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German Pages [225] Year 2021
Ute Guzzoni
Wollen wir noch Subjekte sein? Unterwegs zu einem bildhaften Denken
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495824092
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Ute Guzzoni Wollen wir noch Subjekte sein?
VERLAG KARL ALBER
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Ute Guzzoni
Wollen wir noch Subjekte sein? Unterwegs zu einem bildhaften Denken
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Ute Guzzoni Do we still want to be subjects? On the way to a pictorial thinking In very different ways this book is about practicing a different view of human existence in the world, of belonging together with or into world events. The train of thought leads from the implicit and explicit criticism of the subject via the experience of otherness and diversity to the question of a thinking that no longer depends on universal concepts. Such thinking attempts to evoke and make plausible certain insights that we, living together in the world, have always had.
The author: Ute Guzzoni taught as professor of philosophy at the Albert Ludwig University of Freiburg. Numerous publications, most recently with Alber: Im Raum der Gelassenheit: die Innigkeit der Gegensätze (2014), Weile und Weite (2017) and Von »Fall« zu »Fall« (2019).
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Ute Guzzoni Wollen wir noch Subjekte sein? Unterwegs zu einem bildhaften Denken In jeweils sehr unterschiedlicher Weise geht es um das Einüben in einen anderen Blick auf das menschliche Sein in der Welt, auf das Zusammengehören mit dem bzw. das Hineingehören in das Weltgeschehen. Der Gedankengang führt von der impliziten und expliziten Subjekt-Kritik über die Erfahrung von Anderssein und Vielfalt zu der Frage nach einem sich demgemäß nahelegenden, nicht mehr allgemein-begrifflichen Denken. Ein solches Denken versucht Einsichten wachzurufen und plausibel zu machen, die wir als miteinander in der Welt Lebende immer schon haben.
Die Autorin: Ute Guzzoni lehrte als Professorin für Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt bei Alber: Im Raum der Gelassenheit: die Innigkeit der Gegensätze (2014), Weile und Weite (2017) und Von »Fall« zu »Fall« (2019).
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49160-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82409-2
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Inhaltsverzeichnis
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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»Es ist, wie es ist.« Überlegungen zu Zufall, Sinn, Gelassenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zwischenstück I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wollen wir noch Subjekte sein? . . . . . . . . . . . . .
48
Zwischenstück II . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Vernunft – andere Vernunft – Anderes der Vernunft? .
70
Zwischenstück III . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
Zur Konfrontation von aktiv und passiv . . . . . . . . .
92
Zwischenstück IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Die Frage nach dem Anderen . . . . . . . . . . . . . . 113 Zwischenstück V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 »Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt …« Subjekt/Objekt oder Mensch/Ding? . . . . 135 Zwischenstück VI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Das Denken und seine Bilder . . . . . . . . . . . . . . 158 Zwischenstück VII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
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Inhaltsverzeichnis
Beispiele bildhaften Denkens . . . . . . . . . . . . . . 178 Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Zwischenstück VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Nichthaftigkeit
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Zwischenstück IX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Wohnen in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
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Einführung
In vielfacher Beziehung leben wir in einer Zeit, die in besonderer Weise als Zeit der ungewissen Schwelle zwischen Vergangenheit und Zukunft, als ein Raum der Unsicherheit erfahren wird. 1 Das gilt nicht nur für das Selbstverständnis der Einzelnen. Die Vergangenheit ist präsent als Geschichtserfahrung, wir sind uns unserer kulturellen und nationalen Herkunft bewußt und sicher. Die Zukunft bleibt unbestimmt und ungewiß, wir wissen nicht, wie es weitergeht. Zwischen diesen beiden befinden wir uns in einer Gegenwart, die ausdrücklich als Zwischen oder Schwelle erfahren wird. Die Rätselhaftigkeit der Zukunft färbt und prägt unsere Gegenwart. Wir wissen nicht, wo wir stehen, wer wir sind. »Wir« – das meint bei dieser Kennzeichnung die Menschen des alten Abendlandes. 2 Gerade die Menschen also, die sich in ihrer zur Gegenwart führenden Geschichte ein immer ausdrücklicheres und differenzierteres begriffliches Verständnis ihrer selbst und ihres Seins auf dieser Welt erarbeitet haWährend der Vorbereitung des Buches hält das neuartige Corona-Virus den ganzen Erdball in Atem. Überall hören wir, daß danach nichts mehr sein wird wie vorher. Die Unsicherheit – hinsichtlich der Herkunft, des gegenwärtigen Status und des zukünftigen Verlaufs der Epidemie sowie unseres privaten wie gesellschaftlichen Betroffenseins – hat globale Ausmaße erreicht. 2 Nicht die afrikanischen Länder, nicht die arabischen Länder, vielleicht die weiße Bevölkerung Australiens und der USA sowie Mittel- und Südamerikas, nicht Ostasien. 1
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Einführung
ben. Apollons Aufforderung »Erkenne dich selbst« 3 steht über der gesamten nachfolgenden westlichen Geschichte von Philosophie und Wissenschaften. Sie läßt sich bis heute als eines von deren Spezifika gegenüber dem sogenannten primitiven wie etwa auch gegenüber dem ostasiatischen Denken fassen. Im »Erkenne dich selbst« liegt ein grundsätzliches Getrenntsein des menschlichen Selbst gegenüber allem anderen Seienden. Es ist die Voraussetzung dafür, daß der Einzelne sich auf sich selbst besinnt und versucht, sich selbst auf den Grund zu gehen, wie es umgekehrt auch der Selbstbesinnung bedarf, um das Begegnende erkennen und mit ihm umgehen zu können. Dieses grundsätzliche Verständnis hat sich auch unter den Vorzeichen der Gotteskindschaft oder der Aufklärung nicht geändert, wenn es sich auch durch die letztere in der Neuzeit, in der Moderne und Postmoderne erheblich verschärft hat. Neben dem archaischen »Erkenne dich selbst« steht als eine weitere übermächtige Aufforderung das alttestamentarische »Macht euch die Erde untertan«. Beide greifen ineinander. Der Mensch befindet sich vor einer ihm gegenüberstehenden Welt, die ihm begegnet und die er zu bewältigen hat. Er ist das Subjekt, dem eine Welt des Objektiven bzw. der Objekte gegenübersteht. Um sich zu behaupten, sieht sich der (westliche) Mensch dazu herausgefordert, etwas aus der ihn bedrängenden Natur zu machen, sie in den Griff zu bekommen, indem er sie begreift und bearbeitet, 4 wie er
Inschrift am Apollon-Tempel in Delphi. Schließlich führt diese Einstellung zu einem Verständnis des Verhältnisses von Subjekt und Objekt, dem gemäß das Subjekt das ganze gegenwärtige Erdzeitalter als »Anthropozän«, als grundsätzlich vom Menschen geprägt ansieht.
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Einführung
sich zugleich in immer erneuten Anstrengungen seiner selbst vergewissern muß. Es ist diese, insbesondere in der und seit der Neuzeit näher entwickelte Bedeutung des Subjekts – als des Selbst, das einer zu denkenden und zu bearbeitenden Objektwelt gegenübersteht –, die in meinen folgenden Überlegungen zur Diskussion steht. Ich will dies gleich zu Anfang betonen, weil es erstaunlich ist, wie viele unterschiedliche und meist nicht gegeneinander abgegrenzte Bedeutungen des Begriffs »Subjekt« es heute gibt. 5 Das hängt z. T. an seiner eigentümlichen Geschichte. Das lateinische subiectum – wörtlich (u. a.) das Darunterliegende, Zugrundeliegende – ist zuerst Boethius’ Übersetzung für das griechische hypokeimenon, das Zugrundeliegende. Von diesem wird alles andere ausgesagt, es selbst aber von keinem. Bei Aristoteles ist es einerseits die unbestimmte, bestimmtwerdende Materie, andererseits die bestimmende Gestalt des Seienden. Erst da, wo im Beginn der Neuzeit das denkende Ich zum Formenden und Bestimmenden des materiell Gegebenen wird, geht der Begriff des Zugrundeliegenden auf das Denkende über und erhält einen wesentlich tätigen Charakter. Erst da wird auf der anderen Seite das bestimmtwerdende Zugrundeliegende zum Objekt. Das Subjekt wird auf das Ich eingeschränkt, sein Sinn wandelt sich grundlegend. Es ist nicht mehr das Zugrundeliegende von allem, wird also nicht mehr von allem bestimmt, sondern bestimmt selbst alles. 6
Vgl. Innokentij Kreknin und Chantal Marquardt, Einleitung: Subjekthaftigkeit, Digitalität, Fiktion und Alltagswirklichkeit. 6 Damit nimmt es lediglich eines der Charakteristika des hypokeimenon auf und entwickelt es weiter. 5
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Einführung
Das deutsche »Subjekt« meint in der Folge – und zwar in der philosophischen wie in der alltäglichen Sprache – allein das bestimmende Ich, dem alles andere, nichtsubjektive Seiende als Objekt gegenübersteht. In den anderen europäischen Sprachen hat sich dagegen vorwiegend – z. B. im englischen subject und französischen sujet, im italienischen soggetto – die andere Bedeutung des subiectum erhalten, nach der es das Zugrundeliegende, Unterworfene ist. Das in der deutschen Geistesgeschichte in der sogenannten erkenntnistheoretischen Fragestellung zum fast wichtigsten Thema gewordene »Ich-Subjekt« findet nur von daher zusätzlichen Eingang in die anderen Sprachen. 7 Insbesondere bei Kant und im Deutschen Idealismus ist das Subjekt dasjenige, dessen allgemeinem Erkenntnisvermögen sich – auf jeweils sehr unterschiedliche und unterschiedlich radikale Weise – letztlich die Konstitution des Objekts bzw. der Objektivität verdankt. Kierkegaard, Feuerbach und andere besinnen sich demgegenüber auf das empirische, je eigene Ich, also ein dezidiert endliches Subjekt; damit zeichnet sich der Übergang ab für die vielfältigen Versuche im 20. Jahrhundert, das Bestimmt- oder Mitbestimmtwerden des Subjekts durch die Sprache, in die es hineinwächst, und die Welt, die es umgibt, aufzuzeigen. Die Philosophie erhält dadurch eine deutliche Wendung zur Sprachphilosophie einerseits und zur Soziologie andererseits. Der Mensch ist ihnen weitgehend kein Subjekt im strengen, erkenntnistheoretischen und ontologischen Sinne mehr.
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Alltagssprachlich bedeutet dort »object« den Gegenstand im engeren Sinne (und das Ziel) und »subject« das Unterworfene, Bestimmungen Aufnehmende und das Thema.
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Einführung
Zugleich hat eine subjektkritische Besinnung eingesetzt. Sowohl Heidegger mit seiner Erläuterung des ver-gegenständ-lichenden Vor-stellens wie Adorno mit seiner Kritik am Herrschaft ausübenden identifizierenden Subjekt weisen – oft mehr implizit als explizit – auf ein anderes Verständnis des Menschen hin. Menschsein und Subjektsein werden nicht mehr gleichgesetzt. 8 Geht es bei Heidegger und Adorno eindeutig um einen perspektivisch anderen Menschen, wann und wie dieser auch zu sich selbst kommen könnte, verharrt Foucault bei einem geschichtlich-kritischen, aber (abgesehen von seiner Spätphase) sozusagen hoffnungslosen Subjektverständnis. Das Subjektsein ist für ihn das der Gegenwart eigene Unterworfensein des individuellen Ich unter Machtkonstellationen und deren Diskursivität. Weil es eine geschichtliche Erscheinung ist, wird es als solches wieder verschwinden. Die der deutschen Sprache und vor allem Philosophie selbstverständliche Bedeutung von »Subjekt« als »Herrschaftssubjekt« geht hier fast völlig verloren bzw. wird aufgegeben, sogar ins Gegenteil verkehrt. »There are two meanings of the word ›subject‹ : subject to someone else by control and dependence; and tied to his own identity by a conscience or self-knowledge. Both meanings suggest a form of power which subjugates and makes subject to.« 9 Die beiden Bedeutungen, die Foucault hier benennt, sind die des subjects als Unterworfener und als Ich oder Selbst. An die Stelle des aktivitätsbesessenen Subjekts tritt der Intention nach der gelassene Partner im Weltspiel, der zu hören und zu entsprechen lernt. Das Modell der Konfrontation weicht dem Modell des Zueinandergehörens. Zumindest Spuren davon finden sich heute in einer Vielheit von Aufmerksamkeits- und Achtsamkeitsbemühungen. 9 Foucault, zitiert in: Mutlu Yeniyayla, Das Subjekt im Denken Michel Foucaults. 8
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Einführung
Die angesprochene Macht ist gerade nicht die Macht des Subjekts in unserem Sinne. Die gängige deutsche Übersetzung – »Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes Subjekt macht« – ist darum zumindest mißverständlich, vermutlich aber auch mißverstanden. 10 Die zweite von Foucault hier angesprochene Bedeutung des Subjekts als des bewußten und selbstbewußten Menschen scheint heute auch im Deutschen die übliche geworden zu sein. Dabei hat sie den kritischen Unterton weitgehend verloren. Der Begriff »Subjekt« wird jetzt oft mehr oder weniger gleichbedeutend mit Ich, Seele (so z. B. schon bei Nietzsche), das Psychische, Person, Selbst, Mensch gebraucht. Die Subjekt-Objekt-Beziehung hat damit ihre Eindeutigkeit eingebüßt. Der Subjekt-Status des Menschen als Bewältiger seiner ihm entgegenstehenden Objektwelt hat seine Selbstverständlichkeit verloren. Für eine genaue Analyse und Erklärung dieser Veränderung sind wir ihr vermutlich noch zu nah. Gleichwohl ist es wichtig, diese Entwicklung zu sehen. Wenn der Vorrang und damit die fragwürdige Bedeutung des Subjekts verschwunden wären, könnten Überlegungen zur Kritik am Subjekt dann überflüssig geworden sein? Was wird aus dem Subjekt und seiner Vormachtstellung, wenn es sich nicht mehr in erster Linie als den Herrn seiner Umgebung und seiner selbst versteht? Nicht nur in der theoretischen Diskussion des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses, sondern auch und vielleicht vor allem in der lebensweltlichen Realität hat der Subjekt-Status seine Selbstsicherheit verloren. Einige der 10
Michel Foucault, Das Subjekt und die Macht, 246 f.
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Einführung
Grundzüge, die stichwortartig allgemein zur Kennzeichnung unserer Gegenwart dienen, sind zugleich als Grundmomente eines Unsicherwerdens der eigenen Identität anzusehen, so etwa die Globalisierung, die Klimaveränderung, die Digitalisierung. 11
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Die Globalisierung im weitesten Sinne bedeutet für das Subjekt u. a. auch, daß seine Dazugehörigkeit zu einer ganz bestimmten Nation und Kultur – hinzuzufügen wäre: Klasse, Berufsgruppe, Religion, Nachbarschaft, Geschlechtsidentität – ihre Eindeutigkeit, Wichtigkeit und Dauerhaftigkeit eingebüßt hat. Viele Einzelbiographien zeigen, wie die genannten Merkmale für ein Individuum nichts Vorgegebenes mehr sein müssen, sondern angesichts des globalen Netzwerkes von Beziehungen und Abhängigkeiten und Erfahrungen in vielfältigem Wechsel begriffen sein können. Nivellierung und Spezifizierung oder Diversifizierung gehen dabei Hand in Hand. Indem das Subjekt es mit der globalisierten Welt zu tun hat, hat es nichts Begrenztes, Bestimmtes mehr zur Hand, die Grenzen verschwimmen ihm. Damit aber hat es aufgehört, im strengen Sinne Subjekt zu sein. Im Bild gesagt: es steht nicht mehr am Ufer, um zur Bezwingung der Meere und ferner Länder aufzubrechen, sondern es befindet sich in seinem kleinen Nachen mitten auf dem Ozean. Wenn ich von »einbüßen« und »verlieren« spreche, Es handelt sich keineswegs um die Grundkomplexe unserer Gegenwart. Ich intendiere keine Systematik, sondern fasse lediglich vielfältige und unübersichtliche Phänomene, die in unserer Gegenwart vorherrschend sind, zu drei Phänomengruppen zusammen. Zweifellos wären auch andere Perspektiven möglich.
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15 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Einführung
bringt das allerdings nur die eine Seite der Entwicklung zum Ausdruck. Die Entgrenzung des Subjekts bedeutet auf der anderen Seite auch die Eröffnung ungeahnter Möglichkeiten. Die genannten Zugehörigkeiten implizierten zugleich auch ebenso viele Beschränkungen und Bindungen und Unwissenheiten. Der Nachen auf dem weiten Meer ist somit ebensosehr Entdeckungs-, Handels- und Eroberungsschiff. Aber diese Erfahrung bedeutet als globalisierte jetzt zugleich ein Unsicherwerden der alten Selbstverständlichkeiten und Bindungen, also eine neue Ungebundenheit, die als solche Ungewißheiten und Fragwürdigkeiten mit sich bringt. Die Situation der Globalisierung setzt sich aus vielen Nuancen zusammen, ökonomischen, kulturellen, politischen, sozialen. Eine monokausale Erklärung ist wie bei anderen geschichtlichen Umwälzungen nicht möglich. Entsprechend spiegelt sich die Situation auch in mannigfachen, unterschiedlichen Zeitanalysen und -theorien. Das ehemals isolierte Subjekt, das sich jetzt in einer globalisierten, pluralisierten Welt vorfindet, in der ihm das stabilisierende, weil von ihm selbst stabilisierte Objekt fehlt, wird in unterschiedlichen Ansätzen u. a. als »zersplittertes«, »dezentriertes«, »flexibles«, »nomadisches«, »modulares« Subjekt und damit im strengen Sinne gar nicht mehr als Subjekt begriffen. Jeweils liegt der Befund zugrunde, daß der Mensch sich keiner geordneten Gegenstandsmannigfaltigkeit mehr gegenüber sieht, daß er generell nicht mehr von vorneherein Bescheid weiß und wissen kann über das, womit er es zu tun hat. Der Begriff »Globalität« impliziert – etwa im Gegensatz zum Begriff des »Planetarischen« – eine Geschlossenheit, die umfängt und keine Über-sicht ermöglicht und insofern unsicher und ratlos macht. Allerdings führt das 16 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Einführung
Globale paradoxerweise dahin, daß schließlich die Unsicherheit kaum mehr empfunden wird; der zum bloßen »Bestand« einer technisch vernetzten globalen Welt Gewordene 12 ähnelt dem »letzten Menschen« im Zarathustra: »›Wir haben das Glück erfunden‹ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.« 13 Zweifellos ist dieser glücklich Blinzelnde kein Subjekt im eigentlichen Sinne mehr. 14 Inzwischen ist auf neue Weise deutlich geworden, wie sehr die von Nietzsche ironisch als Glücklichsein bezeichnete Grundstimmung nur eine scheinbare ist. Sie fungiert als Außenansicht des zum scheinbar glücklichen Konsumenten gewordenen einzelnen Glieds einer Masse, das seine Angst vor der herrschenden Unübersichtlichkeit 15 vor sich und den anderen zu verbergen sucht. Der durch Zeit und Raum – mehr oder weniger bewußtlos – Getriebene schafft sich fortwährend neue Bedürfnisse und Befriedigungen, die er selbst nicht durchschaut und die von vorneherein darauf angelegt sind, durch andere verdrängt zu werden. Im Politischen wünscht er sich den starken Führer oder zumindest die starke Partei, die ihm sagen und d. h. vorschreiben können, »wo es lang geht«. Ohne es zu merken, bestimmt er sein Schicksal, indem er es sich bestimmen läßt. Sein vermeintliches Glück ist zumeist ein blindes, bewußtloses. Das Subjekt ist ein Objekt mit Subjektanmutung geworden.
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Zu diesem Begriff vgl. Heidegger, Die Frage nach der Technik, 24 ff. Also sprach Zarathustra, Vorrede 8. 14 Zweifellos ist das nicht der Mensch, den Heidegger oder Adorno mit ihrer Kritik am Subjekt im fernen Blick gehabt haben, derjenige also, der in einem gelassenen Wechselverhältnis mit dem ihm in dieser Welt Begegnenden leben würde. 15 Vgl. Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit. 12 13
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Einführung
Die verändernde Bedeutung, die die Klimabedrohung für das Subjekt-Objekt-Verhältnis hat, ist von anderer Art als die der Globalisierung. Auch hier geht es um eine grundsätzliche Faktenlage, jetzt aber auf dem Gebiet der reinen Existenz auf der Erde. Das »Macht euch die Erde untertan« hat gerade durch seine machtvolle Befolgung letztlich zu seiner Umkehrung geführt: Immer mehr scheinen die Menschen zu Unterworfenen der Erde zu werden. Die Erderwärmung, die sich vor allem dem »Fortschritt« der insbesondere industriellen Beherrschung der Natur verdankt, führt uns zu einer Situation, in der die Bedrohung durch die Natur, durch Überschwemmungen, Stürme, Hitzeperioden, Krankheiten usw., eine ganz neue, radikale Relevanz zu bekommen begonnen hat. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt ist damit verkehrt: der Mensch hat nicht mehr schlechthin die Welt der Objekte sich gegenüber, sondern er könnte, wenn ihm keine entscheidende Umkehr gelingt, seinen Subjektstatus verlieren und zum unterworfenen Spielball von Naturmächten ungeahnten Ausmaßes werden. Das betrifft nicht nur den Anstieg der Meere und die Veränderungen des Klimas. Das durch menschliche Handlungen bewirkte Aussterben zahlreicher Arten in der Pflanzen- und Tierwelt wirkt sich bedrohlich auf unsere gesamte Umwelt aus. Der dramatische Rückgang der Insekten z. B. wird in einem noch nicht vorstellbaren Maß das menschliche Weiterleben auf der Erde in Frage stellen. All die bekannten und noch unbekannten zukünftigen Katastrophen und Krisen 16 zeigen deutlich, daß die Umkehr Nach der Überzeugung noch der Autoren der Dialektik der Aufklärung hat die Bedrohung durch die Naturmächte bereits den Anfang der Menschheitsgeschichte gekennzeichnet. Sie hat heute, gewissermaßen als 16
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Einführung
des Subjekt-Objekt-Verhältnisses der Sache nach so etwas wie seine äußerste Bestätigung bleibt. In seiner Negation bewährt sich gerade seine Entgegensetzungsstruktur. Die oft gehörte Rede von einem Zurückschlagen der Natur macht deutlich, daß sich der Mechanismus des konfrontativen Gegenübers durchaus erhält.
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Der dritte Problemkomplex, hinsichtlich dessen sich eine sich insgeheim vollziehende Veränderung des SubjektObjekt-Verhältnisses konstatieren läßt, ist die Digitalisierung. Vom Digitalen sprechen wir, ganz formal gesehen, wo Gegenstände welcher Art auch immer – Geschehnisse, Produkte, Entscheidungen, Informationen – mit einer begrenzten Zahl von Ziffern wiedergegeben, insbesondere auf das einfache binäre Prinzip zurückgeführt und damit berechenbar gemacht werden. Dem Menschen, der gelernt hat, im Digitalen zuhause zu sein, löst sich die gegenständliche Welt, zu der er selbst gehört, in ein Netz von quantitativen Daten auf, die unendlich aufeinander bezogen und gehandhabt – mani-puliert – werden können. Heute werden die verschiedensten Lebensbereiche in stets zunehmendem Maße vom Digitalen durchdrungen. Es handelt sich um einen Prozeß, der in voller Entwicklung begriffen ist und dessen Relevanz und zukünftige Reichweite für unser gesamtes In-der-Welt-Sein noch nicht absehbar ist. Für meine Frage, ob und wie die realen Veränderungen der Umwelt das Verhältnis des Menschen zu dem, was ihm begegnet und womit er alltäglich umzugehen hat, Antwort auf die Bekämpfung durch den Menschen, eine neue Qualität erreicht.
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Einführung
verändern, bedeutet das, daß auch hinsichtlich der darin liegenden Infragestellung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses vieles im Fluß ist, weswegen wir es hier eher mit Fragen als mit Fakten zu tun haben. Der sich im Digitalen bewegende Mensch scheint dessen Programmierungen und Strukturen unterworfen, ähnlich wie das »Subjekt« bei Foucault den Machtmechanismen unterworfen ist. Er hat sich – wie der Zauberlehrling dem »Wort und Werk« und »Brauch« des Meisters – dadurch dem digitalen Ganzen verschrieben, daß er sich in es hineinbegeben hat. Unter anderem und vor allem hat sich aus dem als Werkzeug konzipierten Digitalen in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine weitgehend selbständige Größe entwickelt, die sich mithilfe der Künstlichen Intelligenz bis zu einem gewissen Grad vom Menschen abgekoppelt hat. Das »Internet der Dinge« funktioniert unabhängig von seinem Erzeuger, seine Interaktionen produzieren eine Vernetzung, innerhalb deren der Mensch nur einen Knotenpunkt unter anderen darstellt, der auch nicht vorhanden zu sein braucht. Die betreffenden Geräte vermitteln Beziehungen zwischen Gegenständen und Benutzern wie auch der Gegenstände untereinander. Aufgrund der in es eingelesenen Informationen »entscheidet« das System »autonom«. »Wenn einstmals bewusst getroffene Entscheidungen automatisiert werden, wenn Urteilsfindung zum Produkt von Maschinen wird, kolonisieren algorithmische Regime die menschliche Vorstellungskraft und beginnen, die Zukunft in eine bestimmte Richtung zu lenken.« 17 In diesem Sinne läßt sich im Digitalen eine Veränderung des herkömmlichen SubjektObjekt-Verhältnisses feststellen; sie wird zunehmend als 17
Editorial zu Digital Unconscious, springerin Heft 4/2019.
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Einführung
die Gefahr einer drohenden Verkehrung ins Gegenteil wahrgenommen. Die Konzeption der Subjekt-Objekt-Beziehung ging davon aus bzw. setzte unreflektiert voraus, daß der Mensch gegenüber der gegenständlichen Welt durch Intelligenz und d. h. auch Beurteilungs- und Entscheidungsfähigkeit ausgezeichnet ist, mit deren Hilfe er sich der Objektwelt geistig und materiell bemächtigt. Seit er intelligente Geräte und Maschinen geschaffen hat, scheint er sein Alleinstellungsmerkmal aufgegeben zu haben. 18 Heute ist vielfach die Angst entstanden, er könnte auf die Dauer seinen Produkten unterlegen sein und damit zu ihrem ohnmächtigen Objekt werden. Zugleich aber ist er den technologischen Faktizitäten doch auch nicht nur untertan, sondern er weiß, daß letztlich er selbst, seine menschliche Rationalität, deren Urheber ist, – und nicht ein allwissender Meister. Die seine Digitalität ausmachenden Berechnungen, die Statistik und die quantitativen Analysen sind seine eigenen. »Seine eigenen« – das heißt, sie sind die Handlungen der Person, die hier und jetzt am Schreibtisch sitzt, schreibt oder googelt oder, etwa in einer Video-Konferenz, mit anderen kommuniziert. Der Mensch ist in gewissem Sinne noch Souverän und Untertan, aber eben beides zugleich, und d. h. in einer Weise, in der er beides zugleich auch nicht mehr ist, in der er beides unterläuft, »durchbricht«, aufhebt. Die Hoheit über sich selbst gehörte zweifellos zum »Komplexe Konfigurationen aus biologischen Akteuren, kommunizierenden Objekten, technischen Protokollen und automatisierten Entscheidungsprozessen werden zu hypernormalen Hybriden, in denen sich die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verlieren. Im Wandel realer und virtueller Territorien manifestiert sich eine grundlegende Erosion existenzieller Gewissheiten« (s. vorige Anmerkung).
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Grundcharakter des aufgeklärten neuzeitlichen Subjekts. Wo es sie an das Digitale verloren hat, 19 scheint es aufgehört zu haben, im strengen Sinne Subjekt zu sein, ohne deswegen umgekehrt zum Objekt geworden zu sein. Er kann vielmehr bewußt und aktiv mitspielen. Wenn er z. B. ein Selfie macht, etwa vor einer berühmten Sehenswürdigkeit oder mit einer bekannten Persönlichkeit, setzt er sich selbst ins Bild. Dabei kann er zum bloßen Spielstein eines allgemeinen gesellschaftlichen Tableaus werden, und das genuine Wahrnehmen kann ihm dabei verlorengehen. Er wird zum Moment seines eigenen Welt-Bildes, das mit dem allumfassenden Welt-Bild identisch ist. 20 Worauf es jedoch in der Der Verlust der Autonomie zeigt sich auch darin, daß der in der digitalen, medialen Kommunikation erstaunliche Vorrang der Gegenwärtigkeit auch eine gewissen Unwiderrufbarkeit mit sich bringt: »In digitalen Netzwerken und Datenströmen kann man [im Gegensatz zur »lebendigen« Kommunikation] nicht einfach Abstand nehmen und etwas umdeuten. Man kann nicht jemand anderer sein.« (Goriunova, Das digitale Subjekt) Und eine weitere Überlegung in dieser Richtung: »In einem face-toface ausgeführten Subjektivationsprozess können wir den Verlauf evaluieren und zumindest potentiell mit unserem (menschlichen) Gegenüber darüber verständigen; … Gegenüber einem subjektivierenden Dispositiv wie Facebook haben wir keine Möglichkeit, an der Verhandlung der Subjektivierungsregeln beteiligt zu sein.« (Innokentij Kreknin und Chantal Marquardt, Einleitung). 20 Heidegger sagte zwar: »Daß die Welt zum Bild wird, ist ein und derselbe Vorgang mit dem, daß der Mensch innerhalb des Seienden zum Subjectum wird« (Holzwege, 85), aber zu seiner Zeit stellte sich der Bild-Charakter der Welt noch anders dar als heute. Wenn es bei ihm heißt: »Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen« (82), so können wir das, dem Wortlaut nach, fast als prophetisch verstehen; aber daß die Welt zum Bild wird, besagt für ihn (d. h. auch: zu seiner Zeit), daß »der Bildcharakter der Welt als die Vorgestelltheit des Seienden verdeutlicht wird« (85). Können wir heute dagegen von der digitalen Welt als einem »realen«, zweidimensionalen Bild sprechen? 19
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Einführung
Zukunft vielleicht ankäme, wäre, daß er dieses MomentSein entschieden auf sich nähme und damit die Subjekt-Objekt-Beziehung hinter sich ließe zugunsten einer Partnerschaft im Welt-Spiel dessen, was überhaupt, schicksalhaft und zufällig und gewollt, geschieht und nicht geschieht.
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Wie steht es also mit der Frage nach dem Subjekt in seiner Beziehung zum Objekt? In den drei angesprochenen Feldern – des Globalen, der Klimaveränderung und des Digitalen – hat letztlich die Faktizität das überkommene SubjektObjekt-Verhältnis in Frage gestellt; sie hat es auf mannigfache Weise nivelliert, zu einem wechselseitigen gemacht oder es in sein Gegenteil verkehrt. Jeweils aber gilt: Solange der Bezug als ein Bewältigungsverhältnis gesehen bzw. gelebt wird, solange die beiden Seiten entweder als die beherrschende oder als die zu unterwerfende angesetzt werden, ja, solange man sie überhaupt als zwei Seiten – und d. h. eben überhaupt als Subjekt und als Objekt – sieht, bleibt der Weg zu einem grundsätzlich neuen In-der-Welt-Sein des Menschen, zu einer »Kommunikation des Unterschiedenen« 21 verbaut. Das Unterschiedene – das jeweils Menschliche und das menschliche oder nichtmenschliche Andere – stehen sich nicht gegenüber. Ihr Miteinander kann, so scheint mir, nicht durch noch so genaue Analysen der Grundzüge unserer gegenwärtigen Wirklichkeit sichtbar werden, jedenfalls nicht, solange diese im gewohnten Fragehorizont verbleiben. Zumindest seit der Neuzeit, im Kern aber implizit schon seit seinen abendländischen Anfängen hat das Den21
Adorno, Stichworte, 153.
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Einführung
ken die Frage nach der Erkenntnis beunruhigt, nach der Möglichkeit des menschlichen Wissens, also nach der Brükke zwischen dem Menschen und dem ihn Umgebenden. Einer Brücke bedarf es da, wo zwei Seiten einander gegenüberliegen, zwischen denen »nichts« ist, von denen aber die eine zu der anderen hinüberreichen bzw. von der anderen etwas herüberholen, erfahren will. Wir können die ganze abendländische Geistesgeschichte als einen immer erneuten Versuch des Brückenbauens verstehen, des Errichtens von Konstruktionen, des Entwerfens von Methoden, die sich der Erreichbarkeit bzw. des tatsächlichen Erreichens der anderen Seite vergewissern wollen. Wie aber, wenn die Sicht auf zwei getrennte Seiten aufgegeben wird, wenn das Gegenüber zum Miteinander wird? Soweit dies geschieht, ändert sich die gesamte Situation. Denn es braucht da keine Brückenkonstruktionen und Systematisierungen mehr, lediglich ein aufmerksames Sich-Umschauen. Die Intention eines solchen Denkens richtet sich nicht mehr auf Erklärungen und Begründungen, auf Begriffe und Begriffszusammenhänge. Deshalb geht es auch nicht darum, eine neue Theorie über das Subjekt und sein Verhältnis zum Objekt oder über die Überwindung oder Aufhebung ihrer Konfrontation zu entwerfen. Es geht wesentlich überhaupt nicht um eine Theorie, d. h. um eine Konzeption, die das Verhältnis des Menschen zur Welt erklären will. Ich stelle mich im Folgenden darum auch nur in geringem Maße der Auseinandersetzung mit Theorien von Autoren wie z. B. Foucault, Latour oder Rosa, oder mit den Denkrichtungen von z. B. Phänomenologie oder Philosophie des Geistes, weil ich mich von vorneherein in einem anderen Raum des Denkens, damit in einer anderen Perspektive der Philosophie bewegen will. Ich teile ihre Fragen 24 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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nicht. Bzw. diese Fragen stellen sich mir nicht. 22 Da es mir lediglich darum geht, das sichtbar und evident zu machen bzw. auf das hinzuweisen, was uns und wie es uns begegnet, auf die Weise, wie wir etwas – Dinge, Menschen, uns selbst, Stimmungen, Erkenntnisse – erfahren, ist es für meine Überlegungen weitgehend unerheblich, was andere dazu gedacht haben. Umso besser, wenn sie ebenfalls einige Schritte auf dem selben oder einem ähnlichen Weg gegangen sind. Ohnehin muß jeder selbst sehen und erfahren.
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Dieses Buch versammelt eine Reihe von kritischen Versuchen zum Ansatz der Subjekt-Objekt-Beziehung und weist zugleich mit der Konzeption des bildhaften Denkens auf einen veränderten Bezug von Mensch und ihm Begegnendem hin. Es handelt sich zum einen um Vorträge und um Aufsätze aus den letzten Jahrzehnten, zum anderen um bisher nicht erschienene Texte der letzten Jahre. Bei den ersteren war gewöhnlich eine ungefähre Themenstellung vorgegeben, in deren Rahmen ich eine Spezifizierung vorgenommen habe. Aktualisiert habe ich diese Beiträge nicht. Ich gehe ziemlich frei mit ihnen um: Ich habe z. B. stilistische Änderungen vorgenommen, Passagen gestrichen und andere an anderen Stellen eingefügt. Thematische Wiederholungen habe ich zu vermeiden versucht, was aber nicht immer gelungen ist. 23 In allen Texten ist es, in jeweils sehr unterWas nicht heißt, daß ich die Möglichkeit und das Interesse, diese Fragen aufzuwerfen und zu diskutieren, nicht verstehe. 23 Es geht mir nicht um historisch-biographische Exaktheit der Dokumentation, sondern um eine fortlaufende Diskussion des Subjekt-ObjektVerhältnisses bzw. seiner Kritik und Überwindung. 22
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schiedlicher Weise, um das Einüben in einen gegenüber dem Subjekt-Objekt-Ansatz anderen Blick auf das menschliche Sein in der Welt, auf das Zusammengehören mit dem bzw. das Hineingehören in das Weltgeschehen zu tun. Die Texte sind so angeordnet, daß sie einen Weg ergeben. Sie führen von der impliziten und expliziten Subjekt-Kritik über die Erfahrung von Anderssein und Vielfalt zu der Frage nach einem nicht mehr allgemein-begrifflichen, vielmehr bildhaften Denken. Das Einzelne und Besondere, das Zufällige und Erstaunliche ist den Begriffen als solchen unzugänglich. Doch in erzählenden Bildern läßt es sich vergegenwärtigen, genauer, in Bildern kann es, und sei es auch ein Abwesendes oder Unsichtbares, anwesend und sichtbar werden. Ein solches Denken macht Einsichten plausibel, die wir als miteinander in der Welt Lebende immer schon haben und wachrufen können.
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»Es ist, wie es ist.« Überlegungen zu Zufall, Sinn, Gelassenheit
Günther Anders stellt in seinem Buch Die Antiquiertheit des Menschen die Frage: »Warum setzen Sie eigentlich voraus, dass ein Leben, außer da zu sein, auch noch etwas haben müsste oder auch nur könnte – eben das, was Sie Sinn nennen?« 1 Die Formulierung »außer da zu sein« geht in die Richtung, die ich mit der Formulierung meines Titels Es ist, wie es ist im Blick habe. Das Leben – ich möchte hier ergänzen: unser, also unser menschliches Leben – ist, es ist da. Heidegger reserviert den Begriff »Dasein« ausdrücklich für das Sein, »das je meines ist«, und das heißt mit meinen Worten, für die Weise, wie wir als je diese Menschen in je dieser Welt sind. Zum In-der-Welt-Sein gehört unsere jeweilige Welt selbst, also die Dinge und Menschen, die uns umgeben, die Erfahrungen, die wir machen, das, was uns jeweils begegnet und zufällt. Das ist unser Leben in dem hier gemeinten Sinne, und von ihm sage ich: es ist, wie es ist, – einfach und nur und ganz so, wie es ist. Was ist dagegen gemeint, wenn man nach einem Sinn des Lebens fragt bzw. eben voraussetzt, daß das Leben, außer da zu sein, »auch noch« einen Sinn haben muß? Durch drei Zitate aus unterschiedlichen Zeiten weise ich auf drei mögliche Antworten hin. Ich beginne mit einer Bemerkung von van Gogh: »Meine einzige bange Sorge ist: Wie kann ich nützlich sein in der Welt? Kann ich nicht irgendeinem Band II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, 369. 1
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»Es ist, wie es ist.«
Zweck dienen und zu etwas gut sein?« Malvida von Meysenburg, eine Schriftstellerin aus dem 19. Jahrhundert, schrieb: »Nur dann ist es der Mühe wert zu leben, wenn man dem Leben einen idealen Inhalt gibt, wenn man ein Mensch ist, durch den nach jedem Schmerz, nach jeder Prüfung immer von neuem das verborgene Götterbild durchschimmert, das als Ahnung in den edlen Naturen lebt und das wir zur Wirklichkeit machen sollen.« Und schließlich zwei Sätze des Rabbi Akiba, der von ca. 50 bis ca. 135 n. Chr. lebte: »Wir sind Leben, wir sind Natur, wir sind Gott. Bloß zu existieren, ist nicht genug. Wir müssen unsere Bestimmung kennen und tun, was zu tun ist.« In diesen Äußerungen bezeugt sich auf je unterschiedliche Weise das Bedürfnis nach einer Art Rechtfertigung der Tatsache, daß wir leben. Diese Rechtfertigung wird jeweils in einem Sollen gesehen, das das menschliche Leben bestimmt. Zu etwas gut sein, verwirklichen eines verborgenen Götterbildes, tun, was zu tun ist, – das sind jeweils Weisen, wie Menschen in ihrem Leben dem Sinn zu entsprechen suchen, der ihnen durch die Anforderungen einer höherer Instanz aufgegeben ist. Anders gesagt, sie sehen dann einen Sinn ihres Lebens, wenn sie davon ausgehen, daß sie mit ihrem Dasein einen Zweck erfüllen sollen. Ich kann und will dieser Auffassung hier nicht ausdrücklich widersprechen, derart etwa, daß ich die generelle Sinnlosigkeit des Lebens behaupten würde. Ich möchte vielmehr darlegen, daß jene Auffassung nicht zu teilen nicht heißt, das Leben des Menschen für ein verlassenes und verlorenes zu halten. Keinen Sinn des Lebens zu sehen, heißt nicht, die Sinnlosigkeit des Lebens zu behaupten. Wenn wir nicht der unsere abendländische Tradition bestimmenden Überzeugung anhängen, alles müsse einen Grund und einen Zweck haben und ohne Grund und Zweck wäre es 28 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
»Es ist, wie es ist.«
ganz und gar nichtig, dann fällt auch die Folgerung dahin, das menschliche Leben wäre notwendig sinnlos, wenn wir die Frage nach dem Grund nicht stellten. Adorno schreibt in der Negativen Dialektik: »Was ohne Schmach Anspruch hätte auf den Namen Sinn, ist beim Offenen, nicht in sich Verschlossenen; die These, das Leben habe keinen, wäre als positive genauso töricht, wie ihr Gegenstand falsch ist; wahr ist jene nur als Schlag auf die beteuernde Phrase.« (368) Wir befinden uns hier nicht in einem Feld, in dem mit vernünftigen Argumentationen und Schlußfolgerungen ein Ergebnis zu erreichen wäre. Wenn wir diese und ähnliche Fragen stellen und diskutieren, so kann es nur um den jeweiligen Versuch gehen, unterschiedliche, evtl. kontroverse Blickweisen auf die Welt sichtbar und evident zu machen. Den spezifischen Weg, den ich im Folgenden gehen möchte, um meine Kritik an der Frage nach einem Sinn des Lebens plausibel werden zu lassen, habe ich im Untertitel durch die drei Worte Zufall, Sinn, Gelassenheit angedeutet. Es handelt sich aber nicht um eine Theorie über diese drei Begriffe, sondern um Überlegungen zum Sinn der Frage nach dem Sinn des Lebens, bei denen mir eher frei assoziierende Gedanken zu Zufall, zum Sinn und zur Gelassenheit weiterhelfen können.
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Wenn wir von etwas sagen, »das war Zufall« oder auch »das hat sich zufällig so ergeben«, dann meinen wir damit, daß etwas unbegründet und unbeabsichtigt geschehen ist, daß es nicht gewollt war, sondern eben »passiert« ist. Es ist nun mal so, wie es ist. Daß es so ist, ist nicht mein Verdienst oder meine Schuld, zugleich: es ist niemandes Verdienst oder Schuld. Ebensowenig ist es die Schickung oder Fügung 29 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
»Es ist, wie es ist.«
einer höheren Macht, eines Gottes, eines unerbittlichen Schicksals. Und es ist auch nicht nur notwendige und logische Folge eines gesetzmäßigen Prozesses, und sei dieser der Lauf der Sterne oder der natürlichen Evolution. Was zufällig geschieht, gehört nicht in den Zusammenhang einer wie auch immer gearteten Kausalkette, die zu diesem und nur diesem Ereignis oder Faktum führen mußte. Es ist unvorhersehbar und unerklärlich. Lichter von Fischerbooten, die sich nachts begegnen, ein unerwartetes Aufeinandertreffen zweier Menschen, die sich zuvor fremd waren, erstaunliche Entsprechungen und Konstellationen zwischen eigenständigen Geschehnissen. Wir nennen solches nicht bewußt herbeigeführte Zusammenkommen einen Zufall oder eine Koinzidenz. Zuweilen erstaunt und beunruhigt uns diese Ko-inzidenz – wörtlich das Zusammen-fallen zweier (oder mehrerer) Elemente –, weil wir gewohnt sind, alles verstehen zu wollen und dementsprechend nach ursächlichen Verbindungen zwischen zusammen auftretenden Geschehnissen zu fragen. Die Koinzidenz ist ein Zusammenfallen ohne vorherbestehenden oder gar notwendigen Zusammenhang; durch das Zusammentreffen wird dieser zumeist allererst gestiftet, besteht also rein aus sich selbst. In der abendländischen Denktradition ist der Zufall 2 eine res non grata, ein Ärgernis. Angelus Silesius schreibt in seinem Cherubinischen Wandersmann: Der Zufall muß hinweg und aller falsche Schein; Du mußt ganz wesentlich und ungefärbet sein.
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Vgl. den Abschnitt Zufall in Verfasserin, Von »Fall« zu »Fall«.
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»Es ist, wie es ist.«
Das Zufällige kann nicht wesentlich sein, das Wesentliche ist nicht zufällig. Wenn etwas zufällig ist, so heißt das, daß es auch nicht sein oder anders sein könnte, daß es keinen Grund für sein Sein und Sosein gibt. Es ist bemerkenswert, in welchem Maße sich schon Aristoteles’ Überlegungen zum Zufall ausdrücklich im Rahmen der Problematik der Gründe und Ursachen bewegen und wie sich das durch die Geistesgeschichte bis heute durchgehalten hat. Daß alles einen Grund hat, daß es für alles Sein und Werden ein Prinzip oder eine Ursache gibt, ist eine der wichtigsten Grundüberzeugungen des abendländischen Denkens von Platon bis mindestens zu Hegel. Hat alles einen Grund, so kann nichts zufällig sein. Wo uns scheinbar Zufälliges begegnet, ist dies »falscher Schein«. Ich zitiere einige markante den Zufall leugnende Aussagen aus unserer philosophischen Tradition: »Nichts geschieht durch ein blindes Ohngefähr (in mundo non datur casus).« (Kant). »Was wir Zufall nennen, ist der Zufluchtsort der Unwissenheit.« (Spinoza) »Zufall ist ein Wort ohne Sinn; nichts kann ohne Ursache existieren.« (Voltaire) »Der Zufall ist Gottes Deckname, wenn Gott sich nicht zu erkennen geben will.« (Anatole France) »Ein Zufall? … das Wort Zufall ist Gotteslästerung. Nichts unter der Sonne ist Zufall.« (Lessing) »Auch das Zufälligste ist nur ein auf entfernterem Wege herangekommenes Notwendiges.« (Schopenhauer) Schillers Wallenstein ist zutiefst davon überzeugt, daß sein Geschick, das ihn »wie in einem Zauberringe« gebannt hält, in den Sternen vorgezeichnet ist: Die himmlischen Gestirne machen nicht Bloß Tag und Nacht, Frühling und Sommer – nicht Dem Sämann bloß bezeichnen sie die Zeiten 31 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
»Es ist, wie es ist.«
Der Aussaat und der Ernte. Auch des Menschen Tun Ist eine Aussaat von Verhängnissen, Gestreuet in der Zukunft dunkles Land, Den Schicksalsmächten hoffend übergeben. »Eine Aussaat von Verhängnissen« 3 – seine jeweiligen Lebensumstände und -situationen sind von unergründlichen Mächten über den Menschen verhängt als etwas, dem er nicht entrinnen, dem gegenüber er nur hoffen kann, daß die Schickungen ihm wohlgesonnen und günstig sein mögen. Darum kann Wallenstein sagen: Es gibt keinen Zufall; Und was uns blindes Ohngefähr nur dünkt, Gerade das steigt aus den tiefsten Quellen. Für Wallenstein sind es »die himmlischen Gestirne«, die »aus den tiefsten Quellen« die Geschicke der Menschen lenken. Ihnen vertraut er blind und läßt sich durch keinerlei vernünftige Ratschläge oder Warnungen von dem Weg abbringen, den sie ihm zu weisen scheinen. Für andere sind es, wenn schon nicht transzendente Mächte, so doch die Gesetzmäßigkeiten der Natur oder rationale Zusammenhänge, die für das jeweilige Geschehen verantwortlich zeichnen. Andere sind davon überzeugt, daß das eigene Tun und Wollen, bewußt oder unbewußt, die Zügel führt. Aristoteles beginnt das erste der unter dem Namen Metaphysik überlieferten Bücher mit der Frage nach der Weisheit. Der erste Satz dieser Untersuchung lautet: »Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.« Diese Fra»Verhängnis« hatte zu Schillers Zeit noch nicht die eindeutig negative Konnotation, die es heute hat.
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»Es ist, wie es ist.«
ge führt – nach Aristoteles’ Überzeugung und der der nachfolgenden Tradition – zu der höchsten dem Menschen möglichen Weise des Wissens, der Frage nach den allgemeinen und unvergänglichen Gründen und Prinzipien alles dessen, was ist und was entsteht. Es ist das Streben nach solcher Allgemeinheit und Unvergänglichkeit, was das abendländische Denken von seinen Anfängen an angetrieben hat. In einer Welt der Veränderlichkeit und der Besonderheit suchten – und suchen, denn Wissenschaft und Technik sind bis heute von diesem Bemühen bzw. diesen Voraussetzungen geprägt – die Menschen nach etwas Beständigem, nach Gesetzmäßigkeiten und Wahrheiten, die einerseits einen Halt zu geben vermögen und andererseits eine gesicherte Kommunikation zwischen Menschen erst möglich machen. Ich denke, daß es insbesondere die nicht akzeptierte Erfahrung der eigenen Sterblichkeit wie der Vergänglichkeit und Zufälligkeit der uns umgebenden Dinge und Geschehnisse ist, die das Denken unserer westlichen Tradition auf diesen Weg geführt haben. 4 Es ist hier nicht der Ort, genauer zu erläutern, warum und auf welche Weise die Überzeugung von der Grundhaftigkeit und umfassenden Allgemeinheit alles Seienden, anders und mit Hegels Worten gesagt: die Überzeugung, »daß es Wahrheit gibt«, nach Hegel mehr und mehr fragwürdig geworden ist. Fakt ist, daß das mittelalterliche Wissen um eine allumgreifende göttliche Ordnung ebenso wie der neuzeitliche Glaube an die Wirkfähigkeit eines auf seine Verstandeskräfte bauenden autonomen Subjekts in der GegenWo die Wissenschaften – insbesondere die medizinische Wissenschaft – heute einen anderen, »menschlicheren« Weg zu gehen bemüht sind, spielen auch die Wirklichkeit und Sterblichkeit des je Einzelnen und Besonderen eine neue Rolle.
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»Es ist, wie es ist.«
wart fast vollständig verlorengegangen sind. Klagen über den Verfall der Werte wie das immer drängender werdende Konstatieren einer tiefgreifenden existenziellen allgemeinen Unsicherheit finden sich in vielen Zeitanalysen. Was im Vorstehenden als Verlust erscheinen mag, begegnet jedoch nur solange als Verhängnis, als wir insgeheim und vielleicht unbewußt immer noch an der abendländischen Denk- und allgemeiner Lebensvoraussetzung oder -einstellung festhalten, daß wir als erkennende und handelnde Subjekte einer objektiven Welt gegenüberstehen, die wir in irgendeiner Weise zu bewältigen haben. Für eine solche Situation ist es sicherlich verhängnisvoll, wenn wir uns einerseits keinem sinngebenden Leitstern oder keiner gütigen Macht und andererseits nicht einer unserer selbst sicheren Verstandeskraft anvertrauen können. Das hier unterstellte Subjekt-Objekt-Verhältnis hängt eng mit dem zuvor genannten Grundhaftigkeits- und Allgemeinheitsanspruch des überkommenen abendländischen Denkens zusammen. U. a. durch die mannigfachen gesellschaftlichen und politischen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts, die uns die letztliche Gestaltungsunfähigkeit eines autonomen Subjekts vor Augen geführt haben, ist uns jene Unterstellung fragwürdig geworden. Dies kann, so scheint mir, entweder zu einem durchgehenden Hilflosigkeitsgefühl und einer universalen Unsicherheit führen, oder – und das ist der von mir eingeschlagene Weg – zu der radikalen Frage, ob nicht vielleicht jene Einstellung zur Welt, die uns als zur Bemächtigung und Bewältigung herausgeforderte Beherrscher einer uns anheimgegebenen objektiven Welt verstanden hat, grundsätzlich zu verändern wäre. In der Philosophie sind die großen Erzählungen und Systeme heute weitgehend ad acta gelegt. Erstmalig wird 34 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
»Es ist, wie es ist.«
das Zufällige und Vergängliche und Erstaunliche im wörtlichen Sinne frag-würdig. Mit Adornos Worten gesagt: »Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteressement bekundete: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen« (Negative Dialektik, 17 f.). Einen Wink zu einem alternativen Selbstverständnis des Menschen kann der Begriff In-der-Welt-sein von Heidegger geben. Ihm gemäß steht der Mensch den Dingen der Welt nicht als vor ihn hingestellten und zu beherrschenden Gegen-ständen gegenüber, sondern er gehört in die Welt hinein, ist selbst, auf seine Weise, ein weltliches irdisches Ding, dem Mannigfaches begegnet und zu-fällt. Die primäre Haltung zum Begegnenden ist hier nicht ein rationales Vor-stellen, Begründen und Argumentieren, sondern ein einfühlendes und sich einstimmendes Mitgehen. Es überläßt sich dem, was ihm jeweils zufällt, horcht auf die Zusprüche und Winke, die sich ihm aus den Zusammenhängen, in denen er sich vorfindet, mitteilen. Sein SichÜberlassen wird heute verschiedentlich als ein Entsprechen und ein Mit- und Zurückklingen, ein Re-sonieren verstanden. 5 In dem Gesagten liegt, so scheint mir, auch so etwas wie eine Rehabilitierung des Zufalls. Ich bin auf ein Sprichwort der afrikanischen Ewe gestoßen, das lautet: »Einem herumschweifenden Jäger begegnet ein herumschweifendes Tier.« Dem Jäger kommt ganz zufällig ein Tier zu Gesicht, während er so vor sich hin durch die Landschaft streift – wir erinnern uns an Goethes Fund eines Blümchens, als er »im
Siehe insbesondere Hartmut Rosa, Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung.
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Walde so für sich hin« geht. Zufälliges fällt uns zu, wenn wir es nicht ausdrücklich daraufhin stellen, sich uns so zu zeigen, wie es uns paßt, wenn wir vielmehr offen sind dafür, wie es sich von sich selbst her zeigt, so oder so oder anders oder auch gar nicht. Günter Wohlfart berichtet, daß Dongshan einen alten Zenmeister besuchte und ihn fragte: »›Wie stehen die Dinge?‹ Seine Antwort: ›Genau so, wie sie sind.‹ / Dieser Stein und jener Holzklotz verwandeln sich von selbst – in sich; sie sagen sich selbst.« (Zen und Haiku, 13) Und ein weiteres Zitat aus demselben Text: »Der ZenDichter Pangyun sagt: ›Wie wunderbar und wie erstaunlich ist dies! Ich schöpfe Wasser, ich trage Brennholz.‹« (17) Das »von sich selbst her« – ziran – ist ein Grundbegriff, besser: eine Grunderfahrung des ostasiatischen, vor allem des daoistischen und zen-buddhistischen Denkens. Ziran gehört eng mit dem bekannten Begriff des wu wei, des Nicht-Handelns zusammen. Nach dem über das Entsprechen und Lassen des sich nicht mehr als bestimmendes Subjekt verstehenden Menschen Gesagten mag es einleuchten, daß dessen Verhalten im Angesicht des Von-sichher-sichtbar-Werdenden als Nicht-Handeln beschrieben werden kann. Noch einmal, etwas ausführlicher, Wohlfart: »Was zu tun ist, ergibt sich für den, der ganz bei der Sache ist, aus der Sache selbst. Er überläßt das Tun dem Tun, dann geht es spielend. Seine Tat ist ohne Täter. Er tut ohne zu tun (wei wu wei …), ohne in den natürlichen Gang der Dinge eigenmächtig einzugreifen. Wie mache ich es am besten? Laß es sich machen. Manchmal macht es sich besser so. Es kommt darauf an, spontan dem Anspruch der Gegebenheiten zu entsprechen.« (a. a. O., 19) Ziran – von sich aus – ist interessanterweise oftmals auch das übersetzende Wort für Natur. Das griechische
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»Es ist, wie es ist.«
Wort hierfür, physis, deutet auf den selben Sachverhalt. 6 Die physis ist das von sich selbst her Seiende, sich aus sich selbst Bewegende. Die Natur hat den Anfang und Grund ihrer Bewegung in sich selbst, sie fängt mit sich selbst an, sie ist ein aus sich und zu sich Entstehendes. Der Anfang ist nicht mehr als eine bestimmende Vorwegnahme des Endes, der Grund nicht mehr als telos und so als vorgegebener Sinn der Bewegung zu denken, – oder doch nur in der Weise, daß er ein gerichteter, nämlich auf sich selbst gerichteter, sich in sich erfüllender Anfang ist, – von sich aus zu sich. Es ist, wie es ist. Welt geschieht. In dieses Geschehen gehören sowohl die »zehntausend Dinge«, wie Laotse das Gesamt der je einzelnen Dinge nennt, wie der Mensch, der sich in das Gesamt einfügt, indem er sich auf die Dinge seiner Umgebung einläßt, ihrem jeweiligen Gang entspricht. Das Von-sich-her der Dinge ist eben jener Gesamtzusammenhang, den Laotse mit dem inzwischen auch im Abendland bekannten Begriff Tao benennt und der dem nahekommt, was ich meine, wenn ich hier von Welt spreche. Wer sich auf die Welt und ihre Dinge einläßt, der – so schreibt Wohlfart – »ist ›gedanken-los‹. Er hat seine Gedanken an die Dinge verloren. Er findet sich ›selbst‹ in den Dingen.« (a. a. O., 109)
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Der offene Raum, innerhalb dessen jeweilig Besonderes sichtbar wird, ergibt sich je und je, indem wir ihn bewohnen, und umgekehrt. Das zufällige Auftauchen der Dinge ist durch keinen allgemeinen Sinn des Ganzen gehalten. 6
Physis ist das Substantiv zu phuein – wachsen, sich entfalten, aufgehen.
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»Es ist, wie es ist.«
Andererseits aber kommt hier in anderer Weise ein eigener Sinn ins Spiel. Das dem Jäger unverhofft begegnende Tier, Goethes Blümchen, eine zufällige Begegnung zwischen zwei Menschen bedeuten, daß ein Jeweiliges an ihm selbst und von ihm selbst her auftaucht. Mit ihm spricht sich uns auf je neue Weise ein je eigener Sinn zu: es ist, wie es ist. Wir entsprechen ihm, indem wir seine Eigenheit zulassen, indem wir uns in die ihm eigene Bewegtheit einlassen. Der Umgang mit den Dingen der Welt kann als NichtHandeln bezeichnet werden, weil er sie nicht zu bewältigen sucht, sondern sie als je und je Zufallendes aufnimmt. Das in diesem Sinne Zufallende ist kein Geschicktes, nichts anderswoher Gewolltes oder Verursachtes, es kommt im jeweiligen Weltspiel von sich her auf uns zu. Damit sollen keine internen Beziehungen und Wirkungen geleugnet werden. Wie mit dem Nicht-Handeln auch nicht jedes Tun ausgeschlossen wird. Im Gegenteil. Die Beziehungen und Handlungen bekommen erst dadurch ihren eigenen Sinn, daß sie als sie selbst, unabhängig von Verursachungen und Zwecksetzungen wahrgenommen und zugelassen werden. »Zufälle sind unvorhergesehene Ereignisse, die einen Sinn haben.« Dieser Satz von Diogenes (4. Jahrhundert v. Chr.) gibt einigermaßen den Sinn von Sinn wieder, auf den meine Überlegungen zum von sich her auf uns zu Kommenden fast von selbst geführt haben. Damit etwas uns als zufällig erscheint, muß es uns ausdrücklich begegnen, es muß auf uns zukommen, uns in irgendeiner Weise etwas zu sagen, also einen Sinn für uns haben. Aber dieser Sinn kommt ihm nicht von einer höheren Vernunft oder umfassenden Ordnung her, vielmehr fällt er ihm zu, eben indem er uns begegnet, indem wir ihn aufnehmen im wörtlichen Sinne. Dies ist die Bedeutung, in der auch ich hier von einem 38 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
»Es ist, wie es ist.«
»Sinn des Lebens« sprechen könnte. Ich führe zwei Zitate an, in denen ich den Sinn in der gekennzeichneten Weise eines Von-sich-her-auf-uns-zu-kommen-Lassens verstehe: »Der Sinn des Lebens ist ein Leben mit Sinn.« (Robert Burns) »Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst.« (Agnes Heller) 7 Unser Leben hat einen Sinn, wenn wir es so leben, daß uns Sinnhaftes begegnen kann; sinnhaft jedoch ist, was sich uns zuspricht, wovon wir uns etwas sagen lassen. Der Sinn ergibt sich jeweils im Kreuzungspunkt – besser: im Kreuzungsbereich – einer solchen Begegnung. Wenn Hermann Hesse sagt: »Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben. Aber es hat nur ganz genau so viel Sinn, als wir ihm selber zu geben imstande sind«, so füge ich dem hinzu, daß unsere Sinngebung nur dem zu entsprechen vermag, was uns – unseren Sinnen und unserem Sinn – jeweils zufällt. Das allerdings müssen wir aufnehmen, dem können wir sogar entgegengehen. Wir können dem Leben einen, jeweils seinen Sinn geben, indem wir es als ein Geschehen fassen, dessen sich verändernde und ineinander übergehende Momente sich gegenseitig – und damit auch uns – etwas, nämlich ihr Je-weiliges zu sagen haben. Das Aufnehmen des Sinnes geschieht durch die Sinne, durch die wir, die irdischen, endlichen Wesen, in der Welt verwurzelt sind. Wolfgang Welsch hat den Begriff »ästhetisches Denken« in die Diskussion gebracht. Er bezieht sich nicht allein auf den Bereich der Kunst, sondern bezeichnet ein aisthetisches, ich selbst würde sagen: ein »sinnliches Denken«, d. i. ein solches, für das ineins die Wahrnehmung durch die Sinne und das Ersehen und Erfühlen von Sinn Übrigens fast wörtlich bei Goethe: »Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst.«
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maßgeblich geworden sind. Welsch schreibt: »Man kann geradezu sagen, daß die neueren Denker ihre Sinne im Denken mobilisieren, daß sie ein Denken praktizieren, das über Sinne verfügt und mit ihnen Sinn macht.« (Ästhetisches Denken, 47) Das sinnliche Denken läßt die welterfahrenden Sinne und das Spüren und Empfinden von mannigfachem Sinn, von Stimmungen und Atmosphären nicht als bloße Lieferanten von Material für eine rationale Verarbeitung hinter sich, sondern es bewegt sich in ihnen, vermittelt zwischen ihnen, nimmt sie als seine eigenen Potenzen »wahr«. Es ist gekennzeichnet durch seine »exakte Phantasie« 8 , durch seine bunten Einfälle, seine aufmerkenden Blicke in Ungesehenes und sein gespanntes Lauschen auf Unerhörtes. Der Pariser Sinologe François Jullien hat in einer Reihe von Büchern auf immer neuen Wegen versucht, Brücken zwischen dem europäischen und dem ostasiatischen Denken sichtbar und gangbar zu machen. Bei dem, was er über die chinesische Grundeinstellung z. B. zur Weisheit ausführt – in Abhebung gegen unsere philosophische Tradition –, zeigen sich viele Übereinstimmungen oder Verwandtschaften zu dem, was ich über ein alternatives Denken zu sagen versuche, das die überkommene Subjekt-Objekt-Trennung hinter sich lassen will und damit auch einen anderen »Sinn von Sinn« denken muß. Was unsere Grundfrage betrifft, bin ich bei Jullien auf folgende Überlegung gestoßen: »Was aber ›sagt‹ das Chinesische nicht? Was sagt es nicht, was ›wir‹ selbst sagen würden, ohne noch daran zu denken, so sehr ist es schließlich in die Sprache – die europäische Sprache – und in unsere Gewohnheit eingegangen? Was das Chinesische nicht sagt, ist 8
Vgl. Adorno, Die Aktualität der Philosophie, 342.
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der ›Sinn des Lebens‹. … Aber wenn ich das Leben … als ununterbrochenen Übergang denke, in dem ein Moment den anderen hervorruft und all diese Momente sich einzig durch die Tatsache ihrer Variation, in der sie sich gegenseitig zur Geltung bringen, rechtfertigen, verschwindet der ablösende Blickwinkel …, der die Sinnfrage hervorgebracht hatte, die Frage löst sich von selbst auf. Die Frage hat keinen Anlaß, keinen ›Ort‹ mehr«. Entscheidend ist für Jullien der Begriff des Moments, den er mit Montaignes Begriff »à propos« verknüpft. Montaigne sagt: »Unser großes und ruhmreiches Meisterstück ist es, à propos zu leben.« 9 Wie immer es mit der Einschätzung als »Meisterstück« bestellt sein mag, à propos leben heißt, den jeweiligen Moment, seine Situation und die Gelegenheiten, die er bietet, wahrnehmen und sich darauf einlassen. Wieder würde ich vom Zufall sprechen, aber einem Zufall, der, um es so zu sagen, nicht zufällig ist, sondern der, weil wir auf das achten, was uns mit und in ihm zufällt, als ein sinnvoller Moment gelebt wird. Insofern ist es mit dem Sinn des Lebens ähnlich wie mit dem Schicksal. Wie wir ein in der göttlichen Vorsehung oder der Weisheit der Sterne liegendes, über allem waltendes Schicksal anzweifeln können, so können wir einen übergreifenden, vorherbestimmten Sinn des Lebens leugnen. Doch wie wir uns durchaus mit unserem persönlichen, von Zufällen durchzogenen und sogar allererst gebildeten Schicksal auseinandersetzen, mit ihm hadern oder es anerkennen usw., so können wir unser Leben auch mehr oder weniger sinnvoll leben und gestalten. Wir tun dies, indem wir den Moment erfassen und auskosten. Das Erfassen und Auskosten bedeutet – das ist viel9
Essais III, 13, zitiert nach Jullien, Über die Zeit, 182 f., 128 f.
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»Es ist, wie es ist.«
leicht wichtig zu betonen – keine bloße Passivität; der hier gemeinte Zufall ist nicht das, was man landläufig mit Kismet bezeichnet, mit blindem Schicksal. Das Nicht-Handeln meint kein einfaches Nicht-Tun. Ein sinnhaftes, sinngebendes Leben ist durchaus aktiv, eben indem es sich im aufnehmenden und antwortenden Gespräch mit dem Begegnenden hält. Der chinesische Dichter Lu Ji (261–303) beschreibt es so: »Wir kämpfen mit dem Nichtsein, um es ins Sein zu zwingen; wir klopfen bei der Stille an, daß uns eine Musik antworte.« 10 Dieses Anklopfen bleibt immer durch ein Hören und Fragen mitbestimmt, es ist kein Bewältigen und Beherrschen. Jullien zitiert mehrfach eine weitere Bemerkung von Montaigne, die das bisher Gesagte zusammenfassen kann: »Wenn ich tanze, tanze ich; wenn ich schlafe, schlafe ich«. Jullien schreibt: »jeder von diesen Momenten zieht sich auf sich selbst zurück, jeder ist eine eigene, horizontbildende Totalität. Nichts integriert ihn, bezieht ihn auf anderes oder beherrscht ihn – einfach ›Wenn ich tanze, tanze ich‹ ; und diese … Momente rufen sich gegenseitig auf, unter dem Eindruck ihrer Differenz kommunizieren sie untereinander.« (a. a. O., 167) »Wenn ich tanze, tanze ich; wenn ich schlafe, schlafe ich«. Das kann an einen Satz von Wohlfart in seinem ZenBüchlein erinnern: »Wer wissen will, wie Reis schmeckt, muß Reis essen.« (25) Es kommt nicht darauf an, über den Reis nachzudenken, sich kluge Gedanken über seinen Geschmack und dessen Herkunft zu machen, vielmehr geht es allein darum, seinem Geschmack auf der Zunge nachzuspüren, den Reis Reis sein zu lassen. Zitiert nach Maria Rohrer, Das Motiv der Wolke in der Dichtung Tao Yuanmings, 15.
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»Es ist, wie es ist.«
»So wie es ist, so laß es sein, d. h. nur wenn du von ihm abläßt, läßt du es zu, läßt du es da-sein in seinem Selbst-sosein« (28), heißt es ein wenig später. Darin scheint ein Widerspruch zu liegen. Bedeutet, den Reis zu essen, nicht gerade, sich auf ihn zu konzentrieren, also keineswegs, von ihm abzulassen? Ich denke, vom Reis abzulassen, heißt von dem Wissen-Wollen über den Reis abzulassen, von der Vorstellung, die wir uns über ihn zu machen versuchen, über das, was Reis als solcher ist. Wenn ich tanze, tanze ich; wenn ich schlafe, schlafe ich; wenn ich Reis esse, esse ich Reis. Das Wissen, das sich hier ergibt, ist ein anderes als das der Vorstellung und des objektiven Begriffs. Wir sprechen im Deutschen von einem »Wissen um etwas«. Das Wissen, in dem wir um das Tanzen, um das Schlafen, um das Reis-Essen wissen, ist ein unmittelbares, leibhaftes. Die Entgegensetzung von Subjekt und Objekt hat hier keinen Sinn mehr.
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»Es ist, wie es ist« – »Et es, wie et es«. Das ist der erste Paragraph des sogenannten »Kölschen Grundgesetzes«. Sein zweiter Paragraph lautet: »Et kütt, wie et kütt« – »Es kommt, wie es kommt«. Daß es ist, wie es ist, ist keine statische Tatsache, vielmehr ein Sach-verhalt. Es bedeutet jeweils ein Verhältnis zwischen dem, was ankommt und da ist, und dem, der es vernimmt und es sein läßt, wie es ist und sich zeigt. Was sich da zeigt und zu uns spricht, ist auf der Seite der Dinge das Einzelne und Differente, das sich Wandelnde, das Zufallende und Einfallende, das je seinen Sinn von sich selbst her zeigt. Dazu bedarf es auf der Seite des Aufnehmenden der Gelassenheit und der offenen Sinne. 43 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
»Es ist, wie es ist.«
Wir können dieses Verhältnis als das eines Miteinandersprechens verstehen – des An- und Zusprechens auf der einen Seite, des Hörens und der sinnvollen Entgegnung auf der anderen, des Ent-sprechens, das seinerseits ein Sprechen ist. Im wechselseitigen Sprechen miteinander wird das Verhältnis offen gehalten, es bleibt ein Verhältnis des Andersseins und der Endlichkeit. Das Denken der Differenz, das in besonderer Weise als Merkmal der neueren französischen Denker gilt, ist schon von seinem Begriff her ein endliches Denken. Denn das sich Unterscheidende, das Anderswerdende und Andersgewordene (das Heterogene), ist eben das, was der Einheit der allgemeinen Gattung Widerstand leistet, indem es seine vieldeutige und vielfarbige Eigenheit, seine Zufälligkeit und Nichthaftigkeit mit ihrem Wechsel von Intensität und Bruch dagegen setzt. Ihm entspricht eine ruhige Aufmerksamkeit auf und geduldige Hingabe an die Sache, ein Warten auf deren Zuwendung, die zugleich nur in der eigenen gelassenen Hinwendung sprechend werden kann. Das Ablassen vom objektbezogenen Begreifen ist ein Zulassen des Von-selbst-so-Seins. Neben diesen beiden Weisen des Lassens sind in den bisherigen Ausführungen vor allem das Sich-Einlassen auf etwas und das Sein-Lassen aufgetaucht. Fast alle Mitglieder der Wortfamilie »lassen« weisen in je unterschiedlicher Weise in eine Richtung, die sich zunächst am besten negativ umschreiben läßt. Jeweils kommt ein Verhalten ins Spiel, das sich nicht aktiv begreifend oder handelnd seines Gegenstandes zu bemächtigen sucht, das nicht von sich selbst aus auf die Welt zugeht, um sie eigen-mächtig zu bestimmen, sondern das sich umgekehrt soweit wie möglich dem Begegnenden anheimgibt. Ich habe eine solche Haltung und ein solches Tun oben im Anschluß an das ostasiatische Denken als Nicht-Handeln 44 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
»Es ist, wie es ist.«
bezeichnet. Ich denke, damit ist etwas Ähnliches gemeint wie mit dem Heideggerschen Grundwort Gelassenheit. Die Gelassenheit nennt bei Heidegger keine stoische Haltung, kein bloßes Geschehenlassen. Er meint damit vielmehr eine Weise des Denkens oder allgemeiner des Verhältnisses des Menschen zu dem, was ist. Sie entspricht in etwa dem, was Adorno den »langen und gewaltlosen Blick auf den Gegenstand« (Anmerkungen, 14) nennt. Beide, Adornos langer Blick und Heideggers Gelassenheit, bringen eine Haltung zum Ausdruck, für die sich, mit Julliens Worten, die Frage nach dem Sinn von selbst auflöst, weil sie keinen Anlaß, keinen ›Ort‹ mehr hat. Es ist, wie es ist. Wie ist es? Dieser Frage können wir mit Geduld und Gelassenheit nachgehen, indem wir uns mit all unseren Sinnen auf das uns jeweils mehr oder weniger zufällig Begegnende einlassen. Ich schließe meine Überlegungen mit einem etwas längeren Zitat aus Julliens Buch Der Weise hängt an keiner Idee: »In den Augen der Weisheit verliert die Frage nach dem Sinn des Lebens ihren Sinn. Deshalb wird sich der Weise auf sie genausowenig fixieren wie auf die Wahrheit. / Derjenige ist weise, […] der sich die Frage nach dem Sinn nicht mehr stellt […] Weise ist der, für den Welt und Leben selbstverständlich sind. Der sich damit begnügt, zu sprechen […]: Die Dinge sind so. Nicht ›so sei es‹, wie die Religion in ihrem Wunsch nach Einverständnis sagt; auch nicht ›warum ist das so?‹, wie die Philosophie in einem plötzlichen Erstaunen fragt. Weder Akzeptieren noch Infragestellen – sondern ›so ist es‹. Weise ist, wer zu realisieren vermag, daß (es) so ist.« (110)
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Zwischenstück I
Was bedeutet es, daß das menschliche Leben »da ist«? Warum fragen wir überhaupt so? Seit fast drei Jahrtausenden stellen die Menschen, beginnend im östlichen Mittelmeerraum, die Frage nach ihrem Sinn, ihrem Warum, dem Grund ihres Daseins. Versteht man das Nachdenken über das Dasein als die Frage nach seiner letzten Begründung, dann hängt sie eng mit der allgemeineren und von Aristoteles der philosophischen Weisheit als letztes Ziel zugesprochenen Frage nach den allgemeinsten Gründen und Prinzipien des Seienden als solchen zusammen: Der menschliche Verstand strebt danach, Rechenschaft über alles ihm Begegnende ablegen zu können. Die Antworten auf solches höchste Fragen betreffen die umfassendste Allgemeinheit des Seienden und seines Gedachtwerdens. Man hält diesen philosophischen Impetus häufig für eine allgemein menschliche (anthropologische) Eigenschaft, sogar für die höchste Auszeichnung des Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen. Ich denke aber, daß es zu anderen Zeiten und an anderen Orten durchaus Weisen des Menschseins gab und gibt, die durch staunendes Hinnehmen und einfaches, nicht begründen-wollendes Mitgehen zu charakterisieren sind. Läßt sich dies, daß das Leben da ist, wirklich allgemein begründen? Ist das Leben jedes Menschen – wie letztlich das Sein jedes Bestehenden überhaupt – nicht schlechthin besonders, sein eigenes, nur ihm eigentümliches Leben? Biologisch-wissenschaftliche Aussagen sind als solche all46 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Zwischenstück I
gemein. Aber sie treffen nicht ins Herz unseres Lebens, das sowohl einfach da wie sterblich ist, – dein Leben und meines. Ob wir nach einem Allgemeinen und Bleibenden fragen, ob wir unser Dasein in einem uns grundsätzlich Übertreffenden zu verankern suchen, oder ob wir darin unser Genügen haben, zu sehen, wie es ist und wie wir im Gefüge des Raumes, in dem wir uns jeweils befinden, mit dem, was uns jeweils begegnet, umzugehen vermögen, – ich denke, das können wir nicht rational nach allgemein anzuerkennenden Regeln oder Argumenten entscheiden. Doch was an uns und an unserem Denken und Verhalten liegt, das ist, wie wir als Menschen auf dieser Erde sein, wie wir miteinander und mit dem, was um uns herum ist und geschieht, umgehen wollen. Zum Beispiel: Wollen wir noch Subjekte sein?
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Wollen wir noch Subjekte sein?
Ein zugegebenermaßen merkwürdiger Titel: Wollen wir noch Subjekte sein? Ist dies, ein Subjekt zu sein, überhaupt etwas, das in unser Belieben gestellt ist, etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt angefangen hat und das wir von uns aus wieder beenden können? Und selbst wenn wir dies bejahen wollen, handelt es sich nicht allzu ersichtlich um eine rein rhetorische Frage, die je nachdem, was wir jeweils unter »Subjekt« verstehen, entweder eindeutig mit Ja oder ebenso eindeutig mit Nein zu beantworten ist? Ich verstehe die Titelfrage jedoch als eine kritische Frage, d. i. wörtlich als eine Schwellenfrage. Sie steht in einer Krisis oder Wendung, einer Scheidung und Unterscheidung über ein heute sinnvolles Selbstverständnis. Diese Unterscheidung ist vielleicht schon getroffen, sie scheint sich jedenfalls bereits angekündigt zu haben. Wenn Menschsein nicht an ihm selbst und immer Subjektsein ist, wenn die Menschen vielmehr erst geschichtlich zu Subjekten geworden sind und ein Selbstbewußtsein über ihre erkennende und handelnde Stellung als Subjekte in der Welt gewonnen haben, dann müssen sie diese Stellung auch willentlich wieder verlassen können, dann können sie dieses bestimmte Selbstbewußtsein auch wieder aufgeben oder doch grundlegend verändern. Jedes grundsätzliche Seins- und Selbstverständnis erhebt einen gewissen, nicht hinterfragten Absolutheitsanspruch; man muß es darum bereits ein Stück weit verlassen haben, wenn man es in seiner Relativität und 48 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Wollen wir noch Subjekte sein?
Geschichtsbestimmtheit erkennt. Die Frage, ob wir noch Subjekte sein wollen, wird erst möglich, wenn sich das Verständnis von uns und von unserem In-der-Welt-Sein bereits in irgendeiner Weise, wenn auch vielleicht noch nicht explizit, gewandelt hat.
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Ich beginne damit, daß ich die Formulierung der Titelfrage einleitend und vorläufig erläutere, indem ich sie gleichsam von hinten her aufrolle und nacheinander frage, was hier mit »Subjekte«, mit »noch«, mit »wir« und schließlich mit »sein wollen« gemeint ist. Dabei stellen sich eine Reihe weiterer Fragen, die zunächst einmal als Fragen stehen bleiben und erst im Folgenden, teilweise eher implizit, näher geklärt werden. 1. »Subjekte« – wollen wir noch Subjekte sein? Was ist ein Subjekt? Oder genauer, da dieses Wort auf vielfältige Weise gebraucht wird, was bedeutet »Subjekt« in meiner Titelfrage? Mit einer Formulierung von Kant gesagt, ist das Subjekt »der Grund des Denkens«. 1 Es ist das Denkende als Denkendes, in dem Sinne, daß es den Ausgangspunkt der denkenden Beziehung auf einen Gegenstand darstellt. Kant hat betont, daß das Subjekt auf keinen Fall hypostasiert werden darf, daß es eher die Funktion oder die »Form des Denkens« ist als eine denkende Substanz. Und auch in Hegels berühmtem Satz aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes – daß es darauf ankomme, die Wahrheit als Subjekt und nicht nur als Substanz zu denken – ist dieser Gegensatz mit Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Die Beziehung des Menschen zu den Gegenständen der Welt 1
Kritik der reinen Vernunft, B 429.
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Wollen wir noch Subjekte sein?
ist für das neuzeitliche Denken paradigmatisch eine Erkenntnisbeziehung, und der tätige Pol dieser Beziehung ist das Subjekt, indem es, genauer, das Sich-Beziehende selbst ist. (Erst sekundär ist das autonome Subjekt des Erkennens dann ebensosehr ein Subjekt des Handelns.) Das neuzeitliche Verständnis – und entsprechend dann auch die Kritik – des Subjekts umfaßt u. a. zwei aufeinander aufbauende Momente: Zum einen wird das Subjekt als das autonom Bestimmende gegenüber einem Objekt, das von ihm bestimmt wird, angesetzt; seine Autonomie manifestiert sich in seinem Herrschaftsverhältnis gegenüber allem, was es selbst nicht ist. Die kritische Frage lautet dann z. B., ob ein Liebender wirklich selbst und d. h. autonom das Subjekt seines Begehrens, ein Denkender das Subjekt seines Denkens, ein Handelnder das Subjekt seiner Handlungen ist, oder ob es sich hier um eine Illusion der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie oder auch des neuzeitlichen Selbstbewußtseins handelt: »Il ne faut pas dire: Descartes pense. Il faut dire: ça pense en Descartes. Il ne faut pas dire: Descartes écrit ses livres. Il faut dire: les livres de Descartes s’écrivent sous la plume de Descartes.« 2 In der zweiten Hinblicknahme auf das Subjekt geht es in diesem Herrschafts- und Bestimmungsverhältnis vornehmlich um seine Rationalität. Verständnis und Kritik des rationalen Subjekt-Objekt-Verhältnisses können dabei entweder in einem weiteren oder in einem engeren Sinne gemeint sein. Den ersteren mag hier eine Formulierung von Wolfgang Welsch verdeutlichen, den zweiten eine »Man sollte nicht sagen: Descartes schreibt seine Bücher. Man sollte sagen: Descartes’ Bücher schreiben sich aus Descartes’ Feder.« Vgl. Vincent Descombes, A propos de la »critique du sujet« et de la critique de cette critique, 115 f., 120 und passim.
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Wollen wir noch Subjekte sein?
Bestimmung aus Martin Heideggers Holzwegen. Nach Welsch sind »herrscherliche Subjekte« diejenigen, »die alles nach nur einem Maß beurteilen«, und entsprechend käme es für ihn darauf an, daß auch andere Weisen der Rationalität zugelassen und anerkannt würden. 3 Für Heidegger sind Subjekte diejenigen, die sich selbst als Maß setzen. Er spricht in Bezug auf sie von jener »Art des Menschseins«, »die den Bereich der menschlichen Vermögen als den Maßund Vollzugsraum für die Bewältigung des Seienden im Ganzen besetzt«. 4 Die Kritik läßt sich hier leiten von dem Blick auf ein Menschsein, das als ein sterbliches Wohnen mit den Dingen und in der Welt verstanden wird. 2. »Noch« – wollen wir noch Subjekte sein? Noch – das soll besagen, in der heutigen Zeit, einer Zeit also, die durch eine grundsätzliche Kritik am »Subjekt-Objekt-Verhältnis« hindurchgegangen und für die jene Kritik fast schon zur Vergangenheit geworden ist. In der aber gleichwohl die Auseinandersetzung mit dem Subjekt, die Frage nach der Eigenart, Rolle und Bedeutung des denkenden Ich zentral geblieben ist, wobei es in jeweils ganz unterschiedlicher Weise darum gehen kann, das Subjekt als solches neu zu denken, es lediglich in seine Schranken zu weisen oder aber ihm seine bestimmende Funktion abzusprechen und es damit überhaupt in Frage zu stellen. Noch – das heißt auch: in einer philosophischen Situation, die sich selbst wesentlich als die Situation eines Danach erfährt und beschreibt, nach der Metaphysik, nach der neuzeitlichen Denk-, aber auch Geschichtsentwicklung, nach der Moderne. Jeweils bezieht sie sich damit, zwar stets kritisch und abgrenzend, aber eben doch in begrifflicher 3 4
Unsere postmoderne Moderne, 316. Holzwege, 84.
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Wollen wir noch Subjekte sein?
Anknüpfung, auf das, was gewesen ist; sie stellt sich dabei der Frage, was von dem, was einmal geschichtlich geworden war, noch in sie selbst hineinreicht und was sie als hinfällig geworden aufgeben bzw. dem Sedimentgestein der Geschichte überlassen kann und muß. Sind wir heute noch Subjekte, oder sind wir es nicht mehr? Wollen wir es jedenfalls nicht mehr sein? 3. Doch wer sind da »wir«? Wollen wir noch Subjekte sein? Es sind die Philosophen, die hier fragen. Für wen, in wessen Namen, auf Grund welcher Erfahrungen sprechen sie, wenn sie zu sagen versuchen, »was ist« und »wie es ist«, wenn es also darum geht, wie das jeweilige Verhältnis des Menschen zu seiner Welt, zu deren Dingen, Geschehnissen und Sachverhalten zu denken sei? Daß es sich bei dem, wonach da gefragt ist, nicht mehr um unwandelbare, ontologische oder anthropologische Konstanten handeln kann, ist inzwischen wohl allgemeine Überzeugung. Aber gerade, wenn wir es stattdessen mit Selbst- und Weltverständnissen zu tun haben, die sich in geschichtlichen Prozessen gesellschaftlicher Anerkennung gebildet haben und die sich weiter verändern werden, gerade dann stellt sich die Frage, wer hier welche Argumentationsketten, Einsichten, Intuitionen, Phantasien, Interessen und Bedürfnisse ins Spiel bringt. Die Kritik an bestimmten Grundvoraussetzungen von Weltsichten wird immer geleitet sein von differierenden Wahrnehmungen oder Entwürfen. Sie beziehen sich auf die jeweilig bestehende Gegenwart oder auf eine wünschenswerte, vielleicht schon absehbare oder noch ganz ferne Zukunft. Stützen sie sich dabei auf den Grundkonsens einer Mehrheit oder auf die Utopien von wenigen? Oder ist weder das eine noch das andere der Fall? Wer hier »wir« sind, hängt sehr eng mit dem nächsten Moment, dem »sein wollen« zusammen. 52 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Wollen wir noch Subjekte sein?
4. Wollen wir noch Subjekte sein? Kann es hier überhaupt um etwas gehen, was wir sein wollen oder nicht sein wollen? Die postmoderne Kritik am Subjektbegriff beruht vielfach auf der Überzeugung, daß wir keine Subjekte sein können, daß es eine Illusion ist, wenn die Menschen sich eine grundlegende Autonomie in Bezug auf ihre Objekte und Handlungen zusprechen. Geht es also nicht eher um ein Seinkönnen als um ein Seinwollen? Oder, anders gefragt: Wenn es bei der Frage nach dem eigenen Subjektsein nicht nur um die Autonomie, sondern um eine grundsätzlichere Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu seiner Welt zu tun wäre, ist das Andere, das wir dann sein wollten, etwas, das wir, einige oder viele oder alle, heute bereits sein können? Oder ist es etwas, das wir, wenn überhaupt, dann höchstens irgendwann einmal in einer unbestimmten, utopischen Zukunft sein werden? Für das Wollen würde das zweifellos einen Unterschied ums Ganze bedeuten. Und was bringt uns überhaupt dazu, anders und anderes sein zu wollen, als was und wie wir sind, weil wir so geworden sind? Handelt es sich da um Deduktionen, um Erfahrungen, um Spekulationen, um Träume, oder um was sonst?
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Wollen wir noch Subjekte sein? Das Subjekt ist in der Tat in Verruf gekommen. Ich möchte die Vielzahl der kritischen, skeptischen oder resignativen Zeitdiagnosen hier nicht um eine weitere vermehren, sondern lediglich schlaglichtartig daran erinnern, daß und inwiefern die Annahme eines autonomen, rationalen Subjekts heute weitgehend fragwürdig und verdächtig geworden ist. Die Voraussetzung, daß der Mensch von sich aus, au53 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Wollen wir noch Subjekte sein?
tonom, die ihn umgebende Welt – sich selbst und die anderen Menschen eingeschlossen – nach seinen Maßen und Gesetzen zu ordnen und zu beherrschen habe und daß er dazu als vernunftbegabtes Wesen auch imstande sei, hat ihre unmittelbare Evidenz und Plausibilität verloren. Wir erfahren uns allzu oft als ohnmächtig gegenüber vielerlei objektiven Gesetzmäßigkeiten und Sachzwängen, gegenüber Organisationen und Institutionen, gegenüber uns prinzipiell übergreifenden und übersteigenden Mächten und Interessen, die den Charakter einer zweiten Natur angenommen haben. Wir erfahren uns als fremdbestimmt, als bloß teilnehmend, integriert und assimiliert, nicht als Subjekte, sondern als Objekte selbst unserer eigenen Handlungen. Der siegesgewisse Fortschrittsglaube ist einer tiefgreifenden und weitreichenden Resignation und Unsicherheit gewichen. Allerdings sollte man nicht den Fehler machen, jede allgemeine Depression schon als signifikantes Zeichen der Zeit zu werten. Es hat in diesem zu Ende gehenden Jahrhundert immer wieder verschiedenartige, den politischen und ökonomischen Verhältnissen folgende Auf- und Abschwünge gegeben, und das jetzige »Loch« ist nicht unbedingt symptomatisch für die Zeit. Gleichwohl können wir sagen, daß sich dieses ganze Jahrhundert im Rückblick u. a. durch ein allmähliches Hinfälligwerden der übergeordneten Prinzipien und bindenden Werte, des Glaubens, der selbstverständlichen Überzeugungen und Identitäten kennzeichnen läßt. Heute stehen wir der Wissenschaft und Technik, der staatlichen Macht und den Verwirklichungsmöglichkeiten solcher Prinzipien wie Demokratie, Solidarität, Freiheit und Gerechtigkeit mit einer gewissen Skepsis gegenüber. Die vernünftige Ordnung, die der neuzeitliche Mensch der Welt geben wollte, ist gescheitert. Und dies zu konstatieren, 54 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Wollen wir noch Subjekte sein?
gilt weder als subversiv noch als revolutionär. Z. B. wenn man darauf hinweist, daß die allgemeine Herrschaft von Macht- und Profitinteressen die Interessen und Bedürfnisse der Einzelnen immer schon in sich integriert hat. »Kapitalismus« ist kein kritisch-polemischer Begriff mehr. Verstehen wir unter »Subjekt« den Autor des allgemeinen menschlichen Planens, Wollens und Handelns, dann ist es dem abendländischen Subjekt-Menschen zwar in der Tat gelungen, die Welt weitgehend und in planetarischem Maßstab 5 nach seinem Bild zu formen. Eben damit aber sind Natürlichkeit, Eigensein und Eigeninitiative, Authentizität und qualitative Besonderheit weit zurückgedrängt, worin u. a. die Gründe für die gerade genannten Resignationen und Nivellierungen der letzten Jahre und Jahrzehnte liegen. Und paradoxerweise sind es gerade die umfassenden Effekte und Erfolge des neuzeitlichen Planens und Wirkens, die aus sich selbst heraus ihre eigene Fragwürdigkeit und teilweise Kontraproduktivität hervorzubringen scheinen. Es ist aber nicht nur die zweifellos vielfältig zu konstatierende Verkehrung der vermeintlichen Autonomie in faktische Heteronomie, was zu einer Infragestellung des Subjektansatzes führt, – ebenso, wie es auch nicht nur die negativen Auswirkungen der Naturzerstörung sind, die eine neue Besinnung auf die Natur und Natürlichkeit ernötigen. In dem Begriff der Auto-nomie ist es, so scheint mir, ebenso oder mehr noch der zweite Bestandteil, also das Gesetzgebungsmoment, was die Subjektivität des Subjekts auszeichnet – und sozusagen verdirbt. Denn in der Ge-
Vor 50 Jahren hieß es »planetarisch«, heute (2020) sagt man eher »global«.
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55 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Wollen wir noch Subjekte sein?
setzlichkeit der Beziehung ist die Trennung zwischen Subjekt und Objekt in besonderer Weise zementiert, eine Trennung, die als späte Folge einer der Sache nach bereits in der Zeit von Platon und vor allem dann bei Aristoteles gedachten Entgegensetzung von Bestimmen und Bestimmtwerden angesehen werden kann. Auch jede Rede von Rationalitätstypen und Regelsystemen verbleibt innerhalb eines Bereichs von Gesetzgebung und Bestimmung, der immer schon in der Gefahr ist, ein Bereich der Weltlosigkeit und Abstraktheit zu sein, wie es nicht nur für die Wissenschaften, sondern zunehmend auch für die vermeintlichen »Welten« der technologischen und z. B. auch der ökonomischen Rationalität zutrifft. Die Frage nach einer menschlichen Autonomie oder nach deren illusionärem Charakter stellt sich allerdings nur dann, wenn man von der Grundvoraussetzung der Notwendigkeit einer Selbstbehauptung und Selbsterhaltung des Menschen gegenüber einer vorgängig als feindlich und fremd erfahrenen Welt und Umwelt ausgeht, anders gesagt, wenn Anderssein, Fremdheit und Befremdlichkeit von vorneherein als eine Bedrohung und Begrenzung des Menschseins verstanden und erfahren werden. Sowohl die Behauptung des autonomen Subjekts wie die umgekehrte einer es immer schon übergreifenden oder unterlaufenden Herrschaft von Mächten und Kräften und »Spielen« bewegen sich innerhalb des Bereichs einer prinzipiellen Konfrontation von Subjekt und Objekt, mit der Menschen ihres immanenten Andersseins gegenüber der Wirklichkeit – auch der eigenen Wirklichkeit – Herr zu werden versuchen. Es gibt somit ein grundsätzliches Moment im Verständnis des Menschen als Subjekt, das noch dringlicher und entschiedener eine Wandlung zu fordern scheint als die Zweifelhaftigkeit der menschlichen Autonomie, die für 56 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Wollen wir noch Subjekte sein?
sich genommen nicht zu der Frage führen würde, ob wir noch Subjekte sein wollen: Bei der Rede von der SubjektObjekt-Struktur steht die Grundeinstellung des Menschen zur Welt im Blick, der gemäß er sie – als ein ihm Anderes und zu Beherrschendes – sich gegenüber und damit zugleich unter sich zu haben meint. Indem er das ihn Umgebende, die Dinge der Welt – denen er gleichwohl zu- und in die er hineingehört – als Objekte faßt, trennt er sie von sich ab, stellt sie sich gegenüber, macht sie handhabbar, manipulierbar. Indem sie Objekte werden, fallen sie gewissermaßen aus dem Bewandtniszusammenhang der jeweiligen Welt heraus, werden zu etwas »Objektivem«, Berechenbarem. Nur auf Grund dieser »Neutralisierung« des Jeweiligen und Besonderen vermögen die Rationalität und Funktionalität von Wissenschaft und Technik überhaupt zu greifen.
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Was aber würde es, angesichts dieser umfassenden Bedeutung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, heißen, wenn wir keine Subjekte mehr sein wollten? Die Einstellung, die das menschliche Subjektsein zu verabschieden sucht, bewegt sich grundsätzlich nicht mehr im Bereich des Subjektseins und läßt sich ihre Bestimmungen inhaltlich nicht mehr von dessen Negation vorgeben. Weder behaupten wir noch unsere Autonomie oder auch Heteronomie, noch zweifeln wir sie im Gegenteil an. Weder begreifen wir das Seiende im Ganzen von unserer Subjektivität her oder gar als durch sie konstituiert, noch verstehen wir uns als bloße Funktionsträger in einem oder endlos vielen Sprachspielen. Es kommt insofern auch keineswegs lediglich darauf an, eine wie auch immer geartete neue Subjektivität zu finden, die die »Fehler« der überkommenen dadurch vermeiden würde, 57 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Wollen wir noch Subjekte sein?
daß wir etwa »zwischen verschiedenen Rationalitätstypen abzuwägen« und »den Übergang von einem Regelsystem zum anderen, die gleichzeitige Berücksichtigung unterschiedlicher Ansprüche, den Blick über die konzeptionellen Gatter hinaus« 6 zu leisten imstande wären. Wenn ich meine, daß wir unser Subjektsein heute nicht mehr wollen können, dann nicht einfach nur darum, weil wir uns in dieser oder jener Situation anders, vielleicht pluralistischer oder differenzierender oder intersubjektiver verhalten bzw. unser Verhalten anders begreifen sollten. Sondern weil ich denke, daß unser Menschsein grundsätzlich ein anderes sein könnte, nämlich ein jeweils konkretes In-der-Welt-Sein und Aus-der-Welt-Sein. Was das bedeutet, kann ich annäherungsweise dadurch erläutern, daß ich sage, wir könnten »Menschen« und nicht »Subjekte« sein. Zunächst scheint das unsinnig zu sein. Während »Subjekt« ein Begriff ist, also sagt, was, d. h. welcher Art das als Subjekt Bezeichnete ist, also z. B. ein in Autonomie rational Entwerfendes und Bestimmendes, können wir »Mensch« als einen Namen nehmen, eine Kennzeichnung, die sagt, mit welcher Art von Seiendem man es gerade zu tun hat, nämlich eben mit einem Menschen. »Mensch« ist ein Name wie »Baum«, »Luft«, »blau«, dagegen ist »Subjekt« ein Begriff wie »Qualität«, »Endlichkeit«, »Gegensatz«. Darum scheint die Frage, ob wir Subjekte sein wollen oder Menschen, keine sinnvolle Alternative zu treffen; natürlich sind wir Menschen, und offen scheint lediglich sein zu können, ob wir es in der Weise von Subjekten, in der Weise der Subjektivität sind bzw. sein wollen oder in einer anderen.
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Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 316 f.
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Wollen wir noch Subjekte sein?
Mit der Frage, ob wir Menschen oder Subjekte sein wollen, kann aber auch gemeint sein, ob wir uns »einfach« von unserem Menschsein, von unserem konkreten In-derWelt-Sein her verstehen, z. B. in Bezug sowohl auf unser konkretes Denken-Können wie auf unsere Natürlichkeit und Leiblichkeit, oder ob wir unser Sein weiterhin in einer begrifflichen Bestimmung, im Subjektsein, festmachen wollen. Diese Begrifflichkeit betrifft nicht so sehr uns als vielmehr die allgemein verstandene Funktion, die der Mensch innerhalb einer Struktur dessen, was ist, einnimmt; er hat seine Bestimmung in seiner die Wahrheit und Wirklichkeit alles Seienden sichernden Funktion, d. h. eben in seinem Subjektsein. Jene Frage zielt dann darauf, ob es nicht an der Zeit ist, daß wir uns als etwas verstehen lernen, das in keiner begrifflichen Funktionsbestimmung auffangbar ist, ob es an der Zeit ist, ein jeweilig bestimmter, sterblicher Mensch auf dieser Welt zu sein.
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Hat aber dies, Subjekte zu sein, wirklich jemals das Menschsein selbst ausgemacht? Waren Kolumbus oder Bismarck, Newton oder Hegel, die Fugger oder die Medici, waren Wagner oder Röntgen, von den einfachen Bauern und Tagelöhnern, Bürgern und Söldnern, Handwerkern und Arbeitern ganz zu schweigen, wirklich »Subjekte« in dem Sinne, daß sie als die jeweils Einzelnen, die sie waren, einzig noch zu einem rechnend-vorstellenden, identifizierenden Zugriff auf das Seiende fähig waren, daß sie es allein berechnend und quantifizierend anzueignen und zu bewältigen versuchten, seine Gewißheit allein in ihrer Rationalität verankerten? Ich meine, es sei in der Tat eine der größten – und un59 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Wollen wir noch Subjekte sein?
bedachtesten – Schwierigkeiten der Kritischen Theorie und des metaphysikkritischen Denkens überhaupt, daß sie allgemein von den Menschen zu sprechen pflegen und dabei die einzelnen Individuen nicht in ihrem je besonderen Empfinden und Verhalten zu treffen vermögen. Den Nachbarn und Freund, einmal ganz abgesehen von sich selbst, würden Heidegger wie Adorno wohl nicht so einfach unter die Bestimmungen des »man« oder des »außengeleiteten autoritären Charakters« subsumieren. 7 Aber andererseits erfahren wir eben uns selbst – auch wenn wir uns vor Verallgemeinerungen hüten – in mannigfacher Hinsicht jedenfalls auch als Subjekte. Daß wir das Seiende als Objekt vorstellen – und das heißt ja, ein Subjekt zu sein –, können wir in unserem alltäglichen Verhalten ständig beobachten. Wir gehen mit unserem Leib und unserer Natürlichkeit um, als wären sie ein bloßes Instrument für den rationalen Gebrauch. Wir expatriieren unser Begehren, indem wir seine Herkunft in einen Bereich des Unbewußten verweisen, und disziplinieren unsere Antriebe und Wünsche. Wir planen unsere einzelnen Tage und zuweilen unser ganzes Leben, als wäre es ein strategisch zu meisterndes Problem. Wir manipulieren und behandeln die anderen Menschen, als wären sie bloße Spielsteine, einzusetzen nach unserem Belieben. Wir gebrauchen ihre Bedürfnisse und Interessen zu unseren eigenen Zwecken. Und wo es sich für uns nicht um spezifische Einzelne handelt, mit denen uns persönliche Beziehungen verbinden, sondern um Fernerstehende, Menschen aus anderen Ländern und Der von Heidegger überlieferte Satz »Hier wird noch gewohnt« angesichts der Räumlichkeiten des Klosters, in denen der Neske-Verlag ansässig war, spricht für sich. (Heidegger redigierte hier seine Nietzsche-Vorlesungen.)
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Wollen wir noch Subjekte sein?
Kulturen z. B., da erscheinen sie uns oftmals wie ein bloßes Inventar einer fremden Welt, wir behandeln sie z. B., je nachdem, als bloßes Zahlenmaterial für Statistiken oder wie Ausstellungsstücke in Museen. Die Dinge um uns herum sind für uns ohnehin oftmals nur unauffälliger und gleichgültiger Bestandteil unserer Umwelt, sei es als bloß Vorhandenes oder als ein jeweilig Zuhandenes, Materialien oder Werkzeuge, Baustoff für unsere materiellen und ideellen Konstruktionen, hinderlich oder nützlich, zu gebrauchen oder wegzuwerfen, ohne eigenes Leben und eigenen Sinn. Ob im Kreislauf von Produktion, Distribution oder Konsumtion, die Dinge erhalten ihre Bedeutung fast durchgängig aus unseren Zweckzusammenhängen und ihren Funktionen für uns. Und auch die – naturhaften und gesellschaftlichen – Geschehnisse und Prozesse, die wir außer uns wahrnehmen, haben wir gewöhnlich immer schon auf uns und unsere Interessen bezogen. Jeweils haben wir uns selbst, die Anderen und das Andere vorgängig zu Objekten unserer Subjektivität gemacht. Was hieße es also, nicht mehr Subjekte zu sein? Es hieße zunächst einmal und vor allem, anzuerkennen, daß wir eben auch anders sind. Wir machen Erfahrungen mit uns, mit anderen Menschen, mit Dingen und Geschehnissen, Erfahrungen, die uns beglücken oder bestürzen, auf die wir uns einlassen oder die wir zurückweisen. Wir werden hineingezogen in Bewegungen und Strömungen. Beziehungen zu Menschen und Dingen können sich aufbauen, in denen wir nicht einseitig bestimmend sind, sondern aufzumerken vermögen auf das, was zwischen dem Anderen und uns geschieht. Wir gehen mit, oder wir wehren uns. Wir stehen staunend oder hingerissen oder angstvoll vor dem, was uns begegnet. Und daß es uns begegnet, heißt eben, daß es von sich aus auf uns zukommt, uns trifft und betrifft, uns etwas 61 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Wollen wir noch Subjekte sein?
sagt. Wir vermögen auch uns selbst zuzuhören und uns sein zu lassen. Jeweils sind wir eingelassen in ein Miteinander, wir lassen uns ein auf uns selbst, auf die Anderen, auf das, was geschieht und womit sich etwas begibt. Das jeweilig Andere muß nicht Objekt sein, wir müssen nicht Subjekte unserer Erfahrungen und Handlungen sein. Es geht nicht darum, irgendein utopisches Idealbild zu zeichnen. Vielmehr etwas zu benennen, was jedem von uns immer wieder und immer schon begegnet, den einen vielleicht mehr und den anderen weniger, zu Zeiten schwächer, zu Zeiten intensiver, manchmal fast unbemerkt, manchmal in glücklichem und glückendem Bewußt-sein. Der Mensch mag außengeleitet und entfremdet sein, und vielleicht sind wir es tatsächlich die meiste Zeit über. Aber warum verleugnen wir, wenn wir sagen wollen, was wir sind, jenes andere, das wir auch sind, warum definieren wir uns einseitig von den Nivellierungen und Gleichgültigkeiten her und nicht zumindest ebensosehr von dem, was uns in dieser oder jener Weise wirklich betrifft und angeht? Ein neues Selbstverständnis des Menschen, das über die – tatsächliche oder angestrebte – Identifikation mit einem der Intention nach autonomen Subjekt hinauswill, kann auf die Seiten des Menschseins zurückgreifen, die es schon gibt und die auf neue Weise wahrzunehmen und ernstzunehmen sind. Wenn wir die Frage »Wollen wir wirklich noch Subjekte sein?« von hier aus verstehen, dann bedeutet das auch, skeptisch zu werden gegenüber der zum Subjektansatz heute korrelativen Behauptung, daß wir in Wahrheit nur Objekte seien, sowohl in unserer Beziehung zu den mannigfaltigen Formen zweiter Natur wie überhaupt in Bezug auf all das, was wir lediglich vermeinen, in der Hand zu haben. Im Ausgang von dem, als was wir uns wahrnehmen und erfahren, wäre zu fragen, ob diese Diagnose, wenn wir 62 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Wollen wir noch Subjekte sein?
ehrlich sind, wirklich zutrifft, – dann nämlich, wenn wir nicht lediglich von außen her auf die Rolle schauen, die Menschen heute in der Welt spielen. Erfahren wir uns wirklich und durchgängig nur als Objekte? Kann man das tatsächlich realisieren, d. h. am eigenen Leib verifizieren, daß wir z. B. lediglich Objekt oder Moment unseres Begehrens sind? Erfahren wir uns wirklich bloß als Momente von Sprachspielen usw.? Warum sollte unser Von-uns-aus-Wollen und unser Uns-Wissen gar nicht zählen? Hat hier nicht auf eine merkwürdige und schwer verständliche Weise eine bloße Theorie, obgleich gerade sie den Anspruch erhebt, ganz nah an der Realität und fern von der »Großen Theorie« zu sein, die Oberhand gewonnen gegenüber dem, was wir tatsächlich an uns und Anderen wahrnehmen können? Verantwortlich für jene Diagnose scheint mir u. a. die Tatsache zu sein, daß unbesehen eben doch am Kriterium des Subjektseins festgehalten wird; das Interpretationsschema des Subjekt-Objekt-Verhältnisses bleibt in Kraft, nur daß die vormaligen Subjekte jetzt auf die Seite der Objekte geraten sind. Daß z. B. nicht das einzelne Subjekt, sondern das Sprachspiel, die Gesetzmäßigkeit, die Geschichte das eigentlich Handelnde, somit das eigentliche Subjekt sei. Aber das verlagert lediglich – und potenziert sogar – die Subjektfunktion, statt sie in Frage zu stellen. Damit bleibt diese Subjektfunktion unausgesprochen der Anspruch, an dem das Sein des Einzelnen gemessen wird. Noch einmal: Wir sind nicht »Subjekte«, sondern Menschen in einer Welt, d. h. zusammen mit Anderen auf der Erde und unter dem Himmel, als Mann oder als Frau, als Jugendliche oder als Alternde, Kranke oder Gesunde, in südlicher oder nördlicher, in ebener oder bergiger, in ländlicher oder großstädtischer Landschaft. Wir sind nicht Subjekte, sondern wir sind dies, daß wir geboren werden und 63 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Wollen wir noch Subjekte sein?
sterben, lieben und gleichgültig sind, arbeiten und lernen und feiern usw. 8 Die Frage, ob wir noch Subjekte sein wollen, betrifft uns selbst. Sie fragt nicht mehr abstrakt, ob »das Sein« des Menschen im Subjektsein besteht, sondern ob wir uns selbst (weiterhin) in erster Linie als Subjekte verstehen wollen. Es ist keine Frage, die sich von außen, analysierend, definierend und bestimmend auf den Menschen richtet, um ihn als Menschen so oder anders zu identifizieren. Sie fragt vielmehr von innen her, aus uns selbst heraus, ob wir uns in unserem In-der-Welt-Sein tatsächlich als Subjekte entdecken. Umgekehrt gesagt: Die These vom Subjektsein entspringt wesentlich einer Außenansicht. Die da philosophieren, reden nicht von sich, sondern von »dem Subjekt«, das sie jedoch nicht selbst sind und sein können, eben weil das Subjekt als solches nicht lebt und nicht erfährt, nicht geboren wird und nicht stirbt, keine Schmerzen empfindet und keine Freuden. Man mag das, was »nach« dem Subjekt kommt, dann – wie etwa Adorno – wiederum als Subjekt oder Subjektivität bezeichnen. Ich finde das zwar mißverständlich und wegen des angesprochenen begrifflichen Charakters dieser Termini auch ungeschickt, aber daran hängt letztlich nichts. Entscheidend ist, ob es gelingt, die grundsätzliche Konstellation des Gegenüber, die Konstellation der Konfrontation zu verVielleicht möchte man einwenden, daß meine »Symptomaufnahme« allzu empirisch sei und das transzendentale Subjekt aus den Augen verliere. Aber nur wenn wir Subjekte sein wollen, gilt der transzendentale Entwurf. Wenn man die metaphysische Grundfrage nach den Prinzipien und der allgemeinen Struktur des nichtmenschlichen Seienden aufgegeben hat, warum sollte man dann weiterhin an der Frage nach dem, wenn auch dekonstruierten Subjekt festhalten?
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Wollen wir noch Subjekte sein?
abschieden. Unterschiedlichste Denker des 20. und 21. Jahrhunderts – von Heidegger und Adorno bis zu Derrida und Lyotard oder Sloterdijk – haben gegenüber der einseitigen modernen Bevorzugung von Aktivität, Leistung und Machenkönnen die Bedeutung des aufnehmenden, rezeptiven, ja passiven Moments im menschlichen Verhalten betont. Und einige unter ihnen haben darauf aufmerksam gemacht, daß ein weibliches Weltverhalten paradigmatisch geworden sein könnte, für das – jedenfalls auf Grund seiner spezifischen geschichtlichen Entwicklung – nicht das Bewältigen- und Bemeisternwollen, sondern das Eingehen und Hören auf das je Andere die naheliegendere Haltung zu sein scheint. Eine solche hörende und antwortende Haltung läßt sich – nicht nur, aber auch – von einem mehr untergründigen Wissen um die jeweiligen Erfordernisse und Bedürftigkeiten und Erfahrungen leiten.
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Als Subjekte haben die Europäer fremde Kontinente entdeckt und kolonialisiert, die Christen andere Völker missioniert, die Männer ihre Frauen und die Frauen und Männer ihre Kinder diszipliniert. Als Subjekte haben die Einzelnen ihre eigenen Neigungen und Bedürfnisse unterdrückt, und die Allgemeinheiten haben ihre nicht integrierbaren Mitglieder ausgegrenzt. Ich denke, wir können keine Subjekte mehr sein wollen. Aber das heißt gerade nicht, daß wir darauf verzichten könnten, nach uns selbst zu fragen und danach, wie es wäre, wenn wir lernten, uns als fehlbare und nicht bestimmende Sterbliche anzunehmen. Das ist keine Frage der Moral. Es ist die Frage, welche Ontologie wir anerkennen wollen, wenn wir eingesehen haben, daß die Metaphysik der die Endlichkeit kompensieren65 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Wollen wir noch Subjekte sein?
den unendlichen Prinzipien ausgespielt hat. Vielleicht war es früher anders. Aber heute, so meine ich, können wir zu der Einsicht kommen, daß wir uns zu unserer Ontologie selbst zu entscheiden haben. Weder sind wir einfach Spielsteine in einem überdimensionalen Spiel, das, wer weiß, von wem und wozu, nun einmal gespielt wird. Noch sind wir einfach freie Wesen, die sich kraft ihrer eigenen oder einer antizipierten allgemeinen Vernunft die Welt nach ihrem Willen einrichten könnten. Weder sind wir bloße Objekte, noch sind wir bloße Subjekte. Bedürfen aber, so könnte man einwenden, die »großen Probleme der Ethik und des gesellschaftlichen Zusammenlebens« nicht doch gewisser grundsätzlicher Maximen und Prinzipien, die nur in einer allgemeinen Subjektivität fundiert werden können? Brauchen wir nicht ein Bleibendes und Gewisses, an das wir uns halten und über das wir uns miteinander verständigen können, um unser Tun und Handeln daran auszurichten? Müssen wir also nicht doch einen allgemein anerkannten Ort wiederzugewinnen suchen, an dem ein Subjekt anzusiedeln wäre, mit dem, individuell und kollektiv, eine maß-nehmende Identifikation möglich wäre? Ich meine nicht. Jenes scheinbare Bedürfnis scheint mir auf einem Mißverständnis zu beruhen: auf dem Glauben und dem Versuch, unserer Sterblichkeit und Endlichkeit und Zufälligkeit und der Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit der Anderen und des Anderen dadurch begegnen zu können, daß wir sie durch den Rückgriff auf etwas Allgemeines, Grundhaftes und Identisches kompensieren und sublimieren – und damit letztlich leugnen. Weder in der Theorie noch in der Praxis hat jemals eine allgemeine Maxime oder ein allgemeines Prinzip ein angemessenes und »menschliches« Handeln und Verhalten 66 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Wollen wir noch Subjekte sein?
garantieren können. Begriffe und Theoreme sind, so denke ich, ihrem Wesen nach nicht dazu angetan, konkrete Probleme zu lösen. Um sich angesichts von Problemen und Konflikten zurechtzufinden und den jeweils der Situation und den »menschlichen« Zielen angemessenen Weg zu finden, braucht es viel eher z. B. ein Gespür für das Passende, einen Blick für die Anderen und ihre Bedürfnisse und Interessen und Wünsche, ein Hören auf die eigene Stimme und Einsicht. Daß es in der vor Augen liegenden Beziehungsmannigfaltigkeit verbindliche Spielregeln und Maßstäbe geben muß, damit eine Ordnung und ein sinnvolles Miteinanderleben gewährleistet sind, wäre nur dann folgerichtig, wenn man sich von außen als beurteilendes Subjekt auf die Wirklichkeit richten und diese ihrerseits am Modell des Verhältnisses von Subjekten zu Objekten begreifen würde. Aber das alles setzte viel Abstraktion voraus, und das tatsächliche Zusammenspiel »funktioniert« anders. Es ergibt sich, wenn es ein gutes und gelingendes ist, aus dem jeweiligen Aufeinanderhören. Die Frage, wie denn eine intersubjektive Verbindlichkeit gedacht werden könne, wenn keine apriorische Verpflichtung auf gemeinsame Maximen, Prinzipien oder Codes angenommen wird, wenn die allgemeine Maßgeblichkeit von Rationalität und Vernünftigkeit abhanden gekommen sind, erscheint somit als eine sophistische oder Scheinfrage, die die Voraussetzungen unserer Überlegungen nicht mitmacht. Die angezielte »neue Form der Subjektivität« – wenn wir sie einmal so nennen wollen –, fußt eben auf dem Vertrauen in eine zwar nicht apriorische, zwar in sich brüchige und zerbrechliche, zwar nur jeweilige und vergängliche, aber gleichwohl bestehende gemeinsame Erfahrung der Welt. 67 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Wollen wir noch Subjekte sein?
Heidegger hat sie als das Geviert von Himmel und Erde, Sterblichen und Göttlichen gekennzeichnet. Man kann sie auch als das Miteinander der Menschen in der Vielfalt ihrer Orte und Zeiten auf dieser Erde oder eben in dieser Welt benennen. Als das mannigfaltige Geflecht von ineinander verschlungenen und aufeinander verweisenden Erfahrungen von Menschen, die sich alle zwischen Geburt und Tod oder im Wechsel von Tag und Nacht, Sommer und Winter aufhalten. Es hängt nichts oder wenig an einer bestimmten, begrifflichen Auffächerung dessen, was wir Welt nennen. Aber alles daran, ob wir mit unseren Überlegungen und unserer Besinnung bei dieser Welt, genauer: auf dieser Welt bleiben bzw. allererst auf ihr ankommen.
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Zwischenstück II
Wir »sind« das, als was wir uns jeden Tag und jede Stunde sein lassen, im Zusammenspiel mit dem, was sich jeweils um uns herum und mit uns ergibt und begibt. Ein sorgsames und auf den Anderen und auf sich aufmerkendes menschliches Zusammenleben ist nicht von dem Gegebensein eines ichstarken und rational ausgerichteten Subjekts und von der Aufstellung von diesem entsprechenden Normen – und qua Normen entsprechen sie notwendig dem rationalen Subjekt – abhängig. Wo das In-der-Welt-Sein sich von seinem Hineingehören in die Welt und ihren Zusammenhängen her versteht und auf das Zusammenspiel der Fakten und Faktoren zu hören und zu achten bereit ist, da wird es auf Grund dieser Einstellung – und nicht auf Grund vorgegebener Normen oder Regeln – handeln und sich verhalten wollen. Theoretisch ist das vielleicht wenig. Aber es gibt eben keine allgemeingültigen, apriorischen Maßstäbe und Kriterien. Statt uns auf eine kontrafaktische Vernünftigkeit oder ein übergeordnetes Gerechtigkeitskriterium zu kaprizieren, sollten wir die Geduld des »langen und gewaltlosen Blicks auf den Gegenstand« aufbringen, auch wenn der sich nicht zum Aufstellen einer übergreifenden Theorie verwenden läßt. Der lange Blick ist ein gelassenes Vernehmen. Er gehört zu einer Vernunft, die sich bewährt, indem sie sich in der Schwebe hält. In einer Schwebe, zu der zweifellos auch ein verständiges Erwägen und ein bedächtiges Beurteilen gehören. 69 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Vernunft – andere Vernunft – Anderes der Vernunft?
In einem nach der Moderne sich öffnenden Feld zu denken, heißt unter anderem, gegen eine Vernunft zu denken, die sich über zwei Jahrtausende hin als herrschend und als einheitlich verstanden hat. Im Folgenden möchte ich dem Sinn, der Möglichkeit und der Tragweite einer heutigen Vernunftkritik nachdenken. Es geht mir dabei nicht um eine Sichtung und Analyse der unterschiedlichen Aspekte von Vernunftkritik bei verschiedenen ihrer Vertreter, vielmehr um eine Diskussion des vieldeutigen Problems selbst.
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Im Hinblick auf die jeweilige Einstellung zu ihrem Gegenstand lassen sich grundsätzlich zwei Arten von Kritik unterscheiden. Entweder sie gilt der kritisierten Sache als solcher oder aber einem bestimmten Grundzug, einer bestimmten Erscheinungsweise von ihr. Wenn ich etwas kritisiere, kann ich es überhaupt nicht mehr wollen oder ich kann es anders wollen. So kann man etwa den Kapitalismus kritisieren, weil man ihn seinem Grundansatz nach für eine das menschliche Miteinanderleben letztlich pervertierende Wirtschafts- und Gesellschaftsform hält, die also in Richtung auf eine grundsätzlich andere Form zu überschreiten wäre. Man versteht aber unter Kapitalismuskritik auch den Versuch, ihm eine andere, »sozialere« Gestalt zu geben. Eine solche Kritik richtet sich dann nicht auf die kritisierte Sache im Ganzen – es geht ihr nicht um deren Vernichtung 70 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Vernunft – andere Vernunft – Anderes der Vernunft?
oder Überwindung –, sondern auf die Weise, wie sie erscheint, die Gestalt etwa, die sie geschichtlich angenommen hat, oder auch darauf, daß ihr eine Bedeutung zugeschrieben wird, die ihr nicht zukommt. Kritik bedeutet da – etwa bei Kant – so etwas wie »Grenzziehung«. Die zeitgenössische philosophische Vernunftkritik gehört zunächst der zweiten Weise von Kritik zu. Nicht daß es überhaupt Vernunft gibt, nicht einmal, daß sie das ausgezeichnete Mittel der menschlichen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ist, steht in Frage, sondern daß sie so ist, wie sie heute ist oder wie sie heute gebraucht bzw. vollzogen wird. Immer noch geht es in der Philosophie vorrangig um die Vernunft, um das Wissen, um die Rationalität. Das war so seit dem Beginn der Neuzeit, bei Descartes, bei Leibniz, bei Kant und bei Hegel; die Vernunft bestimmte das Zeitalter der Aufklärung, das in die Moderne im engeren Sinne überging. Allerdings gab es auch Gegenströmungen – in den letzten zweihundert Jahren z. B. Kierkegaard, der frühe Marx, Nietzsche zum Teil, Heidegger. 1 Andererseits läßt sich zugleich, wenn auch vereinfachend, sagen, daß es insbesondere der spezifische Vernunft- und Rationalitätsbegriff der Moderne ist, der sowohl die Postmoderne, wie zuvor schon die Denkansätze von Wittgenstein, Heidegger und Adorno zu einer mehr oder weniger grundsätzlichen Revision des Begriffs des Denkens und der Vernunft herausgefordert hat. Mit seiner Thematisierung des postmodernen Wissens hat Lyotard, der sich intensiv mit Adorno auseinandergesetzt hat, sozusagen den Leittext des phi-
Dagegen ist Adornos Kritik am Vorrang des Subjekts weitgehend von einem durchgängigen Interesse an einer, wenn auch neu zu denkenden Rationalität getragen.
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Vernunft – andere Vernunft – Anderes der Vernunft?
losophischen Zweigs der Postmoderne geschrieben. Welsch versucht in seiner zusammenfassenden Darstellung des postmodernen Denkens eine »transversale Vernunft« als das Woraufhin dieser Denkbewegung aufzuzeigen; Vattimo spricht vom »schwachen Denken«, wobei er mit seinem Ansatz auf Gedanken von Heidegger fußt. Mit dem Begriff einer veränderten, alternativen Vernunft will das postmoderne Denken dem Bannkreis der Moderne entkommen. Was allerdings jeweils unter »andere Vernunft« verstanden werden soll, ist im einzelnen Fall durchaus unterschiedlich und teilweise auch unklar. U. a. hängt es davon ab, was jeweils an der bisherigen metaphysischen oder modernen Vernunft als fragwürdig erscheint. Mir scheint, daß wir verschiedene Richtungen oder Schwerpunkte der Kritik am Vernunftbegriff der Moderne und der Neuzeit insgesamt unterscheiden können: Einmal wird ihr Ansatzpunkt vor allem darin gesehen, daß im vernünftigen Denken ein Zug zur Überwältigung seines Gegenstandes liegt, womit es das, worauf es sich richtet, in eine generalisierte Objektposition zwingt, so daß dieses nur noch in begrifflicher Zurüstung und abgeschnitten von seinem individuellen und zufälligen Sich-Geben zu erscheinen vermag. Der Vernunftgebrauch, den Heidegger als das vorstellende und Adorno als das identifizierende Denken analysiert haben und den man auch ganz allgemein als Herrschaftsdenken bezeichnen kann, geht von einem absoluten Vorrang des Subjekts über das Objekt aus. Was dem kritischen Philosophieren suspekt geworden ist, ist hier also der objektivierende, klassifizierende, quantifizierende Zugriff der neuzeitlichen Vernunft auf ihre Gegenstände. Eine andere Vernunft wäre demgegenüber eine solche, die aus einer Kommunikation mit dem in der Kommunikation selbst als fremd zugelassenen Anderen heraus denken wür72 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Vernunft – andere Vernunft – Anderes der Vernunft?
de, sie würde sich auf ihre Gegenstände einlassen, um sie von sich aus zum Sprechen zu bringen. Zum anderen richtet sich die Kritik darauf, daß die grundhafte Vernunft seit jeher als umfassend und einheitlich angesetzt war. Im gegenwärtigen, postmodernen Denken steht dieser Kritikpunkt im Vordergrund. Sehr deutlich heißt es bei Wellmer, es gehe um »die Aufhebung der einen Vernunft in einem Zusammenspiel pluraler Rationalitäten«. (Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 109) Darin liegt ersichtlich eine andere Kritikintention als in dem, was Adorno sich gegen den Identitätsbann richten läßt, unter dem das Denken steht. Denn was mit seinen Qualitäten und Besonderheiten dem Identifizieren unterworfen und unterdrückt wird, ist bei Adorno und Horkheimer das empirische Einzelne, sei es das Kaninchen, das »verkannt als bloßes Exemplar durch die Passion des Laboratoriums« (Dialektik der Aufklärung, 16) geht, sei es das menschliche Individuum, von dem »die Mimikry ans Amorphe« (75) gefordert wird. Der Identitätsgesichtspunkt läßt sich darum auch von dem zuvor genannten des Herrschafts- und Ursprungsdenkens kaum unterscheiden. »Je mehr Identität durch den herrschaftlichen Geist gesetzt wird, desto mehr Unrecht widerfährt dem Nichtidentischen«, schreibt Adorno in dem Aufsatz Fortschritt (35). In der Postmoderne geht es dagegen weniger um das dem Einzelnen geschehende und es leiden machende Unrecht, vielmehr geht dieses Denken vordringlich von der Tatsache aus, daß sich in der Moderne verschiedene Diskursarten herausgebildet haben, die durchaus unterschiedliche Rationalitäten implizieren. »Es ist erfahrbar geworden«, referiert Welsch Derrida, »daß die Wahrheit bei der Vielfalt liegt – die nur aus dem Blickwinkel des Einheitsstrebens als ›Verwirrung‹ diskreditiert wird.« (Unsere postmoderne 73 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Vernunft – andere Vernunft – Anderes der Vernunft?
Moderne, 114) Der Gegensatzbegriff zu Einheit oder Identität ist hier nicht Nichtidentität, sondern Vielheit. Die veränderte Vernunft wäre dementsprechend eine solche, die in sich selbst mehrfältig, »widerstreitend« ist und sein will, während sich Adornos Denken in Richtung auf den »Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander«, mithin auf einen »Stand der Versöhnung« zubewegt. (Zu Subjekt und Objekt, 153) Und noch einen dritten Kritikpunkt möchte ich nennen. Die Kritik an der traditionellen Vernunft entzündet sich auch daran, daß die einheitliche und beherrschende abendländische Rationalität seit ihren Anfängen in einem Gegensatzverhältnis sowohl zur Sinnlichkeit wie zur Natur überhaupt steht. So heißt es in der Dialektik der Aufklärung: »die Trennung beider Bereiche läßt beide als beschädigte zurück.« (42) Statt blind in jener Trennung zu verharren, ginge es einer veränderten Vernunft um eine »Struktur, in der der herkömmliche Gegensatz zwischen Geist und Materie keinen Platz mehr hat«. 2 Unter allen drei Vorzeichen ging und geht die Kritik an der Vernunft allerdings nie so weit, daß sie die Rationalität selbst in Frage stellte. Der Irrationalitätsvorwurf gehört sogar zu den »Diffamierungen«, gegen die sich das Denken am entschiedensten zu wehren pflegt. 3 Die Betonung der eigenen Rationalität und des Aufklärungscharakters des eigenen Denkens scheint in der Philosophie immer noch, und vielleicht immer mehr, weil immer bewußter, eine unhintergehbare, selbstverständliche Voraussetzung zu sein, auch wenn die Vernunft eine zu verändernde oder veränderte, erweiterte Vernunft sein soll. 2 3
Derrida, Philosophie in der Diaspora, 23. Vgl. Martin Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, 9 ff.
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Vernunft – andere Vernunft – Anderes der Vernunft?
Ließe sich diesem Kritikverständnis aber nicht doch – von einer radikaleren Position aus und unter impliziter Bezugnahme auf die obige Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Weisen von Kritik – die Frage stellen, warum denn weiterhin mit solch einer Sicherheit und Hartnäckigkeit an der Rationalität als höchstem Angelpunkt der Philosophie festgehalten wird? Insbesondere im Hinblick auf die Betonung der Pluralität erscheint es mir zweifelhaft, ob es tatsächlich möglich wird, eine wirklich andere Vernunft zu denken. Wie wäre diese, über die Negation ihres Einheitscharakters hinaus, inhaltlich näher zu bestimmen? Wie unterscheiden sich die pluralen Rationalitäten in ihrer Gesamtheit von der einen Vernunft? Ich möchte zumindest die Selbstverständlichkeit dieses Festhaltens an der Rationalität ins Wanken bringen, weil ich davon überzeugt bin, daß allem Anschein zum Trotz der Versuch, eine wirklich andere Vernunft zu denken, so lange ins Leere laufen muß, als die Kritik nicht bereit ist, die vorrangige Bedeutung der Rationalität selbst und als solcher in Frage zu stellen. Dabei mache ich jetzt von einem Unterschied zwischen den Begriffen »Vernunft« und »Rationalität« bzw. »Verstand« Gebrauch, die ich in meinen bisherigen Überlegungen weitgehend synonym gebraucht habe. Diese Gleichsetzung ist in der hier relevanten Literatur weitgehend üblich. Sie kann jedoch nur solange erlaubt sein, als es um die generelle Kritik und allgemein verändernde Intention geht. In dem Augenblick, da wir uns der Vernunft – der einen und der anderen – genauer und inhaltlicher zuwenden, müssen wir sie gegenüber der Rationalität unterscheiden.
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Vernunft – andere Vernunft – Anderes der Vernunft?
Eine genaue und d. h. auch historisch differenzierend vorgehende Abgrenzung beider Begriffe gegeneinander kann hier nicht geleistet werden, zumal auch schon Vernunft und Rationalität nur als zwei repräsentative Begriffe aus einem breiteren Spektrum herausgegriffen sind, während, streng genommen, Geist, Verstand, Bewußtsein, Subjektivität, Ich, Reflexion u. a. mit herangezogen werden müßten. Ich beschränke mich darauf, einige Grundzüge herauszustellen, die in meinem Zusammenhang von besonderer Bedeutung sind. Eine Abgrenzung der Vernunft gegenüber Ratio und Rationalität oder Verstand läßt sich zunächst an der griechischen Unterscheidung von nous und dianoeia festmachen. Der nous und das noein nennen das einfache Vernehmen von etwas in seiner Wesenhaftigkeit, wobei schon bei Parmenides wie bei Platon und dann bei Aristoteles das Moment des unmittelbaren Aufnehmens und Berührens mit einem Moment des Erschauens, des tätigen Aufnehmens (und Behaltens) zumindest im Sinne eines expliziten SeinLassens verknüpft ist. Das noein ist kein aktives Hervorbringen des Wesens, aber es ist ein – in anderer Weise ebenfalls aktives – Hervorkommenlassen im Gleichen: nur das sehende und einsichtige Auge vermag das Sichtbare zu erfassen. Die dianoia, die der Sache nach in Parmenides’ Wahrheitsbericht noch keinen Platz haben konnte, bildet sich in der Auseinandersetzung mit den Sophisten bei Platon heraus und ist dann das tragende Organ des aristotelischen Organon. Sie ist das, was man der Vernunft später als Verstand gegenüberstellt, das Vermögen der Begriffe, des Urteilens und Schließens, des Differenzierens und Negierens. Wie die Vernunft durch Einfachheit, Einheit und Unmittelbarkeit zu kennzeichnen ist, so der Verstand durch das Glie76 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Vernunft – andere Vernunft – Anderes der Vernunft?
dern und Zergliedern, durch das Zusammensetzen und InBeziehung-Setzen. Übrigens nimmt schon Aristoteles, ähnlich wie auf andere Weise rund 2000 Jahre später Hegel, diesem Begriffspaar gegenüber zugleich eine ambivalente Haltung ein, insofern er die Vernunft zwar als das höchste und seligste Verhalten schlechthin auszeichnet, sein eigenes, vorwiegend wissenschaftliches Interesse sich jedoch in einer dianoetischen, verstandesmäßigen Tätigkeit artikuliert. So ist z. B. zwar das ti en einai, das reine Wesen von etwas, im nous und mit dem nous zu berühren, das Definieren aber, die wissenschaftliche Bestimmung von etwas durch Gattung und spezifizierende Differenz kann nur von der dianoia geleistet werden. Nicht eigentlich die Vernunft, sondern der Verstand tritt in ein Gegensatzverhältnis zur sinnlichen Wahrnehmung. Adorno und Horkheimer sprechen von dem »selbstherrlichen Intellekt, der von der sinnlichen Erfahrung sich trennt, um sie zu unterwerfen«, und von der »intellektuellen Funktion, kraft welcher die Herrschaft über die Sinne sich vollzieht«. (Dialektik der Aufklärung, 42) Das zwiefältig-einige Modell für das Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und Verstand ist das des Dienenden gegenüber dem Herrschenden und des Materials gegenüber der Form. In Kants transzendentalem Ansatz ist der hierarchische Charakter des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand wesentlich für die Konstitution des Gegenstandes der Erfahrung selbst. Zugleich läßt sich hier ein weiterer, wichtiger Grundzug jenes Verhältnisses benennen: Sinnlichkeit und Verstand unterscheiden sich voneinander als Rezeptivität und Spontaneität, d. h. auch als Vermögen der Passivität und der Aktivität. Zusammenfassend und verdeutlichend lassen sich folgende Grundzüge von Vernunft und Verstand oder Ratio77 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Vernunft – andere Vernunft – Anderes der Vernunft?
nalität herausstellen: Die Vernunft vernimmt ihre Sache wesentlich als einfache und eine, während der Verstand gliedert und analysiert. Die Wahrheit der auf das je Eine sich richtenden Vernunft ist Unverborgenheit, die des Verstandes Urteilswahrheit. Die Vernunft erfaßt unmittelbar ein Ursprüngliches, Grundhaftes. Der Verstand leitet argumentierend aus Gründen ab, so daß »rational« gleichgesetzt werden kann mit »gerechtfertigt« und »begründet« bzw. »begründend«. Die Vernunft, die in einem analogen Verhältnis zur Sinnlichkeit steht, läßt sich von ihrem Gegenstand bestimmen und läßt ihn dabei so sein, wie er ist, sie ist weitgehend passiv und rezeptiv. Der Verstand dagegen bestimmt und definiert, bearbeitet und beherrscht seinen Gegenstand; er kontrolliert und dominiert, ordnet und reguliert die Sinnlichkeit. In der zeitgenössischen Vernunftkritik und ihrer Bemühung um eine »andere Vernunft« treten verschiedene Momente der traditionellen Vernunft und der traditionellen Rationalität zusammen, sowohl was dasjenige betrifft, wogegen sie sich richtet, wie dasjenige, was jeweils als Anderes intendiert oder imaginiert wird: Vernunft- und Verstandesmomente finden sich auf der einen wie auf der anderen Seite. Nur bei Heidegger liegt die Sache einfach und eindeutig: Seine Kritik richtet sich gegen die Rationalität, während das »andere Denken« als hörend-fügsames, gelassenes und herzhaftes Denken, das den Satz vom Grund im Sinne des Sprunges vom Grund weg vollzogen hat, Momente dessen bewahrt und radikalisiert, was der metaphysischen Tradition die Vernunft war. Ich will hier jedoch gerade nicht von der Heideggerschen Einfachheit ausgehen, sondern hinsichtlich des durchaus vieldeutigen Anspruches der Vernunftkritik im gegenwärtigen, postmodernen Denken fragen, ob und inwieweit es ihr tatsächlich gelingt, sich 78 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Vernunft – andere Vernunft – Anderes der Vernunft?
einer wirklich »anderen Vernunft« zu nähern, oder ob und inwieweit in ihrem vermeintlich neuen Begriff alte Voraussetzungen ungefragt übernommen werden. Zum Ausgang erinnere ich noch einmal an den schon angeführten Satz von Wellmer: es geht, so hieß es, um »die Aufhebung der einen Vernunft in einem Zusammenspiel pluraler Rationalitäten«. Worauf hier der Nachdruck gelegt wird, das ist die Tatsache, daß unserem gegenwärtigen Bewußtsein – und diese Gegenwart reicht zurück bis zu der Zeit unmittelbar nach Hegel – der Gedanke einer allumfassenden, also absoluten Einheit nicht mehr plausibel, nicht mehr nachvollziehbar erscheint. Die Gründe hierfür sind unterschiedlicher Art. Als ein Moment kann man die Tatsache ansehen, daß sich das abendländische Paradigma eines allgemeinen und grundhaften Seins und der Identität des Denkens mit ihm nach seiner Apotheose bei Hegel gewissermaßen erschöpft hatte. Ein weiterer Grund ist, daß die Aufklärung selbst, das Vertrauen auf die – eigene – Vernunft, den Glauben an eine einheitliche, und d. h. auch transzendente Vernunft hinfällig werden ließ. Insbesondere sind schließlich die unterschiedlichen Lebensbereiche so weit auseinandergetreten, daß es als unrealistisches Wunschdenken erscheint, wenn man sie noch als von einem einheitlichen Sinnhorizont umfaßt begreifen will. Nicht nur bezeugt die Aufspaltung in eine kognitive, eine moralisch-politische und eine ästhetische Rationalität das Hinfälligwerden der einen Vernunft, sondern die Pluralität ist zu einer zufälligen, unbestimmten geworden, zur prinzipiell offenen Pluralität der Sprachspiele oder Diskursarten oder Lebensformen. Was besagt es im Hinblick auf den Anspruch einer Vernunftkritik, wenn jedem dieser Einzelbereiche eine eigene Rationalität zugesprochen wird? Kurz und formelhaft – 79 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Vernunft – andere Vernunft – Anderes der Vernunft?
und aus meiner Sicht polemisch – gesagt, scheint das »Neue« des postmodernen Vernunftbegriffs vor allem darin zu liegen, daß die Vernunft selbst jetzt ausdrücklich als Ratio verstanden wird. Mit der einen Vernunft wird in der Konsequenz eine von der Rationalität verschiedene Vernunft aufgegeben, insofern diese mit jener gleichgesetzt wird. Die Rationalität selbst aber wird, was ihre Grundzüge angeht, in durchaus traditioneller Weise, also keineswegs »neu« verstanden. Höchstens werden ihr Wirkungsbereich und ihre Tragweite noch erweitert, die Rationalisierung des Welt- und Selbstverständnisses totalisiert. Nehmen wir etwa Lyotards Gedanken eines grundsätzlich bestehenden Widerstreits zwischen den unterschiedlichen Diskursarten. Schon in Das postmoderne Wissen sieht Lyotard – in Anlehnung an Wittgenstein – einen Grundcharakter der Sprachspiele in ihrer Regelhaftigkeit. Auch wenn diese Regeln nicht als apriorische, vielmehr gerade als je und je von den miteinander Spielenden – oder vielleicht besser: von dem Spielgeschehen, dem »Ereignis« selbst – neu festzulegende verstanden werden, bedeutet Regelhaftigkeit Rationalität der Form. Auch der von Lyotard mit Selbstverständlichkeit behauptete kompetitive Charakter des Spiels hat, zumindest wegen seiner Bindung an ein Maß der Vergleichbarkeit, einen Bezug auf die Rationalität, die Sloterdijk als den »Grundsatz« bezeichnet, »die Dinge, die uns angehen, unter dem Gesichtspunkt ihrer Verhältnismäßigkeit, Meßbarkeit und Berechenbarkeit wahrzunehmen«. (Eurotaoismus, 243) Der Widerstreit, der zwischen unterschiedlichen Satzkomplexen besteht, hat daran seine Schärfe, daß jeder von ihnen ein eigenes Regelsystem darstellt, zwischen denen es darum keine ausgleichende Vermittlung gibt, weil dies wiederum ein übergreifendes, nämlich regelübergreifendes Re80 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Vernunft – andere Vernunft – Anderes der Vernunft?
gelsystem erfordern würde. Dementsprechend geht es für Lyotard gerade darum, die Widerstreite zu aktivieren, d. h. die unhintergehbare Differenziertheit und Legitimität jedes Einzelnen für sich herauszustellen. Worauf es hier ankommt, das ist, mit Hegel gesagt, die »Tätigkeit des Scheidens«, und d. h. »die Kraft und Arbeit des Verstandes, der verwundersamsten und größten, oder vielmehr der absoluten Macht«. (Phänomenologie des Geistes, 29) Ferner: Das Problem, das Lyotard stellt und mit der Aktivierung der Widerstreite beantwortet, ist – und zwar nicht nur der sprachlichen Einkleidung nach – ein Problem des Rechtsstreits. Die Frage der Legitimierung, der Rechtfertigung des einzelnen Satzes stellt sich zum einen darum, weil es keine einheitliche übergeordnete Vernunftinstanz mehr gibt, von der her eine Wahrheitsfindung und -entscheidung möglich wäre. Zum anderen greift Lyotard damit auch auf einen Topos zurück, der das Vernunftdenken der Metaphysikgeschichte seit ihren Anfängen begleitet hatte. Schon im Lehrgedicht des Parmenides und noch früher im sogenannten Satz des Anaximander spielten Recht und Gerechtigkeit eine maßgebliche Rolle. Und das platonische der Gerichtssprache und -praxis entlehnte logon didonai, das Rechenschaft-Ablegen und Begründen, wurde für das Verständnis des Denkens in der ganzen nachfolgenden Philosophiegeschichte bestimmend. Inzwischen ist uns im Alltagsgebrauch der Begriff des »Urteils« so vertraut, daß wir seine Herkunft aus dem juridischen Bereich gar nicht mehr wahrzunehmen pflegen. Regelhaftigkeit und Rechtsförmigkeit der im Widerstreitenden beheimateten Rationalität gehen zusammen mit ihrem Wahrheitsanspruch. Es handelt sich zwar gerade nicht mehr lediglich um die Urteilswahrheit. An deren Seite treten vielmehr den unterschiedlichen Satzkomplexen ent81 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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sprechende Stimmigkeiten, d. h. Verknüpfungslegitimationen. Dabei geht es darum, ein jeweiliges Sprechen, einen jeweiligen Spielzug zu legitimieren, sein Wahrsein, d. h. seine Regelgerechtigkeit zu garantieren. Über die Urteilswahrheit und ihre spezifische, d. i. »logische« Logik hinaus besteht die Rationalität jetzt jeweils darin, die Komponenten eines Spiels als dazugehörig, in richtiger Weise in es hineinpassend auszuweisen. Und noch in einem weiteren Grundzug des postmodernen Denkens sehe ich – trotz seiner grundsätzlichen Differenz gegenüber den traditionellen Denkansätzen – doch auch ein Fortwirken von etwas, das immer schon zur Rationalität gehörte, nämlich in ihrer Allgemeinheit im Sinne einer prinzipiellen Überindividualität. Rationale Verhältnisse sind Strukturen, in denen die Einzelnen ihren, vielleicht wechselnden Platz finden, die diese jedoch eben damit auch immer schon übertreffen, in diesem Sinne transzendieren. Sie spannen sich nicht eigentlich zwischen den Einzelnen aus, sondern über ihnen, bzw. durch sie hindurch. Lyotard radikalisiert diesen, in der Tradition gleichwohl als gerichtete Größe, nämlich als Zweckrationalität auftretenden über- und durchgreifenden Zusammenhangscharakter, indem er das Zusammenhängende selbst in Rationalität auflöst, in Mächte, Dispositionen, »eine Ökonomie ohne Zweck und Gesetz«. (Intensitäten, 127) Die Spielzüge der »Mächte« sind, insofern sie Regelsysteme, Ordnungen sind, selbst rational. Ihnen gegenüber kann es dann zu der Empfehlung kommen: »Also sollten wir, statt das Subjekt zu heilen, […] vom Subjekt heilen, indem wir es noch flüssiger machen und in die Anonymität, die Verwaisung, die Unschuld und die zufällige Pluralität ›des‹ Begehrens mit seinen kleinen Wunschmaschinen eintauchen.« (125) Kann aber die Vernunft einer Wunschmaschine – einmal abge82 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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sehen davon, daß mir der (allerdings nicht von Lyotard zu verantwortende) Begriff der »Wunschmaschine« 4 als eine der entlarvendsten Bildungen der philosophischen Terminologie überhaupt erscheint – wirklich eine »andere Vernunft« sein, oder ist sie lediglich eine »zweite, höhere Rationalität«? Adornos Kritik am Vorrang des Subjekts ist demgegenüber noch weitgehend von einem durchgängigen Interesse an einer, wenn auch neu zu denkenden Rationalität getragen.
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Wie könnte eine andere Vernunft dann gedacht werden, wenn sie einerseits keine Grundzüge der »alten« Rationalität an sich tragen soll, andererseits aber eben auch nicht mehr einfach die »alte Vernunft« sein kann, weil diese an ein bleibendes, grundhaftes, allgemeines Sein gebunden war? Eine Vernunft, die sich der modernen Bemächtigungsund Berechnungstendenz entziehen würde, wäre eine solche, die nicht über ihren Gegenstand käme und sich nicht durch ihn hindurch zu manifestieren und zu verkörpern versuchte, sich also umgekehrt mit ihm bewegen, auf ihn hören würde, sich von ihm etwas sagen ließe. Die Grundhaltung dieses Vernehmens wäre nicht das Pathos der zweckgerichteten Planung und Aktion, sondern die rezeptive Einstellung des Sich-bestimmen-Lassens, der geduldigen Aufmerksamkeit auf das Andere oder den Anderen. Diese »andere« Vernunft steht nicht mehr als ein Fremdes und irgendwie Höheres allem Natürlichen und
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Ursprünglich bei Gilles Deleuze und Félix Guattari.
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Sinnlichen gegenüber. 5 Sie hätte vielmehr den Charakter eines Mitgehens mit dem Geschehen von »Natur«, dem das eigene Zur-Welt-Kommen als ein selbst natürliches Geschehen zugehört. Sloterdijk fragt: »Läßt sich für uns eine Alternative zum Schema der Logos-Inkarnation … denken? … In der nachmetaphysischen Kultur, die tatsächlich eine Alternative wäre, setzt sich allmählich ein Bewußtsein davon durch, daß nicht das Wort Fleisch werden muß, … sondern daß es genügt, den spontanen Tendenzen des Fleisches, zu Wort zu kommen, Platz zu schaffen. Es … wäre immer buchstäblicher zu verstehen, daß es in der Eigendynamik von Lebensprozessen liegt, in geistvollen Lebensverhältnissen aufzuleuchten.« (Eurotaoismus, 234 f.) Nichts ist hier von der Natur als bloßem Material für die begriffliche Bearbeitung und Formung und von den »von der Sinnlichkeit gelieferten Elementen« übriggeblieben. Die Natur ist nicht das Material oder Medium für das Sichdurchsetzen und für die Selbstverwirklichung des Geistigen und der Vernunft, sondern auf Grund und in der Dimension ihrer »Herkunft aus der Natur« (190) – mit der Dialektik der Aufklärung gesagt: indem sie sich »in Natur zurücknimmt« (a. a. O., 46) – ist die Vernunft das Vernehmen, Aufnehmen und Wahrnehmen dessen, was sich ihr gibt und ergibt. Daß es ein Sich-Gebendes ist, besagt, daß das Begegnende etwas, nämlich sich, zu sagen hat, daß es selbst das Vernehmen in Anspruch nimmt. Vielleicht klingt das »mystisch«, – wie man heute leicht sagt, wenn etwas die gewohnten Identitätsbahnen verläßt. Was gemeint ist, können wir uns aber klarmachen, ohne der Natur oder der Welt eine mystische eigene StimSie ist allerdings auch nicht das Rauschen der Macht, das alles durchdringt. (Foucault)
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me im Sinne einer wie auch immer beschaffenen Subjektivität zu verleihen. Es genügt, sich im entschiedenen Gegensatz zu der Auffassung zu bewegen, die die philosophische Tradition von dem Verhältnis des Denkens zu seinem Gegenstand gehabt hat. Das Denken verstand sich in dieser Geschichte zunehmend als das Andere zum Sein, zur Natur. Indem es ein Selbstbewußtsein seiner selbst als Geist ausbildete, stellte es sich in einen Gegensatz zur Natur. Noch Horkheimer und Adorno konstatieren, und zwar im Grunde wohl ohne kritischen Unterton: »Die Menschen distanzieren denkend sich von Natur, um sie so vor sich hinzustellen, wie sie zu beherrschen ist. Gleich dem Ding, dem materiellen Werkzeug, … ist der Begriff das ideelle Werkzeug, das in die Stelle an allen Dingen paßt, wo man sie pakken kann. Denken wird denn auch illusionär, wann immer es die trennende Funktion, Distanzierung und Vergegenständlichung, verleugnen will.« (46) Diese rationale Distanzierung ließ das Denken zugleich darauf angewiesen sein, jenes Andere zunehmend seinen Denkgesetzen und Kategorien zu unterwerfen, es als etwas zu identifizieren, was begründet greifbar und somit begreifbar ist. Die Weisen jener Aneignung waren und sind unterschiedliche, ob wir etwa an die Erkenntnis und die Wissenschaft, an die Technik oder die Produktion denken. Gemeinsam ist all diesen und anderen Weisen des Sich-Verhaltens zur »Außenwelt« – wie übrigens auch zur sogenannten inneren Natur –, daß das Andere aufhören soll, grundsätzlich Anderes, d. h. Fremdes und Erstaunliches zu sein, indem es als vor das Subjekt und seine Theorie und Praxis Hingestelltes zu einem Eingeholten, Integrierten und dem Eigenen Angepaßten gemacht wird. Sich in eine gegensätzliche Richtung zu dieser überkommenen Haltung zu bewegen, heißt, die in ungeschicht85 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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licher Konstanz behauptete distanzierende und vergegenständlichende Funktion des Denkens in Frage zu stellen, oder, ganz kurz gesagt, das Andere in der Auseinandersetzung mit ihm anders und das Andere sein zu lassen. Sloterdijk sagt: »Nach der geschichtemachenden Inszenierung des Eigenen ist die Entdeckung des vergessenen realen Anderen wieder möglich und an der Zeit.« (Eurotaoismus, 306) Anders heißt in diesem Zusammenhang, anders als nur vernünftig. Stattdessen von anderswoher, von sich selbst her kommend, regellos und wechselnd, mannigfaltig und bunt, in sich verändernden Konstellationen und Situationen und Atmosphären. Wie die traditionelle, sich zur Rationalität entfaltende Vernunft von der grundsätzlichen Andersheit der Welt zu der Aneignungstendenz gegenüber der Objektivität getrieben wurde, so zeugt umgekehrt die Anerkennung der erstaunlichen Andersheit für eine neue Erfahrung einer Zusammengehörigkeit des Menschen mit seiner Welt und ihren Dingen. Diese Zusammengehörigkeit hat zu ihrem sichtbaren Band – nicht allein, aber in besonderer Weise – die menschliche Sinnlichkeit. Die Sinnlichkeit scheint auf der einen Seite die Weise zu sein, wie das Andere, Natürliche in uns, die vernünftigen Wesen, gleichsam hineinreicht. Sie übermittelt uns die Botschaft des Anderen, seinen Anblick und Geschmack, seine Geräusche und die Weisen, wie es riecht und sich anfühlt. Es geht in uns ein, indem es unsere Stimmungen, unser sinnlich-leibliches In-der-Welt-Sein färbt. Aber die Sinnlichkeit ist auf der anderen Seite auch die Weise, wie wir in die Welt hineinreichen. Auch schon jenen für unsere Geschichte mit der sinnlichen Welt so bedeutsamen und teilweise fatalen begrifflichen Aneignungsprozeß vermochten wir nur mit der Hilfe und über die Vermittlung unserer Sinne und allgemeiner unserer Körperlichkeit zu bewerk86 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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stelligen. Ebenso kann aber auch der Versuch, in ein neues Verhältnis zu unserer eigenen sinnlichen Beschaffenheit zu gelangen, ein Weg sein, uns anders zur sinnlichen Welt zu verhalten, was auch heißt, eine andere Vernunft auszubilden oder besser: zuzulassen. Ihre beiden Richtungen können an dem früher genannten Charakter des Berührens der Vernunft aufscheinen: Ist das Berühren aktiv oder passiv? Geht es in die eine oder in die andere Richtung? Oder berühren sich beide Richtungen im Berühren selbst, – so, wie wenn man einen Blickkontakt aufnimmt, wobei dieses Aufnehmen die selbe – wörtlich verstandene – Zweideutigkeit aufweist, um die es hier zu tun ist? Eine andere Vernunft, die diesen Namen verdient, steht damit – so meine ich – gewissermaßen zwischen der Vernunft und dem Anderen der Vernunft. Genauer besagt das, daß sie als ein Verbindendes auftreten kann, das den beiden »Seiten«, der vernünftig gewordenen Rationalität und der sinnlichen Leiblichkeit, die Last ihrer Eigenständigkeit zu nehmen vermag. Die andere Vernunft trägt sowohl Momente der »alten« Vernunft wie Momente der sinnlichleiblichen Wahrnehmung an sich. Nur so kann sie sich von ihrem Erbe des begründenden und wahrheitstiftenden Herrschaftswissens einerseits und der abstrakten »Reinheit« andererseits befreien. Sie wäre dann das »Organ«, das unseren Austausch und unsere Auseinandersetzung mit der Welt trägt, und zwar in der Weise eines Feldes, auf dem bzw. in dem unser Wahrnehmen im umfassendsten Sinne mit der Welt interagiert.
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Es wäre ein grobes Mißverständnis, anzunehmen, ich würde mich gegen den Verstand wenden, wenn ich ihn deutlich 87 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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gegenüber der Vernunft bzw. diese ihm gegenüber abgrenze und wenn ich eine neue Sicht auf die Vernunft selbst versuche. Wie sollte das zoon logon echon sich gegen den logos wenden? Und was hieße das überhaupt, sich gegen den Verstand zu richten? Worauf es mir ankommt, ist, eben dies, das logon echein, nicht als das einzige, jedenfalls entscheidende Kriterium des Menschseins zu begreifen. So wie die Wissenschaft nicht die einzige Weise ist, wie wir ein Wissen von der Natur (und dem Geist) haben, und die Technik nicht die einzige Weise, wie wir uns mit dem Gegebenen und Begegnenden auseinandersetzen. Geduldig zu sein, zu hören und zu spüren, sich etwas sagen zu lassen – das sind Verhaltensweisen, die der Rationalität als solcher zwar zunächst durchaus fremd sind, deren sie aber zugleich auch bedarf und die sie, wenn es ihr zweckmäßig erscheint – etwa im Entwerfen und Durchführen von Experimenten –, in ihren Dienst nehmen kann. Der Verstand ist somit nicht verbannt. Es ging mir nur darum, seinen Anspruch auf die Vernunft selbst zurückzuweisen. Wenn Lyotard am Ende seines Aufsatzes Die Moderne redigieren fragt: »Wie kann sich die Durcharbeitung noch dem Gesetz des Begriffs, der Erkenntnis und der Vorhersehbarkeit entziehen?« und dazu aufruft, sich jenem zu widersetzen, dann würde ich sagen, daß Begriff, Erkenntnis und Vorhersehbarkeit und mit ihnen die neuen Technologien, die »jede Einschreibung … einer exakten Berechnung unterwerfen«, den »freien Formen, die hier und jetzt der Sinnlichkeit und der Einbildungskraft gegeben werden« (214), dann nicht gefährlich werden können, wenn die Felder von Vernunft und Rationalität getrennt gehalten werden, wenn also die rationalen Technologien bzw. die technische Rationalität als das gesehen und gebraucht wird,
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was sie tatsächlich ist oder sein kann: ein nützliches Instrument in einem begrenzten Bereich. Die Vorrangstellung des rationalen Zugangs in Frage zu stellen, ist vielleicht gerade heute von besonderer Bedeutung. Denn es scheint, daß das Vermögen des Verstandes in der Gegenwart oder der nahen und weiteren Zukunft eine beträchtliche Veränderung erfahren könnte. Die Welt des Digitalen ist eine durch die Rationalität konstituierte. Sie hat uns bis dahin unvorstellbare Möglichkeiten eröffnet, deren zukünftige Weiterungen auch heute noch nicht ausmalbar sind. Sinnvoll, im Sinne dessen, wie wir Menschen sein wollen, werden wir mit dieser Welt aber nur umgehen können, wenn wir die Bedeutungsgrenzen der Rationalität sehen und beachten lernen.
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Zwischenstück III
Die Entgegensetzung von Verstand und Vernunft impliziert die Entgegensetzung von Aktivität und Passivität. Der Verstand ist tätig und zugreifend, die Vernunft ist ein Hinnehmen und Aufnehmen; sie hat einen primär passiven, erleidenden Charakter. Doch es steht mit der Alternative von aktiv und passiv nicht anders als mit anderen traditionellen, nur scheinbar unumgehbaren Entgegensetzungen, wie vor allem der von materiell bzw. körperlich und geistig. Solche Konfrontationen machen das Grundgerüst des meta-physischen Denkens aus. Gerade an ihnen setzt darum das metaphysik-kritische Fragen an. 1 Eine »andere Vernunft« bedeutet eine enge Zusammengehörigkeit, ja eine Einheit von verständigem und von sinnlichem, damit auch von aktivem und passivem Wissen und Erkennen. Vielleicht das schönste Beispiel für eine Überwindung der Trennung von Aktivität und Passivität finden wir in Aristoteles’ Konzeption des Gottes als des unbewegten Bewegers. Er bewegt nicht, indem er etwas tut, sondern indem er, um es etwas überspitzt auszudrücken, den gesamten Kosmos tun, nämlich sich um ihn drehen läßt. Die Anziehungskraft, die er kraft seiner Vollkommenheit ausübt, bedarf keiner eigenen Anstrengung, sie ist ein reines Geschehenlassen. Indem das endlich-sinnliche Seiende seinem Die Kritik am Subjekt-Objekt-Verhältnis stellt das Aktive im Sinne des beherrschend Tätigen in Frage und rückt so zunächst das Passive in den Vordergrund.
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Zwischenstück III
Anspruch entspricht, geschieht auch etwas mit dem unsinnlich-unendlichen Seienden, dem Gott, selbst. Wenn ein alternatives, nicht mehr durch die SubjektObjekt-Trennung beherrschtes Denken wirklich werden soll, so wird es sowohl den Charakter des Passiven wie den des Aktiven haben. Oder wir kommen zu einem Dritten, das weder aktiv noch passiv ist, genauer, das außerhalb jener Unterscheidung steht. 2 Philosophisch allgemeiner können wir es das in einem weiten Sinne verstandene Lassen nennen.
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Sprachlich und sprachgeschichtlich gesagt ist es das Medium.
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Zur Konfrontation von aktiv und passiv
Eine grundlegende – oft unausdrücklich bleibende – »erste« Frage an das menschliche Leben lautet: Wie sind wir, die sterblichen Menschen, in der Welt, welcher Art ist unser Verhältnis zu dem, was uns begegnet, und in welcher Beziehung steht jenes zu uns? Gleichsam bevor wir Bürger, Staatsangehörige, Familienmitglieder etc. sind – obwohl es ein solches »bevor« zugleich nicht gibt, insofern wir dies alles eben als Menschen sind. Der abendländische Mensch stellt sich seit den Anfängen seines Denkens in gewissem Sinne außerhalb der Welt, er sieht deren Dinge und Ereignisse sich gegenüber und versucht sie zu begreifen und praktisch zu bewältigen, im wörtlichen Sinn zu manipulieren. Parmenides wird von seinen mythischen Pferden bis an die Grenzen der irdischen Welt gebracht, wo ihm die Göttin das »Herz der unbewegten Wahrheit« zeigt. Dieses ist allein im reinen Anschauen zu ergreifen, es ist allein im Akt des Denkens selbst gegenwärtig. Aktivität und Passivität des Gedachten und des Denkens unterscheiden sich nicht voneinander, sie erscheinen als Einesunddasselbe. Zwar wurde das Verhältnis des sterblichen Menschen zu dem, was ist, nie wieder so radikal wie in diesem Lehrgedicht als Entgegensetzung des absolut wahren Denkens oder Gedankens zum Veränderlichen und Sinnlichen, Dinglichen begriffen; gleichwohl war – und ist – diese Entgegensetzung in ihrer Unerbittlichkeit ein Grundmotiv der abendländischen Denkintention bis heute geworden und geblieben. 92 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Zur Konfrontation von aktiv und passiv
Der Mensch sieht sich innerhalb des Raumes seiner Zugehörigkeit zum Ganzen in einem Konfrontationsverhältnis zu dem ihm begegnenden Anderen – sei dieses ein Ding oder ein Geschehnis, ein anderer Mensch oder der sich auf sich beziehende Mensch selbst. Allerdings ist dieses Verhältnis kein streng symmetrisches: Der Mensch unterscheidet sich grundsätzlich von allem anderen Seienden – auch noch im Selbstverhältnis ist der »Andere« wesentlich vom »Einen« unterschieden. 1 Grundsätzlich ist der Mensch das Subjekt, das alles ihm Begegnende zu seinem dinglichen bzw. verdinglichten Objekt macht. Auch wenn sich gegenwärtig diese Grundüberzeugung teilweise zu wandeln scheint, vielleicht u. a. aufgrund der mannigfaltig erfahrenen und befürchteten Rückwirkungen des »Objektiven« (des Dinglichen, Natürlichen wie des Gesellschaftlichen) auf die Subjekte (von der drohenden bzw. schon geschehenden Klimaveränderung einerseits bis hin zur Künstlichen Intelligenz mit dem Internet der Dinge andererseits), bleibt sie unhinterfragt im Hintergrund bestehen, und dies so umfassend, daß z. B. eine tiefergehende In der Tradition wurde – und wird weitgehend bis heute – diese Spezifität des Menschen, daß er sich bewußt auf das ihm Begegnende als auf ein ihm gegebenes Anderes richtet, als Vorrang vor allen übrigen Lebendigen gedacht. Wenn man heute allenthalben die Verwandtschaft von Mensch und Tier herausstellt (und z. B. entsprechend neben den Menschenrechten die Tierrechte betont), so hat das einerseits seine Berechtigung darin, daß jener vermeintliche »Vorrang« als quasi moralisch und als Berechtigung zur Ausbeutung angesehen wurde, und andererseits ist es gut, sich grundsätzlicher auf die grundlegende Animalität des Menschen zu besinnen. Gleichwohl sind es – soweit wir bis heute wissen – allein die Menschen, die über sich und die Welt nachdenken. Die technische und wissenschaftliche wie auch die in mannigfaltigem Sinne künstlerische Auseinandersetzung mit der Welt sind Momente dieser Besonderheit des Menschen.
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Zur Konfrontation von aktiv und passiv
Veränderung des ökonomischen und politischen Systems, das auf dem Subjekt-Objekt-Verhältnis fußt, gewöhnlich für unmöglich angesehen wird. Trotz aller heute gängig gewordenen Mahnungen – u. a. zu Langsamkeit und Aufmerksamkeit, die beide ein Loslassen und Sicheinlassen intendieren – sind der alltägliche Lebensstil und das durchgängige Selbstverständnis davon geprägt, daß das Subjekt die Objekte zu bewältigen, daß man etwas zu schaffen hat, daß die Zeit sinnvoll und d. h. effektiv verbracht werden soll, usw. Die Bedeutung, die innerhalb des derzeitigen Gesellschaftssystems der (Lohn-)Arbeit zukommt, deren Zwängen das alltägliche Leben untergeordnet ist, statt daß sie umgekehrt, umwillen des Lebens geschähe, 2 ist eine der verhängnisvollsten Ausprägungen jenes Subjekt-ObjektVerhältnisses und seiner realen Umkehrung. Das Subjekt kann sich gegenüber seinem Objekt entweder aktiv, tätig ausgreifend oder aber passiv, leidend, geschehenlassend verhalten. Es ist einleuchtend, daß in der Tradition die Aktivität zumeist als vorrangig angesehen wurde. Auch wenn die Passivität, in ihrer höchsten Ausprägung als kontemplative Haltung, z. B. von Aristoteles im reinen Anschauen der Vernunft gesehen wurde, 3 die Vgl. bei Karl Marx das Kapitel »Die entfremdete Arbeit« in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten, 50 ff. 3 Im Christentum wurde – schon in der logischen Folge des Begriffs der Gnade – die Passivität des Gläubigen Gott gegenüber hochgehalten. Ein schönes Beispiel ist die Geschichte aus dem Lukas-Evangelium, wo Jesus die Erwählung »des besseren Teils« der ihm zuhörenden Maria und nicht der für sein leibliches Wohl sorgenden Martha zuspricht. Extrem erscheint in diesem Betracht die Auffassung von Martin Luther, für den die Aktivität allein Gott und demgegenüber dem Menschen die absolute Passivität zugehört. In wohl bewußter Überzeichnung hat Nietzsche die Vorherrschaft des dienenden, hinnehmenden Moments im Christentum mit beißender Ironie angegriffen. Aber das tätige und bewußte Wirken 2
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Zur Konfrontation von aktiv und passiv
primäre Einstellung des Subjekts gegenüber den Objekten, mit denen es zu tun hat, ist die tätige Bewältigung, sei es praktisch bearbeitend und verändernd oder geistig erkennend und begreifend. Was nicht heißt, daß es nicht auch Objekt sein könnte und wäre. Wenn Menschen sich als Subjekte verhalten, so hindert das nichts daran, daß sie ihrerseits von unterschiedlichen Mächten und Kräften, gesellschaftlichen wie natürlichen, bestimmt, d. h. zu Objekten gemacht werden. Ebenso machen sie sich in ihrem Verhalten zueinander gewöhnlich gegenseitig zu Objekten. Es fällt ihnen im alltäglichen Umgang oft schwer, den Anderen als ein je eigenes Subjekt anzuerkennen. Und auch sich selbst gegenüber werden sie zu Objekten, wenn sie ihr eigenes Verhalten zu beherrschen, zu disziplinieren und streng zu planen versuchen, wenn sie sich selbst ausbeuten usw. Jeweils sind sie sowohl dem Anderen wie sich selbst gegenüber sowohl tätig wie leidend.
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Kophtisches Lied (II) Geh, gehorche meinen Winken, Nutze deine jungen Tage, Lerne zeitig klüger sein: Auf des Glückes großer Waage Steht die Zunge selten ein; wurde in der Nachfolge Jesu gleichwohl auch immer wieder als gleichwertig anerkannt, z. B. bei Augustinus. Überraschend deutlich hat Meister Eckhart der Geschichte von Maria und Martha eine gegenüber dem Original umgekehrte Auslegung gegeben.
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Zur Konfrontation von aktiv und passiv
Du mußt steigen oder sinken, Du mußt herrschen und gewinnen Oder dienen und verlieren, Leiden oder triumphieren, Amboß oder Hammer sein. Dieses Gedicht von Goethe 4 bringt in extremer Weise die traditionelle, der Subjekt-Objekt-Perspektive geschuldete Haltung zu dem Begriffspaar aktiv-passiv zum Ausdruck. In der Explizierung und Diskutierung dieser Haltung werden die Voraussetzungen deutlich, auf denen eine kritische Einstellung auch gegenüber dem totalitären Anspruch der Subjekt-Objekt-Konfrontation beruht. Was mußt du tun, wenn du dein Leben auf kluge Weise nutzen willst? Die eigentliche Antwort wird nur implizit gegeben. Explizit heißt es, daß du in deinem Verhalten dem Rechnung tragen sollst, daß die Lebenswaage 5 nichts Feststehendes, Gegebenes ist, sondern daß es an dir liegt, dein Schicksal in die eine oder die andere Richtung zu wenden, indem du dich in dem, was du tust, für ihre eine oder ihre Wieweit dieses Gedicht Goethes eigene Auffassung wiedergibt – ich nehme an, daß er ihm zustimmt – und warum er sie in einem Stück zum Ausdruck bringt, das in seinem Titel an einen ägyptischen mystischen Weisen, den Großkophta, erinnert, ist hier unwichtig. Ich habe keinerlei positive Aussagen von Goethe über das Amboß-Sein gefunden, lediglich diese fast mit-leidende: »Hammer zu sein scheint jedem rühmlicher und wünschenswerter als Amboß, und doch, was gehört nicht dazu, diese unendlichen, immer wiederkehrenden Schläge auszuhalten!« (zitiert in: Thomas Mann, Phantasie über Goethe: Als Einleitung zu einer amerikanischen Auswahl aus seinen Werken, 332) Ich schaue vor allem auf die zweite Hälfte des zitierten Gedichts, in der ein betontes »Du mußt« zum Ausdruck kommt. 5 Vgl. zu dem Bild der Waage ausführlich Verfasserin, Im Raum der Gelassenheit, 99 ff. 4
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Zur Konfrontation von aktiv und passiv
andere Seite entscheidest: Willst du der Seite der Sieger oder der Verlierer zugehören? 6 Implizit besagt das, daß du dich darum bemühen solltest, auf der Seite des Handelns und Zupackens, des Herrschens und Bewältigens zu stehen – auf der Seite des aktiven Subjekts. Schon, daß nicht von einem glücklichen, gelingenden Leben die Rede ist, sondern vom klugen Nutzen, weist daraufhin, daß es von vorneherein um ein Meistern und Beherrschen im Hinblick auf ein zu erreichendes Resultat zu tun ist. Das Subjekt verhält sich zu sich selbst als seinem Objekt, mit dem es möglichst sinnvoll und d. h. effektiv umgehen soll. Was das Schicksal schickt, ist nicht unabhängig von dem, wie man sich zu den Gegebenheiten seines Lebens verhält. Was dieses Verhalten angeht, ist zum einen grundsätzlich vorausgesetzt, daß die Lebensäußerungen überhaupt sich aufteilen in entweder tätige, aktive oder leidende, passive; zum anderen, daß es dem Menschen einerseits aufgegeben, andererseits aber auch möglich ist, die eine oder die andere Seite dieser Alternative zu wählen und für sich zu übernehmen. Der Mensch, der sich im Leben klug verhalten will, muß kämpfen. Er muß kämpfen dafür, daß er auf der Seite der Sieger steht, derer, die etwas zu sagen, die zu bestimmen haben. Eine Lebenseinstellung, wie Goethe sie in seinem Kophtischen Lied zum Ausdruck bringt, wird in dieser Radikalität heute wohl kaum mehr so offen geäußert werden; das würde dem allgemein anerkannten öffentlichen Zeitgeist widersprechen. Sie ist und bleibt jedoch Grundlage nicht allein des sogenannten Raubtierkapitalismus, sondern auch des alltäglichen Markt- und Konsumverhaltens. GeMan könnte auch sagen, daß es explizit ein Muß des Schicksals ist, auf einer der beiden Seiten seiner Waage zu stehen.
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winnmaximierung als oberstes Prinzip des ökonomischen Handelns entspricht dem Goetheschen »du mußt« und seiner Alternative von Hammer oder Amboß. Besondere Bedeutung hat das in der Politik, wenn auch heute nicht mehr so explizit wie vor gut hundert Jahren: 1899 hielt Bernhard von Bülow 7 eine Rede vor dem deutschen Reichstag, in der er u. a. sagte: »Das Mittel, meine Herren, in dieser Welt den Kampf ums Dasein durchzufechten ohne starke Rüstung zu Lande und zu Wasser, ist für ein Volk von bald 60 Millionen, das die Mitte von Europa bewohnt und gleichzeitig seine wirtschaftlichen Fühlhörner ausstreckt nach allen Seiten, noch nicht gefunden worden. / In dem kommenden Jahrhundert wird das deutsche Volk Hammer oder Amboß sein.« Ihm antwortete u. a. Eugen Richter 8 : »Der Herr Staatssekretär hat ein Wort gebraucht, von dem ich wünschte, er hätte es nicht gebraucht: Deutschland wird entweder Hammer oder Amboß sein. Nein, Deutschland wird nie mehr Amboß sein; aber Deutschland hat auch nicht den Beruf, Hammer zu sein: Deutschlands Beruf ist es nicht, auf andere Völker loszuhämmern.« Wir haben erlebt, daß Deutschland in schrecklicher Weise im 20. Jahrhundert sowohl das eine wie das andere geworden ist – bzw. sich zu beidem gemacht hat. Der Redensarten-Index 9 führt unter anderen noch die beiden folgenden Belege für das Bild an, einerseits einen politischen: »Nun, wir wollen aber weder Hammer für schwache Völker noch Amboss für starke sein. Wir wünschen weder das eine noch das andere, wir sind für den Frie7 8 9
Deutscher Reichskanzler von 1900 bis 1909. Abgeordneter der Freisinnigen Volkspartei. https://www.redensarten-index.de.
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den« (Josef Stalin, 1925), andererseits einen ca. 45 Jahre früheren, allgemeinen: »Es war etwas von jenem schrecklichen Prinzipe, das die beiden Geschlechter als zwei sich feindlich entgegenstehende Naturgewalten betrachtet, wo es heißt, Hammer oder Amboß sein, vernichten oder vernichtet werden, oder einfacher gesagt, wer sich nicht wehrt, den fressen die Wölfe« (Gottfried Keller, Der grüne Heinrich, 303). Das Bild von Hammer und Amboß bringt auf extreme Weise zum Ausdruck, was dieser Sicht zufolge unser Inder-Welt-Sein weitgehend bestimmen soll. Auch wenn wir das implizite »du mußt« des Sich-für-eine-Seite-Entscheidens einmal beiseite lassen, wird jedenfalls davon ausgegangen, daß wir entweder aktiv etwas tun, hervorbringen, daß wir selbsttätig handeln oder daß wir etwas mit uns geschehen lassen, Handlungen anderer erleiden und den jeweiligen Umständen unterworfen sind. Kant etwa unterscheidet strikt dichotomisch die Spontaneität des Verstandes von der Rezeptivität der Sinnlichkeit, die Verbindung beider konstituiert die Erfahrung und damit ihren Gegenstand. Diese Konstitution ist allerdings die aktive Leistung des transzendentalen Subjekts, auch wenn dieses seinerseits aus Spontaneität und Rezeptivität besteht. Ist die – zumal als ausschließlich verstandene – Entgegensetzung von Aktivität und Passivität im menschlichen Handeln aber wirklich eine unhinterfragbare Gegebenheit? Ich denke: nein. Ich bin überzeugt, daß diese Alternative kein ontologisches oder auch nur anthropologisches Faktum ist, daß sie vielmehr in einer geschichtlichen »Entscheidung« entstanden ist bzw. sich entwickelt hat, in der Entscheidung, die das abendländische Menschsein über viele Jahrhunderte hin zu dem gemacht hat, was es ist. Und das heißt, daß sie auch widerrufen bzw. verändert werden kann. 99 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Zur Konfrontation von aktiv und passiv
Zweifellos handelt es sich nicht um eine bewußte Entscheidung. Indem ich sie gleichwohl eine »Entscheidung« nenne, will ich betonen, daß das europäische Menschsein mit ihr einen spezifischen Weg eingeschlagen hat, den es auch nicht hätte wählen können, einen Weg, den andere Kulturen in der Tat nicht gegangen sind. Genau genommen handelt es sich in dem Gedicht, zumindest von heute aus gesehen, um gar keine Alternative. Das »du mußt« meint eine Aufforderung, sich zwischen zwei Wegen zu entscheiden, von denen der eine im Grunde als keine Möglichkeit angesehen wird. Das »Dienen« und »Leiden« als Imperativ erscheint heute zumeist nur noch als Überbleibsel einer überholten christlichen Moral. Demgemäß würde man die Alternative heute eher als eine solche von Handeln und Tun auf der einen und bloßem Abwarten und passivem Hinnehmen auf der anderen Seite bezeichnen. Doch auch so bliebe sie eine Alternative zwischen Hammer und Amboß, jedenfalls in dem Sinne, daß die Seite des Handelns von vorneherein als die vorrangige, die höher zu bewertende und als die im Grunde einzig zu ergreifende erscheint. »Jeder ist seines Glückes Schmied.« 10 »Du mußt herrschen und gewinnen / Oder dienen und verlieren, / Leiden oder triumphieren«. Mußt du wirklich? Goethe propagiert mit dem in dieser Alternative implizierten Vorrang des Herrschens, das den Anderen und das Andere prinzipiell unterwerfen, mit sich identisch machen will, das, wogegen z. B. Adorno mit seiner Kritischen Theorie angeschrieben hat. Adorno hat die Notwendigkeit des Menschen, sich gegenüber der »Gewalt der Natur« zu emanzipieren, allerdings als eine menschheitliche NotwenDenn, wie ebenfalls Goethe meint: »Nimmer sich beugen, kräftig sich zeigen, rufet die Arme der Götter herbei.« (Feiger Gedanken)
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digkeit behandelt, die ebenso menschheitlich durch die Versöhnung mit der Natur zu überwinden wäre. Demgegenüber ist zu betonen, daß es sich um eine geschichtliche, nämlich »westliche« oder »abendländische« Entwicklung handelt, die jedoch in der Gegenwart ihre zum Teil verhängnisvolle globale Relevanz erhalten hat. Menschen leben ihre Auseinandersetzung mit der Welt in unterschiedlichster Weise. So unterschiedlich, daß es vermutlich vergeblich wäre, über die Zeiten und Kulturen hinweg einen gemeinsamen Nenner zu suchen. Wir sind stets geneigt, unser In-der-Welt-Sein für das maßgebliche zu halten. Aber liest man z. B. indianische Texte, so zeigt sich unmittelbar, daß es bei den der Erde und dem Himmel verbundenen Ureinwohnern Nordamerikas die uns so geläufige Subjekt-Objekt-Trennung nicht gibt. Die quasifamiliäre Zusammengehörigkeit aller Wesen auf der Mutter Erde ist (oder war?) dort Grundmoment der menschlichen Befindlichkeit überhaupt. Auch innerhalb unseres eigenen kulturellen Ansatzes gibt es beträchtliche Unterschiede des Sich-in-der-WeltWissens, die man auch an großen Namen unserer Geschichte festmachen könnte: Etwa an den unterschiedlichen Welterfahrungen von Kleopatra und Sappho, Aristoteles und Nero, Franziskus von Assisi und Columbus, Mutter Teresa und Donald Trump – wobei diese Individuen hier jeweils für typische Weisen des In-der-Welt-Seins stehen sollen. Ihre Differenzen sind sowohl von der Zeit abhängig, in der sie leben, wie zumindest ebensosehr von ihrer persönlichen Eigenheit, ihrem eigenen Lebensentwurf 11.
Der natürlich wiederum zum Teil mit ihren Genen und mit ihrer Sozialisation zusammenhängt.
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Zur Konfrontation von aktiv und passiv
Gleichwohl läßt sich trotz des offensichtlichen Nebeneinanderbestehens unterschiedlicher Grundeinstellungen konstatieren, daß der abendländische Mensch durch Züge eines im Großen und Ganzen einheitlichen Selbstverständnisses geprägt ist. 12 Die Grundüberzeugung, daß der Mensch im Wesentlichen durch seinen denkenden Bezug zu einer gemeinsamen und allgemeinen und unwandelbaren Wahrheit dessen, was ist, man kann auch sagen: zu einem Sein alles Seienden, zu charakterisieren ist, hält sich – trotz aller im Einzelnen differierenden Auffassungen – in der Geistesgeschichte seit den frühen Griechen mehr oder weniger ausdrücklich oder unausdrücklich durch. Der Frage nach der einen Wahrheit eignet ein merkwürdiger Zug der Autoimmunisierung bzw. der radikalen Selbstbezüglichkeit. 13 Die Frage nach dem Einen und Wahren und Grundlegenden ist notwendig totalitär. Sie kann »keine anderen Götter neben« sich zulassen und anerkennen. Aber noch einmal: Muß man wirklich das Andere besiegen? Ist nicht das Verhältnis des Menschen zu seiner Welt immer schon auch ein anderes als das eines Subjekts gegenüber einem Objekt? Verhält sich der Mensch wirklich notwendig entweder aktiv oder passiv zu dem ihm jeweils Begegnenden? Es mag mit einem spezifischen negativen Verhältnis zur eigenen Sterblichkeit zusammenhängen, daß das Suchen und Fragen nach dem Grundhaften, dem Einen und Wahren zu Beginn der abendländischen Geistesgeschichte auf den Weg gebracht und über die Jahrhunderte hin weiter verfolgt wurde. 13 Er ist der abendländischen Metaphysik ebenso zugehörig wie den drei großen monotheistischen Religionen, in denen es ebenfalls um die eine ihrer Intention nach allumfassende Wahrheit geht. In der durch Globalisierung bestimmten Gegenwart müssen auch sie angesichts ihres Nebeneinanderbestehens zu einer Problematisierung ihres an sich totalitären Wahrheitsbegriffs kommen. 12
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Ich denke, daß wir auch immer schon anders in der Welt sind, u. a. weil das uns Begegnende nicht allein in rationalen Über- und Unterordnungen existiert, die uns zur Klassifizierung und Manipulation des Gegebenen als Gegen-ständlichem, also uns Gegenüberstehendem herausfordern. 14 Wir finden uns in gemeinsamen Feldern vor, in Atmosphären, in Situationen und in Geweben. Unser Verhalten zu dem uns Umgebenden ist nicht allein das der Entgegensetzung und Konfrontation, weder im Sinne eines aktiven Agierens noch in dem eines passiven Reagierens und Rezipierens. Gibt es eine Alternative zu dieser Alternative? Könnte sie in einem Sowohl-als-auch bestehen? Wäre nach einem Weder-noch zu fragen? Oder ist das Verhältnis noch anders zu denken?
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Im vergangenen Jahrhundert ist die strikte Unterscheidung und Entgegensetzung von Aktivität und Passivität auf verschiedene Weise in Frage gestellt worden. Heidegger nennt das Denken ein Tun »außerhalb der Unterscheidung von Aktivität und Passivität« (Gelassenheit, 35). Er spricht von einem offenlassenden Warten, das sich des Begegnenden nicht zu bemächtigen sucht, es nicht zum Gegen-stand macht, sondern auf es hört und ihm ent-spricht. Statt von einem Außerhalb der Unterscheidung von Aktivität und Passivität könnte man hier auch von einem Ineinander beider sprechen. Denn das Entsprechen muß ein aufmerkendes, gewissermaßen aktiv wartendes sein, und der Zuspruch Noch einmal sei betont, daß damit die rationale Erfassung der Realität durch das erkennende und produzierende Subjekt nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Sie wird in ihrer Reichweite eingeschränkt.
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der Sache ist jeweils abhängig davon, daß es einen Hörenden, Aufmerkenden gibt. Sloterdijk hat in seinem Buch Eurotaoismus einen postmodernen Passiv gegenüber einem modernen Aktiv unterschieden (z. B. 43). Und Lyotard spricht – allerdings zunächst im Hinblick auf die von dem Patienten in einer Psychoanalyse geforderte Haltung – von der passibilité, der »Empfänglichkeit« des Geistes, von seiner Verpflichtung, »in einem neuen Sinne geduldig (patient) zu sein« (Die Moderne redigieren, 210). Er handelt in dem genannten Aufsatz zwar nicht von der Vernunft oder dem Denken überhaupt, sondern lediglich vom Verhältnis des heutigen Philosophierens zur Moderne, welches Verhältnis bzw. Verhalten er als ein »Redigieren« (réécrire) bezeichnet. Aber mir scheint, daß die Weise, wie er das Redigieren erläutert, eine über dieses spezifische Verhältnis hinausgehende Bedeutung anzeigt. Die Moderne redigieren – das kann, so Lyotard, von dem her erläutert und weitergedacht werden, was Freud die Durcharbeitung genannt hat. An dieser spezifischen Haltung betont Lyotard besonders, an Montaigne anknüpfend, die »frei und gleich schwebende Aufmerksamkeit« (211). Sie ist ein Ankommenlassen, ein Sich-Öffnen gegenüber dem, was »von einem ›Etwas‹ aus, das er nicht kennt«, auf den Geist zukommt (210). Dieser wählt nicht aus, was er als seinen Gegenstand zulassen will, er überläßt sich vielmehr ohne Vorbehalt dem, was »ihm in den Sinn und über seinen Körper kommen« mag, ohne dem Ankommenden sein Vorwissen und seine eigenen Kategorien wie Netze oder wie ein sicherndes Koordinatensystem entgegenzuhalten. Das Kantische Modell der Material liefernden Sinnlichkeit auf der einen Seite und der reinen Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes auf der anderen Seite ist hier verlassen. 104 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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Der Begriff des »Materials« führt sich selbst ad absurdum, wenn Lyotard die das Denken betreffende Sache als diejenige benennt, »die ›die Sprache‹ heimsucht, die Überlieferung, das Material, mit dem, gegen das und in dem man schreibt« (213). Darum scheint mir andererseits allerdings seine Rede von den »von der Sinnlichkeit gelieferten Elementen« (211) zumindest mißverständlich zu sein. Denn das, worauf das Denken aufmerkt, was es sich sagen läßt, wofür es sich öffnet, ist nicht bloßes Element und Material für eine Bearbeitung und Formung, es hat eine eigene Stimme, insofern es dasjenige ist, »was geschieht«. Adorno spricht davon, daß »die Aufgaben, von deren Fruchtbarkeit die des Gedankens abhängt, autonom sind; daß sie nicht gestellt werden, sondern sich stellen« (Anmerkungen, 19). Eine verwandte Autonomie ist wohl gemeint, wenn Lyotard in Der Widerstreit schreibt: »Die Reflexion verlangt Aufmerksamkeit gegenüber dem Vorkommnis (occurrence), verlangt, daß man nicht bereits weiß, was geschieht. Sie läßt die Frage offen: Geschieht es?« (16) Wie sehr hiermit die traditionelle Verstandestätigkeit verlassen ist, die potentiell »bereits weiß, was geschieht« – »Wenn ein Ereignis geschieht, dann ist es immer schon antizipiert durch eine Interpretation, die uns gerade verstellt, daß es sich zeigt.« 15 –, das wird auch in folgender Bemerkung deutlich: »Nicht die ›Rekognition‹ des Gegebenen (wie Kant sagt) steht auf dem Spiel, sondern die Fähigkeit, Dinge ankommen zu lassen, und zwar so, wie sie sich präsentieren. Einer solchen Haltung zufolge ist jeder Moment, jedes Jetzt, gleichsam ein ›Sich-öffnen‹« (Die Moderne redigieren, 212). Nicht die Repräsentation durch das Subjekt, sondern das Sich-Präsentieren der Dinge ist das Entscheidende, das, 15
Jean-François Lyotard: Immaterialität und Postmoderne, 23.
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Zur Konfrontation von aktiv und passiv
»was auf dem Spiel steht«, – und dieses Spiel kann nicht ein Spiel der vorgegebenen Regelhaftigkeit sein. Weiß Lyotard, worauf er sich einläßt, wenn er in dieser Weise der Aufmerksamkeit das Wort redet? Wenn die Dinge die Freiheit haben, anzukommen oder nicht, und so anzukommen, wie es sich von ihnen her jeweilig und zufällig ergibt, wie steht es dann mit der Regelhaftigkeit und dem Wahrheitsanspruch des jeweiligen Sprachspiels? Stellt jene Fähigkeit des Ankommenlassens nicht die Regelhaftigkeit zur Disposition, die dann jedenfalls nicht mehr als ein wie auch immer geartetes Apriori verstanden werden kann? Nimmt die Rationalität tatsächlich und entschieden einen Charakter der Passivität und Empfänglichkeit an, dann – so scheint mir – müssen der Legitimations- und der Wahrheitsanspruch zumindest an Bedeutung verlieren. Ich denke, daß sich hier in der postmodernen Vernunftkritik eine durch sie hindurchgehende Grenze auftut, die, solange sie nicht als solche gesehen und bewußt überschritten wird, jene Kritik selbst schwächt und in Frage stellt. 16 Diese Grenze zu überschreiten, würde bedeuten, sich weg von der regelhaften Rationalität hin zu einer aufmerksam hörenden Interaktion mit dem Gegenstand führen zu lassen. Lyotard selbst würde diesem kritik-kritischen Gedanken wohl durch den Hinweis darauf begegnen, daß er mehr eine »Passibilität« als eine »Passivität« des Verstandes behaupten wolle, eher eine Durchlässigkeit, der gemäß jener sich bemüht, »sich für die Ereignisse, die von einem ›Etwas‹ aus, das er nicht kennt, auf ihn zukommen, passierbar zu machen« (Die Moderne redigieren, 210). Aber der Hinweis auf die das Subjekt passierenden Mächte und Kräfte Entgeht Hartmut Rosa mit seiner Resonanztheorie und der ihr zugehörigen Unverfügbarkeitstheorie diesen Schwierigkeiten?
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steht m. E. doch in einer entschiedenen Differenz zu einer Empfänglichkeit, die sich, wie Adorno das ausführt, in aktiver Passivität oder »erweiternder Konzentration« auf ihre Sache selbst einläßt und dabei ihrem »Objekt sich anschmiegen muß« (Anmerkungen, 14 f.). Die Differenz zwischen der einen und der anderen Passivität – wir können (in dieser spezifischen Hinsicht) auch sagen: zwischen Lyotard und Adorno – ist nicht leicht genau in den Blick zu fassen, aber es scheint mir eine »Differenz ums Ganze« zu sein. Lyotards Empfänglichkeit führt nicht zu einer Kommunikation des Unterschiedenen, weil er für die beiden Seiten einer solchen Kommunikation keinen Ort mehr läßt, wenn sich die Sache der Tendenz nach in Mächte, Kräfte, Spielzüge aufgelöst hat und der vernehmende und sprechende Mensch zu einem Durchgangsfeld für jene geworden ist. Für das moderne Subjekt, seinen Leistungs- und Expansionswillen und den Aktivismus seiner Mobilisierungstendenz bedeutet zwar eine solche Konzeption zweifellos eine radikale Infragestellung. Ich meine dennoch, daß sie nicht radikal genug ist, und zwar darum, weil ihr Begriff von Passivität oder Passibilität das Verstandesdispositiv selbst nicht entschieden genug in Frage stellt. Und daß sie der eigenen Tätigkeit des Menschen in seinem Wahrnehmen und Denken keinen Raum mehr läßt. Trägt das von Sloterdijk einem »modernen Aktiv« entgegengestellte »postmoderne Passiv« weiter? Das »moderne Aktiv« meint Eindeutiges: Aktiv heißt dynamisch, leistungsstark, mobil, fortschrittlich, rational. Die Aufzählung reißt uns förmlich mit, hinein in den Handlungswillen des effizienten Subjekts, das die Welt nach seinen Vorstellungen verändert und formt, sich den dabei auftretenden Problemen mit Tatkraft und Entschie107 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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denheit stellt und mit ihnen fertig wird. Wir können uns dieses Subjekt, dessen Kennzeichnung dem Stellenanzeigenteil der Zeitungen entnommen zu sein scheint, unschwer als erfolgreichen Manager, Unternehmer, Ingenieur, Wissenschaftler oder Leistungssportler oder etwa auch als Influenzer vorstellen. Zugleich hat dieses positive Bild zweifellos etwas Lächerliches, allzu Plakatives und irgendwie Ideologisches an sich. Das »Furchtbare«, das nach Adorno und Horkheimer »die Menschheit sich [hat] antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war« (Dialektik der Aufklärung, 40), schimmert durch, sowie man etwas genauer hinsieht. Und das »postmoderne Passiv«? Schauen wir zunächst auf das, was Sloterdijk selbst das postmoderne Passiv nennt und was sich noch unterscheidet von einem passiv sich verhaltenden, »gelassenen« Denken, auf das er, wie mir scheint, hinausdenkt. Sein Verständnis des von ihm ausdrücklich so genannten postmodernen Passivs weist eine kritische, therapeutische Komponente auf. Das Aktive, dem gegenüber sich das Passive hier verhält, ist die Moderne selbst, ihr Bewältigungsdrang und ihr Beschleunigungswille. In einer Einstellung, in der das Subjekt sich die Andersheit des Anderen in seiner eigenen Begrifflichkeit aneignet und gleichmacht, sieht Sloterdijk zugleich etwas entstehen, was er »das abstandnehmende Sichausklinken aus dem Beschleunigungsprozeß« nennt (Eurotaoismus, 70). Auf diese Weise beginnt das Subjekt, sich selbstkritisch als eine »denkende Lawine«, eine »selbstreflexive Naturkatastrophe« zu begreifen und dementsprechend im »passionierten Bewußtsein menschlicher Endlichkeit« das Leiden an der dadurch verursachten Situation fast in der Art einer Trauerarbeit auf sich zu nehmen. 108 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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Passivität ist hier also zunächst ganz wörtlich als Leiden – als »Leiden am Können« (143) – verstanden, so daß Sloterdijk die Frage stellen kann: »Stößt das naturzerstörungsmächtig gewordene Ich nicht auch sich ›selbst‹ zu wie ein anonymes Verhängnis? Und steht darum nicht auch das potente Tun und Können der Moderne zu sich selbst im Verhältnis eines Leidens und einer Ohnmacht?« (120) Aber zugleich ist es ein bewußt auf sich genommenes Tragen und Ertragen, das sich in seiner leidenden Distanzierung von dem, was da leiden macht, gegen dieses richtet und somit an ihm selbst kritisch ist. Die Kritik am aktivitätsbeflissenen Subjekt und seinem »aktiven Sorgen fürs Richtige« (110) kann als solche nicht in der Weise einer Aktivität im unmittelbaren Sinne oder in der Weise einer »Praxis« erfolgen, wenn sie nicht ihrerseits wieder in »blinde Mobilmachung« zurückfallen bzw. darin verharren will. Ihr widersinniges Resultat ist darum zunächst so etwas wie ein »Zögern«, ein »Zurücktreten in eine genauere Wahrnehmung«, ein »Aufhören mit dem immer schon Betriebenen« zugunsten eines »unmerklichen Freiwerdens für die richtige Bewegung« (76). In diesem letzteren aber deutet sich jetzt die weitere, nicht mehr ausdrücklich so genannte Relevanz eines andersartigen postmodernen Passivs an. Was Adorno die »erweiternde Konzentration«, die »Geduld zur Sache« oder den »langen und gewaltlosen Blick auf den Gegenstand« nennt (Anmerkungen, 14 f.), ist, so scheint mir, in der Sache dem verwandt, was Sloterdijk, in Anknüpfung an altasiatisches Denken, als »Aufstieg zur Stille in der Kraft« faßt (Eurotaoismus, 94), vor allem aber als die »Gelassenheit«, die die radikale »Alternative zur Mobilmachung« darstellt (144). Diese Passivität ist eine solche des Geschehenlassens, genauer des Hervorkommenlassens, eines Gebärens und 109 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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eines »Übergangs von einer zu allem entschlossenen zu einer in manchem gelassenen Seinsweise« (203). Aus diesen Formulierungen ist ersichtlich, daß, ähnlich wie bei Adorno, dieses Geschehenlassen zugleich einen in seiner Passivität aktiven Charakter hat. Das menschliche Denken und Verhalten ist, ebensowenig wie es ein bloßer Aktivismus ist, ein bloßer Durchgangsort für Mächte, Geschehnisse und Spielzüge; vielmehr ist es eher ein Feld, auf dem sich jeweils ein Geschehen allererst bilden und entscheiden kann. »Gedanken, die wahr sind, müssen unablässig sich aus der Erfahrung der Sache erneuern, die gleichwohl in ihnen sich erst bestimmt […] Wahrheit ist werdende Konstellation«, sagt Adorno (Anmerkungen, 16). Das konzentrierte Aufnehmen des Ankommenden und das die eigene Erfahrung ins Spiel bringende Umgehen mit dem Aufgenommenen machen erst zusammen die eigentliche Kommunikation mit ihm als einem Anderen und Fremden aus. Auf das Verhalten des Menschen zu sich selbst angewandt, ließe sich das auch so ausdrücken, daß das Jasagen zu dem eigenen geburtlichen Entstandensein nicht mehr und nicht weniger ist als die Übernahme des eigenen Lebens als eines Verhaltens. Die ausschließende Entgegensetzung von aktiv und passiv hat damit ihren Sinn verloren. 17 Ob wir hinsichtlich Hartmut Rosa hat jüngst (in seinem Buch Unverfügbarkeit sowie in einer Reihe von Vorträgen und Interviews) den Begriff des »Mediopassivs« in die Diskussion eingebracht, von dem er selbst sagt, daß man im Grunde ebensogut vom »Medioaktiv« sprechen könne, oder auch, daß es halb aktiv, halb passiv sei. »Mediopassiv« aber bezeichnet zugleich grammatisch das dritte indogermanische Genus verbi, neben oder zwischen oder über dem Aktiv und Passiv. Für Rosa ist das Mediopassiv ein Grundkennzeichen der Resonanz, die er als die Grundbestimmung des Menschseins begreift. Resonanz bedeutet ein Zugleich von »Weltreichweitenerweiterung« auf der einen und Erfahrung von »Unverfügbarkeit« auf
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ihres Verhältnisses von einem »Dazwischen« oder von einem »Außerhalb von«, einem »Ineinander«, von einem »Sowohl-als-auch« oder sogar von einem »Weder-noch« sprechen – jeweils geht es um ein Hinweisen auf das Selbe: Das menschliche Sein in der Welt kann, wenn es ein gelingendes, »gutes« sein soll, nicht als ein Sich-seinesAnderen-Bemächtigen geschehen, nicht als ein Mit-sichIdentifizieren und Sich-Unterwerfen. Sich mit dem jeweils Anderen auseinanderzusetzen heißt nicht, über es zu verfügen, sondern sich auf es einzulassen, mit ihm mitzugehen, auf es zu hören und ihm aus dem Hören heraus zu antworten.
der anderen Seite. Während heute eindeutig das Hauptgewicht auf ersterer liegt, d. h. auf dem Bedürfnis, die Welt zu »distanzieren« und zu ergreifen – und dadurch in die Gefahr der Entfremdung zu geraten –, betont Rosa die Anerkennung der Unverfügbarkeit des Begegnenden. »Ich glaube, ein Problem unserer Kultur ist es, dass sie nur aktiv oder passiv, Täter oder Opfer, Autonomie oder Heteronomie kennt, während das Leben selbst sich dazwischen abspielt. Dieses Dazwischen müssen wir besser verstehen lernen.« (7 Fragen an Hartmut Rosa)
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Zwischenstück IV
Menschen sind niemals allein auf der Welt. Sie entstehen aus der Vereinigung zweier Teile zweier anderer Individuen und wachsen in einem anderen Menschen solange heran, bis sie reif sind für das Hinaustreten in die Welt, wo sie zunächst noch lange auf die Behütung durch Andere angewiesen sind und erst allmählich in die Menschenwelt hineinsozialisiert werden. Mit dem Älterwerden geschieht dann, in unserer westlichen Kultur, eine mehr oder weniger weit gehende Loslösung aus dem Verbund der Anderen. Es ist schwer zu sagen, wie es, was das Verhältnis zu den Anderen angeht, mit dem Sterben ist 1 – »keine Kunde kam je von da« (Benn) –, aber für sehr viele Menschen ist schon das Altwerden eine Erfahrung der zunehmenden Vereinzelung und des Alleinseins; sie kann lastende Einsamkeit, aber auch ein Bewußtsein der Autarkie und Freiheit mit sich bringen. Auf das gesamte Leben gesehen wird der Mensch als ein animal sociale verstanden. Ob er sich jedoch eindeutig als aktives Subjekt gegenüber allen Anderen begreift oder ob er sich als hineingehörig in eine gemeinsame Welt und als aus ihr her bestimmt weiß – jeweils bedeutet das eine grundsätzlich unterschiedliche Haltung zum Anderen und zum Anderssein. Ein Gerontologe hat mir einmal versichert, daß der Sterbende »am Ende« alle seine Lieben um sich versammelt sähe, auch wenn sie weit weg wären.
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Die Frage nach dem Anderen
Die Frage nach dem Anderen – damit scheint zunächst in erster Linie die Frage nach dem anderen Menschen gemeint zu sein. Als in der Philosophie der Neuzeit das Ich, das denkende, seiner selbst bewußte Subjekt in den Mittelpunkt der Betrachtung rückte, stellte sich notwendig auch die Frage nach der Bedeutung und Relevanz, die die Existenz von anderen Menschen hat, nach dem anderen Ich, demjenigen, der nicht Nicht-Ich (im Sinne von Fichte etwa), aber auch nicht Ich ist, nicht der, der ich bin. Für den Menschen ist es wesentlich, daß es Andere seiner Art gibt, – und seien sie ihm im Einzelnen noch so gleichgültig. Das menschliche Individuum, das ein sprechendes Lebewesen ist, ist ein soziales Wesen, es bedarf, um es selbst zu sein, der Anderen. In der neuzeitlichen Philosophie ist der Andere für das Ich zunächst eine Herausforderung, weil er den Anspruch erhebt, ebenfalls ein Ich zu sein und damit ebenfalls die Subjekt-Position gegenüber dem Objekt einzunehmen. Was heißt es, daß das Subjekt, das sich die Welt aus seiner Perspektive zum Gegenstand macht und die Fundierung der Wahrheit über diesen Gegenstand in der Gewißheit seiner selbst und seines Weltbezugs findet, anerkennen muß, daß es neben ihm konkurrierende Bezugspunkte, andere »Selbste« gibt? Was sind die Bedingungen von gegenseitigem wie gemeinschaftlichem Verstehen, Handeln und Miteinandersein? Und was bedeutet es, daß das Ich-Subjekt von einem anderen Ich-Subjekt zu seinem Objekt gemacht wird? Von den Anerkennungsphilosophien des Deutschen Idealismus 113 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Die Frage nach dem Anderen
über Feuerbach und Nietzsche, über Sartre und Husserl und Buber bis hin zu Gadamer, Habermas oder Levinas gab es unterschiedliche Ansätze zur Beantwortung solcher und ähnlicher Fragen nach dem Anderen, der dem jeweils Einen grundsätzlich gleich wie ungleich ist. Die Frage nach dem Anderen kann jedoch auch weiter, umfassender verstanden werden. Es geht ihr dann nicht so sehr um den Anderen (die Andere bzw. die Anderen) als vielmehr allgemein um das Andere, zu dem unter anderem auch der/die Andere gehört. Das Andere im weiten Sinne wird in zwei unterschiedlichen, zusammengehörenden, sich teilweise überschneidenden Bedeutungen gebraucht. Es ist einerseits das Andere von zweien, das numerisch Zweite, oder das Andere in einer bestimmten oder unbestimmten Pluralität, also als noch eines oder ein weiteres unter mehreren (lateinisch alter). 1 In vielen Redewendungen stellen wir dem Einen ein Anderes entgegen oder an die Seite: einerseits/andererseits, zum einen/zum anderen, ein ums andere Mal usw. Wir gebrauchen »das Andere« oder »die Anderen« oftmals, wenn wir ein Weiteres innerhalb einer vorgegebenen Menge von Gleichartigen bezeichnen wollen. Andererseits – und in dieser Bedeutung wird es im Folgenden thematisiert – ist das Andere das qualitativ Andere, das, was sich unterscheidet, das Nichtidentische, Differente oder Differierende (lateinisch aliud). Es ist ein Anderes, weil es anders ist. Dieses Andere ist nicht mehr primär dem Einen, sondern in erster Linie dem Selben oder Gleichen und dem So-Seienden entgegengesetzt. »Und er war Im Deutschen gebrauchen wir heute allerdings zumeist »ein anderes« nicht mehr – wie in einigen Sprachen – im Sinne von »noch eines«. Bestellen wir in der Bar »einen anderen Wein«, so heißt das im Italienischen, daß wir ein zweites Glas des selben, im Deutschen dagegen, daß wir eine andere Sorte wollen.
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Die Frage nach dem Anderen
anders«, heißt es in Rilkes Gedicht Die Brandstätte. 2 Da steht einer, ort- und beziehungslos inmitten der Leere eines abgebrannten Hauses. Er ist herausgefallen aus dem Gewohnten, weil seine vertraute Umgebung selbst verschwunden ist. Sein Anderssein bedeutet, daß er sich selbst und anderen als ein Fremder erscheint, daß er mit seiner Behausung seine sichere Identität verloren hat. Das Anderssein in der Weise des Nichtidentischen muß nicht als so einschneidend und dramatisch erfahren werden wie im Fall der Brandstätte. Aber es meint jedenfalls immer ein Sichunterscheiden oder ein Unterschiedenwerden. In dieser Hinsicht ist es dem Anderssein im zunächst genannten Sinne des Anderen unter Gleichartigen geradezu entgegengesetzt. Eine eigenartige Spannung dieses Andersseins liegt darin, daß sowohl das Eine wie das Andere Andere sind. In den beiden ersten Strophen eines Gedichts von Christian Morgenstern (Von zwei Rosen), werden beide Bedeutungen des Ein-Anderes-Seins nebeneinander ins Spiel gebracht: Von zwei Rosen duftet eine anders, als die andre Rose. Von zwei Engeln mag so einer anders, als der andre schön sein. In meinem Aufsatz »Das Andere und das Denken der Verschiedenheit« in dem gleichnamigen von Heinz Kimmerle herausgegebenen Band (1987) bin ich ausführlicher auf dieses Gedicht eingegangen.
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Die Frage nach dem Anderen
Während wir »das Andere« ebenso für das andere Exemplar, den anderen Fall wie für das Verschiedene gebrauchen, ist »der Andere« (im Singular wie im Plural) fast durchgängig, jedenfalls auf den ersten Blick, im ersteren Sinne intendiert. Das Du, das andere Ich, ist ein Zweiter oder Dritter mir gegenüber, allgemeiner gesagt, ein weiteres Exemplar von der selben Art wie ich. Die Anderen, das sind zunächst einmal die unbestimmte Mehrzahl derer, die mit mir zusammen die Menschheit bilden. In diesem Sinne sagt Kants »praktischer Imperativ«: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 429, Hervorhebung von mir). Für die Nennung dieser Anderen kommt es gerade nicht darauf an, daß sie sich voneinander unterscheidende Andere sind, sondern allein darauf, daß sie auch Menschen sind. Die Anerkennung durch den Anderen, d. h. durch ein anderes, zweites Selbstbewußtsein, deren für Hegel wie für Fichte das Bewußtsein bedarf, um ein Selbstbewußtsein zu sein, bringt nicht in erster Linie die qualitative Andersheit des anderen Selbstbewußtseins ins Spiel. Allerdings zeigt sich hier doch schon der Übergang zu einem Anderer-Sein, das zugleich den Charakter des Unterschiedenen, Andersseienden hat. Wir erkennen ihnen ein uns gegenüber anderes In-der-Welt-Sein zu, eine andere Geschichte, ein anderes individuelles Wesen. Die Relevanz der Existenz Anderer betrifft nicht nur deren bloße Pluralität; diese impliziert, daß die Anderen ihrerseits selbständige qualitativ differierende Seiende – mit eigenem Willen – sind. Vergleichbares gilt nicht für einen Stein neben anderen Steinen am Weg, auch nicht für eine Ameise in Bezug auf eine
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andere Ameise, obgleich diese letztere ebenfalls ihresgleichen zu ihrem eigenen Fortbestand braucht.
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Das Andere ist anders. Es ist anders als das Eine. Es ist auch anders als der, der dieses Anderssein wahrnimmt. Möglicherweise ist es sogar auch anders als es selbst. Anders, das heißt nicht so, nicht wie gewohnt. Bezeichnen wir etwas als anders, so nehmen wir Maß am Einen, So-Seienden, an dem, was vor Augen liegt oder jedenfalls dem Bewußtsein präsent ist. Wir grenzen es ab gegen schon Bekanntes, gegen etwas, von dem wir wissen, was und wie es ist. Oder auch umgekehrt: im Bekannten und Vertrauten selbst erfahren wir eine Grenze gegenüber dem, was nicht mehr dazugehört, nicht vom Einen her identifizierbar ist. Was jenseits dieser Grenze, jenseits des jeweiligen Horizontes des Kennens und Verstehens liegt, ist das Andere. 3 Die Bestimmung, die darin impliziert ist, ist zunächst eine negative. Das Andere wird lediglich von dem Einen, Vorliegenden abgesetzt, wobei sowohl dieses wie jenes kein realer Gegenstand sein muß. 4 Etwas verhält sich anders, als wir es uns gedacht oder als wir es geplant hatten. Positiv muß ihm damit kein eigener, identifizierbarer Inhalt zugesprochen werden. Wir können in ihm vielmehr eine gewisse Fremdheit und vielleicht Befremdlichkeit, jedenfalls ein Unbekannt- und Unvertrautsein erfahren; dieses Andere ist nicht so, sondern fremd, unbekannt.
Die Erkenntnis des Was des Einen, dem gegenüber das Andere anders ist, geschieht durch Ein- und Abgrenzung – De-finition. 4 Auch unsere Vorstellung und unsere Vormeinung kann anders sein. 3
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Das Andere ist nicht so wie das Eine. In diesem »nicht so« liegt oftmals – mehr oder weniger offensichtlich – eine merkwürdige Unbestimmtheit. Es kann alles oder nichts besagen – alles Mögliche und nichts Bestimmtes. Darin, daß das Andere anders ist als …, liegt dann zwar ein Hinweis, aber ein Hinweis, der in eine Offenheit führt. Möglichkeiten kommen ins Spiel, die noch nicht geklärt, noch nicht entschieden sind. Nicht so, d. h. nicht wie gewohnt, nicht wie gewollt, nicht wie vermutet, nicht wie erwartet – von Anderen oder von ihm selbst. Wie ist das Andere, wenn es nicht so ist wie das zunächst Gegebene? Von dem, was anders ist, läßt sich zunächst nicht sagen, wie oder was es ist. Es ist nur anders. Mit seiner Nennung bewegen wir uns in einem Raum der Vagheit, der Nichthaftigkeit. Zwar ist das Andere gewöhnlich durchaus real, seiend. Aber es ist nicht so, sondern anders, anderswo, zu einer anderen Zeit, jedenfalls auf andere Weise als gedacht, gehofft, befürchtet, erinnert. Insofern läßt es einen Raum offen für Träumen und Begehren, für Einbildungskraft und Phantasie. 5 Die Unbestimmtheit können wir sprachlich mit dem unbestimmten im Gegensatz zum bestimmten Artikel ausdrücken. Ein anderer Weg, ein anderes Aussehen – der andere Weg, das andere Aussehen. Nur im ersten Fall gibt es die genannte Unbestimmtheit. Der andere Weg muß zwar auch nicht lediglich der andere von zweien, also ein numerisch anderer sein. 6 Nehmen wir zum Beispiel den Satz Ich verweise auf das Beispiel der Heranwachsenden, die sich so oft anders fühlen, anders als ihre Eltern, ihre ganze Umgebung, auch als die Gleichaltrigen, denen sie gleichen wollen und gegenüber denen sie sich doch abzusetzen versuchen. Sich als anders fühlen und sich unverstanden glauben bedeutet da häufig das Gleiche. Zugleich wissen sie selbst oftmals nicht so genau, wer sie sind und was sie sein könnten und wollten. 6 Dagegen ist das Grimmsche Wörterbuch hier eindeutig: »Hauptregel 5
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»Der andere Weg, den wir dann eingeschlagen haben, war ebenfalls voller Mühen«. Hier ist der Weg zwar nicht notwendig ein vorher schon als Alternative gesehener, es kann auch einfach ein unterschiedlicher, nicht vorhergeplanter Weg sein. Aber er ist aus der rückblickenden Perspektive des Sprechenden dennoch ein bestimmter, nämlich eben der dann eingeschlagene Weg, worauf mit dem Relativsatz hingewiesen wird. »Ein anderer Weg« hätte eine gewisse Unbestimmtheit ausgedrückt; die Wahl des anderen Weges, weil es nur ein – irgendein – anderer Weg war, wäre beliebig und selbst unbestimmt geblieben. Man hätte nichts Bestimmtes von ihm sagen können. Es handelt sich hier zwar nur um Nuancen. Doch nur ein unbestimmt bleibender anderer Weg ist im strengen Sinne anders. 7 Dem traditionellen westlichen Denken muß diese Unbestimmtheit fremd, ja unheimlich sein. Als Abund Ein- und Ausgrenzen, als Determinieren und Definieren setzt es Grenzen, die ihm das Begegnende erst voll erkennbar und handhabbar machen. Seine ratio kann der Negativität, die im Anderssein als solchem liegt, nur so begegnen, daß es sie in seiner Diskursivität verarbeitet und damit unschädlich macht. So ist das Denken wesentlich ein Bestimmen. Das Anderssein ist in ihm – wie Hegel es dann in seiner Wissenschaft der Logik eindrücklich herausgearbeitet hat – nur ein Moment. Die Nichtidentität gehört mit der Identität zusammen in eine beide übergreifende Identität. Innerhalb ihrer gilt: »Etwas verhält sich so aus sich selbst zum Andern, weil das Anderssein als sein eigenes ist: nach dem bestimmten artikel hat ander noch den sinn von alter, ohne artikel den von alius« (Grimm, Bd. 1, Sp. 307). 7 Dieses adverbial gebrauchte »anders« ist, im Gegensatz zum entsprechenden Adjektiv und Substantiv, eindeutig qualitativ gemeint.
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Moment in ihm gesetzt ist; sein Insichsein befaßt die Negation in sich, vermittelst deren überhaupt es nun sein affirmatives Dasein hat.« (Wissenschaft der Logik I, 113) Lösen wir uns jedoch von einem alternativlos an Allgemeinheit, Rationalität und Identität gebundenen Denken und versuchen, auch das Begriffslose und Besondere in den philosophierenden Blick zu fassen, so gewinnt – wie das Nichts und die Nichthaftigkeit – auch das Anderssein eine ihm eigene, selbständige Relevanz. Es ist nicht mehr von vorneherein dem Etwassein oder Sosein untergeordnet, sondern kann sich diesem als gleichgewichtige Alternative an die Seite stellen. Dieses Anderssein begegnet in verschiedener Hinsicht. Einiges erscheint nur anders als gewohnt. Aber es kann sich auch alles um einen herum plötzlich anders zeigen, wenn eine starke Erschütterung, wenn Liebe, Grauen, Angst, Sehnsucht das In-der-Welt-Sein färben. Das »anders« kann einmal – bei aller Unbestimmtheit und Unausgeführtheit – positiv, das andere Mal negativ gemeint sein. Ich sah zwei augen und war plötzlich wie geblendet Blumen quellen und himmel kamen mir anders vor. (Stefan George, Am Brunnen) 8 Und:
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Oder ein anderes Beispiel für die positive Konnotation: Wie so anders ists geworden! Alles, was ich haßt und mied, Stimmt in freundlichen Akkorden Nun in meines Lebens Lied, (Hölderlin, Diotima, Mittlere Fassung)
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Und alle die grünen Orte, Wo wir gegangen im Wald, Die sind nun wohl anders geworden, Da ist’s nun so still und kalt.« (Eichendorff, Der verliebte Reisende) 9 »Es ist anders gekommen.« In den angeführten Beispielen wird das »anders« nicht näher ausgeführt, obgleich man die jeweiligen Umstände auch genauer inhaltlich beschreiben könnte. Eichendorffs »Da ist’s nun so still und kalt.« ist kein eigentliches Ausmalen, eher ein Andeuten der Atmosphäre, die erschauern macht, vielleicht gerade auch, weil sie in ihrer Vagheit verbleibt. Diese Vagheit spricht auch in der bloß aufzählenden Zusammenstellung von Blumen, Quellen und Himmel bei George. Sie kommen ihm anders vor – wie, wird nicht gesagt. Die Nennung der Andersheit öffnet einen Raum, weist über einen Horizont, deutet in eine Richtung. Das einzig Bestimmte daran ist, daß es nicht so ist wie das Gegenteil, das seinerseits allein durch seine Negation genannt wird, lediglich als das Andere des Anderen erscheint. Die grünen Orte im Wald, wo die Liebenden gegangen waren, waren ursprünglich, so wird uns stillschweigend zu vermuten gegeben, erfüllt von Wärme und Vogelgezwitscher. Doch heute sind sie still und kalt. Was in ihnen erfahrbar wird, ist Negativität, Mangel. 10
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Oder mit ebenfalls negativer Bedeutung: Sie hat einen andern genommen, Ich war draußen in Schlacht und Sieg, Nun ist alles anders gekommen, Ich wollt, ’s wär wieder erst Krieg. (Eichendorff, Der letzte Gruß) Und noch eine Strophe, in der Momente der beiden angeführten Ge-
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»Zu einer anderen Zeit« kann heißen: »ein anderes Mal«. Zu einem früheren Zeitpunkt wären vielleicht andere Entscheidungen oder Geschehnisse möglich gewesen, in der Zukunft könnten sich andere Entwicklungen ergeben. Später mag sich Anderes zeigen, das den Lauf der Dinge auf heute ungeahnte Weise beeinflussen wird. Der Hinweis auf das »zu einer anderen Zeit« kann auch nostalgisch gefärbt sein 11 und implizieren, daß das Vergangene sich von heute aus gesehen in einem anderen, verklärten Licht zeigt. Der gegenwartskritische Blick zurück behauptet dann, früher sei es anders, besser gewesen. Schiller singt in Die Götter Griechenlands: Ach, da euer Wonnedienst noch glänzte, Wie ganz anders, anders war es da! Da man deine Tempel noch bekränzte, Venus Amathusia! Das Zukünftige wird zuweilen als ein prinzipiell Anderes konzipiert. Der kritische Blick auf die Gegenwart sieht, daß es nicht so (schlecht) sein müßte, wie es tatsächlich ist: es könnte anders (besser) sein. Die Utopie lebt von der Idee dichte vorkommen, die Bedeutung des Andersseins aber eindeutig negativ ist: Anders wird die Welt mit jedem Schritt, Den ich weiter von der Liebsten mache, Mein Herz, das will nicht weiter mit. Hier scheint die Sonne kalt ins Land, Hier deucht mir alles unbekannt, Sogar die Blumen am Bache! (Mörike, Heimweh) 11 Für negative Assoziationen bei der Erinnerung, das Gegenteil zur Nostalgie, scheint es in unserer Sprache keinen Ausdruck zu geben.
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eines Un-ortes, der ein anderer Ort sein soll. 12 »Ich kann nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es gut werden soll«, schreibt Lichtenberg in seinen Sudelbüchern. 13 Auch für den kritischen Blick bleibt das Andere zumeist unbestimmt. Die Unbestimmtheit hat hier den Charakter einer Offenheit, die so etwas wie ein aktives Warten und Bereitsein impliziert. Mit der Denunzierung des falschen Zustands blitzt die Möglichkeit eines Anderen, eines Stands der Versöhnung auf: »Wäre das Fremde nicht länger verfemt, so wäre Entfremdung kaum mehr.« 14 Wie es dann wäre, bleibt unbestimmt. Aber es ist eine Unbestimmtheit voller Möglichkeiten und Versprechen, ihr Anderssein ist verheißungsvoll, gerade weil es nicht ausgemalt werden kann. »Gewiß, Alabanda!«, ruft Hyperion aus, »gewiß es wird anders.« Und Alabanda läßt sich von dieser Zuversicht – davon, daß da »einer von denen« ist, »die es gerne besser haben möchten« – anstecken: »Ich habe meine Lust an der Zukunft«. 15
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Das Sein oder das »wie es ist« ist, gemäß der Kunde, in der die Göttin Parmenides das »unzittrige Herz der wohl überzeugenden Wahrheit« offenbart, »ein Selbes, in sich selbst Bleibendes, das sich auf sich selbst bezieht und auf diese
Ich verweise auf Franz Marcs »Erkennt, meine Freunde, was Bilder sind: das Auftauchen an einem anderen Ort.« Vgl. Verfasserin: erstaunlich und fremd, 87. 13 Bd. 2, 450. 14 Adorno, Negative Dialektik, 172. 15 Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, 28, 33, 29. 12
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Weise am selben Ort bleibt« (frg. 8). Das »ist« in seinem reinen Daß schließt in der radikalsten überhaupt denkbaren Weise alles Anderssein von sich aus. Parmenides ist sich dessen bewußt, daß er damit im Grunde gar keine Aussage über es machen, kein rationales Urteil fällen kann. Ihm bleibt nur ein hinzeigendes, unmittelbar offenbarendes Sagen. Denn alles aussagende Denken bestimmt etwas als etwas, und d. h. als etwas Anderes, es geht von Einem zu einem Anderen fort. So ist Parmenides – trotz aller Differenz ums Ganze, d. h. um das Ganze der zwischen beiden liegenden Geschichte der Metaphysik – in einer vergleichbaren Schwierigkeit wie Hegel am Anfang der Wissenschaft der Logik, wo er sich vor der Aufgabe sieht, das Sein auf eine schlechthin einfache, nicht-bestimmende Weise zu thematisieren; nur daß die Unmöglichkeit des Bestimmens, die streng genommen die absolute Bestimmungslosigkeit selbst ist, Hegel zu der ungeheuren Setzung führt, daß dieses Sein dem Nichts gleich ist. Während es für Hegel darum geht, das Absolute, das Sein und Denken zugleich ist, sich selbst hervorbringen, zu sich werden zu lassen, bei welcher absoluten Selbstbewegung nicht einmal das Nichts außerhalb seiner stehen gelassen werden kann, vermag Parmenides seine Sicht nur in einer Art stammelnden Staunens vor der reinen Selbigkeit als solcher und damit durch den absoluten Ausschluß des Nichts zum Ausdruck zu bringen. Für ihn bleibt das »sein« als ein Selbes bei sich und für sich und in sich. Soweit es nur irgend möglich ist, wird das Anderssein durch die genannte Kennzeichnung des »wie es ist« als »Selbigkeit mit sich« ferngehalten. Zunächst wird es noch nicht einmal genannt, und wäre es auch in der Negation. Einige Zeilen weiter wird dann jedoch ausdrücklich gesagt: »Es gibt kein Anderes außerhalb von ›sein‹ und es wird 124 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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auch keines geben.« Die großartige, fast könnte man sagen: trotzige Entschiedenheit, mit der Parmenides das von ihm geschaute »seiend« oder »Sein« gegen alles »nichtseiend« oder »Nichtsein« verteidigt, impliziert, daß er es als selbig im radikalsten Sinne herausstellen muß. Gerade diese Kennzeichnung als »selbig« bedeutet jedoch die Schwierigkeit, das Gemeinte angemessen auszudrücken. In der Selbigkeit verbirgt sich zudem die immanente Verschiedenheit des Selbstbezugs, der bei Parmenides im zweimaligen Bleiben und im Auf-sich-selbst-Verweisen des kath’auto erscheint. Indem das Anderssein ausgeschlossen wird, bleibt es doch zugleich irgendwie präsent. Ist es nicht, als ob eine offene Valenz entschieden gekappt und auf sich selbst zurückgeführt werden soll? An diesem entscheidenden Punkt des Anfangs der abendländischen Philosophie wird das alle Negativität und damit alles Anderssein und alle Veränderung aus sich ausschließende Sein zum unumstößlichen Referenzpunkt für die Menschen, die sich ihrer eigenen Sterblichkeit und der Endlichkeit der sie umgebenden Dinge nicht stellen können oder wollen. Doch haben sie in der Folge an der absoluten Reinheit des »es ist, wie es ist und nichts anderes« nicht festhalten können – wenn sie nicht gänzlich auf das Nachdenken über die Welt, in der sie leben, und auf jede Verständigung über sie und sich in ihr verzichten wollten. Um das Seiende denken zu können, setzt die Philosophie in der Folge ein Nichtseiendes, das nicht mehr das dem reinen Sein gegenüberstehende reine Nichtsein ist und das damit zu einem lediglich »in gewisser Weise Seienden« wird. 16 So Vgl. »Wenn wir das Nichtseiende nennen, so nennen wir kein Gegensätzliches, sondern nur ein Anderes als das Seiende.« (Platon, Sophistes 257b3)
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braucht das Anderssein nicht mehr ausgeschlossen zu werden, es kann und muß vielmehr umgekehrt von jedem endlichen Seienden gesagt werden. Jetzt ist alles, was ist, sowohl selbig wie anders, sowohl seiend wie nichtseiend. Platon hat in diesem Sinne das Anderssein neben dem Selbstsein als eine der fünf obersten gene tes kategorias angesetzt, die von jedem Seienden als Seiendem gelten (sowie auch jeweils voneinander). Auch Aristoteles vollzieht den relativierenden Schritt, der aus der Unmöglichkeit der absoluten Entgegensetzung von Sein und Nichtsein hinausführt. So betont er etwa gegen Ende des ersten Buches seiner Physikalischen Vorlesungen (A8), daß allein mit seinem in den vorhergehenden Kapiteln dargelegten Verständnis des Problems von Entstehen und Vergehen und Veränderung als Bewegung zwischen Entgegengesetzten die »Aporie der Alten« gelöst werden könne. Diese nämlich hätten die falsche Überzeugung vertreten, daß es kein Entstehen und kein Vergehen geben könne, da etwas nur entweder aus Seiendem oder aus Nichtseiendem werden könne; beides aber sei unmöglich. Und darum gebe es auch keine Mannigfaltigkeit, sondern nur das Sein selbst. Aristoteles stimmt seinen Vorgängern im Denken zu, daß in der Tat aus nichts nichts werden könne. Gleichwohl könne etwas aus einem »in gewisser Weise Nichtseienden«, einem nur nebenbei oder nur auch Nichtseienden entstehen, wie z. B. aus einem privativ Gegensätzlichen: ein Haus wird aus solchem, was noch nicht Haus ist, etwa Holz und Steine. Das Nichtsein wird relativiert zu einem Irgendwie-Nichtsein. Indem das Nichtsein dem Sein unterworfen und in dieses hineingeholt wird, gelingt es, das Anderssein und das Anderswerden, die Ver-
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änderung – wozu auch das Entstehen und das Vergehen gehören – als möglich zu denken. 17 Radikal wird das Nichtsein qua Anderssein bei Hegel in das Sein hineingenommen. Zum einen, indem er die Natur als das Anderssein des Geistes und dieses als dessen Selbstentäußerung versteht und es so in die Bewegung des Zu-sich-selbst-Kommens des Absoluten aufhebt. Zum anderen dadurch, daß er die Selbstbewegung des Absoluten grundsätzlich als Bewegung des Sich-anders-Werdens begreift. Auf jeder neuen Stufe jener Bewegung unterscheidet sich das Absolute von sich selbst; der allgemeine Anfang überführt sich, indem er sich bestimmt und so, sich negierend, zu seinem Anderen wird, in die Bewegung. In seiner bestimmten Negation schließt sich der Anfang vermittelnd mit dem jeweils erreichten Anderen zusammen zu einem neuen – vermittelten – Unmittelbaren. Eben dies macht das aus, was Hegel unter »Dialektik« versteht: daß »das anfängliche Allgemeine aus ihm selbst als das Andere seiner sich bestimmt«. (Wissenschaft der Logik II, 491)
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Das Andere ist nicht nur nicht so, sondern eben anders. 18 Auch wenn über es selbst scheinbar nichts weiter gesagt wird, kann ihm doch ein Anderssein zugesprochen werden. 19 Aber ist das Andere wirklich anders? Oder erscheint es nur so in Bezug auf etwas, dem gegenüber es anders ist, und für jemanden, der dieses Anderssein konstatiert? Ein Eine weitere Ausfaltung dieser »Versöhnung« von Sein und Nichts im Sein ist dann Aristoteles’ Lehre von dynamis und energeia. 18 Vgl. zum Folgenden Verfasserin, erstaunlich und anders. 19 Platon behandelt im Sophistes (254d ff.) die »Natur des Anderen« (physis thaterou). 17
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jedes ist, von jedem Einen her gesehen, ein Anderes, wie es in seinem Bezug auf jenes als sein Anderes wiederum das Eine ist. So scheint das Anderssein lediglich eine Relationsbestimmung zu sein und keinem von beiden an ihm selbst zuzukommen. Doch sollten wir dem Anderen sein eigenes Anderssein nicht so schnell absprechen. Um es zunächst mit einem sich nur annähernden Beispiel zu sagen: Obwohl ein warmer Tag nur im Verhältnis zu kühlen Tagen warm genannt werden, im Verhältnis zu wärmeren aber sogar kühl sein kann, empfinden wir seine Wärme doch an bestimmten Tagen als »reale« Wärme, als etwas, was diesem Tag an ihm selbst zukommt. Entsprechendes gilt auch für das Anderssein selbst. Zweifellos scheint das Anderssein selbst auf den ersten Blick etwas Formaleres, Abstrakteres als das Warmsein zu sein. Gleichwohl kann auch das Anderssein von etwas losgelöst von seinem negativen Bezug zu Anderem erfahren werden. Ich zitiere den Schluß der sechsten Duineser Elegie von Rilke: Denn hinstürmte der Held durch Aufenthalte der Liebe, jeder hob ihn hinaus, jeder ihn meinende Herzschlag, abgewendet schon, stand er am Ende der Lächeln, – anders. Hier fehlt jede Reziprozität. Wie der Übriggebliebene in der Brandstätte ist der angedichtete Held nicht nur in der Weise anders, wie die Anderen ihrerseits anders sind als er, sondern er ist an ihm selbst anders, »wie aus fernem Land«, wie es in jenem Gedicht heißt. 20 Ich denke, ein solches ex20
Vgl. z. B. auch die Zeilen aus Eichendorffs Ahnung und Gegenwart:
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klusives Anderssein kann selbst dort sichtbar werden, wo der Bezug zu Anderem gleichwohl genannt wird, wie in diesen Zeilen in dem Gedicht Die Erblindende (ebenfalls von Rilke, der wohl eine besondere Sensibilität für das Anderssein hatte 21 ): Sie saß so wie die anderen beim Tee. Mir war zuerst, als ob sie ihre Tasse ein wenig anders als die andern fasse. Sie lächelte einmal. Es tat fast weh. »Ein wenig anders als die andern.« Die Erblindende bewegt sich beinahe so wie die Anderen durch den Tag. Man kann nicht genau sagen, wo er liegt, aber doch scheint es einen Unterschied gegenüber jenen zu geben. Die Beobachtung wird fast wieder zurückgenommen – »mir war zuerst«. Das Anderssein ist so unbestimmt, daß es kaum gesagt werden kann. Und doch ist es, auch wenn seine Wahrnehmung unsicher bleibt und obgleich es sogar ausdrücklich auf die Anderen bezogen wird, etwas Eigenes. Auch hier besteht kein reziprokes Verhältnis, die Unsicherheit ist keine gegenseitige. Es machte in diesem Zusammenhang keinen Sinn, von den Anderen zu sagen, sie hielten ihre Tasse anders; sie halten sie ja auf die gewohnte und ihnen gemeinsame Weise. Wenn etwas auf Grund eines eigenen Hinschauens oder weil es unversehens vor einem empfänglichen Blick auftaucht, als ein Erstaunliches und Fremdes begegnet, so »Ganz anders, abgesondert und ohne alle Berührung mit diesem Kreise lebte Leontin in einem abgelegenen Quartiere der Residenz mit der Aussicht auf die beschneiten Berge«. 21 Vgl. seinen Roman Malte Laurids Brigge. Malte ist ein Anderer und erfährt zunehmend Anderes.
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geschieht das zwar, wie angedeutet, nicht ohne daß da eine Aufmerksamkeit wäre, aber seine Andersheit ist gleichwohl auch als etwas ihm Eigenes erfahrbar, es selbst zeigt sich uns als erstaunlich. Wie sieht da zu dieser Stunde So anders das Land herauf, Nichts hör ich da in der Runde Als von fern der Ströme Lauf. (Eichendorff, Morgenlied) Das Land selbst ist in der Morgenfrühe ein Anderes, es sieht anders in die Welt und hinauf zu dem, der seinen Blick über es schweifen läßt. Es ist eine Zeit der Morgenstille und Ungestörtheit, in der die bekannte Landschaft plötzlich einen Charakter der Unvertrautheit und Fremdheit bekommt. Die gewohnten Bezüge und Bedeutungen treten zurück, werden nichtig; die Stille wird zu dem nichthaften Raum, in dem das Ganze des Gesehenen erstaunlich neu und anders erscheint. Fast könnte man sagen, daß Erstaunlich- und Anderssein als solche erscheinen. Das Andere kann also an ihm selbst anders sein. Da ist dann etwas, das nicht nur für uns, sondern an ihm selbst fremd, erstaunlich, rätselhaft, geheimnisvoll ist. Sind vielleicht der Tod, das Glück, die Liebe, der Gott von dieser Art? Die eben gerade keine bestimmte Art wäre, die sich spezifisch, in negativer Bestimmung, von einer anderen unterschiede. Parmenides soll laut Theophrast gesagt haben, der Tote höre das Schweigen, – spricht er da über den Bereich eines Andersseins, das an ihm selbst anders ist, nicht einfach anders als Anderes? 22 22
Ein solches An-ihm-selbst-Anderssein wäre dem Nichts verwandt.
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Dem an ihm selbst Anderen können wir nur durch ein anderes Verhalten zu ihm nahekommen, in einer Annäherung, die das Fremdsein und die Ferne gerade nicht aufhebt und zerstört, sondern erhält und bewahrt. Es bedarf hier eines anderen Wissens 23, dem es nicht mehr um die Überführung des Unvertrauten und Unbekannten in Vertrautheit und Bekanntheit zu tun ist, das vielmehr staunend zurücktritt vor dem Fremden, um sich von ihm etwas – vielleicht zuvor nie Erblicktes und Unerhörtes – sagen zu lassen. »Je dichter die Menschen, was anders ist als der subjektive Geist, mit dem kategorialen Netz übersponnen haben, desto gründlicher haben sie das Staunen über jenes Andere sich abgewöhnt, mit steigender Vertrautheit ums Fremde sich betrogen.« 24 Was anders ist, ist an ihm selbst rätselhaft und geheimnisvoll. Sein Geheimnis liegt nicht darin, daß es auf irgendeine Weise verschlüsselt, nur Eingeweihten zugänglich wäre; es ist auch nicht etwas, das zwar gewußt ist, aber nicht weitererzählt werden darf, wie das Beichtgeheimnis oder das Bankgeheimnis. Das Andere, dessen Anderssein darin liegt, daß es anders ist als der subjektive Geist, ist durch eine leere Ferne von uns getrennt, es hat seinen eigenen Raum und sein eigenes Recht, beruht in sich. Jeder Griff nach ihm, jedes Begreifen und Übergreifen, verfehlt es in dem, was es an ihm selbst ist. Dieses Verfehlen der Sache verfehlt zugleich seine eigenen Möglichkeiten: es beraubt sich der Möglichkeit einer Beziehung zu dem ihm Anderen. Denn eine echte BezieErinnern wir uns daran, daß wir im Deutschen von einem »Wissen um etwas« sprechen, wenn wir diesen anderen Zugang zum Ausdruck bringen wollen. 24 Adorno, Ästhetische Theorie, 191. 23
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hung ergibt sich nur aus dem Aufeinander-Eingehen Unterschiedener. Solange das Subjekt auf seiner Subjektposition beharrt und d. h. solange es das ihm fremde Andere zu seinem Objekt macht, es sich anzugleichen und in seinem eigenen Kategoriennetz einzufangen versucht, solange betrügt es sich um die Möglichkeit einer wirklichen Begegnung und einer fruchtbaren Kommunikation mit ihm. Wahre Kommunikation beruht auf der Anerkennung des Anderen als eines Anderen. Das gilt für jede menschliche Beziehung, aber es gilt auch allgemeiner für unseren Umgang mit den Dingen und Geschehnissen der Welt überhaupt. Sowohl Adornos Kritik am identifizierenden Denken durch den Hinweis auf den »langen und gewaltlosen Blick auf den Gegenstand« wie Heideggers Infragestellung des vorstellenden und rechnenden Vergegenständlichens durch die »Gelassenheit zu den Dingen« wollen dem jeweils zu Erfahrenden sein Eigensein belassen, begegnen ihm hörend und fragend, in konzentrierter Aufmerksamkeit auf das, was es zu sagen hat. Denn das Andere hat etwas zu sagen. Daß wir es in einem aktiven Sinne als das Andere sein lassen, das es ist, setzt voraus bzw. impliziert, daß wir einen Raum mit ihm teilen, eine Sprache, eine Welt. Das Andere bleibt gerade in seinem Anderssein unser Anderes.
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Zwischenstück V
Parmenides, der das Eine Sein so groß und so umfassend gedacht hat, daß es kein wie auch immer geartetes Anderes neben ihm geben kann, und für den dieses Eine somit auch in keiner Weise als Grund (von etwas) gedacht werden kann, weil das eine innere oder äußere Zwiefalt und damit auch Nichthaftigkeit bedeuten würde, – Parmenides hat seinem einshaften Sein die (Un-)Bestimmung einer wirklich radikalen Selbsthaftigkeit und Verhältnislosigkeit zugesprochen: »Als das Selbe und in sich selbst bleibend beruht es in und für sich selbst« (frg. 8, 29). Diese radikale Selbigkeit des Seins implizierte eine radikale Selbigkeit von Sein und Denken: Das Sein und sein Gedachtwerden fallen ineinander. An dieser absoluten Radikalität aber konnte das nachfolgende Philosophieren nicht festhalten. So wie das Denken einen Weg finden mußte, sich auf das Andere als solches, auf seine Vielfältigkeit und Fremdheit einzulassen, so mußte es sich selbst auch in einem sowohl Nähe wie Ferne umgreifenden Verhältnis zu seinem Gedachten sehen. In der Neuzeit war dieses Verhältnis der Bezug eines Subjekts zu einem Objekt. Dessen äußerste Spannung, die gleichwohl am Gedanken einer gewissen Selbigkeit festzuhalten sucht, 1 erreichte jenes Verhältnis in Hegels KonTrotz aller Differenzen zwischen unterschiedlichen Seienden und zwischen Sein und Denken gilt: Etwas ist es selbst. Das »Identitätsprinzip« sagt: ens est ens, bei Locke: whatever is, is. Bei Leibniz erhält es in der
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Zwischenstück V
zeption der Identität als der »Identität der Identität und der Nichtidentität«. Doch vermochte ein solcher Bezug weder die Mannigfaltigkeit und Eigenheit der »zehntausend Dinge« (Laotse) noch die vielgestaltige Zusammengehörigkeit von Mensch und Welt und das Erstaunen ihr gegenüber in den Blick zu bekommen. Erst Adorno und Heidegger haben sich auf je überaus unterschiedliche Weise von der metaphysischen Identität von Sein und Denken verabschiedet. Nicht nur Adornos wesentlicher Gedanke der »Nichtidentität« wie auch – dem Anschein zum Trotz – Heideggers »Zusammengehörigkeit« beider sind auf dem Wege zu einem offenen Zusammenspiel beider. Nur wenn das Denken bereit und in der Lage ist, sich selbst in der eigenen Vielfalt und Andersheit und in gewissem Sinne auch Unvorhersehbarkeit anzunehmen und ernstzunehmen, kann es auch die Unvorhersehbarkeit und Fremdheit des Anderen gelten lassen.
Fassung chaque chose est ce qu’elle est eine etwas andere Bedeutung, die der Sache nach aber auf den selben ursprünglichen Sachverhalt des Esselbst-Seins von etwas zurückweist. Daß etwas es selbst ist, heißt also, daß es das Selbe ist wie – es selbst. »Es selbst« meint nichts anderes als das betonte »es« bzw. dessen ausdrückliche Affirmation: es ist es selbst; das zu dem Namen einer Sache hinzugefügte »selbst« wendet sich bestätigend auf eben diese Sache zurück, es ist re-flexiv. Daß etwas es selbst ist und nichts anderes, bleibt die Selbst-Verständlichkeit schlechthin. Aristoteles sagt in Metaphysik Z 17 (1041a): »Zu fragen, warum etwas es selbst ist, heißt, nach nichts zu fragen« – ouden esti zetein. Es ist nichtssagend, weil es sich von selbst versteht; daß etwas es selbst ist, ist so selbstverständlich, daß es eigentlich unsinnig ist, es auszusprechen. Wenn Locke sagt, der Satz »whatever is, is« sei a »trifling proposition«, und wenn Hegel urteilt, daß »das Sprechen nach diesem sein-sollenden Gesetze der Wahrheit […] mit vollem Recht für albern« gilt (Enzyklopädie § 115), so betonen sie beide jene Selbstverständlichkeit der Selbstidentität, die aller Begründungs- und Erklärungsversuche spottet.
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»Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt …« Subjekt/Objekt oder Mensch/Ding?
Seit langem hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß es trotz der beträchtlichen Distanz zwischen den Denkansätzen von Heidegger und Adorno doch auch bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen beiden gibt und daß es durchaus lohnt, jene Denkansätze in ein Gespräch miteinander zu bringen, 1 auch wenn es eher schwierig ist, eine gemeinsame Sprache und einen gemeinsamen Boden für das unterschiedlich Gewollte beider zu finden. Einen Ausgangspunkt für ein Gespräch sehe ich im Folgenden in der sowohl für Adorno wie für Heidegger wichtigen Frage, wie sich das Verhältnis des Menschen zu den Dingen darstellt, wenn es nicht mehr als Beziehung eines Subjekts zu seinen Objekten, nicht mehr durch Identitätsbann einerseits (Adorno) oder Seinsverlassenheit andererseits (Heidegger) korrumpiert ist. Hier lassen sich sowohl verblüffende Ähnlichkeiten wie gravierende Unterschiede aufweisen. Ich beginne mit einer Spurensuche bei Adorno und frage dann, was sich von da aus
Die Unterschiede, die zwischen beiden bestehen und die vermutlich tiefer gehen als die Entsprechungen, lassen sich u. a., so scheint mir, an der Differenz zwischen dem ontologischen Denken und Sprechen des einen und dem ontischen Denken und Sprechen des anderen fassen. Heideggers seinsgeschichtlicher Ansatz und Adornos kritische Analyse von Wirklichkeit und Gesellschaft bewegen sich auf verschiedenen Ebenen der philosophischen Besinnung, was schnell deutlich wird, wenn man sich, über den oberflächlichen Blick auf Vergleichbares und Differentes hinausgehend, den von beiden Denkern gedachten Sachverhalten und den darin zu Wort kommenden Intentionen näher zuwendet. 1
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»Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt …«
gesehen 2 über das Verhältnis von Mensch und Ding bei Heidegger sagen läßt.
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In dem in den Stichworten veröffentlichten Text Zu Subjekt und Objekt spricht Adorno über den »Widerspruch«, daß die »Trennung von Subjekt und Objekt« wahr und unwahr zugleich sei. Dabei kommt in zweifacher Weise auch das Gegenteil dieser Trennung zur Sprache: einmal als das, was ihr voraufging – »ehe das Subjekt sich bildete« –, das andere Mal als der versöhnte Zustand, in dem das »Verhältnis von Subjekt und Objekt« »an seiner rechten Stelle« wäre. An diesem letzteren möchte ich ansetzen. »Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt …« (Zu Subjekt und Objekt, 153). Adorno ist da sehr vorsichtig. Er ist überzeugt, daß ein solches Spekulieren eigentlich nicht zulässig ist. Denn für ihn ist der Identitätsbann ein vollkommener, das heutige Leben ist ein falsches, der unmittelbare Blick auf den Gegenstand ist verstellt. Es gibt eine Vielzahl von Aussagen Adornos darüber, daß ein Sprechen über eine nicht entfremdete Natur jenseits des Verblendungszusammenhanges »Wundmal gesellschaftlicher Verstümmelung« und »Lüge« bliebe (Minima Moralia, 119). »Wer einen richtigen Zustand ausmalt«, so sagt er, kann von der Vormacht der herrschenden Objektivität nicht absehen: »alles würde schief« (Negative Dialektik, 343). »Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt …« – es ist, als stoße Adorno verstohlen eine verbotene Tür auf, um durch einen kleinen Spalt einen Blick von Von Heidegger selbst auszugehen, würde u. a. eine kritische Erörterung seiner Seinsfrage erfordern, die hier nicht beabsichtigt sein kann.
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»Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt …«
dem zu erhaschen, was dahinter wartet, – wartet auf eine Zeit, da eine »Veränderung der Welt« nicht mehr mißlingt (vgl. 13). Ich folge seinem verstohlenen Blick und schaue mit ihm auf das, was zu einem »richtigen« oder »wahren Leben« gehören würde. Adornos Zu Subjekt und Objekt enthält vier Formulierungen, die jenen »Stand der Versöhnung« kennzeichnen. Er spricht von – der Kommunikation des Unterschiedenen – dem Potential eines Einverständnisses von Menschen und Dingen – dem verwirklichten Frieden zwischen den Menschen wie zwischen ihnen und ihrem Anderen – dem Frieden als Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander (vgl. 153). Das hier gemeinte Unterschiedene ist gerade nicht das Getrennte. Die Trennung von Subjekt und Objekt verdankt sich – nicht nur, aber auch – der Verselbständigung des Subjekts gegenüber dem Objekt. In ihr »usurpiert der Geist den Ort des absolut Selbständigen, das er nicht ist« (152). Das Subjekt dünkt sich erhaben über die Natur, spricht sich selbst einen Primat gegenüber dem Objekt zu (vgl. 156). Und so trennt es sich nicht lediglich vom Objekt, sondern versucht darüber hinaus, jenes auf sich zu reduzieren: »Subjekt verschlingt Objekt, indem es vergißt, wie sehr es selber Objekt ist« (152). Trennung und Identifikation gehen Hand in Hand. Kommt dieser Vorrang des Subjekts jedoch ins Wanken, gewinnt vielmehr die »Einsicht in den Vorrang des Objekts« Raum (156), so geraten beide, der Mensch und die Natur, in ein neues Verhältnis zueinander. Zum einen ver137 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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mögen sie erst jetzt wahrhaft als sie selbst, in ihrer jeweiligen Eigenart, und d. h. als Unterschiedene zu sein, zum anderen können sie erst so, als jeweilige, ihren unterschiedlichen Bezug aufeinander realisieren, wirklich etwas miteinander anfangen. Während die Identität keinen Raum läßt für die Entfaltung des Eigenseins der in die Identität Gezwungenen, eben darum aber auch für kein eigenes Aufeinander-Zugehen, bedeutet die Überwindung der Trennung die Anerkennung der Nicht-Identität und Andersheit der Einzelnen in ihrer jeweiligen Eigenart. Das Nichtidentische ist das, was sich gegen den Begriff sperrt, was immer schon mehr ist als das, was von jenem erfaßt werden kann, mit Adornos Worten: »das Andere, Fremde, dessen Name nicht umsonst in Entfremdung anklingt« (Negative Dialektik, 189). Mit der Betonung des Nichtidentischen glaubt Adorno ein Stück weit an Hegel anknüpfen zu können. Hegel versucht, so heißt es in der Negativen Dialektik, »mit philosophischen Begriffen dem diesen Heterogenen gewachsen sich zu zeigen« (14). Adorno sieht hier eine gewisse Anerkennung des in sich Widersprüchlichen und Differenten, also des Nichtidentischen. Doch Hegels idealistische und Adornos negative Dialektik betrachten Identität und Nichtidentität gleichsam in entgegengesetzter Hinsicht. Das Differente, Unterschiedene, das Anderssein wird bei Hegel aufgehoben in die absolute Einheit, die seine Wahrheit ist. Adorno dagegen stellt sich entschieden auf die Seite des Nichtidentischen. Für ihn besagt Dialektik, »daß die Gegenstände in ihrem Begriff nicht aufgehen« (15, von mir kursiv gesetzt). »Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und 138 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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Verschiedene bleibt« (190). Das ist für Adorno entscheidend: daß das Unterschiedene auch in der Kommunikation, auch im Einverständnis das Fremde, Ferne und Verschiedene bleibt. Die Dinge sind Andere, vom Menschen Unterschiedene, und sie müssen in ihrer Unterschiedenheit gewahrt bleiben, weil sie – selbst als vom Menschen Hergestelltes – diesem gegenüber Naturcharakter haben, materiell und widerständig sind, weil sie, allgemeiner gesagt, wie die Menschen selbst überhaupt etwas sind. Das Anderssein der Dinge bedeutet auch, daß sie nicht in ihrem Begriff aufgehen, daß sie ihr Einzeldasein übersteigen, mehr sind, als sie sind. Dieses ihnen immanente Anderssein unterscheidet sie von dem sie Umgebenden und bezieht sie ineins darauf: Ihr »Verhältnis zu dem, was sie nicht sind«, ist ihnen wesentlich (vgl. 162 f.). Zugleich liegt in ihrem Anderssein auch ein Bezug auf das, was sie nicht mehr sind, was jedoch als sedimentierte Vergangenheit in sie eingegangen ist. Als Unterschiedene und nur als Unterschiedene stehen Menschen und Dinge in Kommunikation miteinander. »Kommunikation mit Anderem kristallisiert sich im Einzelnen, das in seinem Dasein durch sie vermittelt ist« (162). Der Wechselbezug zwischen Mensch und Ding schlägt sich in dem Eigensein beider nieder und läßt sie erst durch diesen Bezug sein, was sie je selbst sind. Doch die Kommunikation geschieht nicht von selbst. Sie braucht einerseits die beiden Kommunizierenden, die sich aktiv und passiv aufeinander beziehen müssen, damit sich etwas zwischen ihnen entfalten kann. Andererseits bedarf sie zu ihrem Gelingen in besonderer Weise des einen von beiden, des Menschen als des denkenden und sprechenden Wesens. Auch wenn der »Kultus des Geistes«, wie Adorno sagt, »von der Einsicht in den Vorrang des Objekts aus den Angeln gehoben« wird (Zu Subjekt und Objekt, 159), ist doch die reale 139 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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Differenz zwischen den Menschen und Dingen nicht zu leugnen, die u. a. darin besteht, daß es die Menschen sind, die die Dinge zum Sprechen zu bringen vermögen. Die Kommunikation braucht in besonderer Weise das menschliche Zutun, sein »Dabeisein«, sein Inter-esse. Dieses entfaltet sich, indem der Mensch das von ihm Unterschiedene erfährt und denkt, indem er auf es hinblickt, mit ihm und von ihm spricht. Adorno nennt hier den »langen und gewaltlosen Blick auf den Gegenstand« (Anmerkungen, 14) und den »verweilenden Blick« auf das Objekt (Negative Dialektik, 36). Es bedarf der »Geduld zur Sache« und der Bereitschaft, »nicht mit dem eigenen Strom zu schwimmen« (Anmerkungen, 16), sich nicht auf schon Gewußtes und Bekanntes zu verlassen. Die Gedanken müssen »unablässig sich aus der Erfahrung der Sache erneuern« (ebd.), sich von ihr etwas sagen lassen. Erst in der Kommunikation zwischen beiden bestimmt sich die Sache selbst, zeigt sie sich als ein Qualitatives; und erst in ihr vermag das Denken und Erfahren sachlich zu werden, um so über sich selbst, über sein Begriffliches hinauszureichen und sich in die Dinge als das Andere, Fremde zu versenken. Obgleich Adorno sich immer wieder gegen Irrationalität und gegen das reine Rezipieren gefühlter Unmittelbarkeit wendet, spricht er im Hinblick auf den versöhnten Zustand von der »Liebe zu den Dingen« (Negative Dialektik, 189), von einem Nah-sich-Anschmiegen an die Sache (vgl. 22) und davon, daß es gelte, »in Fühlung mit der Wärme der Dinge zu bleiben« (Minima Moralia, 47). Liebe, Nähe und Wärme – das sind Worte bzw. Qualitäten, die wir aus den Beziehungen zwischen Menschen kennen; sie kennzeichnen aber auch den Bezug zu den nicht verstellten Dingen, der sich auf ein Einverständnis mit ihnen verlassen kann. Liebe, Nähe und Wärme kennzeichnen die einver140 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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ständliche Atmosphäre und den gemeinsamen Raum, in denen sich der Mensch auf die Dinge beziehen kann. Was damit gemeint ist, zeigt sich deutlich in einer Äußerung Adornos zu Alban Berg: »Die Sensibilität von Bergs Person war vorab schon auf den Umgang mit Dingen gestimmt. Die schonende Liebe und Sorgfalt, die er ihnen angedeihen ließ, entsprang einem Gefühl der Schonung fürs Geschaffene; so als hätte er selbst an den Dingen etwas von dem reparieren wollen, was den Stoffen widerfährt, welche die Menschen für ihre Zwecke zurichten.« (Alban Berg, 92) 3 Hier ist von »schonender Liebe« 4 die Rede und vom Reparieren. Das Letztere entspricht dem, was Adorno in der Negativen Dialektik meint, wenn er sagt, daß die »Liebe zu den Dingen« bedeute, das, was vom herrschaftlichen Subjekt unterjocht war, zu erretten. Dieser Blick auf das gegenüber dem unversöhnten Zustand heilende – reparierende und errettende – Moment der spürenden und Hand anlegenden Liebe zu den Dingen kommt in besonders schöner Weise in einem kritischen Zusammenhang in den Mimima Moralia zum Ausdruck: »Paysage. – Der Mangel der amerikanischen Landschaft ist […] daß die Hand in ihr keine Spur hinterlassen hat. Das bezieht sich nicht bloß auf das Fehlen von Äckern, die ungerodeten und oft buschwerkhaft niedrigen Wälder, sondern vor allem auf die Straßen. […] Sie tragen keinen Ausdruck. Wie sie keine Geh- und Räderspuren kennen, keine weichen Fußwege an ihrem Rande entlang als ÜberVgl. auch: »Berg hatte eine außerordentlich schonende Liebe zu Dingen, und jede Gewaltsamkeit, ja jedes Ungeschick im Umgang mit ihnen verletzte ihn.« (Im Gedächtnis an Alban Berg, 495). 4 Wir werden im Folgenden sehen, daß das »Schonen« für Heidegger ein wesentlicher Grundzug des Wohnens als des menschlichen Aufenthalts bei den Dingen ist. 3
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gang zur Vegetation, keine Seitenpfade ins Tal hinunter, so entraten sie des Milden, Sänftigenden, Uneckigen von Dingen, an denen Hände oder deren unmittelbare Werkzeuge das ihre getan haben. Es ist, als wäre niemand der Landschaft übers Haar gefahren. Sie ist ungetröstet und trostlos. Dem entspricht die Weise ihrer Wahrnehmung. Denn was das eilende Auge bloß im Auto gesehen hat, kann es nicht behalten, und es versinkt so spurlos, wie ihm selber die Spuren abgehen.« (Minima Moralia, 54 f.) 5 Das »eilende Auge« kann keinen langen und verweilenden Blick werfen. Nur dieser vermag sich auf das, womit er umgeht, einzulassen. Die erstaunliche Behutsamkeit – fast Scheu – des Sein- und Gewährenlassens, die hier zum Ausdruck kommt, ist umso bemerkenswerter, als uns Adorno eher als ein nüchterner, »vernünftiger« Denker bekannt ist. Aber es gibt bei ihm eben auch immer wieder dieses Aufblitzen eines anderen, den Dingen liebevoll zugewandten Umgangs, insbesondere da, wo es ihm darum geht, in der Kontrastierung das entfremdete, verstellte, unterjochende und darin selbst unterjochte Verhalten zur Welt kenntlich zu machen. 6
Sachlich halte ich diese Überlegung für nicht zutreffend, aber darauf kommt es hier nicht an. 6 Das zeigt sich z. B. auch in seiner Reflexion über das Schenken bzw. über das Verlernen des Schenkens in den Minima Moralia (46 f.) Das Schenken, das »sein Glück in der Imagination des Glücks des Beschenkten« hat, gehört zu den menschlichen Fähigkeiten, die »nur in Fühlung mit der Wärme der Dinge gedeihen können«. Dieses In-Fühlung-Sein mit der Wärme der Dinge namhaft zu machen, wird für Adorno angesichts der Kälte wichtig, die heute die Beziehungen der Menschen zueinander kennzeichnet. »Solche Kälte schlägt endlich zurück auf jene, von denen sie ausgeht. Alle nicht entstellte Beziehung, ja vielleicht das Versöhnende am organischen Leben selber, ist ein Schenken. Wer dazu durch 5
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Die Konsequenz der Logik läßt starr werden und erfrieren. Sie erlaubt nicht, sich mit Nachdenklichkeit und mit der Offenheit für das Glück von Begegnung und Erfahrung auf das Andere als Anderes einzulassen, sich mit ihm einzulassen. In eine solche Begegnung müßte die eigene Gestimmtheit und das eigene Erfahren mit hineingenommen werden. In Fühlung mit der Wärme der Dinge zu sein, heißt eben, sie zu fühlen; zum Fühlen aber gehört das Aufnehmen der Sache ebenso wie das Sich-Hingeben an sie, »um, dem Ideal nach, in ihr zu verschwinden« (Anmerkungen, 14). Die wenigen Stellen, an denen Adorno sich gestattet, in affirmativem Zusammenhang das Wort »Glück« zu gebrauchen, betreffen gewöhnlich solche Begegnung, solche Erfahrung von Anderssein ohne Trennung oder Bruch. Liebe, Wärme und Nähe. Sie sind nicht ohne Ferne, ohne Distanz. Die Nähe als solche ist für Adorno immer in der Gefahr, »nächste Nähe«, »unmittelbare Nähe«, tendenziell ungeschiedene Verschmelzung zu sein. Darum ist auch das Wort »Einverständnis« bei ihm meist negativ konnotiert, im Sinne eines sich allzu schnell beruhigenden Einverständnisses mit dem Bestehenden. Notwendig kommen hier die Unterschiedenheit und die Distanz ins Spiel. Die Nähe zu den Menschen und Dingen ist Nähe durch Ferne hindurch oder Ferne selbst in Nähe. »Gewaltlose Betrachtung, von der alles Glück der Wahrheit kommt, ist gebunden daran, daß der Betrachtende nicht das Objekt sich einverleibt: Nähe an Distanz.« (Minima Moralia, 111 f.) Der Drang zum Objekt ist zunächst der Drang nach Einverleibung, nach identifizierender Inbesitznahme, da-
die Logik der Konsequenz unfähig wird, macht sich zum Ding und erfriert.«
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nach, wie es in der Negativen Dialektik heißt, »erneut dem Subjekt gleichzumachen, was nicht seinesgleichen ist« (189). Diese Einverleibung scheint unmittelbar zu Nähe zu führen, verunmöglicht sie jedoch gerade. Es bedarf einer Durchbrechung des eindimensionalen Bezugs, eines spannungsvollen Zugleich von Zu-sich-Heranholen und Auseinander-setzung im wörtlichen Sinne. Das Glück der Wahrheit als der sich herstellenden Konstellation von Mensch und Ding ergibt sich gerade aus der nicht getilgten Spannung, aus der Distanz. Und umgekehrt. Auch die Ferne und Fremdheit bedarf ihrerseits der Nähe, um nicht bloße Entfernung zu bleiben. Das bezuglose Ganz-Anderssein läßt die Einzelnen isoliert und kalt nebeneinander stehen; sie haben sich dann nichts zu sagen, sind jedoch gleichzeitig auf die Unterwerfung oder sogar Zerstörung des Anderen angewiesen, weil es ihnen auf Grund seiner Fremdheit als bedrohlich erscheint. Adorno hält dagegen: »Einzig durch die Anerkennung von Ferne im Nächsten wird Fremdheit gemildert: hineingenommen ins Bewußtsein« (Minima Moralia, 344). Dieses Hineinnehmen ins Bewußtsein ist als Anerkennung des Anderen selbst, als Geltenlassen seiner Andersheit innerhalb des Nähe stiftenden Bezugs zu verstehen, nicht als Einverleibung oder Einvernahme, die nur zu einem falschen Einverständnis führen könnten. »Der Anspruch ungeschmälerter, je schon erreichter Nähe jedoch, die Verleugnung der Fremdheit gerade, tut dem andern das äußerste Unrecht an, […] ›rechnet ihn dazu‹, verleibt ihn dem Inventar des Besitzes ein.« (240) »Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt …«. »Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne 144 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen« (Negative Dialektik, 190). Für meine Frage nach einem unentfremdeten, unentstellten Verhältnis zwischen Mensch und Ding, die sich dessen bewußt ist, daß sie in gewissem Sinne quer zu Adornos eigenen Intentionen steht, stellen die Wendungen, in denen das Verhältnis von Nähe und Ferne oder Fremde zur Sprache kommt und in denen andeutungsweise vom Lieben und vom Glück gesprochen wird, Spuren dar, denen sie folgen, deren Richtung sie weiter verfolgen kann. Dem gerade zitierten Satz, der an eine Erinnerung an »Eichendorffs Wort ›Schöne Fremde‹« anknüpft, lassen sich die Sätze an die Seite stellen, in denen Adorno mahnt, wie sehr das an Novalis erinnernde Bedürfnis nach einer Nähe zur heteronomen Welt verknüpft ist »mit der archaischen Barbarei, daß das sehnsüchtige Subjekt außerstande ist, das Fremde, das, was anders ist, zu lieben; mit der Gier nach Einverleibung und Verfolgung«. Wieder blitzt zusammen mit der Denunzierung des falschen Zustands die Möglichkeit eines Anderen, eines Stands der Versöhnung auf: »Wäre das Fremde nicht länger verfemt, so wäre Entfremdung kaum mehr« (172). Wir können auch umstellen: Gäbe es die Entfremdung nicht mehr, dann wäre das Fremde nicht länger verfemt, dann könnte es geliebt werden, und das heißt, es könnte in eine Nähe rücken, in der seine Wärme gefühlt und gleichwohl sein Unterschieden- und Fremdsein gewahrt würde. Zum Abschluß dieses Blicks auf Adorno zitiere ich die zugrundegelegte Passage aus Zu Subjekt und Objekt in ihrem Zusammenhang: »Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt, so ließe in ihm weder die ununterschiedene Einheit von Subjekt und Objekt noch ihre feindliche Antithetik sich vorstellen; eher die Kommunikation des Unterschiedenen. Dann erst käme der Begriff von Kom145 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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munikation, als objektiver, an seine Stelle. Der gegenwärtige ist so schmählich, weil er das Beste, das Potential eines Einverständnisses von Menschen und Dingen an die Mitteilung zwischen Subjekten nach den Erfordernissen subjektiver Vernunft verrät. An seiner rechten Stelle wäre, auch erkenntnistheoretisch, das Verhältnis von Subjekt und Objekt im verwirklichten Frieden sowohl zwischen den Menschen wie zwischen ihnen und ihrem anderen. Friede ist der Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander.« (153)
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Die Frage nach dem Verhältnis der Menschen zu den Dingen bei – dem späteren – Heidegger trifft auf ganz andere Schwierigkeiten, als sie uns bei Adorno begegnen. Gemeinsam ist beiden, daß es über dieses Verhältnis nur relativ wenige Aussagen gibt. Lag das Problem bei Adorno aber darin, daß er überhaupt selten – und zumeist fast gegen seinen Willen – über den Identitätsbann und die entfremdeten Verhältnisse hinausblickt, so besteht die Schwierigkeit bei Heidegger u. a. darin, daß zwar die Frage nach dem Ding und der Welt, und d. h. nach einem nicht mehr vergegenständlichenden Denkansatz, in seinem späteren Denken einen großen und immer größeren Raum einnimmt, daß aber der empirische Mensch und damit auch sein tatsächliches Verhältnis zu den Dingen immer mehr in den Hintergrund zu rücken scheint. Wie Adorno für die Gegenwart einen herrschaftlichen Vorrang des Subjekts, »falsche Objektivität«, Verdinglichung und Verlust alles Qualitativen diagnostiziert, so weist Heidegger daraufhin, daß wir in einer Zeit leben, die durch Seinsverlassenheit bestimmt ist, in der Machenschaft 146 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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und Vernutzung, Vergegenständlichung und durchgängige Berechenbarkeit von allem herrschen, weil »die ›Welt‹ zur Unwelt geworden ist« (Überwindung der Metaphysik, 92). Zu dieser »Unwelt« gehört, daß das Subjekt von Berechnung und Vernutzung im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Verbietet die Totalität des gesellschaftlichen und realen Identitätszwangs bei Adorno weitestgehend die Frage nach einem anderen Denken, so fordert die Seinsverlassenheit bei Heidegger gerade umgekehrt die Besinnung, ruft sie nach einem eine Wende vorbereitenden, nicht mehr rechnenden, sondern besinnlichen Denken. Die Fragen nach dem Ding und der Welt und der Sprache sind Weisen, wie Heidegger einem Anderen den Weg seines zukünftigen Sich-Zukehrens bereiten will. Dabei ist es entscheidend, Ding, Welt, Sprache und nicht zuletzt das Denken selbst anders zu denken, und d. h. auch, sie nicht mehr vornehmlich auf den Menschen zurückzubeziehen. Wenn wir darum danach fragen, ob sich auch bei Heidegger so etwas wie »Liebe zu den Dingen« wie ein Sich-Anschmiegen ans Objekt oder der »gewaltlose Blick« aufweisen lassen, wie es sich hier mit Unterschiedenheit und Kommunikation, mit Nähe und Ferne verhält, so stoßen wir auf die Schwierigkeit, daß es bei ihm trotz des gegenteiligen Anscheins kaum eine direkte Thematisierung des konkreten Verhältnisses von Mensch und Ding gibt. Wo der Bezug beider im Blick steht, geht es eher darum, etwas über dessen Denken bzw. Gedachtwerden und über die Verhältnishaftigkeit als solche auszumachen als über die sich zueinander Verhaltenden selbst. Ich versuche dennoch, vor dem Hintergrund des bei Adorno Herausgestellten und gewissermaßen durch die Heideggerschen Gedanken hindurch, aufzuzeigen, wie sich hier die Menschen zu den Dingen verhalten, – jedenfalls einmal verhalten könnten, wenn 147 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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dieser Bezug »wesentlich vollbracht, zureichend gedacht und echt gesagt« würde (Das Ding, 171). 7 Nähe und Ferne begegnen bemerkenswert häufig in Heideggers späterem Denken. Insbesondere stellt der Vortrag, der Das Ding überschrieben ist, dieses in den Rahmen einer Frage nach der Nähe. Um zu erörtern, wie es mit der Nähe steht, geht Heidegger dort dem nach, »was in der Nähe ist« (164), und befragt dementsprechend ein Ding, »den Krug in der Nähe« (169). Wie Adorno sich angesichts der bloßen Entfernung und der Isolation entfremdeter Einzelner auf die »gewährte Nähe« besinnt, so wendet Heidegger sich angesichts der »Beseitigung jeder Möglichkeit der Ferne« und der Herrschaft des »gleichförmig Abstandlosen« dem Ding in der Nähe zu (163 f.). In scheinbar traditioneller Weise beginnt er damit, zu fragen: »Was ist ein Ding?« und dann: »Was ist der Krug?« Doch zeigt bereits der Übergang von der ersten zur zweiten Frage, daß es sich nicht um die traditionelle Was-ist- oder Wesensfrage handelt. Genauer drückt sich der Wandel sogar schon in der Formulierung der ersten Frage aus. Denn es heißt nicht: was ist das Ding?, sondern: was ist ein Ding? »Ein Ding ist der Krug« ist dann bereits eine Antwort auf diese Frage, nicht lediglich deren Exemplifizierung. Die Frage nach dem, was ein Ding ist, soll nicht mehr, wie in der Tradition, durch den Hinweis auf seine Gegenständlichkeit oder seine Substanzialität, auf sein Hergestelltsein oder Dieses Zitat zeigt, daß es bei Heidegger eine wesentliche Zweideutigkeit gibt: Wo er über den Krug und die Brücke und den fernab gelegenen Schwarzwaldhof spricht, geht es um etwas Gegenwärtiges oder Gegenwärtig-Gewesenes. Der Mensch wohnt in der Welt. Andererseits aber fordert der Gedanke der geschichtlichen Seinsverlassenheit, ein solches Wohnen erst einer vielleicht einmal zu erreichenden zukünftigen Seinsschickung und -zuwendung zuzuschreiben.
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auch auf seine Realität beantwortet werden, sondern allein durch den Blick auf ein bestimmtes Ding, hier den Krug. Eine Substanz und ein Reales sind als solche nicht in der Nähe, man kann mit ihnen nicht umgehen. Das Ding ist ein Ding in der Nähe, indem es ein Krug ist. Und es ist ein Krug, indem dieser sich wie ein Krug und d. h. als ein Krug verhält, nämlich eine Flüssigkeit faßt und gießt. In seinem Fassen und Gießen reicht der Krug über sich hinaus bzw. besser: er fügt sich ein in ein weiteres Geschehen. Die Dinge sind Bezügliche. In Anlehnung an Adorno könnten wir sagen, sie stehen in Kommunikation miteinander, und zwar – wie bei Adorno – als Jeweilige, Besondere, in der je spezifischen, je anderen Weise ihres Dingseins. Der Krug faßt und gießt nicht abstrakt »eine Flüssigkeit«, sondern z. B. Milch oder Wasser oder Wein. Schon dadurch bezieht er sich auf seine ihm eigene Weise auf die Erde und den Himmel, auf die Menschen, die Heidegger die Sterblichen, und auf etwas Über-Irdisches, das er die Göttlichen nennt. Der Krug, ein Ding, sammelt und versammelt diese vier Weltgegenden, das Geviert der Welt, und läßt sie als so gesammelte geschehen. So heißt es etwa auch von der Brücke: »Die Brücke ist ein Ding und nur dies. Nur? Als dieses Ding versammelt sie das Geviert.« (Bauen Wohnen Denken, 154) Dieses Versammeln begreift Heidegger zugleich als ein Nahebringen des Fernen. »Nähe nähert das Ferne und zwar als das Ferne« (Das Ding, 176). Indem die Dinge die Weltgegenden miteinander ins Spiel bringen, halten sie sie sowohl auseinander wie zueinander, nähern sie sie einander als die Fernen. Ein entscheidender Unterschied zu Adornos Nähe und Ferne 8 liegt darin, daß für Heidegger Nähe und Wobei es bemerkenswert genug ist, daß beide diesen Begriffen eine so große Bedeutung für die Bestimmung der Dinge einräumen. 8
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Ferne nicht Kennzeichnungen des Bezugs des Menschen zu den Dingen sind, sondern daß sie einerseits das Dingsein selbst bestimmen – »Nähe waltet im Nähern als das Dingen des Dinges« (ebd.) – und daß sie andererseits so etwas wie den Raum darstellen, innerhalb dessen sich das Dingsein des Dinges und das menschliche Sicheinlassen auf es überhaupt erst abspielen können. Bei diesen Überlegungen zu Nähe, Welt und Ding und zu deren »entsetzlichem« Verlust in der Abstandlosigkeit der Jetztzeit spielt der Mensch eine fast sekundäre Rolle. Darin, daß die Nähe selbst ausbleibt, zeigt sich das »Entsetzende«, »das alles, was ist, aus seinem vormaligen Wesen heraussetzt« (164). Dieses Entsetzende ist nichts Menschliches. Bei Adorno ist die Nähe eine vom Menschen »gewährte Nähe«, die Nähe »gewaltloser Betrachtung« etwa, sie geht vom Menschen aus, bleibt jedenfalls auf ihn bezogen. Bei Heidegger gehört sie dem Offenen selbst zu, der Verhältnishaftigkeit als solcher, die in der Zwiefalt von Ferne und Nähe, von Weite und Weile, von Entbergung und Verbergung schwingt. Erst im Raum dieser verhältnishaften Offenheit, die »die Nähe der Ferne« (Gelassenheit, 69) ist, kann sich dann ein Bezug zwischen Mensch und Ding ergeben. Vor allem zwei Bestimmungen kennzeichnen für Heidegger diesen Bezug: das »Schonen« und »die Gelassenheit zu den Dingen«. »Insofern wir das Ding als das Ding schonen, bewohnen wir die Nähe«, sagt Heidegger (Das Ding, 180). Die Nähe ist der Raum, in dem die Menschen, wenn sie wahrhaft Menschen zu sein vermögen, wohnen und d. h. leben. Das Wohnen und das Schonen sind Grundbestimmungen menschlichen In-der-Welt-Seins. Das Menschsein beruht im Wohnen. Wie die Dinge, so sind auch die Menschen in ihrem je eigenen Sein auf das Geviert der Welt be150 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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zogen und von ihm her bestimmt. Ihr spezifischer Bezug zur Welt aber ist eben das Wohnen. Sie sind nicht einfach in der Welt, sondern sie bewohnen sie, sind in ihr zuhause, gehören ihr als dem sie bergenden Raum zu; sie machen selbst eine der vier Weltgegenden aus. Die Zugehörigkeit vollziehen sie, indem sie ihrerseits das sie Umgebende in seinem Wesen, in sich selbst beruhen lassen, ihm seinen eigenen Raum einräumen, es schonen. »Der Grundzug des Wohnens ist dieses Schonen. Er durchzieht das Wohnen in seiner ganzen Weite. Sie zeigt sich uns, wenn wir daran denken, daß im Wohnen das Menschsein beruht und zwar im Sinne des Aufenthalts der Sterblichen auf der Erde.« (Bauen Wohnen Denken, 149) Dieser Aufenthalt auf der Erde ist »immer schon ein Aufenthalt bei den Dingen« (151). Der vierfältige Bezug des Wohnens auf die Welt sammelt sich gewissermaßen um die Dinge, konzentriert das Wohnen in den Dingen. Er ist ein Schonen. 9 Dieses meint für Heidegger nicht den liebenden Umgang mit einzelnen Dingen als solchen, wie Adorno es bei Alban Berg notierte, sondern es betrifft das Verhältnis von Welt und Ding überhaupt und nennt die ontologische Aufgabe, die dem Menschen innerhalb dieses Weltspiels zukommt. Mit Liebe, Wärme und Nähe im Adornoschen Sinne hat das wohl wenig zu tun. »Das Wohnen schont das Geviert, indem es dessen Wesen in die Dinge bringt.« Zwei Jahre vorher, 1949, hatte Heidegger in Das Ding gesagt: »Insofern wir das Ding als das Ding schonen, bewohnen wir die Nähe.« Das Geschonte ist also einmal das Geviert, die Welt, das andere Mal sind es die Dinge. Der Unterschied zwischen beiden Aussagen ist nicht groß; jeweils geht es darum, daß der Mensch bzw. sein Menschsein den Bezug zwischen Ding und Welt als ein gegenseitiges Versammeln in einem aktiven Sinne sein läßt. Insofern versammelt das Schonen sowohl die Dinge in die Welt wie die Welt in die Dinge.
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Der Vergleich zwischen Adornos und Heideggers Verständnis eines unverstellten Verhältnisses des Menschen zu den Dingen führt hier zu einer auf den ersten Blick unerwarteten Einsicht. Nicht nur von ihrem gesamten Denkansatz, von ihrem Denk- und Schreibstil, sondern auch von dem her, was wir sonst über beide Philosophen wissen, hätte man zunächst vermuten können, daß sich eher bei Heidegger als bei Adorno Spuren einer »affektiven« Zuwendung und Zuneigung zu den Dingen finden würden. Die Denkmentalität ist bei Heidegger und bei Adorno eine radikal verschiedene. Mit einer vielleicht zu äußerlichen Charakterisierung könnte man sagen, daß Adorno zutiefst ein Städter ist, während für Heidegger die Herkunft vom Land bzw. von der Kleinstadt zeitlebens bestimmend geblieben ist. Adorno ist, so würde ich sagen, ein kühlerer, sozusagen intellektuellerer Denker. 10 Umso erstaunlicher erscheint die Tatsache, daß Adorno von einer »Fühlung mit der Wärme der Dinge« sprechen kann, während wir bei Heidegger, auch wo er von Krug, Brücke und Haus spricht, auf eine eher nüchterne, abgehobene Analyse treffen. Allerdings vermag gerade diese, wirklich etwas über die Grundzüge und Grundbahnen des Weltspiels und die Weise, wie Dinge und Menschen in dieses verwoben sind, sichtbar zu machen. Adorno dagegen evoziert an den Stellen, die ich herangezogen habe, zwar deutliche Bilder von einem unentfremdeten Umgang mit den Dingen, aber er befragt dabei kaum z. B. das darin implizierte Spiel von Nähe und Ferne in seiner grundsätzlichen ontologischen Relevanz, er artikuliert das Verhältnis Vielleicht gestattete er es sich auch darum nicht, den Begriff als solchen zu verabschieden, – einmal ganz abgesehen von der geschichtlichen Motivation durch die Erfahrung der Irrationalität des Faschismus. 10
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von Mensch und Ding in dessen Spannungsraum nicht im Einzelnen. Heidegger spricht gewissermaßen von der entgegengesetzten Warte aus. Eine Rücksichtnahme der Philosophie auf das empirische menschliche Verhalten gehörte für ihn in eine sachlich unangemessene Anthropologie. Ihm geht es vielmehr darum, fragend etwas über den Aufenthalt der Sterblichen auf der Erde auszumachen, über das Weltgeviert und die Dinge, in denen jenes einen Ort und damit sein Wesen findet. Seine Absicht ist eine selbst seinsgeschichtliche, d. h. eine solche, die sich in das Geschehen von Sein und Welt als behutsamen Mitspieler selbst mit einbringen muß. So will er u. a. dazu beitragen, daß »die Sterblichen […] an ihrem Teil versuchen, von sich her das Wohnen in das Volle seines Wesens zu bringen« (Bauen Wohnen Denken, 162). Dieses »von sich her« kann kein subjektives Wollen bezeichnen. Vielmehr meint es, daß die Menschen sich selbst einlassen müssen in das Seinsgeschehen; es ist aber dieses selbst, das die Wohnenden und die Denkenden in Anspruch nimmt, sich ihnen zuspricht, auf sie zukommt. In diesem Sinne kann Heidegger z. B. auch einmal »vom gediegenen Verhältnis der Dinge zu uns« sprechen (Der Lehrer trifft den Türmer, 196), vor allem aber vom »Bezug des Seins zum Menschen« (u. a. Bemerkungen zu Kunst Plastik Raum, 15). Der ontologische Anspruch bestimmt auch die Erörterungen dessen, was Heidegger »Gelassenheit« nennt. Die Gelassenheit kennzeichnet ein Denken, das sich auf sein zu Denkendes einläßt, indem es sich von ihm her bestimmen läßt, auf es wartet, sich in die Nähe zu seiner Ferne bringt. Sie steht damit in radikalem Gegensatz zu dem rechnenden Verhältnis des Menschen zum Weltganzen und zu den in diesem vorgestellten Gegenständen, deren sich die Men153 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
»Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt …«
schen technisch und wissenschaftlich zu bemächtigen suchen. Das gelassene Denken läßt sich auf sein Gegenüber ein, indem es es sein, in seinem je eigenen Wesen beruhen läßt. Es ist insofern weder aktiv noch passiv, weder das zupackende Verhalten des neuzeitlichen Subjekts, das die Dinge in den Griff zu bekommen sucht, noch ein uninteressiertes bloßes Zusehen. Es entspringt vielmehr einem achtsamen Fragen und Zuhören, einem Sich-etwas-sagenLassen, einem besinnlichen Nach-Denken. Diese Kennzeichnungen erinnern unmittelbar an Adornos geduldiges Aufmerken und an seinen langen, gewaltlosen Blick. Die Gelassenheit gilt nicht nur dem Krug und der Brücke, also Dingen des schonenden, wohnenden Gebrauchs. Sie gilt vielmehr auch den »technischen Gegenständen«, dann nämlich, wenn es gelingt, sie »auf sich beruhen zu lassen«. Heidegger sagt zu diesem gelassenen Verhalten gegenüber den technischen Gegenständen: »Unser Verhältnis zur technischen Welt wird auf eine wundersame Weise einfach und ruhig«, und er nennt dies »die Gelassenheit zu den Dingen« (Gelassenheit, 24 f.). Die Gelassenheit geht einher mit der »Offenheit für das Geheimnis«, das wir hier vereinfachend als den ontologischen Bereich der verborgenen und verbergenden Herkunft der Dinge verstehen können, als den Bereich des Seinsgeschehens. Die Offenheit für das Geheimnis ist der Verhaltenheit verwandt, die Heidegger an anderer Stelle als »Grundstimmung des Bezuges zum Seyn« benennt und zu der die »Scheu vor dem Fernsten« gehört, »daß im Seienden und vor jedem Seienden das Seyn west« (Grundfragen der Philosophie, 2). Vielleicht sind es diese Verhaltenheit und diese Scheu, die im Verharren vor dem Geheimnis eine eigentliche Wärme und ein Fühlen der Dinge nicht entstehen lassen. Das »In-die-Nähe-kommen zum 154 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
»Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt …«
Fernen«, von dem Heidegger spricht, könnte einen Raum der Offenheit durchmessen, der fremder wäre als der Glücksraum des nicht mehr verfemten Fremden bei Adorno. Gleichwohl ist es dieser Raum der Fremde, der bei Heidegger – bzw. für uns von Heidegger aus – überhaupt erst einen Bezug der Nähe, der Liebe und des schonend-gelassenen Umgangs mit den Dingen möglich macht.
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Zwischenstück VI
Sowohl Heidegger wie Adorno sprechen von der Konstellation von Denken und Sein, wir können auch sagen: von Menschen und Dingen. Bei Heidegger ist die »Konstellation« das seinsgeschichtlich bestimmte Zueinandergehören von Sein und Mensch, aus dem und in dem sie beide erst »ihr Wesendes gewinnen« (Identität und Differenz, 30). Wichtig ist für ihn das Verhältnis oder sogar die Verhältnishaftigkeit und damit der Bereich oder Raum, der von jener durchwaltet wird. Das neuzeitliche Subjekt-Objekt-Verhältnis läßt er dadurch fragwürdig werden, daß er den Menschen und die Dinge in den Raum der Welt zurückstellt, die er als ein Geschehen der Entbergung und Verbergung, jedenfalls als eine Bewegung des Zueinander, Miteinander und Gegen-einander-über versteht. Er versucht eine ereignishafte Verhältnishaftigkeit zu denken, die Nähe und Ferne zugleich ist. Dieses »Weltspiel« ist sowohl vor jenen, die sich in der Welt und als sie zueinander verhalten, wie es zugleich allererst von den sich Verhaltenden eröffnet und bewahrt wird. Die Menschen und die Dinge sind Jeweilige – was auch heißt, je Andere –, weil und solange sie die Sprache der Welt mitsprechen und in sie einbehalten sind. Adorno denkt die »Konstellation« dagegen nicht als vorgängig vor denen, die in Konstellation zueinander stehen. Sie ist die sich durch die »Inadaequanz von Gedanke und Sache« herstellende Kommunikation beider, ihre Wahrheit ist »werdende Konstellation« (Anmerkungen, 16), »die Konstellation von Subjekt und Objekt, in der beide 156 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Zwischenstück VI
sich durchdringen« (Negative Dialektik, 131). Bei Adorno geht es vornehmlich darum zu lernen, das Begegnende als das Unterschiedene und Fremde zu erfahren. Es ist das je Eigene, Nichtidentische, das, was Anderem und sich selbst gegenüber ein Anderes ist und bleibt, auch und gerade, wenn es von einem gewaltlosen und geduldigen Blick intendiert wird. Es vermag nur dann solches Unterschiedene zu sein, wenn die Zuneigung des menschlichen Hantierens und Aufmerkens ihm einen Raum »gewährter Nähe« einräumt. Das »Potential eines Einverständnisses von Menschen und Dingen« würde einen Raum des »verwirklichten Friedens« bedeuten. »Der versöhnte Zustand […] hätte sein Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt« (190). Allerdings – sowohl Heidegger wie Adorno verbleiben, so meine ich, trotz ihrer entschiedenen Abkehr vom traditionellen metaphysischen Denkansatz, trotz ihres Ringens um einen »versöhnten Zustand« des »Zusammengehörens« letztlich im Raum eines im »akademischen« Sinne begrifflichen Denkens. Demgegenüber bin ich der Überzeugung, daß sich im Zusammenspiel von Mensch, Ding und Welt das Denken und das Sprechen auf den Weg einer Veränderung begeben müssen, auf dem sie ein Sicheinlassen auf die »exakte Phantasie« der Geschichten und vor allem der Bilder lernen.
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Das Denken und seine Bilder
»Das Sagen des Denkens ist im Unterschied zum Wort der Dichtung bildlos«, sagt Heidegger einmal (Winke, 33). Oder auch: »Der Philosophie gehört die Ruhe der Herrschaft des bildlosen Wissens« (Besinnung, 51). Stimmt man diesen Äußerungen zu, die einem verbreiteten und üblichen Selbstverständnis der abendländischen Philosophie entsprechen, so scheint sich die Rede von einer Bildhaftigkeit des philosophischen Denkens einer Grenzüberschreitung schuldig zu machen. Seit alters her gilt das Bild als Medium der Kunst, während der Philosophie das Medium des Begriffs zugesprochen wird. Die philosophische Aussage soll sich u. a. gerade dadurch von der Kunst, insbesondere vom dichterischen Sagen unterscheiden, daß jene sich in abstrakten Begriffen äußert, diese aber in konkreten Bildern. So sagt Kant einmal von der Poesie, daß sie nichts anderes »als eine Einkleidung der Gedanken in Bilder« sei (Logik, 28), weswegen er dann auch feststellen kann: »Unter allen Völkern haben also die Griechen erst angefangen zu philosophiren. Denn sie haben zuerst versucht, nicht an dem Leitfaden der Bilder die Vernunfterkenntnisse zu cultiviren, sondern in abstracto; statt daß die andern Völker sich die Begriffe immer nur durch Bilder in concreto verständlich zu machen suchten.« (27) Trifft jedoch diese altgewohnte Gegenüberstellung von dichterisch bildhaftem Sprechen und bildlosem begrifflichem Denken auch heute noch, in einer veränderten philosophischen Situation? Sie beruht auf einem Verständnis 158 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Das Denken und seine Bilder
der Philosophie, das zwar über zwei Jahrtausende leitend gewesen ist, aber im Verlauf der vergangenen hundert Jahre seine Überzeugungskraft weitgehend verloren hat. Die abendländische Philosophie hat seit ihren Anfängen nach dem Einen und Bleibenden in allem Veränderlichen und Vergänglichen, nach den Gründen und den bestimmenden Strukturmomenten von allem gefragt. Gerade angesichts der Sterblichkeit des Menschen und der Endlichkeit alles ihn Umgebenden suchte sie nach einer Wahrheit, die an ihr selbst wahr und vernünftig und für alle Denkenden verbindlich – unendlich und unsterblich – sein sollte. Das Medium dieses Denkens war der logos, der Begriff, der das Allgemeine und Wesenhafte seiner Gegenstände und damit die Wahrheit erkennt. Dem allgemeinen Wesen zuliebe sieht der Begriff ab – abs-trahiert – von den Zufälligkeiten und spezifischen Eigenheiten, die dem zu Erkennenden dann und wann, hier oder dort zukommen mögen. Er will vielmehr das dem Vielfältigen Gemeinsame und allgemein Kennzeichnende herausstellen. Der Begriff des Lebendigen z. B. grenzt dieses ab gegenüber dem Leblosen, indem er die wesentlichen Bestimmungen des Lebens aufzeigt; er interessiert sich nicht für ein spezifisches Raubtier, das an den Gitterstäben seines Käfigs hin- und herstreicht. Demgegenüber malt das »Wort der Dichtung« jeweils ein Besonderes. Rilkes Gedicht von dem Panther, dessen Blick »vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden [ist], daß er nichts mehr hält«, läßt sich im Gegensatz zum begreifenden Erkennen auf die unmittelbare Erfahrung ein. In gewissem Sinne geht es zwar auch in der Dichtung um Allgemeines, sogar um Wahrheiten; aber die Weise der Allgemeingültigkeit ist eine andere. Die Begriffe im strengen, traditionellen Sinne lassen uns im Gegensatz zu Bildern nichts sehen. Nehmen wir z. B. 159 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Das Denken und seine Bilder
den Begriff des Panthers, wie er in einem zoologischen Lehrbuch vorkommen mag, so sehen wir in diesem Begriff des Panthers keinen realen Panther vor uns; ebensowenig sehen wir etwas in dem ontologischen Begriff Substanz. Begriffe evozieren auch keine andere sinnliche Empfindung, weder einen Geruch noch eine Tastempfindung. Auch kein Gefühl, keine Begeisterung oder Abneigung. Wo sie das gleichwohl zu tun scheinen, wird ihr Begriffscharakter im eigentlichen Sinne überstiegen bzw. verfehlt. Auch daß von Aristoteles bis hin zu Hegel immer wieder betont wurde, wie notwendig die Muße, das Freisein von Alltagsverpflichtungen und -geschäften, für die Philosophie ist, bezeugt die Ferne von Sinnlichkeit und Praxis, die ihr und d. h. ihrer Begrifflichkeit traditionell zugesprochen wurde. Das Vermögen des Begriffs ist der Verstand und nur der Verstand. Phantasie ebenso wie Gefühl, Interesse, Bedürfnis oder Wille müssen ausgeschaltet werden, damit ein rein begriffliches Denken gelingt. Genau das macht die Größe des rationalen, berechnenden und Rechenschaft ablegenden Denkens aus, daß es auf Grund seiner »Reinheit« allgemeingültig und wahrheitsfähig ist. Alle Rücksicht auf Erfahrungen, besondere Fälle und Situationen muß es von sich ausschließen; es ist notwendig asketisch. Es konzentriert sich auf das, was an seinem Gegenstand oder Thema das Typische, Bleibende, Gesetzmäßige, das Wesenhafte ist. Sowohl für den abendländischen Wissens- und Wesensbegriff wie für den Begriff des Begriffs selbst ist das so selbstverständlich, daß es kaum der Erwähnung bedarf; auch und gerade für die (Natur-)Wissenschaft wird von den zufälligen und veränderlichen materiellen Eigenschaften und Zuständlichkeiten ihres Gegenstandes – wie selbstverständlich auch des erkennenden Wissenschaftlers – abstrahiert. 160 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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Schon seit dem Ende der idealistischen Philosophie, insbesondere aber im 20. Jahrhundert hat sich nun jedoch ein immer deutlicheres Gespür für die Gestehungskosten der umfassenden Ausbildung des allgemeinen Begreifens entwickelt. All das, wovon der Begriff bewußt abstrahiert – auf der Seite der Sache ihre zufälligen, vorübergehenden, aber auch vielfältig bunten Eigenheiten, auf der des Erkennens die Gefühle, Stimmungen, Erfahrungen –, all das erhebt gewissermaßen seine Stimme und fragt, ob denn wirklich von dem Endlichen und mannigfaltig Besonderen abgesehen werden kann, wenn wir auf der anderen Seite nachzeichnen wollen, wie es sich mit uns, mit den uns begegnenden Dingen und Begebenheiten und mit der Welt, in der wir sind, verhält. Wenn ich frage, ob wir die Wirklichkeit unserer Welt und uns selbst tatsächlich in ihrem Wesen erfassen, wenn wir sie abstrakt allgemein begreifen, dann habe ich schon begonnen, das »Wesen« – und entsprechend die »Wahrheit« – anders, nämlich als endlich, veränderlich zu verstehen. Die Sache des Denkens ist jetzt eine gegenüber dem metaphysischen Gegenstand grundsätzlich andere. Eine andere Sache zu denken, heißt auch, auf andere Weise zu denken. Ein anderes Denken stellt sich, was seine Inhalte angeht, auf die Seite des Vergänglichen. Es subsumiert seine »Sachen« nicht mehr unter die Allgemeinheit einer Merkmalseinheit oder einer Wesensbestimmung, sondern es läßt sich auf sie ein, hört und spürt ihnen nach, indem es Geschichten von ihnen erzählt 1 und Bilder von ihnen malt. Dichter und Geschichtenerzähler haben jahrtausendelang ihr Geschäft darin gesehen, zu sagen, wie es ist. Heute ist das Erzählen zu einem beliebten Topos geworden (das »Narrativ« begegnet in den Medien auf Schritt und Tritt). Es hat oft eine doppeldeutige Konnotation, negativ oder positiv. Mit der Kritik an den »großen Erzählungen« ist die dem Er-
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Wenn hier von »Bild« und »bildhaft« die Rede ist, so meint das in unserem Zusammenhang nicht das Produkt eines bildenden Künstlers, eines Malers oder Photographen etwa, noch ein Abbild oder eine Metapher oder ein bloß subjektives Vorstellungsbild. Vielmehr ist das Bild zum einen der bestimmte Anblick, den eine Sache, ein umgrenztes sinnlich Erblickbares, dem sehenden Vernehmen bietet; zum anderen ist es die Ansicht, die dieses Vernehmen gewinnt, wenn es einen Blick auf die Sache wirft, damit auch das Bild, das es sich von ihr macht. Das Bild ist also sowohl das sich von der Sache her dem Sehen und Fühlen und Denken Darbietende wie zugleich das, was in diesem Sehen durch Sinnlichkeit, Verstehen und Einbildungskraft entsteht. Zweifellos hat das Bild immer etwas mit dem Sehen und dem Sichtbarmachen zu tun. Bei den gedanklichen und sprachlichen Bildern ist mit »Sehen« jedoch nicht das rein physiologische Phänomen gemeint. Der menschliche Geist hat die Fähigkeit, sich Bilder vor das sogenannte innezählen meist zugesprochene sinnstiftende Seite in Verruf gekommen. Mit den »großen Erzählungen« meint Lyotard (Das postmoderne Wissen) die absoluten Systemzusammenhänge, denen im Wissen der Moderne das Einzelne untergeordnet wurde, was den Ausschluß des Anderen, Widerstreitenden bedeutete. Entscheidend bei diesem Begriff ist das »große«, nicht die »Erzählung«. Denn intendiert werden demgegenüber die vielen, vielperspektivischen Erzählungen, die allerdings als verschiedene Erklärungsmodelle verstanden werden. Damit widerspricht Lyotard einem Grundmoment des Erzählens als solchen: Es ist wesentlich dem Erklären entgegengesetzt. Das philosophische Erzählen dessen, wie es ist, bedeutet nicht unbedingt, daß es das Erzählte zu einer Erzählung im strengen Sinne macht. Es bedarf z. B. nicht wie dieses eines Anfangs, Höhepunkts und Endes. Gut zeigt sich das etwa beim Erzählen von Träumen.
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re oder geistige Auge zu rufen. In diesen Bildern bringen wir etwas zu einer unmittelbaren Gegenwart, ohne daß es leibhaftig anwesend wäre. Ein solches Vor-uns-Haben kann sogar dadurch hervorgerufen werden, daß wir etwas Bestimmtes hören oder auch riechen oder tasten. Es handelt sich dann um Erinnerungsbilder, die sich unauflöslich mit bestimmten sinnlichen Eindrücken verbunden haben; auch wenn wir Worte aussprechen oder hören, die diese Bilder evozieren, werden sie wieder lebendig. Die Rede vom »inneren Auge« besagt – worauf Heidegger mehrfach hinweist – nicht, daß sich das Gesehene irgendwo »in« uns befände; vielmehr sind wir, indem wir ihr Bild vor uns sehen, bei der Sache selbst. Indem wir uns ein Bild von ihr machen, können wir Raum und Zeit durchgreifend bei ihr sein, die Re-präsentation ist eine in diesem Sinne wörtlich verstandene Ap-präsentation, eine Annäherung an die Sache. Das Bild ist, wenn wir es nicht als bloßes Abbild, gleichsam als Abziehbild der Sache in unserem Bewußtsein mißverstehen, eine Weise, wie die Sache anwesend zu sein vermag, wenn sie real abwesend ist (bzw. wenn wir real abwesend von ihr sind). Insofern das (sprachliche) Bild, also das Bild, mit dem wir einen Gedanken zur Sprache bringen, die unmittelbare, sinnliche Anwesenheit von etwas evoziert, dies aber im Medium eines »inneren« Sehens, steht es an der Schwelle des Bereichs des Sinnlichen und des Bereichs des Unsinnlichen oder Sprachlich-Geistigen, bzw. es gehört in den Grenzbereich zwischen beiden. Die Sinne und der Sinn spielen im Bild ineinander. Noch stärker als das Wort überhaupt hat das sprachliche oder gedankliche Bild, also das Wort als Bild sowohl am Sinnlichen wie am Unsinnlichen teil. Es ist diese Doppeldeutigkeit im wörtlichen Sinn, dergemäß sich im Bild 163 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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jeweils ein Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem, wir können sogar sagen, von Gesagtem und Ungesagtem austrägt. Das sprachliche Bild, das bildhafte Wort hat – wenn wir von den geäußerten Lauten oder auch dem Schriftbild absehen 2 –, keine konkrete sinnliche Realität. Doch trotz seiner Unsinnlichkeit vermag es Sinnliches anzuzeigen. Es ist ein Wort (oder eine Wendung), das unmittelbar eine sinnliche Wahrnehmung evoziert. Es vermag uns in eine Welt der Farben, Klänge und Düfte zu versetzen. Wenn wir etwa sagen »ein blauer Morgen«, so können in dem bestimmten realen oder sprachlichen Kontext in dieser Wortzusammenstellung die Stimmung und Atmosphäre, die sinnliche Intensität z. B. eines Sommermorgens mit seiner Kühle und Klarheit zum Ausdruck kommen. Im Gegensatz zum Begriff, der abstrakt, allgemein, raum- und zeitunabhängig, begrenzt, bestimmt und eindeutig ist, bezieht sich das Bild auf Konkretes, Unmittelbares und Dieshaftes, Einzelnes. Trotz dieser direkten Bezüge bleibt es offen und vieldeutig, insofern unbestimmt. Es verweist auf Anderes, seine Umgebung, seine Verhältnisse zu Anderem. Während der Begriff den Anspruch erhebt, zu erkennen, was etwas ist, will das bildhafte Wort sichtbar machen, wie es ist und sich verhält. Seine Offenheit bedeutet auch, daß es rätselhaft und geheimnisvoll bleiben kann, ohne deswegen vage zu sein, gerade weil es die jeweilige Sache nicht in eine Zugänglichkeit zwingt, ihr vielmehr die Freiheit läßt, ihr Unsichtbares jeweils so oder anders oder gar nicht zu zeigen, es z. B. im Unsichtbaren zu belassen, indem es sich in dem Bild geradezu verbirgt. Das Rätselhaftbleiben des Bildes bedeutet Sie gehören jedoch durchaus zur Sinnlichkeit des Wortes. Vgl. Heidegger, Das Wesen der Sprache, 204 f.
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dann keine bedauerliche Grenze des sprachlichen Ausdrucksvermögens, sondern bezeugt, daß das Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Welt ein vielschichtiges Geschehen ist.
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Auch die traditionelle Philosophie, die wir seit Heidegger mit dem Epochenbegriff »Metaphysik« zu überschreiben gewohnt sind, hat sich zur näheren Erläuterung zuweilen gewisser Bilder, Metaphern und Gleichnisse bedient, obgleich der Begriff ihr eigentliches Medium war und sein mußte. 3 Zumal das vorsokratische Denken war dem Konkreten und damit den Bildern noch ziemlich nahe. Die Geschichte der Philosophie hat im Abendland bekanntlich mit den Gedanken des Thales über die Allgegenwart des Wassers begonnen. Ob es sich bei der Rede vom Wasser um ein Bild gehandelt hat – Nietzsche war z. B. der Ansicht, daß Thales »ohne Bild und Fabelei« etwas über den Ursprung der Dinge sagt (Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, 307) – oder um eine quasiphysikalische Annahme, läßt sich nicht so einfach entscheiden. Ähnlich verhält es sich mit der Luft des Anaximenes. Im Lehrgedicht des Parmenides begegnet uns dann aber zu Beginn ein starkes Bild. Genauer handelt es sich um eine Bildgeschichte: Parmenides kleidet seine Lehre Es gab auch immer wieder Theorien – auf die ich hier nicht eingehe, weil sie für meine Fragestellung nicht relevant sind –, in denen der Begriff des Bildes thematisch wichtig wurde, wie etwa die Platonische Lehre, daß das Sinnliche Bild der unsinnlichen Ideen ist, oder die biblische und dann theologische Überzeugung, nach der der Mensch zum Bilde Gottes geschaffen ist, Kants Lehre von der »Einbildungskraft«, die »einem Begriff sein Bild« verschafft, oder Fichtes »Lehre vom Bild«.
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von der absoluten Einshaftigkeit des nichts-losen Seins in das Bild einer Offenbarung durch die Göttin des Rechts, die den Denker empfängt, als ihn ein Rossegespann über die Stätten der Menschen hinweg an die Schwelle zwischen Tag und Nacht gebracht hat. Daß er hier gleichsam als Bezeugung der Authentizität und zugleich im Sinne einer Initiation des Denkenden ein Bild an den Anfang der Darlegung der reinen Wahrheit als solcher stellt, die ihrerseits mit einem bildlichen Ausdruck benannt wird – die Göttin spricht vom »unzittrigen Herz der wohlgerundeten Wahrheit« –, bedeutet zum einen die Evozierung einer gewissen Konkretheit und unmittelbaren Realität des Gesagten, zum anderen die Betonung seines Geschehnischarakters. Parmenides kleidet seine Lehre in kein Gleichnis, er veranschaulicht sie nicht durch bildliche Beispiele; beides wäre seiner Sache, dem reinen Sein, unangemessen. Er situiert sie in einem tatsächlichen Geschehnis, das dem Denkenden selbst widerfahren ist. Konkretion, Geschichte und Bild gehören zusammen. »Konkretion« besagt sinnliche Unmittelbarkeit. Bei Parmenides ist diese Einordnung in eine konkrete Geschichte darum besonders bemerkenswert, weil sie im größtmöglichen Widerspruch steht zu dem, was er dann über die Wahrheit des Seins selbst zu sagen hat, daß es nämlich ort- und zeitlos, ohne Entstehen und Vergehen, fern jeder Veränderung, »als das Selbe und in ihm selbst bleibend in sich selbst beruht« (frg. 8). Auch die Dialoge Platons haben noch einen situativen Charakter; oftmals ist, z. T. allein schon durch die Gesprächsteilnehmer, die Zeit – z. B. nach einer bestimmten Schlacht – oder der Ort angegeben, auf welche Daten in der Dialogführung dann auch Bezug genommen werden kann. Ein herausragendes Beispiel ist hier das Symposion, wo die Situation ja schon im Namen zum Ausdruck kommt. 166 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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Zudem sind Platons Gleichnisse berühmt, das Höhlengleichnis etwa oder der Vergleich der Seele mit einer Wachstafel. Als die abendländische Philosophie zu fragen begann, was das ist, was ist, war sie damit zunächst noch nah an den Phänomenen, die sie auf einheitliche Weise zu fassen versuchte; es ging um den einheitlichen Gehalt der sinnlichen Welt, für die sich eine bildhafte Sprache nahelegte. Die Worte haben dann jedoch ziemlich schnell ihre unmittelbare, sinnliche Bedeutung und damit ihren Bildcharakter verloren, zumal jener einheitliche Gehalt in unsinnlichen, vernünftigen Gründen und Prinzipien gesehen wurde. Während also am Ursprung wohl der meisten philosophischen Begriffe ein bildlicher, anschaulicher Inhalt gestanden hat, der erst im Laufe der Zeit und des Gebrauchs verblaßt ist und sich entsinnlicht hat, spielt er gewöhnlich im späteren Gebrauch dieser Begriffe so gut wie keine Rolle mehr. Gleichwohl wurden – abgesehen von der ursprünglich bildhaften Bedeutung vieler dann zu philosophischen Begriffen aufgestiegener Worte in der begrifflichen Tradition – immer wieder Bilder zur Verdeutlichung gebraucht, zur Exemplifizierung, bei dem Versuch der Intensivierung und Betonung, als Vergleich, Illustration, Metapher, Veranschaulichung des Ausdrucks, als Beispiel. Die Metaphern sind die häufigsten und wichtigsten Bilder in der Philosophie. Exemplarisch nenne ich Leibniz’ »fensterlose Monade«, Kants »Gerichtshof« der Vernunft, Hegels »nächtlichen Schacht« der Erinnerung (in der Enzyklopädie) oder seine Bezeichnung der Wahrheit als »bacchantischer Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist« (in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes). Jeweils begegnen wir da dem Versuch, einen bestimmten Gedanken durch einen
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bildhaften Ausdruck plastischer und einleuchtender werden zu lassen. Noch zwei ausgeführte Beispiele: Kant beginnt die Transzendentale Methodenlehre, den zweiten Teil seiner Kritik der reinen Vernunft, wie folgt: »Wenn ich den Inbegriff aller Erkenntnis der reinen und spekulativen Vernunft wie ein Gebäude ansehe, dazu wir wenigstens die Idee in uns haben, so kann ich sagen, wir haben in der transzendentalen Elementarlehre [dem ersten Teil des Buches] den Bauzeug überschlagen und bestimmt, zu welchem Gebäude, von welcher Höhe und Festigkeit er zulange. Freilich fand es sich, daß, ob wir zwar einen Turm im Sinne hatten, der bis an den Himmel reichen sollte, der Vorrat der Materialien doch nur zu einem Wohnhause zureichte, welches zu unseren Geschäften auf der Ebene der Erfahrung gerade geräumig und hoch genug war, sie zu übersehen; daß aber jene kühne Unternehmung aus Mangel an Stoff fehlschlagen mußte«. (A 707/B 735) Und bei Hegel lesen wir in der Vorrede zur Vorlesung über die Grundlinien der Philosophie des Rechts: »Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.« (17) Beide Male handelt es sich um eine Reflexion auf die Philosophie, die aber nicht rational argumentierend erfolgt, sondern in der Weise einer bildhaft verdeutlichenden Beschreibung durch Vergleiche und Metaphern, die in beiden Fällen teilweise aus der Mythologie stammen, aber in die Gegenwart hineingenommen werden, um einen abstrakten Sachverhalt in einen dem alltäglichen Verstehen näheren, anschaulichen Zusammenhang zu übersetzen. Ersichtlich 168 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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ist das einerseits ein eher uneigentliches Sprechen, andererseits aber als solches gerade eine bewußt eingesetzte Sprechweise, ein rhetorisches Mittel. Wenn ein Autor sein eigenes Verständnis von Philosophie und von der Sache der Philosophie darlegt, scheint eine besondere Neigung zum Gebrauch von Bildern gegeben zu sein; häufig wird er hier fast pathetisch und wechselt vom nüchternen Begriffsstil zu einem bildhaften Sprechen. Der Bereich des begrifflichen Denkens wird in all diesen Fällen nicht grundsätzlich verlassen. Denn für den metaphysischen Bildergebrauch gilt durchgängig, was wir exemplarisch bei Parmenides sehen konnten, daß nämlich der eigentliche Inhalt des Denkens durch die verdeutlichenden Bilder nicht betroffen ist. Der Denkinhalt selbst ist nicht bildhaft, weil er vernunftgemäß, allgemein und abstrakt ist. Insofern ist der Gebrauch von Bildern hier immer akzidentell, er hat keinen eigenen, notwendigen Erkenntniswert, sondern das Bild steht für etwas anderes, das es verbildlicht. Treffende Beispiele zu bringen, kann zu einer guten Darstellung gehören. Durch Beispiele übersetzt man die an sich abstrakten, unsinnlichen Sachverhalte in konkrete, sinnliche Zusammenhänge und appelliert so an die Einbildungskraft und Phantasie des Hörers, der im Ausgang vom konkreten Einzelfall das abstrakt Allgemeine begreifen kann.
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Ich wage nun die Behauptung, daß die philosophierenden Begriffe doch auch bildhafte Begriffe werden können, – und dann sogar werden müssen, wenn sie das Jeweilige und das Sinnliche wiedergeben wollen. So wie die Dichtung durchaus begrifflich sein kann, ohne dadurch Philosophie zu werden, so kann das philosophische Sprechen bildhaft 169 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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werden, ohne deshalb zu einer bloßen Nachahmung der Dichtung zu geraten. Mit bildlichen Worten und Ausdrücken benennt und beschreibt man, mit Begriffen begreift und erkennt man. Das Begreifen und begriffliche Sprechen antwortet auf eine ausgesprochene oder unausgesprochene Was-ist-Frage, es geht über das zu Begreifende in seiner Unmittelbarkeit hinaus und erklärt, führt zurück auf …, deduziert; es geht auf den Grund und gibt Rechenschaft, es argumentiert und erkennt. Das Denken in Begriffen unterscheidet, indem es ausgrenzt und eingrenzt, de-finiert. Das bildliche Sprechen und Denken dagegen ist umschreibend, mimetisch, erzählend. Es zeichnet nach und malt aus, es evoziert die Sache in ihrer sinnlichen Erscheinungsweise, weist sie in sinnlich nachvollziehbaren Zusammenhängen auf. Es vergegenwärtigt etwas, es läßt vor dem inneren Auge ein Bild entstehen, das der betreffenden Sache entspricht. Handelt es sich wirklich um ein bildhaftes Denken, so hat auch seine Bildlichkeit wie der rationale Begriff eine gewisse Allgemeinheit, aber, mit Adorno gesagt, »nicht die der Subsumtion, sondern fast deren Gegenteil« (Minima Moralia, 91). Das Gegenteil zur Subsumtion bestünde darin, daß dieses Bild das Besondere selbst sprechen ließe, daß es gerade das herauszustellen suchte, was sich in ihm zeigt. Was aber ist solches Besondere, das sich im gedachten Bild zeigt? Und wie zeigt es sich? Indem ein Bild entsteht, im Sprechen oder im Hören, fügt sich ein zuvor Unsichtbares zu einer bestimmten, umgrenzten Sichtbarkeit. Ein Unsichtbares wird sichtbar, es tritt ins Bild. Das Unsichtbare gibt sich in ein ihm gegenüber an sich Anderes, etwa die Sprache des Gedichts oder das Material des Modellierens. »Der uns geläufige Name für Anblick und Aussehen von etwas lautet ›Bild‹. Das Wesen des Bildes ist: etwas sehen 170 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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zu lassen. Dagegen sind die Abbilder und Nachbilder bereits Abarten des eigentlichen Bildes, das als Anblick das Unsichtbare sehen läßt und es so in ein ihm Fremdes einbildet.« 4 Heidegger hat in einem Vortrag (Bemerkungen zu Kunst Plastik Raum) ein Beispiel für das künstlerische Sichtbarmachen eines Unsichtbaren gegeben, das sich vom Unsichtbarmachen des Denkens kaum unterscheidet. Im Hinblick auf die Plastik eines Kopfes sagt er: »Wenn der Künstler einen Kopf modelliert, so scheint er nur die sichtbaren Oberflächen nachzubilden; in Wahrheit bildet er das eigentlich Unsichtbare, nämlich die Weise, wie dieser Kopf in die Welt blickt, wie er im Offenen des Raumes sich aufhält, darin von Menschen und Dingen angegangen wird« (a. a. O., 14). Das Unsichtbare, um das es hier geht, ist nicht ein wie auch immer geartetes Wesentliches, eine ideelle, sogenannte »höhere« Wahrheit, die zum sinnlichen Erscheinen gebracht würde, etwa in der Weise, wie Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik das »Schöne« als »das sinnliche Scheinen der Idee« bestimmt (160). Vielmehr ist das Unsichtbare im Falle des modellierten Kopfes ganz einfach die Weise, wie ein menschlicher Kopf sich auf Menschen und Dinge bezieht, wir können auch sagen: die Weise, wie dieser Mensch unter Anderen in der Welt ist. Die Weise, wie etwas ist, ist als solche selbst unsichtbar und bedarf darum eines Bildes, um eigens in Erscheinung zu treten. Diese Weise – in welchem Wort die Bedeutung von Melodie und Lied, also ein Hörbares mit anklingt – verweist uns auf etwas, das sich so oder so, eben in einer bestimmten Weise, verhält. Fragt das philosophierende Denken nach der Weise, wie …, so interessiert es sich nicht so 4
Heidegger, »… dichterisch wohnet der Mensch …«, 200.
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sehr für die abgegrenzte, definierbare Wesenheit von etwas, nicht für das »Substantielle« an ihm, sein Was. Es richtet sich vielmehr darauf, wie etwas sich in der Welt verhält, sich auf anderes bezieht und von anderem intendiert wird. Die Frage nach der Weise und dem Wie ist nicht zu beantworten, ohne daß die Verhältnisse, in denen das Jeweilige zu anderem steht, mit in den Blick rücken. Sie hört auf das Jeweilige in seinem Verhalten, seinen Bezügen, seinem Bedeuten. Die unsichtbare Weise zu sein ist durch keine Differenz vom sichtbaren Seienden getrennt, sie ist vielmehr das Unsichtbare im sichtbaren Seienden – oder, in einer etwas gewagten Formulierung: das Sichtbare in seiner Unsichtbarkeit. Diese liegt nicht »hinter« und auch nicht »vor« dem Sichtbaren. Würde die Unsichtbarkeit dem Sichtbaren voraufliegen, so könnte das besagen, daß es verborgen, verdeckt, unbeachtet, daß es räumlich oder zeitlich abwesend wäre, so daß es dann, wenn es sichtbar wird, aufhörte, unsichtbar zu sein. Das unsichtbare Wie des Seins-in-der-Welt ist dagegen gerade so zu denken, daß es im Sichtbaren ist; es wird erblickt, es gewinnt sinnfällige Gestalt – sei es im bildhaften Denken, sei es im gebildeten Werk. Darum verliert sich die Unsichtbarkeit, um die es hier geht, nicht, wenn sie im Bild erscheint. Das Bild nimmt gewissermaßen die Sichtbarkeit des Unsichtbaren selbst auf sich, es verkörpert ein an ihm selbst Unsichtbares in Sichtbarkeit, läßt in sich die Seinsweise dieses oder jenes Dinges, einer Situation, einer Konstellation, eines Menschen konkret einsichtig werden.
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Das Denken und seine Bilder
Zum Schluß führe ich drei Beispiele von Bildern aus ganz verschiedenen im weiteren Sinne zeitgenössischen Texten an. Wenn wir von Bildern des Denkens sprechen, so sind dabei zwei Arten zu unterscheiden: zum einen so etwas wie »Bildgeschichten« oder, mit Benjamin gesagt, »Denkbilder«. Zum anderen die Worte, die Bilder ausdrücken, wie z. B. bei Heidegger »Weg« oder »Sprung« oder »wohnen«; sie können bei ihm zu begriffsähnlichen Leitworten werden, die bildhaften Charakter haben. Vor allem geht es für Heidegger um das Hören auf die ursprünglichen Wortbedeutungen, die gewöhnlich sinnlich, bildhaft sind. Bei den folgenden Beispielen für bildhaftes Denken handelt es sich dagegen um die zuerst genannte Art, also um eine Art »Denkbilder«. 5 Zunächst erinnere ich an die Einbahnstraße von Benjamin. Statt auf ein bestimmtes Bild aus diesem Text einzugehen, zitiere ich einige Sätze von Adorno dazu: »Bilder jedoch sind die Stücke der ›Einbahnstraße‹ nicht wie die platonischen Mythen von der Höhle oder vom Wagen. Es sind eher gekritzelte Vexierbilder als gleichnishafte Beschwörungen des in Worten Unsagbaren. Sie wollen nicht sowohl dem begrifflichen Denken Einhalt gebieten als durch ihre Rätselgestalt schockieren und damit Denken in Bewegung bringen, weil es in seiner traditionellen begrifflichen Gestalt erstarrt, konventionell und veraltet dünkt. Was nicht im üblichen Stil sich beweisen läßt und doch bezwingt, soll Spontaneität und Energie des Gedankens anspornen und, ohne buchstäblich genommen zu werden, durch eine Art von intellektuellem Kurzschluß Funken entzünden, die jäh
Vgl. zum Folgenden auch: Verfasserin, Sprachliche Bilder, in: Im Raum der Gelassenheit, 159 ff.
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das Vertraute umbeleuchten, wenn nicht gar in Brand stekken.« (Benjamins ›Einbahnstraße‹, 680 f.) Foucault beginnt sein Werk Die Ordnung der Dinge mit der Schilderung eines Gemäldes von Velázquez. Das Gemälde ist nicht der eigentliche Gegenstand dieses Textes, das Bild im doppelten bzw. iterierten Sinne gibt lediglich einen gewissen Anstoß und Einstieg. Die – übrigens fast dramatisch inszenierte – Auseinandersetzung mit ihm wird als Vorspiel gewählt, das unversehens mit der im Folgenden weiter zu verfolgenden Sache selbst konfrontiert, ohne daß diese als allgemeine Schlußfolgerung aus der Beschäftigung mit dem Gemälde ein- und fortgeführt würde. Der Ansatz bei etwas dem unmittelbar zu Sagenden Fremden, jedenfalls Anderen, ihm aber gleichwohl Analogen kann vielleicht als eine Art bildliche Maskierung oder auch Verkleidung der eigentlichen Thematik bezeichnet werden. Voll von Bildern sind gewöhnlich Sloterdijks Texte; zuweilen scheinen ihn die Bilderlust und die Bildereinfälle geradezu mitzureißen. In dem Bericht über ein Gespräch von Sloterdijk mit Oskar Lafontaine im Wiener Burgtheater (14. November 1999) ist zu lesen: »Sloterdijk präsentierte sich im Burgtheater erneut als virtuoser Metaphern-Jongleur, dessen Sätze das Publikum amüsierten. Wenn er etwa vom ›Staat als Dimmer‹ sprach, ›der das Überhitzen von Kreisläufen verhindert‹«. 6 Aber auch im eigentlich philosophischen Diskurs ist Sloterdijk ein Meister der Bilder. Ich möchte hier beispielhaft ein Bild aus dem ersten Kapitel in seinem Buch Weltfremdheit vorstellen, in dem es ihm auf eine »Übersicht über das Feld des Menschlichen« (63) ankommt, bei der der Philosoph sich »als Mitwisser des Men-
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www.spiegel.de/thema/peter sloterdijk/p2/.
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Das Denken und seine Bilder
schen auf der Höhe der menschlichen Tatsachen« verstehen will. (46) Sloterdijk wählt hier das Bild des »Selbstfindlings« für das, was er den heroischen Charakter des Menschen nennt. Nach einer Erläuterung dessen, was ein Findling ist, führt er u. a. aus: »Der einzige Grund, von Steinen auf Menschen zu kommen, ergibt sich aus dem Findlingseffekt, der unleugbar auch an menschlichen Subjekten auftritt. Es geschieht vielleicht nicht häufig, aber es kommt vor, daß Menschen mitten in der Landschaft der Dinge innehalten und auf ihr Ich aufmerksam werden« (16). Indem Sloterdijk ständig zwischen dem Bild und den Fortführungen des Bildes und einer unmittelbaren Darstellung der »menschlichen Tatsachen« hin und her geht – ohne daß das jeweils einen Bruch im Text bedeuten würde –, will er mit dem Bild des Findlings, genauer des Selbstfindlings einen Zug am Menschsein anschaulich machen, der im Folgenden als Basis für die Erörterung des begeisterten Selbst des Helden dient, der sich aus der Erfahrung des Sich-selbst-Findens gewinnt. »Auch unter den Selbstfindlingen sind die Gletscher weggeschmolzen. Für sich selbst rätselhaft, liegt jeder einzelne unruhig und zusammenhanglos in der Landschaft – ein atmendes Monument einer Urgeschichte, die dem eigenen Gedächtnis entgeht. Ich sitze am Tisch und existiere; ich erblicke eine Kastanienwurzel und fühle das Würgen im Hals: Existenz.« (18)
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Zwischenstück VII
Dem Denken ergibt sich ein Bild, indem es sein Gedachtes erblickt. Diese Betonung des sinnlichen Vernehmens im Denken widerspricht dem Verständnis des Denkens als eines abstrakten, streng begrifflichen Erfassens seiner Gegenstände. Das Bild steht gewöhnlich im Gegensatz zum Begriff, auch wenn beide, Begriff und Bild, als Weisen sprachlichen Ausdrucks auftreten. Wenn die Begriffe, die das Kennzeichen des traditionellen Denkens sind, überhaupt etwas sehen oder in ihnen etwas gesehen wird, dann jedenfalls nicht in der Weise eines sinnlich-bildlichen Erblickens. Die Begriffe haben keine Farben, es gibt keine bunten Begriffe. Die Rede von einem erblickenden – und auch hörenden – Denken nimmt dem begreifenden Denken gegenüber ein anderes, ein zugleich geistig wie sinnlich sehendes Denken in den Blick, ein Denken, das in Bildern statt in Begriffen denkt, – oder wenn in Begriffen, dann in bildhaften, anschaulichen, eben anderen Begriffen. Das Philosophieren wendet sich der Sache, um die es ihm jeweils zu tun ist, so zu, daß es sie zu sich sprechen läßt, ihr also nachgeht und nachspürt, um die Weise, wie das so Gehörte in der Welt ist, in den Blick und ins Bild kommen zu lassen. Nietzsche und Heidegger, bei denen wir häufig auch ein streng begriffliches Denken feststellen, haben auf je unterschiedliche Weise beide zugleich entschieden den Übergang zu einem Denken vollzogen, das sich im Bereich des Bildhaften bewegt. Bei Heidegger bedeutet sein »Hören 176 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Zwischenstück VII
auf das Sprechen der Sprache« den Gebrauch einer Sprache, die voll von »Bildworten« ist, von Worten also, die den konkreten sinnlichen Gehalt des Gesagten zum Ausdruck bringen. Nietzsches Denkstil oszilliert zwischen Philosophieren im engeren Sinne und Dichten, so jedoch, daß das bildhafte Sprechen beide als eine Einheit erscheinen läßt. Sowohl Heidegger wie Nietzsche haben im Übrigen selbst Gedichte geschrieben, wenn auch mit unterschiedlicher Intention. 1 Nietzsches Gedichte weisen ihn als einen genuinen Dichter aus, und er hat diese Seite seines Schaffens als eine eigene, selbständige Seite verstanden. Er hat sich selbst als »Dichter-Philosophen« verstanden, zugleich aber Dichtung und Philosophie in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander gesehen. Heideggers Gedichte, die er selbst »Gedachtes« nennt, gehören in den Bereich der Nachbarschaft von Denken und Dichten, sind jedoch weder das eine noch das andere. Sie »erlauben, Aussagesätze, überhaupt Sätze zu vermeiden […] Dem äußeren Anschein ›Verse‹ und ›Reime‹ – sehen die Texte aus wie ›Gedichte‹, sind es jedoch nicht.« (Weshalb die Texte »Gedachtes«?, 320)
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Und zweifellos von sehr unterschiedlicher Qualität.
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Beispiele bildhaften Denkens
Heidegger Heidegger hat von der traditionellen Sprache des Aussagens gesagt, daß sie dem heute zu Denkenden und zu Sagenden nicht angemessen sei, weil sie, knapp zusammengefaßt, die Sache zu einem vorgestellten Gegenstand macht, der durch die kategorialen Bestimmungen des Subjekts in eine bestimmte Vorstellung von der Welt, eine Weltanschauung eingerückt und so begrifflich bewältigt wird. Zugleich weist er kritisch auf die vernutzende Sprache der Technik hin. Der technisch-wissenschaftliche Geist ist ein Geist des Messens, des Rechnens und Berechnens, der sich sowohl in der Auffassung von der Sprache als einem rationalen Informationsapparat wie auch in dem oftmals formalen, auf bloße Information abgestellten Sprachgebrauch selbst niederschlägt. Jenen Sprachverkehrungen stellt Heidegger die Sprache eines Sich-selbst-Sagens der Sache gegenüber, wie sie insbesondere der Sprache des Denkens und des Dichtens zugehört. Man hat Heideggers Denken oftmals als ein poetisches oder quasi-poetisches Denken bezeichnet und man will es damit zumeist als philosophisch nicht allzu ernstzunehmend abqualifizieren. Ein Satz wie der folgende: »Die Erde ist die dienend Tragende, die blühend Fruchtende, hingebreitet in Gestein und Gewässer, aufgehend zu Gewächs und Getier.« (Bauen Wohnen Denken, 149) könnte, wenn man nicht auf die sachliche Notwendigkeit und den stren178 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Beispiele bildhaften Denkens
gen Aufbau des Kontextes achtet, in der Tat zu einem solchen Mißverständnis verführen. Es kommt hier jedoch auf etwas ganz anderes an als auf die Alternative »poetisch oder nicht poetisch«. Wenn wir bei Heidegger etwa das Wort »Erde« hören, so wird ein Konkretes, ein sinnlich-sinnhaftes Ganzes evoziert, dessen Bild Heidegger mit sinnlichen Strichen ausmalt. Anders als mit Konkretes und Sinnliches nennenden Worten kann das, worum es hier geht, gar nicht geschildert werden, eben weil es selbst nichts Abstraktes ist, vielmehr das Konkreteste schlechthin, eben die Erde. Es geht für Heidegger nicht darum, eine begriffliche Bestimmung oder Definition der Erde zu geben. Vielmehr darum, nachzuvollziehen, was es heißt, daß sich das Menschsein als ein Wohnen vollzieht und daß das Wohnen der »Aufenthalt der Sterblichen auf der Erde« ist. Das ist keine dichterische, sondern eine streng philosophische Absicht. Aber »streng philosophisch« kann da nicht mehr heißen, daß es einem logischbegrifflichen oder analytischen Beziehungsgefüge einzuordnen wäre. Die vier Bereiche oder »Weltgegenden« von Erde und Himmel, Sterblichen und Göttlichen werden nicht als Begriffe eingeführt, sondern als konkrete, erfahrbare und welthafte Größen. Da wird nichts auf den Begriff gebracht, sondern es wird ein Bild von der Welt und damit von unserem In-der-Welt-Sein evoziert. In den Zusammenhang dieser bildhaften Inhaltlichkeit gehören auch die »Beispiele«, an denen Heidegger das welthafte Sich-aufeinander-Beziehen der vier eben genannten Weltgegenden erläutert. In Bauen Wohnen Denken ist es die Brücke. Sie ist nicht einfach nur ein beliebiges Exemplar, das unter den Allgemeinbegriff »Ding« fällt. Das Brückending ist ein Bild des Dinges, insofern sich in ihm beispielhaft das Geschehen verkörpert, das ein Ding bzw. das Dingen 179 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Beispiele bildhaften Denkens
eines Dinges ist, das die Welt versammelt. Dieses Ding kann, weil es ein Geschehen ist, nicht durch allgemeine Bestimmungen wie Genus und spezifische Differenz bestimmt werden, sondern nur so, daß sein Geschehen bzw. die Weise dieses Geschehens bildhaft aufgezeichnet wird. Sprachliche Bilder können darum das in den Dingen sich zeigende Geschehen zum Ausdruck bringen, weil Heidegger die Sprache selbst als das Sich-Zeigen der Dinge und ihres Geschehens versteht. Eben darauf fußt der Heideggersche Umgang mit den Worten bzw. der Sprache, wenn er sich von der Sprache und d. h. von der hinter ihr liegenden Geschichte, von der Etymologie eines Wortes einen Wink auf das jeweils Gefragte geben läßt. Bei einem näheren Umgang mit Heideggers Sprechen fängt man an, fast ohne es selbst zu merken, auf das Sprechen der Worte zu achten. Man lernt, die Bilder wiederzuerwecken, die ursprünglich in ihnen zuhause sind bzw. waren. Heideggers Bezug auf die »Weisheit der Sprache« kann häufig als Rückgang zu den Bildern gelesen werden, die sich in den Worten verbergen. Die Begriffe der gewohnten philosophischen Terminologie werden zurückgeführt auf die ihnen zugrundeliegenden konkreten Weltzusammenhänge, die in den Worten zur Sprache kommen. Bei diesen etymologischen Rückgängen kommt zum Tragen, daß Heideggers späteres Denken keine Begriffsbestimmungen zu geben, sondern die Sachverhalte in ihrer der jeweiligen Fragesituation entsprechenden Relevanz zum Sprechen zu bringen sucht, womit es jeweils in bildhafte, man könnte auch sagen: konkrete Seinszusammenhänge hineinführt. In Bauen Wohnen Denken führt der Hinweis auf »das althochdeutsche Wort für bauen« sowohl zum »wohnen« wie zum »sein« (in »bin« und »bist«). »Die Art, wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde 180 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Beispiele bildhaften Denkens
sind, ist das Buan, das Wohnen. Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen.« (147) Oder nehmen wir die Erinnerung an das germanische Wort »thing« im Zusammenhang der Frage nach der Dinghaftigkeit des Dinges. 1 Indem Heidegger das Ding als thing, und das heißt von der ursprünglichen sprachlichen Bedeutung her als »Versammlung« sprechen läßt, macht er das Ding als ein Geschehen sichtbar, das so etwas wie ein Kreuzungsoder Brennpunkt unterschiedlicher Bahnen, Verhältnisse und Konstellationen ist. In diesem Sinne ist Heideggers Sprache ausgesprochen bildhaft. 2 Bildhafte Worte – »Winke« – sind auch die von Heidegger an maßgebender Stelle verwendeten Worte wie Gewähren, Einräumen, Freigeben, Versammeln. Zweifellos wäre es möglich, sie als Begriffe im herkömmlichen Sinne aufzunehmen; es kommt darauf an, wie man hinhört und mit dem intendierten Sinn mitgeht, d. h. ob man bereit ist, sie als ein Geschehen und dieses als eine sinnliche Eröffnung von Welt zu verstehen. Es ist kein Zufall, daß Heidegger bei seinem Bedenken des Raumes von dem Substantiv »Raum« zu dem Verbum »räumen« übergeht, einem »Zeitwort« oder auch »Tuwort«. Die traditionellen Begriffe waren meistens Substantive, zumindest Substantivierungen. Wir alle sind auf Grund unserer Sprach- und Denktradition gewohnt, wenn wir etwas, das ist, nennen sollen, (konkrete oder abstrakte) Substantive aufzuzählen.
Vgl. Das Ding, 172. Dagegen erzählt er keine Bildgeschichten, vielmehr bleibt er in der Weise seines Sagens weitgehend begrifflich argumentativ. Höchstens könnte man die »Gespräche«, auf Grund der Rolle, die in ihnen die konkrete Situation spielt, in abgeleiteter Weise als »Bildgeschichten« bezeichnen.
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Beispiele bildhaften Denkens
Wie in manchen anderen Hinsichten war der aristotelische Einfluß hier tiefgreifend und weitreichend. Ein weiteres Beispiel für Heideggers Bildgebrauch gibt uns das folgende Zitat aus einer Vortragsreihe, die Heidegger 1957 an der Universität Freiburg gehalten hat: »Diese Dunkelheit ist vielleicht bei allem Denken jederzeit im Spiel. Der Mensch kann sie nicht beseitigen. Er muß vielmehr lernen, das Dunkle als das Unumgängliche anzuerkennen und von ihm jene Vorurteile fernzuhalten, die das hohe Walten des Dunklen zerstören. So hält sich das Dunkle geschieden von der Finsternis als der bloßen und völligen Abwesenheit von Licht.« (Grundsätze des Denkens, 93) In diesem Beispiel steht das Dunkle nicht als bloße Metapher für eine bestimmte Eigenheit des philosophischen Denkens, von dem hier die Rede ist. Das Dunkle spricht für sich selbst, ist selbst eine Weise des Denkens. Mit einem bildhaften Denken oder einem Sprechen in Bildern ist in erster Linie ein Sprechen gemeint, das seine Gegenstände nicht in allgemeine Begriffe aufhebt, sondern für das diese selbst in ihrer sinnlich-unsinnlichen Jeweiligkeit zu Wort und ins Spiel kommen, um auf dasjenige hin durch-sichtig zu werden, was ihre jeweilige Weise zu sein ist. Diese Jeweiligkeit wird in der Evozierung – dem Hervorrufen – ihres »Bildes« präsentiert, das zum Aufweis einer sinnlich-sinnhaften Situation dient, die ihrerseits nicht für etwas anderes steht, sondern in den Ablauf des jeweilig thematisierten Geschehens hineingehört. Das Bild, das Tableau, ist Ausdruck des zu Sagenden selbst. Dieses zu Sagende bedarf darum einer bildhaften oder erzählenden Darstellung, weil es keine substanzhafte und bleibende Entität ist, sondern ein Geschehen, ein Verhältnis, eine Konstellation.
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Beispiele bildhaften Denkens
Nietzsche In der philosophischen Literatur gibt es wohl keinen anderen Text – abgesehen vielleicht von gewissen Schriften der (männlichen und weiblichen) Mystiker –, der sich, trotz aller teilweise auf die Spitze getriebenen Reflektiertheit, so eindeutig zur Bildhaftigkeit des Denkens und zur Absage an den Begriff entschieden hat wie Nietzsches Also sprach Zarathustra. Es ist, als entzünde in diesem Buch jeweils ein Gedanke, der erzählt werden will, von sich aus die Phantasie und Einbildungskraft zu farbigen Worten und bunten Bildern. Die Bilder erhalten ein Eigenleben, die Geschichte scheint nicht nur um der Vermittlung einer Lehre willen erzählt zu werden, sondern weil sie von sich aus den Schreibenden und durch ihn den Lesenden ergreift. »Alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck«, sagt Nietzsche dazu in Ecce homo. Obgleich er in Bezug auf die Sprache seines eigenen Denkens zuweilen blind gewesen zu sein scheint, indem er deren rationalen, begrifflichen, verfügenden Charakter betont, hat Nietzsche in der Weise seines Sprechens dem Nichtbegrifflichen, Bildhaften, Sinnlichen eine neue Bahn eröffnet. In Also sprach Zarathustra ist sein Denken in besonders auffälliger Weise ein nicht-begriffliches Denken und Sprechen; aber das beschränkt sich nicht auf dieses Werk. Über ein anderes seiner Bücher sagt er selbst: »Es scheint in der Sprache des Thauwinds geschrieben: es ist Übermuth, Unruhe, Widerspruch, Aprilwetter darin, so dass man beständig ebenso an die Nähe des Winters als an den Sieg über den Winter gemahnt wird, der kommt, kommen muss, vielleicht schon gekommen ist …« (Die fröhliche Wissenschaft, 2. Vorrede) Das Buch Zarathustra erzählt die Geschichte der 183 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Beispiele bildhaften Denkens
Suche Zarathustras nach dem höheren Menschen und über ihn hinaus. Dahin reichen keine Begriffe und nichts Begriffliches. Davon ist nur in Bildern zu sprechen, die allerdings jeweils in strenger Entsprechung zum philosophischen Inhalt stehen. Nietzsche hat das Bild des Zarathustra und seiner Wanderungen vor uns hingestellt und das, was er sagen wollte, mit bunten, kräftigen Farben aufgemalt, so daß wir es nicht nur mit dem Intellekt, sondern auch mit den Sinnen und dem Gefühl, mit unseren eigenen Erinnerungen und Vorlieben, Ahnungen, Befürchtungen usw. lesen müssen, wenn wir seine Botschaft verstehen wollen. Das Gesamtbild, das Nietzsche entstehen läßt, besteht aus vielen Einzelbildern, und diese selbst wiederum enthalten eine Vielzahl von Bildelementen, die zur Ausmalung und Verdeutlichung dienen. Die Begriffe sind hier also nicht mehr das vorzüglichste Rüstzeug der Philosophie, die begriffliche Behandlung der philosophischen Themen weicht einer bildhaften. Das jeweils zu Sagende wird auf sehr unterschiedliche Weise umschrieben und umschritten, über-setzt, d. h. hinübergesetzt in eine konkrete, vertraute Umgebung, in sinnliche Zusammenhänge, anschaulich gemacht durch Bilder, in denen es eine vorübergehende Heimat findet. Dies, worin das zu Sagende gezeigt wird, ist jeweils jenes selbst, oder, anders gesagt, das zu Sagende ist jeweils in den Bildern und Geschichten. Aber es ist nicht nur in den jeweils spezifisch gewählten Bildern, es ist in ihnen und auch, analog, in anderen. Während Begriffe den Anspruch erheben, die Sache selbst, in dem, was sie wahrhaft ist, identisch und ausschließend zum Ausdruck zu bringen, könnten Bilder jeweils durch andere ersetzt werden. Bilder re-präsentieren die Sache, lassen sie in einem sinnlichen Medium sichtbar werden, sozusagen 184 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Beispiele bildhaften Denkens
in einem Anderen wiedererstehen. Darum können Begriffe wahr sein, Bilder dagegen stimmen, treffen. In Ecce homo sagt Nietzsche über seinen Umgang mit den Bildern: »Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit […] Die Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das Merkwürdigste; man hat keinen Begriff mehr, was Bild, was Gleichniss ist, Alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck. Es scheint wirklich, um an ein Wort Zarathustra’s zu erinnern, als ob die Dinge selber herankämen und sich zum Gleichnisse anböten« (340). Die Macht und Göttlichkeit, von der Nietzsche hier spricht, könnte darin gesehen werden, daß das Bild eine Art sprachliche Neuschöpfung der Welt ist, die Dinge selbst bieten sich als die Bilder an, in denen sie ihren unmittelbaren, einfachen Ausdruck finden. In den Bildern kommen Sein und Werden zur Sprache. Und Nietzsche findet diese Bilder, weil sie sich ihm nahe-legen, fast könnte man sagen: sich ihm aufdrängen: »hier kommen alle Dinge liebkosend zu deiner Rede« (Zarathustra, Dritter Teil, Die Heimkehr). Die Nähe der Liebkosung ist eine unmittelbare, sie läßt die begriffliche Distanz hinfällig werden. Das Bild wird zum »einfachsten Ausdruck«. Es kommt, wenn man es kommen läßt, wenn man auf sein Sprechen achtet und hört. »Wer die Menschen einst fliegen lehrt, der hat alle Grenzsteine verrückt; alle Grenzsteine selber werden ihm in die Luft fliegen, die Erde wird er neu taufen – als ›die Leichte‹. / Der Vogel Strauß läuft schneller als das schnellste Pferd, aber auch er steckt noch den Kopf schwer in schwere Erde: also der Mensch, der noch nicht fliegen kann. / Schwer heißt ihm Erde und Leben; und so will es der Geist der Schwere! Wer aber leicht werden will und ein 185 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Beispiele bildhaften Denkens
Vogel, der muß sich selber lieben – also lehre ich.« (Dritter Teil, Vom Geist der Schwere 2) Fast visionär malt Zarathustra hier ein Bild des neuen Menschen, um dessen Heraufkunft es ihm zu tun ist: Für diesen neuen Menschen soll es keine grundsätzliche Begrenztheit und Gebundenheit, keine einem Geistigen entgegengesetzte Materialität mehr geben, weder für ihn selbst noch für die Erde, auf der er lebt. Er selbst wie seine Erde werden durch Leichtigkeit und Schwerelosigkeit gekennzeichnet sein, er wird zu fliegen und, wie es sonst zuweilen heißt, zu tanzen gelernt haben. Um diese Leichtigkeit zu erfahren, muß er sich bejahend auf sich selbst beziehen, er wird gelehrt, sich selber zu lieben und sich selber zu wollen. Zarathustra malt kein statisches Bild, er sucht keinen Vergleich für den alten, zu überwindenden Menschen. Indem er eine Nachzeichnung des Laufs des Straußenvogels versucht, die fast den Charakter eines Traumes hat, führt er an die Schwelle des Entstehens des neuen Menschen. Der Strauß kann unglaublich schnell laufen, deswegen überwindet er die Schwere der Erde schon bis zu einem gewissen Grad. Aber er kann nicht fliegen. Ein Strauß, der fliegen könnte, wäre einem Menschen gleich, der die Erdenschwere hinter sich gelassen hätte. Für den Strauß ist das eine Unmöglichkeit, für den Menschen aber etwas, das ihm gelehrt werden, das er dadurch, daß er sich selbst liebt, lernen kann. Der Vergleich ist hier keine Metapher, sondern eine Analogie: »also der Mensch, der …«. Der Mensch ist kein Strauß, aber die Verhaltensweise des Menschen wird neben die des Straußenvogels gesetzt, das eine Bild gleicht dem anderen, was für dieses gilt, gilt (zunächst) auch für jenes. Es besteht eine Analogie zwischen ihnen, das heißt eben, nicht sie selbst sind gleich bzw. nicht gleich, sondern die Weise, wie sie sich zur Erde verhalten oder nicht verhalten. 186 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Beispiele bildhaften Denkens
Verschiedene Bildfragmente kreisen miteinander um ein Selbes. Grenzsteine werden verrückt; doch nein, jetzt fliegen sie schon in der Luft. Über die leichte Erde läuft, kaum mehr durch sein Gewicht gehindert, der Vogel Strauß, alle noch so schnellen Pferde hinter sich lassend; doch nein, jetzt steckt er, wie Straußenvögel es sprichwörtlich tun, seinen Kopf in den Sand, die Erde ist ihm wieder und noch schwer, er versucht, sich in ihr zu verbergen. So ist er nicht nur Bild für die Leichtigkeit und Schnelligkeit, sondern zugleich für das Stehenbleiben und die Beharrung: »also der Mensch, der noch nicht fliegen kann«. Auch er kann sich noch nicht ganz von der Erde lösen, Erde und Leben sind ihm noch schwer und lastend, bedeuten zwar Halt, aber auch Festgehaltensein. Wer wirklich wie ein Vogel sein, also wer fliegen können will, der muß auch jenem seltsamen Vogel mit den langen Beinen, der auf so bemerkenswert unsinnige Weise der bergend-verbergenden Erde vertraut, noch ungleich werden. Nicht, daß der Mensch die Erde verlassen müßte. Aber sie muß ihm zur leichten werden, er muß sie selbst durch seine eigene Leichtigkeit zur leichten machen, indem er ihr den Namen »die Leichte« gibt. Der Strauß ist für ihn ein Bild, dem er sich ein Stück weit gleichmachen und das er doch auch noch hinter sich lassen muß, als bloße Station auf seinem Weg. Er soll sich die größte Schnelligkeit dieses Tieres zu eigen machen, um es dann doch, was seine Erdgläubigkeit angeht, zu überwinden. Der Strauß ist so etwas wie das Element eines Gemäldes, genauer eines Bildgeschehens, einer Bildergeschichte. Um es noch einmal zu sagen: er wird nicht abstrakt als Metapher oder bloßer Vergleich angeführt, sondern er ist bildliches Moment der inhaltlichen Aussage. Bemerkenswert ist die Vieldeutigkeit der Bilder, die es erlaubt, sie in ganz 187 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Beispiele bildhaften Denkens
unterschiedlichen Zusammenhängen sprechen zu lassen. Die Sache, die es auszudrücken gilt, kann zum einen in sich vieldeutig sein und somit auch in verschiedenen Bildern präsent werden, sie kann selbst viele Analogien zulassen; zum anderen kann das gewählte Bild selbst in unterschiedlichen Kontexten ganz Unterschiedliches zum Ausdruck bringen. Genauer sind die Bilder selbst mehrdeutig, weil es die Sinnzusammenhänge der Gegenstände sind, weswegen diese auch in unterschiedlichen Bildern verdeutlicht werden können. Alles liegt an der Konstellation, die es jeweils zu evozieren gilt und in der die Nennung eines bestimmten Dinges, einer Farbe, eines Geschehens ihre jeweilige Bedeutung durch den Zusammenstand mit anderen erhält. Die Knoten bestimmen sich aus dem Netz, obwohl sich das Netz zugleich erst aus der Verknüpfung, aus den Knoten ergibt und bei anderer Verknotung auch ein anderes wird. So kann etwa in einem bestimmten Zusammenhang die Weisheit, in einem anderen sogar die Ewigkeit als Weib angesprochen werden, auch wenn das Weib in anderen Zusammenhängen als falsch und listig bezeichnet wird. Die Eidechse deutet, wie wir sehen werden, mit ihrem Rascheln einmal die Leichtigkeit des Glücks an, während sie an anderer Stelle für etwas ganz anderes steht, nämlich wenn Zarathustra sagt, »daß einer Eidechse List lüstern hier herumschlich« (Zweiter Teil, Von der unbefleckten Erkenntniss). Oder die Erfahrung des Augenblicks – sie ist einmal durchaus negativ konnotiert, wenn davon die Rede ist, daß die, die nicht mehr an das Leben glauben, sich dem Augenblicke hinwerfen, während sie ein anderes Mal als Ausdruck des höchsten Glücks erscheint. Dennoch hat die Bedeutung zugleich auch ihre eigene Eindeutigkeit, im Schnittpunkt der Beziehungen der verschiedenen Worte zueinander entsteht jeweils ein und nur 188 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Beispiele bildhaften Denkens
ein Sinn. Und wo gleichwohl mit verschiedenen Bedeutungen gespielt wird, da ergibt auch diese Mehrfalt noch ein eindeutig, d. h. bewußt mehrdeutiges Bild. Wenn der Strauß zunächst für die höchste Schnelligkeit des Laufens steht und dann für das Stehenbleiben in blindem Erdvertrauen, so stören sich diese beiden Bedeutungen nicht; das Verstehen der Bilder ist ein offenes, fortschreitendes, es ist nicht punktuell und definitiv, sondern arbeitet und verarbeitet konstellativ und situativ.
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Die meisten Tiere im Zarathustra – ich habe über fünfzig verschiedene gezählt – haben nicht nur eine rhetorische Darstellungsfunktion, sie machen die jeweils geschilderte Aussage und Situation inhaltlich mit aus, und zwar gerade in der zuvor genannten offenen Mehrdeutigkeit. So ist die Schlange, Zarathustras eigenes Tier, »das klügste Tier unter der Sonne« und ist ihm damit zugleich Bild seiner eigenen Klugheit. Im Gleichnis vom Biß der Natter steht sie jedoch für den todbringenden Feind. Und in der schrecklichen Geschichte von dem Hirten, dem eine Schlange in den Schlund gekrochen war, bedeutet sie nicht nur Verderben, sondern den größten Ekel am Leben selbst – von Klugheit keine Spur. Liebend kann sich die Schlange um den Hals des Adlers ringeln, an dem Stock, den Zarathustra von seinen Jüngern geschenkt bekam, ringelt sich die Schlange der Erkenntnis um die Sonne. Aber sie kann eben – und das ist dann eine ganz andere – Zarathustra auch todbringend beißen, als er unter dem Feigenbaum schläft. Und einmal ist vom »Schlangen-Unflat und schlimmen Geruch« die Rede (ebd.). Das sind nicht verschiedene Seiten oder gar Verhaltensweisen einer selben Schlange, sondern es sind unter189 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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schiedliche Bilder, ein je unterschiedliches Geschehen, das jeweils Schlangen zukommen kann und unter dem gemeinsamen Namen »Schlange« aufgerufen wird. Entsprechend evoziert dieses Wort je nach der Geschichte oder dem Zusammenhang ganz unterschiedliche Gefühle, Erinnerungen und Erwartungen, es bestimmt je unterschiedlich die Färbung, den Tiefgang, die Reichweite des Bildes, in dem es jeweils spricht. »Das wenigste gerade, das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Rascheln, ein Hauch, ein Husch, ein Augen-Blick – wenig macht die Art des besten Glücks. Still!« (Vierter Teil, Mittags) Man liest das, empfindet die Leichtigkeit und Unbeschwertheit des höchsten Glücks nach und mit – und hat die Eidechse schon wieder aus dem Blick verloren. Sie hat nur gerade geraschelt, die flüchtige Empfindung eines Raschelns hervorgerufen. Sie gehört in das Bild des Glücks, das evoziert wird, ergibt sich aus der Situation, die ihrerseits den Rahmen für diese Glücksschilderung abgibt. Die Erwähnung der Eidechse dient hier dazu, die Gefühlsstimmung des Augenblicks, genauer eines Augenblicks des Glücks zu nennen und zu benennen. Ihr kommt ersichtlich keine Eigenbedeutung zu, die für sich etwas über die Eidechse sagen sollte, sie ist vielmehr so etwas wie ein Farbtupfer in dem Gemälde, das die Situation schildert, deren Evozierung der Reflexion auf das Glück dient, sie ist ein Moment dieser sinnlich-sinnhaften Überlegung selbst. Bild ist dabei nicht allein das, was durch die Reflexion hervorgerufen wird oder was zur Wiedergabe dieser Reflexion gebraucht wird, vielmehr ist es ebenso das kleine, anschauliche Moment – einer Eidechse Rascheln – jenes größeren Schauspiels der Mittagserfahrung, das die Anwesenheit des Glücks benennt. Jenes kleine Moment fügt sich ein in das Tableau des Mittags, als Zarathustra vor sich hin wan190 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Beispiele bildhaften Denkens
derte, an gute Dinge dachte, sich seiner Einsamkeit freute und sich schließlich unter »einem alten, krummen und knorrichten Baume« ausstreckte. Dieses Bild beschreibt keinen »objektiven«, räumlich und zeitlich definierten Tatbestand, sondern es läßt etwas vor unseren Augen geschehen. Besser, es fügt sich ein in das Geschehen dieses Mittags und seiner Erfahrung, die es eben dadurch mit hervorruft. Einer Eidechse Rascheln. Es ist nicht nötig, dieses Bild näher auszumalen, zumal die Gewichtlosigkeit seiner Andeutung durch näheres Ausführen leicht Gefahr liefe, verlorenzugehen. Wenn wir gleichwohl nach der Eigenart fragen, wie es hier eingesetzt ist, so kann zunächst negativ gesagt werden, daß die Nennung der Eidechse wiederum weder als ein Vergleich noch als eine Metapher etwa für den Augenblick des Glücks oder den momentanen Zustand der Seele gebraucht wird, dieser soll nicht umschrieben oder gar ausgedeutet werden. Sondern? Zarathustra ruft in einem Selbstgespräch, in das seine Seele in dem schwebenden Zustand zwischen Wachsein und Schlafen verfällt, sein Glück hervor und beim Namen, er evoziert es, indem er es anspricht, es im Ansprechen präsent und evident macht. Er malt seinem Herzen sein Glück aus, nicht im Sinne der Vorwegnahme eines Zukünftigen, sondern ganz wörtlich als Auspinselung seiner schwebend-leichten, augenblickshaften Realität. Zu diesem Ausmalen gehört der Blick, der das Empfundene widerspiegelt, reflektiert; Unmittelbarkeit der Empfindung und Mittelbarkeit der Reflexion spielen ineinander. Das Glück ist nicht einfach nur das Glück, sondern auch das Glück über das Glück und das über das Glück Gewußte. Es ist im Gespräch (mit dem Herzen) und in der Einsicht in das, was »die Art des besten Glücks« ist: »das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Rascheln«. 191 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Beispiele bildhaften Denkens
Die Bilder von Strauß, Schlange und Eidechse sind Beispiele dafür, wie im Denken jeweils eine Weise, wie etwas ist, erhört, erblickt und sichtbar gemacht werden kann. Die erkennende Erfahrung der Weise, wie Menschen auf dieser Erde sein können oder sein könnten, die Weise, wie ihnen an einem stillen Mittag das Glück erscheinen kann, die Weise, wie ihnen die Klugheit oder auch der Ekel des Lebensüberdrusses begegnen können, sammelt sich in augenblicklicher Evidenz in der Erfahrung von unterschiedlichen Dingen, z. B. von Tieren. In ihren Bildern gewinnt etwas Sichtbarkeit, was an ihm selbst nicht sichtbar, gleichwohl im erblickenden Hören auf sein Sprechen erfahrbar ist und gedacht werden kann.
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Zwischenstück VIII
Die Bilder des bildhaften Denkens befinden sich nicht auf einer niederen, uneigentlicheren Ebene als das, was sie sagen wollen. Das gilt für so unterschiedliche Bilder wie die Eidechse im Zarathustra, die Brücke bei Heidegger, die Selbstfindlinge von Sloterdijk. Eine Funktion solchen bildhaften Sagens ist die Ver-schleierung, der Vorwand, hinter dem sich in gewissem Sinne nichts »eigentliches« Anderes mehr versteckt, eine Maske, die nur etwas andeutet, nichts verbirgt, – weil sich das zu Sagende selbst in dieses Bild gibt. Der verrätselte, verkleidete Sachverhalt ist für die Wissenden nicht weniger, sondern gerade eher und mehr oder auch überhaupt nur als er selbst da, weil er verkleidet oder eingehüllt ist, hinter eine Vor-Wand gestellt. Bild und Sache werden bis zu einem gewissen Grade eins, obwohl sie zugleich auch unterscheidbar bleiben. Sprachliche Bilder transportieren »Dinge« in ihren Situationen und Umständen. Es geht um das Wie ihrer Verhältnisse und Bezüge, in erster Linie zu uns und dann auch untereinander. Das Malen von Bildern und das Erzählen von Geschichten will die »Verlaufsform« dessen, was ist, vorführen. Was ich mit der Rede von Bildern vor allem sagen will, ist, daß wir uns im philosophischen Bedenken der Welt dieser nicht mehr als »objektive« Betrachter gegenüberstellen, um sie zu identifizieren und auf ihren Begriff zu bringen, sie in eine allgemeine, systematische Konstruktion aufzuheben, sondern daß wir uns sozusagen in den »Lebensbereich« des zu Denkenden hineinbegeben, ihm 193 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Zwischenstück VIII
über die Schulter schauen. Eine der Besonderheiten der Bilder ist, daß sie nicht den Anspruch erheben, die Sache in ihrer Notwendigkeit wiederzugeben, so daß sie auch rätselhaft, nur andeutend oder auch vieldeutig bleiben können. Offensichtlichen oder auch geheimnisvollen Bildern begegnen wir ebenfalls in Gedichten. Diese geben ihnen gewissermaßen einen Raum, in dem sie dann auch vom Denken aufgesucht werden können. Ein nicht mehr begriffliches, sich nicht mehr der Subjekt-Objekt-Konfrontation anheimgebendes Denken kann u. a. im Blicken auf das Sprechen der Dichter Brücken zu den jeweiligen, zufälligen und erstaunlichen Dingen und Begebenheiten der Welt finden, indem es sich auf die Landschaften einläßt, die in ihnen zu Wort kommen, – auf Verschneites, auf Wolkengebirge, auf Blütenrispen im Uferschilf, aber auch auf Winde, auf Geräusche und Farben.
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Nichthaftigkeit
Rauhreif Etwas aus den nebelsatten Lüften löste sich und wuchs über Nacht als weißer Schatten eng um Tanne, Baum und Buchs. Und erglänzte wie das Weiche Weiße, das aus Wolken fällt, und erlöste stumm in bleiche Schönheit eine dunkle Welt. (Benn) Etwas löste sich. Es löste sich nicht von etwas ab, wie sich ein Blatt vom Baum, ein Einzelnes von einer Menge ablöst, der es zuzugehören schien. Es trennte sich nicht von etwas. Und es löste sich auch nicht so auf, wie sich etwa Salz in Wasser auflöst. Vielmehr löste es sich aus den Lüften, es hob sich heraus aus einem Zustand der Möglichkeit, besser: des möglichen Entstehens. Schon in dem Wort Ent-stehen 1 läßt sich in gewissem Sinne dieses Moment lesen: das Entstehende, etwas Entstehendes, steht auf aus seinem Nochnicht-Sein und wächst zu sich selbst. So lösen sich aus dem Das »Ent-« in »Entstehen« zeigt eine Art Beginnen an, wie in »Entzünden« oder »Entspringen«. Eine andere Bedeutungsrichtung findet sich in »Entlasten« oder »Enthaupten«.
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Nichthaftigkeit
allgemeinen kalten Dunst die zu weißem Eis kristallisierenden winzigen Tropfen. Die Unbestimmtheit dieses Vorgangs des Sich-Lösens aus … drückt sich sowohl in der unbestimmten Bezeichnung »etwas« aus wie in »weiße Schatten«. Die unfaßbaren Lüfte, deren Unsichtbarkeit durch ihren Nebelcharakter noch vertieft zu sein scheint, verdichten sich zu etwas, das aus ihnen wächst, das aber seinerseits nun nichts Bestimmtes, Greifbares ist, sondern nur glänzender, »weißer Schatten«. Der an Schnee gemahnende Rauhreif ist, etwas wissenschaftlicher ausgedrückt, kondensierter Nebel. Die Fast-Immaterialität der von Nebel gesättigten Lüfte kristallisiert sich zu einer weichen Materialität, die sich um alle Dinge legt. 2 Der Schatten ist natürlicherweise dunkel, grau oder schwarz. 3 Was ist ein weißer Schatten? Wie fern dieser dem »natürlichen« Schatten ist, wird dadurch unterstrichen, daß er über Nacht wächst, also ohne das Schatten werfende Licht der Sonne. Dieses merkwürdige, aller Phänomenalität entbehrende Bild lässt sich nicht ausdeuten; ich will nur darauf hinweisen, daß, was sich da aus dem Nebel herauslöst, um sich um alle Dinge zu legen, für diese nichts Äußerliches, von außen Kommendes ist, sondern ihnen so eng zugehört wie ihr eigener Schatten. Der Gegensatz, der in »weiße Schatten« liegt, wiederholt sich zudem in der Verknüpfung von »erglänzen« und »bleich«: Die dunkle Welt, die da weiß glänzt, erscheint in ihrer bleichen Schönheit. Der Schatten ist sichtbar werdendes Nichtsein von Licht. Als solches hat er über die Zeiten hinweg immer wieder die Künstler und Philosophen angeregt – wichtigstes Beispiel ist zweifellos Platons Höhlengleichnis. 3 Den Sonderfall der »farbigen Schatten« und des »farbigen Lichts« können wir hier beiseitelassen. 2
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Nichthaftigkeit
Der Zauber hat sich plötzlich ereignet, über Nacht. Am Morgen ist alles anders, als es gestern war: alles ist weiß. Indem sich alle Dinge in weichem Weiß zeigen, nehmen sie sich in ihrer gewohnten Gestalt gewissermaßen zurück. Sie haben die Härte ihres festen Umrisses verloren, tauchen ein in die Nichtigkeit der weißen Schatten. Eine dunkle Welt wird stumm erlöst, doch gerade nicht aus Nichtigkeit, sondern zu Nichtigkeit. 4 Die Erlösung ist im gewohnten Verständnis ein Erlöstwerden aus Knechtschaft und Sünde, aus Fesseln und Bindungen, ein Erlöstwerden, das zu neuen Möglichkeiten des Selbst führt. Hier dagegen ergeben sich keine freien Gestaltungen und neuen Horizonte (allerdings auch keine neuen Bindungen). Das Weiße, Weiche, Bleiche, zu dem die Dinge erlöst werden, ist die Fast-Tilgung sowohl der Materialität wie der festen Umrisse, damit auch der dunklen Schatten. Die erlöste Welt erscheint trotz ihrer Schönheit – oder gerade in ihrer Schönheit – nichthaft, unwirklich und leer. Diese Welt: Ein verhallendes Bergecho, Leer, Unwirklich. In einem leichten Schneefall Dreitausend Welten; In diesen Welten Ein leichter Schneefall. Die Erlösung ins Nichts erinnert an gewisse Formen des Buddhismus: der Mensch kann durch seine Haltung seine Erlösung (das Eingehen ins Nirvana) bewirken.
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Nichthaftigkeit
Wie der Schnee Meine Hütte verschlingt In der Abenddämmerung, Da wird auch mein Herz Völlig leer. (Ryōkan) 5 Wiederum eine Erlösung zu Nichtigkeit, zu Leere. Ausdrücklich kommt der Mensch mit ins Spiel. Während er in Benns Gedicht im Hintergrund steht, obgleich er mit dem Wahrnehmen des geschehenen Wachsens des Rauhreifs, seines Glanzes und seiner Schönheit zwar durchaus anwesend ist, aber unausgesprochen bleibt, ist er bei Ryōkan nicht nur durch das Hören des Verhallens schon in der ersten Strophe da, sondern wird dann in der dritten mit der Hütte und vor allem dem Herzen implizit genannt. Der Mensch ist kein Gegenspieler zur Welt, vielmehr spiegelt er sie, sie schlägt sich gewissermaßen in ihm nieder bzw. bezieht ihn mit in sich ein. Das Verhallen eines Tons – eines Tons, der als Widerhall selbst schon das Nichtdasein in sich trägt. Mit dem Echo aus der Ferne verhallt das letzte Feste, Sichere, Wirkliche. Leere breitet sich nicht so sehr aus, als daß sie sich in ihrem Immer-schon-Dasein enthüllt oder offenbart. Diese Leere ist bis zum Äußersten bewegt. Genauer birgt sie im Keim die Spannung des Geschehens der Welt selbst. Ryōkan – ich muß hier allerdings auf die Richtigkeit der Übersetzung vertrauen – reißt diese Spannung in fast raf-
Meister Ryokan, Alle Dinge sind im Herzen, 90. Der zen-buddhistische Mönch Ryōkan (1758–1831) ist bis heute in Japan als Dichter und Kalligraph weithin bekannt.
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Nichthaftigkeit
finierter Weise kontrapunktisch auf: Im leichten, das heißt auch kaum wahrnehmbaren Schneefall offenbart sich die ganze Welt als solche, alles Seiende überhaupt ist in ihm enthalten; doch gegenwendig fügen sich zugleich und ineins alle Welten zusammen in dieses Eine, Leichte: den unscheinbaren Schneefall. Was wird in solchem zugleich sanften wie gewaltigen Geschehen aus dem Menschen? Wie seine Behausung in der Unwirklichkeit des weichen Schnees versinkt, so wird auch er selbst unscheinbar, er gibt sich auf in die Nichtigkeit des Ganzen, sein Herz wird wunderbar leer.
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Das Leerwerden des Menschen spielt eine entscheidende Rolle im Zen-Buddhismus. Ich führe einige Bilder an, 6 die von chinesischen Meistern für das Eintauchen des Geistes in die Welt, das als solches gerade ein Leerwerden, insofern eine Entwirklichung anzeigt, gewählt wurden. Im dreizehnten Kapitel des Bi-Yän-Lu, 7 das Ba-ling’s silberne Schale überschrieben ist, heißt es: »Über dem großen Gefilde verdichtet es sich zu Gewölk; die weite Welt verbirgt es nicht. Schnee liegt auf den Blütenrispen des Uferschilfs; schwer ist’s, zu unterscheiden, wo diese anfangen und wo jener aufhört.« Und etwas später: »Ein Mönch fragte Ba-ling: Was ist
Vgl. zum Folgenden Verfasserin, Schnee auf silberner Schale, 206 ff. Ich möchte betonen, daß es auch im jetzigen Zusammenhang nicht um Interpretation zu tun ist, sondern allein um das Aufnehmen einer Ungesagtes evident machenden Spur. 7 Meister Yüan-wu’s Niederschrift von der Smaragdenen Felswand, verfaßt auf dem Djia-schan bei Li in Hunan zwischen 1111 und 1115, im Druck erschienen in Sitschuan um 1300. 6
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Nichthaftigkeit
es mit der Deva-Schule? Ba-ling erwiderte: Auf silberne Schale häuft sie Schnee.« (251) 8 »Schnee liegt auf den Blütenrispen des Uferschilfs«, »Auf silberne Schale häuft sie Schnee«. Zwei Bilder, in denen eine Ununterscheidbarkeit des Unterschiedenen genannt wird. Jeweils scheint das Besondere in seiner Farbigkeit und in seinen Formen durch das weiße, weich einhüllende Element des Schnees verdeckt und beinahe zum Verschwinden gebracht. Der Schnee liegt da, ist aufgehäuft, er verbirgt das Umgrenzte, Einzelne, indem er es verhüllt, wobei das Verhüllende nichts als die Unscheinbarkeit des fast unsichtbaren Schnees ist. Das »mannigfaltig Vergängliche« scheint »dem Einen, Leeren, in sich Gleichen zum Verwechseln ähnlich angeglichen … Man nennt dies das Gebiet der Ein- oder Gleichfarbigkeit«. (Gundert, Bi-YänLu, 258) In seiner Ansprache Über Abraham a Santa Clara führt Heidegger dessen Satz an: »Kommt her ihr silberweißen Schwanen, die ihr mit euren Flügeln, dem Schnee zum Trutz, auf dem Wasser herumrudert.« (607) Nishitani erinnert »an einige ähnliche dichterische Bilder, wie sie im Zen geläufig sind«, »etwa: ›Ein weißes Pferd kommt ins blühende Schilfrohr‹ oder: ›Schnee, tausend Berge bedeckt er; warum ist nur ein einsamer Gipfel nicht weiß?‹« »Aus dem Grund der Einen Farbe kommt etwas zum Vorschein, gleichfarbig und dennoch unterscheidbar von allen anderen Dingen«. 9 Diese Frage bezieht sich auf die früheste Vermittlung des Zen-Buddhismus von Indien nach China und damit auf »das Wesen der Zen-Gemeinschaft als eines in der Zeitlichkeit aufgetretenen und über Generationen reichenden Zusammenhangs« (Gundert, Bi-Yän-Lu, 259). 9 Vorbereitende Bemerkungen zu zwei Meßkircher Ansprachen von Martin Heidegger, 157 f. 8
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Nichthaftigkeit
Das Denken und Sprechen vom weißen Pferd, »das durch die weiten, mit weißen Schilfrohrblüten bedeckten Sümpfe watet«, von den weißen Schwänen, vom »auf den Blütenrispen« liegenden Schnee und von der silbernen Schale ist ein Denken und Sprechen in Bildern. Der Meister Yüan-wu hält den »sachlichen Erörterungen«, die »die meisten Leute« zu geben pflegen, die Bilder-Antwort des Baling entgegen. »Er steht damit einzig da, einsam wie ein Fels. Freilich ist sein Wort schwer zu verstehen. Es weist auch nicht die geringste Schärfe oder Spitze auf.« (Bi-YänLu, 254 f.) Mit diesem Denken paßt zusammen, was Heidegger einmal in Bezug auf sein eigenes »sinnendes Denken« niedergeschrieben hat: »Sein Sagen ist […] so, als sei nichts gesagt. Das sinnende Denken durchscheint die wesentlichen Erfahrungsbereiche wie Morgenlicht, das die Nacht verwahrt, damit es den Tag ergebe – und alles so, als sei es nichts. –« 10 Und alles so, als sei es nichts. Neben Ba-lings Antwort auf die Frage nach der Deva-Schule werden zwei weitere Fragen und Antworten des Meisters zitiert: »Was ist es um das Schwert, das ein ihm entgegengeblasenes Härchen durchschneidet? Alle Ästchen der Korallen strecken dir den Mond entgegen.« Und »Was ist es um den Weg? Ein Mensch mit hellen Augen fällt ins Brunnenloch.« (254) Wie bei Ba-lings erster Antwort scheinen auch hier die »Auskünfte« nichts mit den gestellten Fragen zu tun zu haben. Auch von ihnen könnte man sagen: sie stehen einsam da, wie Felsen. Sie fügen sich nicht ein in einen räumlichen oder zeitlichen Zusammenhang, sie zeichnen keine Kausalität auf.
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Aufzeichnungen aus der Werkstatt, 152 f.
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Nichthaftigkeit
Das genannte zweite Beispiel ist sowohl im Fragen wie im Antworten sehr subtil, fast filigran oder wie ziseliert. 11 Auch hier handelt es sich um keine Was-ist-Frage, wie sie für die abendländische Tradition seit Platon maßgeblich war. Stattdessen: Was ist es mit …, was ist es um … ? In den Antworten soll keine Wesensbestimmung gegeben werden, keine Definition, keine »sachliche Erklärung«. Es gibt hier kein zugrundeliegendes Objekt, dem das Subjekt wesentliche Bestimmungen zusprechen würde. Vielmehr wird in einen »Erfahrungsbereich« hineingehört und hineingedeutet, und zwar so, als sei das Erfragte nichts und als sei nichts gesagt. Was wäre das auch, ein Schwert, das ein entgegenfliegendes Härchen spalten kann? Es handelt sich um keine haarspalterische Antwort, sondern um eine, die in einen ganz anderen, ebenso subtilen, aber ebenso erfahrungsfernen Erfahrungsbereich führt, wie es der der Frage war. Die unter der Wasseroberfläche sich ausbreitenden unendlich vielen Ästchen der Korallen spiegeln in je ihrer winzigen Einzigkeit das strahlende Mondlicht wider. Das umfassend Große und das winzig Kleine berühren und durchdringen sich. Das Sichtbare und das Unsichtbare brauchen oder befruchten einander gegenseitig. Die Korallenästchen sind an ihnen selbst unscheinbar und kaum sichtbar. Indem das Mondlicht auf sie fällt, vervielfältigen sie es durch ihr Glitzern und Glänzen. Zugleich wird jenes allererst durch sie und ihr Spiegeln in all seinem Leuchten sichtbar und ver-wirklicht.
Ich gehe hier von Gunderts Übersetzung aus. Schwarz benutzt u. a. auch das »was ist«. Wie sonst kommt es mir nicht auf die philologische Exaktheit an – die ich nicht beurteilen kann –, sondern auf die sich in dem gewählten Text aussprechende Erfahrung.
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Nichthaftigkeit
Das dritte Beispiel ist dem vorigen gegenüber sehr klar und einfach. »Was ist es um den Weg?« Der Weg liegt da, er führt das Gehen, das sich ihm überläßt, durch eine nahe oder ferne Gegend, vorbei an diesem und jenem. Scheinbar ist da nichts fraglich. Die Antwort ist auch hier verblüffend, auch hier kaum eine wirkliche Antwort: »Ein Mensch mit hellen Augen fällt ins Brunnenloch.« Wir fühlen uns unmittelbar an die Geschichte von Thales erinnert, die Platon im Theaitetos berichtet: Thales fiel, weil er nach den himmlischen Dingen schaute, in einen Brunnen und wurde von einer thrakischen Magd deswegen gebührend ausgelacht. Heidegger schreibt hierzu einmal: »Wir tun gut daran, uns gelegentlich zu erinnern, daß wir bei unseren Gängen vielleicht einmal in einen Brunnen fallen, wobei wir lange auf keinen Grund kommen.« (Die Frage nach dem Ding, 3) Der Mensch mit hellen Augen ist wohl der Mensch, der das Helle zu schauen und ins Helle zu blicken vermag. Die hellen Augen können sehen. Doch zugleich sehen sie darum anderes nicht, oder sie erblicken nicht immer dasjenige, was vor ihnen liegt, sie versehen sich am Weg, sie können ins Dunkle fallen. Der Mensch fällt ins Brunnenloch – ist eben dies vielleicht sein Weg?
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Die Bedeutung all der hier angesprochenen Bilder liegt zu einem guten Teil darin, daß sie wesentlich nicht zu deuten sind. Sie gleichen Blitzlichtern, die jeweils wie mit einem Schlag das Ganze auf ihre je einzigartige Weise durchleuchten und zu Gesicht bringen, ohne sein Geheimnis aufzulösen. Frage und Antwort gehören in jenes Ganze hinein, sein Aufscheinen ist ineins das Aufscheinen (die Er-leuchtung) des Geistes, des Gemüts, des Herzens. Sowohl in den beiden 203 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
Nichthaftigkeit
von Rauhreif und Schnee angeregten Gedichten wie in den zen-buddhistischen Bildern kommt ein Ganzes – wir können auch sagen: eine Welt – zur Sprache, das kein Gegenüber zum Menschen darstellt, ihn vielmehr immer schon inbegriffen hat.
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Zwischenstück IX
Das bildhafte Denken läßt sich als landschaftliches Denken bezeichnen. 1 Die Landschaft, genauer das Verhältnis des Gehens zu der Landschaft, durch die es geht, wird da als Bild des Denkens verstanden, aber so, daß Gehen durch die Landschaft und Denken nicht einfach als Verbildlichung einerseits und Sache selbst andererseits voneinander unterschieden werden könnten. Die Sache eines veränderten Denkens, das Sinnlichkeit, Zufälligkeit und Besonderheit in sich einbezieht, gewinnt eine eigene Präsenz und Evidenz, wenn sie durch das Attribut »landschaftlich« eine bildhafte Dimension erhält. Dieses Denken vermag dann dahin- und hinauszugehen, über Brücken, durch Schluchten, über Gipfel und Hochebenen, es kann an den Rand des Meeres treten oder auch durch Häuserfluchten streifen. Entscheidend an dem Bild der »Landschaftlichkeit« ist, daß das Denken aus unterschiedlichen Perspektiven, in unterschiedlichen Hin-sichten auf seine Sache blickt. Jede Sicht zeigt ihr eigenes Bild, das keiner ausdrücklichen Übertragung bedarf, keiner Erklärung dessen, was man damit »meint«. Ob man eine Sache aus der Ferne oder aus der Nähe, von oben herunter oder von unten herauf, an dieser oder an jener Wegkehre in den Blick nimmt, zeigt sie jeweils anders, läßt sie jeweils eine andere sein. Wie sie sich darbietet, das spricht zu dem Einen vermutlich ein wenig anders als zu dem Anderen, aber doch so, daß sich ein Feld des gemein1
Vgl. Verfasserin, Wege im Denken, 34 f.
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Zwischenstück IX
samen Sehens und des Denkens zwischen ihnen auftun kann. An die Stelle der Eindeutigkeit des tradierten Wahrheitsanspruches tritt das Vertrauen darauf, daß wir alle, jeder Einzelne von uns, als in unsere gemeinsame Sprache und die ihr zugehörigen Bilder Eingewöhnte zumeist ähnliches wahrnehmen werden wie der jeweils Andere. 2 Das Wohnen in Sprachlandschaften ist Voraussetzung für das Wandern-Können eines landschaftlichen Denkens. Begriffe dagegen sind lediglich Abbreviaturen. Nicht zufällig spricht man von Begriffsoperationen, während von Bildoperationen zu reden keinen vergleichbaren Sinn machen würde. Bilder werden montiert, assoziiert, zusammengefügt usw. Immer gehören sie in Zusammenhänge und Räume, immer geschieht in und mit ihnen etwas, Bilder gehen an und betreffen, während Begriffe ihren Rang und ihre Würde daran haben, uninteressiert und neutral, objektiv zu sein.
Es leuchtet darum auch ein, daß Übersetzungen niemals wörtlich erfolgen können. Es bedarf einer Einfühlung in die jeweilige Sprache und in ihren »Geist«, um ein entsprechendes Bild zu finden. 2
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Wohnen in der Welt
Wenn jemand Nach meinem Wohnsitz fragt, Antworte ich: »Am östlichen Rand Der Milchstraße«. Gleich einer ziehenden Wolke, Durch nichts gebunden: Ich lasse einfach los, Gebe mich In die Launen des Windes. (Ryōkan) 1 Der Wohnsitz müßte eigentlich, meint man, etwas Festes, Fixiertes sein. Etwas, das umschließt und durch seine Begrenztheit geborgen sein läßt. Und doch – kann man schöner wohnen als am Rand der Milchstraße? Aufgehoben in der Weite des flimmernden Raums ihrer Sterne? Ein erstaunliches Moment in Ryōkans Gedicht liegt darin, daß er seinem Wohnsitz und damit seinem Leben die so bemerkenswerte Bewegtheit von Wolken, Wind und Sternen zuspricht. Er sieht sich behaust im Ungebundenen, dieses selbst ist ihm Heimat und gewohnter Aufenthaltsort. Er zieht dahin wie eine Wolke, ohne sich deswegen im Un-geheuren zu verlieren. 1
Alle Dinge sind im Herzen, 67.
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Wohnen in der Welt
Die Wolken sind nicht allein stets an einem anderen Ort, sondern sie haben auch stets eine neue Gestalt. 2 So sind sie ein Bild für den Wechsel und Wandel schlechthin. »Wandelt sich rasch auch die Welt wie Wolkengestalten«, so beginnt Rilke ein Sonett an Orpheus. Wie wandeln sich die Wolken? Manchmal entstehen sie in wunderbarer Weise vor den Augen gleichsam aus Nichts, manchmal lösen sie sich vor den Augen in Nichts auf. Bei einem bestimmten ganz leicht bewölkten Himmel fällt mir immer ein Vers aus Goethes Nausikaa-Fragment ein: »Und duftend schwebt der Äther ohne Wolken.« Die Wolken sind dann so duftig verschwebend, daß sie wie unsichtbar bleiben. Der Äther ohne Wolken ist der Raum, aus dem sich unversehens, auftauchend und wieder zergehend, Wolkenfetzchen bilden können. Die Wolken im duftend schwebenden Äther sind unsichtbar, oder sie sind durchsichtig, wie Rilke es in dem Gedicht Landschaft beschreibt: »durchsichtige Wolken wogen / über blassen Häuserreihn / die schon Dunkel in sich eingesogen.« Zumeist sind die Wolken jedoch durchaus sichtbar, sichtbar gewordener Wasserdampf. Es gibt sie in unzählig unterschiedlichen Ausbildungen: Sie ziehen als helle Schäfchenwolken, als leuchtend weiße Blumenkohlwolken, als drohend graue Wolkenbänke am Horizont auf. Als Schleierwolken breiten sie sich weit über den Himmel aus. Kondenswolken zeichnen geometrische Bahnen ins Blau. Fliegt man in einiger Höhe, dann sieht man sich hoch auftürmende Wolkengebirge unter sich. Immer sind sie in Bewegung. Vgl. auch Dogen Zenji: »Erkenne die dahinziehenden Wolken und das fahrende Boot an[,] wie sie sind. Erinnere dich daran, daß die Wolken nichts mit der Richtung zu tun haben, in die sie ziehen. Auch das Boot und das Ufer bewegen sich in ihrer eigenen Zeit.« (Shobogenzo, 33)
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Wohnen in der Welt
Sie wandeln sich durch Räume und durch Zeiten, in ihren Größen und Gestalten, quantitativ und qualitativ, in den verschiedensten Farbnuancen. 3 Dem Wolkentyp der bedrückenden, bedrohlichen »schweren Wolke« stellt Bachelard den Typ der »leichten«, aufsteigenden Wolke gegenüber, die beflügelt und zum Himmel zieht. »Wolken dieser Art, das heißt kleine, leichte Wolken, die in die Höhe steigen und sich dort auflösen, kommunizieren die Transgression der Wirklichkeit und letztlich die vollständige Dematerialisierung.« 4 Schaut man zu ihnen auf, so zeigen sie phantastische Figurationen, die sich jeden Augenblick verändern. Zuweilen sind es wilde oder monströse Tiere, Drachen oder Löwen, die sich der Betrachtung darbieten. Faust erkennt Helenas Erscheinung in Wolkengebilden, »formlos breit und aufgetürmt … fernen Eisgebirgen gleich«. Und schon in einer früheren Szene hatten sich ihre Gewänder in Wolken aufgelöst. »Die Zapoteken sagen, ihre Sprache diidxa’za steigt von den Wolken herab – diidxa’ ist das Wort und za Wolke. Vielleicht weil die Wolken Tiere und Dinge an den Himmel malen, können wir Zapoteken mit Worten malen. / […] die Wolken richten sich nach dem sanften und warmen Südwind, aber sie nehmen auch Gestalt an unter dem braunen Wind, der uns im Winter beutelt. Jedenfalls sind wir Wechselwesen, so wie die Wolken vorüberziehen und sich andere bilden.« 5 Vgl. Roland Barthes: »In gewisser Weise ist die NUANCE das, was ausstrahlt, sich zerstreut, sich in die Länge zieht (wie eine schöne Wolke am Himmel).« (Die Vorbereitung des Romans, S. 94). 4 André Weber, Wolkenkodierungen bei Hugo, Baudelaire und Maupassant, 35 f. 5 Natalia Toledo, Die Sprache der Wolken. 3
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Wohnen in der Welt
Oft sagt man, daß die Wolken ziehen. Darin liegt – mehr noch als darin, daß sie über den Himmel wandern – ihr Charakter der Unbestimmtheit. In Baudelaires Gedicht L’Étranger in Petits poèmes en prose (1869) scheinen die Wolken, bzw. der liebende Blick auf die dahinziehenden Wolken gerade diese Unbestimmtheit anzudeuten: — Qui aimes-tu le mieux, homme énigmatique, dis? ton père, ta mère, ta sœur ou ton frère? — Je n’ai ni père, ni mère, ni sœur, ni frère. — Tes amis? — Vous vous servez là d’une parole dont le sens m’est resté jusqu’à ce jour inconnu. — Ta patrie? — J’ignore sous quelle latitude elle est située. — La beauté? — Je l’aimerais volontiers, déesse et immortelle. — L’or? — Je le hais comme vous haïssez Dieu. — Eh ! qu’aimes-tu donc, extraordinaire étranger? — J’aime les nuages… les nuages qui passent… là-bas… là-bas… les merveilleux nuages! 6 Sag mir, rätselhafter Fremder, wen liebst du am meisten? Deinen Vater, deine Mutter, deine Schwester oder deinen Bruder? Ich habe weder Vater noch Mutter noch Schwester noch Bruder. Deine Freunde? Da gebraucht Ihr ein Wort, das mir bis heute unverständlich geblieben ist. Dein Vaterland? Ich weiß nicht, wo in aller Welt es liegt. Die Schönheit? Ich würde sie gern lieben, die Göttin und Unsterbliche. Das Gold? Ich hasse es, wie Ihr Gott haßt. Ach! Was liebst du denn nun, merkwürdiger Fremder?
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Wohnen in der Welt
Die Fremdheit des Fremden, des außergewöhnlichen, rätselhaften Fremden, erweist sich darin, daß er keiner der unter den Menschen gewöhnlich bevorzugten Sachen – Familie, Freunde, Vaterland, Schönheit, Gold – seine Liebe schenkt. Er liebt allein die Wolken, die vorbeiziehenden Wolken in ihrer unbestimmten Ferne.
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Trotz der Wechselhaftigkeit, die dem Menschen eigen ist wie den Wolken, vermag Ryōkan im Raum der Wolken zu wohnen. Doch dieses Wohnen ist kein Sich-Festsetzen, vielmehr ein Sich-Einlassen auf die Gegebenheiten des jeweils zugeteilten Raumes. »Ich lasse einfach los, gebe mich in die Launen des Windes.« Dieses Loslassen ist ein Sich-Überlassen, der Dichter gibt sich – nicht auf, sondern frei, und dies gerade, indem er sich einem Anderen anheimgibt, einem solchen allerdings, das mit den Wolken die Unbestimmtheit und Zufälligkeit seiner Bewegung teilt. Er überläßt sich dem Bewegtwerden durch den Wind, der durch weite Räume zieht und in dessen Wehen, wie Hofmannsthal singt, »seltsame Dinge sind«. (Vorfrühling) Arno Holz zeichnet in seinen Gedichten Wolken nach, wie viele Dichter vor und nach ihm. In den ersten drei Strophen von Aus weißen Wolken gibt er eine phantastische Wolkenansicht:
Ich liebe die Wolken … die Wolken, die vorüberziehen … dahin … dahin … die wunderbaren Wolken! Vgl. Verfasserin, Landschaften. J’aime les nuages … in: Wege im Denken, 25 f.
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Aus weissen Wolken Baut sich ein Schloss. Spiegelnde Seeen, selige Wiesen, singende Brunnen aus tiefstem Smaragd! In seinen schimmernden Hallen wohnen die alten Götter. Auch hier ein Wohnen. Aber die alten Götter wohnen auf andere Weise als Ryōkan. Die Wolkenräume, in denen der Dichter sich aufhält, sind pure, jeweilige – und als solche vergehende – Gegenwart. Sie scheinen sich nicht einmal zu Gestalten zu verdichten, vor allem anderen ziehen sie dahin, offen, durch nichts gebunden. Während bei Holz ein Spiel der Phantasie evoziert wird, beschreibt Ryōkan sein eigenes reales Sein. So wie die Wolken über den Himmel ziehen, so zieht auch er durch die Welt. Er gibt sich in die Launen des Windes. Er wandert nicht los, macht sich nicht absichtsvoll auf einen Weg. Vielmehr läßt er sich treiben. Manchmal sieht man Scharen von Wasservögeln, die sich auf dem Wasser, oder Vögel, die sich in den Luftströmungen treiben lassen. Dieses Sich-Treibenlassen ist ein Sich-Hineingeben. Seine Eigenart ist, daß es nicht durch ein Ziel und einen eindeutigen Sinn vorbestimmt ist, daß es nichts will, keine Vorstellung davon hat bzw. sich keine Vorstellung davon macht, was geschehen könnte oder sollte. Bezogen auf den Dichter bedeutet das nicht, daß er keinen bestimmten Willen hätte, daß er sich nichts Bestimmtes vorstellen könnte. Er kann sich nur so in die Launen des Windes geben, daß tatsächlich er es ist, der losläßt, wenn es 212 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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also seine Gedanken und seine Wünsche sind, die sich dem Wind anheimgeben. Wenn er es ist, der die fernhin ziehenden Wolken liebt. Er ist keine Wolke, aber er wird ihr gleich in seinem Dahinziehen. Er ist es, der seinen Wohnsitz am Rande der Milchstraße hat. Dort schreibt er seine Gedichte, dort lebt er sein Leben, ungebunden und unbekümmert. Zwischen Ryōkan und seinem Bruder Yoshiyuki ist ein Wechselgedicht überliefert (a. a. O., 106): Yoshiyuki: Spielend, ja spielend, Diese Welt zu durchqueren, Ist gut, vielleicht, Aber denkst Du nicht An die kommende Welt? Ryōkan: In dieser Welt ist es doch Und mit diesem Körper, Daß ich spiele: Nicht nötig, nachzudenken Über die kommende Welt. Sich dem Wehen des Windes zu überlassen, heißt zu spielen. Auch das Spielen – das Spielen der Großen wie der Kleinen, der Menschen wie der Tiere – ist ein Tun oder Sichverhalten, das sich dem Jeweiligen überläßt. Es geht im Hier und Jetzt auf, verschenkt sich an die uneinholbare Situation. Wir sprechen auch vom Spiel des Windes und vom Spiel der Wellen, vom Spiel der Mücken am Sommerabend und vom Spiel der kleinen Fische auf dem Grund des Sees. Jeweils ist das Spiel eine Bewegung, die ihren Sinn in 213 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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sich selbst hat. 7 Darum stellt sich, wenn man sich ihm überläßt, weder die Frage nach einem jenseitigen Sinn und Zweck des Lebens noch die Notwendigkeit, die hiesige Welt wohin auch immer zu transzendieren. Yoshiyuki ist, vielleicht etwas widerstrebend, bereit, seinem Bruder die Bedeutung des Spielens zu konzedieren, doch was ihm schwerfällt, ist, auf das Nachdenken über ein Jenseits zu verzichten. Ryōkan aber verweist auf sein pures Dasein: wir sind in dieser Welt, und wir leben in und mit diesem unserem Körper. Was braucht es da anderes als das Sichverschwenden an unser Spielen? Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet, ein seliges, das blendet und verschwendet an dieses atemlose blinde Spiel. (Rilke, Jardin du Luxembourg)
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Das Wohnen am Rand der Milchstraße und das Betonen des Vertrauens auf diese Welt und auf diesen Körper gehören eng zusammen. Ich stelle der Stimmung des anfangs wiedergegebenen Gedichts von Ryōkan kontrastierend die eines Benn-Gedichts (Wenn dir am Ende) an die Seite: Wenn dir am Ende der Reise Erde und Wolke verrinnt, sie nur noch Laute, leise, vom Himmel gefallene sind,
Kant nennt es eine »Beschäftigung, die für sich selbst angenehm ist.« (Kant, Kritik der Urteilskraft, § 44)
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und nur noch Farben, getönte aus einem wechselnden Reich, nicht bittere, nicht versöhnte, Austausch alles und gleich, wenn dir die Blicke nach oben und dir die Blicke zu Tal schweigend das Nämliche loben, schweigend die nämliche Qual, schließen sich die Gesichte über der lastenden Flut: ach, die vielen Gewichte, doch die Waage, sie ruht. Diese beiden – auf den ersten und dann auch auf den letzten Blick ziemlich unterschiedlichen – Gedichte stelle ich nebeneinander, weil es in beiden um ein gewisses Losgelöstsein, eine in beiden zur Sprache kommende Ungebundenheit oder Unbestimmtheit geht. Bei Ryōkan wird sie eigens durch das »durch nichts gebunden« und das Loslassen ausgedrückt. Bei Benn steht sie »am Ende der Reise« von Anfang an durch das Verrinnen von »Erde und Wolke« im Hintergrund. Zugleich aber werden hier, anders als bei Ryōkan, Bindungen aufgezählt, die das frühere Leben bestimmten und deren Auflösungen zur Unbestimmtheit führen. Die Nennung der Bindungslosigkeit geschieht durch ausdrückliche oder unausdrückliche Negation: Laute, die nicht leise, sondern lärmend und störend sind; Farben, die ihre Besonderheit verloren haben, einander gleichen und ineinander übergehen, ohne spezifischen Ausdruck, ohne positive oder negative Assoziationen und Einordnungen; Richtungen, die keinen bestimmten Weg nahelegen, 215 https://doi.org/10.5771/9783495824092 .
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vielmehr gleichgültig werden, stummer Gegenstand des Lobes und der Klage in gleicher Weise. In einer Nivellierung von Himmel und Erde werden beide nichtig, verlieren ihr eigenes Gewicht bzw. scheinen es immer schon verloren zu haben. Was am Ende bleibt, wenn das vielfältige Alles in Eines zerrinnt, ist dies: »die Waage, sie ruht«. 8 Es gibt bei Benn wiederholt solche betonten Ruhe-Sätze oder Ruhe-Satzteile am Ende eines Gedichts, auf die das Zuvorstehende hinausläuft. 9 Der sich über drei Strophen hinwegspannende Wenn-Satz, findet seine Entsprechung oder Auflösung in der letzten Strophe, in der die ersten drei Zeilen das aus jenem Folgende gewissermaßen aufreißen, um es in der letzten Zeile in einem Schlußakkord betont auf den Punkt zu bringen und zugleich ausklingen zu lassen: »die Waage, sie ruht«. Dieser Schlußakkord bestätigt das zuvor Gesagte und widerspricht ihm zugleich. Das Viele, im Austausch Stehende und einander Gleichgewordene bleibt trotz der Gleichheit ein Vieles, Mannigfaches, es bleiben »die vielen Gewichte«. Doch – dieses »doch« erscheint fast nebenbei, beinahe unauffällig – doch die Waage ruht. Die vielen Gewichte sind im Gleich-gewicht, die Gegensätze bleiben ausgeglichen. Die Reise mündet am Ende in Ruhe. Ich denke, hier wird deutlich, daß zwischen der StimZur Waage vgl. oben S. 96, Fußnote 5. Auch wenn die Ruhe selbst nicht genannt zu werden braucht. Z. B. zeigt das »ruht« in dem Gedicht Stilleben, das im Ganzen inhaltlich, wenn auch nicht in der Stimmung, an Wenn dir am Ende erinnert, seinerseits ein gestilltes Ende an. Die letzte Strophe dieses Gedichts lautet:
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still ruht der See, vergißmeinnichtumsäumt, und die Ottern lachen.
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mung dieses Gedichts und dem Gedicht von Ryōkan ein gewisser Gegensatz besteht: Zwar gibt es weder in dem einen noch in dem anderen ein Bindendes, in beiden erscheint der Dichter von den Dingen und ihren vielfältigen Ansprüchen abgelöst. Aber nur Ryōkan hat selbst losgelassen. 10 Nur er gibt sich selbst in die »Launen des Windes«. So ist er frei wie eine dahinziehende Wolke, wie ein Vogel in den Lüften, wie ein Stern am Rand der Milchstraße – alles Bilder, die einem bei dem, der in Benns Sinne »am Ende der Reise« ist, nicht einfallen würden. Umgekehrt hat die Gleichheit des Austauschs, die Gleich-gültigkeit alles Begegnenden keinen Platz bei Ryōkan. Benns Wahrnehmung, daß alles gleich geworden ist, die im »die Waage ruht« gipfelt, führt zu so etwas wie einer abgeklärten und zugleich tapferen Resignation – »Sich irren und doch seinem Inneren weiter Glauben schenken müssen, das ist der Mensch, und jenseits von Sieg und Niederlage beginnt sein Ruhm.« (Drei alte Männer, 411) 11 Diese ReWährend man vielleicht bei Benn sagen könnte, die Dinge hätten ihn losgelassen, sogar verlassen. 11 Von ihr kann er sich wohl nur in seltenen Augenblicken freimachen: 10
Schöner Abend Ich ging den kleinen Weg, den oft begangenen, und diesen Abend war er seltsam klar, man sah ihn schon als einen herbstbefangenen, obschon es mitten noch im Sommer war. Die Himmelsblüte hatte weiße Dolden, die Wolken blätterten das Blau herab, auch arme Leute wurden golden, was ihrem Antlitz Glück und Lächeln gab. So auch in mir, — den immer graute früh her, verschlimmert Jahr um Jahr entstand ein Sein, das etwas blaute —
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signation ist durch nichts gebunden, aber sie ist nicht in dem Sinne frei, daß sie sich treiben lassen könnte wie eine Wolke. Die Gleichheit von allem geht so weit, daß das Einzelne in ihr verlorengegangen ist – und so auch die einzelne Begegnung, ihre Einzigkeit und ihr Glück. 12 Das Ende der Reise ist auch das Ende der offenen – sei es bitteren, sei es versöhnten – Auseinandersetzung mit den Dingen der Welt. Das Subjekt hat sich zurückgenommen aus der Konfrontation mit dem Objekt. Diese Entgegensetzung ist unerheblich geworden, insofern der Mensch und die Dinge seiner Welt in eine Gleichgültigkeit geraten sind. Am Ende der Reise geht es hier nicht um das, was Benn in Reisen als späte Erfahrung benennt: »stille bewahren das sich umgrenzende Ich«. Das Ich ist mit dem Verrinnen von Erde und Wolke so nichtig geworden wie diese: »Austausch alles und gleich«. Ryōkans Gedichte atmen bei aller Ungebundenheit die Freude am Jeweiligen, an den sogenannten »kleinen Dingen«: Wilde Pfingstrosen, Jetzt auf dem Höhepunkt Ihrer herrlichen vollen Blüte: Zu kostbar, sie zu pflücken, Zu kostbar, sie nicht zu pflücken. 13
und eine Stunde ohne Trauer war. Unnötig zu betonen, daß sich diese Aussagen auf das vorliegende Gedicht beziehen. Zwar wird die Resignation mit Recht als charakteristisch für den späten Benn angesehen, doch gibt es eine Vielzahl von Gedichten, die die positive Bedeutung zeigen, die die Dinge, z. B. die Blumen, für ihn hatten, – und sei sie auch wehmütig gestimmt. 13 Alle Dinge sind im Herzen, 77. 12
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Das ist keine nivellierende Gleich-gültigkeit dem Begegnenden gegenüber. Das Loslassen ist kein affekt- und responsfreies bloßes Geschehenlassen. In der berühmten Geschichte vom Ochsen und seinem Hirten endet die Erzählung von dem Suchen und Finden des wahren Selbst nicht mit dem alles lösenden Eingang ins allumfassende Nichtsein (8. Stufe), sondern mit der Rückkehr auf den Markt: »Mit entblößter Brust und nackten Füßen kommt er herein auf den Markt. […] Ohne Geheimnis und Wunder zu bemühen, läßt er jäh die dürren Bäume erblühen.« (a. a. O., 49) Das Pflücken und das Nicht-Pflücken der Pfingstrosen sind gleich möglich, wie sie auch gleich unwichtig und gleich wichtig sind. Hier gibt es kein SubjektObjekt-Verhältnis. Doch bedeutet das keine Nivellierung, sondern Zugehörigkeit und Zusammen-spiel. Ryōkan überläßt sich den Launen des Windes – wie könnte er sie zu seinem Objekt machen, ohne damit sein Spiel aufzugeben?
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