werden kann. Diese Überlegungen weisen darauf hin, dass aus taktischer Sicht auf die Einrichtung religiöser Funktionsräume, die zum potentiellen Setting für Seelsorge werden können, zu achten ist.Wird ein Raum z. B. auch zum Abstellen von Leitern, Stühlen o. ä. benutzt, so kann dies den Eindruck einer «Abstellkammer» erwecken. Seelsorge hat die Chance der intentionalen Gestaltung ihrer Kommunikationsumgebung zu nutzen und räumliche Formen so zu wählen, dass die Kommunikation des Evangeliums nicht behindert, sondern wahrscheinlich wird. Es geht hier um die Frage, welche Orte und Gegenstände den Raum für Seelsorge eröffnen, so dass dieser für jemanden zu einem „günstigen Ort“ werden kann. Es macht einen Unterschied, ob an der Wand des Amtszimmers Fotos von Auszeichnungen des Pfarrers oder Bilder mit biblischen Sprüchen und Motiven hängen, ob Gespräche an einer kleinen Sitzgruppe im Arbeitszimmer geführt werden oder ob ein eigenes Amtszimmer zur Verfügung steht. Neben der Gestaltung der Kommunikationsumgebung ist auch das seelsorgliche „Handwerkzeug“ bereitzuhalten wie Kerzen, Streichhölzer, Steine, Abendmahlsgeräte, Brot und Wein, Kreuz, Bibel, Bilder, Blumen, das Evangelische Pastorale,⁸⁶ Weihrauch, Duftkerze etc. Räumliche Formen evozieren nicht nur hinsichtlich ihrer visuellen Erscheinungsweise bei einer Wahrnehmungsinstanz Deutungsvorgänge, sondern die seelsorgliche Interaktion ist gekennzeichnet durch eine Partitur der WahrnehMuttersprache zu singen. Ich hörte auf ihr Singen, sah das Mädchen und seinen Vater in den Armen der Verwandten, nahm Kerze und Marienbild wahr.“ (a.a.O., 25). „Der Wohnzimmertisch wurde zum Altar für die Kerze. Das Licht konnte so zum Zeichen der Gegenwart Christi inmitten der Finsternis des Geschehenen werden (Joh 8,12). […] Das Marienbild in der Hand des Mädchens war sichtbares, im wahrsten Sinne des Wortes fassbares Zeichen der Gegenwart der ‚Muttergottes‘ mitten im Leid.“ (a.a.O., 26). „Soweit von außen einschätzbar, waren Kerze, Marienbild und die gesungenen Lieder Kristallisations- und Haftpunkte einzelner heilender Glaubensinhalte“. (a.a.O., 27). Vgl. Neues Evangelisches Pastorale 20073: 170. Neues Evangelisches Pastorale 20073.
4.3 Raum
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mungs- und Interpretationsprozesse. Räumliche Phänomene werden mit allen Sinnen rezipiert und können bei einer Deutungsinstanz mittels taktiler, akustischer, olfaktorischer und gustatorischer Codes Sinnzuschreibungen hervorrufen. Gegenständliches wird taktil über das Sinnesorgan der Haut wahrgenommen. Ein bestimmter Gegenstand, wie eine Holzfigur oder ein Stofftier kann in die Hand genommen, gefühlt und für jemand zum Zeichen von Halt in Haltlosigkeit werden. Kreuze können angefasst werden, und lösen je nach Material (Stein, Holz, Metall, Stoff) und Verarbeitungsweise (runde oder kantige Form, rau, glatt) unterschiedliche Deutungen aus. Im katholisch geprägten Kontext liegt beim Beten des Rosenkranzes die Gebetskette in der Hand, und es werden die Perlen berührt. Bei der Feier des Abendmahls, werden der Kelch und die Hostie bzw. das Brot berührt. Harte, kalte und kantige Steine können für jemand zum Zeichen für Belastendes werden, die in der Seelsorge unter das Kreuz Christi gelegt werden können. Wird ein Sitzmöbel als unbequem empfunden, so kann das die Wahrnehmung und Aufmerksamkeit einer Person so sehr binden, dass dies für sie zur relevanten Kommunikationsumgebung wird (Rückenschmerzen). Findet seelsorgliche Kommunikation unter freiem Himmel statt, können Naturmaterialen kommunikativ miteinbezogen werden – z. B. die Berührung der rauen, abblätternden Rinde eines großen, alten Baumes. Auf der Haut kann der Wind gespürt werden – und ähnlich wie Elia am Horeb als „stilles, sanftes Sausen“ (1. Kön 19,12) empfunden und als Zeichen für die Gegenwart Gottes gedeutet werden. Akustische Codes werden dann relevant, wenn Geräuschen und Klängen eine Bedeutung zugeschrieben wird, indem sie von der Verbalsprache⁸⁷ und der Geräuschkulisse, die die Kommunikation ohnehin permanent begleitet, herausgehoben werden. Hintergrundgeräusche wie elektronisches Kinderspielzeug, eine laufende Maschine, Verkehrs- oder Baustellenlärm werden z. B. dann relevant, wenn sie von jemandem als störend empfunden werden. Kommunikativ können diese Geräusche nicht mehr ignoriert werden, wenn die verbalsprachlichen Laute der seelsorglichen Kommunikation übertönt werden und nicht mehr zu hören sind. Die Kommunikation muss auf die Irritation aus ihrer Umwelt eingehen und zu ihrem Thema machen. Das Ticken einer Uhr kann insbesondere während einer längeren Gesprächspause an die unablässig fortschreitende Zeit und damit an die ablaufende, begrenzte Zeit des eigenen Lebens erinnern. Ein angeschaltetes Radio zieht v. a. dann die Wahrnehmung auf sich, wenn in einer Sendung gesprochen wird. Ähnliches gilt für einen laufenden Fernseher, der in der Verbindung von Bild und Ton (visueller und akustischer Code) die Auf-
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merksamkeit der Anwesenden auf sich zieht – man kann nicht nicht hinsehen und hinhören. Auch das Klingen an der Tür oder eines Telefons zwingt zur Wahrnehmung und zum kommunikativen Verhalten. Die Kommunikationsabsicht kann nicht überhört werden. In diesem Zusammenhang ergeben sich weitere Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunikationsumgebung: Ein Fernseher kann ausgeschaltet werden – oder nicht. Ein Seelsorger kann für sein Handy zu Beginn einer seelsorglichen Begegnung eine lautlose Einstellung wählen – oder nicht, weil er z. B. bei einer ihm unliebsamen Begegnung gerade einen solch akustischen Bruch der Kommunikation wünscht. In der Seelsorge können Klänge intentional eingesetzt werden – wie z. B. der Ton einer Klangschale, die mit «Ruhe», «Konzentration» und «Meditation» verbunden werden kann. Werden Töne aneinandergereiht, so werden musikalische Codes bedeutsam.⁸⁸ Evoziert ein bestimmter Raum oder ein Haus mit seinem Geruch bei einer Wahrnehmungsinstanz bestimmte Erinnerungen – wie an die Schule oder das Elternhaus – so werden olfaktorische Codes relevant. Der spezifische Geruch eines Krankenhauses aktiviert kulturelle wie individuelle Deutungsmuster wie «Krankheit», «Tod», «Schmerz», «Arbeitsplatz», «Geburt» oder «Angst». Riecht ein Zimmer nach (kaltem) Zigarettenqualm kann das Widerstände hervorrufen. In der Notfallseelsorge kann bei einem Verkehrsunfall Brandgeruch die Kommunikation begleiten – eine oftmals so intensiv wahrgenommene räumliche Form, die auch nach beendetem Einsatz bei jemandem Erinnerung hervorrufen kann und dann als Trauma bezeichnet wird. Der Duft nach Kaffee und Kuchen beim Geburtstagsbesuch kann jemanden an Sonntagnachmittage mit der Familie erinnern und mit positiven oder negativen Erfahrungen verbunden werden. Ein frischer Blumenstrauß mag an den Frühling und neu erwachendes Leben erinnern oder in seinem Geruch für jemanden so intensiv sein, dass er als «unangenehm» empfunden wird und zu Kopfschmerzen führt. Ähnliches gilt für Duftkerzen, Duftöle (Aromatherapie im Hospiz), Weihrauch oder Salböl, die je nach Wahrnehmungsinstanz positiv, negativ oder diffus konnotiert sind. Redeweisen wie es herrscht „dicke Luft“ oder jemandem „stinkt es gewaltig“ nehmen die olfaktorische Dimension der Wahrnehmung kommunikativ auf. Wird während der seelsorglichen Begegnung gegessen oder getrunken, spielen gustatorische Codes eine Rolle. Essen und Trinken anzubieten, gilt kulturell als Zeichen der Gastfreundschaft sowie Tischgemeinschaft und kann daher eine Atmosphäre der gegenseitigen Anerkennung und Zuneigung schaffen. Doch auch hier ist die konkrete Deutung von ihrem Kontext und der Wahrnehmungs-
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instanz abhängig: Denn es macht einen Unterschied, ob jemandem der Hunger hat, ein selbstgebackener Kuchen angeboten oder jemandem, der gerade Mittag gegessen hat, ein gehaltvolles Stück Torte aufgedrängt wird. Hat jemand Durst, und es wird ihm nichts angeboten, wird auch das für die Kommunikationsumgebung relevant – wenn es nicht Thema der Kommunikation wird. Unbekannte oder unansehnliche Speisen können Ekel und Ablehnung hervorrufen (interkulturelle Seelsorge). Es kann intentional oder zufällig die Lieblingsspeise gereicht werden. Bestimmte Getränke lösen unterschiedliche Konnotationen aus – wie Dosenbier oder Champagner, Latte macchiato oder ein mit Instantpulver angerührter Cappuccino. Vor den Essen bringt ein Tischgebet zum Ausdruck, dass aus christlicher Perspektive die Grundlage des menschlichen Lebens von Gott gewährt wird – analog zur Brotbitte des Vaterunsers.Wird in der Seelsorge Abendmahl gefeiert, so werden Brot oder Hostie sowie Wein oder Traubensaft als räumliches Zeichen der Präsenz Jesu Christi geschmeckt. Die Gegenwart Christi kann in Bezug auf das Johannesevangelium als Grundlage des menschlichen Lebens gedeutet werden: Jesus Christus ist selbst lebensnotwendiges Brot (Joh 6,35) und Quelle Leben spendenden Wassers (Joh 4,13 f). Es bleibt festzuhalten, dass die Stimmung einer seelsorglichen Begegnung im Zusammenspiel verschiedenster wahrgenommener räumlicher Formen evoziert wird und von der jeweiligen Deutungsinstanz abhängt. Die Gestaltung der Kommunikationsumgebung kann sich an kulturellen Mustern orientieren, muss in actu jedoch offen bleiben für die jeweils konkreten und individuellen Wirklichkeitsdeutungen. Für die Seelsorge ist es wichtig, Aufmerksamkeitsorte zu gestalten, die die Wahrnehmung der Anwesenden bündeln und einen „günstigen“ Kontext für religiös-christlich codierte Kommunikation schaffen – wie etwa mit christlich deutbaren Gegenständen. Fehlen aufgrund von Krankheit oder Behinderung bei einem Anwesenden Wahrnehmungskanäle, so verschiebt sich die Gewichtung der räumlichen Codes. Bleiben in der Blindenseelsorge visuelle Codes für den Blinden ohne Bedeutung – wohl aber für einen sehenden Seelsorger –, werden räumliche Formen in ihrer taktilen und akustischen Wahrnehmungsdimension wichtiger als in der Begegnung mit Sehenden. In der Gehörlosenseelsorge sind es hingegen visuelle Codes, die verstärkt an Bedeutung gewinnen. Ähnliches gilt für seelsorgliche Kommunikation, die sich nicht als face-to-face Begegnung performiert. Fehlende Wahrnehmungskanäle können dazu konstruiert werden: So macht man sich ein Bild vom anderen, auch wenn man ihn nur am Telefon hört.
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4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
In der Internetseelsorge werden hinsichtlich des Raums v. a. visuelle und akustische Codes relevant. Das, was auf dem Bildschirm wahrnehmbar ist, schafft einen virtuellen Raum, der als Internetauftritt vom Seelsorger gestaltet werden kann: „Der erste Eindruck des Angebotes ‚Internetseelsorge‘ wird über die Webseite vermittelt.“⁸⁹ Die Webseite kann ohne Kontaktaufnahme mit dem Seelsorger abgerufen werden und evoziert Erwartungen. Neben einer funktionalen Benutzeroberfläche spielen hierbei Texte, Fotos, Farben, Testimonials (Erfahrungsberichte) und der Hinweis auf SSL-Verschlüsselung zusammen: „Das Gesamtbild muss stimmig sein und die Institution Kirche repräsentieren: vertrauenerweckend, professionell, einladend, seriös, verbindlich, menschlich und freundlich.“⁹⁰ Die Präsentation ist in der Regel bereits religiös-christlich codiert und schafft damit einen entsprechenden Erwartungsrahmen. Findet die Begegnung mit einer Webcam statt, ermöglicht diese die Wahrnehmung des Orts, in dem sich der andere gerade aufhält. Dieser kann als Hintergrund gestaltet werden – oder auch bewusst nicht gestaltet sein, indem z. B. der Platz vor einer weißen Wand gewählt wird. Der technische Gegenstand wie Rechner, Laptop, Tablet oder Smartphone wird als notwendiges technisches Gerät zum Ort der Seelsorge. Das Schreiben auf der Tastatur (taktil) kann für jemandem zum Ausdruck emotionaler Bewegtheit werden⁹¹ – wenn z. B. vor Ärger auf die Tastatur eingehämmert wird. Das kann von einem Rezipienten allerdings nicht unmittelbar wahrgenommen werden, sondern nur mittelbar z. B. aufgrund der Schnelligkeit der Beiträge, ihrer Orthographie oder der Groß- und Kleinschreibung (Schriftbild)⁹² daraufhin gedeutet werden. Letztlich ist es also bedeutsam, an welchem konkreten Ort Seelsorge stattfindet, wie der Raum eingerichtet ist bzw. wie er im Verlauf der Kommunikation (um‐) gestaltet wird.
4.4 Leib Von der Kategorie des Raumes ist die des Leibes zu unterscheiden. Leib steht für den Raum, den ein Mensch mit seinem Körper einnimmt, ihn somatisch beansprucht und gestaltet. Der Körper ermöglicht die simultane Rezeption und Produktion von Ausdrucksformen: Zum einen stellt der Körper die Voraussetzung der sinnenhaften
Knatz 2013: Handbuch, 151. A.a.O., 154. Zum Schreiben in der Internetseelsorge vgl. a.a.O., 178 ff. S.o. 4.1.
4.4 Leib
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Wahrnehmung des seelsorglichen Zeitraums, zum anderen werden Menschen durch Körpergestalt, Körpergestaltung und Körperverhalten selbst zu leib-räumlichen Formen. Nimmt jemand einen Ausdruck wahr – z. B. die Äußerung des Gesprächspartners – so geht dies in der Regel mit der Produktion eines neuen Ausdrucks einher – z. B. einem Gesichtsausdruck –, der vom Gegenüber als Reaktion auf den von ihm produzierten Ausdruck verstanden wird. Auf der Bühne der reflexiven Wahrnehmung versucht man am Gesicht des anderen „abzulesen“, was jener von dem hält, was man sagt oder wie man sich gerade verhält – wobei der andere weiß, dass er daraufhin beobachtet wird und seine Reaktion entsprechend gestalten kann. Die Körper der Anwesenden werden zum relevanten Kontext der Kommunikation.⁹³ Dabei stellt die Wahrnehmung der Körper ein Überschuss an Information zur Verfügung. „[D]ie Körper der Anwesenden [sind] nicht auf Kommunikation spezialisierbar. Sie haben, während sie sprechen oder zuhören und dadurch zur Kommunikation beitragen, immer auch noch anderes zu tun. Sie atmen. Sie husten. Sie wissen nicht wohin mit ihren Augen, ihren Händen, ihrem Juckreiz.“⁹⁴ Auch wenn viele dieser Information nicht direkt kommunikativ relevant werden, dienen sie doch zum Abgleich dessen, was mitgeteilt wird. Die Wechselbeziehung der verschiedenen Codes von Körpergestalt, Körpergestaltung und Körperverhalten kann hierarchisch codiert sein und asymmetrische Beziehungsmuster einer Defizitperspektive eröffnen.⁹⁵ Dies ist z. B. im Blick auf die Verteilung von Rollen und Kompetenzen von Bedeutung. Wer in einer seelsorglichen Kommunikation die Rolle des Hilfe suchenden Opfers oder die des helfenden Retters einnimmt,⁹⁶ verleiblicht sich an den Körpern der Anwesenden. „Wenn zwei Menschen sich begegnen, wird […] stets blitzschnell abgetastet, wer ‚führt‘ und wer ‚geführt‘ wird bzw. ‚sich führen lässt‘“.⁹⁷ Eine Veränderung der körperlichen Formen – wie der Sitzposition, der Körperhaltung oder Sprechweise
Dass der Seelsorger als leib-räumliche Form zur seelsorglichen Kommunikation werden kann, bemerkt bereits Ziemer (20042: Seelsorgelehre, 163; Hervorhebung im Original) – allerdings kann er diese Beobachtung theoretisch nicht weiter erhellen: „Ermutigendes Verhalten in der Seelsorge hat natürlich auch etwas zu tun mit der persönlichen Ausstrahlung. Es ist wichtig, sich als Seelsorgerin oder Seelsorger darüber Rechenschaft zu geben: Was vermittle ich eigentlich als Person? Manche Menschen helfen weniger durch Taten und Worte als vielmehr durch ihr Wesen, ihren Habitus.“ Kieserling 1999: Kommunikation, 140. Zur poimenischen Kritik an der Defizitperspektive in der Seelsorge s. o. 2.2.1. Zu den komplementären Beziehungsmuster „Up – Down“ bzw. „In – Out“ in der Seelsorge vgl. Lohse 20062: Kurzgespräch, 30 ff. Lohse 20062: Kurzgespräch, 34. Allerdings bewegen sich Lohses Überlegungen lediglich auf verbalsprachlicher Ebene. Den leiblichen Ausdruck der Asymmetrie hat er nicht im Blick.
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– kann ein bestimmtes Rollenverhalten und die Festschreibungen auf diese aufbrechen. Leiblichkeit ist nicht von Geschlechtlichkeit zu trennen. Vielmehr performiert sich Leiblichkeit immer in den Formen von männlich und weiblich. In der Praktischen Theologie werden zwar Unterschiede zwischen Mann und Frau als gender thematisiert, die sexuelle Dimension wird dabei jedoch häufig tabuisiert.⁹⁸ Diese asexuelle Rede von dem Menschen, geht jedoch daran vorbei, dass in der Interaktion faktisch unmittelbar wahrgenommen wird, ob es sich bei den Anwesenden um Frauen oder Männer handelt.⁹⁹ Die kulturelle Prägung dieses sexuellen Deutungsmusters zeigt sich an Grenz- und Zweifelsfällen – wie Transsexualität oder Intersexualität. Diese ziehen verstärkt Aufmerksamkeit auf sich. Die ungewohnte Erscheinungsform wird mit Bekanntem abgeglichen. Wie jede Interaktion ist auch die seelsorgliche Begegnung von einer geschlechtlichen Dimension bestimmt. Dabei spielen in der Seelsorge sexuelle Codes eine größere Rolle als in anderen praktisch-theologischen Handlungsfeldern, da der frame „Seelsorge“ hinsichtlich seiner Codes offener ist als z. B. der frame „Gottesdienst“ oder „Religionsunterricht“. In der Liturgie stecken kinetische, proxemische und textile Codes den Gestaltungsraum des Liturgen und Predigers ab. Im gottesdienstlichen Rahmen ist in der Regel ein Talar zu tragen. Und auch die Darstellung liturgischer Bewegungen – z. B. bei dem Gebet oder Segen, der Einsetzung und Austeilung des Abendmahls oder die Wege im Gottesdienstraum – bieten dem Akteur weniger Gestaltungsmöglichkeiten als auf der seesorglichen Bühne. Liturgische Codes asexualisieren die gottesdienstliche Kommunikation, belassen ihr jedoch die Geschlechtlichkeit. Ähnlich asexuell, jedoch nicht ungeschlechtlich vollzieht sich die unterrichtliche Kommunikation. Die Schüler-Lehrer-Beziehung ist in sexueller Hinsicht mit einem kulturellen Tabu belegt. Der Lehrer hat sich nicht als Adresse sexuell intendierter Kommunikation – etwa durch die Kleidung oder Bewegungen einer Schülerin – zu verstehen bzw. wenn er sich zu seiner Schülerin hingezogen fühlt, nicht kommunikativ anzuschließen. Findet seelsorgliche Kommunikation unter vier Augen statt, ist das Entstehen einer intimen Situation wahrscheinlicher als in der Begegnung mit mehreren Menschen. Werden auch hier direkt sexuell codierte Kommunikation und sexuell codierte Berührungen der anwesenden Körper als Missbrauch des Vertrauens-
Hierauf weist Meyer-Blanck (1997: Inszenierung, 33 ff) für die Liturgik hin, und Klessmann (20124: Seelsorge, 333 ff) für die Poimenik. – Morgenthaler (20122: Seelsorge, 115 ff) beschreibt „Gender als Grunddimension der Seelsorge an Einzelnen“ (a.a.O., 115), während der sexuelle Code im Rahmen sexueller Gewalt in der Seelsorge (a.a.O., 372 ff) eine Rolle spielt. Vgl. Kieserling 1999: Kommunikation, 115 f.
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verhältnisses von Seelsorger und Pastorand kulturell missbilligt,¹⁰⁰ so läuft der sexuelle Code als Subtext der Kommunikation stets mit. Es macht einen Unterschied, ob ein 50-jähriger Pfarrer einen ebenso alten Mann auf der urologischen Station eines Krankenhauses besucht oder eine 30-jährige Vikarin. Letztlich vollzieht sich seelsorgliche Kommunikation immer auch im Spannungsfeld des sich Hingezogen oder Abgestoßen Fühlens. Anhand leib-räumlicher Formen (Berührung, Kleidung, Sprache, Sprechweise etc.) wird das Verhältnis von Nähe und Distanz ausgelotet (proxemischer Code). Der Leib nimmt konkrete Form in der Körpergestalt der Anwesenden an. Hier werden die Ausmaße des Körpers, d. h. dessen Proportionen relevant – wie die Körpergröße und die Größenverhältnisse der verschiedenen Körperteile zueinander. Ein Körper kann entweder als dick oder dünn, fett oder mager, trainiert oder unsportlich angesehen werden und deshalb von jemandem als anziehend oder abstoßend empfunden werden. Auch die Hautfarbe kann relevant und mit Deutungen verbunden werden. Die Körpergestalt kann durch Abnormität, wie z. B. durch abwesende Körperteile (Amputation) oder Behinderung, bestimmt werden. Ist der Körper durch Krankheit oder Unfall deformiert, wirkt sein Anblick unerträglich oder erscheint ungewöhnlich – dies gilt sowohl für die Fremd- als auch für die Selbstwahrnehmung. Aus christlicher Sicht kann hier die Vorstellung von der Ebenbildlichkeit Gottes an Bedeutung gewinnen. Es kann für die Anwesenden tröstend sein, dass Gott dem Menschen als Leib eine unverlierbare Würde verleiht. Der immanente, visuell schwer zu ertragende Anblick eines entstellten Körpers kann so geöffnet werden auf die promissionale Sicht Gottes hin, der den Menschen so ansieht, wie er ihn gedacht hat: schön und sehr gut (Gen 1,31). Dies kann im Horizont des eschatologischen Codes und der Verheißung eines neuen Leibes geschehen (1. Kor 15,35 – 49). Letzteres ist auch eine Möglichkeit, die Anwesenheit eines toten Körpers wie bei einer Aufbahrung oder Aussegnung christlich codiert einzuholen. Die Körpergestalt kann intentional präsentiert werden: Die Decke des Krankenhausbettes wird zurückgeschlagen, um dem Seelsorger die frische Wunde zu zeigen. Oder es wird die Narbe einer Kriegsverletzung hergezeigt. Das sind körperliche Formen, die mit Lebensgeschichten verbunden sind und an die in der Seelsorge kommunikativ angeschlossen werden kann. Darüber hinaus spielt dabei
Vgl. Schneider-Harpprecht 2007: Person, 122: „Die berufsethischen Erwartungen an das Verhalten [des Seelsorgers; L.K.] zielen […] auf den Schutz der Person und des Vertrauens. Sexuelle Kontakte zum Seelsorgepartner sind ebenso untersagt und werden als Amtspflichtverletzung disziplinarisch geahndet wie der Einsatz von körperlicher Gewalt.“
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auch das Verhältnis von Nähe und Distanz als Wahrung von Intimität oder Vertrauen eine Rolle (proxemischer Code). Olfaktorische Codes werden hinsichtlich des Körpergeruchs relevant. Dabei ist der individuellen Körpergeruchs eines Menschen eine Körpergestalt, die gestaltet werden kann. Eine bestimmtes Parfüm, Schweiß- oder Mundgeruch, eine Alkoholfahne oder der Geruch aufgrund mangelnder Körperhygiene (Wohnungslosenseelsorge) können auf jemanden abstoßend wirken und so die Kommunikationssituation beeinflussen. Ein Raucher kann versuchen, den ihn umgebenden Geruch nach einer Zigarette mittels eines Kaugummis zu reduzieren. Der Geruch offener Wunden nach verdorbenem Fleisch ist sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdwahrnehmung schwer zu ertragen (Altenheimseelsorge, Krankenhausseelsorge). In der Seelsorge können olfaktorische Formen produziert werden – z. B. durch Duftkerzen oder Salbung mit Duftölen –, die als angenehm empfunden werden. Bei der Körpergestaltung wird die sichtbare Körperbehaarung bedeutsam. Es macht einen Unterschied, ob ein Bart in Form eines Vollbarts, Dreitagebarts, Schnurrbarts oder Damenbarts wahrnehmbar ist. Auch mittels der Frisur kann ein Körper gestaltet werden. Die Haare können lang oder kurz sein – wobei es einen Unterschied macht, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt –, gewaschen oder ungewaschen, gegelt oder verstrubbelt, gefärbt (schwarz, blond, grün) sein oder ganz fehlen. Es können Haarersatzteile getragen werden, die vom Gegenüber als solche erkannt werden oder nicht. Haarflaum lässt eine Krebserkrankung und Chemotherapie vermuten. Der Körper kann geschminkt und geschmückt werden mit Ketten, Ringen, Piercings oder Tätowierungen (ikonischer Code, Schriftcode) – auch hier macht es einen Unterschied, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Die Schmuckstücke können für den Träger eine bestimmte Bedeutung haben, wie ein Freundschaftsband oder der Ring, der an dem Ringfinger der rechten Hand getragen wird und in der Regel als Ehering decodiert wird. Mit Schmuckstücken können Aufmerksamkeitsorte der Wahrnehmung geschaffen werden. Auf einen Betrachter kann ein geschminkter und geschmückter Körper «billig» oder «edel», «schlicht» oder «protzig» wirken. Werden z. B. eine wertvolle Armbanduhr oder kostbarer Schmuck wie Diamantenringe oder Juwelen getragen, können auch hierarchische Codes von Bedeutung sein. Trägt der Seelsorger religiösen Schmuck – etwa ein Kreuz – so kann das vom Betrachter auf seine Rolle als Repräsentant des Christentums hin gedeutet werden. Ein Bischofskreuz weist seinen Träger als Inhaber eines hohen kirchlichen Amtes aus. Eine wesentliche Rolle in der Interaktion spielen textile Codes: „Kleidung dient nicht nur dem Schutz vor Verletzungen, vor Kälte, Hitze und anderen Witterungseinflüssen, vor bösen Geistern und feindlichen Mächten, sondern auch […]
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als Kennzeichnung und als Auszeichnung. Sie ist Mittel der Selbstdarstellung wie Ausdruck der Übernahme und Ausübung bestimmter gesellschaftlicher Positionen und Rollen.“¹⁰¹ Textile Codes können daher auch mit hierarchischen Codes verflochten sein. An einer Unfallstelle kennzeichnet z. B. eine Weste mit der Aufschrift „Einsatzleitung“ (graphemischer Code) diejenige Person, die die Führung und Koordination in dieser Situation – auch über den Notfallseelsorger¹⁰² – innehat. Ist die Kleidung in sich stimmig sowie passend zur Körpergestalt gewählt, so kann dies «stilsicher», «geschmackvoll» und «attraktiv» wirken. Ebenso wie jemand aufgrund seiner Kleidung – auf der womöglich Flecken und Löcher sichtbar sind – einen «schlampigen» und «unordentlichen» Eindruck machen kann. Hinsichtlich textiler Codes werden auch Kopfbedeckungen bedeutsam: Es macht einen Unterschied, ob ein Hut, eine Pudelmütze, ein Cappy, ein Barett oder ein Kopftuch getragen wird, das religiös codiert und decodiert werden kann. An letzterem Beispiel wird deutlich, dass textile Codes kultureller Konvention unterliegen, was vor allem in der interkulturellen Seelsorge relevant wird. Kleidung kann in Bezug auf das Verhältnis von Nähe und Distanz relevant werden (proxemische Codes). So ist die unmittelbare Berührung der Seelsorgepartner mit der in einem Infektionszimmer zu tragenden speziellen Kleidung wie Handschuhen und Mundschutz nicht möglich und aus medizinischer Sicht zu vermeiden. Es ist möglich, sich an- oder auszukleiden, was unterschiedlich interpretiert werden kann. Das Ausziehen einer Jacke kann z. B. mit der Raumtemperatur in Zusammenhang gebracht oder als Zeichen für einen länger beabsichtigten Aufenthalt verstanden werden. Textile Codes spielen mit der Spannung von Enthüllen und Verhüllen, weshalb sie mit sexuellen Codes verflochten sein können. Bekleidet sich eine junge, weibliche Mitarbeiterin der Bahnhofsmission zu ihrem Nachtdienst mit einem sommerlichen Trägertop, so wird dies von den Rezipienten in der Regel sexuell decodiert und kommunikativ thematisiert. Gerade im Krankenhaus oder im Altenpflegeheim wird oftmals mehr vom Körper sichtbar, als es in der alltäglichen Kommunikation üblich ist. Dabei können die unverhüllten und entblößten Körper beim Betrachter Abneigung evozieren, wenn z. B. aufgrund einer zurückgeschlagenen Bettdecke die Unterhose oder eine
Bieritz 2004: Liturgik, 188. Nach einer mündliche Auskunft von Pastor und Notfallseelsorger Frank Waterstraat/ Rodenberg.
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Windel zu sehen ist. Das Verhältnis von Nähe und Distanz wird dabei als problematisch empfunden, die Intimsphäre verletzt (proxemische Codes). Fehlende Kleidungsstücke ziehen die Aufmerksamkeit auf sich und können als Bruch mit kulturellen Konventionen aufgefasst werden. Sieht ein Seelsorger, dass im Winter jemand die Bahnhofsmission ohne Schuhe und Jacke betritt, dann «stimmt da etwas nicht». Begegnet man einer älteren Frau auf der Straße, die nur mit einem Nachthemd bekleidet ist, dann ist das nicht „normal“. Denn die Art der Kleidung ist nicht stimmig zum frame gewählt und verletzt die kulturelle Konvention. Kommunikationssituation und Kleidung der Anwesenden beeinflussen sich wechselseitig und haben Anteil an der evozierten Stimmung eines Kommunikationsgeschehens. So kann ein bestimmter frame von den Anwesenden einen bestimmten Kleidungsstil einfordern (Abendgarderobe) oder der Kleidungsstil der Anwesenden lässt einen Betrachter im Abgleich mit weiteren leib-räumlichen Codes auf einen bestimmten frame schließen. So kann als «lässig» empfundene Kleidung (Kapuzenpullover und Jeans) den «lockeren», «ungezwungenen» Eindruck einer Studentenparty oder Jugendfreizeit erwecken. Der frame bestimmt den Dresscode und umgekehrt. Auch wenn der Kleidercode in der Spätmoderne offen ist,¹⁰³ kann man Kleidung als Arbeits-, Alltags-, Freizeit-, Fest- oder Trauerkleidung decodieren. Findet ein Kasualgespräch als Hausbesuch statt, so performiert sich ein Kommunikationsgeschehen mit /dem Pfarrer/ als öffentlichem Vertreter der Kirche im privaten Raum der Wohnung. Dass die Anwesenheit des Pfarrers den privaten Raum für die Dauer der Kommunikation umcodiert, zeigt sich neben weiteren leib-räumlichen Codes (man räumt z. B. davor auf) auch an der Kleidung der Besuchten. In der Regel präsentiert man sich eben nicht im Jogginganzug (frame: Privatsphäre oder Sport) – und falls doch, kann das auf Seiten des Pfarrers zur Hypothesenbildungen über „Milieus“¹⁰⁴ anregen. Mit Kleidung kann man sich in einer Kommunikationssituation aus- oder kennzeichnen und sich von anderen abgrenzen: Das Brautkleid hebt eine bestimmte Frau als Braut hervor und von den anderen anwesenden Frauen ab. Im Krankenhaus kennzeichnet Kleidung verschiedene Personen und deren Funktion: Ärzte, Krankenschwestern und OP-Personal sind an ihrer (Arbeits‐) Kleidung erkennbar und von den Patienten, die meist einen Schlafanzug oder bequeme Kleidung wie einen Jogginganzug tragen, zu unterscheiden. Besucher In der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft Europas war die Kleidung noch Ausdruck der Ständeordnung. Dies änderte sich erst mit der französischen Revolution. Zu den in der Praktischen Theologie rezipierten Milieutheorien vgl. Kretzschmar 2007: Kirche.
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erscheinen in der Regel in Alltagskleidung. Dagegen ist der Seelsorger meist nicht anhand seiner Kleidung zu erkennen. Der textile Code eines Seelsorgers ist nicht festgeschrieben, wie z. B. der eines Liturgen. In der liturgischen Kommunikation steht der Talar für die Erwartbarkeit religiöser Kommunikation. Der Talar dient der „Selbstbezeichnung der religiösen Kommunikation und damit der Kenntlichkeit und Erwartungssicherheit“, sieht von „modischen Einflüssen“ ab und „relativiert die Persönlichkeit des Pfarrers“.¹⁰⁵ Ist in der Liturgiewissenschaft die Kleidung des Liturgen im Blick,¹⁰⁶ gerät dieser Aspekt in der Poimenik in den Hintergrund. Die poimenischen Lehr- und Handbücher setzen sich nicht explizit mit der Erscheinungsform des Seelsorgers auseinander.¹⁰⁷ Dies deckt sich mit der Beobachtung einer krankenhaus- und berufssoziologisch orientierten Studie: Klinkseelsorger pflegen ein „niedriges Sichtbarkeitsniveau. Nur die Ordensfrauen sind ohne weiteres als Religionspräsentanten erkennbar […]. Es gibt in der Regel keine Art von Habit, ‚Kalkleisten‘ sind verpönt, meist wird eine ‚ordentliche‘ Freizeiterscheinung gepflegt. Entgegen der Selbstdeutung [als „Transzendenzarbeiter“¹⁰⁸; L.K.] wird auf den Symbolcharakter der Person und eine Funktionserscheinung verzichtet. Wir sind Klinikpfarrern begegnet, die ihre Unauffälligkeit bis hin zur Tarnung treiben und sich dem öffentlichen Bild eines Sozialarbeiters anpassen.“¹⁰⁹ Die seelsorgliche Praxis zeichnet sich durch einen offenen Kleidercode aus – nur in den seltensten Fällen wird pastoral kenntlich Dienstkleidung (Collarhemd) gewählt. Deshalb ist die seelsorgliche Kommunikation meist auf verbalsprachliche Codierungen – wie: „Ich komme von der Krankenhausseelsorge“ – oder weitere Erkennungszeichen angewiesen: Der Krankenhausseelsorger trägt ein Ansteckschild, das ihn – meist unter Angabe seines Namens – als solchen kennzeichnet (ikonische und graphemische Codes). Der Notfallseelsorger ist an einer Weste mit Schriftzug (graphemischer Code) erkennbar. Dabei macht es einen Unterschied ob explizit christlich codiert „Notfallseelsorge“ zu lesen ist oder – wie zum G8-Gipfel in Rostock (2007) – „Krisenmanagement“.
Dinkel 2000: Gottesdienst, 270. Vgl. neben Dinkel (2000: Gottesdienst, 270 f), z. B. Neijenhuis (2000: Textilen; 2007: Gottesdienst, 143), Bieritz (2004: Liturgik, 188 ff). Bei Winkler (20002: Seelsorge), Ziemer (20042: Seelsorgelehre), Klessmann (20124: Seelsorge), Morgenthaler (20122: Seelsorge), Herbst (2012: Beziehungsweise) und im „Handbuch der Seelsorge“ (Engemann 2007: Handbuch) fehlen entsprechende Kapitel. Vgl. Göckenjan/Dreßke 2008: Seelsorge, 255. A.a.O., 256.
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Trägt ein Krankenhausseelsorger zu seinen Besuchen einen Anzug mit dem Ansteckschild der Seelsorge, so kann das als angemessen empfunden werden. Möglich ist aber auch, dass auf Ebene des textilen Codes eine Defizitperspektive eröffnet wird, wenn der Seelsorgepartner lediglich mit einem OP-Hemd bekleidet ist. Hier werden hierarchische Codes relevant, die durch die momentane Körpergestalt sowie gestische und kinetische Codes verstärkt werden können – z. B. wenn es dem Seelsorgepartner momentan nur möglich ist, unfrisiert und ungeschminkt im Bett zu liegen, während der Seelsorger zum Gespräch am Bett steht. Geht man davon aus, dass textile Codes mit der jeweiligen Kommunikationssituation korrespondieren, variiert – je nach poimenischem frame – auch die als passend empfundene Kleidung des Seelsorgers. So zieht der Seelsorger zu einem Trauergespräch etwas anderes an als zu einem Geburtstagsbesuch bzw. im Hospiz etwas anderes als in der Schulseelsorge. Mit Körperverhalten wird nicht nur Raum eingenommen, sondern auch gestaltet. Der Körper wird im Kontext des kommunikativen Leibraums, der ihn umgibt, wahrgenommen. Durch Bewegung des Körpers im Raum wird dieser zu anderen Körpern oder Gegenständen in Beziehung gesetzt. Hierbei werden verschiedene Codes relevant. Ein semiotisches Verständnis des Körperverhaltens zielt nicht auf die „richtige“ Entschlüsselung der Körpersprache. Solch eine psychologisch motivierte Sichtweise fasst Körperverhalten als Ausdruck psychischen Erlebens auf, anhand dessen psychische Systeme scheinbar erkennbar werden. Semiotisch betrachtet ist Körperverhalten zu verstehen als eine mögliche Ausdrucksform des Körpers, die wie andere leib-räumliche Formen decodiert wird und konventionell sowie kulturell geprägt ist. Dies schließt nicht aus, dass aufgrund körperlicher Formen Hypothesen über die psychische Verfassung des Gegenübers aufgestellt werden. Als black box bleiben psychische Systeme jedoch sowohl kommunikativ als auch für sich selbst und für andere psychische Systeme unzugänglich. Kommunikativ relevant wird Körperverhalten dann, wenn es von jemandem als Mitteilung verstanden und ihm eine Bedeutung zugeschrieben wird, etwa weil etwas jemanden stört oder die Aufmerksamkeit auf sich zieht – wie z. B. das Ordnen der Haare oder die ständige Bewegung eines Beins, die nicht nur sichtbar ist, sondern mit der ein Tisch angestoßen wird (akustische und taktile Codes). Kommunikationstheoretisch ist folgende Frage von Bedeutung: „Wann kann man sagen, was man am anderen wahrgenommen hat und wie man darauf reagiert? […] Und wann muß man sich umgekehrt blind stellen und Sichtbares wie Unsichtbares behandeln?“¹¹⁰ Dabei kann in der Seelsorge gerade auch solches Körper-
Kieserling 1999: Kommunikation, 142.
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verhalten thematisiert werden, das besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht, in der alltäglichen Kommunikation in der Regel jedoch taktvoll übersehen wird – wie z. B. ein Tic. Denn der seelsorgliche Kommunikationsrahmen kann aufgrund des mit der pastoralen Profession verbundenen Vertrauens (Karle), dem das Seelsorgegeheimnis korrespondiert, einen Schutzraum eröffnen. In der Internetseelsorge spielen an dieser Stelle der Datenschutz und die Datensicherheit eine wesentliche Rolle. Bei der Positionierung und Bewegung von Körpern im Raum werden kinetische Codes relevant. Hinsichtlich der Ausdrucksbewegung des Körpers sind gestische Codes von Bedeutung. Das Gebärdenspiel läuft als Kontext der verbalsprachlichen Kommunikation stets mit und gewinnt in der Gehörlosenseelsorge als Gebärdensprache an kommunikativer Relevanz. Stilisierte Gesten – wie mit dem Kopf nicken oder den Kopf schütteln – sind kulturell fest geprägt und werden als direkte Kommunikation decodiert. Die Institutionen der Begrüßung und des Abschieds greifen häufig auf stilisierte Gesten wie „sich die Hand reichen und schütteln“ zurück (taktiler und proxemischer Code). Als stilisierte christlich codierte Gesten gelten Segensgesten, z. B. das Kreuzschlagen oder das Zeichnen eines Kreuzes auf die Stirn des Seelsorgepartners (taktiler und proxemischer Code). Gebetsgebärden wie gefaltete oder ausgebreitete und nach oben erhobene Hände markieren auf Ebene des gestischen Codes Gott als Adresse der Kommunikation. Gestische Codes stehen im Kontext der Körperhaltung und Körperbewegung. Während eines Gebets kann man Sitzen, Stehen, Knien oder Liegen. Körperhaltungen können hierarchisch codiert sein. Liegt einer der Kommunikationspartner im Krankenhausbett oder sitzt im Rollstuhl, kann dies in Bezug auf einen stehenden Seelsorger ein räumliches Gefälle eröffnen und der Seelsorger auf den Seelsorgepartner als «von oben herab» wirken. Bleibt der Seelsorger während der Begegnung stehen, kann das – wenn ihm kein Stuhl angeboten wurde – als Höflichkeit verstanden werden. Oder es entsteht bei jemandem der Eindruck, der Seelsorger stehe unter Zeitdruck, sei «auf dem Sprung» und die Kommunikation werde zeitnah zu Ende gehen. Andererseits kann ein sich setzender bzw. sitzender Seelsorger «aufdringlich» wirken. Es kann der Eindruck entstehen, der Seelsorger «setzt sich fest», „besetzt“ den sozialen Nahraum und die Kommunikation wird «kein Ende finden». Auch Körperbewegungen werden in der Seelsorge bedeutsam. Es macht einen Unterschied, ob Körper durch Kriechen, Laufen, Rennen, Hüpfen, Gehen, Humpeln oder Wanken bewegt werden – oder solche Bewegungen aufgrund eines gelähmten Körpers gar nicht (mehr) möglich sind. Gelähmte Körper behindern
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oder verhindern das Körperverhalten und schränken so die intentionale Zeichenproduktion ein (Epilepsie). Besondere Aufmerksamkeit wird häufig der Mimik, dem Gebärden- und Minenspiel des Gesichts zuteil.¹¹¹ Dies mag u. a. daran liegen, dass sich – ähnlich der Hände (Gestik) – das Gesicht in der Regel dauerhaft unverhüllt der Wahrnehmung anderer darbietet und dabei zugleich der eigenen Wahrnehmung entzogen bleibt. Hochgezogene Augenbrauen, eine in Falten gelegte Stirn, herunter gezogene Mundwinkel oder eine gerümpfte Nase werden vom Gegenüber als signifikante Ausdrucksformen und damit als Kommunikation interpretiert. Reihen sich Körperbewegungen der anwesenden Körper zu Handlungsfolgen aneinander, so werden szenische Codes relevant – wie z. B. bei der Einsetzung des Abendmahls: Die Hostie wird von jemandem genommen, jemand anderem gezeigt (Elevation), über ihr ein Kreuz geschlagen etc. Das Verhalten und die Bewegung des Körpers setzen ihn ins Verhältnis zu anderen und anderem. Körper werden im Raum platziert und positioniert, Nähe und Distanz zu anderen ausgelotet und markiert. Hierbei spielen proxemische Codes als kommunikative Dimension des Raumverhaltens von Anwesenden eine Rolle. Der Abstand, der zu anderen eingenommen wird – z. B. indem man sich in einem bestimmten Abstand zu einem anderen Menschen hinsetzt – ist „beladen mit Signifikaten“¹¹² und kulturell codiert. Je nach kultureller Konvention nehmen „die Entfernungen zwischen den Sprechenden, die Gerüche [olfaktorische Codes; L.K.], die Taktilität, die Empfindungen der Körperwärme des anderen [taktile Codes; L.K.]“¹¹³ unterschiedliche kulturelle Bedeutungen an und können auch sexuell codiert sein. Die räumlichen Beziehungen zwischen den Anwesenden können als «intim», «persönlich», «unpersönlich» oder «öffentlich» empfunden werden.¹¹⁴ Als intim wirkt ein Raum auf jemanden meist dann, wenn auf taktiler Ebene die Körperwärme des anderen spürbar ist. Dies ist bei erotischen Kontakten oder gezwungenermaßen im Gedränge der Fahrgäste eines Busses während der rushhour der Fall. Die Entfernung, in der sich die Anwesenden noch mit den Fingerspitzen des ausgestreckten Arms berühren können, markiert die „Grenze des physischen Verfügungsbereichs […]. Darüberhinaus entzieht man sich der physischen Kon-
Vgl. Tyrell 2002: Religiöse Kommunikation, 59 f. Eco 19948: Einführung, 344; Eco bezieht sich hier auf Edward T. Hall. Ebd. Diese Differenzierung geht auf Edward T. Hall zurück; vgl. a.a.O., 346 f. Halls Kategorie „sozial“ wird in der vorliegenden Arbeit durch „unpersönlich“ ersetzt.
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trolle des anderen.“¹¹⁵ Der individuelle Geruch des anderen kann in der persönlichen Distanz kaum mehr wahrgenommen werden, meist jedoch der kosmetische, z. B. der eines Parfüms. Die meisten seelsorglichen face-to-face Begegnungen „unter vier Augen“ (van der Geest) finden sich in dieser persönlichen Distanz, die (noch) Berührung ermöglicht. Werden allerdings mehrere Anwesende in die Interaktion inkludiert, sind die Abstände des Seelsorgers zu den einzelnen Anwesenden unterschiedlich. Nicht jeder Anwesende befindet sich im „physischen Verfügungsbereichs“ und kann unmittelbar berührt werden. Mit der Sitzordnung kann Nähe und Distanz ausgedrückt werden. Bei einem Hausbesuch kann der Seelsorger z. B. durch den ihm zugewiesenen Platz «in eine Ecke abgeschoben» oder zu jemandem auf Distanz gehalten werden – oder es wird ihm angeboten, seinen Platz selbst zu wählen. Die Anordnung der Anwesenden kann hierarchisch codiert sein. Der „Hausherr“ manifestiert auch räumlich seine Position. Vielleicht hat jeder der Familienangehörigen seinen Stammplatz. Die räumlichen Konfigurationen der Anwesenden untereinander kann gestaltet werden, indem z. B. Stühle näher gerückt oder weitere Stühle dazugestellt werden. Körper können sich einander zu- oder abwenden, indem z. B. jemand seinem Gegenüber den Rücken zukehrt. Dies wird in der Seelsorge am Kranken-, Sterbeoder Totenbett relevant, wenn Menschen bzw. deren Körper physisch präsent sind, zu einer verbalsprachlichen Kommunikation jedoch nichts mehr beitragen oder sich kaum wahrnehmbar bewegen können – z. B. durch Blinzeln mit den Augen, einen leichten Händedruck oder Atemgeräusche. Die Anwesenden können sich räumlich so positionieren, dass der Betroffene ausgeschlossen oder eingeschlossen ist – etwa indem sie sich im Halbkreis um das Bett setzen. Ob der Kranke oder Sterbende durch die Interaktion inkludiert wird, zeigt sich auch daran, ob nicht nur über, sondern auch mit ihm geredet wird und er so eine potentielle Adresse von Kommunikation bleibt. Dies kann bereits bei der Begrüßung geschehen, die den Bettlägerigen auf taktiler und verbalsprachlicher Ebene miteinbezieht. In proxemischer Perspektive ist nicht nur die Platzierung der Anwesenden von Bedeutung, sondern auch die Blickrichtung und der Blickkontakt. Kann man sich auf der interaktionellen Wahrnehmungsbühne der räumlichen Nähe anderer Anwesenden entziehen, so lässt sich ihren Blicken nicht ausweichen. Dem „Kleben der Blicke“¹¹⁶ entkommt man nur, indem man den Raum verlässt.
A.a.O., 347. Kieserling 1999: Kommunikation, 48.
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Blicke können gehoben oder gesenkt werden. Man kann an jemandem vorbeiblicken oder ihn fixieren und nicht mehr aus den Augen lassen. Blicke können «durchdringend», «aufdringlich» und «musternd» wirken oder «taktvoll» abgewendet werden – wenn z. B. die Flecken auf der Tischdecke oder eine Ungeschicklichkeit des Gegenübers übersehen werden. Blicke können im Zimmer umherschweifen, an etwas oder jemandem hängenbleiben, auf Kinder oder den laufenden Fernseher gerichtet sein, in eine Zeitung oder auf das Handy. Wird der Blick und damit die Aufmerksamkeit während der Interaktion auf einen Gegenstand gerichtet, so kann das als Desinteresse an und Respektlosigkeit gegenüber den anderen Anwesenden gedeutet werden. Mit Blicken lässt sich die Aufmerksamkeit der anderen Anwesenden lenken. Ist ein Blick längere Zeit auf etwas oder jemanden gerichtet, so kann das das Interesse der anderen wecken. Nach einiger Zeit blicken alle in dieselbe Richtung, und das Erblickte kann zum Thema der Kommunikation werden. Wenn Menschen zu verbalsprachlicher Kommunikation nicht mehr fähig sind, bleiben oft Blicke als kommunikatives Medium, mit denen «Zuneigung» oder «Abneigung», «Zustimmung» oder «Ablehnung» ausgedrückt werden kann. Nicht nur in der Seelsorge mit Blinden, sondern auch in der Krankenhausseelsorge, in der Seelsorge mit Sterbenden oder Drogenabhängigen fehlt häufig der Blickkontakt. Sterbende in der Finalphase schließen während der Interaktion häufig die Augen oder schlafen ein. Menschen, die alkoholisiert sind oder unter Drogeneinfluss stehen, fehlt häufig die für die Kommunikation nötige Aufmerksamkeit.Wahrnehmbar wird dies u. a. an der Körperhaltung, dem Körperverhalten wie abschweifenden Blicken oder Absinken des Kopfes. Die persönliche Distanz ermöglicht die Berührung von Körpern. So korrespondieren proxemische mit taktilen Codes. Im Rahmen von Begrüßung und Verabschiedung berühren sich häufig die Körper der Anwesenden und werden in unmittelbare Nähe zueinander gebracht. Man reicht und schüttelt sich die Hand. Dabei kann der Händedruck als «lasch» oder beinahe schon schmerzhaft «fest» empfunden werden, die berührte Hand kann kalt, warm, rau oder feucht sein. Umarmt man sich, wird die Körperwärme des anderen spürbar und der individuelle Körpergeruch wahrnehmbar (olfaktorische Codes). In der Seelsorge spielen taktile Kontakte beim segnenden Handauflegen oder beim Nehmen und Halten der Hand des Seelsorgepartners eine Rolle. Gerade in der Seelsorge mit Schwerstkranken (Intensivstation), Dementen (Altenpflegheim)¹¹⁷ oder Sterbenden (Hospiz) gewinnt oft die proxemisch-taktile Kommuni-
Vgl. Depping 2009: Demenz, 382: „Da wo Evangelium nicht mehr verstanden, rational verarbeitet werden kann, kann es dennoch erspürt, erlebt werden.“
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kation stärker an Bedeutung als die verbalsprachliche.¹¹⁸ Denn im Körperkontakt wird der eigene Leib nicht nur als verfallender gespürt, sondern als Kommunikationsmedium. Das Halten der Hand kann als Zeichen für «Nähe» und «Da-sein» im Sinne des Verhaltens der Freunde Hiobs (Hi 2,13) verstanden werden. Beim Abendmahl oder einer (Kranken‐)Salbung ist die Berührung gegenständlich vermittelt. Ähnliches gilt für die seelsorgliche Begegnung im Infektionszimmer eines Krankenhauses. Die unmittelbare Berührung der Körper ist aus medizinischer Sicht nicht erwünscht. Bei Berührungen wird das Material der Handschuhe spürbar. Vor allem in der Krankenhausseelsorge kann die Berührung – z. B. der Hände bei der Begrüßung – aus Angst vor Übertragung von Keimen vom Seelsorgepartner auch ganz abgelehnt werden. Ähnliches gilt für die Berührung von Menschen, von denen dem Kommunikationspartner die Diagnose einer Krankheit wie Aids oder Hepatitis C bekannt ist. Ob eine Berührung als persönlich oder intim empfunden wird, hängt von individuellen Deutungsmustern und kulturellen Codierungen ab. Dieselbe Berührung kann von jemandem als «angenehm» und «tröstlich» oder als «übergriffig» empfunden werden. Eine Berührung, die als Ausdruck von seelsorglicher Zuwendung und Trost intendiert ist, kann als Verletzung der Intimsphäre verstanden oder sexuell decodiert werden. Das /Handhalten/ wird zum «Händchen halten», eine Berührung des Körpers zur «Liebkosung» oder «Aufdringlichkeit». Diese Differenzen werden besonders in der interkulturellen Seelsorge relevant. Auch dieselbe physikalisch messbare Distanz kann je nach Interpretationsinstanz unterschiedliche Deutung hervorrufen. Dem Abstand werden je nach kultureller Codierung verschiedene Bedeutungen zugeschrieben: „Seinen Stuhl zu verrücken, um dem Gastgeber näher zu kommen, wird, wenn man im Hause eines anderen ist, in Amerika und Italien als normal angesehen, während es in Deutschland schon als unhöflich gilt.“¹¹⁹ Neben intim und persönlich kann ein Abstand auch als unpersönlich empfunden werden. Dies gilt v. a. für die bürokratische Kommunikation. Oftmals hält ein entsprechend großer Schreibtisch den Besucher auf Distanz.¹²⁰ Findet seelsorgliche Kommunikation im Amtszimmer des Pfarrers oder in einer Beratungs-
Vgl. Ziemer (20042: Seelsorgelehre, 292) zur Seelsorge an Sterbenden: „Oft sind weniger Worte angebracht und möglich, dafür eher eine Geste der Berührung.“ – Zur Rolle von Berührungen in der Sterbebegleitung vgl. auch Weiss 2004: Sterbebegleitung. Die Motopädin deutet die Körperbewegungen in erster Linie auf die Psyche ihres Gegenübers hin aus (a.a.O., 109): „Die Körperhaltung drückt etwas aus von der seelischen Verfassung.“ Eco 19948: Einführung, 348. Vgl. a.a.O., 347.
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4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
stelle statt, ist deshalb darauf zu achten, welche Gegenstände die Anwesenden auf Abstand halten könnten. Die Kommunikationsumgebung kann durch die Platzierung der Anwesenden gestaltet werden. Die system-therapeutische Methode der Familienskulptur experimentiert mit den proxemischen Codes. Die Anwesenden stellen sich in solchen Abständen und Blickrichtungen zueinander auf, wie sie der Ansicht sind „zueinander zu stehen“. Es entsteht ein Spielraum, in dem die Anwesenden als Spieler versetzt werden und probeweise einen anderen Platz einnehmen können, um so andere räumliche Konstellationen und Beziehungsmuster zueinander auszuprobieren. Auch in der Seelsorge sind solche proxemischen „Spiele“ möglich, um die Konfigurationen der Anwesenden probeweise neu zu ordnen. Der Wunsch, „aufeinander zugehen“ kann räumlich in Szene gesetzt werden. Vor allem bietet es sich an, /Gott/ als Anwesenden einzubringen. Die Kommunikation über den Platz, der ihm von den einzelnen Anwesenden in dem Beziehungsgefüge zugewiesen wird, kann eine neue Perspektive eröffnen. Ähnliches gilt für die Frage, welche Bedeutung dem Glauben in den Wirklichkeitskonstruktionen der Beteiligten zukommt.¹²¹ Bewegen sich Körper im und durch den Raum, verändern ihre Position und Platzierung, so werden hodologische Codes bedeutungsrelevant. Bei einem seelsorglichen Spaziergang oder auf einem Pilgerweg (peripatetische Seelsorge),¹²² können mit der Bewegung der Körper auch eingefahrene, dysfunktional gewordene Deutungsmuster in Bewegung kommen. Ähnliches begegnet bei Kasualgesprächen: Geht der Pfarrer während eines «schleppend» verlaufenden Trauergesprächs mit der Witwe in das Zimmer des Verstorbenen, regt dieser neue Ort zur Kommunikation an. In der Kommunikationsumgebung, die vom Verstorbenen gestaltet wurde, wird anhand von Wahrnehmbarem Vergangenes als Erinnerung vergegenwärtigt (chronolgischer Code). Solch ein Erinnerungsstück kann z. B. ein Souvenir (räumlicher Code) sein, den der Verstorbene vom letzten Sommerurlaub des Ehepaars mitgebracht hat.¹²³ Ortswechsel markieren in der seelsorglichen Interaktion meist einen Bruch: Der Wechsel von der Kirchentür zur Kirchenbank kann eine Interaktion deutlich von weiteren physisch präsenten Menschen abgrenzen. Die Kommunikation entzieht sich deren Hör- und evtl. sogar deren Sichtweite. Oder man richtet sich mit der Veränderung der Körperhaltung – vom Stehen zum Sitzen – auf eine längere Begegnung ein.
Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 76 ff und 253 ff. S.o. 4.3. Die Anregung zu diesem Beispiel verdanke ich Pfarrer Jürgen Nitz/Kaufering.
4.4 Leib
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In der Begegnung mit dementen Menschen kann Seelsorge zum „Mit-gehen“ im Wortsinn werden (Altenheimseelsorge). Geht der Seelsorger mit in die Wirklichkeit des Seelsorgepartners hinein, so wird er z. B. zum Wegbegleiter vom Altenheimzimmer, das für das ehemalige Haus steht, zum Stationszimmer, das für den Supermarkt steht. Auch in der Notfallseelsorge werden hodologische Codes relevant, wenn z. B. die Wege an einer Unfallstelle koordiniert werden oder beim Überbringen der Todesnachricht der Weg von der Haustür zum Wohnzimmer zurückgelegt wird. Seelsorge mit Kindern und Jugendlichen performiert sich häufig in spielerischen Bewegungsräumen – wie an der Tischtennisplatte oder dem Kicker. Hinsichtlich des Körperverhaltens werden auch akustische Codes bedeutsam, denn Körper erzeugen vielfältige Geräusche, die kommunikativ aufgegriffen oder ignoriert werden können. Es ist möglich, zu sprechen, zu singen, sich zu räuspern oder zu schweigen (Sprachcodes, Sprechcodes, musikalische Codes), zu klatschen oder gegen etwas zu klopfen. Bewegungen des Körpers können mit Trampeln, Schlurfen oder Schleichen geräuschvoll sein. Findet Seelsorge als face-to-face Kommunikation statt, bleibt die öffentliche Distanz ohne Bedeutung.¹²⁴ Einen öffentlichen Abstand nimmt z. B. bei offiziellen Anlässen der Redner auf einem Fest ein oder im Gottesdienst der Prediger auf der Kanzel. Der räumliche Abstand kann so groß werden, dass der Kontakt zum Redner und die wechselseitige verbalsprachliche Kommunikation zwischen dem Redner und den anderen Anwesenden nicht mehr möglich und auch nicht intendiert sind. Die Sicht- und Hörweite sind bei der öffentlichen Distanz nicht auf Wechselseitigkeit hin angelegt. In seelsorglichen Begegnungen ohne physische Kopräsenz der Anwesenden werden in proxemischer Hinsicht weniger olfaktorische oder taktile Codes relevant, als vielmehr akustische und visuelle. In der Telefon- und Internetseelsorge geht es nicht um die Deutung eines physikalisch messbaren Abstands der Anwesenden, da dieser ohnehin technisch relativiert ist. Nähe und Distanz finden hier ihren Ausdruck mittels Sprach-, Sprech- und Schriftcodes. Möglich ist auch, dass beim Mailen und Chatten Nähe durch die Intimität der gewählten Themen entsteht: „Wie auch beim Briefeschreiben äußern sich Menschen oft freier, direkter, persönlicher, wenn sie alleine sind.“¹²⁵ Die Selbstpräsentation im Netz
Mit dem Abgrenzungskriterium der Anwesenheit (s.o. 3.2.1.2) ist dem sinnvollen Wachstum von Interaktionssystemen eine Grenze gesetzt ist. Im Unterschied zu interaktionsfreien – z. B. massenmedialen – Kommunikationssystemen sind Interaktionen nicht in der Lage, eine beliebig große Anzahl von Anwesenden integrieren, da mit der Zahl der Anwesenden der Anteil des zugemuteten Schweigens steigt. Knatz 2013: Handbuch, 62.
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4. Das seelsorgliche Spielfeld: Eine Morphologie seelsorglicher Präsenz
mittels der Gestaltung einer Website¹²⁶ – z. B. mit einem Foto (ikonischer Code) oder über eine Webcamp (kinetische Codes) – kann auf den Betrachter «ansprechend», «professionell» und «vertrauenerweckend» wirken – oder eben nicht. Eine am Telefon wahrgenommene Stimme kann auf jemanden «warm» und «freundlich» oder «kalt» und «abweisend» wirken und so mit «Zuwendung» oder «Abwendung» verbunden werden – oder eben nicht. Letztlich wird jedoch der unmittelbare soziale Druck der face-to-face Begegnung zur Selbstdarstellung geringer, wenn die Kommunikation nicht auf einer Bühne der wechselseitigen Körperwahrnehmung stattfindet. Hinsichtlich der Dimension des Leibes ist aus taktischer Perspektive für die seelsorgliche Kommunikation zweierlei festzuhalten: Zum einen ist auf die Körperinszenierung des Seelsorgers zu achten. Jeder Seelsorger muss sich bewusst machen, dass Menschen „nicht nur verbal kommunizieren, sondern als leibliche Wesen. Eine […] dem Trost widersprechende leibliche Ausdrücklichkeit ist […] unangemessen“.¹²⁷ Deshalb ist es nicht gleichgültig, wie der Seelsorger auftritt, was er anzieht, wie er sich im Raum bewegt oder wo er Platz nimmt. Der Auftritt des /Pfarrer/ bzw. des /Seelsorgers/ performiert sich in einer leiblichen Ausdrucksform, die von den Seelsorgepartnern gedeutet und mit unterschiedlichen Erwartungen verbunden wird, die im Verlauf der Kommunikation entweder erfüllt oder enttäuscht und revidiert werden. Es kann sein, dass sich, indem der /Seelsorger/ den Raum betritt, für jemanden der Raum für Religion eröffnet. Möglich ist auch, dass „Schwerstkranke und Sterbende […] in Pfarrern häufig den Todesboten [sehen].“¹²⁸ Zentral wird damit die Frage, mit welchen leiblichen Ausdrucksformen jemand die Rolle des /Seelsorgers/ einnimmt, so dass er für jemanden als /Seelsorger/ erkennbar wird. Zum anderen ist die leibliche Dimension der Seelsorgepartner zu bedenken.¹²⁹ Die Ausdrucksformen werden zunächst einmal wahrgenommen und von Seiten des Seelsorgers mit Bedeutungen versehen. Sodann ergeben sich im Erproben der verschiedenen Codes für die seelsorgliche Kommunikation vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. Vor dem Hintergrund der theologisch-inhaltlichen Abgrenzung des poimenischen Feldes¹³⁰ und der kommunikationstheoretischen Beschreibung des seelsorglichen
S.o. 4.3. Meyer-Blanck (1997: Inszenierung, 27) postuliert dies für den Liturgen. Göckenjan/Dreßke 20082: Seelsorge, 252. Dies im Anschluss an Meyer-Blanck (1997: Inszenierung, 28), der dies für die Liturgik einfordert. Kapitel 2.
4.4 Leib
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colloquiums als Interaktion¹³¹ hat sich ergeben, dass das seelsorgliche Spielfeld über eine Morphologie seelsorglicher Präsenz bestimmt werden kann. Diverse Darstellungsformen, die in analytischer Hinsicht anhand der Dimensionen Kommunikationsmedium, Zeit, Raum und Leib mit Hilfe von Codes kategorial entfaltet wurden,¹³² spielen in einem konkreten seelsorglichen Geschehen – gleich einer Partitur – kairologisch zur „günstigen Gelegenheit“ (T. Lohse) zusammen. In dem sinnenhaften Sinnspiel der Seelsorge können nahezu unendlich viele Sinnpfade beschritten werden. Der konkrete Möglichkeitsraum wird von dem jeweiligen poimenischen frame, der sich über sinnlich wahrnehmbare Gestalten aktualisiert, begrenzt. In einer seelsorglichen Situation wirken die aktualisierten Codes zusammen und verweisen dabei zugleich auf unterdrückte Deutungen, auf das, was auch möglich wäre. Das Mögliche kann in der Seelsorge als Wirkliches eingebracht werden. Religiöse Sinnangebote des christlichen Glaubens offerieren, die konkrete Lebenswirklichkeit coram Deo zu konstruieren. Die Inszenierung des Evangeliums ereignet sich – analog dem vieldimensionalen Kommunikationsgeschehen – in vielerlei Gestalt und erfordert vom Seelsorger eine Präsenz, die die prinzipielle Offenheit und dynamische Performanz der Interaktion im Blick hat. Bei synchroner Anwesenheit der Seelsorgepartner kann nicht nicht kommuniziert werden. An einem konkreten personalen Zeitort generiert sich ein dynamisches und komplexes Geflecht aktualisierter leib-räumlicher Formen. Es sind Gestalten, die als Setting entweder vorfindlich und nicht weiter veränderbar sind, oder als Kommunikationsumgebung Möglichkeiten der Gestaltung eröffnen. Für die seelsorgliche Praxis bedeutet das, dem Evangelium im mutuum colloquium eines konkreten personalen Zeitorts über Kommunikationsmedien, räumliche Formen und Körperdarstellungen solche sinnenhafte Gestalt zu geben, dass die Lebenswirklichkeit des Seelsorgepartners coram Deo adäquaten Ausdruck findet und so das Evangelium für die Anwesenden zur guten Nachricht wird.
Kapitel 3. S.o. 4.1– 4.4.
5. Epilog: Ein Engel für Frau B.¹ Es ist Montagnachmittag in der Karwoche. Wie in der evangelischen Kirchengemeinde N. üblich, besucht jeden Montagnachmittag einer der Pfarrer und Pfarrerinnen das stationäre Hospiz der Diakonie, um seelsorgliche Besuche zu machen. Im Stationszimmer erhält die Pfarrerin von einer Pflegekraft eine ausgedruckte Liste der momentanen Gäste des Hospizes. Darauf ist mit Kreuzen handschriftlich markiert, wer an diesem Tag auf Nachfrage des Pflegepersonals hin den Wunsch nach Seelsorge geäußert hat. Unter ihnen ist Frau B., die der Pfarrerin unbekannt ist. Aus der Liste ist außer dem Namen und der Zimmernummer ersichtlich, dass Frau B. 71 Jahre alt ist, evangelisch und seit zwanzig Tagen im Hospiz. Der Name lässt auf eine deutsche Staatsangehörigkeit schließen – andernfalls ist davon auszugehen, dass das Pflegepersonal die Pfarrerin explizit darauf hinweist. Von der Pflegekraft erfährt die Pfarrerin, dass Frau B. soeben von Angehörigen besucht wird. Diese wünschen sich, dass ein selbstgemachter Engel „geweiht“ wird, der später als „Grabbeigabe oder so ähnlich“ verwendet werden soll. Das sei „für sie sehr wichtig“. Während die Pfarrerin im Stationszimmer ihre Jacke aufhängt, hört sie, dass Frau B. „schon wieder sehr unruhig ist und sich an den Haaren zieht“. Eine Pflegekraft verlässt das Stationszimmer. Die Pfarrerin vermutet, dass Frau B. ein Medikament erhält. Zunächst besucht die Pfarrerin einen anderen Hospiz-Gast, dann geht sie zum Zimmer von Frau B. Die Seelsorgerin (S) klopft an die Tür, öffnet diese und betritt das Zimmer. ² S1: Grüß Gott! Neben Frau B. sind zwei weitere Frauen im Zimmer, die auf Stühlen vor Frau B.s Bett sitzen. S stellt sich als Pfarrerin der Gemeinde N. vor. Bei der gegenseitigen Begrüßung gibt die Seelsorgerin den beiden Frauen die Hand. Eine der Frauen stellt sich als Tochter (To) von Frau B. vor. S schätzt sie auf ca. 45 Jahre. Die andere Frau stellt sich als Schwester (Schw) von Frau B. vor. S schätzt sie auf ca. 70 Jahre. Frau B. liegt seitlich im Bett mit dem Gesicht zu den Anwesenden. Auf ihrem Kopf ist Haarflaum zu sehen. Ihre Augen sind geschlossen, und sie scheint zu schlafen.
Die folgende seelsorgliche Begegnung stammt aus der Seelsorgepraxis der Verfasserin. Die Verschriftung der seelsorglichen Begegnung orientiert sich an dem für Verbatims üblichen Schriftbild: Der kursiv gedruckte Text beschreibt Wahrnehmungen und weitere Deutungen der Seelsorgerin. In eckigen Klammern [ ] sind Kommunikationssequenzen zusammengefasst. Verbalsprachliches Schweigen ist durch drei Punkte „…“ markiert. DOI 10.1515/9783110520750-005
5. Epilog: Ein Engel für Frau B.
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Aus ihrem Mund ragt ein Stiel – ähnlich einem großen Wattestäbchen. S vermutet, dass Frau B. damit das Medikament bekommen hat. Frau B. ist bis zur Mitte ihres Oberkörpers zugedeckt, zu sehen ist das Oberteil eines grauen Schlafanzugs. Zwischen Frau B.s Bett und dem Fenster steht ein weiteres Bett. S2 (geht zu Frau B., streichelt ihren Arm): Grüß Sie Gott, Frau B. … … (zu Schw und To) Sie ist schon ganz müde. … Schw steht auf und bietet S ihren Stuhl an. S setzt sich neben das Bett und schlägt vor, einen weiteren Stuhl heranzurücken, so dass S, Schw und To zu dritt im offenen Halbkreis vor dem Bett von Frau B. sitzen. Zu Beginn der Begegnung fällt auf, dass die Anwesenden flüstern. Später sprechen alle in einer eher normalen Lautstärke. Das Eintreten der Seelsorgerin eröffnet die face-to-face Kommunikation, die von verschiedenen zeit-räumlichen Formen gerahmt wird.³ Aktualisiert ist der poimenische frame „Seelsorge an Sterbenden“, näherhin „Hospizseelsorge“, die immer auch Angehörigenseelsorge mit einschließt.⁴ Erwartbar sind Themen wie „Sterben, Tod und Trauer“ und auch die Frage oder Hoffnung auf ein „Leben nach dem Tod“. Menschliche Zeit erscheint in diesem Rahmen vor allem als begrenzte Zeit. Dass sich die Kommunikation um das Sterben von Frau B. herum organisiert, wird u. a. daran erkennbar, dass im Seelsorgeprotokoll die beiden Frauen in der Beziehung zu Frau B. als „Tochter“ und „Schwester“ bezeichnet werden – und nicht etwa als „Nichte“ und „Tante“. Nach dem Kirchenjahr (Zeit) liegt in der Karwoche das Thema „Leiden und Sterben Christi“ – im Blick auf die Osterhoffnung – nahe. Aufgrund der in der Kirchengemeinde üblichen wöchentlichen Taktung der seelsorglichen Hospizbesuche im personellen Wechsel von vier PfarrerInnen⁵ sowie aufgrund der durchschnittlich kurzen Verweildauer der Hospizgäste,⁶ liegt die Vermutung nahe, dass es in der Regel bei einer, maximal zwei Begegnungen bleibt.
Die Reflexionen der Kommunikationssequenzen können – wie die Verschriftung der seelsorglichen Begegnung selbst – immer nur einen Teil der Partitur der Kommunikation in den Blick nehmen. Sie schärfen jedoch beispielhaft aus Perspektive der vorliegenden Untersuchung den Blick für die seelsorgliche Kommunikationssituation. Morgenthaler (20023: Systemische Seelsorge, 229 ff) zeigt am Beispiel der Kasualseelsorge, dass Sterben, Tod und Trauer immer in systemischen Zusammenhängen zu verstehen sind, und der Verlust eines Menschen ein ganzes Beziehungssystem verändert. – In eine ähnliche Richtung zielt die Konzeption des Hospizes in Nürnberg-Mögeldorf, das in seinen Leistung „seelsorgerliche Begleitung und Beratung – auch für die Angehörigen“ explizit mit einschließt; vgl. http://www. diakonie-moegeldorf.de/angebot/mathildenhaus/hospiz (Zugriff am 12.07. 2013). Dieselbe Pfarrerin ist also ca. einmal im Monat zu seelsorglichen Besuchen im Hospiz. Die tatsächliche Verweildauer liegt zwischen wenigen Tagen und – sehr selten – einigen Wochen. Die statistische Verweildauer in einem Hospiz in Deutschland lag im Jahr 2012 bei 23,7 Tage – so die Statistik, die mir über den Pflegedienstleiter Stephan Powils des Hospizes in NürnbergMögeldorfer zugänglich war. Vgl. auch http://www.lukas-hospiz.de/index.php?id=16 (Zugriff am
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5. Epilog: Ein Engel für Frau B.
Am konkreten Ort des Zimmers von Frau B. werden verschiedene leib-räumliche Formen wahrgenommen. Das Erscheinungsbild von Frau B., insbesondere der Haarflaum, lässt eine Krebserkrankung vermuten (Leib: Körpergestalt). Das Schlafanzugoberteil (Körpergestaltung: textiler Code) kann daraufhin gedeutet werden, dass Frau B. bettlägerig ist. Die geschlossenen Augen (Körperverhalten: Blicke, Mimik) können von der Seelsorgerin in Abgleich mit dem spezifischen Wissen um die Anzeichen der sog. „Finalphase des Lebens“⁷ so verstanden werden, dass Frau B. vermutlich nur noch wenige Tage leben wird. Sie wirkt «lebensmüde». Den Gegenstand, den Frau B. im Mund hat, (Raum: Gegenstand) kann die Seelsorgerin nicht unmittelbar decodieren. Durch Einordnen in den Kontext des Hospizes, der Erinnerung an das Gespräch im Stationszimmer sowie im Abgleich mit Bekanntem (Wattestäbchen),wird dem Gegenstand eine plausible Funktion zugeschrieben. Das zweite Bett (Raum: Möblierung) lässt sich als Zeichen dafür verstehen, dass jemand auch während der Nacht bei Frau B. ist – vermutlich ihre Tochter oder Schwester oder beide im Wechsel. Indem sich die Seelsorgerin als /Pfarrerin/ der örtlichen Kirchengemeinde vorstellt, eröffnet sie nicht nur den Raum für Religion und macht sich in ihrer Funktion als /Pfarrerin/ ansprechbar, sondern sie öffnet auch den Bezug zur christlichen Trost- und Deutungsgemeinschaft in Form der Gemeinde vor Ort. Die Begegnung ist damit bereits implizit christlich codiert. Die Begrüßungssequenz greift auf stilisierte Kommunikationsformen zurück und aktualisiert v. a. verbalsprachliche und taktile Codes. Frau B., von der auf den ersten Blick keine intentionale Produktion von Ausdrucksformen (mehr) zu erwarten ist, wird als physisch präsenter Mensch sozial in die Interaktion inkludiert, indem sich die Seelsorgerin ihr verbalsprachlich, proxemisch und taktil zuwendet (S2). Zur Berührung, Blickrichtung und Anrede kommt hinzu, dass sich die Seelsorgerin bei der Begegnung mit Frau B. Zeit lässt – im Seelsorgeprotokoll markiert durch „…“ –, weshalb die Sequenz als Ganze als «Zuwendung» verstanden werden kann. Während des weiteren Verlaufs der Kommunikation markiert die Gestaltung der Sitzordnung (proxemischer Code) die Inklusion von Frau B. in die Interaktion. Auch das leise Sprechen (Sprechcode: Lautstärke) der Anwesenden zu Beginn der Begegnung kann auf die Inklusion von Frau B. hin verstanden werden. Denn da man in der Regel nicht über Anwesende spricht (Anwesende werden nicht Thema der Kommunikation), wird die Lautstärke so verändert, dass es Frau B. vermutlich nicht hören kann, was – eben gegen die übliche Regel – über sie gesprochen wird.
[To berichtet kurz von der Unruhe ihrer Mutter, dann zeigt sie auf eine kleine Engelfigur, die über dem Bett hängt.] To1: Ja, und mir ist es sehr wichtig, dass dieser Engel hier geweiht wird. S3 (bestätigend): Mhm. Darf ich mir den mal ansehen?
07.02. 2014): Hier ist eine statistische mittlere Verweildauer in einem Hospiz in Deutschland von „ca. 28 Tagen“ angegeben. Vgl. Held-Hildebrandt 2004: Finalphase.
5. Epilog: Ein Engel für Frau B.
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To2: Ja. (nimmt den Engel herunter und reicht in S) Der Engel ist eine kleine ca. 2 cm große, sehr fein gearbeitete Figur aus Perlmutt. Als Hände sind zwei weiß-durchsichtig glitzernde Steine eingesetzt. Die Figur ist an einem schwarzen Band befestigt, das als Halskette getragen werden kann. S4 (legt den Engel sichtbar in ihre offene Hand, wo er während des Gesprächs bleibt; To blickt im weiteren Gesprächsverlauf ab und zu auf die Figur): Ich nehme an, dieser Engel hat eine besondere Bedeutung für Ihre Mutter. Erzählen Sie mir etwas davon. To3: Den hat eine Freundin von ihr gemacht, als sie im Krankenhaus war. S5: Ach ja. To4: Er ist also nicht alt, sondern noch recht neu. Er soll meiner Mutter helfen, dass sie ruhiger wird, dass sie gehen kann. Er soll sie bei der Hand nehmen und führen. Ja, dass sie sicher ist, dass da am Ende ein Engel steht, der sie mit offenen Armen in Empfang nimmt. S6: Ja, das ist ein schönes Bild … dafür, dass Ihre Mutter nicht allein ist …, dass sie von Jesus Christus selbst mit offenen Armen empfangen wird. To5 (flüstert): Und dann, wenn sie dann …, dann wollte ich ihr den Engel um den Hals legen. Jetzt habe ich das nicht gemacht, weil ich nicht weiß wegen dem Band … S7: … ja, es ist ein bisschen lang … To6: Ja. (To und Schw steigen Tränen in die Augen) S8: Ich habe den Eindruck, Sie brauchen jetzt auch so einen Engel, der sie bei der Hand nimmt und durch diese Zeit führt. To7: Ja. Schw1: Du hast doch noch dieses kleine Holzkreuz. Das kannst du doch nehmen. To8: Ja, stimmt. S9: Das ist ein schwerer Abschied für Sie. To9: Ja, ich sage den Angehörigen immer ‚In Liebe loslassen‘. Doch jetzt, da man selber in dieser Situation ist, merke ich, dass das gar nicht so leicht ist. [To berichtet, dass sie als Ärztin in einem Krankenhaus arbeitet. Sie erzählt von der langen Krebserkrankung ihrer Mutter und ihrem Umzug nach N.] Der Wunsch von Frau B.s Tochter, die Engelfigur zu „weihen“, erscheint als deutlicher „Auftrag“⁸ an die Seelsorgerin (To1). Als «religiöser Profi», als «Transzendenzarbeiterin»⁹ wird von der /Seelsorgerin/ diese religiöse Handlung erwartet: Für die „Weihe eines Engels“ ist die Seelsorgerin zuständig – und eben nicht die im Hospiz beschäftigten Pflegekräfte, Ärzte oder Therapeuten. Ob dieser Auftrag auf Seiten der Seelsorgerin womöglich mit einem
Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 164 ff. Vgl. Göckenjan/Dreßke 2008: Seelsorge, 255.
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5. Epilog: Ein Engel für Frau B.
evangelischen Rollenverständnis kollidiert, wird nicht direkt kommunikativ relevant. Denn was jemand denkt, bleibt ähnlich einer black box unzugänglich. Allein, dass es nicht umgehend zu einer Weihe-Handlung kommt, könnte als «Zögern» oder «Überlegen» der Seelsorgerin gedeutet werden. Durch das Herunternehmen der Engelfigur wird ihre räumliche Position verändert. Damit rückt sie nicht nur verbalsprachlich, sondern auch visuell und – für die Seelsorgerin – taktil in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Indem die Figur während des weiteren Kommunikationsverlaufs sichtbar in der Hand der Seelsorgerin liegt, wird sie immer wieder zu einem „Blickfang“, zu einem visuellen Aufmerksamkeitsort für die Anwesenden (S4). Kommunikativ wird die Bedeutung des Engels für die Seelsorgepartnerinnen ausgelotet (S4). Für die Tochter von Frau B. steht der /Engel/ für einen «Sterbebegleiter» (To4). Die Engelfigur wird zum Zeichen für «Sterbehilfe». Zugleich verbindet sich mit dieser Deutung eine hoffnungsvolle Perspektive: Frau B. wird in ihrem Sterben nicht alleine geglaubt. „Am Ende“ ist nicht „alles aus“, sondern am Ende des Lebensweges steht mit der Geste des Willkommen-Heißens eine Begegnung und in gewissem Sinne ein Neuanfang. Der Engel erscheint hier gleich einem Türöffner in eine neue Welt. Auf diese Weise wird die Engelfigur zum Kristallisationspunkt für Sterbensdeutungen und Vorstellungen von einem möglichen Leben nach dem Tod. Von der Seelsorgerin wird diese hoffungsvolle Sicht verbalsprachlich aufgenommen, wertend gestützt und christologisch umgedeutet (S6). Das Flüstern der Tochter (To5) (Sprechcode) kann so verstanden werden, dass sie zu emotional bewegt ist, um den Tod ihrer Mutter verbalsprachlich zum Ausdruck zu bringen. Angesichts von Sterben und Tod verschlägt es ihr die Sprache. Es fehlen die Worte. Auch das kulturelle Deutungsmuster, dass man im Beisein von (noch) Lebenden nicht von deren Tod spricht, kann eine Rolle spielen – und wäre dann ein weiteres Zeichen dafür, dass Frau B. trotz ihrer Unfähigkeit, intentional kommunikative Ausdrucksformen zu produzieren, als Anwesende in die Interaktion inkludiert wird. Möglich wäre auch, dass sie selbst nichts vom Tod ihrer Mutter hören möchte. Die Seelsorgerin (S7) nimmt implizit die Abwesenheit des verbalsprachlichen Ausdrucks „tot“ auf, indem sie das vermutlich mit schmerzlicher Trauer codierte Thema „Tod“ auf der verbalsprachlichen Ebene ebenfalls vermeidet und stattdessen auf die Sach-Problematik¹⁰ des langen Bandes eingeht, mit dem wahrscheinlich eine Verletzungsgefahr verbunden wird. Insistiert ein poimenisches Modell auf der sog.Verbalisierungen von Gefühlen, so kann diese „Reaktion der Seelsorgerin“ als scheinbar „verpasste Chance“ gedeutet werden. Nimmt man jedoch an, dass die Seelsorgerin die Sprechweise der Tochter (Flüstern) als emotionale Bewegtheit deutet, so kann diese Kommunikationssequenz auch als „taktvoll“ gedeutet werden: Der Tochter wird dann die Möglichkeit eröffnet, Fassung zu bewahren, indem gerade vermieden wird, ihren vermuteten Schmerz verbalsprachlich zu bezeichnen und damit womöglich noch zu verstärken.
Zur Unterscheidung von vier Dimensionen einer Aussage Sachinhalt, Selbstoffenbarung, Beziehung, Appell vgl. Schulz von Thun 1981: Miteinander reden, 25 ff. Dieses auch in die Poimenik übernommene Deutungsmuster (vgl. z. B. Lemke 1992: Gesprächsführung, 46 f) wird häufig zum „besseren Verständnis“ verbalsprachlicher Kommunikation herangezogen. Weitere kommunikative Ausdrucksformen wie die z. B. „nonverbale“ spielen dabei jedoch keine Rolle.
5. Epilog: Ein Engel für Frau B.
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Während die Kommunikation auf verbalsprachlicher Ebene die Beschaffenheit der Engelkette thematisiert, kann angenommen werden, dass die Anwesenden in Gedanken – also auf Ebene des psychischen Systems – beim nahen Tod von Frau B. sind. Daraufhin lassen sich die Tränen (Leib) von Frau B.s Tochter und Schwester deuten. Die nächste Sequenz (S8) schließt an die wahrnehmbaren Tränen an und bietet eine weitere Deutung des /Engels/ als «Trauerbegleiter» an. Die Schwester von Frau B. (Schw1) nimmt das Signifikat auf und spielt mit dem Holzkreuz einen neuen, ebenfalls religiös codierten Gegenstand (Signifikant) ein. Man kann den Eindruck bekommen, der /Engel/ sei allein Frau B. vorbehalten. Dann folgt mit dem Terminus „Abschied“ (S9) eine verbalsprachliche Annäherung an das Thema „Tod“. Dabei wird es dem Rezipienten offen gelassen, ob der Abschied als ein endgültiger oder vorübergehender verstanden wird. Die Sequenz ist damit offen für unterschiedliche Todesdeutungen. Der erste Teil der Begegnung mag eine „Atmosphäre“ des Vertrauens evoziert haben. In den ersten Auslotungsprozessen der Eröffnungsphase haben sich v. a. die Tochter von Frau B. und die Seelsorgerin aufeinander eingespielt – dagegen scheint die Schwester von Frau B. eher in den Hintergrund zu treten. Es scheint ein Raum eröffnet, in dem die Tochter (To9) in einer längeren Erzählsequenz die letzte Lebenszeit ihrer Mutter konstruiert. So steht nun im Raum, von wem sie sich verabschiedet – und was ihr fehlen wird.
[To stellt die Frage in den Raum, wieso ihre Mutter denn gerade jetzt sterben müsse. Dann geht es erneut um das „Loslassen“:] To10: Später werde ich sagen, es war eine Erlösung für sie. Aber jetzt kann ich mir nicht vorstellen, wie es ohne sie sein wird. Schw2: Du wirst sehen, es wird irgendwie weitergehen. To11: Momentan kann ich mir das nicht vorstellen. Keinen Kaffee mehr zusammen trinken, nichts mehr zusammen machen … (hat Tränen in den Augen) S10: Das ist ein schwerer Abschied, der sehr weh tut. To12: Sie hat gesagt, dass sie sich auf den Frühling und Sommer freut. Sie wollte so viel in meinem Garten machen. S11: Erzählen Sie ihr doch von Ihrem Garten. To13: Das mache ich ja. Wie die Blumen blühen und dass hinten noch ein Springbrunnen anlegt werden soll. Und dann frage ich sie, wie sie das machen würde. … (schaut etwas hilflos) Aber sie sagt ja nichts mehr. … S12: Nein, sie kann nicht mehr auf Ihre Fragen antworten. Sie kann auch nicht mehr aufstehen und Ihnen im Garten helfen. Aber sie kann Ihnen zuhören. Erzählen Sie ihr doch, wie schön der Garten jetzt aussieht mit den ganzen Krokussen und Tulpen, die Ihre Mutter noch gesteckt hat. Dass aus all dem jetzt neues Leben kommt, was sie angefangen hat. Schw3 (überlegt): Ja, vielleicht will sie deshalb immer aufstehen, wenn du sie fragst. To14: Hm …
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5. Epilog: Ein Engel für Frau B.
S13: Das könnte ich mir gut vorstellen. … Wenn Sie einfach erzählen, wie jetzt langsam der Frühling kommt, wie alles blühen wird … ein sehr schönes Bild mit den ganzen Blumen … Neben den „direkten“ verbalsprachlichen Interventionen der Seelsorgerin (S11, S12), die einer emphatischen Grundhaltung entgegen stehen,¹¹ werden hier Themen relevant, die beim poimenischen frame Hospizseelsorge erwartbar sind – wie Theodizee Trauer und Todesdeutung (To10: „Erlösung“). Von der Seelsorgerin wird erwartet, dass sie auf eben diese religiösen Themen ansprechbar ist. In dieser Sequenz wird außerdem deutlich, dass die (Un‐)Zeit der Krebserkrankung die Zukunftsvorstellungen durchkreuzt. Die Gegenwart zwingt, Zukunftspläne umzuschreiben. Die Seelsorgerin greift das Bild des Gartens auf. Es kommt zu einem direkten Vorschlag (S11). Die Antwort der Tochter (To13) kann die Seelsorgerin vermuten lassen, dass sie ihre Mutter noch nicht loslassen kann. Die Frage nach der Gartengestaltung nimmt die Sterbende in die Pflicht der Lebenden. Insofern stehen zwei diametrale Wünsche der Tochter im Raum: Auf der einen Seite, die Mutter möge „gehen“ können (To4), auf der anderen Seite, die Mutter möge weiter im Garten arbeiten und damit leben können. Systemisch betrachtet ereignet sich das Sterben des nahestehenden Menschen im Spannungsfeld von dem Wissen darum, dass der geliebte Mensch bald tot und nicht mehr „da“ sein wird und der immanenten Hoffnung, dass eine gesundheitliche Verbesserung doch noch das Weiterleben ermöglicht. Die Hand, die die Lebende der Sterbenden hält, hält sie damit fest. Folgt man der systemischen Sichtweise, so korrespondiert oft das Sterben-Können eines Menschen mit dem Loslassen-können der Angehörigen. Die Seelsorgerin (S12) scheint eine (kurzzeitige) Allianz¹² mit Frau B. einzugehen, indem klar ausgesprochen wird, was Frau B. vermutlich noch kann – und was nicht mehr. Diese als Feststellung formulierte Vermutung stützt sich auf Schlussfolgerungen aus Frau B.s Erscheinungsbild im Abgleich mit spezifischem Wissen, das dem poimenischen frame „Seelsorge mit Sterbenden“ entstammt. Anschließend wird der Vorschlag exemplifiziert: Indikativisch wird die Schönheit des Lebens beschrieben – anstatt die Sterbende imperativisch in die Pflicht zu nehmen. Das Bild des Gartens impliziert die Möglichkeit, transzendiert und christlich als Paradiesgarten umgedeutet zu werden. Hier wird das im Frühling neu erwachende Leben mit dem Leben von Frau B. in Verbindung gebracht (S12): Das, was sie in der Vergangenheit getan hat (Blumenzwiebeln stecken), fängt nun an, sich in der Gegenwart zu zeigen. Der Keim für neues (ewiges) Leben ist im alten (Erden‐)Leben angelegt. Insofern bietet diese Einspielung implizit Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod an. Diese (An‐)Deutungsspur bleibt jedoch implizit, da sie von den beiden Frauen nicht aufgenommen wird. Die Schwester von Frau B. (Schw3) schließt an den ersten Teil der Ausführungen der Seelsorgerin an und spricht die Vermutung aus, dass die Pflicht der Le-
Diese Haltung von Rogers ist vielfach in die Poimenik aufgenommen worden; vgl. z. B. Lemke 1992: Gesprächsführung, 45 ff; Herbst 2012: Beziehungsweise, 260 ff; Klessmann 20124: Seelsorge, 133 f. Vgl. Morgenthaler 20023: Systemische Seelsorge, 58.
5. Epilog: Ein Engel für Frau B.
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benden die Sterbende keine Ruhe finden lässt. Die Seelsorgerin unterstützt diese Hypothese (S13). Auch das wiederholte Einspielen der Deutungsmöglichkeiten, die sich mit dem Bild des Gartens eröffnen, (S13) erweist sich als orthotomisch ungeschickt. Es wird kommunikativ nicht angeschlossen.
[Es geht um verschiedene Themen: Vorstellungen vom Leben nach dem Tod, Gottvertrauen und die weitere Begleitung von Frau B. durch To und Schw.] S14: Wenn Sie möchten, dann spreche ich ein Gebet und segne Ihre Mutter und Schwester. To15 und Schw4: Ja. S15: Erst bringe ich das vor Gott, was wir gesprochen haben. Dann spreche ich das Vaterunser, das Sie – wenn Sie möchten – mitsprechen können. Beim Segen lege ich ihr den Engel in die Hand. … Ist das so in Ordnung für Sie? To16 und Schw5: Ja. (alle falten die Hände) S16: Allmächtiger Gott, du bist da. Du bist da, auch wenn wir hier nicht verstehen. Wieso? Wieso jetzt? Da hatte das Leben hier in N. doch gerade erst angefangen und soll jetzt schon wieder zu Ende sein? Das verstehen wir nicht. Warum? Für uns macht das keinen Sinn. Allmächtiger Gott, du bist da. Du bist da, und wir bitten dich, schenke uns Vertrauen in dich. Vertrauen darauf, dass du uns trägst, dass du bei uns bist. Du hältst uns. Bitte lass uns das spüren. Unsere Zeit steht in deinen Händen. Und so legen wir auch Frau B. in deine Hände. Vater unser im Himmel, (Schw und To sprechen mit) … To und Schw laufen Tränen über das Gesicht. S wartet, bis sie sich Taschentücher gesucht haben. Dann steht sie auf, nimmt den Engel, öffnet behutsam eine Hand von Frau B, legt ihr den Engel hinein und schließt deren Finger um ihn. S blickt Frau B. ins Gesicht. Ihre rechte Hand legt S auf die Schulter von Frau B., die linke Hand hält sie segnend über ihren Kopf. S17: Es segne dich Gott der Vater, der dich wunderbar erschaffen hat. Es segne dich Gott, der Sohn, der für dich gestorben ist und dich erlöst hat. Und es segne dich Gott, der Heilige Geist, der dein Lebensatem ist – hier in diesem Leben und auch über den Tod hinaus dein Lebensatem bleibt. Als Zeichen hierfür hast du diesen Engel in deiner Hand. Ihn sollst du mitnehmen aus diesem Leben hier durch den Tod in dein neues Leben. Er steht
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dafür, dass dein Leben nach dem Tod nicht endet. So segne dich Gott der (Kreuzeszeichen auf Stirn) Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen. (Es entsteht ein Moment der Stille. S nimmt den Engel Frau B. aus der Hand und hängt ihn wieder über das Bett; zu Schw und To) Auch für Sie soll der Engel ein Zeichen sein. Wenn Sie ihn hier sehen, dann kann er sie daran erinnern, dass Sie nicht allein sind, dass Jesus Christus selbst (zu To) Ihre Mutter, (zu Schw) Ihre Schwester mit offenen Armen empfängt. (Schw und To wirken erschöpft und berührt) … S18: Wie geht es Ihnen? Schw6: Ich glaube, sie hat anders geatmet. To17: Das habe ich nicht gemerkt. … (zu S) Sie haben sehr schöne Worte gefunden. Vielen Dank. Es entsteht eine Verabschiedungs-Stimmung. To und Schw rutschen auf dem Stuhl hin und her, wissen nicht, wohin mit ihren Händen und Blicken. S verabschiedet sich. Seit Beginn der Begegnung ist eine Stunde vergangen. Wieder ist die Seelsorgerin mit explizit religiösen Themen angesprochen. Das Angebot von Gebet und Segen wird einstimmig angenommen. Die Seelsorgerin gibt Regieanweisung für die folgende kleine Abschiedsliturgie (S15), in der der Auftrag aus der Eröffnungsphase (To1) aufgenommen wird. Die Abschiedsliturgie folgt keinem fest geprägten Formular, sondern ergibt sich aus der Kommunikationssituation in actu und zeigt sich offen für Wünsche der Seelsorgepartner. Die veränderte Körperhaltungen der Anwesenden (Falten der Hände, Blickrichtung nach unten) sowie die liturgische Sprache – und vermutlich auch die im Seelsorgeprotokoll nicht näher beschriebene Sprechweise – des freien Gebets (S16) markieren einen rituellen „Bruch“ in der Kommunikation. Die Perspektive öffnet sich explizit auf den „allmächtigen Gott“ hin, dessen promissionale Anwesenheit (Mt 18,20) kommunikativ eingeholt und verbalsprachlich versichert wird („du bist da“). Mit den drei bzw. vier Anwesenden performiert sich eine kleine christliche Gemeinde, die sich mit dem gemeinsamen Sprechen des Vaterunsers in eine zeitübergreifende christliche Trost- und Deutungsgemeinschaft einschreibt. Die Formulierungen des freien Gebets in der 1. Person Plural markieren die Tochter und die Schwester von Frau B. sowie die Seelsorgerin als Glaubensgeschwister. Der erste Teil des Gebets nimmt Themen der Begegnung auf und stellt damit die Kommunikationssituation explizit in einen transzendenten Horizont. Indem Fragen und Klagen vor Gott gebracht werden, erscheinen die Anwesenden gemeinsam auf der Suche nach Lebens- und Todesdeutungen und – man kann anhand der Formulierungen vermuten – angesichts von Sterben und Trauer auch emotional berührt. Der zweite Teil des Gebets ist als Bitte gestaltet an den Gott, der als Anwesender geglaubt wird und dessen Anwesenheit als erfahrbare erbeten wird. Nicht nur Frau B. soll in der Zeit ihres Sterbens nicht allein sein (To4 und S6), sondern auch die, die um sie trauern. Mit den Worten aus Psalm 31,16 ist eine biblische Deutung der menschlichen Lebenszeit eingespielt, die als Trost empfunden werden kann. Die an vielen Stellen deutungsoffenen Formulierungen des Vaterunsers ermöglichen es der Tochter und Schwester von Frau B., weitere Deutungen, die im freien Gebet nicht angesprochen wurden, einzuschreiben und auf diese Weise in eine Beziehung zu Gott zu setzen.
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Im gemeinsamen Sprechen der geprägten Worte des christlichen Glaubens nimmt eine hörbare Betgemeinschaft Gestalt an, die die in der Regel notwenige Sequenzierung der verbalsprachlichen Kommunikation umgeht und in der Perspektive auf einen gemeinsam angesprochenen „Vater“ hin synchronisiert. Nach den Gebeten ändert sich die Kommunikationsrichtung. Die Seelsorgerin wendet sich Frau B. zu, indem sie die Position ihres Körpers im Raum verändert und aufsteht. Auch die räumliche Position der Engelfigur wird verändert und – indem sie Frau B. in die Hand gegeben wird – in eine taktil-proxemische Beziehung zu Frau B. gebracht. Proxemisch-taktil (Blickrichtung, Berührung an der Schulter) setzt sich die Seelsorgerin in Beziehung zu Frau B. Die Segensgeste der linken Hand spielt stimmig mit der verbalsprachlichen Kommunikation der zusprechenden Segenshandlung zusammen. Die Segensworte (S17) lehnen sich an den Valetsegen¹³ an. Der Heilige Geist wird als „Lebensatem“ sowohl des Erden- als auch des ewigen Lebens vorgestellt. Insofern liegt es in Gottes Hand, die Identität von Frau B. über ihren Tod hinaus zu bewahren. In diese Deutung wird die Engelfigur eingespielt. Der /Engel/ wird zu einem Bindeglied zwischen der Welt der Lebenden und der Toten: In räumlicher Nähe zu Frau B. hängend am Bett platziert, ist er in ihren letzten Tagen und Stunden „da“. Sobald sie gestorben ist, soll er ihr um den Hals gelegt werden und auf diese Weise mit in den Sarg gelangen. So wird die Figur zu etwas, das Frau B. aus diesem Leben mit in den Tod und darüber hinaus mitnehmen kann. Der Engel kann so zum handfesten Zeichen christlicher Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod werden: zum Zeichen für den Glauben daran, dass Frau B.s Leben coram Deo mit dem Tod nicht endet. Eingebunden in die Segenshandlung wird die Engelfigur in Beziehung zu Frau B. gesetzt und ihr von der Seelsorgerin im kommunikativen Kontext des Sterbens eine konkrete, christlich codierte Bedeutung zugeschrieben. Auf diese Weise ist einem „magischen“ Verständnis des Engels entgegen gewirkt, das dem bloßen Vorhandensein der Figur unabhängig von der Deutung eines Betrachters Selbstwirksamkeit zuschreibt (ex opere operato) – etwa als Garant für „leichtes Sterben“ (To4). Diese Verschränkung von Inhalt, Form und Rezeption wird auch daran deutlich, dass die Figur in Beziehung zur Tochter und Schwester von Frau B. gesetzt wird. Es wird ihnen eine Möglichkeit aufgezeigt, wie die Wahrnehmung der Engelfigur für sie tröstlich sein kann: Indem diese für sie zum Erinnerungszeichen an die Nähe Gottes und dem Glauben daran wird, dass der Sterbensweg von Frau B. zu Christus selbst führt. Mit dem christlich codierten Zeichen des Kreuzes wird Frau B. der Segen als berührende Nähe Gottes (taktil) zugesprochen. Mit dem Ensemble der christlichen Ausdrucksformen ergibt sich eine „dichte“ Situation. Daraufhin lässt sich das Körperverhalten (Tränen, Schweigen) von Frau B.s Tochter und Schwester sowie die von der Seelsorgerin notierte Wahrnehmung, dass beide auf sie „erschöpft und berührt“ wirken, deuten. In diesem Zusammenhang lässt sich auch die Aussage der Schwester über die von ihr wahrgenommene Veränderung des Körperverhalten von Frau B. verstehen (Schw6) – eine Beobachtung, die von Frau B.s Tochter nicht geteilt wird (To17). Die von den Anwesenden erfahrene „Dichte“ der Kommunikation kann im Anschluss an Mt 18,20 als «Anwesenheit Christi» und damit als Aktualisierung der promissionalen Zusage Christi gedeutet werden: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“
Vgl. Neues Evangelisches Pastorale 20073: 173.
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Das folgende Körperverhalten von Tochter und Schwester (auf dem Stuhl hin und her rutschen, umherschweifende Blicke, die Bewegung der Hände) wird von der Seelsorgerin daraufhin verstanden, dass die Interaktion auf ihr Ende zuläuft. In diese für die Seelsorgerin evozierte „Stimmung“ des Abschieds fügt sich stimmig ein, dass die Engelfigur wieder an den Ort platziert wird, an dem sie zu Beginn der Kommunikation hing. Damit wird der visuelle Aufmerksamkeitspunkt der Kommunikation, der dadurch entsteht, dass die Seelsorgerin die Figur in ihrer Hand hält, (S4) aufgelöst. Der zu Beginn erteilte Auftrag an die Seelsorgerin (To1) ist erledigt. In diesem Kontext eignet den christlichen Ausdrucksformen in der vorliegenden seelsorglichen Kommunikation mehr eine zusammenfassende als eine eröffnende Funktion. Die Zeitdauer der seelsorglichen Interaktion ist mit einer Stunde eher lang, scheint jedoch – soweit im Blick auf das Seelsorgeprotokoll zu beurteilen – von den Anwesenden als der Situation angemessen und stimmig empfunden zu werden. In die Kommunikation sind mehrere Personen inkludiert. Dabei fällt auf, dass die Schwester von Frau B. eher eine Nebenrolle spielt. Diese kommunikative Regel scheint in der ersten Phase der Interaktion vorgeklärt zu werden und sich im weiteren Verlauf zu manifestieren. Zu Beginn ist es die Schwester von Frau B., die von ihrem Stuhl aufsteht, um für die Seelsorgerin „Platz zu machen“ und sich – so kann das Körperverhalten neben «Höflichkeit» auch gedeutet werden – „zurücknimmt“. Es ist die Tochter von Frau B., die das Wort ergreift, der Seelsorgerin den Auftrag erteilt (To1) und auch im weiteren Verlauf die Kommunikation verbalsprachlich dominiert. Auch das nonverbale Körperverhalten von Frau B.s Schwester scheint von der Seelsorgerin weder als direkte Kommunikation noch als weiter bemerkenswert verstanden zu werden, da im Seelsorgeprotokoll keine Beobachtungen hierüber zu finden sind. Mit Blick auf das Seelsorgeprotokoll kann aus systemischer Perspektive die Hypothese aufgestellt werden, dass die Schwester von Frau B. gegenüber ihrer Nichte eine mütterliche Rolle zu spielen versucht und damit den durch den Tod von Frau B. frei werdenden Platz einnimmt: Sie macht ihrer Nichte einen praktischen Vorschlag (Schw1), versucht sie zu trösten (Schw2) und stellt implizit ihr Verhalten in Frage (Schw3).Weiterhin fällt – beim Blick in das Seelsorgeprotokoll – auf, dass Frau B.s Tochter ihrer Tante gegenüber zweimal anderer Meinung ist (To11 und To17) – was allerdings wenige Rückschlüsse dahingehend zulässt, ob sie die (vermutete) mütterliche Kommunikationshaltung ihrer Tante akzeptiert. Daneben sind auch ganz andere Rollenverteilungen möglich. Frau B.s Schwester könnte sich auch deshalb „zurücknehmen“, weil sie es als primäre Aufgabe ihrer Nichte ansieht, sich um ihre Mutter zu kümmern. Oder das Verhalten der Schwester von Frau B. kann als freundschaftlicher Beistand oder als familiäres Mitleiden intendiert sein oder interpretiert werden.
Sechs Tage später nach der Begegnung stirbt Frau B. am Ostersonntag. Ihre Tochter wünscht eine Aussegnung, zu der die gleiche Pfarrerin gerufen wird.¹⁴
Aus systemtheoretischer Sicht handelt es sich hier um eine Episodenbildung; vgl. Luhmann 1997: Gesellschaft, 818. In dem sich neu bildenden Interaktionssystem zum Zweck der Aussegnung kann thematisch an die seelsorgliche Begegnung vor sechs Tagen angeschlossen werden.
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Die Schwester von Frau B. ist bereits abgereist. Anwesend sind Frau B.s Tochter, ihr Ehemann sowie ihr zehn-jähriger Sohn. Die Tote liegt im Bett und ist bis zur Hälfte ihres Oberkörpers zugedeckt. Die Kette mit der Engelfigur ist ihr um den Hals gelegt. In die gefalteten Hände sind ihr Krokusse¹⁵ gegeben, die ihr Enkel gepflückt hat. Daneben liegen Handschuhe des Enkels. Auf dem Nachtkästchen neben dem Bett steht eine brennende Kerze. Die Pfarrerin bezieht die auf dem Totenbett liegenden Erinnerungsstücke in die Aussegnungsliturgie mit ein. – Auf diese Weise werden die Gegenstände im Horizont einer christlichen Deuteperspektive in Beziehung zum Leben und Sterben von Frau B. und ihren Familienangehörigen gesetzt. Bei dieser erneuten Begegnung wird die Pfarrerin primär als Liturgin, nicht mehr als Seelsorgerin angesprochen. Die spätere Trauerfeier findet in der Gemeinde N. statt und wird von einem anderen Pfarrer übernommen.
Vgl. das Thema des Gartens in der seelsorglichen Begegnung: Frau B. hatte noch die Zwiebeln für die Krokusse gesteckt (S12).
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Sachregister Abduktion, abduktiv 122, 143, 275, 329, 331, 368, 377, 407, 420, 437, 460, 468, 489 – 530 Abendmahl 52, 149, 183, 197, 206, 214, 231, 352, 385, 429, 452, 462, 488, 512 f., 515, 518, 526, 529 Abschied 231, 315, 317 – 319, 492, 505, 525, 528, 542, 544 Abwesenheit, abwesend 66, 222, 292, 313 f., 316 f., 322, 340 f., 345, 347, 358, 489, 491, 502, 519, 538 Alter, siehe Seelsorge mit alten Menschen Ambiguität, ambiguitär, siehe auch Deutung, Mehrdeutigkeit 154 – 157, 224, 415, 421, 424 f., 427, 439, 441 f., 452, 466, 477, 484 – Disambiguierung, disambiguieren, siehe auch Komplexität, Reduktion von K. 385, 400, 426, 430, 444, 451 f., 483 Angesicht, im A. Christi, siehe coram Deo, coram Christo Anthropologie, anthropologisch 16, 53, 60, 88, 93, 95, 100, 104 f., 151, 209, 213, 272, 348, 380, 454, 472 Anwesenheit, anwesend 8, 49, 57, 66, 100, 106, 147, 210, 220 f., 223 – 225, 228 f., 232, 234, 237, 243, 254, 274, 278, 282 f., 286 f., 292 f., 297, 303, 309, 311, 313 – 324, 337, 340 f., 347, 349, 351 f., 356 – 358, 378 f., 384, 393, 395, 413, 415, 428, 434, 443, 445, 458, 461, 475 – 477, 480, 482, 484, 489, 491 – 493, 504, 507, 511, 514 f., 517 – 519, 522, 526 – 528, 530 f., 533 – 536, 538 f., 542 – 545 – A. des Abwesenden, siehe coram Deo, coram Christo – Kommunikation unter Anwesenden, siehe Interaktion – physische A., siehe Kopräsenz Ästhetik XIII, 62, 113, 115, 143, 148, 153, 157 f., 166, 175, 196, 420 – ä. Code, siehe auch Idiolekt 403, 409, 432 f.
– ä. Botschaft, ä. Kommunikation 153, 409, 423 – 428, 430 – 433, 437, 439, 441, 456 – ä. Paradigma, siehe Paradigma – Rezeptionsä. 47, 50, 58 f., 70, 108, 115, 129, 131 f., 135, 152 f., 156, 171, 160 f., 169 – 172, 176, 228 f., 261, 275, 296, 321, 338, 346, 349, 354, 417, 457, 461, 466 f., 480, 482 Autopoiese, autopoietisch 3 – 5, 13, 21, 25, 44, 69 – 71, 75, 81 – 84, 89, 104, 228, 246, 252 – 255, 264, 267, 293, 297 – 302, 304, 306, 311 f., 314, 328, 357, 361, 374, 396 – 400, 415 – 420, 423, 426, 448 Bedeutung, siehe auch Signifikat XI, 27, 47, 65, 73, 78 – 80, 100, 103, 114, 117, 136, 139, 143 f., 150 f., 153, 156, 159, 164, 166, 172, 175, 180, 184, 187, 195, 198 f., 203, 205, 221, 226, 244, 248, 258, 260, 263 f., 266, 274, 349, 360 f., 363 f., 366, 369 – 374, 379, 381 f., 385, 387, 393, 396, 400 f., 403 – 405, 407, 409, 414, 427 – 430, 433, 439, 468, 473, 477, 483, 489, 491, 497 – 499, 503, 507, 509, 513, 520, 524, 526, 529, 532, 537 f., 543 Begrüßung 146, 231, 315 – 317, 319 f., 340, 353 f, 505, 514, 525, 527 – 529, 534 – 536, 544 Behinderung 66, 167, 305, 525, 515, 519 Beobachter, Beobachtung 2 f., 7, 11, 15 f., 18 f., 25, 30, 34, 45, 50, 69 f., 72, 77, 85, 88, 99 f., 106, 223 f., 245 – 256, 264, 270 – 272, 275, 290, 296, 310 f., 346 f., 362 f., 368, 370, 375, 379, 381, 384, 392, 418, 431, 473, 485, 490 – B. zweiter Ordnung 250, 252, 255 f. Beratung, siehe auch Therapie 10, 37, 76, 96, 101, 107, 146, 195, 210, 216 f., 450, 463, 494, 505, 529, 535 Berührung, siehe Code, taktiler C., proxemischer C. Bewegung im Raum, siehe Code, hodologischer C., kinetischer C.
Sachregister
Bewusstsein (systemtheoretisch), siehe auch System, psychisches S. 6, 57 f., 61, 83, 147, 241, 248, 298 – 305, 309 f., 312 – 316, 326 – 330, 332, 337 f., 341 – 343, 350, 353, 356 – 358, 387, 389 f., 396 – 401, 403, 406 f., 414, 416 – 419, 421 – 423, 426, 483, 494 f. biblische Texte XIV, 46 – 48, 50, 52, 58, 80, 92, 107 – 110, 147, 156 – 158, 160 f., 163, 166, 176, 200 f., 206, 229, 296, 308, 318, 402, 413, 427, 429, 431, 434, 442, 444, 452, 455, 457 – 459, 461 f., 464 – 469, 485, 488, 492 – 495, 497, 501 f., 506, 509, 512, 542 Biographie 89, 92, 107, 272, 307 f., 380 – 384, 483, 503 blinder Fleck 18, 250, 280, 368 Bruch 78, 80, 85, 90, 95, 109 f., 161, 176, 254, 278, 308, 376, 415, 417, 421 f., 426 f., 435, 441 – 443, 453 – 462, 465 – 469, 475 f., 478, 484, 514, 518, 522, 530, 542 Code – akustischer C. 327, 355, 432, 476, 487, 495, 513 – 516, 524, 531 – architektonischer C. 145, 147, 286, 355, 508 f. – ästhetischer C., siehe Ästhetik – chronologischer C. 500, 502 f., 530 – Code (semiotisch) 115, 139 f., 141 f., 262, 366, 424 – Code (systemtheoretisch) 8, 46, 443 f., 448 – 451 – Decodierung 129, 143, 152, 297, 311, 331 f., 430, 435, 450, 520 – 522, 524 f., 529, 536 – eschatologischer C. 85, 391, 434 – 436, 438, 442 – 444, 446, 454, 458 f., 462 f., 484, 502, 506, 519 – gestischer C. 133, 138, 145, 343, 345 f., 348 f., 351, 452, 471, 475 f., 491, 524 – 526 – graphemischer C. 493 – 495, 521, 523 – gustatorischer C. 327, 343, 345, 432, 513 – 515 – hierarchischer C. 78, 191, 475, 491, 504, 517, 520 f., 524 f., 527
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– hodologischer C. 475 f., 487, 530 f. – ikonischer C. 494 f., 509, 520, 523, 532 – kairologischer C., siehe auch Kairos 503 – kinetischer C. 134, 145, 346, 350, 476 f., 487, 495, 508, 511, 518, 524 – 527, 529, 532 – musikalischer C. 52, 108, 133 f. 138, 141, 143 f., 147, 149 f., 381, 442, 461, 485, 487, 490, 492, 494 f., 502, 512, 514, 531 – olfaktorischer C. 133, 236, 327, 333, 343, 345, 432, 355, 399, 475, 477, 489, 503, 509, 513 f., 520, 526 – 528, 531 – proxemischer C. 133, 145, 198, 345, 428, 452, 475 f., 487, 490, 512, 518 – 522, 525 – 529, 530 f., 536, 543 – religiöser, christlicher C. 8, 16 f., 25, 43, 48, 52, 56, 99, 149, 203, 208, 216, 239, 276, 278, 280, 295, 307, 321, 323, 354, 379, 384, 395, 408, 412, 434, 443 f., 446 f., 451 – 454, 458, 462, 475, 479, 482, 484, 508, 515 – sexueller C. 78, 89, 329, 383, 477, 489, 518 f., 521, 526, 529 – Sprachc., siehe auch Verbalsprache 435, 475 f., 491 f., 495, 531 – Sprechc. 162, 429, 435, 475 f., 490, 493, 495, 531, 536, 538 – taktiler C. 133, 145, 198, 236, 327, 333, 343, 345, 432, 452, 475 f., 503, 508, 513, 515 f., 518 f., 521, 524 – 529, 531, 536, 538, 543 – textiler C. 133, 138, 141, 144 f., 147, 297, 345, 348, 350, 352, 357, 399, 476 f., 487, 498, 518 – 524, 536 – Umcodierung 11, 80, 129, 342, 376, 379, 384, 398, 403, 409, 414 f., 430, 434 – 436, 442, 447, 456, 458 – 461, 484, 522 – visueller C. 78, 134, 174, 236, 286, 327, 333, 343, 432, 476, 495, 503, 511 – 513, 515 f., 519, 531, 538, 544 coram Deo, coram Christo, Anwesenheit des Abwesenden, im Angesicht Christi, in meinem Namen 92, 187, 189, 199 f., 210, 216, 218, 220, 320 – 324, 352, 362, 384, 415, 433 f., 438, 443, 445, 447 f., 454, 458 – 460, 467, 474 – 476, 481 f., 484, 486 – 489, 492, 505, 515, 533, 542 f.
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Sachregister
Darstellung, Darstellungsform, siehe Form, Formgebung – Selbstdarstellung, Körperdarstellung, siehe auch Inszenierung, Körperi. 292, 297, 353, 452, 510, 521, 532 f. Defizitperspektive, defizitär 86, 93, 102, 176, 207, 216, 279, 350 f., 517, 524 Dekonstruktivismus, dekonstruktivistisch 9, 111, 114, 116, 120 f., 157, 171, 200, 261, 268 – 271, 273, 337, 368, 371 f., 434 f., 483 Deutung, gedeutet, siehe auch Interpretation XIII, 62, 73, 112, 117 f., 137, 151, 156, 159, 170, 175, 185, 199 f., 202, 204, 207, 259, 262, 269, 272 – 276, 278, 295, 297, 305 – 308, 325, 328 f., 331, 347, 350, 352 – 355, 362, 364, 372 f., 377, 379 – 383, 385 – 387, 391, 395, 402 f., 408 f., 433, 441, 443, 468, 471, 474, 479, 483, 491, 493, 497 – 499, 501, 503, 505 f., 511, 513 – 516, 519 f., 528 f., 531 – 534, 536, 538 f., 542 – 544 – Deuteperspektive 262, 323, 375, 545 – Deutungsangebot 412, 442, 444, 446 – 448, 459, 465 f., 478, 484, 488 f., 501, 506 – Deutungsinstanz, siehe auch Interpretant, siehe auch Rezipient 117, 139, 165, 172, 177, 199, 205, 223, 244, 246, 258, 283, 321, 331, 334, 370, 372, 406 – 409, 413, 425, 435, 466, 468, 489, 493, 513, 515, 529 – Deutungsmöglichkeit, Interpretationsmöglichkeit 156, 266, 271, 273 f., 338, 355, 359, 393, 420, 422, 424 f., 438, 461, 541 – Deutungskompetenz, Deutungsressource, siehe auch Kompetenz, seelsorgliche 169, 218, 364, 435, 447, 465 – 468 – Deutungsmonopol 47, 66, 157, 176, 278, 350 – Deutungsmuster, Interpretationsschema, siehe auch Kommunikation, geprägte Kommunikationsformen des christlichen Glaubens 80, 90, 92, 156, 302, 306, 308, 329, 336, 350, 360, 376, 382, 385, 401 – 408, 410, 414 – 417, 421, 423 – 427, 430 – 433, 439 – 441, 444 f., 453, 457, 459 – 462, 466, 473, 484 f., 489, 509, 514 f., 518, 529 f., 538
– Deutungspfad, Interpretationspfad, siehe auch Sinn, Sinnlinie 371 – 373, 376, 379, 385, 387, 421, 423 – 426, 430 – 433, 438, 440 – 442, 452, 460 f., 467, 473, 478, 483 f., 540 – Deutungsprozess, Interpretationsprozess XIII, XVIII, 59, 88, 118, 128, 135, 156 f., 159 f., 169 f., 174, 177, 198, 220, 226, 229, 234, 238, 259, 263, 272 – 275, 279 f., 282, 292, 296, 302, 327, 329, 331 f., 335 f., 338 f., 347, 350, 354 f., 363, 369 f., 372 – 374, 385, 387, 389, 393, 403 – 405, 407, 468, 474, 477, 481 – 483, 489, 491, 512 f. – Deutungsrahmen, Deutungshorizont 88, 210 f., 220, 322, 348, 353, 377, 382, 385, 435, 442, 461, 478, 481 f., 485, 490 – Deutungsroutine, siehe auch Konvention 270, 308, 359, 402, 420, 422, 425 – Deutungsspiel, Deutungsraum, Interpretationsspiel, Interpretationsraum 161, 168, 177, 198, 228, 237, 275, 277, 280, 308, 369, 376 f., 385, 387, 415, 421, 439, 459 f., 465 – 468, 475, 483 – Lebensdeutung 216, 307, 464, 501, 510, 542 – Mehrdeutigkeit, mehrdeutig, siehe auch Ambiguität 73, 140, 155 f., 158, 168, 171, 268, 425, 439, 449 – Sterbensdeutung 538 – Todesdeutung 501, 539 f., 542 – Umdeutung, siehe auch Bruch 80, 82, 354, 380, 393, 423, 441 – 443, 458 f., 461, 485, 497, 538, 540 Einheit der Differenz, siehe Zwei-Seiten-Form ekklesiologische Dimension von Poimenik, Trostgemeinschaft 90, 94 – 96, 98, 107, 190, 213 – 215, 217 – 219, 234, 239, 318, 455 – 447, 479, 481, 506, 536, 542 Ensemble 377, 385 f., 396, 404 f., 407, 409, 433, 436, 484, 509 – 511, 543 Enzyklopädie 114, 116, 126, 140, 143, 154, 165, 189, 266, 268, 271, 302, 331 f., 334 f., 359, 361, 363 – 367, 369 – 373, 376 – 378, 385, 387, 391 – 394, 398, 401 – 403, 405 f., 408, 420 – 425, 430 –
Sachregister
433, 437 – 442, 444, 452, 460 f., 468, 478, 483 f. Ereignis, siehe auch Performanz 185, 188, 199 f., 207, 225, 227, 296, 312, 357, 360, 373 f., 390 f., 398 f., 404, 409, 416 – 419, 424, 426, 483 Erwartung 80, 146, 224, 278, 291 f., 294, 320, 340, 345, 349 f., 354, 356, 359, 376, 394, 398 f., 402 f., 405 – 411, 416 – 418, 422 f., 425 f., 441 f., 447 f., 452, 455 f., 460 f., 475, 484, 487, 489, 494, 505, 523, 516, 519, 532, 535 – 537, 540 Evangelium – Gestaltenvielfalt des E. 184 – 188, 197, 202 f., 208, 214, 219, 288, 345, 355, 373 f., 468, 480 f., 496 – Kommunikation des E. 130, 150, 152, 160 f., 199, 279, 289, 510, 512 – Vergegenwärtigung des E., siehe auch Performanz, P. des Evangeliums 196 – 200, 202, 204, 207 f., 210, 214, 218 – 221, 224, 239, 244, 277 – 279, 282, 287 – 289, 325, 391, 415, 442 – 444, 446, 451, 453, 474, 480 f., 484, 506 Familientherapie 10, 64, 66 – 69, 73 f., 86 – 88, 96, 99, 101, 251, 463 Form, Gestalt XIII, 41, 46, 111, 115, 137 f., 140 f., 145, 147 f., 150 f., 153, 158, 161, 165, 167, 170 f., 173, 177, 186, 188, 195 f., 197 – 200, 202, 204, 208, 218 – 220, 226 – 228, 230, 232, 234, 236 f., 244, 261, 265, 267, 282, 320, 323 – 325, 327, 332, 338, 341 f., 345 – 347, 349 f., 352, 354 f., 358, 370, 374, 386 – 388, 395 f., 398, 400, 404, 407 – 409, 413 f., 422, 428 – 430, 433 – 437, 442, 447, 449, 452, 458, 468 – 471, 475 – 477, 480 – 482, 484, 486, 489, 491 f., 496, 503, 507, 509 – 512, 514 – 517, 519, 524, 532 f., 535 f., 543 – Formgebung, Darstellung, Gestaltung, siehe auch Inszenierung XIII, 41, 59, 122, 147 – 151, 161, 168, 174, 185 f., 196 – 199, 201 – 203, 206, 223 – 225, 230, 233, 236, 239, 278, 280, 289, 292, 297, 317, 325 f., 346 f., 349, 353 – 355, 358, 380, 387, 391, 413 f.,
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429 f., 434, 439, 441, 451 f., 458, 466, 470, 473 – 476, 478 – 482, 484 – 486, 488 f., 491 f., 494, 504, 506 f., 509 – 512, 514 – 518, 520, 527, 530, 532 f., 536, 538, 475 f. – Inhalt, Form und Rezeption 59, 148, 198, 202, 226, 480 f., 486, 493, 507, 543 – Inhalt und Form, siehe auch Ästhetik, siehe auch Paradigma, ästhetisches P. XIII, 41, 57, 111, 148, 167, 187, 195 – 197, 198, 228, 325, 428, 432 f., 435, 437, 471, 474 – Medium und Form 255, 361, 373, 375 frame 80, 158 f., 161, 180, 219, 221, 228, 230 f., 236 f., 305, 309, 316, 321, 330 f., 333, 338, 340, 342 f., 353, 355 f., 385, 388, 396 – 398, 400, 403 – 414, 422, 425 f., 429 f., 435 f., 441, 451 f., 459, 461, 468, 475, 477, 482 – 484, 487 f., 489, 490, 506, 518, 522, 524, 533, 535, 540 Fundamentalpoimenik XVIf., XIX, 109, 179 f., 243, 388, 413, 490 funktional differenzierte Gesellschaft 4 f., 8, 10 f. 16 – 19, 21, 23, 33, 44 – 46, 50, 53, 56, 66 f., 76, 89 f., 106, 271, 277, 290 – 292, 295, 354, 395, 408, 420, 437, 443 f., 447 – 452, 454 f., 459, 462, 477, 479 Gebet, beten XIII, 47, 52, 144, 149, 161, 201, 206, 229, 288, 318, 321 – 324, 343, 352, 354 f., 411, 431, 434, 442, 444 f., 452, 455, 458 f., 461 f., 465, 475 f., 485, 488, 492 f., 505, 511, 513, 515, 518, 525, 541 – 543 Geburtstagsbesuch 175, 315 f., 345, 353, 410 f., 436, 452, 488, 492, 504, 510, 514, 524 Gegenstand 119, 144 f., 189, 262, 327, 329, 333, 337, 340, 343, 345, 348 f., 353 f., 358, 389 f., 395 f., 400, 404 f., 435 f., 476, 482, 494, 503, 507, 509 – 513, 515 f., 524, 528 f., 530, 536, 539, 545 Geruch, siehe Code, olfaktorischer C. Geschlecht, gender, siehe Code, sexueller C. Geschmack, siehe Code, gustatorischer C.
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Sachregister
Gestalt, siehe Form, siehe Evangelium, Gestaltenvielfalt des E. – Gestaltung, gestalten, siehe Form, Formgebung Gestik, siehe Code, gestischer C. Gesundheit, gesund XIV, 73, 75, 84, 91, 305 – 308, 373, 444 f., 511, 540 Glaubensgeschwister XIX, 179, 188, 190 – 192, 194, 206, 210 f., 213 – 219, 232, 234, 239, 276, 308 f., 321 f., 352, 354, 379, 408, 412 f., 415, 443, 445, 447 f., 453 f., 458, 465, 476, 478, 480, 484, 506, 542 Hausbesuch 231, 340, 349, 353, 410, 504, 510, 522, 527 Heilszueignung, Zueignungsform 183, 185 f., 188, 195, 202, 204 f., 208, 219, 222, 244, 453 f., 480 f., 496 Humor 108, 344, 431 f., 455, 465 Identität 30, 46, 89, 106 f., 110, 200, 209, 212, 380 – 384, 401 f., 498, 503, 510 f., 543 Ideologie, ideologisch 266, 369, 375 f., 412, 415, 421, 425, 439, 483 f. Idiolekt, siehe auch Ästhetik, ä. Code 269, 297, 433, 436 f., 471 Individuum, Individualismus, individuell 6, 16, 25, 31, 36, 47 f., 61, 75 f., 82, 86, 89 f., 93 f., 96, 98 f., 103 – 106, 158, 165, 219, 293 f., 297, 300, 304, 309 – 311, 328, 334, 364, 381, 383, 459, 463, 486, 492, 498 – 500, 502 f., 506, 509, 514 f., 520, 527 – 529 Information (systemtheoretisch), siehe auch Kommunikation 6 f., 58 f., 273, 279, 281, 295 – 297, 329, 332, 335 – 339, 341, 343 f., 357, 398 f., 416 – 418, 421 f., 424 – 427, 466, 517 Inszenierung XVIII, 41, 148, 154 – 156, 161 f., 166 – 170 f., 175, 197 f., 200, 202, 222 – 226, 230, 239, 445, 474, 476, 480, 485 f., 508, 530 – I. des Evangeliums 133, 148, 162, 197, 199 – 204, 206, 219, 222 f., 225, 239, 279, 287, 345, 355, 374, 422, 429, 442, 444,
451, 453, 455, 458, 466, 471, 476, 478, 480 f., 484 – 486, 488, 533 – Körperi., siehe auch Darstellung, Selbstdarstellung 169, 202, 223 f., 314, 347 – 352, 357 f., 396, 469, 477, 482, 532 Interaktion XIX, 8, 26, 33, 40 f., 48 – 52, 56 f., 61, 66, 76 f., 79, 84, 91, 99, 106, 141, 145 – 147, 201, 220 – 225, 227 – 232, 236, 238 f., 243, 245, 251, 274, 278, 281 – 298, 300 – 306, 309 – 328, 331, 334 f., 338 – 343, 345 – 348, 351 – 360, 362, 369, 372, 374, 378 f., 384 – 388, 393 – 396, 399, 403 – 405, 407 – 409, 412 – 415, 418 f., 421 – 423, 427 – 429, 433 f., 437 f., 442, 447 – 452, 458, 460 – 462, 465, 468 f., 475 – 479, 481 – 485, 487 f., 491, 493, 495 f., 504, 507, 512, 518, 520, 527 f., 530 f., 533, 536, 538, 544 Interpretant, siehe Zeichen Interpretation, interpretieren, siehe auch Deutung 2, 47, 96, 114 – 118, 120, 122 f., 128 f., 151, 153, 155 – 157, 170, 177, 249, 257 – 260, 262, 267 – 271, 276, 302, 329, 334 – 336, 348, 350, 352, 354 f., 360, 364 f., 368 – 372, 374 f., 377, 384 – 387, 390, 403 f., 425, 427 f., 430 – 432, 434 f., 437 f., 460, 474, 483, 493, 501 f., 521, 526, 544 interreligiöser Dialog, siehe Seelsorge, interreligiöse S. Irritation, irritieren 7, 10 f., 25, 66, 83, 211, 226, 232, 239, 253 f., 273, 293, 298, 303 f., 311, 319 f., 324, 330, 336 f., 342, 344, 358 f., 378, 395, 397 – 400, 403, 412, 414 – 419, 421 – 426, 430, 435, 437 – 440, 442, 449, 453, 456, 458 – 462, 464, 477, 482 – 484, 494 f., 508, 513 Kairos, kairologisch, siehe auch Code, kairologischer C. 102, 226, 228, 230, 232, 234, 296, 388, 393, 478, 487 f., 506 f., 533 Kausalität, kausal 70, 72 f., 85, 254 – 256, 260, 310, 380, 391, 418, 420 Kleidung, siehe Code, textiler C.
Sachregister
Kommunikation – ästhetische K., siehe Ästhetik – direkte K. 140, 314, 319, 343 f., 354, 357, 388, 396, 469, 491, 494, 518, 525, 540, 544 – drei Selektionen der K. (Information, Mitteilung, Verstehen) 6 f., 58 f., 160 f., 200, 220, 279, 286, 295 – 297, 314, 321, 339, 343 – 347, 349, 352, 357, 421, 425 f., 466, 524 – face-to-face K. 106, 221, 243, 282, 286 – 291, 295 – 297, 317 – 320, 322 f., 339, 345, 349, 351 f., 357, 382, 495 f., 504 f., 515, 527, 531 f., 535 – geprägte Kommunikationsformen des christlichen Glaubens, christlich codierte Formen XIII, 107 f., 133, 149, 151, 211, 229, 231, 318, 352, 374, 411, 414, 421 f., 427, 429, 435, 437, 443 f., 447, 451 – 453, 455, 461 f., 464 – 466, 468 f., 473 – 475, 478, 482, 485, 488, 492, 511, 533, 543 f. – indirekte K., Subtext 140, 314, 319, 343 f., 346, 357, 388, 396, 469, 482, 494, 519 – Kommunikant (Alter, Ego) 7, 59, 221, 279, 295, 339, 351, 392, 394, 444, 493 f. – K. unter Anwesenden, siehe Interaktion – Kommunikationsumgebung, Kontext der K. 146, 148, 152, 159, 200, 202, 223, 230 – 232, 235 f., 254, 265, 277, 287, 303, 325, 330 f., 334, 337, 344, 349, 353 – 355, 358, 385 f., 393, 396, 398, 410 f., 413 f., 422 f., 427, 429 f., 433, 435, 437, 449, 451, 465, 468, 480, 483 f., 489, 498, 504, 507 – 515, 517, 524 f., 530, 533 – religiöse K., christliche K. XVII f., 8, 16, 33, 51 – 54, 56, 61, 90 f., 99, 106, 108, 111, 124, 147, 167, 201, 230, 265, 277f., 288 f., 292, 295, 306, 321 – 323, 341, 352, 384, 420, 427, 437 f., 443 – 445, 448, 450, 455, 457, 461, 479f., 484 – 486, 489, 511, 515, 523 Kommunikationsmedium 19, 75, 124, 140, 145, 147, 162, 167, 185, 201, 219, 222, 251, 281, 286 –289, 342 – 344, 400 f., 404, 428, 479, 487, 489, 496, 528 f., 533 – Bild 124, 133, 164, 174, 201, 251, 286, 289, 339, 348, 429, 448, 452, 475, 490, 495, 509 – 513, 516 – Buch, Buchdruck 60, 123, 201, 286, 288, 400
587
– Massenmedien 25, 60, 113, 137, 162, 174, 201, 222, 229, 286 – 291, 319, 324, 358, 400 f., 428, 489 f., 493 – 496, 504, 513 f., 516, 528, 531 – Schrift 60, 159, 161 f., 174, 200 f., 222, 227, 251, 281, 286 – 289, 296, 324, 342, 348, 393, 400, 404, 471, 490, 492 – 496, 516, 520, 523, 534 f. – Verbalsprache 72 – 75, 78, 86, 124, 139 – 141, 144 – 147, 158 f., 162, 167, 170, 195, 201, 205, 220, 222 f., 227, 230, 234, 236, 270, 281, 286 – 289, 296, 314, 316 f., 323, 328, 340 – 346, 348 f., 350 f., 355, 358, 366, 386 f., 389, 396, 399 f., 401, 404, 405, 407 f., 428, 438 f., 468 f., 471, 474 – 476, 482 f., 490 – 493, 503 f., 508, 513, 517, 519, 523, 525, 527 – 529, 531 f., 534, 536, 538 – 540, 542 – 544 Kompetenz, seelsorgliche, siehe auch Orthotomie XVI, 218, 278, 292, 411, 427, 443, 446 f., 468, 476 f., 485 f., 488, 492, 505 Komplexität 17, 24 f., 31, 104, 125, 236, 249, 266 f., 273, 310, 341, 345, 363 – 366, 370, 376, 383, 385, 390, 394 f., 397, 401 f., 408, 415, 417, 421, 423, 451, 469, 471, 474, 483, 495 – Reduktion von K., siehe auch Ambiguität, Disambiguierung 21, 72, 83, 250, 256, 267, 273, 281, 291, 294, 359 f., 363, 381, 383 – 385, 390, 393 f., 396 – 402, 404 f., 408, 410, 414, 421, 430, 444, 460, 473, 483, 495 Konflikt 86, 90, 102, 126, 256, 306, 375 f., 441, 454, 462 – 464, 500 Konstruktivismus, konstruktivistisch XIX, 3, 5, 7, 12 f., 25, 34, 37, 39, 41, 48, 57, 61, 65, 68 – 75, 77 f., 81, 83, 85 – 89, 91 – 93, 97, 100, 102, 109 f., 119 f., 170, 199, 226, 237, 241, 243 – 248, 251, 254 – 257, 260 – 262, 267 f., 270 – 272, 274 – 277, 279, 281, 290, 293, 306 f., 326 f., 329, 337, 360, 368 f., 437, 459, 463, 480 f. Kontingenz, kontingent 6, 17, 46, 80, 120, 122, 157, 199, 207, 249 – 251, 254 – 256, 259, 261, 270 – 274, 295, 336, 338 f., 350 f., 358, 360, 363, 368 f., 371, 377,
588
Sachregister
381 – 385, 387, 392 – 394, 412, 422, 425, 430 f., 437 f., 443, 472 f., 482 f., 487 – doppelte K. 24, 291, 351, 392, 421 Konvention, konventionell, Konsens 72 f., 78, 108, 119, 136 f., 149, 159, 165, 172, 176, 262, 265, 270, 274 f., 334 f., 337, 339, 366, 378, 386, 392 f., 395, 401 f., 406, 409, 426, 431, 441 f., 452, 461, 464, 470 f., 473, 484 f., 497, 521 f., 524, 526 Kopräsenz 52, 79, 285, 290 f., 313, 315 f., 319 f., 221, 223 f., 234, 288, 315 f., 319, 357 f., 477, 482, 490, 493, 504, 527, 530 f., 536 Körper, körperlich 86, 143, 147, 170, 305, 307 f., 314 f., 347 – 352, 357, 392, 474, 477, 499, 516 – 521, 524 – 531 – Körperdarstellung, siehe Darstellung, Selbstdarstellung – Körpergestalt 348, 399, 482, 517, 519 – 521, 524, 536 – Körpergestaltung 348 – 350, 482, 517, 520, 536 – Körperverhalten (Körperbewegung, Körperhaltung, Körperkontakt, Körpersprache) 139 – 141, 162, 198, 201, 205, 314 – 316, 319, 343, 347 – 352, 355, 358, 395, 440, 475, 477, 482, 517, 524 – 531, 536, 542 – 544 Krankheit XIV, 66, 68, 73, 75, 79, 84, 91, 182, 283, 291, 305 – 308, 380, 411 f., 444 f., 447, 491, 493, 500, 511, 514 f., 519, 529 kulturelle Einheit, semantische Einheit 119, 262 f., 265 f., 365 f., 370, 373, 386 f., 400 – 402, 407, 424, 431, 468 Kybernetik 1. Ordnung 2, 34, 37, 39, 62, 67 – 70, 88, 419 Kybernetik 2. Ordnung 3, 34, 37, 39, 62, 67, 69 f., 97, 247 Lebensgeschichte 94, 110 f., 170, 206 f., 272, 307, 323, 379 f., 382 – 384, 391, 460, 483, 503, 509, 519 Leib, leiblich, siehe auch Form 143 f., 162, 169 f., 197 f., 201, 219, 223, 227, 289, 307, 310, 320, 325, 345, 348 f., 352, 356, 358, 386, 451 – 454, 469, 474, 479, 483,
487, 489, 502, 516 – 519, 524, 529, 532 f., 536, 539 Lied, siehe Code, musikalischer C. Mensch 5 f., 16, 33, 39, 43 f., 49, 53, 55, 63, 72, 76 f., 83, 88, 96 f., 99, 101, 104 – 107, 144, 146, 167, 185, 192, 199, 202 – 210, 216, 219 f., 235, 280, 282, 291, 293, 298, 309 – 311, 313 – 316, 320, 328, 330, 348 f., 373, 377, 379, 383, 392, 417, 426, 434, 453 f., 460, 473, 481, 500 – 502, 507, 512, 516 – 519, 526 f., 529 f., 532, 535 f. – antihumanistisch, antisubjektiv 5 f., 65, 104, 215, 249, 280, 309 Mimik 133, 145, 345, 348 f., 351, 475 f., 491, 526, 536 Mitteilung (systemtheoretisch), siehe auch Kommunikation 6 f., 58 f., 200, 279, 281, 295 – 297, 314, 339, 343 – 347, 349, 352, 421, 466, 517, 524 Möglichkeit 7, 52, 73, 78 – 81, 89, 99, 108, 120, 146, 149, 170, 202 – 204, 206, 248 f., 253, 266, 270, 274 f., 277, 280 f., 289, 305, 317, 336, 358 – 363, 368 – 376, 384 f., 388 – 390, 393, 395, 398, 401 – 403, 412, 414, 416, 420 – 422, 424 – 427, 430 – 432, 435, 437 – 439, 442 f., 452, 459 f., 483 f., 489, 502, 512, 533, 540, 543 – Möglichkeitsraum, Möglichkeitshorizont 73, 85, 100, 248, 273, 275, 341, 359, 360 f., 363 f., 371 f., 376, 379, 381 – 385, 387, 392 – 394, 397, 415 – 418, 420 f., 426 – 428, 430, 432, 435, 438, 442, 444, 451, 460, 478, 483 f., 489, 533 Musik, siehe Code, musikalischer C. Nähe und Distanz, siehe Code, proxemischer C. Name, „in meinem N.“, siehe coram Deo, coram Christo Ontologie, ontologisch, ontisch, seinsförmig, alteuropäisch 2, 7, 12 f., 21, 34, 39, 69, 58, 73 f., 81, 110, 115, 118 f., 120, 127, 131, 136, 142, 148, 163, 170, 200 f.,
Sachregister
244 – 246, 249, 252, 254 – 257, 260, 262 – 267, 270, 272 f., 276, 279, 281, 309 – 311, 328, 350, 354 f., 361, 364, 369, 380, 389 f., 439 – postontologisch, deontologisch 13 f., 120, 244, 248 f., 261, 265 operative, operationale Geschlossenheit 6, 11, 65, 70, 81, 83, 94, 246, 251 – 255, 263 f., 271, 293, 298 – 300, 304, 311 f., 328, 362, 396, 398, 415, 417, 421 Ort, seelsorglicher XVIII, 102, 144, 195 – 198, 202, 218 – 221, 223, 225 f., 228 f., 232, 234, 237 – 239, 279 f., 282, 293, 307, 326, 355, 358 f., 369, 388, 391 – 393, 396, 409 f., 442, 481, 487 f., 507 – 510, 512, 516, 530, 536 Orthotomie, orthotomisch 306, 427, 429, 441, 465, 468, 478, 488, 510, 541 Paradigma XIVf., 280 – ästhetisches P. XIII, 61, 111, 152 f., 172, 196, 202, 219, 325 f., 428, 437 – Paradigmawechsel 12, 22, 36 f., 61, 67, 85, 88, 93, 98, 106, 108, 113, 126, 152, 172, 283, 310 – therapeutisches, empirisches P. XIII–XVI., 39, 61, 89, 91, 106, 108, 111, 176, 447, 479 Partitur 133, 138 f., 141, 145, 230, 233, 236, 347, 355, 386 – 388, 393, 428, 433, 452, 469, 477, 479, 482, 488, 490, 512, 533, 535 Performanz, performativ 47, 50, 133, 144, 146, 148, 160 f., 167 – 171, 177, 197 – 202, 219 f., 222, 224 – 229, 232, 237 – 239, 243, 259, 262, 276, 289, 311 f., 323, 325 f., 357, 359, 361, 370, 373 – 375, 385, 387, 391, 401, 414, 429, 465, 472 – 474, 479 – 481, 487 f., 533 – faktische P. 224, 232, 236 f., 243, 282, 293, 297, 348, 351, 353, 355, 359, 413, 429, 479, 481, 518 – P. des Evangeliums, siehe auch Evangelium, Vergegenwärtigung des E., siehe auch Inszenierung, I. des Evangeliums 150, 196 f., 200 – 203, 206, 219 f., 225, 234, 239, 289, 332, 345, 355, 442, 468, 476, 480 f.
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– taktische P. 224, 226, 228, 233, 236, 297, 338, 345, 351, 354 f., 408, 413, 429, 441, 444, 451 f., 467, 476 – 479, 484 f., 512, 532 Person XIII, XVIIf., 7 f., 18, 42, 47, 66, 73, 79, 83, 90, 100, 102, 146, 151, 164, 172 f., 175 f., 188, 194, 198, 207, 209, 213 – 220, 224, 226 – 228, 262, 265, 283, 290 – 292, 294, 300, 309, 313 – 315, 317, 320, 322, 325, 341, 378 f., 388 f., 391 – 395, 398, 405, 409 f., 436, 439, 447, 449, 467, 486 – 488, 495, 504, 511, 517, 521 – 523, 544 Perspektivenwechsel, siehe auch Bruch 110, 176, 457, 460, 465, 468 f., 476, 484 Präsenz 148, 175, 198, 479, 486 – homiletische P. 166, 292, 485 f. – liturgische P. 148, 292, 469, 485 f. – religionspädagogische P. 292, 485 – seelsorgliche P. XIX, 148, 198, 232, 292, 478 f., 485 f., 488, 533 Profession, professionell XVI, 33, 84, 91, 97, 102, 146, 175, 217 f., 221, 231, 284, 291 f., 395, 410, 413, 443, 446 f., 468, 477 f., 516, 525, 532 – professio 217, 447, 478 Raum, siehe auch Form 133, 138, 141, 144 – 146, 162, 169 f., 218, 220 f., 223, 226 f., 232, 234, 236, 239, 243, 278, 313, 316 f., 323 – 325, 345, 349, 352 – 359, 386, 410, 436, 449, 451, 477 – 479, 483, 487, 489, 494, 496, 503, 507 – 512, 514, 516, 521 f., 524 – 527, 530, 532 f., 536 Referent, anti-referentiell XI, 80, 119 f., 122, 142 f., 200, 244, 261 f., 265, 267 f., 275 f., 337, 400, 441 Reframing 80, 87, 95, 107, 110, 409, 414, 430, 432, 441 f., 457, 459, 462, 484 Rezipient, rezipieren XVIII, 59, 79, 115, 148, 153 – 156, 159, 161, 163 f., 167 f., 172, 175, 198, 200, 229, 261, 269, 277 f., 355, 384, 387, 402, 408 f., 413, 417, 422, 430 f., 435, 452, 461, 466, 474, 485, 493 f., 513, 516, 521, 539 Rhizom 362, 366 – 369, 371 – 373, 376, 383, 387, 422, 424, 431 f., 437 – 439, 483
590
Sachregister
Ritual, Ritus, rituell XIV, 52, 60, 75, 100, 146, 149 – 151, 211, 283, 294, 380, 401, 411, 462, 469 – 476, 485, 488, 492, 511, 542 Rolle 48, 86, 100, 146, 175, 198, 215, 217 f., 220, 224, 320, 324, 349 f., 354, 356, 405, 409, 451, 486 f., 517 f., 520 f., 532, 538, 544 Salbung, salben 462, 475, 477, 488, 514, 520, 529 Seelsorge – Alltagss. 102, 146, 175, 221, 410, 450, 490, 500, 504, 506 – Altenheims. 179, 345, 379, 411, 492, 494, 508, 511, 520, 531 – beratende S., siehe therapeutische S. 102, 212, 380 – Blindens. 305, 515, 528 – Briefs. 194, 203, 222, 287, 308, 428, 493, 503, 531 – Chats. 221, 319, 357, 494, 495, 504, 507, 531 – consolatorische S. 179, 209, 211 – 213 – Gefängnis. 175, 379, 410, 450, 511 – Gehörlosens. 345, 515, 525 – Hospizs., siehe auch S. mit Sterbenden 288, 411, 447, 449 f., 502, 504, 506, 511, 514, 524, 528, 534 – 544 – interkulturelle S. 101, 180, 346, 378, 445, 483, 491, 497, 515, 521, 529 – Internets. 179, 222, 291, 493 – 496, 505, 516, 525, 531 – interreligiöse S. 180, 378 f., 445, 483, 497 f., 500 – Kasuals. 78, 85, 87, 96, 98, 179, 320, 359, 380, 382, 387, 410 f., 442, 450, 476, 491 f., 498 – 501, 504, 506 f., 510, 512, 519, 522, 524, 530, 535, 545 – kerygmatische S. XIII, 87, 109, 161, 195, 208, 380, 455, 457, 465 – Krankenhauss. 76, 85, 88, 205, 228, 305 – 308, 313, 316, 340, 345, 349, 354, 356, 373, 379, 395, 410, 432, 436, 445, 450, 462, 477, 490, 506 – 508, 510 f., 514, 519 – 525, 528 f.
– Krankens., siehe auch Krankheit 305, 307 f., 384, 445, 477, 527 – 529, 532 – Kurzzeits.. 76, 78, 98, 101 f., 146, 180, 226, 231, 317 f., 349 f., 355, 388, 410, 440, 454, 487, 504, 506, 517 – Laiens., siehe mutuale S. – Luthers S. 189, 192 – 194, 203 – 205, 207 f., 211, 222, 308 – Mails. 222, 287 f., 428, 494 f., 503, 531 – Militärs. 410, 436 – monastische S. 190 – 193 – muslimische S. 379 – mutuale S. 179, 192, 194 f., 203, 213, 215 – 219, 234, 239, 342, 351, 412, 445, 447, 481 – Notfalls. 180, 228, 309, 355, 359, 379, 385, 387, 410 f., 414, 436, 458, 475, 477, 488, 490 f., 496, 500, 503, 506 f., 510 – 512., 514, 521, 523, 531 – parakletische S., siehe consolatorische S. – peripatetische S. 508, 530 – Proprium der S. XIIf., 89 – 92, 94, 101 f., 106 f., 108, 180, 208 – 210, 231, 321, 412, 444, 437, 451, 455, 480 – 482, 484, 487, 504 – psychoanalytische S., siehe therapeutische S. – säkulare S. 216 – Schaustellers. 410, 490 – Schuls. 24, 28, 45 f., 62, 179, 508, 524 – Seelsorgeausbildung 345, 412, 446 – Seelsorgebewegung XIIIf., 88, 98 f., 106, 111, 212 f., 220, 412, 453 – S. mit alten Menschen 305, 307, 492, 499 – S. mit Demenzkranken 361, 411, 429, 491, 492, 503, 528, 531 – S. mit Gelähmten 345 f., 525 – S. mit Kindern und Jugendlichen 180, 450, 495, 508, 531 – S. mit Komapatienten 180, 346 – S. mit Sterbenden 302, 411, 445, 492, 500 – 502, 504, 527 – 529, 532, 535, 540 – S. mit Suchtkranken 411, 528 – systemische S. XVIII, 3, 26 – 28, 38, 45 f., 63 f., 75, 77 f., 86 – 111, 161, 176, 178, 209, 213 f., 229, 238, 240, 244, 254, 266, 293, 307, 309, 311, 317, 320, 324, 349, 353, 376,
Sachregister
378 f., 395, 438, 457, 459, 462 f., 467, 477, 479 f., 530, 535, 537, 540 – Telefons. 221, 288, 319 f. 357, 379, 490, 493 – 495, 505, 531 – therapeutische S., siehe auch Paradigma, therapeutisches P. 28, 86 – 88, 90 – 92, 95, 97 – 99, 102, 104 – 108, 110, 176, 195 f., 208 f., 212 f., 217, 237, 280 f., 302, 304, 316 f., 380, 444 f., 463, 505, 540 – Trauers., siehe Kasuals. – Urlaubss. 499 – Wohnungslosens. 394, 410, 450, 477, 491, 520 – 522 Segen, segnen XIII, 149, 161, 200, 229, 231, 318, 324, 345, 352, 374, 411, 429, 442, 444 f., 452, 461 f., 465, 470, 475 f., 485, 487 f., 492 f., 518, 525, 528, 541 – 543 Selbstreferenz, selbstreferentiell 13 f., 21 f., 24, 36, 42 f., 61, 65, 70 f., 90, 94, 249, 252 – 254, 264, 267, 283, 314, 361 f., 401, 420 Selektion, selektiv 200, 256, 336, 338, 351, 362 f., 370 – 372, 381 – 383, 385 f., 397 f., 400, 402, 417, 421, 482, 503 – Selektionsmuster 363, 385, 400 f., 403, 414, 416, 431, 460, 483 Semiose, semiosisch, Regress 2, 59, 79, 111, 118 – 120, 128 f., 132, 138 – 140, 142, 145, 151, 158 f., 160, 162, 164 f., 170 – 172, 174 – 176, 200, 225, 230, 250 f., 259 f., 263 f., 268 – 270, 273 f., 277, 281, 311 f., 330 f., 335 – 338, 345, 347, 355, 357, 364 f., 369, 372, 374 f., 377, 385, 389, 403, 407, 426 f., 430 – 432, 434 f., 437 f., 452, 460, 465, 468, 477, 482, 486, 509 Setting 66, 68, 74, 85, 221 – 223, 226 f., 230 – 232, 234, 236, 386, 413, 450 f., 488 f., 505, 507 f., 510, 512, 533 Signifikant, siehe Zeichen Signifikat, siehe Zeichen Signifikation 141, 156, 185, 251, 263, 265, 385, 389, 392, 407 f., 423, 429, 467 f., 478 Sinn, sinnhaft (systemtheoretisch) 6 f., 10, 18, 21, 24 f., 30 – 32, 38, 82 f., 198, 200, 226, 232, 237, 253, 273, 300, 311, 336,
591
345, 359 – 364, 369 – 374, 377, 379, 385, 386 – 388, 390 – 397, 399, 401 – 405, 407, 412, 416, 420 – 422, 431, 433, 468, 474 f., 478, 483, 485, 489, 496 – enzyklopädischer S. 372 f., 376 f., 385, 387, 393, 398, 401, 420 f., 460, 483 – Sinndimension (Sachdimension, Sozialdimension, Zeitdimension) 387 – 396, 409, 423, 449, 452, 462, 483, 485 – Sinngeschehen, Sinnspiel 362 f., 370, 373 f., 386 – 388, 391, 393 – 396, 404, 407 – 409, 414, 421 – 423, 427 – 429, 433, 435 – 437, 444, 449, 451, 478, 484 f., 505, 533 – Sinnlinie, siehe auch Deutung, Deutungspfad 359, 373, 376, 385, 387, 393, 395 – 398, 401, 404 f., 407, 420 – 423, 430, 460, 483, 533 Solipsismus, solipsistisch 72, 120, 268, 271 Struktur 67, 78, 90, 114 – 116, 124, 126, 131, 135 f., 163, 171, 187, 195, 227, 231, 253, 266 f., 293, 297 f., 304, 310, 316 f., 320, 361, 366 – 369, 375, 397 f., 405, 415 – 418, 421 – 423, 425 f., 432, 436, 438, 461, 475, 492, 505 Strukturalismus, strukturalistisch 2, 114 f., 117, 122 – 124, 134, 136, 138, 150, 158, 163, 260, 266 f. strukturelle Kopplung 6, 66, 83, 104, 206, 226, 253, 292, 298 – 300, 303 – 305, 309, 311 – 314, 324, 327, 329, 357, 373, 387, 396 – 400, 408, 414 f., 417 – 419, 422 f., 430, 477, 482 Subjekt, subjektiv XV, 13 f., 16, 21 f., 25, 33, 39, 42, 44, 49, 53, 61, 66, 99, 105, 120, 126 f., 158 f., 175, 188, 202 – 207, 209, 226, 249, 260, 265 f., 272, 276, 280, 293, 299 f., 309, 314, 331 – 334, 378, 393, 426, 467 f. systemisch – s. Praxis 29, 74, 92 – 95, 99, 101, 104, 106, 245 – s. Therapie, systemtherapeutisch XIV, 10 f., 27, 63 – 78, 81 – 86, 88 – 106, 108 – 110, 112, 132, 170, 193 f., 206, 214, 226, 238, 244, 253 f., 256 f., 266, 274, 280, 284, 293, 302, 306, 308, 311, 317, 320, 324,
592
Sachregister
341, 360, 376, 400, 415, 419, 438 f., 455, 457, 462 f., 479, 483 f., 510, 512 – s. Denken XIX, 2 f., 26 – 29, 34, 36 f., 39, 55, 63, 65, 70 – 73, 78, 83, 86 f., 89, 92 f., 102 f., 132, 171, 176, 179, 244, 257, 392 f., 341 f., 425, 459, 463 – systemtherapeutische Methodik 65, 68, 70, 74, 78 – 80, 82, 85, 87, 90, 95, 98, 102 f., 105 – 107, 110, 170, 194, 244, 256, 308, 320, 324, 341, 389, 409, 421, 430, 438 f., 441, 455, 457, 463, 484, 530 System – biologisches S. 5 f., 76 f., 83 f., 252, 301, 304 – 306, 326 – 328, 350 – Differenz von System und Umwelt 24 f., 55, 77, 252 f., 255, 271, 293, 295, 297 f., 310 f. – gesellschaftliches Funktionssystem, siehe funktional differenzierte Gesellschaft – psychisches S., siehe auch Bewusstsein 5 f., 58, 66, 76 f., 83, 90, 104, 206, 248, 252, 287, 299 – 305, 303, 310, 326 f., 330, 335 f., 350, 357, 361, 363, 373 f., 389, 395 f., 397 – 399, 403, 407 f., 419 f., 423 f., 486, 524, 539 – Religionssystem 8, 15 – 19, 21, 25, 33, 45 f., 48 f., 51, 54, 56, 106, 200, 215, 277, 321, 395, 408, 420, 434, 437, 443 f., 447, 449, 452, 454, 462, 478 – soziales S. 4 – 8, 28, 35 – 38, 42 f., 45, 48, 55, 57, 66, 71, 74 – 77, 79, 81 – 84, 100, 141, 147, 206, 248, 252, 280, 284 f., 287, 292 f., 297 – 305, 310, 315, 320, 324, 326 f., 336, 346 f., 356 f., 361, 363, 373 f., 389, 396 – 399, 408, 419 f., 482 – Systembegriff 39, 76 – 78, 84, 93, 253, 285, 298, 309 – 311 Telefon(gespräch) 221, 288, 319, 336, 356 – 358, 490, 495 f., 505, 514 f., 528, 532 Therapie, siehe auch Beratung XVI, 88, 92, 95, 102, 104, 106 f., 207, 209 f., 216, 230 f., 267, 283, 446 f., 454, 461 f., 481, 484, 510 Trost, consolatio XIX, 179, 183, 185 – 196, 199, 202 – 220, 222, 232, 234, 239, 244, 254, 278, 306, 308 f., 321, 332, 362,
379, 391, 408, 411, 413, 419, 445 f., 453, 466, 474, 480 f., 502, 519, 529, 532, 542 – 544 – Trostgemeinschaft, siehe ekklesiologische Dimension von Poimenik Verbatim, Seelsorgeprotokoll XIX, 251, 345, 382, 534 – 544 Verstehen (systemtheoretisch), siehe auch Kommunikation 6 f., 58 f., 161, 200, 279, 286, 295 – 297, 314, 321, 343, 343 – 347, 349 f., 352, 413, 425 f., 466, 524 Verstören, siehe auch Bruch, Irritation, Perspektivenwechsel, Reframing 11, 70, 79 f., 92, 100, 107 f., 194, 229, 254, 421 f., 427, 433, 438, 441 f., 462, 484, 500 vertikal differenzierte Gesellschaft 8, 56, 61, 284, 448 Wahrheit, wahr 117 – 120, 142, 144, 165, 172, 199, 201 – 203, 207, 244 f., 254 f., 258, 260 f., 264 f., 270 f., 274 – 278, 332, 337 f., 368 f., 402, 420, 431, 459, 481 f. Wahrnehmung XIII, XVIII, 2, 49, 57, 117, 119, 139, 141, 146 f., 157, 197, 199, 226, 234 – 236, 238, 248, 259, 280, 287 f., 291 – 293, 299 – 304, 311 f., 319, 324 – 347, 350 – 352, 356 f., 359, 361, 363, 373 f., 387 f., 396, 398 f., 401, 403 – 406, 408, 414 – 416, 419, 421 f., 432, 440, 482, 489, 491, 494, 496, 498, 503, 510 f., 513 – 517, 519 f., 526, 534 – reflexive W., wechselseitige W., mutuale Beobachtung 8, 57, 79, 106, 147, 220, 224, 229, 243, 282, 285 – 288, 292 f., 304, 314, 316, 325, 339 – 341, 346 – 348, 352 f., 356 – 358, 422, 482, 493, 517, 532 – Wahrnehmungsinstanz, siehe auch Deutung, Deutungsinstanz 338, 482, 512, 514 – Wahrnehmungsmuster, Wahrnehmungsschema 37, 108, 332, 336 f., 355, 406, 458, 460, 464 – Wahrnehmungsraum, Wahrnehmungsbühne 223, 234, 237, 240, 243, 282, 304, 311 – 313, 325, 339, 347 f., 352, 355 – 359,
Sachregister
386 f., 407, 414, 469, 477, 481 f., 486, 488, 527 – Wahrnehmungswissenschaft, siehe auch Paradigma, ästhetisches P. XIII, 62, 112, 166, 325 Welt, Vorfindliches, Kontinuum des Inhalts 6 f. 13, 16 f., 19, 24, 69, 73, 114, 122, 129, 169, 201, 203, 226, 245, 247, 249 f., 252 – 264, 266, 268, 270 – 274, 277 – 281, 290, 324, 328 – 330, 335 – 338, 360, 362, 369 – 371, 375, 377, 379, 398, 400, 405, 422, 426, 431, 434, 436, 443, 458 f., 461, 464, 473, 482 f. Wirklichkeit, Realität, siehe auch Konstruktivismus 3, 34, 46, 58, 69 f., 72 f., 78 – 80, 85 – 87, 91 f., 95 f., 108, 110, 116 – 118, 120, 122, 126, 129, 131, 150, 159, 161, 166 f., 168, 170, 198, 201, 203, 206 f., 226, 243 – 245, 247, 249, 252 – 254, 257, 259 f., 263 – 267, 269 – 274, 277 – 280, 282, 290, 294, 297, 302, 304, 308, 311 f., 314 f., 322, 328 f., 337 f., 341, 352, 358 – 360, 371 – 376, 378 f., 381 f., 385, 390, 395 f., 400 f., 404, 413 f., 417, 420 – 423, 425 f., 429, 432, 435, 437, 439, 443 f., 447, 451, 458 – 461, 464, 468, 473 f., 476 – 478, 481 – 483, 486, 488 f., 503, 515, 530 f., 533 – Umbildung von Wirklichkeit, siehe auch Bruch 91, 243, 359, 409, 414 f., 422, 425, 430 f., 436, 442 f., 451, 458 f., 461 f., 464, 478, 483 f., 489 Witz, siehe Humor
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Zeichen – dreistelliger, triadischer Zeichenbegriff, semiotisches Dreieck 2, 59, 117 f., 122, 126 f., 143, 151, 154, 158, 161, 164, 166, 241, 257 – 262, 279, 354, 467 f. – Zeichenfunktion – Interpretant 2, 59, 80, 117 f., 120, 122 f., 126 f., 142 f., 154, 248, 251, 257 – 259, 263 f., 279, 331, 333, 357, 364 f., 369, 435, 437, 441, 460 – Signifikant XI, 117 – 119, 139, 142 f., 148, 157, 174 f., 185, 187, 195, 251, 257, 261 f., 292, 311, 315, 335, 345, 349, 354, 358, 364, 385, 400, 407, 409, 420, 427 – 429, 433 – 435, 526, 539 – Signifikat XI, 117 – 119, 139, 142 f., 148, 175, 187, 195, 251, 257, 261 – 263, 265, 366, 409, 420, 427 f., 434 f., 526, 539 – zweistelliger, dyadischer Zeichenbegriff 2, 15 f., 117, 126 f., 129, 150, 161, 241, 257 f., 274, 277, 354, 468 – Zeichenprozess, siehe Semiose Zeit, siehe auch Form, siehe auch Sinn, Sinndimension 76, 102, 144, 146, 162, 170, 218 – 220, 223, 226, 228, 230, 232, 234, 239, 243, 248, 251, 278, 287, 296, 317, 323 f., 352, 359, 373 f., 388, 390 – 393, 409 f., 434, 438, 461, 469, 471, 473, 478 f., 487 – 489, 493, 496 – 507, 517, 533, 535, 540, 542 Zwei-Seiten-Form 17, 30, 50, 66, 85, 216, 248, 250, 294, 298, 309, 323, 360, 363, 370 f., 374, 381, 391, 397, 417, 421, 434, 443, 446