Wohnen als Weltverhältnis: Eugen Fink über den Menschen und die Physis 9783495820520, 9783495491232


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Inhalt
Vorwort
Literatur
Natur
Yusuke Ikeda: Eugen Finks transzendental-phänomenologisches Weltdenken und seine Heraklit-Interpretation unter besonderer Berücksichtigung des Begriffs der Physis
Einleitung
1. Finks »ur-apriorisch-transzendentale These von der Welt«
2. Der Ausweis von Finks »transzendentaler These von der Welt« in seiner Heraklit-Interpretation
3. Finks Deutung von Heraklits Fragment B 123: Übergang zur phänomenologischen These von der Welt
4. Finks »phänomenologische These von der Welt«. Das Scheinen der Welt und ihr Widerschein im Binnenweltlichen, vor allem im Menschen
5. Finks Heraklit-Kritik in Ansehung der Ergründung der Widerschein-These
6. Finks Ergründungsversuch der Widerschein-These: seine »Nähe und Distanz« zu Heidegger
7. Finks Phänomenologie des Wachens und Schlafens
8. Finks Auflösung der Schwierigkeit und seine Transformation der Phänomenologie
Ausblicke – Nähe und Distanz
Literatur
Giovanni Jan Giubilato: Vom Sinn der Erde
1
2
Literatur
Cathrin Nielsen: Die Chiffren des Mythos
1
2
Ödipus und Teiresias
Orpheus
Odysseus
3
4
Literatur
Freiheit
Nicola Zippel: Geistige Natur, natürlicher Geist: Der unmögliche Dualismus
Einleitung
1. Phänomenologisches Zeitbewusstsein
2. Finks Beitrag zum phänomenologischen Zeitbewusstsein
3. Das Ich und seine zeitliche Natur: eine bedingte Freiheit
Schluss
Literatur
Georgy Chernavin: Die flimmernde Natur der Doxa
I. Die Schwebe zwischen »Habe« und »Prätention«
II. Das »Flimmern« des Doxischen enthüllen
1. Das Flimmern der Zustände: Gefangenschaft/Befangenheit
2. Das Flimmern der Tendenzen: Versunkenheit/Erwachen zum Staunen
3. Das Flimmern der Perspektiven: Benommenheit/Entkommensein
Literatur
Giulia Cervo: Das Menschenwesen als endliches Schöpfertum
1. Die Arbeit als Medium von Natur und Freiheit
2. Die Entmenschung und ihre Bedeutungen
3. Die Arbeit als Befreiung der Freiheit und deren Scheitern
4. Die Zeit der »entfesselten Produktion«. Das Wesen der Herstellung als ›meontisches‹ Weltverständnis
Literatur
Welt
Anna Luiza Coli: Tantalus und die kosmologische Dialektik
Einleitung
1. Die Verkehrtheit der traditionellen Konzeption der Ontologie
2. Kosmologie als Ontologie und der tantalide Mensch
3. Ens cosmologicum und Bildlichkeit
Schlussbemerkung
Literatur
Hans Rainer Sepp: Exzentrisch wohnen
I. Wohnen als Weltverhältnis
II. Drei Anmerkungen
Literatur
Tatiana Shchyttsova: »Der Zug der Welt«
1. Das Phänomen der Erziehung im Lichte des Begriffspaars Leben – Existenz
2. Der heilende Kreis des Mitleids und der Neugier
3. Hokuspokus. Der Schlussteil
Literatur
Krystof Kasprzak: Absolute Incomprehension as Meontic Singularization in Eugen Fink’s Critique of Hermeneutics
Introduction
1. The Impenetrability of Absolute Incomprehension
2. Absolute Incomprehension and the Meontic
3. Hermeneutical Experience and Absolute Incomprehension
4. Absolute Incomprehension as Singularization
Works Cited
Karel Novotný: Die Welt und das Ereignis des Erscheinens
Einleitung
1. Der Monismus der Welt im Kontext
2. Das Ereignis des Fremden: die Subjektivität
3. Ereignis und Erde bei Fink
Schluss
Literatur
Die Autorinnen und Autoren
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Wohnen als Weltverhältnis: Eugen Fink über den Menschen und die Physis
 9783495820520, 9783495491232

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Cathrin Nielsen Hans Rainer Sepp (Hg.)

Wohnen als Weltverhältnis Eugen Fink über den Menschen und die Physis

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495820520

.

B

Cathrin Nielsen / Hans Rainer Sepp (Hg.) Wohnen als Weltverhältnis

ALBER PHILOSOPHIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Cathrin Nielsen / Hans Rainer Sepp (Hg.)

Wohnen als Weltverhältnis Eugen Fink über den Menschen und die Physis

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Cathrin Nielsen / Hans Rainer Sepp (Eds.) Dwelling as Relationship to the World Eugen Fink on Human Being and Physis Eugen Fink’s cosmological thinking passes the European understanding of a domination of the spirit over nature. In contrast, Fink, referring back to ancient physis, defines man’s worldly living, his dwelling, as a way of existing that encompasses both the relation to nature and the dimensions of freedom. Therefore, man exists as a relationship that lives in agreement with elementary processes as well as being open to form his or her own self. The studies in this volume clarify this redefinition of the human being in the tension between nature and freedom and draw a bow from Fink’s early work to his later writings.

The Editors: Cathrin Nielsen lives as an author and copy editor in Frankfurt am Main. Hans Rainer Sepp teaches philosophy at the University of Prague and is director of the Central European Institute of Philosophy there. Both are founders and co-editors of the Eugen Fink Complete Work Edition.

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Cathrin Nielsen / Hans Rainer Sepp (Hg.) Wohnen als Weltverhältnis Eugen Fink über den Menschen und die Physis Das kosmologische Denken Eugen Finks verabschiedet sich vom europäischen Verständnis eines Herrschaftsverhältnisses des Geistes über die Natur. Demgegenüber bestimmt Fink im Rückbezug auf die antike Physis das welthafte Sein des Menschen, sein Wohnen, als eine Existenzweise, die Naturbezug und Dimensionen der Freiheit in sich schließt. Demzufolge existiert der Mensch als ein Verhältnis, das sowohl im Einverständnis mit Elementarvorgängen lebt als auch offen für seine Selbstgestaltung ist. Die Beiträge klären diese Neubestimmung des Menschen in der Spannung von Natur und Freiheit und schlagen einen Bogen von Finks frühem Werk bis hin zu seinen späteren Schriften.

Die Herausgeber: Cathrin Nielsen studierte Philosophie, Ältere Germanistik und Musikwissenschaft in München, Berlin und Tübingen. Promotion mit einer Arbeit zu Heidegger. Sie ist lebt als Autorin und Lektorin in Frankfurt am Main. Hans Rainer Sepp ist Professor für Philosophie an der Karls-Universität Prag und Direktor des dortigen Mitteleuropäischen Instituts für Philosophie. Beide sind Begründer und Mitherausgeber der Eugen Fink Gesamtausgabe.

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Der vorliegende Band wurde am Středoevropský institut pro filosofii (SIF) der Univerzita Karlova v Praze, Fakulta humanitních studií vorbereitet. Er entstand im Rahmen des Forschungsprojekts »Philosophical Investigations of Body Experiences. Transdisciplinary Perspectives«, das von der Grant-Agentur der Tschechischen Republik gefördert wurde (GAČR P401/10/1164). Seine Publikation wurde mit Mitteln dieses Projektes ermöglicht.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck //SW_JUA_11-PC/sw/alber/2019/sepp4/978-3-495-82052-0.pdf

Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49123-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82052-0

https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Ronald Bruzina zum Gedächtnis

https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cathrin Nielsen und Hans Rainer Sepp

11

Natur Yusuke Ikeda Eugen Finks transzendental-phänomenologisches Weltdenken und seine Heraklit-Interpretation unter besonderer Berücksichtigung des Begriffs der Physis . . . . . . . . . . . .

15

Giovanni Jan Giubilato Vom Sinn der Erde Eugen Finks kosmologische Auslegung der Dichtung von Cesare Pavese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

Cathrin Nielsen Die Chiffren des Mythos Fink liest Cesare Pavese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

Freiheit Nicola Zippel Geistige Natur, natürlicher Geist: Der unmögliche Dualismus

.

77

Georgy Chernavin Die flimmernde Natur der Doxa Zwischen Gefangenschaft und Durchbruch der Befangenheit . .

90

9 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Inhalt

Giulia Cervo Das Menschenwesen als endliches Schöpfertum Natur im Kontext von Arbeit und Freiheit . . . . . . . . . .

102

Welt Anna Luiza Coli Tantalus und die kosmologische Dialektik Bildhaftigkeit der ontologischen Erfahrung des Menschen als ens cosmologicum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

Hans Rainer Sepp Exzentrisch wohnen Anmerkungen zu Finks Bestimmung des Menschen als eines Verhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

142

Tatiana Shchyttsova »Der Zug der Welt« Erziehung und Heilen im Miteinandersein von Alt und Jung . . .

162

Krystof Kasprzak Absolute Incomprehension as Meontic Singularization in Eugen Fink’s Critique of Hermeneutics . . . . . . . . . . .

180

Karel Novotný Die Welt und das Ereignis des Erscheinens Bemerkungen zu einem zeitgenössischen kosmologischen Ansatz

201

Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

10 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Vorwort

Der vorliegende Band ist der dritte einer Reihe von aktuellen Forschungen zu Eugen Fink, die im Verlag Karl Alber die dort seit 2006 erscheinende Gesamtausgabe der Werke Finks begleiten. Nachdem sich der von Annette Hilt und Cathrin Nielsen herausgegebene Band Bildung im technischen Zeitalter (Hilt u. Nielsen 2005) Finks Philosophie der Erziehung im Kontext seines Gesamtwerks gewidmet und die von Cathrin Nielsen und Hans Rainer Sepp edierte Publikation Welt denken (Nielsen u. Sepp 2011) die zentrale, kosmologische Problematik von Finks Denken in den Blick genommen hat, untersuchen die Beiträge dieses Bandes, wie die thematischen Facetten, die Finks Werk strukturieren, in seiner Kosmologie verankert sind. Der dabei leitende Aspekt ist das Thematischwerden der binnenweltlichen, auf ihre Welthaftigkeit hin eröffneten existenziellen Situation des Menschen, die Fink als Wohnen, als Aufenthalt des Menschen auf der Erde, charakterisiert. Solches Wohnen weist eine kosmische Struktur auf, die Fink kosmologisch als Weltverhältnis bestimmt und hierfür auf einen Begriff des frühgriechischen Denkens, auf den der phýsis, zurückgreift, die als kósmos das »Seiende im Ganzen« benenne (vgl. Fink 1992, 64). Im Ausgang von diesem auf die Physis hin gedachten Begriff des Wohnens lässt sich zeigen, wie Fink das tradierte Verhältnis von Natur und Geschichte bzw. Natur und Freiheit kosmologisch reformuliert. Es lässt sich aber auch einsichtig machen, wie auf diese zentrale Bestimmung des Menschen als eines Weltverhältnisses, als ens cosmologicum (ebd. 77), die thematischen Gruppen von Finks Werk zurückbezogen sind und ihre spezifische Bedeutung erlangen: seine Anthropologie, seine Sozialtheorie und Philosophie der Pädagogik, seine Auffassung von der Rolle des Imaginativen als eines Ausdrucks der Welt vermittelnden medialen Kompetenz des Menschen und damit verbunden der Struktur des Selbstverhaltens, mit dem sich das Verhalten zur Welt im Horizont des Binnenweltlichen aktualisiert. Nicht zuletzt geht es auch um eine 11 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Vorwort

methodische Reflexion auf Finks kosmologische Analyse dieses protoreflexiven Verhaltens menschlicher Existenz. Die Beiträge dieses Bandes gliedern sich in drei Abteilungen, die mit Natur, Freiheit und Welt überschrieben sind. Der mit ›Natur‹ bezeichnete erste Abschnitt widmet sich Finks Bestimmung der Natur ›in uns‹ und ›außer uns‹. Natur wird hier in ihrer Spannung zum Selbstverhalten menschlicher Existenz thematisch, und zwar bezüglich des beides, Natur und Freiheit, übergreifenden Hintergrunds der kosmologisch aufgefassten Physis. Die Beiträge des zweiten Abschnitts fragen umgekehrt nach den Möglichkeiten und Grenzen der Freiheit angesichts ihres Gebundenseins an das Naturhafte; sie zeigen, wie Fink die traditionelle dichotomische Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Geist umformt und den Menschen als »Mittler« bestimmt, der mit seiner Existenz die Spannung der Pole von Natur und Freiheit austrägt; sodann welche Rolle der Arbeit im Prozess des Selbstverhaltens zukommt und worin der philosophischen Radikalisierung des Selbstverhaltens Grenzen gezogen sind. Der dritte Abschnitt widmet sich dem Bau von Finks kosmologischem Ansatz und geht im Rahmen der Weltlichkeit des Menschen der Frage nach, wie Selbstverhalten in Weltverhalten gründet und welche Perspektiven sich daraus für die soziale, »coexistentielle« Situation des Menschen und ihre Gestaltung und Veränderbarkeit ergeben. Den Abschluss bilden Überlegungen zum methodischen Vorgehen Finks, die untersuchen, inwiefern seine kosmologische Auffassung des Verstehens nicht mehr hermeneutisch, sondern meontisch angelegt ist, sowie ein Blick auf ein von Fink inspiriertes kosmologisches Denken der Gegenwart. In den Beiträgen dieses Bandes werden auch Finks fruchtbare Anknüpfungen an andere Denker thematisch, so bezüglich der philosophischen Tradition vor allem seine Auseinandersetzungen mit Heraklit, Platon, Kant, Hegel, Nietzsche, hinsichtlich der Phänomenologie mit Husserl und Heidegger – und mit Blick auf die aktuelle Rezeption von Finks Denken werden in Bezug auf das Werk von Marc Richir und Renaud Barbaras Strömungen der französischen Gegenwartsphänomenologie ins Licht gerückt. Der vorliegende Band geht auf ein Kolloquium zurück, das unter dem Titel »Erde – Wohnen – Natur. Eugen Fink über die physis des Menschen als ens cosmologicum« vom Mitteleuropäischen Institut für Philosophie der Karls-Universität in Villa Lanna, einem Tagungsort der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, im November 2015 12 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Vorwort

in Prag veranstaltet wurde. Wir danken allen Autorinnen und Autoren, die ihre Beiträge für diese Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben. Unser besonderer Dank gilt Lukas Trabert und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Verlag Karl Alber, die sich seit Jahren der Pflege und Verbreitung von Eugen Finks wissenschaftlichem Werk mit bewundernswertem Einsatz widmen. Schließlich sei dem Tschechischen Nationalfonds, der Grantová agentura České republiky (GAČR), gedankt, der sowohl das Kolloquium als auch die Drucklegung der Beiträge finanziert hat. Im Mai 2019 ist Ronald Bruzina, ein Pionier der Fink-Forschung, verstorben. In seiner Eigenschaft als Professor für Philosophie an der Universität Lexington in Kentucky hat sich Ronald Bruzina seit mehr als vierzig Jahren mit Finks Werk befasst und es in seinen Bezügen vor allem zu Husserl und Merleau-Ponty untersucht. Ihm ist insbesondere die sorgfältige Sichtung sowie wissenschaftliche Aufbereitung und Erforschung der zahllosen Notizen und Manuskripte zu verdanken, die der frühe Fink während seiner Zeit als Privatassistent Husserls in den Jahren von 1928 bis 1938 verfasst hat. Über diese für Finks Denkentwicklung so wichtige Zeit, die über Ursprung und Genese seines eigenen Denkens entscheidende Aufschlüsse gibt, verfasste Bruzina sein Standardwerk Edmund Husserl & Eugen Fink. Beginnings and Ends in Phenomenology, 1928–1938 (Bruzina 2004). Die bis dato unpublizierten frühen Texte Finks legte er im Rahmen der Eugen Fink Gesamtausgabe (EFGA) in zwei von vier geplanten Bänden der Öffentlichkeit vor (Fink 2006 und 2008). Leider konnte er die beiden weiteren Bände nur noch vorbereiten; ihre Fertigstellung hat dankenswerterweise Guy van Kerckhoven mit Unterstützung von Giovanni Jan Giubilato und Franceso Alfieri übernommen. Als ein Zeichen der Hochachtung und des Dankens sei dieses Buch Ronald Bruzina gewidmet. Prag, im Frühjahr 2019

Cathrin Nielsen und Hans Rainer Sepp

13 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Vorwort

Literatur Bruzina, R. (2004): Edmund Husserl & Eugen Fink. Beginnings and Ends in Phenomenology, 1928–1938, New Haven & London. Fink, E. (1992): Natur, Freiheit, Welt. Philosophie der Erziehung, hg. v. F.-A. Schwarz, Würzburg. – (2006): Phänomenologische Werkstatt. Teilband 1: Die Doktorarbeit und erste Assistenzjahre bei Husserl (EFGA, Bd. 3.1), hg. v. R. Bruzina, Freiburg/München. – (2008): Phänomenologische Werkstatt. Teilband 2: Die Bernauer Zeitmanuskripte, Cartesianische Meditationen und System der phänomenologischen Philosophie (EFGA, Bd. 3.2), hg. v. R. Bruzina, Freiburg/München. Hilt, A. u. C. Nielsen (Hg.) (2005): Bildung im technischen Zeitalter. Sein, Mensch und Welt nach Eugen Fink, Freiburg/München 2005. Nielsen, C. u. H. R. Sepp (Hg.) (2011): Welt denken. Annäherungen an die Kosmologie Eugen Finks, Freiburg/München 2011.

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Eugen Finks transzendental-phänomenologisches Weltdenken und seine HeraklitInterpretation unter besonderer Berücksichtigung des Begriffs der Physis 1 Yusuke Ikeda Im Folgenden wird die späte Philosophie Finks als transzendental-phänomenologisches Weltdenken bestimmt, das eine fundamentale Revision des Begriffs des Phänomens sowie der (transzendentalen) Phänomenologie Husserlscher und Heideggerischer Provenienz vornimmt. Um den philosophischen Anspruch dieses Denkens systematisch darzulegen, wird Finks Interpretation von Fragmenten Heraklits, in denen Fink einen wesentlichen Leitfaden findet, um seinen eigenen Welt- und Phänomenbegriff zu entwickeln und zu erproben, unter zwei Aspekten herangezogen: Zum einen legt Fink Heraklits PhysisBegriff als Welt aus, die als Ursprungsdimension des Seins der ontologischen Differenz vorausgeht und ihr zugrunde liegt, und zum anderen betont Fink, dass schon Heraklit die Erscheinungsweise der als Welt verstandenen Physis als Entzug oder Verbergung erkannte. In diesem Zusammenhang wird die Transformation des Phänomenbegriffes ersichtlich, die Finks phänomenologische Analyse des Spiels bewirkt hat, und man kann deutlich sehen, inwiefern Fink in Nähe und in Distanz sowohl zu Husserl als auch zu Heidegger steht.

Einleitung In diesem Beitrag möchte ich Finks Denken, das sich als »kosmologische Phänomenologie« charakterisieren lässt, von seinem philosophischen Anspruch her möglichst systematisch rekonstruieren, wobei ich seine phänomenologische Heraklit-Interpretation in den Mittelpunkt stelle. Denn auf ihrer Basis gelingt es Fink, eine Transformation des Begriffs des Phänomens sowie der Phänomenologie durchzuführen, die in sein eigenes Weltdenken mündet. Von hier aus lassen sich zudem seine Nähe und Distanz nicht nur zu Husserl, son1 Dieser Forschungsbeitrag wurde von der Grant-Agentur KAKENHI (Japan Society for the Promotion of Science) gefördert (16J04511).

15 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Yusuke Ikeda

dern auch zu Heidegger nachvollziehen – eine zusätzliche Pointe, auf die ich im Schlussteil meines Beitrages kurz eingehen werde. Das folgende Zitat kann einen Leitfaden für unsere Aufgabe bilden, da es eine prägnante Formulierung zweier Grundansätze von Finks Weltdenken impliziert: (a) »Die Welt ist uns viel tiefer und viel ursprünglicher vertraut als jedes gegenständliche Apriori. Wir wissen um sie, bevor wir sozusagen um das Daß-sein und Was-sein und Wahrsein von Seiendem apriori wissen; Wissen um Welt ist das Ur-Apriori; um Welt und Sein wissen ist das innerste Licht unseres Verstehens. Im Licht des Verstehens von Sein selbst und Welt erst kann es selbstverständliches Wissen um die apriorischen Strukturen von Seiendem geben.« (b) »Die Vertrautheit mit Welt ist schlechthin nicht überbietbar; sie ist die ursprünglichste […]. Der Ort des Ursprünglichen aber liegt nicht in der Reichweite des zur Verfügung stehenden Wortes. Das, was wir im Tiefsten unseres Wesens kennen und womit wir auf eine unsägliche Weise vertraut sind, verhüllt sich, »liebt es, sich zu verbergen«, physis kruptesthai philei ([Heraklit] Fr. 123). Die Welt aber verbirgt sich nicht in der Weise, daß sie gleichsam als dunkle undurchdringliche Grenze am Feld des Übersichtlichen auftaucht; im Gegenteil, sie verbirgt sich so, daß sie dem Binnenweltlichen das Feld räumt, daß sie dieses vordrängen läßt; sie verdeckt sich durch den Vordrang des binnenweltlich-Seienden. Sie hat die Weise des Entzugs.« (Fink 1990, 195)

Fink umreißt seinen Weltbegriff also ausdrücklich unter zwei Perspektiven, einerseits (a) unter einer »ur-apriorischen« oder gleichsam transzendentalen Perspektive, andererseits (b) unter einer phänomenologischen. Nach (a-1) kommt der Welt nämlich die »ur-apriorische« Funktion zu, das jeweilige »binnenweltliche« Seiende in seinem Apriori zu ermöglichen, indem sie »das Feld räumt« oder die Dinge als Binnenweltliches »vordrängen lässt«. Auf diese Weise wird die Welt bei Fink als ur-apriorische ›Bedingung der Möglichkeit‹ des jeweiligen Seienden ausgelegt. (a-2) Die Welt transzendiert somit das jeweilige binnenweltliche Seiende. Insofern man unter transzendentaler Forschung zum einen (global) den philosophischen Aufweis der Bedingungen der Möglichkeit von etwas versteht, zum anderen in der spezifisch phänomenologischen Tradition nach der Möglichkeit und Legitimität von »Transzendenz« fragt, sei es mir gestattet, Finks Weltdenken als gleichsam transzendentales zu charakterisieren. 2 Die allgemein geteilte (und daher formale) Bestimmung der spezifisch phänomenologischen »Transzendentalphilosophie« scheint eben darin zu liegen, das Problem der

2

16 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Eugen Finks transzendental-phänomenologisches Weltdenken

(b) Im Allgemeinen versteht man unter einer »phänomenologischen« Analyse jene philosophische Untersuchung, deren Aufgabe es ist, die Erscheinungsweise der jeweils aufzuklärenden »Sache selbst« deskriptiv festzustellen. Eben unter dieser Perspektive nimmt Fink ausdrücklich Rekurs auf Heraklits Begriff der physis, d. h., er legt die Erscheinungsweise der Welt phänomenologisch als »Entzug« aus, als etwas, das »sich zu verbergen liebt«. Auch wenn ich in meinem Beitrag vor allem diese zweite, d. h. phänomenologische These von der Welt bei Fink ausführen möchte, muss die erste – die transzendentale – doch ebenso thematisch aufgewiesen werden, da Fink beide Ansätze in ihrer Einheit entfaltet. Obgleich er diese transzendental-phänomenologisch verdoppelte Konzeption seines Weltdenkens in jeweils ganz unterschiedlichen Zusammenhängen entwickelt, 3 werde ich mich aus den oben angedeuteten Gründen im Folgenden auf seine phänomenologische Heraklit-Interpretation konzentrieren.

Transzendenz aufzuwerfen. Diesen Gedanken vertritt nicht nur Husserl, der die Möglichkeit der »rätselhaft« gewordenen »Transzendenz« (Hua II, 32–34) oder diejenige der »Welt« gleichsam in ihrer Erkennbarkeit erforscht (vgl. Hua I, 64–65 u. ö.) und somit die Hauptaufgabe seiner »Erkenntnistheorie« in nichts anderem erblickt als darin, das »Problem der Transzendenz« aufzuklären (Hua I, 115), sondern auch Heidegger, der nach dem »Sinn von Sein« fragt, insofern dieses bei ihm ausdrücklich als »transcendens schlechthin« verstanden wird (SZ, 38). Daher bezeichnet Heidegger unmittelbar nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit sein ganzes Projekt als »transzendentale Wissenschaft« (GA 24, 23). In diesem Kontext lässt sich zusammenfassend sagen, dass es zwar in der Tradition der phänomenologischen Transzendentalphilosophie immer um das »Problem der Transzendenz« geht, das jeweilige Verständnis dieses Problems jedoch auseinandergeht: so etwa hinsichtlich der Transzendenz der objektiv und vernünftig erkennbaren Gegenstände (Husserl), des Seins qua »transcendens schlechthin« (Heidegger) und nicht zuletzt der »Welt« als »Urapriori« (Fink). 3 Diese beiden Leitmotive seines Weltdenkens lassen sich besonders deutlich in seiner phänomenologischen Kant-Interpretation erkennen. Siehe dazu Ikeda 2015 und 2020.

17 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Yusuke Ikeda

1.

Finks »ur-apriorisch-transzendentale These von der Welt«

Wie oben erwähnt, greift Fink den physis-Begriff Heraklits deshalb für sein Weltdenken bzw. die spezifische Erscheinungsweise der Welt auf, weil beide (sowohl die physis als auch die Welt) es »lieben, sich zu verbergen«. Jedoch thematisiert Fink die Welt zum einen unter dem Aspekt ihres »Ur-Apriori« oder »Maßes« (Fink 1990, 197), indem er sie als Trägerin oder Boden des »Maß[es] des Seins« (Fink 1985a, 99; Fink 1957, 49) denkt, dem jedes Seiende, sofern es Seiendes ist, untersteht. Sofern das Seiende sich als Seiendes zeigt, muss eine Differenz zwischen ihm und seinem Sein (die sog. »ontologische Differenz«) bestehen, und deren »Maß« bezeichnet Fink als die Welt (den Grund dafür nenne ich weiter unten). Zum anderen analysiert Fink dieses »Maß des Seins« in seinen jeweiligen Aspekten des »Raumes«, der »Zeit« und des »Erscheinens« (Fink 1990, 205). Denn diese »Dreifalt« (ebd.) bringe in der jeweiligen Weise das »Maß des Seins« notwendig mit sich: Wenn bspw. etwas einfach erscheint, kann man dann schon sinnvoll fragen, ob es ist oder nicht ist, soweit man rechtens annehmen kann, dass es prinzipiell immer offen bleibt, ob die jeweilige Erscheinung auf ein wirklich existierendes Seiendes (auf das »Sein«) verweist oder vielmehr auf nichts (auf das »Nicht-Sein«). So birgt die Tatsache des Erscheinens faktisch – und notwendigerweise – den Horizont des Seins oder besser den »Alternationshorizont von Sein und Schein« (Hua Dok II/2, 91) in sich. Dabei handelt es sich um einen Horizont, in welchem sich ein Gegenstand entweder als seiend oder als nicht-seiend ausweist. Fink charakterisiert drittens diese Problematik des »Alternationshorizonts (von diesem Entweder-Oder)« ausdrücklich als »Modalitätenproblem« (Fink 1959, 172 ff.): Wenn etwas einfach erscheint, untersteht es daher immer schon apriorisch – mit Heideggers Worten: in »apriorischem Perfekt« – einem solchen Horizont von Entweder-Oder bzw. »Maß des Seins«, d. h. einem Spielraum der Modalitäten. Weil man die jeweilige Modalität eines realen Seienden nur auf diese wirkliche Welt hin je sinnvoll aussagen und damit ausweisen kann (wenn man bspw. von seiner Traumwelt spricht, können diese angeblichen Aussagen keinerlei Wahrheitsanspruch erheben), stellt sich dieser Spielraum als nichts anderes dar denn als die Welt. Anders gewendet: Jeder wahre (oder falsche) Aussagesatz gilt als eine jeweils wahrhaftige (oder verfehlende, falsifi-

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Eugen Finks transzendental-phänomenologisches Weltdenken

zierende usf.) Beschreibung der einzigen Welt. 4 So erweist sich die Welt in ihrem dreifaltigen »Ur-Apriori« (»Raum, Zeit, Erscheinen«) als jeweiliger »Alternationshorizont«, innerhalb dessen wir erst um die Wahrheit (des jeweiligen Themas) streiten können. Die Welt ist daher als die normative Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit zu verstehen – ihr kommt somit eine spezifisch »transzendentale« Funktion zu. Diese »transzendentale These« lässt sich auch folgendermaßen ausweisen: Das »Sein« kann dem Seienden erst dann zugeschrieben werden, wenn, wie z. B. Kant beansprucht, das letztere »gesetzt« wird (Kant 1905, 73). Diese »Setzung« bzw. »Position« untersteht ihrerseits jedoch notwendigerweise der Verbindlichkeit der Welt, weil das, was gesetzt (als seiend ausgewiesen) werden kann, mit allen anderen »gesetzten« Seienden im Ganzen, d. h. mit der als »Inbegriff« verstandenen »Welt«, kompatibel sein muss. 5 Aus den genannten Gründen muss die folgende These als bereits ausgewiesen und als Grundansatz des transzendentalen Weltdenkens von Fink angesehen werden: Das Faktum des Erscheinens offenbart ursprünglich die Tatsache der Modalität, das Faktum, dass jedes Seiende nur auf die Welt hin modal bestimmbar, somit prinzipiell modalisierbar anzunehmen ist (siehe, Fink 1959, 187 ff.). Anders gewendet: Nicht, weil es das Seiende in indefiniter Mehrzahl gibt, sofern es einfach das jeweils Seiende ist, gibt es die Welt, sondern nur, weil es Welt gibt, kann es Seiendes geben. So hält Fink fest: »Die Wirklichkeit ist vor den wirklichen Dingen. Nicht weil es wirkliche Dinge gibt, gibt es Wirklichkeit (also nicht wie Farbigkeit), sondern weil Wirklichkeit ist, kann es wirkliche Dinge geben.« 6 Daher muss es die Welt geben, wenn etwas faktisch erscheint, oder der Welt kommt in ihrer Wirklichkeit eine spezifisch »hypothetische« oder besser »faktische« Notwendigkeit zu. Auf diesen Gedanken wird Fink immer wieder zurückkommen und ihn von neuem Im Gegensatz dazu scheint Heidegger im Wesentlichen der Ansicht zu sein, dass dem »Sein« die Wahrheit (d. h. eine aletheische Modalität) entspringt, die sich somit auf das Sein zurückführen lässt (vgl. GA 9, 134). Diese These wurde jedoch von Heidegger selbst später kritisiert und revidiert (GA 29/30, 488; vgl. auch Tengelyi 2014, 256). 5 Vgl. Fink 1959, 191 ff., 208 ff. u. ö. Daher sollte, so Fink, die Welt nicht als »Struktur des Allgemeinbegriffs (art-gattungshaften Gepräges)«, sondern als »Struktur des Inbegriffes« ausgelegt werden (Fink 1959, 193). 6 EFGA 3/2, 45, Z-VII, XVII/24b, 1930 in Chiavari. 4

19 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Yusuke Ikeda

erarbeiten. Später bezeichnet er diese »Wirklichkeit« ausdrücklich als »Weltwirklichkeit«. 7 Hier muss man jedoch noch ein weiteres mögliches Missverständnis abwehren: Finks Weltbegriff ist nicht im traditionellen Sinne als metaphysisch zu verstehen. Um dies zu zeigen, gilt es, die folgende Tatsache in Betracht zu ziehen: Finks Weltdenken impliziert offenbar keineswegs, dass, wenn etwas erscheint, dieses Erscheinende notwendigerweise ist oder sein muss (dies wäre eine Gleichsetzung von Erscheinung und Sein). Denn dieses Erscheinende bzw. Sich-Zeigende kann durchaus bloßer Schein sein (deshalb kann es auch nicht sein). Aus diesem Grund charakterisiert Fink die Welt wie gezeigt als »Alternationshorizont von Sein und Schein«, als einen normativen Horizont für das jeweilige Seiende. Die als »Alternationshorizont« verstandene Welt lässt sich daher weder als »transzendentales Ideal« im Sinne Kants noch als das »Absolute« in einem spekulativ-logischen Sinne verstehen, da weder der »Alternationshorizont« jenes »onto-theologische« Ideal sein kann, nach dem sich jedes Seiende in seiner vollen Realität bestimmen ließe, noch die Realität eines Seienden von den sog. »Transzendentalien« abgeleitet werden kann. Stattdessen eröffnet die Welt lediglich den (normativen) Hinblick, unter welchem sich zwar nichts als real-bestimmt ausweisen lässt, jedoch ein Seiendes bspw. in seinem Sein oder in seiner Zeitlichkeit allererst bestimmbar wird. Somit wird deutlich, dass Fink unter »Welt« keineswegs den erstrangigen bestimmenden Grund des realen Seienden oder das Prinzip dessen, was es überhaupt gibt, versteht. 8 Dennoch teilt er ebenso wenig die These Kants, der zufolge es die Welt »an sich« nicht gibt, da sie nichts sei als ein »focus imaginarius« (A644/B672), dessen »heuristischer« Wert gleichwohl für die menschliche Vernunft (rein subjektiv) von Nutzen sein soll. Fink zufolge gibt es die Welt faktisch-notwendig, eine Auffassung, die Kant gerade nicht teilen kann. Kant ist vielmehr der Ansicht, dass die Welt nur rein subjektiv für die menschliche Vernunft verbindlich

Siehe Fink 1958, insb. 1985b 105 u. ö. Vor dem Hintergrund dieses Missverständnisses behauptet bspw. François Dion, dass Finks »Kosmologie« heute – also nach der sog. »Kantischen kopernikanischen Wendung« – philosophisch nicht mehr durchführbar sei (Dion 2003, 95 ff.). Denn wir verfügten über keinen anderen erkenntnismäßigen, also philosophischen Zugang zu der als »Totalität der existierenden Dinge« verstandenen »Welt« (Kant) als den, dass die Welt »unser Erkenntnisvermögen« schlechthin transzendiert.

7 8

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ist; daher zielt sein »Weltbegriff« auf das, »was jedermann notwendig interessiert«. 9 Hier können wir bereits das Hauptanliegen von Finks HeraklitDeutung erahnen: Fink möchte die Heraklitische physis im Hinblick auf das dreifaltige »Ur-Apriori« der Welt (Raum, Zeit, Erscheinen) auslegen, welches sich als jeweiliges »Maß des Seins« darstellt. Dabei konzentriert er sich, wie ich im dritten Abschnitt ausführen werde, vor allem auf die beiden letzten Perspektiven in ihrem jeweiligen Bezug zum Sein: einerseits auf das Problem »Sein und Scheinen (bzw. Erscheinen)« (Fink 1985a, 174 ff.), andererseits auf den Problemkreis »Sein und Werden« oder »Sein und Zeit« (ebd. 184 ff.) 10.

2.

Der Ausweis von Finks »transzendentaler These von der Welt« in seiner Heraklit-Interpretation

Die oben angeführte »urapriorisch-transzendentale These von der Welt« versucht Fink in seiner Heraklit-Deutung sozusagen genetisch-geschichtlich aufzuweisen. Denn Fink zufolge gelangt die ganze Geschichte der Metaphysik platonisch-aristotelischer Provenienz zu einer »Weltvergessenheit« 11, welche eben die transzendentale Funktion der Welt verkennt. Um diese »Vergessenheit« formulieren zu können, nimmt er Rekurs auf Heraklit, der noch nicht in jenem metaphysisch-weltvergessenden Denken verhaftet sei. Kurz, Fink unternimmt einen philosophisch-geschichtlichen Rückgang zum Denken Heraklits, um zum einen den Ursprung der »abendländischen Metaphysik« dingfest machen, zum anderen, um der genannten »Weltvergessenheit« philosophisch entkommen und seinen eigenen Denkansatz etablieren zu können. Fink erkennt den – oder zumindest einen zentralen – Wesensgrund der »abendländischen Metaphysik« eben darin, dass sie das »Sein als Ursprung« annimmt (Fink 1985a, 178), wobei das Sein als das »Sein am Seienden«, als »Idee« oder »Dingheit« ausgelegt wird (ebd. 179), als, um mit Heidegger zu sprechen, »Seiendheit« am Sei-

A840/B868, siehe Ikeda 2020. Siehe auch Fink 1977, 258. 11 Diese »Weltvergessenheit« führt Fink freilich als ein ›Gegenprogramm‹ zu Heideggers »Seinsvergessenheit« an. Zur Differenz zwischen diesen beiden Formulierungen vgl. Ikeda 2020. 9

10

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enden. Vorläufig ohne expliziten Einbezug der hochkomplexen historischen Hintergründe fasst Fink die Sachlage folgendermaßen zusammen: Die »abendländische Metaphysik« wurde gestiftet, als eine »Wandlung« vom alltäglichen Leben hin zu einem spezifischen (d. h. abendländisch-metaphysischen) Stil des Philosophierens stattfand, in dem »wir uns vom Seienden wegwenden und an ihm das Sein erfassen« (ebd.). Gegen diesen abendländisch-metaphysischen Grundansatz formuliert Fink kritisch, dass dieser es nicht vermöge, seinen eigenen Ursprung philosophisch auszuweisen. Ausdrücklich sagt er, dass die »abendländische Metaphysik« »eine noch radikale Wandlung« erfahren müsse, wenn man nach der Ursprungsdimension ihrer Fragestellung fragt, nämlich nach jener Dimension, innerhalb derer erst »der Unterschied von Seiendem und Sein sich vollzieht« (ebd.). Diese Ursprungsdimension der sog. »ontologischen Differenz« ist mit der Welt im Sinne Finks zu identifizieren, da der »Unterschied von Seiendem und Sein« sich wie gezeigt nur dann vollzieht, wenn ein »Maß des Seins« bzw. ein »Alternationshorizont von Sein und Schein« – und somit die »Welt« als dessen Trägerin – für das jeweils Seiende verbindlich wird. Das bedeutet zugleich: Wenn es tatsächlich etwas gibt, hat sich die Welt notwendigerweise immer schon gegeben. So erweist sich die Welt als Ursprung der »ontologischen Differenz«. Die so verstandene Welt bezeichnet Fink jedoch zugleich als das »Offene«, in welchem das Seiende allererst zum Vorschein kommt. 12 Dieses »Offene« der Welt thematisiert er in seinem Aufgehen, und zwar anhand des Fragments B 64 von Heraklit: »Ta de panta oiakizei keraunos [das Weltall aber steuert der Blitz]«, welches zugleich den Ausgangspunkt seiner Heraklit-Deutung bildet. 13 Denn dieser »Blitz« offenbare selber die als das »Offene« verstandene Welt, indem er »das Weltall steuert«. Die Welt ist so das »Urereignis« (Fink 1990, 205), welches dem »Unterschied von Seiendem und Sein« deswegen notwendigerweise vorausgehe, weil kein Seiendes, an dem es das Sein abzulesen gelte, ohne Welt sein könne. Finks transzendentales Weltdenken vertritt somit die These, dass die sog. »kosmologische Differenz« der ontologischen ursprünglich vorausgeht. Aber wie lässt sich das oben genannte »Urereignis« der Welt als solches phänomenologisch beschreiben?

12 13

Vgl. Fink 1985a, 118, 178 ff. u. ö. Siehe z. B. Fink 1985a, 113; GA 15, 13 ff. u. ö.

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3.

Finks Deutung von Heraklits Fragment B 123: Übergang zur phänomenologischen These von der Welt

Genau in diesem Zusammenhang betont Fink, die Fragestellung dieser transzendentalen These von der Welt müsse in sich »die äußerste Wandlung« erfahren (Fink 1985a, 179). Diese könne erst dann wirklich vollzogen werden, »wenn wir den Gedanken Heraklits von der physis nachdenken« (ebd.). Dazu legt Fink Heraklits berühmtes Fragment B 123 aus: »physis kruptesthai philei (die Natur liebt es, sich zu verbergen)«. Seine Deutung impliziert vier Teilansätze: Erstens lehnt es Fink bereits im Voraus ausdrücklich ab, die »sich verbergende physis« mit einer »Verbergung, die dem Ontischen eigen« ist, gleichzusetzen. Denn unter Heraklits physis sei eben nicht ein spezifischer Teilbestand des Weltalls zu verstehen, 14 sondern, wie oben gezeigt, eben die Welt in sich. Die Welt verbirgt sich aber nicht in der Art, wie ein Seiendes sich verbirgt – dieses verbirgt sich z. B., wenn es »vergangen« ist und somit »abwesend« wird (ebd.).Weil das dreifaltige »Maß des Seins« jedes Seiende transzendiert, kann sich die Welt als seine Trägerin nicht auf dieselbe Weise verbergen wie das diesem Maß Unterstehende. Zweitens deutet Fink die physis als ermöglichenden Grund des sophon, d. h. des »Offenen«. Die so gedeutete physis selbst wird die »in sich verschlossene Tiefe des Seins« genannt (ebd.). Dieser »in sich verschlossene« Grund der physis ist aber nicht als eine Instanz zu interpretieren, die dem »Offenen« ontisch und innerzeitlich vorausgeht und dieses somit gleichsam kausal begründet. Denn physis und sophon sind in keiner Hinsicht zu trennen, sondern vielmehr »eins« (daher besteht zwischen ihnen keine substanzielle Differenz). Dabei legt Fink die physis als »Schoß der Nacht« (bzw. »Weltnacht«) und to sophon als »Licht des Tages« (bzw. »Welthelle«) aus, deren jede ja »eins ist« (ebd. 180). In den Worten Heraklits: »Lehrer der meisten ist Hesiod; von ihm sind sie überzeugt, er wisse am meisten, er, der doch Tag und Nacht nicht erkannte; ist ja doch eins« (Finks Übersetzung von Fragment B 57, ebd.). Ohne Nacht kommt der Tag nicht als Tag zum Vorschein, d. h. er kann sich nur im Unterschied zur Nacht als Tag darstellen. Daher sind sie notwendigerweise »eins«. Somit wird aber unter diesem »eins« keine Einheit »im Sinne des gleichförmigen Einerlei« verstanden (ebd.), sondern eben das Maß, nach 14

Fink 1957, 194 ff., Fink 1985, 178, siehe auch Nielsen 2011, 163 ff.

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welchem der Tag und die Nacht sich unterscheiden lassen. Mit anderen Worten: Der Unterschied zwischen beiden ist kein substanzieller, sondern (in Ermangelung eines anderen Ausdrucks) lediglich von sozusagen diakritischem Wert (Abhebungswert/valeur diacritique). 15 Drittens lässt sich dieser »diakritische« Unterschied gleichwohl phänomenologisch ausweisen. Der (vorläufig als »diakritisch« charakterisierten) Einheit/Differenz von Tag und Nacht liegt ihrerseits in einem spezifischen Sinne die Tatsache der Erscheinung zugrunde. Fink sagt: »Die Sonne scheint; das heißt doch nicht, sie ist nur anscheinend, sondern sie ist gerade in ihrem vollen wahrhaften Sein, wenn sie leuchtet, wenn sie scheint [d. h. wenn sie, um mit Fink zu sprechen, zum Vorschein kommt; Anm. Y. I.], – wenn sie heraustritt aus verbergenden Wolken oder aufgeht aus dunkler Nacht; alles aus der Verborgenheit Heraustretende muß scheinen, muß sich aussetzen in seinen Anblick, muß im Licht des Offenen stehen, in der weltdurchwaltenden Helle des sophon.« (Ebd. 177; Hervorh. Y. I.).

Die »Sonne« (bzw. der »Blitz«) offenbart die Tageshelle (die »weltdurchwaltende Helle des sophon«), d. h. das Offene in sich, indem sie blitzhaft die Nacht erleuchtet. Die Sonne scheint, indem sie das Offene als das Offene scheinen lässt. Dieses »Scheinen« ist aber nur als das »aus der Verborgenheit (wie aus Wolken oder dunkler Nacht) Heraustretende« denkbar. Die Sonne scheint, weil sie aus der Verborgenheit aufgehend zum Vorschein kommt und gekommen ist. Unter diesem aufgehenden »Leuchten« oder »Scheinen« soll daher nicht die Erscheinung im Sinne des »Anscheins« (Erscheinung des Vorstellbaren in seinem jeweiligen Apriori für den Menschen), sondern im Sinne des »Vorscheins« (»Zum-Vorschein-Kommens« des Erscheinenden überhaupt) verstanden werden. 16 Um das oben angeführte Ich nenne diesen Unterschied nur der Einfachheit halber »diakritisch«. Das heißt, es scheint mir im Wesentlichen eine noch offene Frage zu sein, wie diese urereignishafte – und daher ursprüngliche – Differenz präzise zu bezeichnen wäre. Auch der späte Fink scheint noch immer zu dem treffenden Begriff unterwegs zu sein; so legt er z. B. aus diesem Grund die Natur dieser eigentümlichen Unterscheidung in schroffem Kontrast zum Differenzbegriff im Deutschen Idealismus (besonders bei Hegel) dar (siehe GA 15, 169 ff.). Gelegentlich verwendet Fink den Ausdruck »zwiefältig-zwieträchtig«, um die »diakritische« Natur von Einheit/ Differenz von Himmel und Erde zu bezeichnen (Fink 1977, 320). 16 Zu Finks Unterscheidung dieser zwei Phänomenbegriffe siehe insb. Fink 1958, 92 ff. sowie Fink 1985a, 176 f. 15

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Zitat Finks zu paraphrasieren, könnte man sagen: Nicht weil der Mensch etwas sieht, wird alles erleuchtet, sondern weil die Sonne aus der Nacht der physis aufgehend scheint, wird dem Menschen etwas sichtbar und vorstellbar. Weil Fink das Seiende in seinem »Vorschein« somit ursprünglich begreifen will, versucht seine oben angedeutete interpretative These gleichsam nachzuweisen, dass sich Heraklits Problem tatsächlich unter dem Titel »Sein und Scheinen (Vorschein)« zusammenfassen lässt (ebd. 174 ff.). Folglich und viertens begreift Fink die (diakritische) Einheit einer solchen Ur-Unterscheidung (von Tag und Nacht) in der »Bewegtheit des Seins selbst« (ebd. 181). Denn: »[D]as Sein ist zugleich aufgehend ins Offene und sich verschließend in Verborgenheit; das Sein wirft aus sich zugleich den Raum der Helle und hüllt sich in Nacht; es ist ein einziges und unaufteilbares ›Geschehnis‹.« (Ebd.) Das »Maß« des Offenen und der Verborgenheit ist als das »unaufteilbare Geschehnis« zu verstehen, dessen wirkliches Sich-Ereignen das »Ur-Faktum« bzw. »Urereignis« des Erscheinens als solchen ist: Die oben genannte »diakritische Einheit/Differenz« manifestiert sich nur in ihrem Werden. Als Ur-Faktum muss dieses »Geschehnis« angesehen werden, weil es sich auf kein anderes Faktum mehr zurückführen lässt: Nicht, weil der Tag oder die Nacht an sich bestehen, gibt es die Welt als deren Einheit, sondern nur, weil jenes »eins« der Welt wirklich geschieht, kann man sinnvoll vom Unterschied zwischen Tag und Nacht sprechen. Weil diese diakritische Einheit/Unterscheidung beider ihrerseits immer schon dem Maß der Zeit notwendigerweise – d. h. ur-faktisch – untersteht (da die Unterscheidung von Tag und Nacht bereits die zeitliche Dimension mit sich bringen muss), stellt Fink zu Recht die These auf, das eigentliche Problem Heraklits trage den Titel »Sein und Werden« oder »Sein und Zeit«. 17

4.

Finks »phänomenologische These von der Welt«. Das Scheinen der Welt und ihr Widerschein im Binnenweltlichen, vor allem im Menschen

Anhand von Finks Deutung des Fragments B 123 lässt sich seine phänomenologische These von der Welt ausweisen, der zufolge die eigene Erscheinungsweise der Welt nichts anders sei als »Entzug«. Die als 17

Fink 1985a, 184 ff.; siehe auch Fink 1977, 258.

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ursprüngliche »dunkle Nacht« verstandene physis ereignet sich als jene, aus der heraus das »Offene« der Lichthelle des Tages (sophon) zum Vorschein kommt. Diese physis muss daher als das verstanden werden, was Fink den »phänomenologischen Ursprung« (EFGA 3/1, 219, Z-IV, 19b) des sophon nennt; denn die Nacht der physis kann insofern nicht »ontischer Ursprung« (ebd.) des sophon sein, als dass hierbei offenbar nicht »ontisch« festzuhalten ist, ob die Nacht dem Tag »innerzeitlich« vorausgeht. Vielmehr ereignet sich die physis als physis erst dann, wenn ihr die Tageshelle entsprungen ist (so sind sie ja »eins«). Dieses Ereignis (genannt »Urereignis«) ist somit das Geschehen des Maßes der Zeit in sich, dem unterstehend das Seiende allererst als Binnenweltliches »zum Vorschein kommt«. So ist das jeweilige Erscheinen des Seienden tatsächlich als »Widerschein« 18 dieses Urereignisses von physis/sophon auszulegen, sofern ohne ein solches Geschehen nichts zum Vorschein hätte kommen können. Die Welt und das Binnenweltliche sind somit ebenso »eins«, da sich kein Widerschein ohne ursprüngliches Scheinen zeigt. Auch der »Anschein« im Sinne der apriorischen Vorstellbarkeit ist als Widerschein der Welt zu verstehen. Denn auch der Mensch ist ein Seiendes unter anderen Seienden, die allererst innerhalb des Scheinens der Welt (Wechselspiel von Tag und Nacht) zum Vorschein kommen. Die Erscheinung jedes Seienden ist so tatsächlich als jeweiliger Widerschein der Welt anzusehen. Aber dieses ursprünglich-urereignishafte Scheinen der Welt selbst entzieht sich einerseits dem von der Welt »eingeräumten« Feld des Seienden (dessen Erscheinung jedenfalls dem Scheinen der Welt entstammt), wenn man nicht die Welt, sondern das Sein des Seienden metaphysisch als Ursprung ansetzt. Mit anderen Worten: Der Vorschein des Seienden muss ursprünglich vielmehr von dem zumeist übersehenen Scheinen der Welt her erkannt werden. Von diesem philosophischen Anspruch ausgehend formuliert Fink, wie angedeutet, seine Kritik an der abendländischen Metaphysik als »Dingontologie«, die von der Erscheinung der binnenweltlichen Dinge her das Sein auslegt und somit ihren »phänomenologischen Ursprung« – das ur-faktische Urereignis der Welt! – vergisst und vergessen hat. Daher diagnostiziert Fink, die »dingontologische«

Zum »Widerschein« als einem zentralen Begriff bei Fink siehe Fink 1957, 148, 182, 192; Fink 1958, 155; Fink 1985a, 106; EFGA 7, 162 f., 203 u. ö.

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Metaphysik gerate in die »Weltvergessenheit«. 19 Andererseits entzieht sich die nächtliche physis der Lichthelle des sophon, obgleich das letzte nur dann als sophon scheint, wenn es sich auf die kryptische physis – als seinen phänomenologischen Ursprung – zurückbezieht. Denn auch wenn das so verstandene sophon alles – ja das Weltall (ta de panta) – erleuchtet bzw. »steuert«, vermag dies Licht des sophon nicht, die Nacht restlos ausleuchtend zu vertilgen (würde das Licht die »Nacht« völlig erhellen, würde diese zum »Tag« und die Einheit/ Differenz von Tag und Nacht würde verschwinden). Wie gesehen, geht die physis nicht substanziell (d. h. »ontisch« und »innerzeitlich«) voraus, sondern ihr Unterscheid zum sophon ist nur in seinem Werden fassbar und somit von rein diakritischem Wert. In diesem Kontext übt Fink erneut Kritik an der Metaphysik, da diese die Tatsache des Erscheinens exklusiv vom Licht des sophon her deute und sich somit als »Lichtmetaphysik« erweise, welche die physis, die kryptische Erscheinungsweise der Welt übersieht. 20 Auch dies ist offenbar eine Art der philosophischen »Weltvergessenheit«, da sie die (»diakritische«) Spannung von sophon und physis verkennt.

5.

Finks Heraklit-Kritik in Ansehung der Ergründung der Widerschein-These

Auch wenn Finks phänomenologisches Weltdenken (seine phänomenologische Reflexion der Erscheinungsweise der Welt) entscheidend durch seine Heraklit-Interpretation bestimmt sein mag, so vermeidet er es dennoch nicht, zugleich Kritik an Heraklits Gedanken zu üben: »Aber Heraklit zeigt selber nicht, wie die physis der Ursprung aller Dinge ist.« (Fink 1985a, 180) Diese »Kritik« Finks kann man aber erst dann wirklich nachvollziehen, wenn man sie im Kontext seines Weltdenkens lokalisiert. Hier lässt sie sich in zweierlei Hinsicht verstehen. Zum einen soll jener ›Mangel‹ im Denken Heraklits eben deshalb erkannt werden, weil, solange der Bezug der physis zu ta panta nicht einsichtig gemacht werde, letztlich dunkel bleiben müsse, wie »der Blitz das Weltall steuert«. Denn insofern dieser »Blitz« selbst der physis – und zwar weder kausal noch substanziell, sondern »diakritisch« – entsprungen 19 20

Siehe Fink 1957, 194 ff.; Fink 1985, 178; Nielsen 2011, 163 ff. sowie Takeuchi 2011. Siehe, Fink 1970; EFGA 7 sowie Takeuchi 2011.

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ist, muss auch die physis in einem gewissen Sinne das Weltall steuern (da eben physis und sophon »eins« sind). Würde dieser Bezug nicht ausdrücklich erkannt, könnte Fink seine Kritik am dingontologischen Erscheinungsbegriff nicht begründen, da ja der Bezug des binnenweltlichen Seienden zur Welt – somit zu ihrem Ursprung, zur physis – seiner phänomenologischen Reflexion des Erscheinungsbegriffs zugrunde liegt. Das heißt, seine Kritik an der Dingontologie beansprucht, die Tatsache des Erscheinens nicht von dem erscheinenden Binnenweltlichen her, sondern umgekehrt das Erscheinen der Dinge von dem Scheinen (Vorschein) der Welt – und somit vom »Entzug« der physis – her auszulegen. Diese Ansetzung setzt jedoch voraus, dass das Erscheinen des Binnenweltlichen nur in seinem Bezug zum Scheinen der Welt voll auslegbar wird. Deshalb muss Fink irgendwie, und zwar anders als Heraklit, einsichtig machen, »wie die physis der Ursprung aller Dinge ist«. Zum anderen kann Finks Kritik an Heraklit in der folgenden Weise verstanden werden: Wenn der Bezug der physis zu ta panta nicht aufgewiesen wird, vermag man nicht hinreichend darzulegen, wie die endliche Natur des menschlichen Lichtens (der »Anschein« der apriorischen Vorstellbarkeit oder des Verstehens) sich zum alles steuernden Blitz (zum »Vorschein« des Urereignisses der Welt) verhält. Da das menschliche Dasein aber seinerseits als ein spezifischer Fall von ta panta verstanden werden kann, muss gezeigt werden, wie dieses spezifisch ›erleuchtende‹ Seiende sich zu der als »phänomenologischer Ursprung« des sophon verstandenen physis verhält. Sonst wäre das spezifisch menschliche Lichten nicht als Widerschein des »Blitzes« bzw. Weltlichtes zu begreifen, welches notwendigerweise »eins« mit der physis ist. Wenn dies nicht begründet würde, erwiese sich Finks Reflexion über die Welt in ihrer Tatsache des Erscheinens gleichfalls als nicht begründet und seine Kritik an der »Weltvergessenheit« der abendländischen Metaphysik wäre umsonst.

6.

Finks Ergründungsversuch der Widerschein-These: seine »Nähe und Distanz« zu Heidegger

In dem vorliegenden Beitrag behandle ich Finks Heraklit-Kritik nur unter dem zweiten Aspekt, weil Fink selbst seine Interpretation – anlässlich des gemeinsam mit Heidegger geleiteten Heraklit-Seminars (GA 15, 9 ff.) – vor allem unter dieser Perspektive ergänzend zu 28 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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vertiefen scheint. Denn hier unternimmt es Fink, das endliche und spezifisch menschliche Leuchten unter mehreren Hinsichten – besonders in Bezug auf das Fragment B 26, 21 in dem es um das Verhältnis (»Rühren«, haptestai) zwischen dem »Wachen«, dem »Schlafenden« und dem »Toten« geht – zu interpretieren (ebd. 205 ff.). Nach Fink handelt dieses Fragment von einer »Grundsituation«, nämlich der »Situiertheit des Menschen zwischen Nacht und Licht«. Diese menschliche »Situiertheit« lässt sich in ihrer Besonderheit aufweisen, wenn man erkennt, dass der Mensch, anders als andere Lebewesen und anders als die Dinge, »zu Nacht und Licht im Verhältnis steht und nicht von der Nacht und dem Dunkel überfallen wird«. Denn der Mensch ist das »dem Feuer affinite Wesen«, da er über die Fähigkeit verfügt, »Feuer und Licht hervorzubringen« (ebd. 206). Diese Fähigkeit ist aber selbstverständlich eine begrenzte im Vergleich zu derjenigen des »Tages« oder der »Sonne«, deshalb bezeichnet Fink sie als das »kleine Licht im großen Dunkel der Nacht« (ebd. 208). Der Mensch ist das Zwischenwesen, das »zwar Licht zünden kann, aber niemals so, dass es die Nacht völlig zu vertilgen vermag« (ebd. 208 f.). Fink kennzeichnet den Menschen daher als das »Zwischen-Tag-undNacht« (ebd. 213), »ausgezeichnet als lichtverwandtes Wesen, das aber zugleich im Verhältnis zur Nacht steht« (ebd. 210). Damit ist der Mensch jenes Wesen, das nicht nur dem Feuer, sondern auch der Nacht »affinit« ist. Dieses »affinite« Verhältnis entnimmt Fink dem Heraklitischen Wort »haptestai« und schlägt vor, es mit »rühren« zu übersetzen, welches jedoch kein »Betasten« bedeute, sondern ein Verhalten der »Angrenzung« (ebd.): »Wenn aber der Mensch über den Schlaf an den Toten rührt, so grenzt er nicht an den Toten an wie die Kreide an das Glas. Er rührt im Schlaf verhaltend an das Dunkle.« (Ebd. 211) Der Mensch als ›anzündendes‹ Wesen grenzt somit nicht nur an die anderen, nicht über das Feuer verfügenden Wesen, sondern zieht seinerseits einen Riss der Angrenzung zwischen Licht und Dunkel – er selbst ist der »phänomenologische Ursprung« jener diakritischen Einheit/Differenz. Heidegger nun tendiert in dem gemeinsam geleiteten HeraklitSeminar dazu, dieses Verhalten der »Angrenzung« als ein »offenstänIn der Übersetzung von Diels/Kranz lautet das Fragment: »In der Nacht entzündet der Mensch ein Licht für sich, sterbend, erloschen die Sehkraft; dennoch lebendig, entzündet er sich an dem Gestorbenen, schlafend, erloschen die Sehkraft; im Wachen entzündet er sich an dem Schlafenden.«

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diges Rühren«, als »Offenständigkeit« bzw. »Lichtung« zu charakterisieren, da man, um sich zu etwas in seiner Differenz zu den anderen verhalten zu können, für dieses immer schon »offen« sein müsse (ebd.). Er versteht das »Angrenzungsverhältnis« somit von dem Offenen her, welches Fink, wie wir oben gesehen haben, als sophon interpretiert. Zu der Deutung Heideggers tritt Fink nun ausdrücklich in Distanz, indem er ihn darauf aufmerksam macht, dass sich »der Mensch zugleich zum Offenen und zum bergenden Dunkel verhält« (ebd. 211). Auf diese Weise möchte Fink das »Angrenzungsverhältnis« nicht ausschließlich vom Offenen her, sondern von dem Zusammenspiel von Offenem (sophon) und Dunkel (physis) her auslegen. Er adressiert seine Kritik an der »Lichtmetaphysik« anders gesagt ebenso an Heideggers Seinsdenken 22 und bleibt es demnach schuldig, seinerseits das menschliche Verhalten zur Nacht vom Dunkel der physis her aufzuweisen. Daher sagt er: »Ich [Fink] möchte meinen, dass wir die Verborgenheit des Dunklen nicht nur aus dem Verhältnis der Lichtung des Da denken dürfen. Es besteht die Gefahr, dass man das Dunkle nur als Grenze des Offenstehens, als äußere Umwandung des Offenen versteht.« (GA 15, 211). Fink muss dieser »Gefahr« daher entkommen, da sein zentraler Denkansatz, wie oben dargelegt, darin gründet, das menschliche Lichten als verstehenden »Widerschein« des Zusammenspiels von sophon und physis auszulegen. 23 Die These vom »Widerschein« setzt ja voraus, sophon und physis in ihrer (diakritischen) Einheit zu verstehen; und um ihr »eins« als »eins« zu erkennen, reicht es nicht aus, das »Dunkle« einfach als »äußere Umwandung des Offenen« zu bestimmen. Fink muss also zeigen, dass und wie sich nicht nur das Verstehen des »Offenen« bzw. sonnenhaften sophon (was Heidegger »Offenständigkeit« nennt), sondern auch das menschliche »dämmerhafte Verstehen« (ebd. 215) der nächtlichen physis zum Urereignis der Welt (zum Zusammenspiel von sophon und physis) verhält. Dieses »dämmerhafte Verstehen« des Angrenzungverhältnisses scheint jedoch, wie Heidegger anmerkt, rein spekulativ postuliert zu werden. Fink versucht daher, seine These weiter zu ergründen – und

Vgl. Takeuchi 2011. »Der Mensch ist nicht nur dem Gegenspiel von Tag und Nacht ausgesetzt, sondern er kann es in einer besonderen Weise verstehen. Aber nicht die Vielen [inklusiv selbst Hesiod, Anm. Y. I.] verstehen es, sondern nur der, welcher das Verhältnis von hen und panta versteht.« (GA 15, 216)

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hier liegt der Kern der Originalität seines Denkens –, indem er eine »phänomenologische« Analyse von Wachen und Schlafen durchführt, um welche er sich übrigens seit der auf seiner Dissertation basierenden Erstlingspublikation wiederholend bemüht. 24

7.

Finks Phänomenologie des Wachens und Schlafens

Finks Grundüberlegungen hierbei sind folgende: 1. Im Phänomen des Schlafens (hier des Träumens) muss phänomenologisch eine spezifische Ichspaltung zwischen »schlafendem Ich« und »geträumtem Ich« als »intentionalem Ich« anerkannt werden. Denn nicht das »schlafende Ich«, sondern das »geträumte Ich (Traumweltich)« ist das Subjekt des Traumes, welches sich in der »Traumwelt« ein Licht anzündet (GA 15, 223). 2. Dagegen ist das traumlose Schlafen als eine »starke Versunkenheitsform des Menschen« auszulegen (ebd.). Der »Schlafende« ist so tief in die Welt »versunken«, dass er, soweit er schläft, kaum mehr für die Welt wach sein kann. Um Finks Erstlingsarbeit zu zitieren, ist die »Weltlosigkeit [des Schlafenden]« selbst »ein bestimmter Modus der Welthabe, ist die Welthabe im Modus der extremen Versunkenheit« (Fink 1966, 64). 3. So erkennt Fink zwischen dem Zustand des Wachens und dem des Schlafens keinen substanziellen Unterschied, sondern die phänomenologisch (diakritisch) artikulierbare Differenz der jeweiligen Modi der »Welthabe«. Legt man bspw. den wachen Zustand als aktuellen Vollzug von Intentionalitäten und entsprechend den (traumlos) schlafenden als völlige Privation derselben aus, gewinnt man den Eindruck, hier bestehe tatsächlich eine substanzielle Unterscheidung, da es kaum möglich zu sein scheint, den Übergang vom einen zum anderen – also eine Ableitung des Intentionalen aus dem Nicht-Intentionalen – philosophisch zu begründen. 25 Daher analysiert Fink die verschiedenen Modi der »Welthabe« (bzw. »Versunkenheit«). Weil sich ein Modus der »Welthabe« (z. B. des Wachens) in seiner Korrelativität mit einem anderen Modus (z. B. des Schlafens) bestimmen lässt und vice versa, kann der

Siehe Fink 1966, 54 f., 63 ff. So sieht sich der späte Husserl mit derselben Schwierigkeit konfrontiert, als er seinerseits eine phänomenologische Analyse des Schlafens vornimmt. Sein Lösungsansatz besteht darin, eine sehr spezifische »hyletische Affektion« ausfindig zu machen, die den Schlafenden aufwachen lassen könnte (siehe Hua XL, 9 ff.).

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Unterschied zwischen ihnen als kein substanzieller, sondern vielmehr als ein diakritischer aufgewiesen werden – im Wesentlichen sind sie »eins«. Und eben in dieser Weise rührt der Schlafende, so Fink in seiner Auslegung des Fragments B 26, an den Toten, weil sich beide Modi der »Welthabe« gleichsam als »starke« oder »extreme Versunkenheit« kennzeichnen lassen. In Finks eigenen Worten: »Zum Wachsein gehört die [als »diakritisch« zu kennzeichnende; Anm. Y. I.] Gegenspannung zum Schlaf. Der Schlafende aber rührt an den Tod. Der Schlaf ist die Weise des Versunkenseins und des Gelöstseins alles Vielen und Gegliederten. So gesehen kommt der Schlafende in die Nähe des Toten, der dem Bereich des Unterschiedenen der panta entgangen ist.« (GA 15, 214; Hervorh. Y. I.)

Dieses »in die Nähe-Kommen (anchibasie)« selber ist aber »eine Form der Annäherung, die nicht nur objektiv geschieht, sondern die einen dunklen Modus des Verstehens enthält« (ebd. 215). Oder einfacher formuliert: »[W]ir haben im Verstehen des Schlafes ein dämmerhaftes Verstehen des Totseins. In gewisser Weise gilt, dass Gleiches durch Gleiches und auch Ungleiches durch Ungleiches erkannt wird.« (Ebd.) In dieser »dämmerhaften« Art »rührt« der Schlafende an den Toten. Weil wir, die Wachenden, wiederum an den »Schlafenden« rühren, d. h. uns in einer »merkwürdigen Stellung« zwischen »Licht« (Wachsein) und »Nacht« (Schlafen) befinden, gehört auch die eben angeführte »Todbezogenheit« zum Verstehen des Wachenden. In diesem Sinne sagt Fink: »Der Wachende rührt an den Schlafenden und der Schlafenden an den Toten.« (Ebd. 212) Sofern ohne Unterschied zwischen Wachen und Schlafen keine modale Aussage gemacht werden 26 bzw., phänomenologisch gesehen, keine Intentionalität dafür konstitutiv fungieren kann, stellt sich das »Rühren« selbst nicht als intentionales Verhältnis dar, sondern vielmehr als der Boden des Intentionalen. Finks transzendentale Weltphänomenologie des Wachens und Schlafens (d. h. seine phänomenologische Analyse der jeweiligen Modi der »Welthabe«) weist somit deskriptiv auf einen Aufweis dieses Bodens der Intentionalität.

Erinnern wir uns an Heraklits Fragment B 89: »Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt, doch im Schlummer wendet sich jeder von dieser ab an seine eigene.«

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8.

Finks Auflösung der Schwierigkeit und seine Transformation der Phänomenologie

Anhand von Finks Phänomenologie des Wachens und Schlafens kann man bis zu einem gewissen Grad verdeutlichen, wie sich das menschliche »dämmerhafte Verstehen« der nächtlichen physis bestimmen lässt. Das Argument dafür ist m. E. in vier Schritten zu rekonstruieren. Erstens zeigt sich bereits, dass auch das menschliche »dämmerhafte« Verhalten des Wachenden, Schlafenden und Toten im Grunde »eins« ist: Die jeweiligen Modi der »Welthabe« lassen sich nicht substanziell, sondern nur diakritisch voneinander unterscheiden und artikulieren. Anders formuliert geht bspw. das Wachsein dem Schlaf nicht innerzeitlich bzw. binnenweltlich voraus, sondern sie sind vielmehr »eins« (und der Unterschied zwischen ihnen erweist sich somit als Verhältnis des »phänomenologischen Ursprungs«). Jedes als »Widerschein« des Scheinens der Welt verstandene menschliche Verstehen oder Verhalten (d. h. der jeweilige Modus der »Welthabe«) lässt sich analog der Einheit/Differenz von Tag und Nacht nur diakritisch beschreiben. Wenn aber der Satz gilt, dass »Gleiches durch Gleiches und auch Ungleiches durch Ungleiches erkannt wird«, kann Fink zweitens das menschliche widerscheinende »dämmerhafte Verstehen« der Einheit von Tag und Nacht durch das Affinitätsprinzip der Erkenntnis »Gleiches durch Gleiches« oder »Ungleiches durch Ungleiches« rechtfertigen. Demnach besteht, so können wir annehmen, zwischen dem Scheinen der Welt und dem Widerschein des Anscheins ein Affinitätsverhältnis. Stellt sich das menschliche »kleine Licht« somit in seiner Spiegelung des Weltlichts dar, erweist sich das erste als Widerschein des letzteren. Drittens muss man in diesem Kontext beachten, dass Fink dieses Affinitätsprinzip der Erkenntnis/des Verhältnisses in anderen Schriften – wie in Spiel als Weltsymbol – bekanntlich als »Symbol« konkretisierend weiter analysiert. Auf diese Darlegung kann ich hier nicht tiefer eingehen. 27 Entscheidend in diesem Zusammenhang ist jedoch die Herkunft des Ausdrucks »Symbol« aus dem griechischen symballein: »Das symbolon kommt von symballein, von ›zusammenfallen‹, und bedeutet einen Zusammenfall von Bruchstückhaftem Zu einer kurzen und prägnanten Erklärung von Finks Symbolbegriff vgl. Nielsen/ Sepp 2011, 10 f.

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mit seiner Ergänzung.« (EFGA 7, 122) Das Symbol ist in sich jener spezifische Teil, der notwendigerweise auf sein Ganzes verweist, und eben dieses Geschehen der Verweisung ist das, was Fink als »die Ergänzung durch das Ganze«, d. h. als die Ergänzung durch die Welt oder »das Licht der Welt« charakterisiert (ebd. 123). Dieses symbolisch ergänzende Verweisungsverhältnis stellt sich also als eine spezifische Art dessen dar, was ich in meinem Beitrag vorläufig als diakritische Einheit/Differenz (im Sinne des Heraklitischen »eins«) bestimme. Aber wie lässt sich diese spezifische Verweisung eines Teils auf das Ganze genauer charakterisieren und phänomenologisch beschreiben? Und nicht zuletzt möchte ich dieses symbolische Verweisungsverhältnis grundsätzlich als performatives kennzeichnen, da ja das Spiel – eines von Finks »Grundphänomen« – das performative Phänomen par excellence darstellt. Es gilt nämlich, in diesem Kontext die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass sich das »symbolische« Verhältnis des menschlichen »kleinen Licht[s] im großen Dunkel der Nacht« zum Wechselspiel von Tag und Nacht phänomenologisch beschreiben lässt, indem es, so Finks Grundthese, als Spielverhältnis ausgelegt wird: Der Mensch ist zwar der Spieler des menschlichen Spiels mit einem »kleinen Licht im Dunkel der großen Nacht«, dennoch wird er zugleich vom weltlichen Wechselspiel von Tag und Nacht (dem ›Spiel der Welt‹) gespielt, insofern das menschliche Spiel nur »im Dunkel der großen Nacht« der physis gespielt werden kann. Dessen Spieler – dem Menschen – muss somit notwendigerweise das »dämmerhafte Verstehen« der physis zueigen sein. Überdies müssen jedem Spiel zwingend gewisse Regeln zugrunde liegen, da erstens kein Spiel völlig chaotisch sein kann und zweitens das Spiel schlechthin, um Spiel sein zu können, Spielverderber nicht zulässt und zulassen kann. Als eine fundamentale Regel des »Weltspiels« kann man mit Fink und Heraklit das Wechselspiel zwischen Tag und Nacht (das »eins« von sophon und physis) ansehen, weil dieses, wie oben dargelegt, das für das jeweils Seiende verbindliche »Maß des Seins« – die ur-apriorische »Dreifalt« der Welt – ausmacht. Anders gewendet: Gerade weil der Mensch, wenn er z. B. mit einem »kleinen Licht« spielt, niemals das Gesetz des Weltspiels (das »Maß des Seins«) brechen kann, sondern ihm vielmehr notwendigerweise untersteht, kann man in den Regeln des menschlichen Spiels einen gewissen Widerschein des Weltspiels erkennen. Dieses sehr spezifische Spiel- bzw. Spiegelungsverhältnis von Menschen und Welt lässt sich deswegen 34 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Eugen Finks transzendental-phänomenologisches Weltdenken

phänomenologisch fassen, weil man dabei entsprechend den Vollzugsmodi der »Welthabe« die Welt in ihrem Erscheinen phänomenologisch beschreiben kann: Im jeweiligen Vollzug der Welthabe bekundet sich – wenn auch »dämmerhaft« – der Widerschein der Welt. Im Übrigen bezeichnet der frühe Fink jene spezifische »Korrelation« zwischen den Vollzugsmodi der Welthabe und der Welt in ihrem jeweiligen Erscheinen ausdrücklich als »Verweltlichung« bzw. »Mundanisierung«, die sich folglich als »Selbstverwirklichung der transzendentalen Subjektivität in der Weltverweltlichung« (Hua Dok II/1, 49) begreifen lässt. Ohne Unterscheidung der Zustände des Wachens und des Schlafens kann, wie dargelegt, keine Intentionalität für den Gegenstand in seinen Modalitäten konstitutiv fungieren. Genau deshalb bietet es sich an, das, was Finks transzendental-phänomenologisches Weltdenken beschreiben muss, als die in sich deskriptive Dimension des »phänomenologischen Ursprungs« zu betrachten, innerhalb derer die Intentionalität erst als Intentionalität aktuell und wirklich vollzogen werden kann. So lässt sich Finks »phänomenologische These« von der Welt folgendermaßen zusammenfassen: Der menschliche Widerschein von Tag und Nacht ist nicht anders denn als Weltsymbol des menschlichen Spiels (z. B. mit einem »kleinen Licht im Dunkel der großen Nacht«) zu fassen, dessen »Ganzes« die Welt in ihrer Einheit von sophon und physis ist. Das menschliche Verstehen kann dann phänomenologisch als »Widerschein« des Weltspiels ausgelegt werden, wenn man auch die Vollzugsmodi der »Welthabe« phänomenologisch analysiert, deren jeder zwar nur ein begrenzter Teil (Symbol) ist, der dennoch »dämmerhaft« auf sein Ganzes (auf die Welt als Zusammenspiel von sophon und physis) verweist. Diese »dämmerhafte« Verweisung ist in sich keine sog. »intentionale Verweisung«, sondern vielmehr ein phänomenologisch-artikulierbarer Modus der »Welthabe«, aufgrund deren die Tatsache der Intentionalität allererst einen Boden finden kann. Die »Welthabe« ist somit für die Intentionalität transzendental-verbindlich. Welt und Welthabe in ihrer Einheit (d. h. als »Verweltlichung«) sind daher der transzendentale und »phänomenologische Ursprung« des Intentionalen sowie der (ihm zugrunde liegenden) ontologischen Differenz.

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Ausblicke – Nähe und Distanz So zeichnet sich schon ab, worin Nähe und Distanz einerseits zwischen Fink und Husserl, andererseits zwischen Fink und Heidegger genauer bestehen. Zum einen muss hervorgehoben werden, dass Fink – zum Teil an der Seite Heideggers – das Grundphänomen der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls auf seine Ursprungsdimension, d. h. die Intentionalität auf die Welt, zurückführt (Finks Distanz zu Husserl). Dies geschieht jedoch nur teilweise an der Seite Heideggers. Denn zum anderen scheint sich Finks eigener Ansatz nicht einfach aus Heideggers Husserl-Kritik 28 und der in einigen Aspekten von hier ausgehenden Idee der Fundamentalontologie zu speisen, sondern vielmehr aus seiner eigenen phänomenologischkosmologischen Kant-Interpretation. 29 Dementsprechend ist Finks Grundbegriff auch die »kosmologische Differenz«, während Heideggers Grundbegriff die »ontologische Differenz« ist (Finks Distanz zu Heidegger). Dies bestätigt Fink ausdrücklich selbst: »Das Kosmologische denke ich [Fink] nicht von Heraklit, sondern eher von Kant her, und zwar von der Antinomie der reinen Vernunft.« (GA 15, 178) Weil Fink in dieser Weise kosmologisch ansetzt und ausweist, dass die Ursprungsdimension der sog. »ontologischen Differenz« von Sein und Seiendem nicht anderswo als in der Welt zu suchen ist, überholt seine »kosmologische Phänomenologie« kritisch die »Ontologie« metaphysischer Provenienz. 30 Dieser (teilweise auf Kant rekurrierende) Ansatz Finks scheint jedoch insofern bereits in seinem frühen Denken angelegt zu sein, als er schon 1930 seine oben ausgeführte Grundthese, der die Einsicht in die »kosmologischen Differenz« zugrunde liegt, formuliert hat: »Die [Welt-]Wirklichkeit ist vor den wirklichen [binnenweltlichen] Dingen.« 31 Genau in diesem Sinne kann man sogar ein mögliches Forschungsprojekt erahnen, in welchem zu zeigen wäre, wie sich der späte Fink nicht einfach (gleichsam Vgl. GA 20, 148 ff. Für den Überblick seiner Kant-Auslegung vgl. Lazzari 2011, Ikeda 2015 und 2020. 30 »Die Kosmologie überholt kritisch die Ontologie.« (Fink 1990, 185) In der Passage, aus der dieses Zitat stammt, diskutiert Fink ausführlich die »vor-kantische Metaphysik« (cosmologia rationalis), die in sich völlig »kosmologisch indifferent« bleibe (ebd.). Fink weist dort ausdrücklich nach, dass erst Immanuel Kant diese »kosmologische Indifferenz« gebrochen habe. Diese These vertritt Fink übrigens spätestens seit 1931 (siehe EFGA 3/2, S. 95, Z-IX, 14a. 31. 8. 1931). 31 EFGA 3/2, 45, Z-VII, XVII/24b, 1930 in Chiavari. 28 29

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Heidegger folgend) auf seine Heraklit-Interpretation konzentriert, 32 sondern bereits in seinem frühen Denken einen fruchtbaren Keim ausmacht, dessen Entfaltung Heideggers Seinsfrage kritisch überholen oder zumindest prüfen sollte. Gleichwohl wäre zurückzuweisen, dass Finks transzendental-phänomenologisch ansetzendes Weltdenken Heideggers Seinsdenken de facto überholt hat. Zudem ist bekannt, dass der »zweite Heidegger« selber ausdrücklich sein frühes Programm – das gewissermaßen in der Einsicht der »ontologischen Differenz« kulminiert, daher noch der »abendländischen Metaphysik« verhaftet sei – zunehmend kritisch zu überwinden sucht (nicht nur mit seiner »Seinsgeschichte«, sondern vor allem in seinem darüber noch hinausgehenden Ereignisdenken). So stellt sich Finks kosmologische Überholung der Ontologie als ein Weg dar, der zwar nicht mit Heideggers Konzeption gleichzusetzen ist, jedoch nicht zwingend inkompatibel mit ihr zu sein scheint. Obgleich »Fink« auf den ersten Blick von »Heidegger« abhängig zu sein scheint, gilt es doch, das Spezifische seines Programms in seinem Versprechen einer »kosmologischen Überholung der Ontologie« zu sehen, welches die (teilweise meta-)metaphysische Aufgabe seines transzendentalen Weltdenkens ausmacht. Aber nicht nur dies. Das Neue und Originäre von Finks Weltdenken liegt ebenso in seiner wesentlichen Verwandlung der Begriffe des Phänomens sowie der Phänomenologie. Gerade in diesem Zusammenhang kann man die unverzichtbare Rolle seiner Heraklit-Interpretation erkennen. Das heißt, Fink geht zwar von Kants antithetischer Formulierung des Weltproblems aus – von der kantischen Einsicht in die »kosmologische Differenz« –, aber er erkennt zugleich in der kantischen Auflösung der Antinomien (deren »Schlüssel« bekanntlich der »transzendentale Idealismus« ist) eine für Kant ausweglose Grenze: »Das von Kant so ursprünglich gestellte Problem der Welt ist von ihm selbst in der Sackgasse des Subjektivismus zu Ende gekommen.« (Fink 1990, 140) Dementsprechend lehnt der späte Fink einerseits den gleichsam »subjektivistischen« Ansatz der Husserlschen Phänomenologie ab,33 indem er (und zwar analog zu seinem frühen Denken) zeigt, dass die Tatsache der Intentionalität nur dann So legt Fink z. B. tatsächlich schon zwischen 1928 und 1929 Heraklits Fragment B 123 aus, wobei von der »Weise des Entzugs« der transzendentalen Subjektivität die Rede ist (Fink 2006, 320, Z-V, VII11b.). 33 Siehe bspw. Fink 1990, 146 ff. 32

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als ein Faktum, das für das Seiende in seiner jeweiligen Modalität konstitutiv ist, anerkannt werden kann, wenn die Welt als ihr Boden vorgegeben ist. Deren Erscheinungsweise bezeichnet er dennoch nicht als den subjekt-relativen »Anschein« (apriorische Vorstellbarkeit), sondern ausdrücklich als den weltlichen »Vorschein« (in der Unterscheidung dieser beiden Phänomenbegriffe – die ja seiner Heraklit-Interpretation nicht nur zugrunde liegt, sondern sie zugleich untermauert – kann man die fundamentale Differenz zwischen seinem frühen und seinem späten Denken erkennen). Daraus folgt andererseits jedoch nicht, dass Fink, wie Dion suggeriert, eine völlig »asubjektive« Phänomenologie des welthaften Vorscheins oder einen »naiven Naturalismus« bzw. »Realismus der Welt« verfolgt (Dion 2003, 96): Ein solcher Ansatz würde die scheinbar ausweglose Schwierigkeit mit sich bringen, philosophisch erklären zu müssen, wie man von dem A-Subjektiven das Subjektive ableiten kann, da man ja die Tatsache nicht verleugnen kann und darf, dass uns etwas Subjektives tatsächlich gegeben ist. Eine strikt a-subjektive Philosophie müsste demnach dafür verantwortlich zeichnen, das Faktum des Subjektiven philosophisch zu begründen. Vielmehr versucht Fink, so lässt sich zusammenfassend sagen, von Anfang an stets das Subjektive (Mensch) und das A-Subjektive (Welt) in ihrer (diakritischen) Einheit/Differenz zu denken. Weil sich Finks »Phänomenologie« des Wachens und Schlafens wie gezeigt als deskriptive Analyse des jeweiligen Modus der »Welthabe« bestimmen lässt, kann sein Weltdenken den urereignishaften Vorschein der Welt in seiner Korrelation zum menschlichen Verstehen phänomenologisch artikulieren – und genau dies ist Finks These, der zufolge das spezifisch menschliche Leuchten als »Widerschein« der Welt (das »eins« von sophon und physis) ausgelegt werden kann und soll. In diesem Kontext wird zudem die merkwürdige Tatsache offenkundig, dass sich Fink, anders als Heidegger, intensiv darum bemüht, die nächtliche Seite der Welt (physis) in dem menschlichen Widerschein (im »dämmerhaften Verstehen« der kryptischen physis) zu erkennen. Wie schon ausgeführt, markiert dies im Besonderen den Unterschied zwischen Heideggers und Finks Heraklit-Interpretation; wie Heidegger selber ausdrücklich bestätigt, muss seine Deutung notwendigerweise von dem logos-Fragment ausgehen und somit das Sein von dem Offenen des logos her verstehen (GA 15, 219 f.). Fink dagegen entwickelt immer einerseits pur oder keraunos, andererseits hen als das Grundwort Heraklits interpretierend sein eigenes »kosmologisches« Denken, wobei das menschliche 38 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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»dämmerhafte Verstehen« oder »Rühren« an der physis als Widerschein der Welt in seinem Modus der »Welthabe« phänomenologisch artikuliert wird. Weil Fink diesen Ansatz seinerseits in Gestalt seines Weltsymbolbegriffs sowie einer phänomenologischen Analyse desselben entfaltet und es dabei in Wahrheit um ein spezifisches Spielverhältnis geht, scheint mir eine wesentliche Aufgabe offen zu bleiben: Es gilt zu klären, wie und inwiefern man diesen »phänomenologischen« Ansatz Finks als eine Radikalisierung oder gar einen Abschied von Heideggers Seinsdenken – seinem Programm der »Fundamentalontologie« und »Metaphysik des Daseins« sowie der Besinnung über das Wesen des Dings und der Sprache als Ereignis – verstehen kann; noch radikaler gesagt gilt es, zu zeigen, inwiefern »Fink« phänomenologisch-kritisch »Heidegger« überholen könnte. Diese Frage ist für den vorliegenden Beitrag zweifellos zu groß geartet. Dennoch ist bereits deutlich geworden, dass sich Finks eigener Begriff von Phänomenologie weder auf Husserls noch auf Heideggers Verständnis von ihr restlos reduzieren lässt. Der Kern von Finks Beitrag zum phänomenologischen Denken im weiteren Sinne liegt eben in seiner Transformation des »Phänomenologischen« als solchen, die ihrerseits diejenige des »Transzendentalen« sowie »Kosmologischen« in sich birgt. Und eben hierin begründet sich mein Vorschlag, Finks Philosophie im Ganzen als transzendental-phänomenologisches Weltdenken zu bezeichnen.

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Eugen Finks transzendental-phänomenologisches Weltdenken – (2020): »Eugen Fink’s Transcendental Phenomenology of the World – Its Proximity and Distance in relation to Kant and to the late Husserl«, in: I. Apostolescu u. C. Serban (Hg.): Husserl, Kant and the Transcendental Phenomenology, Berlin (im Erscheinen). Kant, I. (1905): »Der einzige mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes«, in: ders.: Vorkritische Schriften II (Gesammelte Schriften [Akademie-Ausgabe], Bd. 2), Berlin, 63–163. – (1998): Kritik der reinen Vernunft hg. v. J. Timmermann, Hamburg. Lazzari, R. (2011): »Weltfrage und kosmologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft bei Eugen Fink«, in: C. Nielsen u. H. R. Sepp (Hg.): Welt denken. Annährung an die Kosmologie Eugen Finks, München/Freiburg, 38–56. Nielsen, C. (2011): »Kategorien der Physis. Heidegger und Fink«, in: C. Nielsen u. H. R. Sepp (Hg.): Welt denken. Annährung an die Kosmologie Eugen Finks, München/Freiburg, 154–183. Nielsen, C. u. H. R. Sepp (2011): »Welt bei Fink«, in: dies.: (Hg.), Welt denken. Annährung an die Kosmologie Eugen Finks, München/Freiburg, 9–24. Takeuchi, D. (2011): »Eugen Finks Kritik an der Lichtmetaphysik. Die Auseinandersetzung mit der Ontologie Heideggers«, in: Y. Nitta u. T. Tani (Hg.): Aufnahme und Antwort. Phänomenologie in Japan I (Orbis Phaenomenologicus Perspektiven N.F., Bd. 23), Würzburg, 78–87. Tengelyi, L. (2014): Welt und Unendlichkeit. Zum Problem der phänomenologischen Metaphysik, München/Freiburg.

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Vom Sinn der Erde Eugen Finks kosmologische Auslegung der Dichtung von Cesare Pavese Giovanni Jan Giubilato

In seinem letzten, im Wintersemester 1969/70 gehaltenen Seminar an der Universität Freiburg legt Fink eine herausragende philosophische Deutung des Hauptwerks von Cesare Pavese, Gespräche mit Leuko, vor. Paveses Werk kommt in Finks kosmologischem Denken eine wichtige – genauer eine epilogische – Stellung zu: In der Prosa der Gespräche begegnet Fink einem kosmologischen Dichter der Erde, in dessen Werk die Urmächte des menschlichen Lebens, die erdhafte Natur im Menschen und seine tragische Zerrissenheit zwischen Existenz und Natur, zwischen Freiheit und Passivität, eine vollkommene (und letzte) Darstellungsform finden. So ist es unentrinnbares Schicksal alles Irdischen, die ihm verliehene Zeitstrecke im Binnenweltlichen der Erscheinungen auszuleben und zu verzehren, bis es zuletzt erneut in den verschlossenen Grund, in die all-eine, vor-individuierte, vorphänomenale Dunkelheit eintaucht. Paveses lyrische Dichtung dient Fink mithin als hermeneutische Grundlage seiner Philosophie, die ein bloß regionales, naturwissenschaftliches Verstehen der Erde überwinden will und sie vielmehr als das In-sich-Verschlossene, als Verschlossenheit der φύσις, als den der Weltgelichtetheit entzogenen Urgrund des Seins, zu denken versucht.

1 Kein Philosoph unter seinen Vorgängern hat, so wundert sich Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik, in dem er seine Kritik an den wichtigsten vorplatonischen Philosophien detailliert vorbringt, die ἀρχή τῶν παντῶν, den Ursprung allen Seins, mit dem Element der Erde identifiziert (Met. A, 988b-989b). Das Wasser, die Luft und das Feuer haben ihre jeweiligen Vertreter z. B. in Thales, Anaximenes und Heraklit gefunden, dagegen habe sich niemand – so der Wortlaut des aristotelischen Textes – als ihr Interpret oder Verteidiger (κριτήν) für die Erde »eingesetzt«. Das Element der Erde blieb ohne einen Fürsprecher. Derselbe Ausdruck erscheint noch einmal identisch in sei42 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Vom Sinn der Erde

nem Traktat Über die Seele (405b, 8–10). Dennoch wird auch Aristoteles keineswegs für das einfachste der vier Elemente Partei ergreifen. Nach zweitausend Jahren Weltgeschichte hat die Erde noch für Hegel lediglich die Bedeutung einer geistlosen Materie, die des heliodromischen Ganges der Geistesfreiheit nicht teilhaftig ist. Das Wesen des Geistes (νοῦς), d. h. die Freiheit, strebe ihrer Natur nach auf ihr absolutes Zentrum zu, worin die Substanz der Materie (ὕλη, ein Wort, das im Altgriechischen bemerkenswerterweise auch den Wald bezeichnet) in der Idealität (εἶδος oder μορφῇ) aufgehoben werde. In Hegels Philosophie der Geschichte zeigt sich ein metaphysisch paradigmatisches Verhalten gegenüber der Erde, das als Folge der sogenannten Lichtmetaphysik des abendländischen »Platonismus« interpretiert werden kann und das somit für die philosophische Tradition maßgebend bleibt. Aus dieser traditionellen Auslegung der Freiheit als Herrschaft des Geistes über die unvernünftige Natur folgte eine allmähliche Ent-Sittlichung des Geistlosen, des unbelebten Naturhaften (Fink 1992, 100), welche zu der klassischen und mittlerweile für uns völlig selbstverständlichen Gegenüberstellung »Natur – Kultur« geführt habe. Für mehr als zweitausend Jahre hat also die rationalistische Tradition des Abendlandes die kalte, dürre Erde – das Rezeptakel der Materialität, der Sinnlichkeit, der niedrigsten Bestimmungen – im Vergleich zu den höheren edlen Bestimmungen des Geistes abgewertet und verlassen. Im 20. Jahrhundert, diesem vulkanischen und tragischen Zeitalter der Weltgeschichte, kommt die längst vergessene Unterlassung mit Blick auf die Erde mit dem Denken dreier »Großer« zu einem Ende. Diese sind Martin Heidegger, Carl Schmitt und Ernst Jünger. Man könnte ihre Werke als die letzten Ausläufer eines besonderen Gedankenguts in der Moderne lesen. Dieses würde von Plotin bis zum italienischen Neuplatonismus des Renaissance-Humanismus (dazu zählen Marsilio Ficino, Giordano Bruno und Pico della Mirandola, aber auch die alchemistischen Lehren des Paracelsus) reichen, später im Idealismus Schellings (hier sei vor allem an seine Weltalter erinnert) weiterleben und schließlich beispielsweise in dem historischen Roman Die schwarze Flamme von Marguerite Yourcenair erneut zum Ausdruck kommen. Für uns ist diese Denkschule deshalb von Bedeutung, weil sie sich einer dualistischen Konzeption des Menschen, die ihn von der Natur abtrennt, grundsätzlich widersetzt und dagegen eine gewisse Kontinuität zwischen Erde und Geist, Natur und Kultur behauptet. So hat Heidegger in seinem Aufsatz Der Ur43 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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sprung des Kunstwerkes (1935/36) die Erde endgültig zu einer Kategorie des philosophischen Denkens erhoben, nachdem er in seiner früheren Lehrtätigkeit bereits die »Faktizität« zu einem zentralen Begriff der Philosophielexika gemacht hatte. Auch Carl Schmitt stellt in seinem späten Hauptwerk Der Nomos der Erde (1950) mit dem Begriff der »Ortung« die erdhafte Verwurzelung des Menschen und die ortsbezogene Gründung des Rechts heraus. Ernst Jünger wiederum hat in seinem Essay An der Zeitmauer (1959) – einer ungeheuer spekulativen Meditation über die Grundfragen der menschlichen Existenz: über das Mysterium der Zeit, über die Geschichte und das Schicksal – die tellurische, chthonische Dimension des Seins rehabilitiert, indem er die res gestae, die »großen und bewunderungswürdigen Taten« (wie Herodot schreibt) des geschichtlichen Menschengeistes in ihren geologischen Urgrund zurückführt. Mit gutem Recht ist Eugen Fink als der vierte Vertreter in diesem Kreis zu nennen. Nicht nur, weil ihn in Anbetracht der neuen technischen Welt und ihrer zerstörerischen Macht ein eigenartiges Vertrauen in die Unverwüstbarkeit des dunklen, mütterlichen Urgrundes mit Jünger verbindet, und auch nicht deshalb, weil er (vielleicht als Einziger) mit Jünger den Versuch wagt, jenes »Einfache der Erde«, das dem europäischen Denken »in einer langen Geschichte« entgangen ist, »schlicht zu vernehmen und auszusagen« (Fink 1977, 216). Er gehört vor allem deswegen zu diesem Kreis, weil er mit seiner kosmologischen Philosophie ein bloß regionales, naturwissenschaftliches Verstehen der Erde überwinden will und sie vielmehr als das »Insichverschlossene«, als Verschlossenheit der φύσις, als den der Weltgelichtetheit entzogenen Urgrund des Seins zu denken versucht. Mein Beitrag wird also der Absicht folgen, die Dimension der Erde als autonomes Prinzip im Denken Finks ans Licht zu bringen. Eine solche Interpretation ist notwendigerweise der Gefahr der Einseitigkeit ausgesetzt, sofern sie die der Erde komplementäre und der »kosmologischen Dialektik« zugehörige Dimension des Himmels weitgehend außer Betracht lassen muss. 1 In seinen Überlegungen zum Sinn der Erde stützt sich Fink auf das Denken des dunklen Heraklit aus Ephesus, insbesondere auf Fragmente, die sein Denken der φύσις prägen. Das erste ist das vielzitierte Fragment, in dem behauptet wird, dass φύσις κρύπτεσθαι φιλέι Siehe dazu bereits die erste Freiburger Vorlesung vom Sommersemester 1946: Fink 1985; vgl. auch San Martin 2006; Schenk-Mair 1997 sowie Burchardt 2001.

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(DK 22 B 123): Die Natur neige dazu, sich zu verbergen. Daher sei sie ἀφανὴς, nicht offenkundig, und bleibe in der von ihr geliebten Verborgenheit verschlossen. Dazu tritt jedoch nun das zweite Fragment Heraklits, welches das Finksche Denken der φύσις m. E. entscheidend bestimmt. Hier heißt es, ἁρμονίη ἀφανὴς φανερῆς κρέσσων (DK 22 B 54.): die nicht erscheinende Harmonie sei stärker als die erscheinende. Diese erscheinende und sich zeigende Harmonie ist die Welt, das Reich dessen, was als φαινόμενον bezeichnet wird. Der Welt als Harmonie der Phänomenalität widersetzt sich eine nicht erscheinende Harmonie: die dunkle Verschlossenheit der Erde. Dem nichterscheinenden Gefüge des Seins (der ἁρμονίη ἀφανὴς) wird eine Vormacht zugeschrieben: Im kosmologischen Seinszusammenhang ist die dunkle Erde, die Seinsverbergung, stärker als der ihr entgegengesetzte Himmel, d. h. stärker als die Welt des Lichts. Welcher Sinn kommt dieser ursprünglichen Macht aber zu? Mit der Anerkennung der Erde als eines machtvollen Prinzips macht Fink sie jedoch nicht allmächtig. Er denkt die kosmologische ἁρμονίη als eine Harmonie der Weltmomente, als gegensätzliches Gefüge der all-einen, dunklen Nacht und des gelichteten Himmels, der das Reich des Sichtbaren darstellt. Mit seiner Kosmologie, die das bereits während seiner Assistentenzeit bei Husserl durch eine tiefgreifende Auseinandersetzung sowohl mit der Transzendentalphänomenologie als auch mit dem Seinsdenken Heideggers entworfene Projekt der Meontik weiterführt und radikalisiert, 2 nimmt sich Fink vor, diese vorphänomenale, nicht-erscheinende, aber mächtige und wesentliche und daher auch nicht bloß privativ zu denkende Dimension der Erde philosophisch auszulegen und erneut in ihrer Dignität herauszustellen. Das Prinzip der Erde ist das μὴ ὄν, d. h. der absolute, vom erscheinenden Sein losgelöste, vor-seiende Ursprung, der die Welt und ihre Ränder (die ekstatischen Zeithorizonte der Phänomenalität) trägt. Sie liegt daher nicht in einem Jenseits der Zeit, sondern ist die absolute Tiefe der Zeit selbst, welche mit den Grenzphänomenen der Geburt und des Todes zu tun hat. Der Zeitsinn der Erde als eines nicht-seienden Prinzips scheint in der Ent-Gegenwärtigung zu liegen, in der die Zeithorizonte selbst konstituiert werden. Im Gegensatz dazu ist die Welt der Bereich der unter dem Himmel sich zeigenZur Meontik als Zentrum des frühen Denkens von Fink vgl. Bruzina 2004 und Giubilato 2017.

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den Phänomenalität, des in Zeit und Raum Erscheinenden. Dieses Erscheinende begrenzt daher jenes helle, aber begrenzte Gebiet der ἀλήθεια, das dem Menschen einzig zugänglich ist. In der Welt als der Gegend der Un-Verborgenheit (ἀ-λήθεια) ist der Raum immer ein Weltraum und die Zeit immer Weltzeit. In ihnen eröffnet sich der Spielraum menschlicher Möglichkeiten. Das Ur-Geschehen der Welt, ihr Aufgehen, sieht Fink – nochmals mit Heraklit – als Bewegung des Weltspiels des Seins: »Zwischen beiden Weltprinzipien [Raum und Zeit] spielt die Welt–Bewegung, das Spiel der Welt als die Bewegung des Erscheinenlassens, worin die endlichen Dinge ins Erscheinen treten.« (Von Herrmann 1970, 7) Hingegen ist die Erde bewegungslos, sie ist das Unbewegte für alle Bewegungen, das »ungefasste Unfassliche, weil sie alles ›gefasste‹, eingegrenzte Seiende umfängt« (Fink 1977, 217). Auf der Grundlage dieser Festigkeit des Irdischen finden die Phänomenalität und die Bewegtheit der Welt einen Träger für ihre Mobilität. Die Erde könnte also möglicherweise wie eine platonische vor-zeitliche und vor-räumliche χώρα oder auch wie ein πρότον ὑποκείμενων gedacht werden, doch hier beschränken wir uns auf ihre Bewegungslosigkeit, welche die wahre ἀρχή der spielerischen Weltbewegung ist. Wie auch Husserl in seinen Untersuchungen zum Ursprung der Räumlichkeit der Natur sagt: »Die Erde ist die ›Urheimstätte‹ der Welt, sie ist die Arche, die erst den Sinn aller Bewegung ermöglicht und aller Ruhe als Modus einer Bewegung. Ihr Ruhen aber ist kein Modus einer Bewegung.« (Husserl 1940, 324) So ist die phänomenale Bewegtheit der Welt in Finks Kosmologie von dem nächtlichen Stillstand der Erde umgeben und von der Latenz eines nicht erscheinenden Grundes umstanden. Die Erde bleibt der phänomenalen Gelichtetheit der Welt wesentlich entzogen, und daher ist sie die λήθη: jene ursprüngliche »Selbstverschließung des Seins« (Fink 1977, 304), die das Offene der Welt sein lässt. Sie gilt Fink als der vor-geschichtliche, vor-seiende Raum und Boden, »der alles ans Licht wachsen lässt und sich zugleich dunkel-verschlossen dagegen abhebt« (Nielsen 2011, 172). Die Erde ist gleichsam eine namenlose Vor-Welt, ein tellurischer Unter-Grund, der von der hellen Welt überlagert und gewissermaßen ausgeblendet wird. Die Stille der Erde trägt das zeitliche, unruhige Werden alles Irdischen. Alles steigt ins Licht der Welt unter dem Himmel aus der Dunkelheit einer undenkbaren, vorzeitlichen Bewegungslosigkeit: »Alle Dinge gründen in der einen Erde; alle bestehen aus Erde, aber Erde nie aus Dingen […]; der ur-eine Abgrund, […] der durch die Vielheit nicht zerspalten und 46 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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nicht zerrissen wird, sondern sie ruhig an sich erträgt.« (Fink 1977, 293) Das Tragen der Erde ist bewegungslos, geschieht in der Ruhe ihres zyklischen Werdens. Sie ist »das unvordenkliche Eine, aus dem das viele und gesonderte Seiende aufgeht« (ebd.) und in es auch wieder untergeht. So ist es das unentrinnbare Schicksal alles Irdischen, die ihm gegebene Zeitstrecke in der binnenweltlichen Zone der Erscheinungen auszuleben und zu verzehren, bis es zuletzt wieder in den verschlossenen Grund, in die all-eine, vor-individuierte, vor-phänomenale Dunkelheit zurückfällt. Das Wesen des Menschen, sein Leben und sein Wohnen inmitten einer heimatlichen Umwelt werden von Fink im Ausgang von diesem kosmologischen Verständnishorizont der Erde konzipiert. Obgleich die Geschichte ein Factum des Menschengeistes ist – wie Gianbattista Vico behauptet –, bleibt der Mensch nach Fink wesentlich ein Schössling, der aus der Tiefe der Erde keimt. Die klassische Bestimmung des Menschen als ζῷον λόγον ἐχων bzw. animal rationale erweist sich daher für Fink als eine sekundäre, abgeleitete und schon durch die einseitige Orientierung am Geist geleitete Definition des Menschen, die seit Aristoteles durch Angabe einer (logischen) Gattung und der artbildenden Differenz erfolgt. 3 Als endliches Naturgeschöpft dagegen lebt der Mensch »in der raumhaft-zeithaften Welt« und ist wesenhaft »Insasse von Raum und Zeit« (Fink 1969, 15). Als vergängliches Lebewesen ist er also wesentlich der Sterbliche, jenes Gewächs der Erde, das für eine geringe Weile in die phänomenale, binnenweltliche Zone unter dem Himmel aufsteigt. Das höchste Gut ist für ihn consumare vitam ante mortem (Seneca, Epist. 32). In seiner radikalen, selbstbestimmenden Vergänglichkeit bleibt der Mensch zur Erde offen. Er ist nicht nur weltoffen, welt-bildend und welt-reich, reicher an Welt als die Pflanzen und die Tiere, sondern auch erdoffen. Fink fragt ausdrücklich nach dieser dem Menschen wesentlich zugehörigen urtümlichen Erdoffenheit. 4 Im Menschen spürt Fink »eine innige Vertrautheit« zur Erde, die immer lebendig ist: »Im Aufstand seiner Freiheit kann der Mensch Fink greift hier den Feldzug Heideggers gegen die klassischen, aus den unzureichenden Kategorien der θεωρία stammenden Bestimmungen des Menschen als animal rationale und imago dei wieder auf. Das geschieht aber nicht mehr mit der Absicht, eine neue Fundamentalontologie des Daseins zu begründen, sondern um den vergessenen Erdsinn des kosmologisch situierten Menschenlebens zur Sprache zu bringen. 4 Das unternimmt er fern von jeder romantischen Idylle oder gar irgendeiner »Blutund-Boden«-Ideologie. Vgl. Fink 1992, 100. 3

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nie soweit sich verirren und verlieren, dass er gänzlich dem naturhaften Lebensboden entkäme und reines für-sich-seiendes ›Subjekt‹ würde.« (Fink 1992, 100) Die Natur, die φύσις des Menschen wurde von den traditionellen Auslegungskategorien verfehlt und durch deren einseitige Orientierung am Geistigen verschüttet. In der Reflexionsphilosophie des 20. Jahrhunderts habe die Hybris des sich aus sich selbst herausstellenden Subjektes ihren Höhepunkt erreicht. Für Fink ist die »Natur in uns« allerdings keine Dimension, die die humanitas des Menschen von dem regulativen Licht der deitas entfernt und rettungslos zur animalitas hintreibt – als sei die Natur das Nest des Unvernünftigen und Unsittlichen. Vielmehr ist der Mensch »das zweideutige Wesen«, das sowohl der Natur als auch der Freiheit »angehört, und doch keinem Bereich ganz, das nie ganz geborgen sein kann in Demeters stillem Frieden, wie Blume oder Tier, und auch nie ganz als Freiheit existiert und sich wissend begründet« (Fink 1985, 52). Er ist »naturgebundener Geist, […] Notwendigkeit und Freiheit, ist eine durch Natur beschränkte Freiheit und eine durch Freiheit gestörte Natur: Er wiederholt in seinem Sein die Bogenspannung der Welt: Er ist erdnah und dem lichten Himmel offen« (Fink 1992, 101). In der Spannung zwischen einer Beschränkung der Freiheit und einer Störung der Natur meldet sich das dualistische Wesen des Menschen. Hier wird eine gewisse Korrespondenz offenkundig: eine Entsprechung zwischen dem menschlichen Doppelwesen, das in Natur und Freiheit gespalten ist, und dem harmonisch-gegensätzlichen Seinszusammenhang, der wesentlich durch eine Spaltung, eine kosmologische Differenz bestimmt ist. Der kosmologischen Differenz zwischen der binnenweltlichen Zone der Phänomenalität und dem ihr entzogenen Ursprung im Makrokosmos entspricht im Mikrokosmos das gegensätzliche Gefüge des Menschenwesens – Helle und Dunkelheit, Himmel und Erde, phänomenale Offenheit und tellurische Verschlossenheit, Geist und Natur, Freiheit und Notwendigkeit. Aus dieser Entsprechung zwischen dem zwiespältigen Wesen der Sterblichen und der kosmologischen Differenz ergibt sich die Möglichkeit einer Neubewertung der humanistischen Weltanschauung, die dem Individuum eine mediale Position zuschreibt, da es im Zentrum des Kosmos steht. Tatsächlich ist der Mensch, so Fink, »wesentlich ein Mittler« (Fink 1992, 59), der seinen Freiheitsauftrag – die eigene Selbstbestimmung durch Störung der Naturnotwendigkeit – innerhalb der Grenzen seiner endlichen Natur übernehmen und er48 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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füllen muss. Seine Freiheit ist nicht unbeschränkt, sondern kann nur innerhalb der Naturbegrenzung entworfen und realisiert werden. Die Zentralität des Menschen bedeutet also nicht, dass er »Eigentümer« des Kosmos ist, dass die Natur ihm bloß als Stoff dient, sondern dass er – als eine einzigartige »metaphysische Lücke im Kosmos« (Fink 2008, 49) – sowohl der erdhaften als auch der himmlischen Dinge, die μετά τα φυσικά liegen, teilhaftig ist. Im Zwischenraum der Transzendenz des Geistes und der tellurischen Dimension der Erde wohnt ausschließlich der Mensch. Doch das Naturhafte im Menschen liegt nicht »neben seiner wesentlich geistigen und geschichtlichen Selbstheit, es kommt nicht daneben vor, als ein brutales Faktum biologischer Art, es unterläuft vielmehr die Dimension der personalen geistig-geschichtlichen Existenz und durchwirkt und durchstimmt sie im Ganzen« (Fink 1992, 101). Daher ist der Mensch kein Kentaur – halb Tier, halb Gott –, sondern eine dem kosmologischen Seinszusammenhang entsprechende und ihn in sich widerspiegelnde Janusgestalt. Natur und Freiheit sind nicht »zwei feststellbare Seiten seines Wesens« (Fink 1987, 190 ff.), die einander ausschließen. Das menschliche Sein ist »das gegensätzliche Gefüge« (Fink 1971, 53), jene strittige Harmonie, die im Zwischenraum von Erde und Himmel zuhause ist. In Absetzung von der Lichtmetaphysik, die das Naturhafte im Menschen sieht, aber abwertet und somit infolge ihrer Grundentscheidung das Zwischenwesen – das Mittlertum – des Menschen unterbindet, wird Fink die Harmonie dieses gegensätzlichen Gefüges in ihrer Spannung anerkennen und im kosmologischen Verständnishorizont auslegen. Der Mensch als das im Zwischenraum von Erde und Himmel existierende, janusgesichtige Zwischenwesen ist das ens cosmologicum. Es gilt also, die Dimension des Naturhaften in ihrer konstitutiven Dignität für die menschliche Existenz wieder ans Licht zu bringen. Eine ursprüngliche, vertrauliche »ontische Nähe« verbindet uns nach Fink mit der Erde. In ihr können wir auch im technischen Zeitalter den Sinn noch erspüren, ertasten, »anrühren«. Wo sich keine Lichtung der Phänomenalität eröffnet, wo der phänomenale ZeitRaum verschlossen bleibt und damit auch die hermeneutische Grundstruktur, nach der sich »etwas als etwas« zeigt, muss man auf Verstehensweisen zurückgreifen, in denen die begriffliche Unzulänglichkeit des λόγος ἀποφαντικός angesichts der Verschlossenheit des Erdsinnes überwunden wird. Um das Verschlossene und Verschwiegene der Erde in ihrem urtümlichen, ontisch nahen Sinn aufzuschlie49 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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ßen, greift Fink auf die Figuren des Mythos zurück – insbesondere auf die Mysterien von Eleusis in den Zeugnissen der Vorsokratiker. Gleichzeitig hält er sich an die Deutung einzelner »Phänomene des Untergrundes«, wie jenes der Scham, des Wechsels von Wachen und Schlafen, des erotischen Verhältnisses der Geschlechter, der Generativität und des Verhältnisses der Lebendigen zu den Toten, in denen sich die Einbettung der menschlichen Existenz in ihrem geologischen Grund zeigt. Cathrin Nielsen schreibt, Fink bringe die nietzscheanische »Maske […], in der der namenlose Abgrund in verhüllter Weise zugegen ist« (Nielsen 2011, 179), ins Spiel. Der Sinn der Erde ist somit nur mythisch, maskiert, »im Schatten des Begriffs« zu erhellen, da sie eine eigene Form des Verstehens verlange: das Durchfluten »einer ahnungsvollen Mitwisserschaft mit dem zeugend-gebärenden, aber auch grausam-vernichtenden Walten der Natur im Ganzen« (Fink 1992, 177).

2 Einen angemessenen Zugang zu dieser Verstehensweise der Erde, d. h. zu der ursprünglichen Erdoffenheit des Menschen und zu dem Sinn, der sich darin in unmittelbarer, ontischer Nähe meldet, hat Fink in der Dichtung von Cesare Pavese, genauer in dessen Werk Gespräche mit Leuko gefunden. Dass Fink der Dichtung eine zentrale Rolle zuschreibt, ist natürlich nichts Neues – u. a. sein schmaler Band Epiloge zur Dichtung kann hier als Beleg dienen. Hans Rainer Sepp hat zudem anhand unveröffentlichter Nachlassmaterialien den Versuch Finks gedeutet, Rilkes Duineser Elegien in philosophische Gedanken zu übersetzen (Sepp 2009). Hier möchte ich jedoch zeigen, dass in Finks kosmologischem Denken neben Rilke noch einem weiteren Dichter eine wichtige – genauer eine »epilogische« – Stellung zukommt: Cesare Pavese. In ihm findet Fink einen kosmologischen Dichter der Erde, in dessen Werk die oben genannten Ausführungen zum Sinn der Erde und zur erdhaften Natur im Menschen eine ihrer vollkommensten (und letzten) Darstellungsformen gefunden haben. Tatsächlich hat Fink eine der letzten Lehrveranstaltungen, in denen er den kosmologischen Zusammenhang von Natur und Existenz bedenkt – nämlich das Seminar vom Wintersemester 1969/1970 – einer Auslegung des Prosawerkes des italienischen Schriftstellers gewidmet. 50 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Cesare Pavese (1908–1950) war Schriftsteller, Dichter, Essayist und Übersetzer. Wie Fink sah auch er seine berufliche Karriere in den 1930er Jahren vom Faschismus erst bedroht und dann faktisch unterbrochen, als er 1935 verhaftet und zur Konfination (confino, eine Form der Verbannung) in Kalabrien verurteilt wurde. Unter Mussolinis Regime war dies eine übliche Praxis, um »störende« oppositionelle Intellektuelle loszuwerden. Nach dem Ende der Strafe kehrte Pavese nach Turin zurück, wo er als Übersetzer für die größten italienischen Verlage tätig war. In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg blühte seine erzählerische Prosa auf und er hielt Kontakt mit einigen der wichtigsten antifaschistischen Zeitgenossen (unter anderen Ludovico Geymonat, Norberto Bobbio, Leone Ginzburg, Giaime Pintor, Fernanda Pivano und Italo Calvino). Wegen einer Lungenerkrankung wurde er vom Wehrdienst im Zweiten Weltkrieg befreit; nach dem 8. September 1943 (dem Waffenstillstand) floh er mit anderen Partisanen aufs Land. Nach dem Krieg arbeitete er vor allem für den Verlag Einaudi, in dem er auch seine eigenen Bücher veröffentlichte und gemeinsam mit dem berühmten Anthropologen Ernesto di Martino eine »Studienreihe für Psychologie, Ethnologie und Religion« leitete. 1950 beging er, von tiefer Melancholie gequält, Selbstmord. Zwischen 1945 und 1947 verfasste Pavese die Gespräche mit Leuko. Das Werk besteht aus 27 kurzen Dialogen, in denen sich zwei oder drei Figuren der griechischen Mythologie – im Regelfall ein Sterblicher und eine Gottheit – begegnen und ein Gespräch führen. Jedem Dialog geht ein kurzer, enigmatischer Kommentar des Autors voran, in dem er vage in das Thema des Gesprächs einführt und dabei auf ein Vorereignis, etwa die Vorgeschichte der Begegnung hinweist. In dieser poetischen Konstellation von Begegnungen und Gesprächen, die voller Tränen und schmerzlicher Erinnerungen sind, verwendet Pavese die Figuren des griechischen Mythos als Ausdrucksmittel, um »einen Realitätskern« (Fink 1971, 50) – den erdhaften Kern des Lebens – aufscheinen zu lassen. Der Ausgangspunkt seiner Dichtung ist die entsetzliche und melancholische Erfahrung des fragmentarischen, endlichen Wohnens des Menschen auf der Erde. Für den Autor Pavese stellt diese Grundstimmung das Fundament seiner literarischen auctoritas dar, und nur aus dieser Grundstimmung kommt seinem Schreiben der Auftrag zu, einen möglichen Berührungspunkt zu suchen, an dem der Mensch die Mutter Erde wieder anzurühren vermag. Der Tod ist eine dieser Eingangspforten, ja das Haupttor, wenn auch das letzte. 51 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Dem tellurischen Urgrund des Lebens hat Pavese in denselben Jahren (1945/46) auch in einer Gedichtsammlung mit dem Titel Die Erde und der Tod Ausdruck verliehen, diesmal aber ohne jede Anwendung des Mythos und seiner Archetypen, sondern rein und trocken, mit grausamer Entschlossenheit. Die zehn Gedichte klingen wie Variationen über das Thema »Erde«. Doch ohne den Schutzschirm der Bildhaftigkeit, der Metaphern und der Sinnübertragung, die in jeder mythischen Figur enthalten sind, wird das Sagen der Erde ein einfaches, unmittelbares und langsames Benennen. Fast wie in einem Mantra, mit taktmäßigem und traurigem Rhythmus ruft Pavese mit einsamer Beharrlichkeit das Nichterscheinende an: Du bist die Dunkelheit, du bist das Schweigen, du bist die Stille, du bist die Verschlossenheit, das Unbekannte der Träume, die Härte des Gesteins und das Blut der Wildnis. Dagegen dichtet Pavese in den Gesprächen mit Leuko den Erdsinn in einem völlig anderen Stil, einem mittelbaren, metaphorischen, maskierten. Er inszeniert den harten, erdhaften Untergrund der Existenz auf der Bühne einer grandiosen Darstellung, die den Mythos zur Sprache hat. In der dichterischen Komposition der Einzelstücke, der Dialoge, erscheint das kosmische Mosaik der Mutter Erde und ihres Sohnes, des Menschen. Daher gelingt es Fink in seiner Annäherung an die »Gespräche« und ihre philosophische Deutung das Fragmentarische der menschlichen Existenz und ihre endliche Zwiespältigkeit zwischen Natur und Geist, Erde und Himmel hervorzuheben. Sein Versuch, Paveses Dichtung philosophisch zu interpretieren, mündet in eine neue Fragestellung, die auf eine kosmologische Analytik der Existenz abzielt. Die Auslegung des menschlichen Daseins am Beispiel des Werkes von Pavese wird also weder von einer eidetischen Bewusstseinsanalytik noch von der »Befindlichkeit« oder dem »geworfen-entwerfenden Verstehen« geleitet. In Paveses Dichtung findet sich vielmehr die Tendenz, »in die Helle des Bewusstseins hereinzureißen« (Fink 1971, 106) und dadurch in das Ge-schichtete des individuierten Geistes – die Schichtungen der Geistesherrschaft über die unvernünftige Natur – zurückzugehen, bis hin zu der Erfahrung des vor-bewussten, ansichseienden, panisch-impersonalen Urgrundes, der alles Vereinzelt-Personale unterläuft und trägt (ebd. 199). Die Eigentümlichkeit dieser Tendenz besteht darin, wesentlich anti-phänomenologisch bzw. anti-transzendental zu sein. Die lyrische Dichtung von Pavese wirft einen Blick auf die gesamte Existenz; sie schaltet dabei weder die Empirie aus noch geht sie über die Welt 52 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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hinaus (transzendiert sie) – es ist vielmehr eine Schau in das All (πἀν) der Materie hinein, in das Elementale, in die Tiefe des materiellen Untergrundes der Welt. Kein Transzensus der Welt, sondern ein Eintauchen »in die Unermesslichkeit der Erde« (Nielsen 2011, 170), dem eine κατάβασις, ein Abstieg in eine dunkle, tellurische Unterwelt folgt. Diese Blickrichtung scheint auch für Finks Denken der Erde charakteristisch zu sein. Die Fink-Forschung hat diese Art und Weise, die irdische Dimension zu betrachten, mit treffender Auswahl der Terminologie als panisch bezeichnet (Baur 2008, 24 ff.). Pan ist in der Tat der Gott der φύσις. Um ihn zu begreifen, müssten wir verstehen, wie er die Natur darstellt und verkörpert. Seine Heimat ist Arkadien – eine sowohl physische als auch psychische Ortschaft –, sein Habitat sind die dunklen Höhlen, die Klammen, Quellen und die tiefe Wildnis, fern von den umgrenzten Siedlungen der Zivilisation. Er war ein Gott der Hirten, ja ein Vagabund ohne Genealogie: vor allem die Mutter ist unbekannt. Doch was man weiß, ist, dass er nach der Geburt verlassen wurde und die olympischen Gottheiten ihn aufnahmen – allen voran Dionysos, der ihn nicht zufällig in ein Hasenfell einwickelte (der Hase ist für Aphrodite, Eros und die Bakchen ein heiliges Tier). So ist Pan mit diesen Bedeutungen und Formen unmittelbar verbunden. Er verkörpert das Naturhafte schlechthin: das, was sich der Regelung des normierenden Bewusstseins entzieht. Im Zustand der Panik ist das Ego erstarrt, seine Egoität gleichsam suspendiert – das Subjekt für einen Augenblick wieder der Naturgewalt ausgesetzt. Die bekannte Referenz für den Abstieg in den gestaltlosen Lebensgrund ist grundsätzlich Nietzsche, der in seiner Geburt der Tragödie (1872) allem, was im apollinischen, »sonnigen« Teil an die Oberfläche gelangt, das dionysische, dunkle, nächtliche Prinzip entgegensetzt. »Unter dem Zauber des Dionysischen […] die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen« (Nietzsche 1988, 29 ff.). Nietzsches »künftiger Mensch«, dessen Lehre Zarathustra ausspricht, ist also einer, der – so Fink in seiner Nietzsche-Interpretation – »einen klaren, hart umrissenen Tag hat und doch mit seinen Wurzeln in der stygischen Nacht gründet, wo alles eins ist, einer, der zugleich in der Lichtung und in der Verbergung, im Doppelbereich heimisch ist« (Fink 1973, 172). Nietzsches Bild des Menschen ist janusköpfig, gerade weil die Wirklichkeit über ein Janusgesicht verfügt. Und: »Bleibt der Erde treu!« ist bekanntlich seine Parole. Mit ihr ist 53 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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die Behauptung verbunden, der Übermensch sei der Sinn der Erde. Dabei geht es um ein mögliches Menschentum, das von der Erde ermächtigt ist, wenn es sie »als Große Mutter erkennt, als den Schoß aller Dinge, als das Bringende und Nehmende« (ebd.). Den Rückgang in den elementalen Grund, den »Absturz aus dem vom Bewusstsein durchhellten Sein in das spannungslose Ansichsein des elementarischen Stoffes« (Fink 1971, 56), finden wir bei Pavese im Dialog »Wellenschaum« bildhaft dargestellt. Hier sprechen die Dichterin Sappho, die sich aus Liebeskummer von einem Leuchtturm der Insel Lefkada ins Meer warf, und Britomartis, die kretische und minoische Göttin, die später mit Artemis identifiziert wurde, miteinander. Britomartis ist die Aphaia (vom oben genannten Adjektiv ἀφανὴς), d. h. die versteckte, die unsichtbare und verborgene Gottheit, von der uns Kallimachos in seinen Hymnen auf Artemis erzählt. Das Meer versinnbildlicht hier mit seiner Eintönigkeit das »einfache Sein, das nicht von Bewusstsein, Begierde, Verlangen« (ebd. 54) beunruhigt und gestört ist. Es steht im Gegensatz zur Bewegtheit des Landes, wo der Mensch leidenschaftlich wohnt. Im Meer, im spannungslosen Sein des Elementalen hat Sappho den Tod gesucht. Darauf antwortet die Göttin nur mit einem einfachen Lachen: »Das Lächeln der Natur ist ihr Erglänzen im Schönsein, ist ihr Sterben und Wiedererstehen im Wechselbalg der Jahreszeiten, ist ihr Beständigsein durch alle Metamorphosen hindurch.« (Ebd. 56) Die leidenschaftliche Besorgtheit der Sterblichen bleibt für Britomartis unverständlich, weil sie »rein in der Gegenwart, augenblicklich verweilend« lebt (ebd.). Einmal auf der Flucht vor einem Sterblichen, der sie besitzen wollte, hat auch sie einen Sprung gewagt, doch dieser bedeutete lediglich einen Um-Sprung vom Element des Gebirges zum Element des Wassers. Keinen Absturz, sondern den Übergang in eine neue Metamorphose. »In welcher Erscheinungsform des Elementarischen sie jeweils ist, ist ohne Bedeutung für sie.« (Ebd. 55) Die absolute Andersartigkeit der Seinsweise Britomartis’ lässt dagegen die Sterblichen als wesentlich zerrissene, hin und her gezerrte Kreaturen aufscheinen. Sie wohnen auf der Erde zwischen der Naturgewalt und dem geistigen Auftrag, »den sie sich aus ihrer Freiheit heraus selbst geben können«. Daher, so Fink, »bleibt der Mensch ein zwiespältiges Wesen, […] aufgerissen in einer Dualität« (ebd. 57). Diesen Kontrast sieht Fink im Dialog »Das Wildtier«, der sich zwischen Endymion und einem Wanderer abspielt, noch verschärft. Endymion ist der menschliche Spielgefährte der Göttin Artemis, die 54 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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nie direkt genannt wird. Sie verkörpert einen »Sinngehalt, der aufgedeckt werden muss: Sie schließt das Wildnishafte, den Menschen Abweisende und tödlich Bedrohende in sich zusammen« (ebd. 61). Das menschliche Andenken an ihre Begegnung gewinnt eine unendliche, erdhafte Bedeutsamkeit: die entmenschte, menschenlose, unantastbare Natur, die namenlos bleiben muss. Nachdem Endymion ihr in der Wildnis des Gebirges begegnet ist – besser gesagt: ihr Fang wurde und mit dieser wilden Gestalt einer jungen, schlanken Frau unter dem Mond schlief –, kann er nicht mehr einschlafen und nicht mehr aufwachen. Er lebt in einem unmenschlichen, fortdauernden wachen Schlaf oder einer schlafenden Wachheit. Fink merkt an, dass damit das entscheidende Motiv des Dialogs anklinge: das Phänomen des Schlafes und inwiefern es ein Verhältnis zum ansichseienden, tellurischen Prinzip habe. Einschlafend, so führt Fink aus, »sinkt der Mensch in einen abstandlosen Zustand« (ebd. 62) der Bewusst- und Selbstlosigkeit hinab, wo es keine Subjekt-Objekt-Distanz gibt. Er tritt hier mit dem Unberührten schlechthin, mit dem vor-bewussten Unbegriffenen in Berührung. Diese Berührung »ist zugleich ein Anrühren an den Abgrund des Schrecklichen« (ebd.), an die Gewalt der Natur. Das hat Endymion durch den Kontakt mit der wilden Göttin einmal in höchstem Maße erlebt und so sucht er vergeblich die zeitweilige Entrückung ins Ansichsein, die Zukehr zum Anrühren des Unberührten der Natur. Sein »rasendes Verlangen«, dem menschlichen Schicksal zu entkommen, lässt ihn nach seiner erotischen Opferung an die Göttin der Wildnis als paradoxe Existenzfigur erscheinen: Er hat »den Wesensort des Menschen verloren, aber auch noch nicht die Zugehörigkeit zur Natur gewonnen« (ebd.). Gerade aus dieser Ortlosigkeit macht er die Erfahrung des menschlichen Unfertigseins, der Zwiespältigkeit des ens cosmologicum, welche der Streit des Geistes mit der Erde, des Bewusstseins mit dem bewusstlosen Grund definiert. Die Ausweglosigkeit der gespaltenen conditio humana lässt sich am Dialog »Die Mutter« ablesen. Hier steht die Erde »als eine Macht, von der der Mann abhängt und abhängig bleibt« (ebd. 88) im Zentrum. Natürlich handelt es sich dabei weder um die biologische Mutter noch um die auf besondere Weise spürbare Abhängigkeit von einem der Elternteile, von einem unserer Erzeuger, der »uns das Leben gibt«. Die symbolische Abhängigkeit von der Muttermacht verdeutlicht eher die »Ausweglosigkeit einer Situation« (ebd.), die unsere Existenz wesentlich bestimmt: »Es gibt auf die Frage nach dem 55 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Warum weder für die Tötung noch für die Erzeugung eine Antwort. Die mütterlich-gebärende Macht ist jedem Selbstsein voraus.« (Ebd.) Diese mütterliche Erdmacht wird im Dialog »Der Stier« »nicht mehr in personaler Form«, sondern in den Landschaftsstimmungen »von Orten und Jahreszeiten« (ebd. 198) dargestellt. Darin, dass die gebärende, aber auch zerstörerische Macht der Natur alles durchdringt, »erweist sie sich […] ursprünglicher als die [anthropomorphischen] Götter« (ebd.). Theseus, der Held, der den Minotaurus getötet hatte und danach auf dem Rückweg von Kreta die schwarzen Segel auf dem Mast des Boots vergaß, so dass sein Vater glaubte, er sei tot, und sich ins Meer stürzte, sagt uns, dass man »die Muttergöttin nicht bekämpfen kann. Man bekämpft nicht die Erde, mit ihrer Stille« (Pavese 2006, 122). Das Ansichsein der Natur und das fühllose Sein der Götter werden für Pavese zur »Umrahmung für die Seinsweise des Menschen« (Fink 1971, 66). Er ist in seinem endlichen Leben, in der vergänglichen Zeit, die ihm gegeben ist, »geschieden vom Frieden der Natur«. Nur die rhythmische, harmonische »Verabschiedung des Wachseins im Schlaf bringt Erquickung« (ebd.) und beglückt mit dem zeitweiligen Rückgang in das »Anrühren« des mütterlichen Urgrunds. In einen Gegensatz zum vergänglichen Doppelwesen des Menschen erhebt sich die Figur Ixion im Dialog »Die Wolke«. Ixion war König der Lapithen, jenes sagenhaften Volkes, das mit den Kentauren gekämpft hatte und aus einer vor-olympischen Welt herstammt, wo »der Mensch noch nicht in Grenzen eingespannt« war. Ixion spricht also aus einer Vor-Zeit, in der es »nur die große Naturmacht und das Insein in der natura naturans« (ebd. 67) gab. So sagt Fink, dass »einst die Bildungskraft der Natur schrankenlos an Größe, Grausamkeit und zugleich in ihrem Lächeln« (ebd.) war, aber durch die Grenzmarkierungen zwischen Sterblichen und Unsterblichen, Menschen und Göttern, Erde und Himmel, Freiheit und Notwendigkeit eine unüberbrückbare Spalte gezogen wurde. Der chaotischen, flüssigen Vorwelt setzte Zeus mit der Errichtung der olympischen Ordnung ein Ende. Mit der olympischen, himmlischen Weltordnung wurde also die Bändigung der Natur vollzogen: »Der Mensch als ein mit Freiheit begabtes Wesen wird von einer ursprünglichen Verbundenheit mit der Natur abgeschnitten und dazu bestimmt, sich selbst zu bestimmen und dabei doch wesenhaft vergänglich zu sein.« (Ebd.) Ein Symbol der noch nicht gebändigten und geordneten φύσις ist im zweiten Dialog (»Die Chimäre«) das Untier als Vermischung von Löwe, Ziege 56 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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und Schlange. Ihr Bezwinger, Bellerophon, wirkte am Ordnungswerk der Götter mit, wodurch die Vor-Zeit der wahllosen, unendlichen Metamorphosen beendet wurde. Er gilt Fink als Befreier der Welt vom Ungeheuerlichen der Naturmacht und markiert somit den »Umschlag« von der Gesetzlosigkeit zur Gesetzmäßigkeit der neuen olympischen Welt. Doch »als Mitwirkender« an der Gesetzgebung der Götter wurde er im Nachhinein von ihnen ausgenutzt und schließlich verlassen. Sein Geschick ist das eines Mittlers. Er befindet sich zwischen den alten und den neuen Zeiten, steht zwischen dem vor-olympischen Erdloch und der neuen, hellen Welt des olympischen Himmels. Er ist den Göttern durch seine Tat fast nahegekommen, doch seine ausgezeichnete Seinsweise als Held kann er nur vorübergehend erhalten: Er muss wie alle Sterblichen altern, und mit dem Altern kommen die Gedanken, die Erinnerungen, das Bedenken. Fink betont, dass er nicht mehr sicher sei, »eine gerechte Tat getan zu haben«. Er »trauert vielmehr auch noch um die Vernichtung des Ungeheuren und den Untergang einer Welt der Urkräfte« (ebd. 72). Im allerletzten Dialog, in dem die Sprecher namenlos bleiben und somit das Gefühl des Impersonalen gesteigert wird, ist der Rückgang in den elementalen Urgrund vollendet. Die Menschen sind verschwunden, wahrscheinlich ausgestorben, und mit ihnen die olympischen Götter. Der Welt ist wieder unbebaut, das Gras hoch zwischen den Schneeflecken. Es bleibt keine Geschichte, nur die ungeheure Vorzeit. Der geschichtliche Menschengeist ist in seinen geologischen Urgrund zurückgekehrt, wo lediglich die heidnischen Gottheiten der Bäume, der Quellen, der Landschaft und der Orte hausen. Es bleibt nur die enorme sprachlose φύσις. Indem Fink mit seiner kosmologischen Auslegung der Dichtung von Pavese »das Einfache der Erde schlicht zu vernehmen und auszusagen« (Fink 1977, 216) versucht, liefert er gewissermaßen eine späte Antwort auf Plutarch, der in seinem Werk Über die eingegangenen Orakel von einem ungeheuren Schrei berichtet, der plötzlich die Stille brach und über Griechenland schallte: »Der große Pan ist tot!« Die φύσις in ihrer schöpferischen Kraft war ausgetrocknet. Sie hatte, beraubt von ihrer Unabhängigkeit und ihrem schöpferischen Überfluss, ihre Stimme verloren. Nachher konnte sie von neuen, anderen Gottheiten beherrscht werden, von den olympischen Göttern des Himmels und schließlich von einem neuen, titanischen Wesen: dem Menschen. Ihm wurde die Erde nur noch als Faktum gegenwärtig, sie wurde zum Gegenstand der theoretischen Naturwissenschaften und zum bloß Vorhandenen für seine 57 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Herstellungstätigkeit. In dem Schrei hatten sich die Unruhe, die Unheimlichkeit, der Sinn der tiefen Entwurzelung angekündigt, die nach wie vor über dem modernen Menschen schweben. Und so erscheint uns das kosmologische Denken Finks als ein Versuch, über diese Zäsur in der Weltgeschichte hinweg zurückzugehen und den kosmologischen Sinn der Erde wiederzugewinnen.

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Die Chiffren des Mythos Fink liest Cesare Pavese Cathrin Nielsen

»Der Mensch ist für sich das größte Labyrinth.« Eugen Fink, Orphische Wandlung Als sich Fink kurz vor seiner Emeritierung einer philosophischen Interpretation von Cesare Paveses 1947 erschienenen Gesprächen mit Leuko zuwendet, trifft er auf einen Autor, der in dialogischen Miniaturen Gestalten aus der griechischen Mythologie auftreten lässt, deren Gespräche um das menschliche Dasein in seinem paradoxen Bezug zum Außermenschlichen kreisen, zum Ansichsein der »Natur«, das es im »Fürmichsein« zu leben gilt. Bei Pavese entdeckt Fink die Möglichkeit, das Weltmoment der »Erde« in Narrative zu fassen, die wiederum als »Existenzchiffren« zu lesen sind, als menschlich-allzumenschliche Antworten auf das, was sich der phänomenologischen Aufweisbarkeit entzieht, ohne doch damit zu verschwinden. Der Beitrag greift vier paradigmatische »Existenzfiguren« bzw. »Urerfahrungen« heraus und entfaltet sie vor dem Hintergrund einer »existenzialen Analytik« der Begegnung des Menschen mit sich selbst. Dabei gelingt es Fink, die tendenziell vage bleibende Suggestion einer »Metaphysik von Erde und Nacht« zu unterlaufen und ihr eine Auslotung der Abgründe im Menschen entgegenzustellen, die in ihrer Trockenheit und Schärfe an den Nietzsche von Jenseits von Gut und Böse erinnert.

1 »Existenz und Natur« – mit diesen Worten umschreibt Fink die Frage, mit der er sich kurz vor seiner Emeritierung einer philosophischen Interpretation 1 von Cesare Paveses 1947 in einem Turiner Verlag erschienenen Gesprächen mit Leuko zuwendet. Pavese lässt hier in knapp dreißig dialogischen Miniaturen Gestalten aus der grie1

Fink 1971, 53–112, hier S. 54.

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Die Chiffren des Mythos

chischen Mythologie auftreten (die Titelgeberin Leuko, Leukothea ist eine von ihnen), deren Gespräche um das menschliche Dasein in seinem Bezug zum Außermenschlichen kreisen, zum Ansichsein der »Natur« im weitesten Sinne. Die Betonung des Bezuges ist hier entscheidend: die Götter, Kentauren, Chimären und Nymphen, die miteinander, aber auch mit Sterblichen, die sich wiederum in ganz unterschiedlichen Lebensaltern befinden, ins Gespräch treten, werden ausdrücklich als Mächte bezeichnet, denen der Mensch nicht als etwas ihm Äußerliches gegenübersteht. Es sind vielmehr Weisen, wie er das, was ihm uneinholbar vorausliegt, was ihn durchdringt, durchhaust und durchwirkt, für sich fassbar zu machen versucht – ein kaum systematisierbares Kaleidoskop menschlicher Bezüge, Widerfahrnisse und Pathologien im Zusammenhang eines Weltganzen, das eine Oberwelt des Lichtes, der Grenzen und Unterschiede kennt und eine nächtliche Seite des Verstummens, des Schicksals und der »Metamorphosen einer großen Lebensflutung« (Fink 1971, 107), in dessen »Tätertum« wir, wie Fink sagt, »keinen Täter ausmachen können« (ebd. 106). Die Gestalten verkörpern also Aspekte des Menschseins selbst bzw. der Tatsache, dass der Mensch als ein Wesen des »Zwischen« immer schon in irgendeiner Weise Stellung zum Außermenschlichen nimmt und genommen hat – es sind ja allererst diese Stellung- oder Bezugnahmen, die die anonymen Mächte überhaupt zu ›Gestalten‹ werden lassen, »an sich« gibt es sie nicht. Fink spricht auch von »maskierte[n] Formen der menschlichen Selbstbekümmerung« bzw. des »einen brennenden Anliegen[s], das unser eigenes Leben ist« (Fink 1987, 7). Stellt schon ihr Dialog als solcher eine Art durchaus prekärer und zwingend ›uneigentlicher‹ Mischung dar, so finden diese Gespräche darüber hinaus ausdrücklich zwischen Wesen statt, die gleichermaßen (und doch je anders) aus abgründig-natürlichen, individuell-menschlichen und göttlichen Anteilen bestehen. Sie sind, wie paradigmatisch Teiresias, Hermes oder Orpheus, Grenzgänger zwischen Leben und Tod, sie sind Geschlecht (in seiner doppelten Konnotation von Sexuellem und Herkünftigem), sie sind als Individuen im weitesten Sinne Unterschiedene und doch zugleich wie die Götter voller gehässiger Neugier auf solche, die zwar, so Fink, »Göttliches in sich tragen, aber es nicht auszutragen vermögen« (Fink 1971, 105). Die mythologischen Gestalten stellen somit Verdichtungen von Existenzbezügen dar, die nicht kanonisch sind, sondern Chiffren, die sich im Narrativ der mythischen Konstellationen, die ja selbst wan61 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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delbar waren und sind, unablässig weitererzählen. Mit anderen Worten: Es ist hier nichts wörtlich, aber doch alles in seinem existenziellen Gewicht zu nehmen. Die dialogischen Szenen (in die Fink wiederum seine deutende Stimme einbringt und ich wiederum meine und jeder Leser wiederum seine oder ihre) schlagen endliche Perspektiven eines Umgangs auf mit etwas, das unzählige Masken kennt und unzählige Formen des Scheiterns, der bizarren Umschwünge, Vereinseitigungen und Verführungen, und das Genauigkeit nicht im Blick auf sein historisch-logisches Gespinst verlangt – also die einzelnen ›Fäden‹ des ewig weitergereichten Gewebes –, sondern im Hinblick auf das Pathos, welches die Spule sozusagen lostrat. Aus der Kontrastierung und den wechselnden Perspektiven, die in den jeweiligen Dialogen gegeneinandergestellt werden (mit Nietzsche könnte man sagen ›der Subjektpunct springt herum‹), ergibt sich so eine »unaufhörliche Spiegelung« (Fink 1971, 58), eine Art kaleidoskopisches, nie zu vollendendes Selbstgespräch – aber nicht als fürsichseiendes Subjekt, sondern als vielstimmiger Chor einer geschichtlich-mythischen Existenz. Die Zeit des Mythos ist mit anderen Worten nicht die vergangene Antike, sondern jener ewige Austausch zwischen den Lebenden und den Toten, der sich nicht dem Gegensatz und der Chronologie verdankt, sondern ihrem Zugleich. Es geht Fink um das innerste Motiv des Mythischen selbst, nämlich um das existenzielle Paradox, in der Bedrängnis durch die und zugleich als »Natur« zu sein, das bewusstlose »Ansichsein« im »Fürmichsein« leben zu müssen. Denn wie kann man etwas wissentlich leben, das sich doch dem Wissenkönnen als der ihm unvordenklich vorausliegende »Urgrund« entzieht? Muss man nicht über das, worüber man nicht sprechen kann, schweigen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass man über das, worüber man nicht sprechen kann, auch (oder sogar gerade) nicht schweigen kann? Ich möchte im Folgenden zunächst vier paradigmatische »Existenzfiguren« (Fink spricht auch von »Urerfahrungen« [ebd. 63]) herausgreifen: 1. Endymion, der im Gespräch mit einem geheimnisvollen Fremdling von seinem Verlangen berichtet, aus seiner unruhevollen Vereinzelung in den Urgrund, den »Schlaf der Welt«, in dem sich alle Dinge berühren, einzugehen. 2. Ödipus im Gespräch mit dem blinden Seher Teiresias, wo es um die anonyme Übermacht des Geschlechtlichen geht, 3. Orpheus, der im Dialog mit einer Mänade der Todesoffenheit und Unwiederholbarkeit des menschlichen Lebens gewahr wird, und 4. das Gespräch zwischen Odysseus und Kalypso 62 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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und dessen Weiterspinnen durch die »Hexen« Kirke und Leukothea, das die menschliche Zeiterfahrung und das Erinnern thematisiert.

2 Der sterbliche Endymion erzählt einem zufällig vorbeikommenden Wanderer von seiner Begegnung mit der Göttin Artemis (Pavese 1958, 71–77). Er, Endymion, der allnächtlich ins Latmosgebirge steige, um dort das Morgengrauen abzuwarten, in dem sich die Dinge wie unberührt und doch niemals allein abzuzeichnen beginnen, er sei eines Nachts, in der er an einen Baum gelehnt eingenickt sei, von ihr, Artemis, jener »Gestalt des Wilden«, die »keinen Namen habe« oder aber unzählig »viele«, von der »unantastbaren Natur« selbst berührt worden. Sie habe ihn mit einem Lächeln angesehen, das alles versteinerte, und zugleich einem Blick, der alles umschloss: Jedes Ding, jedes Tier, jede Gebärde, jeden Tod, jedes Wort, jede Erinnerung, alles, was war, was ist und was kommen wird. »Du mußt nie erwachen«, sagte dieser Blick, »dich nie bewegen«, denn ich komme ohnehin wieder. Seit dem Bann durch diese »durchsichtigen Augen« (wie es bei Pavese heißt) breite sich eine »nächtliche Lichtung« in ihm (Endymion) aus, oder genauer, die Helle des Tages als Nacht, in der alles, was er vormals im Schlaf als »innig« und eines erfuhr (oder doch zu erfahren glaubte!), plötzlich von Vernichtung umgeben sei, jedes einzelne Ding wild, unantastbar und tödlich. Seitdem wartet Endymion auf die Wiederkehr dieses Anblicks. Bei seinem Abschied ermutigt der Fremde ihn zu seiner merkwürdigen Erfahrung, weist ihn jedoch zugleich auf ihre unauflösbare Paradoxie hin: »Ein jeder hat den Schlaf, der ihm zukommt […]. Schlafe ihn mit Mut […]. [Du] mußt nicht mehr erwachen, denke daran!« (Pavese 1958, 77) Fink liest in dieser »Existenzchiffre« den Versuch einer Flucht aus dem »Riss«, der das menschliche Dasein grundsätzlich charakterisiert. Nach der Berührung durch die »Wildnis« wird Endymion von einem nahezu rasenden Verlangen nach Selbstnegation ergriffen, nach dem »Heraustreten aus dem menschlichen Schicksal, das sich im Wechsel von Selbstverlorenheit im Schlaf und Selbstgewinn im Wachen vollzieht« (Fink 1971, 63). Der Schlaf als eine Seinsweise des Ansich lässt den Menschen vorübergehend in eine Distanzlosigkeit zu allem versinken; er rührt an alle Dinge, ohne an sie zu »stoßen«. Diese Berührung ist jedoch zugleich ein »Anrühren an den 63 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Abgrund des Schrecklichen« (ebd. 62), das heißt, sie ist für den Wachenden keine lebbare, wenngleich eine schmerzlich erfahrbare Möglichkeit. Der in die Finsternis starrende Endymion bleibt »an der Grenze, im Niemandsland« zwischen Existenz und Natur, und seine Ortlosigkeit gipfelt in der uneinlösbaren Aufforderung des Fremden, er solle, wie Fink dies übersetzt, »mit Bewußtsein nicht vergessen, in das Vergessen des Bewußtseins einzugehen« (ebd. 63).

Ödipus und Teiresias Endymions gequältes Wachsein in seinem Verlangen, ganz in die Natur einzutauchen, sowie die hier aufkeimende Verwirrung hinsichtlich der Frage, wann jemand ›eigentlich‹ wach ist oder schläft, das heißt eines bzw. einsam ist oder vieles, ansich oder fürsich, wird im Gespräch »Die Blinden« zwischen Ödipus und Teiresias im Hinblick auf die Geschlechtlichkeit fortgesponnen (Pavese 1958, 49–52). Es ist das Gespräch zwischen einem Alten (Tereisias) und einem Jungen (Ödipus) – also zwischen zwei Lebensaltern –, zwischen einem, der so viel erlebt hat, dass ihm jede Geschichte, die er hört, seine »eigene zu sein scheint«, und der weiß, dass auch die Götter nichts gegen den Gang der Dinge auszurichten vermögen, und einem, dem kurz nach diesem Gespräch die Augen aufgehen werden – als er seine eigene Geschichte begreift, blendet sich Ödipus bekanntlich selbst. Mit Teiresias spricht er jedoch als noch Unwissender, für seine eigene Geschichte »Blinder«; er betont, seine Rolle Gatte, Vater und König ohne irgendeine Zweideutigkeit zu leben, ja erkundigt sich neugierig und noch gewissermaßen ganz von außen nach Teiresias Doppelgeschlechtlichkeit, das heißt nach der diesem von den Göttern auferlegten Strafe, sieben Jahre lang als Frau leben zu müssen, nachdem er aus Ekel und Zorn zwei vor seinen Augen kopulierende Schlangen getötet hatte. Während Ödipus den »Riss« im Menschen also auf eine scheinbar ›natürliche‹ Weise leben kann, weil er sich den Namen, Strategien und Gesetzen der Götter beugt, die über die unheimliche Seite des Geschlechtlichen zu herrschen scheinen, spricht Teiresias aus der Gleichzeitigkeit nicht nur der Geschlechter, sondern auch der abgründigen Vereinigung von Leben und Tod, für die der Phallus, die sich selbst begattende und verschlingende Schlage (der ourobóros) das älteste Bild ist. Auch er, Teiresias, jedoch ist diese Gleichzeitigkeit nicht, sondern es ist lediglich sein Alter (und das Alternmüssen ist ja 64 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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ein spezifisches, den Göttern vorenthaltenes Charakteristikum der Sterblichen), das ihn mit so vielen Widerfahrnissen ›ausgestattet‹ hat, dass er zuletzt in einer Umkehrung seines eigenen physischen Zustandes sagen kann, blind sein sei »kein anderes Unglück als lebendig zu sein« (ebd. 49). Nicht der blind Lebende, sondern der am Leben selbst blind Gewordene (der, welcher zu viel gesehen hat) weiß, wie es bei Pavese heißt, um die »mächtige Schlange in jedem Tag unseres Lebens« (ebd. 52). Nicht Göttlichkeit, sondern schlicht das Alter lässt die Sterblichen zuletzt an die wahre Übermacht des Geschlechts rühren, jene sich ewig gleich bleibende »Natur«, an der sich Verdruss, Wollust und Ekel verlieren, aber auch die Bilder, Namen und Worte. »Für den«, so Teiresias, »der wie ich nichts mehr sieht, sind alle Dinge nichts anderes als ein Stoß« (ebd. 50), ein dumpfes Gewahrwerden dessen, dass der eigentliche Gang der Dinge namenlos geschieht, ohne Täter, ohne göttliche Lenkung, ohne irgendeinen Zweck. »Hast du dich jemals gefragt, Ödipus, warum die Unglücklichen, wenn sie alt werden, erblinden?« Ödipus schließt den Dialog mit den hastig ausgestoßenen Worten: »Ich bitte die Götter, es möge mir nicht widerfahren.«

Orpheus Einen weiteren Aspekt der für den Menschen unauflöslichen Gegenstrebigkeit zwischen der sich blind gebärenden und verschlingenden Natur und der Existenz des Einzelnen, der ihr wie gesagt nicht einfach gegenübersteht, sondern sie ist und leben muss (Pavese symbolisiert sie als den »Felsen« und darin steckt zweifellos auch das Versteinernde des Schmerzes, in dem sie sich für uns wenn nicht begreiflich, so doch erahnbar macht) – einen weiteren Aspekt dieser Natur thematisiert der Dialog »Der Unströstliche« (Pavese 1958, 121–125), in dem Orpheus und Bakcha, eine Mänade, ja man muss sagen: aneinander vorbeireden. Orpheus ist in den Hades hinabgestiegen, um seine tote Frau Eurydike zurückzuholen. Auf dem Rückweg in die Welt des Tages, Orpheus vorneweg, Eurydike in seinem Rücken, berichtet Orpheus von der Kälte und Leere, die er aus der Unterwelt mit heraufnimmt, und von dem bedrückenden Gedanken, eines Tages erneut dorthin zurückkehren zu müssen, so dass »abermals sein wird, was war«. Das Leben mit Eurydike würde von nun an immer schon ein gewesenes sein. Dann habe er selbst dies laut 65 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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gesagt »Es ist zu Ende!« und sich umgedreht, woraufhin Euridyke verschwunden sei, »wie eine Kerze verlischt« (ebd. 121). Fink deutet diese Grenzziehung im Blick auf die Zeiterfahrung und ihren Zusammenbruch im Tod. Während die Mänade die dionysische Einheit von Leben und Tod verkörpert, als deren bevorzugter Sänger Orpheus üblicherweise gilt, betone Pavese die menschliche Existenzweise, für die es kein leibliches Zusammenleben mit solchen geben kann, die bereits durch den Tod hindurchgegangen sind, ihn also als Gewesensein hinter sich tragen. Indem er sich wissentlich umdreht und damit das Gespenst seiner ehemaligen Gefährtin verlöschen lässt, protestiert Orpheus gegen die Zumutung, jemanden, der nicht mehr im Vorlaufen zum Tode, also endlich existiert, als seinesgleichen zu betrachten. Mit seinem Wort vom »Ende« zieht er somit eine Grenze, die zwar für die Begleiterin des Dionysos unwirklich, für das lebendige Individuum jedoch schlechterdings entscheidend ist. Die ausgerufene »Todesgrenze« ist es zugleich, die seinen Gesang nicht Eurydike gelten lässt oder der ›wilden‹, übergängigen Welt untertags. Die Wirklichkeit des orphischen Gesangs ist eine Wirklichkeit, die sich allein auf die Vergangenheit richtet (und damit eine Dimension, die nur den Sterblichen zugänglich ist), auf die unwiderruflich gestorbene Geliebte. Die Vision der Überwindung dieser Grenze scheint ihm dem Stärksten, was wir haben und was uns als Menschen ausmacht, die Kraft zu nehmen, und das ist die Trauer um unsere (und die unserer Nächsten) Endlichkeit. Indem er den Tod absolut setzt, behauptet Orpheus sich also als Mensch, während Bakcha diese existenzielle Vereinsamung und Selbst-Behauptung und die mit ihr verbundene Setzung der Unterschiede gerade in Frage stellt.

Odysseus Um verschiedene Weisen, in der Zeit zu sein, eine menschliche und eine außermenschliche, und die den Sterblichen vorbehaltene Dimension des Gedächtnisses geht es auch in den letzten zwei Dialogen, auf die ich kurz eingehen möchte. Der erste (»Die Insel«; Pavese 1958, 153–156) entspinnt sich zwischen Odysseus und Kalypso; er wird im zweiten (»Die Hexen«), den die Göttinnen Kirke und Leuko miteinander führen, noch einmal perspektivisch gebrochen und enggeführt. Der schiffbrüchige Odysseus befindet sich auf der Insel der Kalypso, einer »Göttin der Vorzeit«. Es ist dies eine Insel, so Fink, »am 66 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Ende aller Entwürfe, in der Flut der Zeiten versunken, gewissermaßen schlafend in der Zeit« (Fink 1971, 100). Kalypso ist selbst eine in die Zeitentrücktheit versunkene Gottheit, zwar ewig, aber doch zugleich vergangen, »beinahe tot«, wie sie sagt, denn der Zeit sind auch die Götter nicht enthoben, auch sie sind in dieser Hinsicht »fast sterblich« und dem Untergang geweiht. Als Göttin kann Kalypso jedoch weder hoffen zu sterben noch zu leben – daher nimmt sie den »Augenblick« an, als Anerkenntnis der Grenze ihres chtonischen Wirkraums und Schicksals, nie wieder sein zu können, was sie einmal war. In diesen Schlaf, in diese »Stille des Pan« (der gleichnamige antike Hirtengott steht nicht nur für den ewigen Kreislauf der Natur – seine bevorzugte Stunde ist zugleich die des Mittags, also der Zeit des kürzesten Schattens und des Wechsels vom Aufstieg zum Niedergang der Sonne, in der dem Mythos nach die Lebenden und die Toten ineinander übergehen – in unserem Fall sind es Sterbliche und Unsterbliche), (in diesen Schlaf) tritt nun Odysseus ein »wie ein Traum«. Vom Moment dieses Eintritts an begehrt die Göttin bei Pavese danach, ihren »Schlaf« (also ihre Göttlichkeit) mit Odysseus zu teilen, um sie »ertragen« zu können, und beginnt damit das Erwachen in die Traumlosigkeit in demselben Maße zu fürchten wie die Menschen den Tod. Odysseus lehnt dieses Teilen der zeitlosen Gegenwart (»Insel des Augenblicks«) jedoch ab, da er ein anderes, ein »menschliches Schicksal« in sich trägt. Im Gegensatz zu Kalypso ist er nämlich »auf die Zukunft ausgerichtet«, genauer auf die Heimkehr zu seiner Frau Penelope, die ihm erinnernd gegenwärtig ist. Seine Seinsweise als die eines Sterblichen ist somit nicht die Zeitentrücktheit, sondern die, wie Fink sagt, unstillbare Beunruhigung durch einen »Vorgriff in die Zukunft und einen Rückgriff auf die Vergangenheit« als seine Form der »Unsterblichkeit«, die er nicht gegen die göttliche Seinweise ›tauschen‹ kann und möchte. In dem diese kontrastierende Zeiterfahrung fortspinnenden Dialog »Die Hexen« (Pavese 1958, 167–171) spöttelt Leukothea (Leuko, die Namengeberin von Paveses Dichtung) gemeinsam mit Kirke über diesen merkwürdigen »Ernst der Zukunft« und die daraus folgende Unfähigkeit der Menschen, sich dem panischen Augenblick des Ansich hinzugeben. Aufgrund der Kürze ihres Lebens sei es ihnen nicht vergönnt, das, was ist, einfach zu bejahen; ihre unablässige Vorbereitung auf den Tod, ihr maßloses Angezogenwerden von ihm stelle zwar, wie Kirke bemerkt, eigentlich eine »Wiederholung« dar, also die Anerkenntnis von etwas immer schon »Gewußtem«, sich an 67 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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allem ewig wiederkehrend Vollziehenden, aber dieses Wissen sei für den Menschen nicht als »ansich« lebbar, sondern nur als »fürsich«. Daher habe sich Odysseus auch weder in ein Schwein noch in einen Gott verwandeln lassen, sich mit der Halbgöttin also weder als Tier noch als Gott gepaart, sondern sie eines Abends mit dem Namen Penelopes angesprochen, wodurch er einerseits ihre abgründige sexuelle Anziehungskraft gebannt und andererseits in ihr die menschliche Regung der Scham hervorgerufen und sie somit »fast zu einer Sterblichen gemacht« habe. Indem er sich weder am göttlichen noch am tierischen Sein orientierte, sondern umgekehrt die Göttin mit dem Namen einer Sterblichen ansprach, habe Odysseus in das geschichtslose Dasein der Kirke eine Artikulation der Zeit eingezeichnet, als die er nun ihr selbst (wenn auch nur als traumartige Erscheinung) auch nach seiner Abreise gegenwärtig bleiben wird: das Moment der Erinnerung.

3 Platon greift bekanntlich immer dann auf Mythen zurück, wenn das Thema keine andere Form der Annäherung erlaubt, weil es uns zu nah ist, ja weil wir selbst es sind, über die da verhandelt wird. Statt also mit Begriffen, Kategorien und Argumenten umzugehen, die sich üblicherweise auf Gegenstände außerhalb von uns beziehen (und uns selbst auf diese Weise vergegenständlichen), erlauben es Narrative, wie die alten Mythen oder auch ihre Weiterschreibungen durch Autoren wie Cesare Pavese, konkrete Beispiele zu geben für das, was dann viel später (auch in einem sachlichen Sinne später) zu einem philosophischen Terminus wird. Hegel legt die Einsicht nahe, dass philosophische Begriffe letztlich als das Ergebnis bzw. die Frucht ihrer eigenen Geschichte verstanden werden müssen. Dies würde wahrscheinlich auch Fink unterschreiben, aber anders als bei Hegel wäre es nicht die eine Vernunft in der Geschichte, die sich sukzessive in erfahrungs-›gesättigten‹ Begriffen niederschlägt. Wie ich es eben anhand Pavesescher Miniaturen angedeutet habe, wäre es eher ein ganzer Fächer von Existenzchiffren, die durch den ontologischen Status der »Zerrissenheit«, den der Mensch innehat, unablässig fortgeschrieben werden. Weil die Geschichte dieses »In-Geschichten-verstricktseins« im Gegensatz zu Hegels Geschichte der Vernunft also nie endet, impliziert sie nicht nur unzählige Perspektiven, sondern 68 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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auch philosophische Revisionen, Neuvergewisserungen, Umdeutungen und ›Kehren‹. Eine dieser Neuvergewisserungen stellen dabei Finks kritische Überlegungen zur Selbstdeutung des Menschen als eines animal rationale dar und der mit ihr verbundenen metaphysischen Ausrichtung am Göttlichen bzw. am Tier. Wir müssen nach Fink damit aufhören, unser Selbstverständnis aus dieser Polarität gewinnen zu wollen, denn anders als das rein Physische und der Gott – die beide zoe sind, Leben in reiner, in sich kreisender Gegenwart – ist der Mensch (wie Odysseus) ein »Irrfahrer«, der »immer den Weg sucht und auf Heimkehr hofft« (Fink 1987, 84). Sein »ausgesetztes« Dasein ist daher prinzipiell nicht vom ›heilen‹ Sein des Tieres oder Gottes zu fassen, und zwar nicht, weil es im Gegensatz dazu ein versehrtes oder unvollkommenes Dasein wäre, sondern weil der Mensch um seine Versehrtheit, Fragmentarität und Endlichkeit weiß. Er weiß um etwas, das sich dem Wissen, Gespür und Selbstverständnis der Götter (hier der Kalypso) und des Animalischen entzieht (beide, Tier und Gott, rücken in Paveses Dialogen nebenbei gesagt in eine fast unheimliche Nähe). Dieses Wissen bringt Lebensformen (gr. bios) und Zeitlichkeiten hervor, die sich vom In-sich-Kreisen der zoe unterscheiden, Lebensformen keines Kentauren aus einem Naturkörper und einem körperlosen Geist, sondern Seinsweisen eines »Weltwesens«, die überhaupt erst das konstituieren, was wir »menschlich« nennen würden: Zeitlichkeit, List, Abstandnahme, Krieg, aber auch Scham, Trauer, Hoffnung, Unruhe, Sehnsucht, Gedächtnis. In jeder dieser Regungen ist der Mensch ›welthaft‹, das heißt, in keinem Aspekt seiner selbst ›weltlos‹, wie Fink betont. Umgekehrt habe vielmehr die metaphysische Deutung des angeblich weltlosen, ungelichteten Daseins mit den Kategorien einer vormenschlichen Natur dazu geführt, dass das Menschliche bis heute »einseitig […] in unseren ›Geist‹, in die Wachheit und Selbstheit, in unser vereinzeltes Selbstbewußtsein« (ebd.) gelegt werde. Die Herausforderung, die Paveses Gespräche mit Leuko an Fink stellen, liegt also im versuchten Aufriss einer Existenzdeutung, die weder einfach von der »Helle« des bewussten Verstehens noch vom Dunkel des Un- oder Vorbewussten ihren Ausgang nimmt, sondern eben aus Existenzerfahrungen, die ihrer unauflösbaren Gegenstrebigkeit entspringen. Eine derartige Auslotung existenzieller Grundphänomene, die vom Menschen nicht nur als eines weltoffenen, sondern zugleich ›erdoffenen‹ Daseins zeugen, ist natürlich 69 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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grundsätzlich Finks Bemühen, dem er zweifellos an anderer Stelle weitreichender, genauer und tiefer nachgegangen ist als in der Interpretation dieser Gespräche. Dennoch finde ich in seiner Auseinandersetzung eine spezifische Aufmerksamkeit, aus welcher die Thematik der »nächtlichen Seite« der Welt aus einer eher ungewohnten Perspektive begegnet. Ich meine damit Paveses anthropologische Skepsis und Radikalität im Blick auf das arrheton, den »Felsen«, wie er auch sagt, und seine schonungslose Demaskierung nicht allein der »olympischen Welt«, sondern auch einer jeden voreiligen Aneignung jenes abgründigen Grundes ›darunter‹, seine gleichzeitige Demaskierung also einer unter umgekehrten Vorzeichenden stehenden »Gegenmetaphysik der Nacht, des Chaos, der dunklen Blutmächte«, 2 deren Gefahr sich Fink in Bezug auf sein eigenes Denken durchaus bewusst war. Jede Intention der Entlarvung antwortet mit einer neuen Maske, und selbst dem unerschrockendsten Menschen geht es zuletzt wie Endymion, der an der Aufforderung, bewusst schlafen zu sollen, irre wird, wie dem greisen Teiresias, dem zwar sämtliche Namen, Umrisse und Grenzen abhanden gekommen sind, dem aber doch alle Dinge bleiben »als ein Stoß« (Pavese 1958, 50), wie er sagt, oder wie Orpheus, der die Grenzen zwischen den Lebenden und den Toten in aller Härte nachzieht, um sich (und nicht die Toten!) in den Gesang zu retten. Kurz, durch Finks Pavesedeutung schimmert eher der Nietzsche von Jenseits von Gut und Böse als der trunkene Verkünder der »mütterlichen Erde« und »ewigen Wiederkehr« (vgl. Fink 1986, 113). Wir können vom »Ansich« der Natur nur sagen, was dem Zeugnis unserer individuellen Existenz entspringt, der Rest ›ist Schweigen‹ – aber eben ein Schweigen, über das wir wiederum nicht schweigen können, eines, das wie der alles versteinernde und umfassende Blick der Artemis durch die hohlen Augen der Maske in uns selbst zurückblickt. Das Paradox liegt darin, dass wir als Menschen offen gegenüber etwas sind, das wir weder theoretisch noch praktisch bewältigen können, weder denken noch leben. Fink bringt diesen Widerspruch in aller Härte zum Ausdruck, wenn er schreibt: Müssen wir nicht, wo es um den Urgrund, das Ansich geht, jenen ewigen Boden, in dem alle

Fink 1977, 186; vgl. auch Pavese: »Durch das Geschlecht, die Trunkenheit und das Blut wurde seit je die unterirdische Welt aufgerufen; und mehr als einem versprachen sie chtonische Seligkeiten. Aber der thrakische Orpheus, Sänger, Wanderer im Hades und, wie Dionysos selbst, in Stücke zerrissenes Opfer, bedeutete mehr.« (Pavese 1958, 119)

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Gegensätze, Namen und Unterschiede kollabieren, müssen wir da nicht gerade da »den Gedanken eines für den Gedanken undurchdringlichen Seins denken«, eben »Sein als das nie erhellbare Dunkel?« (Fink 1977, 238) Bei Pavese entdeckt er die Möglichkeit, jenes undurchdringliche, uns aber immer schon »durchschreckende« Dunkel sowohl aus seinem abstrakt-formalen Sinn als auch einer, etwa durch die Traditionslinie Hesiod, Schelling und Bachofen vermittelten archaischen Mythologie der ›mütterlichen‹ Erde 3 zu befreien und in mythologische Narrative zu fassen, die wiederum als »Existenzchiffren« zu lesen sind, als menschlich-allzumenschliche Antworten auf das, was sich der phänomenologischen Aufweisbarkeit entzieht, ohne doch damit zu verschwinden. Die Untergrabung der Solidität des Subjekts und mit ihr der olympischen Götterwelt sowie die merkwürdige Umkehrung, das »Fürsich« dennoch als »Fürsich« das »Ansich« erfahren zu lassen (also der Verzicht, es aus dem Erfahren des Einzelnen auszuklammern und zu ontologisieren, zugunsten seiner nicht systematisierbaren Zersplitterung in eine »Vielfalt von Aspekten«), zieht die Engführung nach sich, dass es letztlich der Mensch selbst ist, der sich da durch die Maske anblickt, dass also die »Natur im Menschen«, wie Fink schreibt, »fast gleichgesetzt« wird mit der Natur, die »vor dem Namen war, wo die Dinge nicht jenseits, sondern diesseits von Gut und Böse geschahen. Der Mensch selbst wird angesprochen als der Fels des Unwandelbaren, auf dem das Dasein gründet, mögen wir auch in der Scheinwelt der Worte mannigfache Deutungsversuche unternehmen. Unveränderlicher als alles Denken in Worten ist die Erfahrung des Unveränderlichen […]« (Fink 1971, 77 f.). Der »Felsen«, jenes »Gebirg des Seins«, das, wie es im Heraklit-Seminar heißt, »keine Landschaft ist« und »keinen Namen hat« (Heidegger u. Fink 1986, 93), jener Felsen wäre dann nichts anderes als der Schmerz, den jene »Mensch« genannte Zerrissenheit in die Welt bringt, und die aus ihr geborene Nötigung, das unerträgliche Schweigen, das sie umgibt, in jedem Individuum und Moment neu zu brechen.

Leukothea (»die weiße Göttin«) war nach Auffassung des englischen Dichter Robert Graves (»The white Goddess«, 1948), für dessen Bücher Pavese als Lektor des Einaudi-Verlages zuständig war, eine universale, vielgestaltige Muttergottheit. Allein schon »ins Gespräch« mit dieser Gottheit zu treten, stellt eine Art ›humanistischen‹ Akt dar. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Tradition der sog. »Totengespräche« (Lukian).

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4 Kommen wir von hier aus noch einmal auf die eingangs formulierten Überlegungen zum Mythos zurück bzw. zu der Frage, wie sich die mythologischen Miniaturen Paveses zu jener von der abendländischen Metaphysik verdrängten archaischen Religion der Mutter Erde verhalten und ihrer eben angedeuteten Resurrektion in der Moderne; zunächst durch Schelling, der im Rückgriff auf Hesiods Theogonie erstmals den Gedanken entfaltet hatte, alles Gelichtete und Helle ruhe auf einer dunklen Basis auf, und anhand der Gottheiten von Samothrake (1815) als Denkmälern des archaischen Glaubens zeigen wollte, dass ›das Aelteste in der ganzen Natur der Dinge‹ die Nacht sei, dann durch Johann Jakob Bachofens Mutterrecht (1861) und seine Untersuchungen zur Unsterblichkeitslehre der orphischen Theologie, über Erwin Rohde und Nietzsches in der Geburt der Tragödie vollzogene Umwertung von klassischem und frühem Griechentum bis hin zu Heidegger, durch dessen in seinem Kunstwerkaufsatz entfalteten Gedanken einer Zwietracht von Erde und Himmel Fink zweifellos maßgeblich angeregt worden ist. Wie immer wieder mit einem gewissen Erstaunen festgestellt wurde, hat Fink sich auf eine Auseinandersetzung mit diesen alten Quellen nie wirklich eingelassen, 4 sondern eher allgemein darauf verwiesen, dass die Begegnung mit den »großen«, »uralten Mythen« uns »durch ein bestürzendes Staunen hindurch wie vor uns selbst und zu uns selbst« zu bringen vermöchte, dass sie uns also bis heute die Erfahrung machen lassen, dass wir »uns selbst allererst entdecken, so als hätten wir uns niemals gesehen« (Fink 1971, 54). Es ist diese »Selbstbegegnung«, die er in seinem (wie er immer wieder betont) »Experiment« der philosophischen Interpretation Paveses einzuholen versucht, und die Frage, wie das »Selbst«, das sich da begegnet, genauer zu fassen ist, einer der zentralen Augenmerke, die er Paveses Gesprächen zukommen lässt. Nicht nur durch das Mosaik der Paveseschen Narrative, sondern auch in Finks abschließender Engführung wird dieses »Selbst« als eines vorgestellt, das sich zersplittert zu erkennen gibt, »in sich selber widersprüchlich, vieldeutig und von den härtesten Gegensätzen beunruhigt und zerrissen« (ebd. 105), ein unablässig, letztlich in sich kreisendes Kaleidoskop fragmentarischer, ›für sich‹ seiender, jedoch einander (dialogisch) spiegelnder, auseinandersetzender und darin 4

Vgl. Barbarić 2007.

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unterwandernder bzw. übermächtigender, jedoch nie »harmonisierbarer« (ebd. 109) Erfahrungen, die sich in mythologischen Gestalten verdichten, die wiederum selbst der Zeit unterworfen, also vergänglich sind, wie immer wieder im Blick auf die olympische Welt, die als eine vorübergehende und selbst vom Untergang bedrohte erscheint, deutlich wird. (Wie im Gespräch zwischen Odysseus und Kalypso angedeutet, werden auch vorolympische Gottheiten wie Kalypso als »fast sterbliche« gefasst, also als Gestalten, die zwar sozusagen ihrer Natur nach ewig, ihrer spezifischen Wirkmächtigkeit nach jedoch vom Untergang gezeichnet sind, wie andersherum Odysseus als definitiv Sterblicher, aber »den Vergang Gewahrender« [wie Fink sagt] die Möglichkeit hat, wenn auch wieder nur »für eine begrenzte Zeit Zeit zu bewahren und zu verinnerlichen« [ebd. 108].) Von einem solchen zerrissenen »Selbst«, so Fink, lässt sich durchaus fragen, ob es überhaupt zu einem »Verstehen« oder »Bewußtsein« seiner selbst fähig ist (ebd. 105). Pavese stelle dies radikal in Frage, ohne jedoch damit die Egoität, das »Fürsichsein« als »Seinsweise des Ego« (ebd. 105) aufzugeben, die vielmehr geradezu als ein »Fluch« (ebd. 67) erscheine, als »Qual, im Gesetz der Freiheit gebunden zu sein und sich der einstigen Verantwortungslosigkeit«, also einer scheinbar unproblematischen Einheit mit der Natur, »erinnern zu müssen« (ebd. 68). Das »Ansich« der Natur zeigt sich mit anderen Worten immer und zwingend im »Fürmich«, und zwar ausdrücklich nicht im Lichte der Hegelschen Dialektik, zuletzt in den Begriff aufgehoben zu werden, sondern vielmehr in einer »Perversion«, einer gewaltsamen Herumdrehung der fast schon natürlichen Bewegung des Denkens, vom »Bewußtlosen zum Bewußtsein aufzusteigen«. »Paradox formuliert«, so Fink, wird hier der Versuch gemacht, das Ansichsein »in die Helle des Bewußtseins hereinzureißen« – aber »nicht als Grenze des Erfahrens, als dasjenige, was sich weiterer Erfahrung entzieht«, sondern als das »Ursprüngliche und Vorgängige […], das noch weitaus innerlicher sei als alle Innerlichkeit unseres Bewußtseins« (ebd. 106). Nicht uns und unserem Bewusstsein und Verstehen äußerlich, sondern uns innerlicher als diese sollen also die von Pavese mythologisch inszenierten Mächte sein: »Alles steigt ins Licht aus dem Dunkel und bleibt bei solchem Hervorgang immer noch dem Grund verhaftet, einem Grund, der älter ist als die geordnete Welt und der nur von einer dünnen Decke menschlicher Kultur und göttlichen Ordnungswerks überdeckt ist« (ebd.). Pavese fasse dies im Begriff des Felsens, der »unabänderlichen, alles tragenden Substanz im menschlichen Le73 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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ben. Das am meisten Seiende in uns selbst ist gerade nicht […] das Verstehen, sondern uns Unbegreifliches, das wir lediglich mit dem dunklen Namen des Schicksals zu benennen vermögen« (ebd.). Zugleich jedoch und in eins damit betone er die »Verfangenheit« und »unheimliche Verkapselung« des Selbst in sich selbst: »Je härter und unaufbrechbarer die Egoität erfahren wird, desto mehr betont Pavese […] die Ohnmacht dieses Ich, […], sein illusionäres Bewußtsein, frei zu sein, während das Ich in Wahrheit ein Getaner ist, der keinen Täter zu benennen vermag« (ebd. 107). Der Mensch, der in seiner Zerrisssenheit in sich selbst an den »Abgrund des Schrecklichen« (ebd. 62) rührt, werde hier weder vom Tier noch vom Göttlichen her gedacht, sondern aus seiner existenziellen, irreduziblen Sphäre des Zwischen oder »Risses«, wie Fink sagt, als das to deinotaton, das »Unheimlichste«, dessen »unheimliche Basis« (ebd. 108) auch und gerade die coexistenziellen Bezüge durchzieht und zeichnet. In dieser radikal skeptischen Destruktion der metaphysischen Voraussetzung einer das Animalische befreienden Rationalität, einer transzendentalen Subjektivität, ja selbst der Phänomenologie bzw. ihrer Reformulierung durch seinen Lehrer Heidegger, den Fink, wie vor allem in dem gemeinsam veranstalteten Seminar zu Heraklit deutlich wird, 5 als einen Denker der Lichtung erfahren hat, als jemanden, der das Dunkle (der Natur) bis zuletzt »nur als Grenze des Offenstehens«, als »äußere Umwandung« menschlicher Existenz verstehen konnte (Heidegger u. Fink 1986, 209), in dieser Destruktion nimmt Fink wie mir scheint zugleich Abschied von einer die Metaphysik des Lichtes untergründig begleitenden Religiosität der Nacht (als ihrem »anderen Anfang«), wie sie wenigstens teilweise bei Nietzsche und Heidegger, unmissverständlich jedoch in der orphischen Theologie eines Bachofen zum Zuge kommt. Es war Karl Kerényi, der auf jene im Grunde zutiefst unantike, durch die Philosophie Plotins gebrochene Rezeption der Mysterien hingewiesen hat, die bis heute unser Verständnis von Mystik leitet. Immer geht es da, wie Kerényi schreibt, »um ›Flucht des Einen zum Einen‹ […]: um ›Flucht‹, das heißt um Ausscheiden aus der Welt, in der man als ›Einer‹ schon ›allein‹ […] war, und es geht um Vereinigung mit dem seinem Wesen nach ›Einen‹, dem All-Einigen. Ob das All monotheistisch als jener Einzige, der wirklich ist, aufgefaßt wird, oder pantheistisch als All-Wesen, [es] bleibt die Orientierung nach 5

Vgl. Nielsen 2011.

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einem Wesen oder Sein, das außerhalb der Vielfältigkeit unseres naturhaften Daseins liegt […]. Wird jenes Wesen oder Sein als schlechthin Übernatürliches wie im Christentum, oder der vielfältigen Welt der Natur sonst Entgegengesetztes wie in anderen Erlösungsreligonen, aufgefaßt, so erstrebt die Mystik auch die Erlösung des Menschen als seine Herauslösung aus allen naturhaften Bindungen« (Kerényi 1998, 143).

Die attischen Mysterien dagegen, auf die auch Fink sich immer wieder hinweisend, wenn auch selten genug in ausdrücklicher Auseinandersetzung bezieht, sollen dagegen eine »spezielle Form des Arreton« bezeichnet haben, in der der Mystes durch ein zeremonielles Schließen der Augen und des Mundes (also durch ein vorübergehendes Erblinden und Sprachloswerden) »auf die eigene Dunkelheit gleichsam zurückfällt, ins Dunkel eingeht« (ebd. 148). Sie sind zunächst nichts anderes als Ein-Gänge, in-itia, die noch nichts mit einem philosophisch gefassten ›Ursprung‹ zu tun haben, in das Dunkel der »naturhaften Lebensentstehung«, zu der sie »nicht umsonst«, wie Kerényi schreibt, »auf nächtliche Weise zurückführen« (ebd. 149). Sie bewirkten ein in mythologischen Bildern (etwa der Hochzeit der Persephone und des Hades) erlebtes »Zurückgestelltsein des Menschen auf die naturhaften Wurzeln seiner Existenz«, deren originär Unaussprechliches schon in der durch die neoplatonische und neopythagoreische Orphik überformten Spätantike »nicht mehr möglich« (ebd.) gewesen sein soll. (Das also als wirkliches Arreton der abgründigen Verwandtschaft alles lebendigen Fleisches sukzessive durch den ›orphischen Diskurs‹ einer »Reinigungssehnsucht« [Kerényi] überformt wurde.) Die »orphische Wandlung«, deren vorübergehende Möglichkeit Fink etwa anhand des in der Dichtung Rainer Maria Rilkes evozierten »reinen Überstiegs« bedenkt 6 und die bekanntlich den Titel eines Aufsatzes aus der gleichen Zeit bildet (1971), eine solche »orphische Wandlung« scheint für ihn zumindest hier, in seiner philosophischen Deutung Paveses, eingeschlossen zu bleiben in den Abgrund des labyrinthartigen Dunkels in uns selbst. Dies erfordere letztlich den »Aufriß einer existenzialen Analytik«, die »weder vom Bewußtsein und Vgl. Fink 1972, 87, wo Orpheus mit Rilke als derjenige gedacht wird, dessen Lied der »großen Weltstille« bedarf, des »Schweigens der Toten«, um sich hinauszuwerfen über »das Bestehende, Gegebene, Vorliegende«, um es rein zu übersteigen. Dagegen heißt es in Metaphysik und Tod: »Philosophie ist keine orphische Möglichkeit«. »Niemals kann sie so sprechen wie einer, der aus der Unterwelt heraufgestiegen.« (Fink 1969, 57)

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Verstehen noch vom Gestimmt- und Befindlichsein ausginge«, sondern »in skeptischer Zurückhaltung und trotzdem wagenden Ausgriff […] den Menschen der Natur gegenübersetzte wie auch diese Gegenübersetzung wieder zurücknähme« und die »im Bewußtsein gleichwohl auch noch das zu fassen suchte, dessen bewußtseinsmäßige Uneinholbarkeit sie anerkennen müßte« (Fink 1971, 111). Eine solche Analytik wäre, wie Fink etwas rätselhaft und fast kokett schließt, »ein titanisch-kindlicher Versuch des Menschen«, zur deren philosophischer Fragestellung Paveses Gespräche mit Leuko auf ihre Weise einige Schneisen gelegt haben.

Literatur Barbarić, D. (2007): »Wende zur Erde«, in: ders.: Aneignung der Welt. Heidegger – Gadamer – Fink, Frankfurt am Main, 233–245. Fink, E. (1969): Metaphysik und Tod, Stuttgart. – (1971): »Zu Cesare Pavese Gespräche mit Leuko«, in: ders.: Epiloge zur Dichtung, Frankfurt am Main, 53–112. – (1972): »Orphische Wandlung«, in: Philosophische Perspektiven 4, 74–89. – (1977): Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, hg. v. E. Schütz u. F.-A. Schwarz, Freiburg/München. – (1986): Nietzsches Philosophie, Stuttgart. – (1987): Existenz und Coexistenz. Grundprobleme der menschlichen Gemeinschaft, hg. v. F.-A. Schwarz, Würzburg. Heidegger, M. u. E. Fink (1986): Heraklit. Seminar WS 1966/67, Frankfurt am Main. Kerényi, K. (1996): »Pythagoras und Orpheus«, in: ders.: Humanistische Seelenforschung, Stuttgart, 14–41. – (1998): »Der Sinn der Bezeichnung ›Mysteria‹«, in: ders.: Urbilder der griechischen Religion, Stuttgart, 143–151. Nielsen, C. (2011): »Kategorien der Physis. Heidegger und Fink«, in: C. Nielsen u. H. R. Sepp (Hg.): Welt denken. Annäherungen an die Kosmologie Eugen Finks, Freiburg/München, 154–183. Pavese, C. (1958): Gespräche mit Leuko, übers. v. C. Gelpke, Hamburg [Dialoghi con Leuco, Turin 1953].

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Geistige Natur, natürlicher Geist: Der unmögliche Dualismus Nicola Zippel

Um die Beziehung zu überdenken, die zwischen Husserls Begriffen »Natur« und »Geist« besteht, rekurriert dieser Beitrag auf Finks tiefsinnige Bemerkungen zur grundlegenden Frage der subjektiven Zeitlichkeit. Richtet man das Augenmerk auf die unüberbrückbare Verschiedenheit von Natur – der Hyle als zeitlichem Vorgang des Bewusstseins – und Geist – der Subjektivität als verleiblichtem Ego des Bewusstseins –, d. h., achtet man auf das passive, spontane und materiale Dasein der Zeit als Zeitbewusstsein einerseits und die aktive, bewusste und geistige Entwicklung des Egos andererseits, so wird ersichtlich, dass es hier keinen Dualismus gibt. Denn es liegen weder eine Gleichursprünglichkeit noch ein Vorrang des einen vor dem anderen vor, sondern eine Art von eigentümlicher Koexistenz von Natur und Geist. Im Anschluss an Fink geht es darum, phänomenologisch die Unmöglichkeit einzugestehen, die Stufe der Natur, des Nicht-Egologischen, von der Stufe des Geistes, des Egologischen, klar zu unterscheiden.

Einleitung In meinem Beitrag werde ich mich zunächst mit den Überlegungen Husserls zum Zeitbewusstsein beschäftigen und sie anschließend um zentrale Bemerkungen Eugen Finks hinsichtlich der grundlegenden Frage subjektiver Zeitlichkeit ergänzen. Husserls Haltung gegenüber den Begriffen »Natur« und »Geist« ist zwiespältig: Auf der einen Seite hält er ihre Unterscheidung für ein Erbe der cartesianischen Philosophie, das die Gefahr einer »Reification« des Bewusstseins als geistiger Dimension in sich berge. Auf der anderen Seite nimmt er diese Unterscheidung selbst vor, um ein zentrales Thema der Phänomenologie zu bezeichnen. In beiden Fällen jedoch und ihren jeweils unterschiedlichen Einstellungen verfolgt er denselben Zweck: einer Verwechslung vorzubeugen zwischen dem, 77 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Nicola Zippel

was zur »Natur«, und dem, was zum »Geist« gehört. Indem er die überlieferte Trennung zwischen den Natur- und den Geistwissenschaften übernimmt, möchte Husserl zudem nicht lediglich zwei Untersuchungsgebiete voneinander unterscheiden, sondern zwei grundsätzlich verschiedene Bereiche der Forschung markieren: auf der einen Seite die Natur als das Reich des Mechanismus und der unpersönlichen Vorgänge, und auf der anderen Seite den Geist als das Reich der Rationalität, Motivation und persönlichen Freiheit. Durch diese klare Trennung will Husserl das zu erforschende Thema deutlich eingrenzen, wenngleich die Methode – hier gerichtet auf den eidetischen Zusammenhang von Teilen der Natur und Teilen des Geistes – dieselbe bleibt. In Bezug auf den Geist sagt Husserl ferner, persönliche Individuen und Gemeinschaften seien »doppelte«, nämlich sowohl physische als auch psychische Realitäten, und in Bezug auf die Natur heißt es, dass der Begriff der »materiellen Natur« einen »sehr gewöhnlichen engeren Sinne« habe (vgl. Husserl 2000, 25). Vor dem Hintergrund dieser (freilich sehr knapp gehaltenen) Überlegungen gilt es weniger, die Trennung zwischen Natur und Geist hervorzuheben, als nach dem zu fragen, was Natur und Geist verbindet. Meine Absicht ist es, auf der Basis des Wechselspiels zwischen der nicht-egologischen und der egologischen Dimension die inneren Vorgänge des Zeitbewusstseins zu untersuchen. Auf diese Weise sollte es gelingen, den Punkt ausfindig zu machen, der eine solche Verflechtung erlaubt, und von hier aus zu zeigen, dass Natur und Geist zusammengehören und nur aus dieser Zusammengehörigkeit die Entwicklung des persönlichen Lebens des Subjekts ermöglichen.

1.

Phänomenologisches Zeitbewusstsein

Grundsätzlich gesagt evoziert das Thema der phänomenologischen Zeit eine anregende Herangehensweise, um ein Konzept des Bewusstseins zu entfalten, das sich demzufolge durch verschiedene objektive Momente (vorher-jetzt-nachher) einer persönlichen Dauer (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) unablässig fortentwickelt. Diese private Dauer, die der dreifachen Konnotation der Zeit entspricht, wird von Husserl mit den Begriffen von Ur-Impression, Retention und Protention beschrieben (Husserl 1966). Eine Ur-Impression ist die Erfahrung von etwas, das mich affi78 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Geistige Natur, natürlicher Geist: Der unmögliche Dualismus

ziert, sie ist der ursprüngliche Kontakt mit etwas, das mir erscheint, mir gegeben wird. Wenn ich einen Ton höre, einen Baum anschaue oder einen Tisch berühre, erfahre ich einen unmittelbaren Kontakt mit diesen Gegenständen, treffe jenseits irgendwelcher anderen Filter im Kontext meiner persönlichen Wahrnehmung auf sie, d. h. durch mein Hören, Schauen, Berühren usw. Die Gegenstände affizieren mich, weil sich mir ihre Gegebenheit sozusagen aufdrängt: Ich kann es nicht vermeiden, ihre Bekanntschaft zu machen, sie machen mir ihre Gegenwart gleichsam zur Auflage meiner Wahrnehmung. Deswegen ist die Ur-Impression das Reich der Spontaneität und Passivität, da ich zwar das Wahrnehmen von etwas leiste, die Begegnung mit dem Gegenstand jedoch nicht kontrollieren kann, da mein Wahrnehmen bereits ein Antworten darstellt auf etwas, das mir gegeben ist, das zu mir kommt. Der Rang der Ursprünglichkeit (Husserl spricht eben von Ur-Impression) ergibt sich daher aus dem Rang der Spontaneität und Passivität der Erfahrung. Dieses Merkmal des Passiven, das den Anfang der Erfahrung markiert (Husserl sagt, die Ur-Impression sei der »Quellpunkt« der »Erzeugung« einer Erfahrung von einem Gegenstand; vgl. ebd. 29), prallt auf andere Bewusstseinszüge zurück. Wenn ich eine Reihe von Tönen höre, z. B eine Melodie, läuft der einzelne Ton, der mich in der Ur-Impression affiziert, ab, versinkt in die Vergangenheit; und doch verliere ich ihn nicht, weil mein Bewusstsein ihn festhalten, d. h. ihn in einer Ur-Erinnerung, die Husserl »Retention« nennt, bewahren kann. Die vergangenen Töne werden während des Hörens der Melodie in meinem Geist bewahrt, und indem die Musik fortfährt, verliere ich unvermeidlich die »älteren« Töne und halte doch die neueren fest. Da die Retention wesentlich zum Feld der Ur-Impression gehört – Husserl nennt sie den »Kometenschwanz« der Wahrnehmung 1 –, teilt sie mit der Ur-Impression dasselbe Merkmal des Spontanen und Passiven, das den ursprünglichen Bereich der Erfahrung bestimmt. Wenn der Ton verklingt, kann ich es nicht vermeiden, ihn festzuhalten: Als wahrgenommener gehört er jetzt zu meinem Bewusstseinsfeld von Erfahrung, und daher muss ich ihn – wie alle anderen verklungenen Töne auch – im Geist behalten. Es handelt sich dabei um einen völlig natürlichen Vorgang, der prinzipiell nur auf zwei Weisen unterbrochen werden kann: Entweder hört die Musik auf oder meine impressionale Haltung wird von einem neuen sinnlichen Ereignis 1

Husserl 1966, 35; siehe auch Bernet 2001, XXXIII.

79 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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affiziert, z. B. dadurch, dass jemand in den Raum tritt, oder durch die Stimme eines Freundes, der mich ruft. Dennoch bedeutet dies nicht, dass die Spontaneität der Erfahrung selbst unterbrochen wäre – sie wird lediglich auf eine neue Gegebenheit verschoben, die sie bereits affiziert, also getroffen bzw. gleichsam gefangen genommen hat. Als Kometenschwanz der Wahrnehmung teilt die Retention ihre Ursprünglichkeit, da die Evidenz des dem Bewusstsein »jetzt« gegebenen Tons in dem »schon-vergangenen« Ton gehalten wird. Da sie jedoch immer im Anschluss an eine frühere Wahrnehmung wirkt, stellt die Retention eine Modifikation des ursprünglichen Tons dar, aber eine Modifikation, die, da ein solcher Ton jetzt und nachher derselbe ist, nicht dem vergangenen Ton zugehört. Vielmehr gehört sie zu dem »wahrgenommenen« Ton, der zu einem »bewahrten« bzw. »schon-erinnerten« Ton geworden ist. Das heißt, es handelt sich hier um eine Modifikation des inneren bzw. subjektiven Zeitbewusstseins. Nach der Entsprechung der dreifachen Teilung der Zeit folge ich, wenn ich etwas jetzt erfahre, auf der einen Seite geistig dem vergangenen Ton; auf der anderen Seite warte ich durch den Bewusstseinszug der »Protention« auf den neuen. Ebenso wie die Retention ist auch die Protention dem impressionalen Feld angegliedert, verläuft jedoch vorwärts; solange ich fortfahre in meinem Erleben der Melodie, ist mein Bewusstsein auf den kommenden Ton gerichtet, der den Horizont der künftigen Begegnung mit einer Gegebenheit erschließt. Da sie zum ursprünglichen Bereich der Erfahrung gehört, ist die Protention selbst spontan und passiv: Sie stellt das zum Affiziertwerden von etwas bereite Bewusstsein dar. Wenn ich Musik höre, kann ich nicht anders, als auf neue Töne der Melodie zu warten; wenn die Musik aufhört oder der erwartete Ton nicht eintritt, bleibt zwar meine einzelne Erwartung unerfüllt, die allgemeine Haltung, auf etwas zu warten, bleibt davon jedoch unberührt. Zusammenfassend kann man sagen, dass das Feld der Ur-Erfahrung, das aus der dreifachen Struktur der inneren Zeit von Impression, Retention und Protention besteht, durch die folgenden miteinander zusammenhängenden Züge gekenngezeichnet ist: Ursprünglichkeit, Evidenz, Spontaneität und Passivität. Ursprünglichkeit, weil dieses Feld grundlegend ist und als Quellpunkt jeder Beziehung des Subjekts auf die Welt gilt; mein Sein-in-der-Welt bedeutet ein Sein als wahrnehmendes, hörendes, tastendes und sehendes Subjekt in der Welt. Evidenz, weil jedes sinnliche Treffen mit der Welt den Zug von Unmittelbarkeit an sich trägt, d. h. die weltlichen Daten 80 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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»leibhaftig«, ohne theoretischen bzw. fiktiven Filter in sich enthält. Spontaneität, weil ich natürlich wahrnehme, höre, taste usw. Ich beherrsche meine Offenheit zur weltlichen Realität nicht, ich schließe mich nicht selbst zur Welt auf, sondern bin bereits offen für die Welt. Passivität, weil ich die Gegebenheit der weltlichen Daten empfange, durch die Wirklichkeit affiziert bin – ich bin der Gastgeber ihrer Erscheinung innerhalb meines Bewusstseins. Dieses dreifache zeitliche Feld der Erfahrung umreißt einen ursprünglichen, grundlegenden Bereich: Obwohl durch drei verschiedene Momente charakterisiert, von denen sich zwei nach rückwärts und nach vorwärts erstrecken, ist es das Feld der Gegenwart – einer zeitlich ausgedehnten Gegenwart, die distensio animi Augustins (Confessiones, XI, XXIII). Wenn ich etwas in der primären Erinnerung festhalte oder in der Protention auf etwas warte, verlasse ich die gegenwärtige Dimension nicht, da meine Retention und meine Protention unmittelbar aus der Ur-Impression folgen, sie binden sie gleichsam innerhalb desselben Jetzt – d. h. eines ausgedehnten, nicht eines punktuellen Jetzt. Das geistige Leben ist zu reich, um nur in der Gegenwart enthalten oder, besser gesagt, nur auf die jetzige Umgebung bezogen zu sein. Wenn ich eine Melodie höre, kann ich mich gleichzeitig an eine ähnliche Melodie, die ich letzte Woche gehört habe, erinnern. In diesem Fall ist die Erinnerung an die ältere Melodie keine primäre Erinnerung, da sie mit der jetzigen Impression der laufenden Musik nicht verbunden ist. Ich denke an die vorherige Melodie, während ich die aktuell erklingende höre, aber ich halte die vorherigen Töne nicht fest, da sie mit der letzten Woche vergangen sind; ich nehme sie vielmehr wieder auf, d. h. rufe sie im Geist zurück aus der Vergangenheit – und nicht aus der Gegenwart. Husserl nennt eine solche Erinnerung »Wiedererinnerung«. Sie stellt eine sekundäre Erinnerung dar, d. h. eine Erinnerung, die nicht zum gegenwärtigen Feld gehört; sie ereignet sich zwar innerhalb des gegenwärtigen Feldes, bezieht sich jedoch auf Ereignisse, die in der Vergangenheit stattgefunden haben. Da sie keine Rolle zum Aufbau der jetzigen Erfahrung spielt, ist sie frei von den Einflüssen der Umgebung und kann sich aktiv auf die vergangene Erfahrung beziehen. Husserl spricht von der Freiheit der Wiedererinnerung zum Wiedergeben eines vergangenen Ereignisses: Da sie eine abgelaufene Erfahrung rekonstruiert, kann ihr Inhalt frei von den Bedürfnissen der jetzigen Gegenwart – nicht aber der vergangenen – wiedergegeben werden. Wenn ich mich nur für einen Teil der vergangenen Melodie interessiere, 81 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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kann ich nur diesen Teil wiedergeben; ferner kann ich ihn langsamer oder schneller wiedergeben, da er jetzt zu meinem persönlichen Bewusstseinsleben gehört – er ist gleichsam ein Stück meines geistigen Lebens geworden und ich kann ihn mir so vergegenwärtigen, wie ich es will. Das Gegenstück dieser Freiheit des Wiedergebens bzw. Vergegenwärtigens ist ihr Mangel an Ursprünglichkeit und Evidenz: als wiedergegebener oder vergegenwärtigter ist der Ton nicht länger »leibhaftig« gegenwärtig, ihm fehlt die unmittelbare Verbindung mit der Ur-Impression. Auf der anderen Seite kann die Wiedererinnerung vergangene Ereignisse wachrufen, z. B. die abgelaufene Melodie, und auf diese Weise das Dauer- und Folgebewusstsein konstituieren. Da die Retention innerhalb der ursprünglichen zeitlichen Bewegung statthat, d. h. in der jetzigen Erfahrung verwurzelt ist, kann sie keine Übersicht über einen solchen Vorgang haben, d. h., sie kann keine Vorstellung von der Vergangenheit bilden: Sie lebt den Vorgang unmittelbar, indem er geschieht. Im Gegensatz dazu kann die Wiedererinnerung, die frei von den jetzigen Impressionen ist und sich nach ihrem ursprünglichen Ereignis richtet, den Geist auf etwas zurückführen, das gerade passiert ist. Wenn das Ego sich etwas vergegenwärtigt, wiedererinnert bzw. sich einbildet, lebt es unabhängig von den momentanen Umständen des Aktes der Vergegenwärtigung: Es lebt im Bereich der vergegenwärtigten Gegenwart (nicht der gegenwärtigen Gegenwart). Wenn es sich an eine Melodie wiedererinnert, betritt das Ego das Reich der persönlichen Wahl. Wenn ich etwas in meiner Erinnerung vergegenwärtige, »›kann‹ ich [das], und zwar ›beliebig oft‹. A priori liegt Vergegenwärtigung eines Erlebnisses im Bereich meiner Freiheit. (Das ›ich kann‹ ist ein praktisches ›ich kann‹, und nicht eine ›bloße Vorstellung‹)« (ebd. 42). Nur wenn es gleichsam aus den Grenzen des passiven Rahmens der jetzigen Erfahrung flieht, d. h. aus der ausgedehnten Gegenwart des ursprünglichen Zeitbewusstseins, kann das Ego seine zeitliche Struktur beherrschen und sie dazu benutzen, eine frei gewählte Erfahrung (wieder-) zuerleben. Das Ego der Vergegenwärtigung ist ein »praktisches« Ego, frei von der Spontaneität seines aktuellen und immer gegenwärtigenden Lebens als Bewusstseinsstroms. In seinen Zeitvorlesungen spricht Husserl von der Freiheit der Vergegenwärtigung, um das Vermögen des Egos hervorzuheben, nicht nur das Bewusstsein von einem abgelaufenen Etwas, sondern auch das Dauer- und Folgebewusstsein einer vergangenen Erfahrung wiederzugeben. In den fol82 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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genden Jahren wird er seine Überlegungen zu der Verknüpfung zwischen der passiven und der aktiven Stufe des subjektiven Lebens weiterentwickeln und das Merkmal dieser egologischen Freiheit als »Motivation« bestimmen (Husserl 2001).

2.

Finks Beitrag zum phänomenologischen Zeitbewusstsein

In seiner Dissertation Vergegenwärtigung und Bild übernimmt Fink die motivationale Bestimmung der Vergegenwärtigung als Wiedererinnerung. Nur weil ich aus persönlichem Interesse motiviert bin, richte ich meinen Blick auf einen besonderen Teil meiner Vergangenheit und lenke diesen Blick auf eine spezifische Weise. Wenn das Ego sich etwas vergegenwärtigt, ist es stets durch eine Motivation geleitet. Auf seinem bestimmten Weg blickt das wiedererinnernde Ego nicht einfach auf seine Vergangenheit zurück, sondern zielt bewusstseinsmäßig auf ein bestimmtes abgelaufenes Erlebnis, um es in die gegenwärtige Aufmerksamkeit zurückzuführen und in der ursprünglichen Zeitlichkeit auf ein Neues einzusetzen. Das ist es, was Fink »doppelte Gegenwart« nennt: einerseits die erinnerte Gegenwart und andererseits die jetzige, in der die erinnerte Gegenwart vergegenwärtigt wird. In Bezug auf den »motivierten« Zug der Wiedererinnerung hebt Fink den umgebenden Kontext solcher Motivation hervor, den er durch den phänomenologischen Begriff der »Weltlichkeit« der Erinnerung erklärt. Eine solche Dimension impliziert das Eingebundensein des erinnernden Ego in eine umgebende Welt – Umwelt, Umgebung: Denn das Ego erhält seine Motivation zu erinnern nicht von der Welt, an die es sich wiedererinnert (die Erinnerungswelt), sondern von der Welt, in der es jetzt lebt (der Gegenwartswelt). »Die Erinnerungswelt hat eine Bedeutsamkeit, die ihr nicht an sich zukommt, sondern ihr aus der gegenwärtigen Situation des aktuellen Ich erwächst.« (Fink 1966, 32) Indem es von der gegenwärtigen Motivation ausgeht, schreitet das Ego im Ausgang von der Gegenwartswelt fort durch seine Vergangenheit und erschließt der Gegenwart ein neues Feld, welches das jetzige Feld verdeckt. Dieses neue Gegenwartsfeld ist als vergegenwärtigtes das Erzeugnis einer absichtsvollen Wahl und nicht einer spontanen Impression, und so wirkt es sich nach intentionalen Zusammenhängen aus, die andere sind als die, welche die jetzige Gegenwart bestimmen. Der die Struktur der Vergegenwärtigung be83 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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stimmende Zusatz der Weltlichkeit stellt einen originalen Beitrag des von Fink ausgearbeiteten intentionalen Vergegenwärtigungsaktes dar und verbindet diesen Akt mit der egologischen, geistigen Dimension des Vergegenwärtigens. Auf diese Weise scheinen die Bemerkungen Finks, vergleicht man sie mit den formaleren Analysen Husserls in den Zeitvorlesungen, auf das konkrete Dasein des Bewusstseins gerichtet zu sein. Ebenso wie Husserl hebt Fink jedoch den Zug der Freiheit der Wiedererinnerung hervor, und zwar gerade aufgrund ihrer sie motivierenden Quelle: »›Ich könnte‹ in der Erinnerung weitergehen oder besser, ich hätte damals gehen können, habe es nur unterlassen. Die Potentialitäten gehören ebenso zur Erinnerungswelt, als sie damals zur wirklichen gegenwärtigen Welt gehörten.« (Ebd.) Wie schon Husserl meinte, stammt die Freiheit des wiedererinnernden Ego aus seiner unmittelbaren Beziehung zur Ursprünglichkeit des erinnernden Ereignisses; die freie Motivation der ursprünglichen Erfahrung durch die Vergegenwärtigung betrifft den Inhalt des Wiedererinnerns auf doppelte Weise: Sie macht ihn 1. wieder gegenwärtig, und sie gibt ihn 2. nach Modalitäten wieder, die in der Vergangenheit nicht statthatten (»ich hätte damals gehen können, habe es nur unterlassen«). In diesem Sinn neigt die Wiedererinnerung zum kontinuierlichen Übergang in die Phantasie.

3.

Das Ich und seine zeitliche Natur: eine bedingte Freiheit

Mein Ziel, die Beziehung zwischen nicht-egologischen und egologischen Dimensionen der Erfahrung zu verstehen, impliziert, dass auch der »freie« Akt der Wiedererinnerung – nach Fink – von der passiven und unpersönlichen Sphäre des Bewusstseins abhängt. Damit meine ich nicht das Faktum, dass das wiedererinnernde Ego frei ist, obgleich es den wiedererinnernden Inhalt nicht verändern kann, selbst wenn es die Modalität seiner Wiedergabe verwandeln kann (schneller oder langsamer usw.). Ich beziehe mich vielmehr auf die innere intentionale Bedingung des Wiedererinnerns und im Allgemeinen des Vergegenwärtigens, eine Bedingung, die Fink mit dem Begriff der »Entgegenwärtigung« bezeichnet. Wie ist der Übergang von der Gegenwärtigung in die Vergegenwärtigung überhaupt möglich? Damit es zu einem solchen Phänomen kommen kann, muss ein Hiatus, ein Abstand zwischen der jetzigen Gegenwart und der vergegenwärtigten entstehen; es bedarf eines Bewusstseinsereignisses, das den Ablauf 84 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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der Gegenwart unterbricht und so die Bedingungen zur Konstitution der Nicht-Gegenwart schafft. Fink identifiziert dieses grundlegende Moment des Zeitbewusstseins mit jenen zwei klassischen Begriffen der Husserlschen Phänomenologie der Zeitlichkeit, Retention und Protention (die er um den Begriff der »Appräsentation« ergänzt, einen Begriff, auf den ich hier nicht genauer eingehen kann). Obwohl, wie gezeigt, Husserl Retention und Protention als grundlegende Partien des ursprünglichen zeitlichen Feldes versteht, schreibt er ihnen keine konstitutive Unabhängigkeit zu und reduziert sie zu abgeleiteten Zügen der Gegenwärtigung. In einem Text von 1910 behauptet er, es gebe »in der originären Sphäre im weiteren Sinn die unselbstständigen Modi der Retention, der Präsentation und Protention« (Husserl 1980, 290). Fink geht über die Lehre seines Meisters hinaus, wenn er sagt, Retention und Protention seien »weder Gegenwärtigungen noch Vergegenwärtigungen, wir bezeichnen sie, sprachlich etwas gewagt, als Entgegenwärtigungen« (Fink 1966, 22). Bei Husserl findet man den Begriff der »Entgegenwärtigung« nur am Rande, und zwar in einer Passage der Krisis-Schrift (Husserl 1976, 189) und in einem Manuskript aus der C-Gruppe (Husserl 2006, 134). In Finks Vorstellung des Zeitbewusstseins spielt dieser Begriff jedoch eine zentrale Rolle. Nach Fink sind die Entgegenwärtigungen trotz ihres intentionalen Zuges keine eigentlichen Akte, da sie keine Objektivität bilden, weder eine gegenwärtige noch eine vergegenwärtigte. Ihre Intentionalität hat vielmehr die eigenartige Form einer Abziehung von Gegenwart in Richtung der Vergangenheit und Zukunft: Es handelt sich um ein Versinken und ein Streben, die in ihrem ständigen Geschehen die »umspannenden Horizonte des Vorher und Nachher« erschließen (ebd. 23). Durch ihre wesentlich negative Funktion (angedeutet durch das Präfix »ent-«) bezeichnen Retention und Protention die einzigen Formen der Unwirklichkeit innerhalb des bewusstseinsmäßigen Vorgangs; sie bestimmen als solche die unablässige Verwandlung aus einer jetzigen/flüchtigen Gegenwart in eine radikale Nicht-Gegenwärtigung. Im Gegensatz zur Vergegenwärtigung, die eine vergegenwärtigte Nicht-Gegenwärtigung bedeutet, d. h. eine paradox wirkliche Unwirklichkeit, und als solche eine (erinnerte, antizipierte, eingebildete) Gegebenheit ausmacht, stellt die Entgegenwärtigung keine Form von Gegenwart dar. Obwohl sie die Gegenwart stetig unterminiert, ermöglicht sie vielmehr die Gestaltung einer neuen Gegenwart. 85 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Aufgrund dieser Perspektive, die den Husserlschen Rahmen breiter und eben komplizierter macht, beschreibt Fink die Retention, die von Husserl als die intentionale Form der Erinnerung verstanden wird, als ein Vergessen, da sie »gerade in ihrem eigentlichsten Wesen Fortrückung eines impressional Bewussten in den Vergangenheitshorizont [ist]. Ebenso ist Protentionalität primär Fernhaltung« (ebd.). Auf diese Weise erschließen Retention und Protention die zeitlichen Horizonte, in denen die Beziehung zwischen der jetzigen Gegenwart und der vergegenwärtigten möglich wird: Nur weil man vergisst, kann man sich an die eigene Vergangenheit erinnern; nur weil man den Raum schafft, zu warten, kann man die eigene Zukunft antizipieren. Man kann die eigene Vergangenheit neu konstituieren oder aber die eigene Zukunft proto-konstituieren (Fink bezeichnet Retention und Protention auch als »Wieder-Konstitution« bzw. »Proto-Konstitution«) nur, weil man die Horizonte von Vergangenheit und Zukunft geöffnet und aufrechterhalten hat. Diese Offenheit und dieses Aufrechterhalten sind die ursprünglichen Gestalten der »Zeitigung« des Bewusstseins, die »unselbstständig an einer Erlebnisgegenwärtigung immer auftreten«, und deshalb »den phänomenologisch schwer beschreibbaren Charakter einer wesensmäßigen Latenz« (ebd. 24) haben. Auch wenn die phänomenologische Beschreibung eine Herausforderung darstellt, kann die mediale Rolle der Entgegenwärtigungen zwischen der jetzigen Gegenwart und der vergegenwärtigten erklären, dass »Vergegenwärtigung […] nichts anderes [ist] als ein Hineingehen in diese Horizonte, ist Gegenwärtigung eines Entgegenwärtigten«; und das bedeutet, dass »Vergegenwärtigung immer nur auf dem Grunde einer Entgegenwärtigung möglich ist« (ebd.). Viele Jahre später wird Iso Kern über das Bewusstsein von Bewusstsein als »Vergegenwärtigung-Entgegenwärtigung« sprechen, d. h. einer »Entgegenwärtigung in der Vergegenwärtigung oder Vergegenwärtigung durch Entgegenwärtigung, was ein und dasselbe ist« (Kern 1975, 58). Eine solche grundlegende, bedingende Rolle bezeichnet die Positivität, die an der negativen Funktion der Entgegenwärtigung beteiligt ist, eine Art Gegenteil der Abziehung von Gegenwart, da beide – Retention und Protention – »eine Zeitigungsweise der ursprünglichen Zeitlichkeit selbst« sind (Fink 1966, 24). Nach dem von Fink herausgearbeiteten Muster kann man verstehen, inwiefern die freie Aktivität des Egos in den Vergegenwärtigungen durch den passiven, spontanen und unpersönlichen Hintergrund des Zeitbewusstseins bedingt ist. Jedoch verzichtet Fink nicht 86 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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darauf, den wesentlich subjektiven Zug der Vergegenwärtigung herauszustellen. Es ist immer möglich, den »eigenartigen Moment der Freiheit des reinen Ich« aufzuzeigen, wenn man seinen Weg auf die umgebende Erfahrungswelt sich richten sieht. »Ein Ich kann nicht nur in einer Aktsphäre bald diesem, bald jenem Gegenstand primär zugewendet sein, es vermag auch gleichzeitig in verschiedenen Aktsphären zu leben.« (Ebd. 51) Obwohl es sich auf einem »passiv-assoziativen« Hintergrund bewegt, der den affektiven Kontext der Erfahrung bestimmt, kann das Ego sich auf verschiedene Seiten dieser Erfahrung richten, d. h. auf theoretische, gefühlsmäßige, begehrende Aspekte der Erfahrung, nach jenem »Phänomen mehrstrahliger und gleichzeitiger Intentionalitäten, die alle sich im reinen Ich ›polarisieren‹«. 2 Innerhalb der verschiedenen Richtungen des Egos verflicht sich die gegenwärtigende Stufe mit der vergegenwärtigenden, nach einem »Verhältnis attentionaler Auszeichnung respektive Vernachlässigung«, die das konkrete »Leben einer Subjektivität« bestimmt, dessen Erforschung die »großen phänomenologischen Probleme [betrifft], die hier unter dem Titel Motivation und Assoziation auftauchen und eine Analyse der eidetischen Struktur der Personalität erfordern […]« (Fink 1966, 52). Mit Blick auf Fink ist es bedeutsam, dass sich die Forschung den wesentlichen Zügen der Persönlichkeit, d. h. des eigentlichen Bereiches des Geistigen, sowohl auf der egologischen Stufe der Motivation als auch der unpersönlichen Dimension der Assoziation bedeutsam genähert hat. Es handelt sich um eine weitere phänomenologische Bewährung der Unmöglichkeit, die Stufe der Natur, d. h. des im weitesten Sinne Nicht-Egologischen, von der Stufe des Geistes, also des streng genommenen Egologischen klar zu unterscheiden. Es ist nicht zufällig, dass Fink auch dann noch von der Freiheit des Egos spricht, wenn er sich mit der passiven Konstitution der subjektiven Erfahrung beschäftigt. Innerhalb des Stroms von Ur-Impressionen als dem Kern der gegenwärtigen Erfahrung ist das Ego »in gewisser Weise seinen Wahrnehmungen überantwortet, seine Freiheit findet ihre Grenze an der elementaren Affektion der assoziativen Einheiten« (ebd.). In diesem ursprünglichen Kontext besteht die »freie« Haltung des Egos aus bloßen Reaktionen auf die Umgebung, deren ständige und begleitende Reize bestenfalls durch primitive leibliche Gesten (wie »die Augen schließen« oder »die Ohren zuhalten«) abgelehnt werden können. In 2

Fink 1966, 52. Vgl. Husserl 2001, 277.

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Bezug auf die Zeitlichkeit des Bewusstseins, das die umgebende Welt der jetzigen Erfahrung ausmacht, kann das Ego nichts anderes als »natürliche« Reaktionen anstreben, da »der Grundcharakter der ursprünglichen Konstitution der vorgegebenen Welt in den Wahrnehmungen […] die Passivität [ist], die allererst den Boden abgibt für die bedingte Freiheit des Ich. Diese Urkonstitution ist dem Willen des Ich entrissen« (ebd.).

Schluss Der entscheidende Punkt eines wesentlichen Zusammenhangs von Natur und Geist wird von Eugen Fink noch einmal klar herausgestellt. In einer Passage seines Textes über Phänomenologie und Neukantianismus bemerkt er, dass Husserl im ersten Band der Ideen bei einem propädeutischen Begriff der Materie stehen bleibe und somit »die tieferliegende Konstitution der transzendentale Zeitigung […]« nicht anerkenne »und so die ›Hyle‹ als bloßes Material erscheinen muss. In Wahrheit gibt es aber in der phänomenologischen Konstitution keinen Dualismus heterologischer Momente, sondern nur relative Stufen der einheitlichen konstitutiven Herkunftsenthüllung der Welt aus der Lebenstiefe der transzendentalen Subjektivität. Auch die Hyle, die zunächst als ein nicht-intentionales Moment des Aktes aufgewiesen wird, ist konstituiert wie auch die intentionale Ganzheitsform des Aktes selbst in den Tiefen der intentionalen, aber nicht in Akten verlaufenden Selbstkonstitution der phänomenologischen Zeit« (ebd. 146).

Paul Ricœur hebt in seiner berühmten »Einführung des Übersetzers« zu Ideen I diese Intentionalität der Materie in der späteren Phänomenologie hervor. Die Erweiterung der hyletischen Sphäre erlaubt es nach Ricœur, die Trilogie Ego-Zeitlichkeit-Materie zu vollziehen, welche die Stufe der ursprünglichen Konstitution bzw. Protokonstitution anzeigt (vgl. Ricoeur 1996, 45). Wenn man die Grundverschiedenheit zwischen der Natur – der Hyle als zeitlichem Vorgang des Bewusstseins – und dem Geist, d. h. der Subjektivität als verleiblichtem Ego des Bewusstseins, betrachtet, wenn man also das passive, spontane und materiale Dasein der Zeit (als Zeit-Bewusstsein) und die aktive, bewusste und geistige Entwicklung des Egos betrachtet, wird plausibel, dass eigentlich ein Dualismus nicht möglich ist. Aber was haben wir dann? Stoßen wir hier auf 88 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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eine Art von Mit-Ursprünglichkeit oder auf den Vorrang des einen vor dem anderen? Ich glaube nicht. Ich denke, dass wir es hier mit einer eigentümlichen Art von Koexistenz zu tun haben. Da sich diese sehr sonderbare und unsichere Frage zwischen Biologie (bzw. NeuroBiologie) und Metaphysik bewegt, ist es der Phänomenologie vorbehalten, hier eine strenge Beschreibung der in diesem Vorgang verwickelten Momente vorzunehmen, eine Beschreibung, die vom Ursprung des Vorgangs selbst absieht und stattdessen seine konkrete Entwicklung und begriffliche Bedeutung erhellt.

Literatur Bernet, R. (2001): »Einleitung der Herausgeber«, in E. Husserl: Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewusstsein (1917/18) (Husserliana, Bd. XXXIII), hg. v. R. Bernet u. D. Lohmar, Dordrecht, XVII–LI. Fink, E. (1966): Studien zur Phänomenologie 1930–1939, Den Haag. Husserl, E. (1966): Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893– 1917) (Husserliana, Bd. X), hg. v. R. Boehm, Den Haag. – (1976): Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (Husserliana, Bd. VI), hg. v. W. Biemel, Den Haag. – (1980): Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlass (1898–1925) (Husserliana, Bd. XXIII), hg. v. E. Marbach, Den Haag. – (2000): Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1927 (Husserliana, Bd. XXXII), hg. v. M. Weiler, Dordrecht. – (2001): Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewusstsein (1917/18) (Husserliana, Bd. XXXIII), hg. v. R. Bernet u. D. Lohmar, Dordrecht. – (2006): Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934). Die C-Manuskripte (Husserliana Mat., Bd. VIII), hg. v. D. Lohmar, Dordrecht. Kern, I. (1975): Idee und Methode der Philosophie. Leitgedanken für eine Theorie der Vernunft, Berlin. Ricœur, P. (1996): A Key to Husserl’s Ideas I, transl. by B. Harris & J. B. Spurlock, Milwaukee.

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Die flimmernde Natur der Doxa Zwischen Gefangenschaft und Durchbruch der Befangenheit 1 Georgy Chernavin

»Jede Doxa ist Prätention einer Habe, eines Selbstgriffes des Vermeinten, der zugleich Vorgriff ist.« Edmund Husserl »Je mehr der Mensch der Befangenheit entrinnt, desto schärfer und härter wird die Gefangenschaft, [… er] bleibt in der Doxa gefangen, auch wenn [er seine] Befangenheit durchbricht.« Eugen Fink In diesem Beitrag wird mit Bezug auf Husserl, Fink und Richir das Oszillieren zwischen der Gefangenschaft in der Doxa und dem Durchbruch der Befangenheit als ein Grundphänomen menschlichen Daseins betrachtet. Ich möchte dabei in erster Linie den instabilen, flimmernden oder schwingenden Status der Doxa zum Thema machen, die stets in der Schwebe steht zwischen dogmatischer Geschlossenheit und einem reflexiven Sich-Öffnen.

Ich beginne mit einem kleinen Exkurs zur Problematik der Doxa in der phänomenologischen Tradition. Bei Husserl wird die Doxa als die ständige »Prätention einer Habe« oder eines »Selbstgriffes des Vermeinten« verstanden und dieser Griff ist immer zugleich ein »Vorgriff« 2, eine Antizipation. Nach Husserl ist die Erfahrung als solche This article is an output of a research project implemented as part of the Basic Research Program at the National Research University Higher School of Economics (HSE) (Project: »Metaphilosophy: the disciplinary boundaries of philosophical rationality«). 2 Husserl 2008, 695. Vgl. Cairns 1976, 76: »I am thrown back upon the world of doxa as the source of all episteme, and among doxa I distinguish empty and intuitive doxa as two sorts. The latter is exemplified in perception. But perception is essentially apperception, i. e., is not completely perception at all. Apperception is anticipation, and the anticipated, when realized, contains ever more apperception, so that in this way 1

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Die flimmernde Natur der Doxa

immer und grundsätzlich doxisch (impliziert also eine Behauptung im weitesten Sinne oder einen ganz bestimmten Anspruch und verfährt vorwegnehmend). So ist z. B. »die äußere Wahrnehmung« für Husserl »die ständige Prätention, etwas zu leisten, was sie ihrem eigenen Wesen nach zu leisten außerstande ist« (Husserl 1966, 3); nämlich der Anspruch, einen auf vollkommene Weise existierenden Gegenstand vollständig in der Wirklichkeit zu konstituieren. Die doxische Struktur jedes konstituierten Seienden unterliegt der ständigen Gefahr, in Schein oder Nicht-Sein umzuschlagen – es handelt sich dabei um eine Wesenseigenschaft der Präsumptivität unserer Erfahrung. »Alles in der Modalität des Seins durch Erscheinungen Erscheinende ist in Schwebe zwischen Sein und Nichtsein« (Husserl 1959, 406), in Schwebe zwischen wirklichem Sein und Schein einfach deshalb, weil die doxische Prätention oder Antizipation sich immer auch als falsch herausstellen kann. Heidegger entwickelt in seinen Vorlesungen übrigens eine der Husserlschen Einsicht in die »schwebende« Natur des Doxischen ähnliche Problematik, wenn er die Tatsache betont, der Grundcharakter der Doxa bestünde gerade in ihrem Schwanken zwischen Erscheinenlassen und Verdrehen. 3 Ich werde mich in dem vorliegenden Beitrag allerdings auf die Schwebe des Doxischen bei Husserl konzentrieren, um im Anschluss daran (via Marc Richir) zu Fink zu kommen. Dennoch würde Heideggers Aufweis bezüglich des Schwankens der Doxa zweifellos eine genauere Lektüre verdienen. Um den schwankenden Charakter der Doxa zu illustrieren, ziehen wir eines der Lieblingsbeispiele Husserls heran: Ich sehe eine Gestalt, die ich als menschliche Gestalt interpretiere. Dann wird mir jedoch klar, dass es sich nur um eine Wachspuppe handelt. Diese Perspektive lässt sich gleichwohl auf eine radikale Weise dahingehend ändern, dass man sagt: Es ist weder ein Mensch an sich noch eine Puppe an sich, was ich da sehe, sondern eher ein Sinngebilde – es ist mit anderen Worten die Erfüllung der Intention, die diese Gestalt zum Mensch oder zur Puppe macht. Auf diese Weise wird das potenzielle Umschlagen des Doxischen thematisch.

the progress of experience gives only corroberation or discrediting of doxa, and never episteme.« 3 Heidegger 1988, 258–261; Heidegger 2001, 248–250.

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Georgy Chernavin

I.

Die Schwebe zwischen »Habe« und »Prätention«

Der ›Trick‹, den Husserl benutzt, ist ein sozusagen doppeltes Sehen oder eine Art doppelter Buchhaltung, die Betrachtung des Doxischen in zwei Einstellungen. In der natürlichen Einstellung wird die Doxa als wirklicher Griff oder eine wirkliche »Habe« betrachtet, in der phänomenologischen Einstellung dagegen wird dieselbe Doxa als eine Prätention gesehen, z. B. im Fall der äußeren Wahrnehmung als »die ständige Prätention, etwas zu leisten, was sie ihrem eigenen Wesen nach zu leisten außerstande ist« (Husserl 1966, 3). Husserl geht es dabei keineswegs um eine Widerlegung der natürlichen Einstellung, die eine ursprüngliche Berechtigung für sich in Anspruch nehmen kann; eher zeigt er auf, dass es sich bei ihr lediglich um eine Teilwahrheit handelt. Er schlägt daher eine Art »doppelter Buchhaltung« vor, die darin besteht, das Leben in zwei Einstellungen, ja denselben doxischen Inhalt gleichzeitig in zwei Perspektiven zu betrachten. Diese Strategie zeigt die Instabilität der Doxa, ihre »Schwebe« zwischen Sinnerfüllung und Sinnentleerung, zwischen der Selbstverständlichkeit und der Unverständlichkeit des Selbstverständlichen auf. Die Verfestigung der Doxa in eine Form des Selbstverständlichen prätendiert, die Schwebe, die Oszillation oder das Flimmern, die für die Doxa typisch sind, zu immobilisieren – als sei die doxische Prätention oder Antizipation bereits befriedigt oder erfüllt (was in Wirklichkeit niemals vorkommt). Diese illegitime Substitution oder Sinnverschiebung ist ein Grundereignis, das die Doxa übersteht, wann immer sie eine Fixierung in der Form der »Selbstverständlichkeit« erfahren hat. Husserl thematisiert den Grundcharakter oder die Struktur der Doxa als Prätention auf selbstverständliches Wissen, auf die Selbstverständlichkeit des Vermeinten. Wendet man mit Husserl jedoch den Einstellungswechsel an, erkennt man den schwebenden Charakter der Doxa, die stets zwischen dem »Aufgehen« in der Prätention und dem Aufgeben der Prätention schwankt. Dieser schwankende Effekt ist also in der klassischen phänomenologischen Optik grundsätzlich thematisierbar; das ist aber nicht genug – man muss seine Enthüllung grundsätzlich beherrschen, um sie (re-)produzieren zu können. Ansätze dazu sehe ich in der zeitgenössischen französischen Phänomenologie.

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Die flimmernde Natur der Doxa

II.

Das »Flimmern« des Doxischen enthüllen

In den letzten Jahren hat Marc Richir (1943–2015) den Versuch unternommen, die Hauptmomente der Doxa in phänomenologischer Weise zu skizzieren und zum Thema zu machen. Er stützt sich dabei nicht nur auf Husserl, sondern gleichermaßen auf die Platonischen Spätdialoge (Richir 2006, 247). Ich fasse seine Lektüre Platons kurz zusammen. Der Gegenstand der Meinung entsteht und vergeht, aber er existiert nie als etwas Wirkliches – in diesem Sinne schwankt oder oszilliert er zwischen Sein und Nicht-Sein. Die Doxa jedoch, sobald sie auf dogmatische Weise als das »Selbstverständliche« postuliert wird, gibt vor, das Oszillieren anhalten und das Gemeinte (ohne weiteres Schwanken) als etwas Seiendes setzen zu können. Das Denken wurde klassischerweise als ein inneres Gespräch der Seele mit sich selbst beschrieben, wobei die Doxa die Rolle des Punktes innehaben sollte, an dem die Seele sich endlich einigt und keinen Zweifel mehr zulässt. Eine Doxa ist dann der Schlusspunkt des Denkens oder, neutraler gesagt, die Vollendung der Gedanken, ein Halten auf dem Wege des inneren Dialogs. Dieser Halt ist jedoch ein eingebildeter, da die Doxa eben notwendig das Moment der Prätention in sich trägt: Sie gibt vor, die Oszillation zu stoppen, tatsächlich ignoriert sie sie einfach. Marc Richir ist bemüht, die (für die doxische Struktur charakteristische) Oszillation aufzudecken, indem er von einem Flimmern (clignotement) des Sinns spricht (Richir 1999, 38). Die Hauptaufgabe der phänomenologischen Forschung besteht für ihn in der Enthüllung des Oszillierens des Sinns zwischen Sinnerfüllung und Sinnentleerung; die Tatsache, dass der Sinn kein ein für alle Mal garantierter Bestand ist, wird jedoch häufig durch die symbolischen Stiftungen der Kultur verdeckt. Die Doxa ignoriert das Oszillieren oder Flimmern des Sinns üblicherweise, aber sie selbst ist ein Sinngebilde, ein Erzeugnis des Sinns. Daher kann man sogar im Doxischen eine oszillierende Struktur erkennen, wofür es allerdings einer spezifischen phänomenologischen Optik bedarf. Wie bereits deutlich geworden ist, werden im Hintergrund meines Beitrages sowohl Husserls Arbeitsstrategie im Blick auf die Doxa als auch Richirs Thematisierung des »Flimmerns« des Sinns stehen. Dieser Hintergrund wird mir dabei helfen, einige Neuerungen sichtbar zu machen, die die Doxa-Analyse Eugen Finks mit sich bringt. Ganz im Kontext der Schwebe des Doxischen zwischen Habe 93 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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und Prätention bei Husserl, zwischen Sein und Schein oder des Schwankens des Doxischen zwischen Erscheinenlassen und Verdrehen bei Heidegger, thematisiert auch Fink das Umschlagen von der blinden Befangenheit in der Doxa in das Verstehen der Gefangenschaft im Doxischen und zurück. Dieser Umschlag darf, so denke ich, als ein Grundelement des menschlichen Daseins in der Welt betrachtet werden. Daher möchte ich das »Flimmern« des doxischen Sinns im Folgenden auf dem Boden der Finkschen Analyse der doxischen Befangenheit herausstellen: der Gefangenschaft in der Doxa und des Durchbruchs der Befangenheit; der Versunkenheit in der Doxa und des staunenden Erwachens; der Benommenheit in der Doxa und des ihr Entkommenseins. Zunächst soll es dabei um das im Titel meines Beitrages annoncierte Begriffspaar Gefangenschaft/ Befangenheit gehen.

1.

Das Flimmern der Zustände: Gefangenschaft/Befangenheit

Fink geht es um eine Strukturanalyse der doxischen Befangenheit, darum, die innere Dynamik der Versunkenheit in der Doxa thematisch zu machen. Er stellt diesbezüglich Folgendes heraus: Wir sind in der Doxa befangen und wissen nicht um unser Befangensein; dennoch taucht eine »dumpfe Ahnung unseres Gefangenseins« auf und motiviert ein »noch richtungsloses Entweichen-wollen, Ausbrechen, Sich-Befreienwollen«. 4 Diese dumpfe Ahnung stellt einen ersten Schritt der Transformation der unbewussten Gefangenschaft (d. h. der Befangenheit) in die bewusste Gefangenschaft (die keine Befangenheit mehr ist) dar. Die unbewusste Gefangenschaft wurde nicht als solche empfunden, darin gerade bestand die Befangenheit. Mit dem Durchbruch der Befangenheit wird die Gefangenschaft im Doxischen als Gefangenschaft empfunden, sie wird stärker. In diesem Sinne heißt es bei Fink: Je weniger Befangenheit, desto mehr Gefangenschaft. 5 »Befangenheit schließt nicht die bisweilen auftauchende dumpfe Ahnung des eigenen Gefangenseins aus, das ein zunächst noch richtungsloses Entweichen-wollen, Ausbrechen, Sich-Befreienwollen motiviert.« (Fink 2008, 216) »Im Grauen offenbart sich das Inmittensein, Hineingeratensein, Gefangensein unter dem Seienden. Nur weil ich wesensmäßig gefangen bin im Seienden, kann ich von ihm ›befangen‹ werden.« (Fink 2006, 292) 5 »Der Denker weiß um die unaufhebbare Gefangenschaft des Menschentums, gerade 4

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Es gibt also keinen Ausweg aus der Doxa: Wir oszillieren lediglich zwischen Befangenheit und Gefangenschaft hin und her. Es gibt keinen Ausweg, weil es kein »Draußen« gibt. Fink macht dies in einem Manuskript aus dem Jahre 1934 unmissverständlich klar: »Der Befangene weiß nicht um sein ›Befangensein in …‹, er kommt nicht an eine Grenze, sondern hat keine ›Grenze‹, auch kein ›Offen‹. Dem Befangenen ist die Befangenheit nicht zu zeigen, vorab wenn in der Befangenheit schon entschieden ist, was Zeigen heißt. Über die Befangenheitssphäre hinaus gibt es nichts.« (Fink 2008, 214)

Der Dogmatismus der Doxa ist lückenlos: 6 In der Befangenheit gibt es keine »Grenze« und keine »Offenheit«. Umso wichtiger ist für uns »der ›Ausblick‹, das Hinausspähen aus einer befangen-verschlossenen Situation ins Offene« (Fink 1957, 81). Aber wie ist ein solcher »Ausblick« oder ein solches Hinausspähen möglich, wenn es kein Draußen gibt? Es ist nicht ganz leicht, diese Frage direkt zu beantworten; daher könnte man zunächst zwei Hilfsfragen formulieren, die sich auf das oben wiedergegebene Zitat Finks beziehen. Erstens: Warum ist es unmöglich, dem Befangenen seine Befangenheit zu zeigen? Und zweitens: Warum »gibt es nichts über die Befangenheitsspäre hinaus« (Fink 2008, 214)? Über die Befangenheit hinaus gibt es ja die Gefangenschaft, aber diese ist keine neue Sphäre, es ist dieselbe Welt, dieselbe Doxa, aber in einer »seltsamen Beleuchtung«. Dem Befangenen ist die Befangenheit deshalb nicht zu zeigen, weil er, sobald er die Befangenheit erkennt, zum Gefangenen wird, sich verwandelt – und zu dieser Verwandlung kommt es sozusagen durch das Flimmern der doxischen Beleuchtung. Die Dynamik des Doxischen besteht in der Oszillation zwischen der blinden Befangenheit in der Doxa und dem dumpfen Ahnen der eigenen Gefangenschaft. Man könnte hier als Beispiel einer Befangenheitssphäre, über die hinaus es nichts gibt, das Dominieren einer Ideologie nennen. Der in der Ideologie Befangene erkennt seine eigene Befangenheit kaum. Oder er akzeptiert umgekehrt offensichtlich seine eigene Voreingeweil er nicht mehr darin völlig befangen ist. […] Befangensein: d. i. so in einer Situation stehen, daß diese als solche gerade nicht erfahren ist. […] Wenn jemand von Kindheit an in einem Kerker leben und aufwachsen würde, würde er dies als die normale Situation auffassen und hinnehmen; er wäre befangen, aber nicht eigentlich gefangen.« (Fink 1957, 79) 6 Erinnern wir uns z. B. an die hoffnungslosen Versuche, den Sinn der phänomenologischen Reduktion in einem anderen philosophischen Diskurs »aufzuzeigen«.

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nommenheit, betont jedoch, dass nicht nur er, sondern jeder Mensch voreingenommen, dass die Entlarvung seiner Ideologie ihrerseits ideologisch motiviert sei usw. In diesem Sinne ist der doxische Dogmatismus lückenlos und über die Befangenheitssphäre hinaus gibt es nur die Gefangenheit.

2.

Das Flimmern der Tendenzen: Versunkenheit/Erwachen zum Staunen

Wenn wir uns die Oszillation zwischen Befangenheit und Gefangenschaft vor Augen führen, können wir versuchen, die Kräfte zu bestimmen, die die menschliche doxische Gefangenschaft bis zur blinden Befangenheit werden lassen (nennen wir diese Tendenz mit Fink »Versunkenheit«); und umgekehrt können wir die Tendenz zu charakterisieren versuchen, die den Menschen aus der unbewussten Befangenheit herausreißt, damit er seiner Gefangenschaft gewahr wird (nennen wir diese Tendenz das »zum Staunen Erwachen«). Wenn man das Zusammenspiel dieser beiden Tendenzen näher betrachtet, erkennt man eine weitere pulsierende Optik: das Flimmern zwischen der Versunkenheit in der Tiefe der Selbstverständlichkeit und dem Erwachen zum Staunen. Fink entwickelt das alte Motiv vom dogmatischen Schlummer als einem Grundmoment der Doxa weiter, wenn er von der Versunkenheit in dem selbstverständlich anmutenden Wissensbesitz spricht. 7 Das Steckenbleiben in der Selbstverständlichkeit, die Selbstverlorenheit und Weltvergessenheit sind Symptome der Versunkenheit in der Doxa. Wie kommt es aber zu einem Erwachen zum Staunen oder, wenn man es anders ausdrücken will, zu einem Durchbrechen der Befangenheit? Es sieht bei Fink so aus, als sei das Aufwachen, das »Sich-Losreißen« aus der doxischen Selbstverständlichkeit kein einmaliger Akt, keine garantierte Befreiung aus der getrübten Tiefe der Versunkenheit. Das Ent-setzen angesichts der Doxa, ihre »Entselbstverständlichung«, das Entkommensein aus der Befan-

Fink 1988, 92. Vgl. Fink 2008, 417: »Jede [philosophische] Exposition [eines Problems] ist das Durchbrechen einer Befangenheit: ein Erwachen aus einem dogmatischen Schlummer. Dieser Schlummer ist nichts anderes als die Tiefe der Selbstverständlichkeit: das Verfangensein und Steckenbleiben in der naiven Intelligibilitätsidee!«

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genheit sind keine Resultate, sondern wiederkehrende Etappen innerhalb des Zirkulierens im Doxischen. 8 Wir sind kritiklos in der Doxa versunken, bemerken dies, reißen uns aus dem Dogmatismus los – um erneut in ihm zu versinken. Die phänomenologische Einstellung gibt uns keine Versicherung gegen einen Rückfall an die Hand, sie lässt uns eher zwischen den einander widersprechenden Tendenzen der Versunkenheit in der Doxa und des Aufwachens zum Staunen hin- und heroszillieren. Als ein Beispiel für den zirkelhaften Charakter, in dem Phasen der Versunkentheit und des Aufwachens einander ablösen, möchte ich den bisweilen hoffnungslosen Kampf gegen die Voraussetzungshaftigkeit nennen: Etwas wird als kritiklos angenommene Voraussetzung erkannt und thematisiert, dann aber revanchieren sich die Denkgewohnheiten und die Versunkenheit holt uns wieder ein, diesmal aber unter dem Motto »ich weiß sehr wohl, aber dennoch (je sais bien, mais quand même)«. Es genügt, die Selbstkontrolle für einen Moment lang zurückzunehmen und sofort setzt sich der Dogmatismus wieder durch.

3.

Das Flimmern der Perspektiven: Benommenheit/Entkommensein

Wenn man den phänomenologischen Umgang mit der Doxa als flimmernde Optik (zwischen Befangenheit und Gefangenschaft, Versunkenheit und Erwachen zum Staunen) oder aber als einen ständigen Perspektivenwechsel (den Husserl unter dem Titel der »doppelten Buchhaltung« thematisiert) begreift, verhilft dies dazu, dieses Flimmern der Perspektiven präziser zu bestimmen. Wann immer Fink zu erklären versucht, was er unter »Befangenheit« oder »Versunkenheit in der Doxa« versteht, gibt er uns eine Beschreibung an die Hand, die eine große Nähe zu Husserls klassischer Metapher der »Scheuklappenauffassung« aufweist: »Befangenheit ist Befangenheit in einem Horizont als Nur-offen-Sein für das in diesem Horizonte Stehende und Verlorensein an dieses.« (Fink 2008, 215) Ein »Be»Die Verwunderung wirft den Menschen aus der Befangenheit in der alltäglichen, öffentlich vorgegebenen, traditionellen und abgenützten Vertrautheit mit dem Seienden heraus, jagt ihn aus einer immer schon beredeten und redend ausgelegten Sinndeutung der Welt in die schöpferische Armut des Noch-nicht-wissens, was das Seiende sei. Das Staunen ist wesenhaft ent-setzend, sofern es den Menschen heraussetzt aus Befangenheit, Vertrautheit, Sicherheit.« (Fink 1966, 183)

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fangensein-in« ist ein »Nur-offen-sein-für«, aber auch ein »Verschlossen-sein-gegen«. Und trotzdem, im Gegensatz zu Husserl, der in seinem Spätwerk die geschlossenen Sinngebilde der natürlichen Einstellung dem potenziell offenen transzendentalen Sinnbildungsprozess gegenüberstellt, zeigt uns Fink, dass das Begriffspaar Geschlossenheit/Offenheit im Kontext der Doxa eine Grenze der Anwendbarkeit findet. Es ist vor allem deshalb nur schlecht anzuwenden, weil es im Befangensein keine Offenheit gibt. Fink formuliert das so, dass es über die Sphäre der Befangenheit hinaus ›nichts‹ gebe. Lehnt man die Scheuklappen (also die Befangenheit) ab, finden sich andere Scheuklappen (die Gefangenschaft); sie abzureißen, befreit uns nicht – daran zeigt sich die Zirkelhaftigkeit des Doxischen. In Befangenheit und Versunkenheit gibt es keine Offenheit, und dennoch braucht man einen Ausblick ins Offene. Weshalb versucht man überhaupt, aus seiner befangenen und versunkenen Situation ins Offene zu spähen, wenn man doch gar keine Offenheit kennt? Von woher taucht die »dumpfe Ahnung« des eigenen Gefangenseins auf? Fink schlägt eine mögliche Antwort vor, indem er die Grundstruktur der doxischen Befangenheit als ein »Benommensein von« bestimmt. Er schreibt: »Von etwas benommen sein, an es verloren sein, in ihm aufgehen, auf es fixiert sein, ist eine fundierte Struktur der Befangenheit.« (Fink 2008, 215) Das Benommensein von der Doxa ist nicht lediglich die Wahlblindheit der Scheuklappenauffassung; es ist zugleich das Verlorensein, das Hineingeratensein in eine bestimmte Selbst- und Weltapperzeption und das Steckenbleiben in ihr. Wir können ein Gespür für dieses Steckenbleiben, das – metaphorisch gesprochen – In-einer-SackgasseStecken entwickeln. Husserl thematisiert es in der berühmten These: »Ich finde beständig vorhanden als mein Gegenüber die eine räumlich-zeitliche Wirklichkeit, der ich selbst zugehöre, wie alle anderen in ihr vorfindlichen und auf sie in gleicher Weise bezogenen Menschen.« (Husserl 1976, 61) Es ist sowohl das Benommensein von der vorgegebenen dinglichen Identität des binnenweltlichen Seienden (Dingapperzeption, Weltapperzeption) als auch das von der dogmatischen Selbstidentifizierung (Selbstapperzeption). Auch bei Wittgenstein können wir eine schöne Beschreibung des Bemerkens der eigenen Benommenheit finden: »Die Fragen ›Was ist Länge?‹, ›Was ist Bedeutung?‹› Was ist die Zahl Eins?‹ etc. verursachen uns einen geistigen Krampf. Wir spüren, daß wir auf nichts zeigen können, um sie 98 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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zu beantworten, und daß wir gleichwohl auf etwas zeigen sollten.« (Wittgenstein 1970, 15) Es ist das Benommensein von einem symbolischen System, aus es dem es keinen Ausweg gibt. Der »geistige Krampf« spielt hier gerade die Rolle der »dumpfen Ahnung« von der eigenen Benommenheit. Dieses Benommensein von den vorgegebenen Gestalten des Doxischen zu durchbrechen, scheint eine fast unrealisierbare Aufgabe zu sein; und doch gibt es möglicherweise eine Strategie. Um sie vorzustellen, brauche ich das Instrumentarium, das ich im ersten Teil des Beitrages mit Hilfe der Überlegungen von Husserl und Richir gesammelt habe. Die Doxa ist die ständige Prätention, etwas zu leisten, was sie ihrem eigenen Wesen nach zu leisten außerstande ist, nämlich die Welt als immer daseiende in der Wirklichkeit darzustellen (das zentrale Beispiel dafür ist die äußere Wahrnehmung). 9 Wir wissen, dass sich alles, was durch Erscheinungen offenbar wird, in der Schwebe zwischen Sein und Nichtsein befindet und in der ständigen Gefahr des Umschlags in den Schein steht. Die Doxa stützt sich auf das vorgegebene, geprägte Sinngebilde – ihre Grundform (die Urdoxa) sagt uns: »Die Welt ist als Wirklichkeit immer da« (Husserl 1976, 61), damit stabilisiert sie den Schwebezustand (das »konsequente InSchwebe-bleiben« [Husserl 1959, 476], das für das Erscheinen als solches charakteristisch ist) und versucht die ständige Gefahr des Umschlages des Seins in den Schein zu verhüllen. Die zentrale Rolle der Doxa besteht also in der Maskierung der Fragwürdigkeit bzw. der Instabilität des binnenweltlichen Seienden; würde diese nicht maskiert, wäre man außerstande, sein alltägliches Handeln fortzusetzen. Die Gefangenschaft, die Versunkenheit bzw. das Benommensein von der Doxa helfen uns, die Kluft der Fragwürdigkeit zu schließen und die Selbstverständlichkeit in der doxischen Prätention zu bekräftigen. Der unvorhersehbare Umschlag (μεταβολή) des Seins in den Schein stellt dabei die ständige Gefahr für die Stabilität des Seins dar; aber er kann nicht nur die Seinsweise des Erscheinenden betreffen, sondern auch die Weise seiner Intelligibilität: Es könnte sich ebensogut um einen Umschlag von der SelbstverDas, woran ich im Moment sitze, begreife ich als »meinen« Schreibtisch. Aber was bedeutet es, Objekt zu sein? Wissen wir das? In welchem Sinne sage ich »mein«? Wer bin ich? Auch die Selbstwahrnehmung ist eine solche ständige Prätention, eine dogmatische voreilige Selbstbestimmung.

9

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ständlichkeit in die Unverständlichkeit handeln. Die Doxa verhilft dazu, die innerweltlichen Erscheinungen zu stabilisieren und jede Form des Umschlagens zu vermeiden. Und trotzdem ist sie nicht allmächtig: Im Sein blitzt der Schein auf, in der Fraglosigkeit blitzt die Fragwürdigkeit auf, im Selbstverständlichen die Unverständlichkeit. Unsere Perspektive ist nicht ein für alle Mal fixiert; der phänomenologische Einstellungswechsel erlaubt es, eine »doppelte Buchhaltung« zu führen, das Flimmern zwischen zwei Haltungen zu erproben, zwischen der doxischen Benommenheit und dem »Entkommensein«. Die flimmernde Perspektive gestattet es uns, die vermeinten stabilen Selbst- und Dingidentitäten als fragwürdige erscheinen zu lassen. So macht es zwar keinen Sinn, die Befangenheit ein für alle Mal durchbrechen zu wollen, da es außerhalb ihrer nichts gibt. Man kann jedoch durchaus versuchen, die »Schwebe«, die Fragwürdigkeit in die Doxa zu integrieren, um auf diese Weise zu einem pulsierenden, flimmernden, undogmatischen Sehen zu gelangen. Man kann bisweilen die Unverständlichkeit des Selbstverständlichen aufblitzen lassen. Dieser blitzhafte Charakter der »Entselbstverständlichung« lässt sich mit Finks Überlegungen zur Befangenheit bzw. Versunkenheit in der Doxa ans Licht bringen. Der Durchbruch der Befangenheit, das Erwachen zum Staunen, das Entkommen aus der Doxa können nie garantiert, aber doch manchmal empfunden werden, wann immer man nämlich der latenten Schwebe, der Schwingung oder des Flimmerns der Sinngebilde gewahr wird.

Literatur Cairns, D. (1976): Conversations with Husserl and Fink, Den Haag. Fink, E. (1957): Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum, Zeit, Bewegung, Den Haag. – (1966): Studien zur Phänomenologie (1930–1939) (Phaenomenologica, Bd. 21), Den Haag. – (1988): VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre (Husserliana Dokumente, Bd. II/1), hg. v. H. Ebeling, J. Holl u. G. van Kerckhoven, Dordrecht/Boston/London 1988. – (2006): Phänomenologische Werkstatt. Teilband 1: Die Doktorarbeit und erste Assistenzjahre bei Husserl (EFGA, Bd. III/1), hg. v. R. Bruzina, Freiburg/ München. – (2008): Phänomenologische Werkstatt. Teilband 2: Bernauer Zeitmanuskripte, Cartesianische Meditationen und System der phänomenologischen Philosophie (EFGA, Bd. III/2), hg. v. R. Bruzina, Freiburg/München.

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Die flimmernde Natur der Doxa Heidegger, M. (1988): »Mehrdeutigkeit von Doxa«, in: ders.: Vom Wesen der Wahrheit: zu Platons Höhlengleichnis und Theätet (1931/1932) (Gesamtausgabe, Bd. 34), hg. v. H. Mörchen, Frankfurt am Main, 246–322. – (2001): »Die mehrfache Doppeldeutigkeit der Doxa. Der Zwiespalt von Erscheinen-lassen und Verdrehen: das Auftauchen des Pseudos«, in: ders.: Sein und Wahrheit, 1. Die Grundfrage der Philosophie (1933), 2. Vom Wesen der Wahrheit (1933/34) (Gesamtausgabe, Bd. 36/37), hg. v. H. Tietjen, Frankfurt am Main, 248–251. Husserl, E. (1959): Erste Philosophie (1923/1924). Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion (Husserliana, Bd. VIII), hg. v. R. Boehm, Den Haag. – (1966): Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1926 (Husserliana, Bd. XI), hg. v. M. Fleischer, Den Haag. – (1976): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (Husserliana, Bd. III/1), hg. v. K. Schuhmann, Den Haag. – (2008): Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916–1937) (Husserliana, Bd. XXXIX), hg. v. R. Sowa, Dordrecht. Prigov, D. A. (2003): Lebt in Moskau! Roman, aus dem Russischen v. E. Klein u. S. Macht, Wien. Richir, M. (1999): »Epoché, Flimmern und Reduktion in der Phänomenologie«, übers. v. Th. Bedorf u. A. Kapust, in: R. Bernet u. A. Kapust (Hg): Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren, München 2009, 29–44. – (2006): Fragments phénoménologiques sur le temps et l’espace, Grenoble. Wittgenstein, L. (1970): Das Blaue Buch, eine philosophische Betrachtung; Zettel, Frankfurt am Main.

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Das Menschenwesen als endliches Schöpfertum Natur im Kontext von Arbeit und Freiheit Giulia Cervo

Eine phänomenologische Analyse von Finks Grundphänomen der Arbeit erhellt die zweifache Beziehung des Menschen zur Natur und zu seiner problematischen Freiheit als eine beständige Spannung von Natur und Geist. Am Leitfaden des Begriffs der »Entmenschung«, der Finks Abkehr von Heideggers ontologischer Differenz und den Ansatz seiner kosmologischen Differenz sehen lässt, wird die Veränderung herausgearbeitet, die Finks Ansatz der Freiheit von der Sechsten Cartesianischen Meditation bis zu den Texten der Nachkriegszeit durchläuft. Finks Hauptthese ist es, dass das Menschenwesen ein Weltwesen, das Seinsverstehen ein Weltverstehen ist. Als Arbeiter verhält sich der Mensch zur Welt und dadurch zu sich selbst, indem seine Natur nicht als ein schlicht Gegebenes, sondern als etwas Problematisches betrachtet wird, da sie nur im Tun und Schaffen hergestellt und ausgelegt wird – in einem Tun, bei dem für den Menschen immer die Gefahr besteht, sich selbst wie ein Ding anzusehen. Im Rekurs auf Manuskripte aus Finks Nachlass wird Finks phänomenologische Fassung der menschlichen Existenz als Geschichte und Handlung sowie seine Betrachtung der Freiheit als Kampf um Transzendenz, d. h. als me-ontische Negation des Binnenweltlichen, verdeutlicht.

1.

Die Arbeit als Medium von Natur und Freiheit

Wenn es darum geht, die zweideutige, dualistische Beziehung des Menschen zur Natur zu beschreiben, gibt es nichts Passenderes als das Phänomen der Arbeit, die Fink neben Spiel, Kampf, Liebe und Tod zu den Grundphänomenen der menschlichen Existenz zählt. Der Arbeiter ist der Mensch, soweit er das »entfremdete Kind« 1 der Natur ist. ›Arbeit‹ ist sowohl der Name für eine unmögliche Zugehörigkeit Fink 1962b, 8: »Wir sind sowohl in der Natur geborgen, als auch von ihr ausgesetzt. Wir sind nicht ›innen‹ wie noch Pflanze und Tier, wir sind herausgetreten, sind ihr entfremdetes Kind. Aber wir entkommen nie völlig, wir sind keine reinen Geister, wir

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Das Menschenwesen als endliches Schöpfertum

zur Natur als auch für eine ebenso unmögliche Unabhängigkeit von ihr: Beim Arbeiten wird der Mensch selbstbewusst als das »Freigelassene der Natur«, das zugleich »mit, als auch gegen die Große Mutter wirkt« (Fink 1962b, 4). In der Arbeit äußern sich zugleich die irdische Natur des Menschen und sein geistiges Wesen, die miteinander eng verwoben und voneinander untrennbar sind. Das Wort ›Arbeit‹ benennt daher sowohl Distanz als auch Nähe: Die Natur des Menschen ist paradoxerweise nichts Natürliches. Die Bedeutung dieser Aussage zu erläutern, ist das Ziel dieses Aufsatzes. Als Erstes gilt es, den Begriff der ›Natur‹ deutlicher zu explizieren. Man kann nämlich (entsprechend Finks eigener Differenzierung) zumindest zwei Bedeutungsebenen unterscheiden bzw. einander zuordnen, und zwar die Natur in uns (1) – man hat Natur in sich, weil man sterblich 2 ist und im Grundphänomen der Liebe durch Zeugung und Geburt an der »Unsterblichkeit der Sterblichen« teilnimmt (Fink 1979a, 349) – und die Natur um uns (2), gegen die der Mensch sich erhebt und von der er durch eine »Vermenschlichung der Dinge« unaufhörlich Abstand nimmt, die jedoch zugleich die ständige Gefahr einer »Verdinglichung des Menschen« einschließt (z. B. in der Maschinerie). Die Sachlage wird jedoch kompliziert, wenn man eine dritte Ebene einführt und unsere eigene Natur (im Sinne von ›Wesen‹) zu beschreiben versucht, die nichts Natürliches und gleichzeitig nichts Geistiges ist, da sie von Fink vielmehr als das spannungsreiche Ganze von ›Natur‹ (in den beiden oben skizzierten Bedeutungen) und Geist, Natur und Freiheit verstanden wird. Wie Fink sagt, besteht die größte Schwierigkeit darin zu entscheiden, wo im Menschen die Natur beginnt und endet (Fink 1962a, 9). Von der Antwort auf diese Frage hängt auch unsere Auffassung der Freiheit ab. In einem gewissen Sinn gibt es zwischen Natur und Freiheit, Natur und Geist dieselbe Beziehung, die es zwischen Arbeit und Muße gibt, das heißt, dass man seine Freiheit immer nur in der Unfreiheit ahnt und sich nach ihr sehnen kann. Wie die Menbleiben ins Irdische verwoben, solange wir atmen. Immer haben wir Natur in uns und um uns.« 2 Das Grundphänomen des Todes weist nach Fink auf diese Doppelheit des Menschen hin: Einerseits ist der Tod die Negation des individuierten Seins, andererseits ist er die existenziale Form unseres Lebens, die uns unsere Freiheit als Selbstheit und Endlichkeit, d. h. die Möglichkeit der geschichtlichen Existenz als solche, erschließt (vgl. Fink 1979a, 207). Ähnlich ist der Mensch wegen seines Leibs Teil der Natur; trotzdem ist seine Leiblichkeit nichts Tierisches, wie auch sein Geist nichts Göttliches ist.

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Giulia Cervo

schen, während sie arbeiten, »von Paradiesen müheloser Sättigung träumen« (Fink 1962b, 7), sehnen sie sich auf ähnliche Weise nach Freiheit und beanspruchen ein Recht auf sie, solange sie unfrei sind, und wenn sie endlich frei werden, können sie mit ihrer erworbenen Freiheit nichts anfangen 3 – vielleicht weil für die Freiheit dasselbe gilt, was Adorno über das Glück sagt. 4 Es handelt sich darum zu verstehen, dass die Frage nach der Natur des Menschen eine schlecht gestellte Frage ist, indem sie so etwas wie eine menschliche Natur voraussetzt, ohne den Begriff der Natur als problematisch anzusehen, insbesondere wenn er auf den Menschen bezogen wird. Demgegenüber ist Finks Philosophie der Versuch, metaphysische Dualismen wie Natur und Geist, Natur und Technik, Sein und Freiheit umzudenken, ohne sie aufzuheben, sondern ihre Spannung, die das Denken in Bewegung hält, in Funktion zu belassen. In diesem Beitrag wollen wir auf die oben gestellte Frage mit einem Klärungsversuch sowohl des Themas der Arbeit als auch von Finks Begriff der Entmenschung her antworten; obwohl dieser Begriff ausschließlich in der Sechsten Cartesianischen Meditation explizit formuliert wird, um damit die Überwindung der ›Ich-Mensch‹Haltung der natürlichen Einstellung auszudrücken, impliziert er doch einen Begriff von Freiheit, der auch im späteren Werk Finks zu erkennen ist. Wie im Folgenden gezeigt wird, modifiziert sich einerseits die Auffassung der Freiheit im Nachkriegswerk im Kontext eines anthropologischen Standpunkts, der die Phänomenologie wieder an die Geschichte der Philosophie anknüpft und unter dem Einfluss von Hegel, Marx und Nietzsche zur Betrachtung von sozialen und praktischen Themen öffnet. Andererseits führt eine nähere Analyse der Arbeit zu einer Auffassung von Freiheit, die dem entspricht, was der frühe Fink im Anschluss an Husserl »Entmenschung« genannt hat. »Die größte Bewegtheit der menschlichen Freiheit kann man nicht zum Inhalt aller Tage machen, ohne sie ›alltäglich‹ zu machen. Darin liegt die erlebnismäßige Paradoxie der Freiheit, daß alle danach verlangen, doch zumeist mit ihr nichts anzufangen wissen. Die befreiten Massen suchen bald eine neue Knechtschaft – und die Anführer werden zu Tyrannen oder Berufsrevolutionären.« (Fink 1962a, 67) 4 »Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit: Man hat es nicht, sondern ist darin. Ja, Glück ist nichts anderes als das Umfangensein, Nachbild der Geborgenheit in der Mutter. Darum aber kann kein Glücklicher je wissen, daß er es ist. Um das Glück zu sehen, müßte er aus ihm heraustreten: er wäre wie ein Geborener.« (Adorno 1998, 126) 3

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Das Menschenwesen als endliches Schöpfertum

2.

Die Entmenschung und ihre Bedeutungen

In der Sechsten Meditation bezeichnet die Entmenschung das Herauslösen aus der natürlichen Weltbefangenheit durch die Epoché, da Husserl sich mit »Mensch« auf das natürliche bzw. mundane Weltverhältnis, auf das schon konstituierte Ich, bezieht, das sich innerhalb einer schon konstituierten Welt bewegt. Entmenschung ist daher bei Fink ein sozusagen negativer Begriff, der aber zugleich das Ergebnis der phänomenologischen Reduktion ausmacht. Denn im Vollzug der Reduktion produziert sich ein Reflexionsexponent, durch den und als der sich das »Für-sich-Werden« (Fink 1988, 16) des transzendentalkonstituierenden Lebens ereignet; dieser Exponent ist kein menschliches oder psychologisches Ich mehr, da er vielmehr die transzendental-reflexive Tendenz des Bewusstseins ausdrückt, die nicht mehr in die transzendentale Konstitution der Welt eingebunden ist, sondern sich daraus gelöst hat. In der Entmenschung der phänomenologischen Reduktion wird das konstituierende Ich zum phänomenologisierenden Ich, indem es sich von seiner »Weltbefangenheit« 5 befreit. Die Entmenschung ist daher ein wesentliches Moment der Phänomenologie als »Lehre von der Freiheit«. Es ist hier nicht möglich, dem Befund der Weltbefangenheit weiter nachzugehen. Was uns interessiert, ist die Bedeutung, die Fink der Wendung verleiht: »sich selbst ansehen wie ein Ding«. 6 Der Mensch ist »weltbefangen«, sofern er sich selbst aufgrund der Dinge versteht, seine Natur nach dem Vorbild des Dinges denkt und damit sein Weltwesen vergisst. Bekanntlich ist die »kosmologische Differenz« von Ding und Welt, binnenweltlichem Seienden und Weltganzem, in Finks Denken noch ursprünglicher als die ontologische Differenz von Sein und Seiendem angelegt: Seinsverstehen ist immer schon Weltverstehen. Das Weltverstehen des Menschen ist aber nur vom Binnenweltlichen her möglich und kehrt stets ins Binnenweltliche zurück (wie in der Sechsten Meditation jeder Entmenschung eine neue Vermenschung folgt). Van Kerckhoven hat daher die Freiheit der Reduktion als einen »rückfallenden Absprung« beschrieben, um dieses Scheitern der Freiheit begreiflich zu machen (van Kerckhoven 1996, 122).

5 6

Siehe z. B.: Fink 2008, Z-IX, IX, 10a–11b. Ebd. Z-XI, III, 20a.

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Was die menschliche Natur so problematisch macht, ist zunächst die Tatsache, dass der Mensch nicht nur in Beziehung zu sich selbst steht, sondern eine Beziehung zu sich selbst ist. Menschsein heißt nämlich nach Fink Menschwerden. Der Mensch strebt nach sich selbst: Seine Natur ist nichts Fertiges, nichts Festgestelltes, vorausgesetzt, dass er »durch die Resultate seines Tuns beständig in Anspruch genommen« ist (Fink 1956, 61). Sich deuten heißt für den Menschen, sich zu schöpfen, sich selbst zu bestimmen: Er »setzt sich sein Wesen in das Schöpfertum« (ebd. 25). In einem gewissen Sinn kann eine Form der ›Entmenschung‹ auch in Finks Philosophie der Nachkriegszeit angetroffen werden. Diese zweite Form könnte man als eine ›Entfremdung‹ bezeichnen (deswegen haben wir oben die Anführungszeichen benutzt, um diese ›schwache‹, niedere Form von der radikaleren der Sechsten Meditation zu unterscheiden). In diesem Fall bekommt das Wort eine ontische Bedeutung, es ist dann lediglich eine Entfremdung der Menschlichkeit im weitesten Sinne gemeint, und zwar jene Abwärtsbewegung, die Fink »Verdinglichung des Menschen« nennt (Fink 1962b, 10) und anderswo auch als eine »Exzentrizität« des Daseins beschreibt. 7 Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Wiederaufnahme von Heideggers Unterscheidung zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, die Fink im Gegenteil fallen lässt. 8 Die menschliche Herstellung hat nämlich kein Vorbild mehr, auch nicht das eigentliche Selbstsein. Diese Entfremdung des Menschen in den Dingen ist aber kein zufälliges Ereignis, sondern sie ist notwendig, da sie zum Menschenwesen als solchem gehört, sofern das Dasein beim Seinsverstehen sich selbst in ontologischen Begriffen darlegt und auslegt: »Das seinsverstehende Dasein verfügt nicht von vornherein über zureichende ontologische Begriffe für seine Selbstauslegung. […] Es steht ständig in der Gefahr, sich in seiner eigenen Auslegung zu ›verfremden‹, sich am LeitFink 1965, 63. Vgl. auch Fink 1974, 209. Nicht zufällig wirft Fink Heidegger vor, dass er das ontologisches Apriori mit dem gnoseologischen Apriori verwechselt hat (vgl. Fink 2008, Z-IX 5a; Z-IX 31a; Z-XV 103b. Vgl. auch Bruzina 2004, 142–143): Das Dasein ist nach Fink zwar der Grund des Verstehens der ontologischen Differenz, aber das bedeutet nicht, dass es der Grund der ontologischen Differenz als solcher ist (der Grund der ontologischen Differenz ist nämlich von Fink mit der Welt identifiziert als Ursprung der Differenz zwischen Welt und binnenweltlichem Sein). Finks Kritik der Eigentlichkeit bei Heidegger erinnert sehr an die Adornos, der Heidegger eine »Ontologisierung des Ontischen« zuschreibt. 7 8

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bild dinglicher Modelle und dinglicher Verhältnisse zu explizieren.« (Fink 1956, 31) Einerseits muss man feststellen, dass das menschliche Selbstverstehen ursprünglich von dinglichen Vorbildern vermittelt wird, andererseits ist diese Entfremdung in einer Dingwelt immer noch ein menschliches Verhältnis, das innerhalb des menschlichen Seinsverständnisses besteht. 9 »Die Welt der Dinge, die wir nicht sind, ist uns in einem menschlichen Seinsverstehen und in einer menschlichen Seinsbegrifflichkeit eröffnet. Wir bleiben also in einem gewissen Sinne innerhalb des humanen Seinsverständnisses, auch wenn wir uns ontologisch ›verfremden‹.« (Fink 1956, 31) Diese ontische Entmenschung als »Verdinglichung« hat ihren dialektischen, ebenfalls ontischen Gegenpart in dem, was Fink »Vermenschlichung der Dinge« 10 nennt. Der Mensch ist kein bestimmtes Wesen, sondern ein »Zwischenwesen« und »Mittler« (Fink 1976, 137), da sein Wesen sich als Bezug von lethe und aletheia, der »Verschlossenheit der Erde« und dem »Offenem des Himmels«, von Natur und Geist, Ding und Welt, das heißt als Verstehen der kosmologischen Differenz von Welt und binnenweltlichem Sein ereignet. Im Abstand des Menschen zu seinem Wesen – das nichts Fertiges ist, sondern in einer verstehenden Beziehung mit sich selbst bestimmt wird – äußern und vollziehen sich sein Abstand zum binnenweltlichen Sein und seine Öffnung zur Welt. Das Menschenwesen existiert also nicht vor seinem Verstehen, und das Selbstverstehen ist keine bloße Erkenntnis, sondern ein »Selbst-herstellen«. Die Hauptform dieses Selbstherstellens oder dieser Vermenschlichung der Dinge ist die Arbeit, nicht primär als ein »Produzieren«, sondern eben als ein »Herstellen«, als die Tätigkeit des Menschen, mit der dieser sich als »werktätiger Nihilist« erweist (Fink 1974, 220). Aufgabe des Menschen ist es nicht, sein eigenes Wesen so zu verwirklichen, als ob es schon vorhanden wäre (das wäre eine zu platonistische Weise, die Herstellung zu betrachten). Aufgabe des Menschen Vgl. Fink 1976, 255: »Der Mensch ist es, der seine kontingente Stellung im Kosmos selbst interpretiert, der den Begriff einer menschenlosen Natur entwirft und daran allererst die Gegen-Macht gewinnt gegen sein Machen, Schaffen und Hervorbringen.« 10 Fink 1962b, 10. Man kann zwischen der Verdinglichung des Menschen und der Vermenschlichung der Dinge in der Tat dieselbe Dialektik sehen, die in der Sechsten Cartesianischen Meditation zwischen reduktiver Entmenschung und Vermenschung auftritt (vgl. Fink 1988, 120). 9

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ist es – wenn dies überhaupt noch ›Aufgabe‹ genannt werden kann –, im Selbstverstehen selbst zu werden, sich jeweils zu transzendieren im ontologischen Verstehen, da jedes Verstehen zugleich ein Transzendieren des Verstandenen ist und jede Lebensbesinnung immer auch Lebensvollzug ist. Dieses tätige Verstehen verwirklicht sich grundsätzlich im Phänomen der Arbeit, da dieses sowohl Erfahrung des »Es-haften Geschehens« (Fink 1969/70, 29) als auch dessen teilweise, unvollkommene Überwindung ist. Die Vermenschlichung der Natur stimmt als unaufhörliches Selbsttranszendieren des Menschen im Tun, Kampf und Herstellen mit der menschlichen Geschichte überein: »Es wird immer menschlich zugehen in der Geschichte und das heißt: eben auch immer ›unmenschlich‹, hart, gewagt und gefährlich. Der Kampf wird nicht aufhören, so wenig wie die Liebe.« (Fink 1965, 40) Mit dem Verweis auf das ›Unmenschliche‹ will Fink sagen, dass die Menschheit durch und durch geschichtlich ist bezüglich ihrer Form und ihres Wesens, dass es keine endgültige Definition vom Menschen und von seiner Menschlichkeit gibt, die als Ideal das Handeln des Menschen bedingte. 11 Die Geschichte ist eben die Negation jeder erreichten Form von Menschheit. Aus dieser Perspektive sind auch die Menschenrechte nichts Festgestelltes, nichts Selbstverständliches, das ein für allemal versichert wäre: »Die garantierten Freiheitsrechte werden von hohen Richtern auf Grundwerte bezogen […], die keineswegs selbstverständlich sind, sondern in einer bestimmten, geschichtlich gewordenen Rangordnung von Werten gründen.« 12 Von diesem Standpunkt aus wird sogar der Begriff der Menschenwürde fragwürdig. Eine Notiz Finks sagt nicht zufällig, dass die Würde des Menschen darin besteht, »einer Sache nicht unwürdig zu sein«. 13 Das, worin der Mensch würdig sein soll, ist eben der Kampf um seine Freiheit, um seine Unabhängigkeit von der Natur, von seiHier zeigt sich eine Parallele zu Adorno, der sowohl die Auffassung der Geschichte vom Standpunkt des dialektischen Materialismus als auch vom bürgerlichen Standpunkt aus kritisierte, indem beide die Menschheit als etwas schon Existierendes betrachten und sie als Ziel der Geschichte und des Fortschritts sehen (vgl. Adorno 1969, 31). 12 Fink 1959/1960, 30. Vgl. auch Fink 1962/1963, 39: »Die Menschenrechte, die man so sehr feiert, sind ebenfalls keine Naturbefunde, sondern politische Selbstbestimmungen eines Menschentums, welche die Grenzen der individuellen Freiheit gegen Übergriffe der Mitmenschen sichern sollen.« 13 Fink D 445 (1947–1952). 11

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nem irdischen Grund. Dieser Kampf ist die materielle und ideale Herstellung von Dingen und Werten, die nicht ungetan bleiben kann, da der Mensch – wie schon bei Heidegger und Gehlen – »ein handelndes Wesen«, 14 »ein Vorauslaufen in der Zeit, ein Verhalten zum KünftigMöglichen« (Fink 1956, 67 f.) ist und er nur als Produkt, als »Inbegriff seiner Taten« (ebd. 16), existiert. Hierin kann ein prometheisches Motiv erblickt und auch eine erste Antwort auf unsere Frage gefunden werden: Die Natur des Menschen ist es, sich selbst zu bestimmen, und das gerade, weil er nicht bestimmt ist. 15 In einem gewissen Sinn schreibt Fink dem Subjekt das zu, was ihm Heidegger mit seiner existenzialen Analytik genommen hat. Bleibt das heideggersche Dasein immer schon dort, wo es ist (aufgrund des hermeneutischen Zirkels von Vergangenheit und Zukunft, Geworfensein und Sein-zum-Tode), ist das Subjekt bei Fink in ein ruheloses Werden hineingenommen, ohne dass dieses Werden eine eigentliche Form gewinnen kann. Denn die Transzendenz des Seins wird von Fink weniger als ontologische Selbstheit, als eigentliches Sein, 16 sondern vielmehr als »me-ontische« 17 Transzendenz verstanden, und zwar als Negation alles möglichen Wesens, als ein abyssaler Charakter des binnenweltlichen Seins. 18 Das Adjektiv »meontisch« wird von Fink in den dreißiger Jahren in Bezug auf das transzendentale, vorweltliche Leben des Bewusstseins eingeführt. Das Wort, das Husserl für dessen Beschreibung benutzte, nämlich »Vor-sein«, erachtete Fink als unzulänglich, da es noch in einer ontischen Begriff-

Fink 1956, 61. Fink benutzt hier sogar dieselben Worte, die schon Gehlen in seinem Buch Der Mensch (1940) (vgl. Gehlen 1950, 33–34) sowie Heidegger (GA 24, 186) verwendet hatten. 15 »Der Mensch hat die Schöpfergewalt nicht so wie das Tier das Sehvermögen. Der Mensch hat die Bestimmtheit, sich zu bestimmen.« (Ebd. 25) 16 In einem gewissen Sinn kann für Finks Bezug zur Ontologie Heideggers dasselbe gelten, was Fink über den Unterschied von Erscheinen und Wesen sagt: »Wir sind befangen im Me-Ontischen und vermissen die Kraft und die Macht und die Herrlichkeit des Eigentlich-Seienden […].« (Fink 2004, 136) 17 Die Bedeutung dieses Wortes wird später geklärt. 18 Vgl. G. van Kerckhoven 1996, 130: »Die Kritik der Ontologie und der universalen, ontologisch verfahrenden Philosophie erfordert vielmehr ›eine radikale Änderung des Begriffs Seiendes (On)‹. Eine me-ontische Phänomenologie übernimmt diese Aufgabe.« 14

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lichkeit befangen war, die einer binnenweltlichen Auffassung der Zeit als eines »Es-haften Geschehens« 19 entstammte. 20 Wir haben gesehen, wie Fink Heideggers Konzept der Verfallenheit in Bezug auf das Scheitern der Überwindung des binnenweltlichen Horizonts in der phänomenologischen Reduktion grundsätzlich teilt. Mit der kosmologisch-anthropologischen Philosophie des späteren Fink wird jedoch der Steigungscharakter dieser transzendierenden Bewegung hervorgehoben, und das in Übereinstimmung mit Nietzsche: »Das Wesen des Menschen wird von der Bewegung des Überstiegs her gesehen […]. Der Mensch wird als ›Transzendenz‹ begriffen.« (Fink 1990, 76) Der Mensch ereignet sich als Selbstüberstieg, indem er seine kosmologische Rolle als Mittler und Vermittler übernimmt (Fink 1976, 124), indem er durch seine Tätigkeit die Welt erscheinen lässt und dadurch sein Wesen als ein ›In-Beziehung-setzen‹ anerkennt. Das metaphysische Motto »Werde, der du bist« ist nach Fink umzuwandeln in: »Sei, wer du durch dich selbst wirst.« (Fink 2016, 443) Hier könnte der Eindruck eines existenziellen Solipsismus entstehen. Eine solche Interpretation würde jedoch Finks Grundabsicht unberücksichtigt lassen, die stets auf intersubjektiv relevante Weise die Grundphänomene des menschlichen Daseins im Blick hat: »Das Miteinandersein, die humane Co-Existenz bildet die unausgesprochene Basis der Daseinsdeutung« (Fink 1979a, 430); und: »[D]ie Gemeinschaft geht jeder Vereinzelung vorauf« (ebd. 431). Zudem versteht Fink jede Idealbildung als eine ko-existenzielle Aufgabe, die von den intersubjektiven Grundphänomenen von Macht und Arbeit nicht absehen kann. Die Überwindung der platonistischen Auffassung der Freiheit als Verwirklichung einer schon existierenden Möglichkeit ist vielmehr ein Zug unserer Zeit und involviert die Selbstauffassung der Staaten und Völker, die den Bezug von Technik und Politik umdenken müssen. 21 Wie noch zu zeigen sein wird, ist das Subjekt dieser Umgestaltung nicht der Einzelne, sondern die Gesellschaft. Diese poVgl. oben. Vgl. Fink 2008 (Z-XV, 26b), 277. 21 »Diesen ›Platonismus‹, der die Werke der Menschenfreiheit unter die Norm der denkend erblickbaren Ideen stellen will, gilt es zu überwinden. Das kann nicht vom Einzelnen aus geschehen, sondern allein in der vereinigten Willensproduktion des Volks, das seine Souveränität begreift als Freiheit von allen vorwegbestehenden Normen und als Freiheit zur vorbildlosen Bildung seines Staats. Die Menschenfreiheit experimentiert als volkssouveräne Politik.« (Fink 1962a, 63) 19 20

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litische Rolle der Gemeinschaft hat bei Fink einen ontologischen Grund, der besonders in den Phänomenen der Liebe und des Todes sichtbar wird; 22 und dieser vor-individuelle Grund stimmt zunächst mit der Gattung überein. 23 Wie schon zitiert, setzt sich der Mensch »sein Wesen in das Schöpfertum« (Fink 1956, 25). Die zwei Gestalten dieses Schöpfertums – das von Fink als ein »endliches Schöpfertum« bezeichnet wird, um es vom Schöpfertum Gottes zu unterscheiden – sind grundsätzlich das Spiel und die Arbeit. Genau in diesen beiden Phänomenen kündigt sich aber eine weitere, dritte Form der Entmenschung an, und zwar in einer ontologisch-kosmologischen Bedeutung, einer Bedeutung, die sich aus der ontischen Dialektik von Verdinglichung und Vermenschlichung als ihr vertikaler Bruch ergibt: als Einbruch einer radikalen Selbsttranszendenz, die, in Kontinuität mit dem frühen Fink, dem prometheischen, ›allzumenschlichen‹ Selbsttranszendieren ein Ende macht. In der Tat können wir bereits sagen, dass der spätere Fink Nietzsches Überzeugung zu teilen scheint, wonach man sich verlieren muss, um sich überhaupt finden zu können. 24 Je mehr sich der Mensch ent-menscht, desto menschlicher wird er. Hier ist das Entmenschlichen jedoch weder als mythische Regression (im Sinne von Adornos »Naturverfallenheit«) bzw. Selbstvernichtung in der Natur noch als Verfremdung in der Dingwelt gedacht, sondern im Gegenteil – mit Hegel – als ein ›Sichverlieren‹, das eine Distanz zur Natur in sich und um sich gewinnt, das sich aus gesicherten, fixen Horizonten löst, indem es eine bestimmte Negation durchführt, die jeweils meontisch eine Fixierung oder Verabsolutierung des menschlichen Wesens (z. B. als Verdinglichung oder Entfremdung in der Arbeitswelt) preisgibt und somit einen radikalen Modus der Selbsttranszendenz vollzieht. Das menschliche Tun schreibt sich in die »Zwietracht von Himmel und Erde« ein, wobei die Erde den ungeschichtlichen Grund der Geschichte 25 ausmacht; sie entspricht den Grundphänomenen von Zum Phänomen des Todes vgl. z. B. Fink 1979, 141–142; zum Phänomen der Liebe: ebd. 349. 23 »Der Einzelne existiert im Raume der Gattung […] er lebt – ob er will oder nicht – als zweitweiliger Repräsentant der Sippe, des Volks. Er ist seinem Sein nach nie selbstgenügsam, ist nie wie der Gott ›von Ewigkeit zu Ewigkeit‹.« (Ebd. 327) 24 »Wenn man erst sich selber gefunden hat, muss man verstehen, sich von Zeit zu Zeit zu verlieren — und dann wieder zu finden: vorausgesetzt dass man ein Denker ist.« (Nietzsche 1988, 689) 25 Vgl. Fink 1976 (»Welt und Geschichte«), 178. 22

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Liebe und Tod, der Himmel aber dem Aufstieg zur Welt in den Grundphänomenen von Arbeit und Macht. Der Mensch existiert nur in dieser Spannung, und es wäre falsch, das eine oder das andere Moment abzutrennen. Dementsprechend ist es möglich, drei unterschiedliche Begriffe von Entmenschung festzuhalten, von denen jeder einer Stufe der Realisierung der Freiheit entspricht. So gibt es eine erste, transzendentale Bedeutung der Entmenschung (1), die an Finks Frühwerk gebunden ist und im Spätwerk eine kosmologische Reformulierung (3) findet, nachdem sie durch ein ontisches Moment (2) hindurchgegangen ist. In dieser Hinsicht erhält die Arbeit aufgrund ihrer zweifachen Funktion einen zentralen Stellenwert: Einerseits ist sie die binnenweltliche, ontische Negation der transzendentalen Lösung aus der Weltbefangenheit (als »Verdinglichung des Menschen« in den Produkten seines Herstellens), andererseits ist sie die dialektische Vorbedingung für die Weltoffenheit des Menschen (als »Vermenschlichung der Dinge«, was Kampf um die Freiheit und die Transzendenz bedeutet und die Erfahrung von deren Scheitern). Der folgende Abschnitt wird diese der Arbeit zukommende Zweideutigkeit näher in den Blick fassen.

3.

Die Arbeit als Befreiung der Freiheit und deren Scheitern

Die Arbeit beschreibt Fink als eine »irdisch-aktive Teilnehmung des Menschen an der fortwährenden Schöpfung der Welt« (Fink 1962b, 11). Fink ist davon überzeugt, dass es ohne Technik kein Verstehen der Natur 26 gibt, so wie es keine Freiheit ohne Unfreiheit gibt, da die Freiheit nur aufgrund der Natur als Befreiung 27 zu erleben ist. Einerseits kann sich der Mensch nur deswegen auf Natur beziehen, weil er sich außerhalb von ihr und gegen sie positioniert, andererseits bedeutet »die Naturnähe […] nichts anderes als einen Vergessenheitsmodus menschlicher Freiheit« (Fink 1959/1960, 10). Ebd.: »Weil der Mensch das Vermögen der Techne hat, kann er Natur als Natur verstehen.« 27 Vgl. Fink 2008, Z-XXV [1937–1939], 130. Siehe dazu auch: Fink 2016, 30: »Was ist die Freiheit des Menschen, daß sie sich vordringlich zeigt in den Aktionen der Befreiung? Unser gewöhnliches und unmittelbares Wissen um die Freiheit ist in eins Wissen um Zwang und seine Überwindung. Freiheit ist immer geahnt in der Entbehrung des Freiseins.« 26

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In diesem Sinne ist Arbeit die erste und zufälligste, dialektische Erfahrung der Freiheit, denn im Arbeiten – vor allem in der handwerklichen Arbeit – erfährt man »den Widerstand der Erde« (Fink 1962b, 10), und die Freiheit verwirklicht sich immer »in einer realen Kampfsituation«. 28 Wir haben schon gesehen, dass die Tätigkeit des Menschen, also sein Herstellen, gleichzeitig mit der Natur und gegen sie erfolgt. Aus diesem Grund kann die Arbeit als ein Beispiel für die sogenannte »negative Freiheit« genommen werden, die nur in einer Überwindung von Zwang und Unfreiheit zu erkennen ist und »einmal als Unabhängigkeit des Menschen von der Natur; und dann als Unabhängigkeit von Gott« 29 erfahren wird. Diese negative Freiheit beschreibt Fink ausführlicher mit folgenden Worten: »Die negative Freiheit ist kein Besitz, kein Zustand, der, einmal errungen, gehalten werden kann, sondern nur eine Passage, ein Übergang. Man könnte versucht sein zu sagen: Freiheit ist überhaupt nie, sie ist nie vorhanden und gegeben als eine in sich bestehende und beständige Sache, sie ist nur die verborgene Kraft, die im befreienden Tun wirkt, existiert nur im ›Aufschwung‹, im großen Pathos der Freiheitshandlung. Sie wirkt, sofern sie noch nicht verwirklicht ist, und hört auf zu sein, wo diese Handlung scheinbar ins Ziel kommt.« (Fink 2016, 31)

Die Arbeit bringt immer eine Form von Gewalt mit sich, indem sie »Hervorbringung« (Fink 1965, 8) ist, das Sein des Seienden pro-voziert, negiert und verwandelt. Diesbezüglich wird man an den Traktat über die Gewalt des Menschen erinnert, in dem Fink vom menschlichen Tun als von einer »Provokation des Seins« spricht. Dieser Begriff ist nur dann richtig zu verstehen, wenn man ihn anhand von anderen Werken Finks interpretiert. In Ontologie der Arbeit liest man zum Beispiel: »Die gewalttätige Verwendung von Dingen wider ihren eingeborenen Zweck [gehört] zur Wildnis und ist bereits eine wildnishafte Möglichkeit.« 30 Wie schon bei Heidegger findet jedoch Fink 1962b, 8. Vgl. auch Fink 1962a, 70. Fink 2016, 36. Vgl. Heidegger, GA 31, 7: »Der Begriff der negativen Freiheit besagt also: Unabhängigkeit des Menschen von Welt und Gott.« 30 Fink 1965, 9. Finks Auffassung der menschlichen Gewalt steht nah zu derjenigen Heideggers. Wenn Fink sagt, dass »[…] viel Gewaltiges lebt, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch« (ebd. 5), scheint er sich an die von Heidegger in der Einleitung in die Metaphysik geäußerte Auffassung der Geschichte anzulehnen, wo Heidegger den Menschen als das »Gewaltigste« und »Unheimlichste« bezeichnet. Auf der anderen Seite distanziert sich Fink von Heidegger, indem er im Dasein und in der menschlichen Geschichte keine Lichtung des Seins mehr sieht. 28 29

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diese Gewalt im Sein der Natur ihre Grenze, so dass der Versuch des Menschen, sich von der Natur zu befreien, immer scheitern muss. Die Erfahrung dieses Scheiterns führt den Menschen zu einem Erkennen der Transzendenz der Welt, sofern sie Erfahrung von Endlichkeit als horizontaler Prozess innerhalb einer Welt ist: In der unaufhörlichen Dialektik zwischen Verdinglichung und Vermenschlichung erlebt der Mensch nicht nur die Endlichkeit der Dinge, sondern auch seine eigene Endlichkeit als binnenweltliches Wesen neben anderen binnenweltlichen Seienden. Solange der Mensch Mensch ist, kann er sich nicht vom Binnenweltlichen lösen, sondern existiert in der »ontischen Nähe« oder »ontischen Verwandtschaft« mit den Dingen, die an Heideggers Begriff der Verfallenheit erinnert und auf die irdische Natur des Menschen verweist (die sich ihrerseits schon im Leib als dem »Primärorgan aller Arbeit« [Fink 1965, 7] ankündigt). Nur im Scheitern, und sofern es scheitert, kann das Dasein als »Seinsentwurf« – wie Fink in seinem Spätwerk oft den Menschen nennt – sein kosmologisches Wesen, sein Weltwesen, verwirklichen, da das Scheitern im Grunde die Erfahrung der kosmologischen Differenz ist – eine Erfahrung, in der der Mensch auf seine binnenweltliche Natur als Grenze stößt und somit der Grenze bewusst wird, die ihn von der Welt und von der Weltweite trennt, indem er immer auf die binnenweltliche Seite der Grenze zurückfällt. Dementsprechend wird das Scheitern von Fink auch als eine »Aufhebung« 31 jeder binnenweltlichen Ganzheit, jedes binnenweltlichen Absoluten, beschrieben. Das Scheitern des ontologischen Entwurfs des Menschen ist daher als echte Transzendenz gesehen, da es seine eigene Endlichkeit vor dem Hintergrund der Welt zu erfassen, sein eigenes Sein aus dem Werden der Welt heraus zu verstehen erlaubt. 32 Vgl. z. B. Fink 2008, 95: »Daß das Absolute in der philosophischen Explikation die Form des höheren oder umfassenderen Seins annimmt (›konkret‹ – ›abstrakt‹), ist selbst ein im Wesen der meontischen Explikation notwendig liegender ›Schein‹. Diesem Schein zu verfallen, durch ihn geblendet zu sein, ist die ständige Gefahr für jede ›absolute Philosophie‹. Ihm entrinnen kann sie nicht; aber ihn ›aufheben‹: ›Scheitern‹ als ›Widerschein‹.« – Vgl. auch Z-XV, 102b. 32 Wenn Fink in seinen frühen Schriften die phänomenologische Reduktion als »Katastrophe der Existenz des Menschen, katastrophales Denken, das Außersichgeraten des Menschen« sah und die Entmenschung auf hegelsche Weise als »Untergang des ›unglücklichen Bewußtseins‹« im Absoluten interpretierte (Fink 2008, Z-IX, IX, 11b), kann man im Blick auf sein Spätwerk diesen Begriff des Absoluten als das me-ontische Werden der Welt verstehen, die wiederum kein Wesen und kein Sein, sondern als das Ereignen alles Seienden zu denken ist. Es geht bei Fink darum, den »Weltaufgang« 31

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Da unser Handeln »immer Mühsal und ein Ringen mit der Natur« ist (Fink 1965, 4), muss man arbeiten: Die Arbeit ist eine Notwendigkeit. Hier spielt Fink mit den Worten und spricht von »NotWendung« (ebd.), um diese befreiende Bewegung zu betonen, so dass die Notwendigkeit der Arbeit immer einen Aufschwung mit sich bringt; eine Bewegung, die nicht als Zirkel und als vollkommene Steigerung, sondern vielmehr als eine Spirale zu verstehen ist, da es sich dabei um eine hinausgehende-zurückfallende Bewegung handelt. Daraus kann man schließen, dass Arbeit dort wirklich relevant ist, wo sie scheitert, da dies erst jenes radikale Transzendieren – als die oben genannte dritte Bedeutung der Entmenschung – ermöglicht. Das (Un-)Wesen der Freiheit liegt genau in dieser spannungshaften Bewegung der Befreiung, die stets als Spannung geschieht und nie als ein Zustand eintritt. In dieser Hinsicht wird jeder erreichte Zustand transzendiert und somit negiert; die Negation muss iteriert werden und sie gewinnt einen meontischen Abstand vom eigenen Sein, so dass man im Selben bleibt, aber meontisch. Die meontische Überwindung des Seins als Stellung, die Fink in den dreißiger Jahren vorhatte, 33 setzt sich daher auch in seinem Werk der Nachkriegszeit fort, indem das Scheitern der Befreiung vom binnenweltlichen Horizont des Dinges betont wird. Die Natur in uns und um uns ist sowohl Gelegenheit als auch Kontext und Bedingung der menschlichen Aktion der Befreiung, die nie endgültig hinter sich gelassen werden kann. Wie schon gesehen, vollendet sich die menschliche Freiheit zwar in der Selbstüberwindung des Menschen, aber diese Überwindung muss keineswegs als Aufstieg verstanden werden, sondern sie vollzieht sich nur, sofern der Mensch seine zweideutige Natur versteht und aufnimmt (wie bei Nietzsche der Übermensch ein Übergang ist), 34 er sich also im Herstellen als eine werdende, gespannte Beziehung zu sich selbst und zur Welt und nicht als ein vorhandenes Wesen ergreift.

als ein »Aufgehen des Seins« (vgl. Fink 1990, 207) zu denken und somit den metaphysischen Unterschied zwischen Sein und Werden zu überwinden. 33 Vgl. Finks Vorlesung vom 1971, Reflexionen zu Husserls phänomenologischer Reduktion, in: Fink 1976, 320. 34 Nietzsche bietet für Fink das Vorbild, um das Weltwesen des Menschen zu denken: Wie man in Nietzsches Philosophie liest, hat Nietzsche das Wesen des Menschen kosmologisch als große Sehnsucht verstanden (vgl. z. B. Fink 1979b, 103–104). Vgl. auch: Z-XV, 102b.

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4.

Die Zeit der »entfesselten Produktion« 35 Das Wesen der Herstellung als ›meontisches‹ Weltverständnis

Das Verhältnis zwischen Natur und Freiheit wird von Fink auch als Verhältnis von Sein und Freiheit verstanden, indem er die Freiheit nicht als etwas Seiendes, sondern als me-ontisch verfasst ansieht und sie ausdrücklich als einen »Umgang mit dem Nichts« 36 beschreibt. Gerade die Arbeit und die Produktion werden hier zum zentralen Thema und bieten die Gelegenheit, die Beziehung von Sein und Freiheit jenseits der Metaphysik und ihres Dualismus zu denken: »Wird aber einmal das Gesamtphänomen, das umgreifende Ganze von Mensch, Auslagerungsstätte und freier Werktat zusammengesehen, so verschwindet der fixe Unterschied von Sein und Freiheit und es erheben sich Fragen, welche vielleicht über die Horizonte der dualistischen Metaphysik hinaustreiben.« 37 Van Kerckhovens Bestimmung der Philosophie Finks als einer »Phänomenologie des wilden Seins« (van Kerckhoven 1996, 111) erlaubt es, in der Freiheit als ›wildem Sein‹ die Einheit von Sein und Freiheit zu erblicken, wobei das wilde Sein der Freiheit für die endlose, entfesselte Herstellung des Menschen im technischen Zeitalter steht, die keinem Grund mehr aufruht und keinen Zweck mehr hat – was aber bedeutet, das Sein des Menschen als ein Werden zu denken. Im Herstellen der Arbeit, in der Idealbildung sowie im Spiel zeigt sich am besten Finks Überwindung der Metaphysik, wonach »das Sein selbst nicht [steht], sondern vielmehr das Werden selbst« ist (Fink 1990, 205). Dieser geschichtliche, zeitliche Zug des Seins muss wiederum nicht als eine Seinsgeschichte gesehen werden. Hier trennen sich Finks und Heideggers Wege. 38

Fink 1965, 41. Vgl. Fink 1956, 24: »Jede Art von Produktion ist schon ein Umgang mit dem Nichts, eine mehr oder minder intensive Bekanntschaft mit ihm.« Vgl. ebd.: »Die Offenbarkeit des Nichts ist das eisige Licht des gegenwärtigen Weltaufenthalts der Menschheit.« Siehe auch Fink 1974, 209: »Die moderne Produktion ist ein menschliches Verhalten zu nichts – zum Nichts.« 37 Fink 1965, 77. Vgl. auch: Fink 1976, 267. 38 Fink teilt nicht Heideggers Darstellung der Geschichte als Ereignis, in der er noch eine Spur der metaphysischen Auffassung des Grundes zu sehen scheint. Er sagt z. B.: »Es macht keinen allzu tiefgehenden Unterschied aus, ob als Prototyp des Seienden die Substanz oder das Ereignis genommen wird.« (Fink 1990, 205) Zudem erlöst er 35 36

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Der Abstand zu Heidegger ist zugleich ein Abstand zu Marx, dessen Fassung der Geschichte Fink als noch metaphysisch verfasst kritisiert, weil sie am Ende der Geschichte die echte Menschlichkeit als Zweck oder »Endzustand« sieht (Fink 1965, 59 f.), während nach Fink die entfesselte Freiheit seiner Zeit kein Ziel vor sich hat: »[…] es gibt kein Ziel, dem das menschliche Wesen zudrängt, es muß nirgends ankommen, es ist alles gleich sinnvoll und sinnlos« (Fink 1962a, 83). Ist menschliches Tun ziellos, hat auch das Herstellen weder Zweck noch Ziel. Entfernt davon, Mittel zu sein, wird das Produzieren als solches zum einzigen Zweck, so dass »die Produktion um willen des Produzierens« geschieht. 39 Eine weitere Folge dieses Ansatzes ist, dass die Zukunft der Gesellschaft unabsehbar, unbestimmbar ist. Diese Überlegung erlaubt uns, wieder zum Thema Natur zurückzukehren. Die menschliche Natur sieht Fink nämlich als das Produkt eines kollektiven, gesellschaftlichen Tuns, das keinem Vorbild folgt: Die Produktion ist keine Re-produktion, sondern Schöpfung, obgleich diese Schöpfung keine endlose, absolute Tätigkeit ist, denn sie geschieht immer schon aufgrund der Natur und setzt daher ursprünglich eine Passivität voraus. Diese Passivität – die nur die Bewegung der Geschichte veranlassen kann – ist das Bedürfnis, das Fink wie Marx am Anfang von Geschichte und Freiheit als deren »irdische Voraussetzung« erkennt (Fink 1969, 87). Natur und Geschichte – wie Natur und Geist – stellen keinen bloßen Gegensatz dar, sondern sind dialektisch zu verstehen. Eine Dialektik von Natur und Geschichte kann jedoch nur vom kosmologischen Verstehen aus begriffen werden, da die Welt eben »das einige Ganze von Geschichte und Natur« ist und der Mensch als Arbeiter in einem »irdisch-aktiven« Sinn »an der fortwährenden Schöpfung der Welt« teilnimmt (Fink 1962b, 11). Das eine Moment ereignet sich nämlich nur durch die Negation des anderen und umgekehrt. Einerseits ist, wie Fink in seinem Vortrag in Sarajevo 1967 feststellt, »die ›Natur‹ ein Begriff aus der menschlichen Arbeitswelt« (Fink 1976, 255), der »durch eine gedankliche Subtraktion des Menschen und all seiner Taten und Werke«

den Weltlauf von seinem Bezug zum Sein, indem er lieber vom Werden der Welt als vom Sein der Welt spricht: »Die Welt ›wird‹.« (Ebd.) 39 Fink 1956, 118. Wie Fink im Traktat sagt, ist »die Herstellung des Daseins in moderner Politik und Technik kein ›Auftrag‹ des Menschenwesens, den es von irgendeiner übermenschlichen Macht empfängt« (Fink 1974, 220).

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(ebd. 254) gewonnen wird. Andererseits, wie er im selben Vortrag bemerkt, ist »die Natürlichkeit des Menschen seine Un-Natürlichkeit« (ebd. 255), da er immer gegen seine gegebene Lage ankämpft, so dass der Naturbegriff »offenbar den Kulturbegriff umfängt und ihn in sich« schließt (ebd. 256). Dementsprechend soll, wie bereits erwähnt, eine richtige Besinnung »das umgreifende Ganze« von Natur und Kultur, Sein und Freiheit als Zusammenhang »von Mensch, Auslagerungsstätte und freier Werktat« in den Blick nehmen (ebd. 267). Wie schon hervorgehoben, ist die Verdinglichung der menschlichen Existenz Notwendigkeit und Hauptgefahr zugleich (vgl. ebd. 251), und eine Phänomenologie der Verfremdung soll beide Aspekte berücksichtigen. Es könnte für den Staat dasselbe gelten, was Fink bezüglich der Maschine sagt, und zwar, dass es dabei um eine Hypostasierung des Geistes und der menschlichen Freiheit geht – was nichts Schlimmes ist, sondern nur ein (dialektisches) Moment des Menschwerdens bzw. der menschlichen Geschichte darstellt, in dem »die Macht des Es als fremdes Selbst erscheint« und man sich »einem fremden Selbst ausgeliefert« fühlt (Fink 1969/1970, 29). Wenn man umgekehrt den Akzent von den Produkten menschlicher Tätigkeit wieder auf die herstellende Aktion des Menschen legt, löst sich diese »zweite Natur« der Maschinen oder der Institutionen wieder in die Geschichte auf. Fink greift nämlich Hegels Begriff des Staats als eine »zweite Natur« 40 auf, einen Begriff, der bei Lukács und Adorno besonders fruchtbar wird: »Der Staat, das Produkt der Freiheit, wird als großer Organismus verstanden, der zugleich kosmische Verhältnisse widerspiegelt. Hier ist der Mensch noch ›naturverbunden‹, er ist nicht von der Natur getrennt durch das Verstehen seiner eigenen Freiheit.« 41 Aufgrund ihrer endlichen Voraussetzung ist die Produktion – sowohl als materielle Produktion als auch als ideale, geistige Produktion (Idealbildung) – »endliches Schöpfertum«. Einerseits ist das technische Zeitalter diejenige Zeit, in der der Mensch sich zum ersten »Im par. 4 der Rechtphilosophie bestimmt Hegel die Freiheit als die Substanz und Bestimmung des Willens, welcher sich selbst bestimmt. Die verwirklichte Freiheit als die objektiv bestehenden Vernunftverhältnisse des Staates ist die Welt des Geistes, die Hegel als ›zweite Natur‹ bezeichnet.« (Fink 1960, 38) 41 Fink 1959/1960, 10. Diese Aussage kann u. a. als ein Beweis dafür gelten, dass sich nach Fink jede Befreiung gesellschaftlich im Rahmen eines Für-sich-Werdens der Gesellschaft ereignet. 40

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Mal als »das sich selbst produzierende Wesen« erfährt (Fink 1959/ 1960, 16). Andererseits ist der Mensch keine absolute »causa sui«. 42 Man soll diese Endlichkeit nicht als eine Grenze sehen, die das menschliche Tun nur im Nachhinein als sein Ende findet: Sie befindet sich nicht am Ende des Handelns, sondern an seinem Anfang. Infolgedessen ist der Mensch kein unvollkommener Gott. 43 Seine Freiheit ist – wie seine ganze Existenz – endlich und fragwürdig. Gesellschaft und Politik sind eben die Formen dieser Endlichkeit und Fragwürdigkeit, und in der Zugehörigkeit des Menschen zur Gesellschaft spiegelt sich seine Zugehörigkeit zur Natur wider. 44 Menschliches Produzieren ist ein gesellschaftliches Handeln, und die menschliche Natur ist immer schon durch die Gesellschaft vermittelt: »Es gibt auch eine kollektive Ursprünglichkeit des Daseins, nicht bloß eine solitäre.« 45 Im Grundphänomen der Arbeit verwirklicht sich also am besten die menschliche Natur, da die Arbeit zugleich verwandelndes Verhältnis zur Natur und Verhältnis zum anderen Menschen ist. Fink versucht konsequent eine nicht moralische Betrachtung der »Coexistenzstruktur der Arbeit« zu entwickeln und sieht die Arbeit als ein »Mit-« und »Gegen«einandersein, als einen Raum des Streits, der wiederum zuerst ein Streit um die Existenz der Gesellschaft ist. Denn Fink spricht von einer »Herstellung der Gesellschaft durch die Gesellschaft« (Fink 1956, 17), das heißt von einem kollektiven Schöpfertum. Nicht nur erblickt Fink zwischen Arbeit und Kampf eine stärkere Kontinuität als Patočka in seinen Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte, der sie vielmehr als zwei verschiedene Bewegungen betrachtet (wie gesehen, ist der Arbeiter bei Fink schon der Kämpfer, der das prometheische Streben nach der Freiheit unternimmt). Anders als Patočka erblickt er in der Arbeit auch mehr als die bloße Bewahrung des Lebens, die noch die Möglichkeit miteinschließt, sich als »Selbstverzehr« 46 destruktiv gegen das Leben selbst zu stellen: Er Das Herstellen ist kein »reines, absolutes Erschaffen«, kein »Hervorrufen von Seiendem aus dem Nichts« (Fink 1965, 8). 43 »Die Endlichkeit ist nicht die Schranke, nicht die äußere Grenze unseres Schöpfertums, sie ist dessen Grund. Wir sind keine unvollkommenen Götter.« (Fink 1956, 64) 44 Nicht umsonst sagt Fink, dass der Mensch politisch ist, da er sterblich ist (vgl. Fink 1978, 80). 45 Ebd. 59. »Das menschliche Existieren ist seiner Seinsverfassung nach auf ein Miteinandersein angelegt, ist Co-Existenz.« (Fink 1956, 8) 46 Patočka 2010, 58. Man sollte hier an Patočkas Beschreibung der Maschinerie des 42

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sieht darin vor allem dessen schöpferische Verwandlung. Diese Betonung des schöpferischen Wesens der Arbeit erlaubt dementsprechend auch eine andere, positivere Auffassung von Technik und technischer Wissenschaft. Fink kritisiert Marx’ Verabsolutierung der Arbeit als Hauptzug des Menschen 47 und besteht darauf, dass der Mensch arbeiten kann, nur weil er zunächst frei ist, so dass die Arbeit nicht als die Ursache der Freiheit, sondern vielmehr als deren Erweis gilt. Wie auch Patočka sieht er deshalb die Arbeit als eine Möglichkeit des geschichtlichen Menschen; eine Möglichkeit, die in der Aktion begründet ist, die der Geschichte und dem geschichtlichen Seinsverständnis zugrunde liegt: »Weil wir frei sind, können wir arbeiten – können wir uns der Gegenwart entheben und künftigen Möglichkeiten des Handelns zuwenden.« 48 In dieser Hinsicht bildet die Arbeitstat den äußeren Aspekt der Freiheit, die sich als menschliche Geschichte ereignet. 49 Insgesamt teilt Fink Patočkas und Arendts Ansicht, nach der die Arbeit zunächst Zwang ist. Dementsprechend gibt er auch zu, dass der Mensch, solange er arbeitet, der natürlichen Notwendigkeit unterworfen ist, und auch bei ihm stimmt die Freiheit mit der politischen, geschichtlichen Existenz überein. 50 Seiner Auffassung nach beginnen diese Freiheit und diese Geschichte aber nicht, wo die Arbeit endet. Obwohl er mit Patočka darin übereinstimmt, dass Philosophie – die ›Urstiftung‹ der Philosophie – eine radikale Form der Freiheit intendiert (sowohl

Ersten Weltkriegs denken, insbesondere an die Spannung von Alltäglichem und Dämonischem, von alltäglicher Besorgnis und Orgiastik, in deren Rahmen der Arbeiter nur ein »Akkumulator« von Kraftreserven ist (ebd. 137 f.). 47 Siehe z. B. Fink 1962a, 44: »Ist der Mensch nur als Arbeiter ein gesellschaftliches Wesen und in den anderen Lebensbereichen nicht? Gilt es lediglich in der ökonomischen Dimension die Eigensucht des Individuums zu überwinden, den Menschen zu verallgemeinern, sonst aber ihn unbehelligt zu lassen?« 48 Fink 1965, 4. In dieser Hinsicht erweist sich Fink noch als Phänomenologe, indem er die Arbeit – wie jedes andere Phänomen – auf die ursprüngliche Weltoffenheit des Menschen gründet, zum Beispiel wenn er sagt: »Die Offenheit für die Zeit als solche ermöglicht allererst Arbeit im eigentlichen Sinne.« (Ebd. 2 f.) 49 Vgl. Fink 1965, 11: »Die Geschichte ist das Reich der Freiheit, nicht nur der Freiheit des Gedankens, auch der sich ›äußernden Freiheit‹.« 50 Geburt der Polis und Geburt der Philosophie werden von Patočka als ein und dasselbe Ereignis gelesen. Vgl. Patočka 2010, 62: »Insofern aber Philosophie und Geist der polis so eng zusammenhängen, dass der Geist der polis im Weiteren stets in Gestalt der Philosophie fortlebt, hat dieses partikulare Ereignis, die Entstehung der polis, universale Bedeutung.«

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Patočka als auch Fink sehen am Anfang der Philosophie bzw. der geschichtlichen Existenz eine »Erschütterung« oder ein »Ekplexis« 51), erblickt Fink schon in der Arbeit eine Form der menschlichen Geschichtlichkeit und der Selbsttranszendierung. 52 Die Arbeit ist nach Fink – im Gegensatz zu Arendt und Patočka – schon politisch. Auch wenn er gegen Marx einwendet, dass es nicht die Produktion ist, die die Geschichte eröffnet, sondern umgekehrt die menschliche Existenz vor aller Produktion immer schon geschichtlich ist (die geschichtliche Tat ist nicht unbedingt und ausschließlich mit Arbeit zu identifizieren), sieht er die Arbeit beziehungsweise die Produktion als eine »›politische‹ Produktion der Sozialverfassung« (Fink 1956, 26 f.) an. Einerseits ist die Arbeit ein Tribut, den der Mensch an Natur und Gesellschaft entrichten muss, andererseits ist sie »die triumphale Bestätigung der endlichen Freiheit« (Fink 1962b, 7), die Erfahrung eines »schöpferischen Lebensschwungs« (ebd.). Deswegen negiert oder beleidigt ein solcher Tribut nicht das Menschenwesen: »Eine solche Tributstruktur verstößt keineswegs gegen die Würde des Menschen.« (Fink 1968/1969, 8) Auf ähnliche Weise wird nach Fink diese Würde nicht von der Maschine in der industriellen Gesellschaft bedroht. Weit davon entfernt, eine Negation der Menschlichkeit zu sein, wird die Maschine von ihm vielmehr als ein »Lebensmedium« der menschlichen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, als »materialisierte Vernunft« gesehen: »Die Maschinenkultur ist ein rationalisierter Umgang des Menschen mit der Natur; sie ist, als unser Lebensmedium, nicht abgetrennt von der Natur, sondern eine hoch entwickelte Form der Kommunikation von Mensch und Natur.« (Fink 1959/1960, 26) Der romantisch-humanistische Gegensatz von Geist und Maschine ist dialektisch zu überwinden, indem man versteht, dass der Mensch zwar »geistig«, »aber nicht Geist« ist (ebd. 12). Die sogenannte »Vergegenständlichung« des Menschen in der modernen Technik ist nichts anderes als ein dialektisches, notwendiges Moment der Vermenschlichung der Umwelt. Die Erziehung kann nicht auf technische

Während bei Patočka von einer »Erschütterung des bloß akzeptierten Lebens und seiner Sicherheiten« (ebd.) die Rede ist, spricht Fink von einer »Ekplexis«, von Philosophie als »ent-setzender« Erfahrung (Fink 1976, 64 ff.). 52 Vgl. Fink 1962b, 9: »Die Geschichtlichkeit des Menschengeschlechts ist in einem bedeutsamen wenn auch einseitigen Sinne die Historie des ökonomischen Prozesses.« 51

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Kategorien verzichten; nicht nur deswegen, weil unser Verstehen von der Natur – bzw. von unserer eigenen Natur – vom Standpunkt der Technik ausgeht, sondern auch, weil der Mensch sowohl das Herstellende als auch das Hergestellte ist (eine Wahrheit, die erst im technischen Zeitalter offenbar geworden ist; vgl. Fink 1968/1969, 8, 18). Finks pädagogischer Vorschlag ist es dann, »Persönlichkeitsbildung« und »technische Bildung« miteinander zu vereinbaren, angesichts der Tatsache, dass die Letztere »nichts anderes als die Selbstgestaltung der menschlichen Freiheit ist« (Fink 1962/1963, 109). Daher wünscht Fink – wie der Titel eines seiner Werke lautet – eine »Human-Technologie«, die eine Synthese von Menschlichkeit und Technik verwirklichen kann, wobei die Technik nicht als Gegensatz zur Menschlichkeit, sondern als Medium zwischen Natur und Geist, Mensch und Welt gesehen wird (nicht zufällig spricht Fink auch von »technisch-kosmologischen Gedanken« [Fink 1956, 20]). Damit gelangen wir zu einer besseren Einsicht in den Begriff der Menschlichkeit bei Fink. Wir haben schon gesehen, dass die Menschenwürde – wie auch die Freiheit und die Freiheitsrechte – nicht etwas Festgelegtes ist, da sie sich immer zuerst im Handeln erweisen muss. Ausgehend von diesem Hintergrund lässt sich die These, mit der dieser Aufsatz begonnen hat – die Natur des Menschen ist nichts Natürliches – endlich klären. Streng genommen ist die menschliche Natur auch nicht etwas ›Menschliches‹. Es gibt ›Mensch‹ oder ›Menschheit‹ nicht so, wie es Stein oder Baum gibt: Es gibt Menschen nur, sofern es ein Menschwerden gibt (vgl. auch Jaspers 1989, 57), das wie ein Sich-selbst-Werden des Daseins verstanden werden muss, und zwar als ein solches, das jeweils als ein Mitsein und ein Mitwerden möglich ist. Die dialektische Beziehung des Menschen zur Natur ist immer durch das Verhältnis zum Anderen vermittelt, sei dieses Andere der andere Mensch oder ein Ding (vgl. oben, was Fink von den Maschinen sagt). Der Mensch ist also kein reines Wesen, sondern sein Schicksal beruht darin, wie Prometheus an seine Grenzen zu stoßen und darüber hinauszugehen. Wenn wir dann »Mensch« sagen, benennen wir nicht den Menschen als etwas, das einem ›Unmenschlichen‹ (sei dies das natürliche Ding oder das Technische) entgegengesetzt ist, sondern eine Grenze: Die Grenze zwischen Sein und Freiheit, binnenweltlichem Seienden (dem Ding) und Welt. Man könnte dann die dritte, kosmologische Bedeutung der Entmenschung wie folgt zusammenfassen: Das Für-sich-Werden des Menschen in der Arbeit ist eins mit dem Aufgang von Welt, das 122 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Sich-Ereignen des Menschen im Herstellen geht in das Ereignen von Welt über. Im Traktat über die Gewalt des Menschen lässt sich gut erkennen, wie Fink Nietzsches Auffassung des Menschen als Übergang teilt, und in Nietzsches Philosophie ist es offensichtlich, wie er diesen Übergang kosmologisch als Aufstieg zur Welt interpretiert, unter der Bedingung, dass man hier das Übergehen als ein Scheitern versteht, und zwar, dass man die Freiheit nicht als unaufhörliche, horizontale Selbsttranszendierung im Herstellen, sondern als radikale, vertikale Selbsttranszendenz ansieht, und dies in Kontinuität mit Finks radikaler Interpretation der Epoché aus den dreißiger Jahren. Nicht der prometheische Kampf ist das letzte Wort von Finks Philosophie, sondern die Sehnsucht nach der Welt. Das Herstellen ist im Grunde kein Verhältnis zum Ding, sondern ein Verhältnis zur Welt, so wie bei Heidegger das Wesen der Technik »nichts Technisches« ist (vgl. Heidegger 1985, 9–40). Die Endlichkeit des Seins kann nur im Gegensatz zur Welt, nicht zum Ding erfahren werden. Wenn Fink von Sein und Freiheit spricht, versteht er unter ›Freiheit‹ die Welt und das kosmologische Wesen des Menschen, der me-ontisch jenseits jedes binnenweltlichen Ganzen denkt und wirkt. Das Wesen des Menschen ist sein Weltwesen, das Weltverständnis, das sich im menschlichen Denken ereignet, indem der Mensch die Erscheinung, das Bewusstsein, das Für-sich-Werden (um die Terminologie des frühen Fink zu benutzen) der kosmologischen Differenz ist. Im Herstellen von Arbeit und im Spiel entfaltet sich das schöpferische Tun, das Handeln des Menschen, das die Fortsetzung der Schöpfung der Welt ist, indem es »geschehende Ontologie« ist (Fink 1948/49, 57). Wie das Sein aller Seienden bestimmt sich das Sein des Menschen ebenfalls im ontologischen Verstehen, und dieses ist seinerseits vom Handeln, von der Praxis nicht abzutrennen, wie auch das Wissen um die Freiheit nichts anderes als das Geschehen der Freiheit selbst ist. Der Mensch versteht sich, indem er sich selbst schafft – nicht absolut, sondern auf endliche Weise. Das Seinsverstehen des Menschen ist Selbstherstellung als Herstellung des einzelnen Subjekts und der Gesellschaft. In dieser Hinsicht muss auch die Technik als ein Medium der Freiheit gesehen werden, da die Maschine zwischen Natur und Geist vermittelt und sich in ihr der dialektische Bezug von Natur und Freiheit zeigt. Renato Cristin hat Finks Philosophie als eine »ökologische Phänomenologie« bezeichnet (Cristin 2006, 137). Man könnte dem unter 123 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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dem Vorbehalt zustimmen, dass die Natur – beziehungsweise die menschliche Natur – nicht als reiner Ursprung, sondern als Dialektik von Natur und Freiheit, lethe und aletheia, Erde und Himmel gesehen wird. Deswegen schlagen wir vor, Finks Philosophie, von Finks Interpretation von Nietzsche ausgehend, als eine ›Phänomenologie der Sehnsucht‹ anzusehen, wobei der ökologische Aspekt im Bewusstsein der Endlichkeit allen menschlichen Schaffens erblickt werden kann, da alles Handeln im binnenweltlichen Horizont befangen bleibt. Die kosmologische Weite, das Ganze der Welt, wird im schöpferischen Handeln des Menschen immer nur geahnt und bleibt daher transzendent. Der Mensch kann also seiner Natur am besten entsprechen, wenn er diese Transzendenz der Welt sein lässt, er ist menschlich dort, wo er sich ent-menscht, das heißt, wo er sich ent-stellt, sich als Nicht-Absolutes dar-stellt. In der Ent-stellung des Absoluten 53 sehnt er sich nach Weltweite und denkt jenseits der jeweiligen, endlichen Produkte seines Herstellens. Wie Fink im Anschluss an Nietzsche bemerkt, heißt nämlich Sehnsucht nicht, in die Ferne einzudringen, sondern Ferne zu belassen (Fink 2008, XCIII/1a, 291).

Literatur Adorno, Th. W. (1969): Stichworte: Kritische Modelle, Frankfurt am Main. – (1998): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Gesammelte Schriften, Bd. 4), Darmstadt. Bruzina, R. (2004): Edmund Husserl and Eugen Fink: Beginnings and Ends in Phenomenology, 1928–1938, New Haven. Cristin, R. (2006): »Der Mensch als Weltwesen«, in: A. Böhmer (Hg.): Eugen Fink. Sozialphilosophie, Anthropologie, Kosmologie, Pädagogik, Methodik (Orbis Phaenomenologicus Perspektiven N.F., Bd. 12), Würzburg, 128–140. Fink, E.: Dokumente aus dem Fink-Nachlass (mit den Signaturen des FinkArchivs) – (1947/1952): Varia, D 445. – (1948/1949): Die Philosophie Hegels, A 150. – (1956): Der sich herstellende Mensch, A 125. – (1959): Philosophische Probleme des dialektischen Materialismus, B II 1. – (1959/1960): Erziehungsprobleme im technischen Zeitalter, B II 254. – (1960): Elemente der Staatsphilosophie, B II 258. Zum Begriff der »Entstellung« siehe Fink 2008, XCIII/1a, 175. Obwohl Fink diesen Begriff in den dreißiger Jahren verwendet, sind wir der Ansicht, dass er mit Blick auf das Dasein als endliches, zeithaftes Schöpfertum und scheiternder Absprung vom Binnenweltlichen auch bezüglich seiner späteren Philosophie gültig bleibt.

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Das Menschenwesen als endliches Schöpfertum – (1962a): Experiment der Freiheit, A 131. – (1962b): Technik und Freiheit, C 198. – (1962–1963): Pädadogik in der Industriegesellschaft, B II 007. – (1965): Ontologie der Arbeit, A 133. – (1968/1969): Human-Technologie, B II 033. – (1969/1970): Existenz und Natur (»Leuko«-Seminar), B I-102. Fink, E. (1974): Traktat über die Gewalt des Menschen, Frankfurt am Main. – (1976): Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hg. v. F.-A. Schwarz, Freiburg/München. – (1978): Grundfragen der systematischen Pädagogik, hg. v. E. Schütz u. F. A. Schwarz, Freiburg i. Br. – (1979a), Grundphänomene des menschlichen Daseins, hg. v. E. Schutz u. F. A. Schwarz, Freiburg/München. – (1979b), Nietzsches Philosophie, Stuttgart. – (1988): Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre (Husserliana-Dokumente, Bd. II/1), hg. v. H. Ebeling, J. Holl u. G. van Kerkhoven, Dordrecht/ Boston/London. – (1990): Welt und Endlichkeit, hg. v. F.-A. Schwarz, Würzburg. – (2004): Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, hg. v. E. Schütz u. F.-A. Schwarz, Freiburg/München. – (2008): Die Bernauer Zeitmanuskripte, Cartesianische Meditationen und System der phänomenologischen Philosophie (EFGA, Bd. 3.2), hg. v. R. Bruzina, Freiburg/München. – (2016): Sein und Endlichkeit (EFGA, Bd. 5.2), hg. v. R. Lazzari, Freiburg/ München. Gehlen, A. (1950): Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Bonn. Heidegger, M. (1975): Die Grundprobleme der Phänomenologie (Gesamtausgabe, Bd. 24), hg. v. F.-W. von Herrmann, Frankfurt am Main. – (1982): Vom Wesen der menschlichen Freiheit (Gesamtausgabe, Bd. 31), hg. v. H. Tietjen, Frankfurt am Main. – (1983): Einführung in die Metaphysik (Gesamtausgabe, Bd. 40), hg. v. P. Jaeger, Frankfurt am Main. – (1985): »Die Frage nach der Technik«, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen, 9–40. Jaspers, K. (1989): Einführung in die Philosophie, München. van Kerckhoven, G. (1996): »Die Heimat Welt: Zur Deutung der Denkspur Martin Heideggers in Eugen Finks Frühwerk«, in: Perspektiven der Philosophie 22, 105–137. Nietzsche, F. (1988): Menschliches, Allzumenschliches (Kritische Studienausgabe, Bd. 2), hg. v. G. Colli u. M. Montinari, München. Patočka, J. (2010): Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte, neu übers. v. S. Lehmann, Berlin.

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Tantalus und die kosmologische Dialektik Bildhaftigkeit der ontologischen Erfahrung des Menschen als ens cosmologicum Anna Luiza Coli

Um Finks Auffassung des Menschen als eines »Mittlers« zu verstehen, ist eine Umkehrung nicht nur im Verständnis der Ontologie, sondern auch in der metaphysischen Frage nach dem Sein des Seienden erforderlich. Dies erhellt die Bedeutung derjenigen Denkbewegung, die Fink als ein Zurückdenken an Himmel und Erde bezeichnet, wobei der Rückgang auf den Sinn der Erde der Versuch ist, Einsicht in die Verstelltheit unseres Geistes zu gewinnen. Finks Verständnis der »ontologischen Erfahrung« als kosmologischer Dialektik und des Menschen als ens cosmologicum wird in drei Schritten erläutert: 1. Eine Klärung dessen, wie Fink den Sinn des Seienden auffasst, verdeutlicht, dass das, was die von Fink kritisierte metaphysische Tradition ›Ontologie‹ nennt, lediglich ›Dingontologie‹ oder ›Regionalontologie‹ ist. 2. Der zweite Schritt befragt Finks Umdeutung der Ontologie in Kosmologie. Mag sich auch hier das Problem der Beziehung des Menschen zum Sein stellen, so ist doch das menschliche Bewusstsein nicht mehr der privilegierte Ort, wo Sein geschieht, was Fink mit der mythischen Figur des Tantalus plastisch zum Ausdruck bringt. 3. Der dritte Schritt stellt auf der Grundlage einer Medialität des Bildes die Struktur der ontologischen Erfahrung als ›Bild‹ heraus.

Einleitung Das Problem einer ›ontologischen Erfahrung‹ zieht sich durch verschiedene Phasen der Philosophie Eugen Finks, und selbst wenn diese Problematik sich deutlicher erst in der Nachkriegsphase seines Denkens herausstellt, so ist doch die Verwendung der terminologischen Dichotomie ontisch–ontologisch von Anfang an präsent. Ein angemessenes Verständnis des radikalen Unterschiedes, den Fink zwischen der Ontologie und der ihr entsprechenden ›ontologischen Erfahrung‹ und einer Ding- oder Regionalontologie macht, setzt allerdings eine Einsicht in den grundlegenden Begriff der ›Welt‹ voraus und zwar nicht nur im Blick auf Finks eigene Bestimmung dieses 126 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Tantalus und die kosmologische Dialektik

Begriffs, sondern auch hinsichtlich der Frage, wie dieser aus der Kritik und der Anerkennung seiner Unzulänglichkeit im Denken Husserls wie Heideggers gebildet wurde. Immer wieder weist Fink darauf hin, dass das Problem der ›Welt‹ die Umgrenzung eines methodischen Vorurteils innerhalb der Phänomenologie Husserls bedeute, 1 und selbst wenn die Heideggersche Kritik an der Phänomenologie Husserls einen unbestreitbaren Einfluss auf Finks Projekt ihrer Revision hatte, erkennt Fink bereits früh, dass der Weltbegriff, trotz seiner entscheidenden Rolle in der Fundamentalontologie, in seiner Basis noch immer einem subjektivistischen Weltbegriff verhaftet bleibt. 2 Die Beschränkung der phänomenologischen Analyse auf die Grenzen des Bewusstseins führt nach ihm einerseits zu einer ›noematisierten‹ Welt, der es aus sich heraus nicht gelingt, die Frage nach ihrer Konstitution und nach dem Ursprung des Bewusstseins zu stellen und zu beantworten. 3 Andererseits führt die unzureichende Betrachtung der Welt als eine in der menschlichen Sphäre befangene zu einer entsprechenden Begrenzung der Reichweite der Seinsfrage selbst. Wie für Heidegger bleibt die Seinsfrage jedoch auch für Fink die Grundfrage der Metaphysik. Allerdings sei diese im Rahmen der Fundamentalontologie Heideggers 4 zu einer Frage nach der Eigentlichkeit des Daseins des Menschen und daher Basis einer bloßen Regionalontologie geworden. 5 1 Dieses Argument ist bereits im Essay Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegenwärtigen Kritik von 1933 zu finden – vgl. z. B.: »In der von Husserl durchgeführten Arbeit ist die Möglichkeit einer wirklich gelingenden Interpretation der Welt aus dem Geiste, aus der transzendentalen Subjektivität, für immer gesichert.« (Fink 1966, 177) – und taucht erneut in Finks Vorlesungen Einleitung in die Philosophie (1946) und Welt und Endlichkeit (1949) auf: »Eine eigenartige Grenze der phänomenologischen Methode bildet nun das Problem der Welt.« (Fink 1990, 147; vgl. Sepp 2005, 154) 2 Vgl. z. B. Fink 1985, 115, wo er den Begriff der ›Welt‹ sowohl bei Husserl als auch bei Heidegger unmittelbar kritisiert: »Bei beiden Denkern bildet der Titel Welt eine große und zentrale Thematik ihrer Philosophie. Und dennoch bleibt die Welt selbst außerhalb der angesetzten Fragen.« Beide Theorien »kommen prinzipiell nicht über einen subjektivistischen Begriff der Welt hinaus«. 3 Vgl. Fink 2008, 115. – Bekanntlich waren dies die fundamentalen Fragestellungen der Philosophie und des Philosophierens für Fink; vgl. z. B. Fink 2008, 119. 4 Selbstverständlich gilt diese Kritik Finks nur für die Periode um Sein und Zeit und die dort entwickelte Fundamentalontologie. Ich beziehe mich dabei jedoch lediglich auf die ersten beiden Bände der Phänomenologischen Werkstatt Finks aus den Jahren 1927–1935. Vgl. Fink 2006 und 2008. 5 Vgl. Fink 2008, 60: »Heideggers Zentralfrage nach dem Sinn von Sein, die als Zen-

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Anna Luiza Coli

Die Seinsfrage müsse sich jedoch auf eine noch radikalere Konzeption von Welt beziehen, auf alles, was ›ist‹, d. h. auf alles Seiende und auf »den inneren Zusammenhang von menschlicher Vernunft und das Wahrsein des Seienden« (Fink 1994, 122). Diese Forderung ist alles andere als selbstverständlich, insbesondere wenn, so Fink, das ›Subjekt‹ im Zentrum allen Fragens steht, wie es in der ganzen Philosophie der Neuzeit der Fall ist. Denn hier werde die menschliche Subjektivität als eigentlicher (und umgrenzter) Bereich des Seienden zum thematischen Zentrum der Erkenntnis erklärt. Wie ließe sich diese subjektivistische Verkehrtheit des Verständnisses überwinden? Um den Menschen als »Ort der Wahrheit« (ebd. 118) angemessen, d. h. ohne eine bewusstseinsmäßige Ausgrenzung der radikalen Alterität der Welt, zu verstehen, ist allerdings eine Umkehrung nicht nur im Verständnis der Ontologie, sondern auch im Sinne der metaphysischen Frage nach dem Sein des Seienden erforderlich. Hier wird die unbestreitbare Bedeutung jener Denkbewegung offenkundig, die Fink als ein Zurückdenken an Himmel und Erde bezeichnet hat. Der Rückgang zum Sinn der Erde stellt den Versuch dar, eine Einsicht in die Verkehrtheit unseres Geistes zu gewinnen. Für die Auslegung der ›ontologischen Erfahrung‹ als kosmologischer Dialektik und des Menschen als eines ens cosmologicum sind dabei die folgenden drei argumentativen Schritte zu vollziehen: 1. Zunächst gilt es, den Sinn von ›Seiendem‹ nach Fink zu klären. Auf diese Weise wird deutlich, dass das, was die von Fink kritisierte metaphysische Tradition ›Ontologie‹ nennt, bei ihm lediglich als ›Dingontologie‹ oder ›Regionalontologie‹ in Erscheinung tritt. 2. In einem zweiten Schritt muss dargelegt werden, weshalb Fink die Ontologie als Kosmologie versteht. Hier wird das Problem der Beziehung des Menschen zum Sein dringlich. Dass das menschliche Bewusstsein nicht mehr den privilegierten Ort darstellt, an dem Sein geschieht, charakterisiert Fink anhand der tralproblem die ›analogia entis‹: die einheitliche Bestimmung des Seins und der Seinsstrukturen inbegreift, wird zur Analytik der menschlichen Existenz, sofern die Ontologien von nichtmenschlich Seiendem in sich selbst zurückweisen auf die Begegnungsart des jeweiligen Seinsgebietes im menschlichen Dasein.« Vgl. auch Fink 2006, 44, 101 oder 224: »[E]s ist kein Zufall, sondern ein tiefes Problem, daß die philosophischen Aufklärungsversuche der Welt zeitlich verfahren. Z. B. Heideggers Analyse der Weltlichkeit usw. weist immer auf apriorische Strukturen hin. Apriori heißt hier vorgängig. Heideggers Analyse der Konstitution der Vorhandenheit als defiziente Modi der Zuhandenheit ist eine idealgenetische. Ebenso Husserls transzendentalkonstitutive«, usw.

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mythischen Figur des Tantalus. 3. Abschließend gilt es, die Struktur der ontologischen Erfahrung als ›Bild‹ – und zwar vor dem Hintergrund der Medialität des Bildes – darzustellen.

1.

Die Verkehrtheit der traditionellen Konzeption der Ontologie

Die ursprüngliche Aufgabe des philosophischen Denken besteht nach Fink darin, eine echte Antwort auf die Grundfrage zu finden, warum es überhaupt Seiendes gibt und nicht Nichts. Seit Platon habe die Philosophie es unternommen, Erscheinendes durch Wesenhaftes, Zeitliches durch Ewiges, Relatives durch Absolutes, Bedingtes durch Unbedingtes usw. zu erklären. Die Kritik am Bedürfnis der Metaphysik, ein zugrunde liegendes ens necessarium ausmachen zu wollen, ist dabei für Fink nichts völlig Neues – bereits Nietzsche habe einen wichtigen Beitrag dazu geleistet. Unter seinem Einfluss fragt er sich, inwiefern die metaphysische Antwort tatsächlich ein »Trugbild unseres Geistes, eine bloße Phantasmagorie der Vernunft« (Fink 1959, 239) ist, die uns einen ewigen und notwendigen Grund für die endlichen und vergänglichen Einzeldinge der Welt erst irgendwo ›hinter‹ der Welt vorgaukelt. Gerade die Suche nach ›hinterweltlerischen‹ Entitäten hindert uns daran, eine eigentliche Erörterung der Welt und des Seienden der Welt durchzuführen. Seit dem Beginn der neuzeitlichen Philosophie ist die philosophische Betrachtung der Welt allerdings mit einer zweiten Schwierigkeit konfrontiert. Fink entlarvt die Bestrebung der Philosophie, das letzte, unbedingte und notwendige Fundament der Wahrheit auf den Menschen und auf die menschliche Vernunft zu gründen, als ein philosophisches Erbe jener Theorien der hinterweltlerischen Entitäten. So versuche die aufgeklärte Philosophie zwar, theologischen Voraussetzungen zu entrinnen, setze jedoch die Bedingungen der Möglichkeit des Welterkennens in das unhinterfragte Prinzip der menschlichen Vernunft bzw. des menschlichen Bewusstseins. Für Fink ist die dogmatische Auffassung, den Anfang der Welt als einer Weltfür-ein-Bewusstsein auf den Menschen und das menschliche Bewusstsein zuzuschneiden, genauso problematisch und trügerisch wie die Theorien einer Hinterwelt. Der Platz des Menschen als ›Ort der Wahrheit‹ verwandelt »die Seinsfrage im Zuge ihres eigenen Schwergewichts und in ihrer Ausprägung als Frage nach dem Wahrsein alles 129 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Seienden zu einer Frage nach dem Menschen« (Fink 1994, 118). Es gehe letztlich um den Versuch, »Seiendes durch Seiendes« zu erklären – »und zwar so, dass die erscheinenden Dinge in einem allheitlichen Inbegriff zusammengefasst und als ›abkünftig‹, als ›bedingt‹, als ›verursacht‹ durch Seiendes höheren Ranges interpretiert werden« (Fink 1959, 237). Von hier rührt der ›trügerische‹ Charakter einer Herangehensweise her, welche die Welt nur durch eine subjektivistische Perspektive betrachtet und diese Perspektive selbst außerhalb des Fragehorizontes belässt. Damit wird klar, dass eine angemessene Fragestellung nach der Welt mit dem Problem der Frage nach dem Sinn des Seienden und eben der Ontologie zusammenhängt. Was versteht Fink aber unter dem ›Seienden‹? In der Vorlesung über Philosophie des Geistes bezieht er sich auf das ›subjectum‹ (das Zugrundeliegende) als das, was durch allen Wechsel und alle Veränderung hindurch bleibend und immer gegenwärtig ist. »Dieses Zugrundeliegende ist die ousia, das Seiende selbst. Subjekt bedeutet also ursprünglich das Seiende, das was ›substat‹, zugrundeliegt, die Substanz. Subjekt als Substanz gefasst ist nicht nur die menschliche Substanz, sondern jedes Seiende ist an ihm selbst, als Bleibendes, Ständiges und dem Wechsel der an ihm auftretenden Veränderungen Zugrundeliegendes, Subjekt.« (Fink 1994, 118) Seiendes ist also alles, was überhaupt in der Welt ist, einschließlich der Menschen als innerweltlicher Seiender in ihren Bezügen und Verhältnissen zu den anderen. Zugleich ist Fink klar, dass das Verhältnis von Mensch und Welt »nicht am Modell des Verhältnisses zwischen zwei Dingen, zwei Seienden angemessen gedacht werden« (Fink 2010, 22) kann. Das liegt einerseits am Menschen selbst und seiner Natur, andererseits am Wesen der Welt, was für Fink entscheidend ist. Die Welt ist kein Gegenstand, weder der Gesamtgegenstand aller einzelnen Seienden noch der des vereinigten menschheitlichen Bewusstseins. Die Welt als Universum ist keine Substanz, sondern alle Substanzen sind in ihr. Sie ist »der Zeit-Raum und hat selber weder ›Ewigkeit‹, noch vergänglichen Bestand […]. Alle Gestalten sind im Raum, der Raum selbst ist gestaltlos; alle Dauern und Weilen sind in der Zeit, die Zeit selbst im ganzen hat keine Dauer und keine Weile« (Fink 1959, 242). Auf die Frage ›Warum ist Seiendes und nicht Nichts?‹ antwortet Fink: »Seiendes ist, weil Welt waltet.« (Ebd. 237) Die zeit-räumliche Welt fungiert als die Wirklichkeit, in der die endlichen Dinge entstehen, zunehmen, schwinden und vergehen. Aber was ist mit dem 130 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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›Möglichsein‹ alles Seienden? Ist dieses ein ›Wenig-‹, ›ein bloßes ›Unwirklichsein‹? In der Tat spricht Fink von einem Horizont von Raum und Zeit, in dem sich Jetzt-Wirkliches zusammen mit JetztMöglichem befinde (ebd. 234). In der Allheit der gegenwärtigen zeit-räumlichen Welt gibt es eine Sphäre, die dieser Welt genauso wesentlich zugehört, die aber nicht in der Gegenwart ist oder als anwesend gilt, nämlich die Allheit der Abfolge der Dinge in der Zeit sowie die Allheit aller möglichen Dinge, die nie wirklich oder anwesend sein werden: »Die Zeit ist weder primär eine Bestimmung der objektiven Dinge, noch der subjektiven Erlebnisse, in denen wir die Gegenstände erfahren, – sie ist der vorgängig aufbrechende Wirklichkeitshorizont der Gegenwart, in welcher ein subjektives Erlebnis und ein objektiver Gegenstand kom-präsent sein können. […] Raum und Zeit durchgreifen den Unterschied der subjektiven und objektiven Sphären, ja sie ermöglichen in der Durchgreifung allererst den Bezug der Seele zu den Körperdingen.« (Ebd. 246)

Dieser Bezug ist es, der das Verhältnis des Menschen zur Welt so einzigartig sein lässt. Nur der Mensch hat mit anderen Worten die Möglichkeit, den zeit-räumlichen Horizont der Welt in seiner gleichzeitigen Unendlichkeit zu erfahren. Zwar stellt die Unendlichkeit des Raumhorizontes die Möglichkeit für jedes gegenwärtige und anwesende Seiende dar, aber nur der Mensch hat eine tiefere Beziehung zum Zeithorizont. Fink spricht in diesem Zusammenhang von der Welt der Phantasie, vom Zusammentreffen der Intensität des Bewusstseinsstroms mit der Extensionalität des In-der-Welt-seins wie der Unendlichkeit ahnenden Erfahrung der Endlichkeit innerhalb des Daseins des Menschen. Aus der Perspektive der Phänomenologie hatte Fink diese Dimension bereits in seinen frühen Schriften aufgegriffen. Jetzt jedoch taucht die besondere Weltstellung des Menschen, welche die Husserlsche Phänomenologie zum Ausgangspunkt nimmt, ohne sie richtig in Frage zu stellen, 6 in einem kosmologischen Zusammenhang auf.

Ich beziehe mich hier auf ein Gespräch zwischen Fink und Husserl im Dezember 1927, das von Fink notiert wurde und in dem er Husserl die Frage nach dem Anfang des Bewusstseins und der Welt stellt. Im Anschluss erklärt er sich enttäuscht und unzufrieden mit der Antwort Husserls. Vgl. Fink 2006, 22 f.

6

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2.

Kosmologie als Ontologie und der tantalide Mensch

In Sein und Mensch 7 behauptet Fink, die ›Verkehrtheit‹ des menschlichen Geistes, welche den Sinn der Ontologie trübe, da sie den Menschen in den Mittelpunkt der Frage nach dem Sein stelle, könnte nur durch das Zurückdenken an Erde und Himmel überwunden werden. Die Rede ist hier demnach nicht nur von ›Welt‹, sondern auch von ›Erde‹ und ›Himmel‹. 8 Die Welt als Zwietracht von Erde und Himmel stellt sich als das kosmologische Paradox dar, in dessen Streitraum alle vereinzelten Dinge sein können. Wie ›Welt‹ sind Erde und Himmel keine Seienden, sondern zwei fundamentale Weisen, wie das Sein waltet. »Die Welt ›selbstet‹, indem sie zwiefältig-zwieträchtig auseinandergeht; sie hält sich zusammen, indem sie auseinandertritt in die Urgegensätze des Seins.« (Fink 1977, 320) Welt oder Sein: Es geht um diese Einheit von oberstem Rang, in der sich ihre Bestandteile – Erde und Himmel, das Ontische und das Meontische – in einer notwendigen und spannungsvollen Durchdringung befinden. In diesem sich durchdringenden Spiel werden die gegensätzlichen Bestandteile als Urstreit, als das ›Gebende‹ hervorgebracht. Als Gebende sind sie nicht selbst ›gegeben‹, sondern das, was dem Ausdruck ›es gibt‹ einen Sinn verleiht. »Es gibt nicht Sein, wie es Steine und Bäume gibt; das Sein gibt es, indem es gibt; es ist in der Weise des Seinlassens aller seienden Dinge.« (Ebd. 282) Erde und Himmel werden als zwei Grundmächte des Seins bezeichnet, d. h. als zwei Weisen, wie das Sein sich lichtend oder verschließend waltet. Die Erde durchmachtet die Allheit der Welt und ist doch nie die Gesamtheit aller vereinzelten Dinge. Alle Dinge bestehen aus Erde, aber Erde nie aus Dingen; Fink denkt sie eher als eine Art Abgrund, wo die in ihr gründenden Dinge in einem gemeinsamen Urgrund zusammengebracht sind. Als Seinsmacht ist die Erde jedoch eine Macht der Verschlossenheit, sie weist die Durchdringung von Es handelt sich hierbei um den Text aus der Vorlesung vom Wintersemester 1950/ 1951. 8 Im Zusammenhang seiner kosmologischen Philosophie werden die gegensätzlichen Pole der dialektischen Bewegung, die im Rahmen seines früheren phänomenologischen Projekts ›Ich‹ und ›Welt‹ hießen, auf die Gegenbegriffe ›Himmel‹ und ›Erde‹ bezogen. Diese gegensätzliche Struktur wiederholt sich als Individuationsprinzip der ursprünglichen Einheit des Absoluten, wobei Fink Himmel und Erde als ontisch und meontisch, Alles und Nichts als zwei vorläufige Momente des Seins bezeichnet: entweder ontisch oder meontisch, lichtend oder geschlossen, etc. 7

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sich ab. »Das Wesen der Erde ist die Bergung. Weil sie als Bergung im ganzen waltet und weltet, stehen alle Dinge und Elemente in der Geborgenheit der Erde.« (Ebd. 284) Der Seinsverbergung entspricht allerdings eine Seinslichtung, und der Erde entspricht demnach der kosmologische Gegenbegriff des Himmels. Während das Sein in der Erde als Geschlossenheit waltet, waltet es im Himmel als Offenheit. »Dieser Himmel, als Lichtmacht des Seins, ist nicht das Sonnenlicht und nicht die menschliche Vernunft, sondern etwas, was vielleicht beides erst möglich macht.« (Ebd. 289) Als Lichtung fungiert das Prinzip des Himmels nicht als das, was die Einzeldinge selbst vereinzelt und begrenzt, vielmehr macht sein Licht die abgründige Dunkelheit der Erde und der Dinge, die in ihr gründen, allererst sichtbar, offenkundig. Trotzdem ist das Licht der menschlichen Vernunft »nur ein versagendes Gleichnis für das, was als Himmel gedacht werden muss« (ebd. 287). Dieses Licht als Lichtmacht des Seins ermöglicht das Verhältnis des Seins zu sich selbst – aber eben nur durch die menschliche Vernunft. So erscheint der Mensch als »lichtverwandtes Wesen, das zwar Licht zünden kann, aber niemals so, dass es die Nacht völlig zu vertilgen vermag. Das von ihm entfachte Licht ist nur eine Insel im Dunkel der Nacht, weshalb sein Ort deutlich zwischen Tag und Nacht gekennzeichnet ist« (Fink u. Heidegger 1970, 208 f.). Alle Seienden als zugrunde liegende und gegenwärtige stehen zwischen Himmel und Erde, zwischen den Seinsmächten der Verschlossenheit und der Offenheit. »Die Seinstrukturen sind in Bewegung, sind ›flüssig‹, […] und in dieser Flüssigkeit durchströmen sie die geprägten seienden Dinge.« So sind die Einzeldinge »grundsätzlich Zwischen-Dinge«, »zwischen Himmel und Erde« (Fink 1977, 299; 303). Auch, aber anders als ›alle Seienden‹, befindet sich der Mensch irgendwo zwischen Tag und Nacht. Gemeint ist hiermit nicht nur das eigene kleine Licht der Vernunft, sondern auch sein Ort zwischen der ›dunklen Nacht des Seins‹ und der ›Seinslichtung‹. Anders als alle anderen Einzeldinge ist der Mensch das erkennende Tier. Dem entspringt ein wichtiger konstitutiver Unterschied zwischen dem, was durch die Seinslichtung in die Helle gehoben ist, und dem, was dank dieser Lichtung erscheint und gesehen werden kann. Im Seminar über Heraklit zitiert Fink Aristoteles’ Wort, die Seele sei in gewisser Weise alles Seiende, und fügt hinzu: »Das ist die Art, wie der Mensch dem sophon, dem logos, der gegliederten Fügung des kosmos nahe kommt. Weil er in die Lichtung selbst gehört, hat er eine be133 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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grenzt lichtende Fähigkeit. Als derjenige, der das Feuer zünden kann, ist er dem Sonnenhaften, dem Sophonhaften nahe.« (Fink u. Heidegger 1970, 234) Der Mensch steht zwischen der Verborgenheit und der Unverborgenheit des Seins, ist nicht nur endlich, sondern sich seiner Endlichkeit auch bewusst, ist nicht nur auf der Seite der Erde, sondern auch auf der Seite des Himmels. Er kann für sich ein kleineres Licht entzünden, nicht jedoch der dunklen Nacht entrinnen. Der Mensch nimmt als ›Mittler‹ am gegensätzlichen Spiel von Verbergung und Lichtung teil. Er hat damit auch Anteil am waltenden Gegenspiel des Seins, »worin erst seiende Dinge zum Vorschein kommen können« und »das Ur-Gegenwärtige für den Menschen« (Fink 1977, 291). Himmel und Erde bleiben jedoch, ebenso wie das Sein als einheitlicher Urstreit zwischen Himmel und Erde, für den Menschen unfasslich, da sie von sich aus keine ›Fassung‹ mitbringen. Gefasst werden kann nur das endliche Seiende in seiner Gestalt und seinem allgemeinen Aussehen. Obwohl die Einzeldinge fassbar sind und sich unseren Sinnen darbieten, bedeutet dies nicht, dass sie uns als reine Offenheit gegeben wären. Dinge sind immer Zwischendinge. Als solche sind sie ebenso Abbilder der Erde wie des Himmels, d. h., sie spiegeln in ihrer eigenen Art und Weise in sich selbst den Streit zwischen Erde und Himmel, Verschlossenheit und Offenheit wider. Der substanzielle ›Kern‹ des Dings offenbart sich nicht in seiner sinnlichen Erscheinung, sondern bleibt als »das Insichbleiben eines endlichen, abgegrenzten und abgestückten Dingganzen« (ebd. 313) verschlossen. Das Einzelsein der Dinge ruft eine der Erde ähnliche Verschlossenheit hervor, aber ihr Sichzeigen nähert sich zugleich der himmlischen Offenheit an. Es ist dieses Grundverhältnis von Himmel und Erde, das sich innerhalb aller Zwischendinge widerspiegelt, was die Problematik der kosmologischen Dialektik im Ganzen als ontologische Erfahrung auszeichnet. In ihr sind die Dinge nicht mehr ›ontisch‹, d. h. bewusstseinsmäßig, von einem Bewusstseinssubjekt intendierte Objekte, sondern ›ontologisch‹, also im einheitlichen, in sich den Urstreit zwischen Himmel und Erde widerspiegelnden Zwischenraum des menschlichen Bewusstseins und seiner äußerlichen Umwelt zu erfahren. Fink nennt diese Widerspiegelung auch ›Abbildlichkeit‹, da die Dinge Abbilder des Himmels wie der Erde sind. Er sagt dazu: »Die Abbildlichkeit dieser Abbilder ist keine ontische, kein Gleichen derart, wie im Licht der Schatten dem schattenden Ding, der gespiegelte 134 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Baum im Teich dem wirklichen Baum gleicht, – es ist vielmehr eine ontologische Abbildlichkeit.« (Ebd. 313) In ihrem ontologischen Charakter bezieht sich die Abbildlichkeit auf das Sein und nicht nur auf das Seiende, die Einzeldinge in ihrer Fassbarkeit. Die ontologische Erfahrung des Menschen, durch die das Seiende als abbildlicher Teilnehmer des kosmologischen Urstreits ins Licht des Seins hervorbricht, offenbart sich als Erfahrung einer Dialektik, die kosmologisch ist, weil sie sich auf das Weltganze sowie auf das in jeder Dingerfahrung abgebildete Weltganze bezieht. Aus dieser Perspektive zeigt sich die Ontologie, die für Fink die Bedeutung eines kosmologischen Bereiches des Seins annimmt, wesentlich als Dialektik. Allerdings als eine Dialektik, die nicht »eine bloß menschliche Methode, ein Kunstgriff ist, um das Unendliche in den endlichen Begriffen einzufangen. Die Dialektik des kosmologischen Denkens gründet sich in der dialektischen Zwietracht der Welt selbst« (ebd. 322). Wenn der Mensch die Dialektik des ursprünglichsten Gegensatzes zwischen Verschlossenheit und Offenheit in den Dingen selbst erfährt, gewinnt er eine ontologische Erfahrung, die der kosmologischen Dialektik entspricht. Es geht darum, die Einzeldinge, das Seiende gerade als Zugrundeliegende, als ›das Bleibende‹, und dagegen die ἰδέα, das Sein als ›das Bewegte‹ zu erkennen. »Die Dialektik«, so Fink, »gründet im Sein und spiegelt sich im Denken ab« (Heidegger 2011, 755 f.). 9 Das Problem der Unfassbarkeit des Seins ist in Bezug auf die Weltganzheit (den Urstreit zwischen Himmel und Erde) wie in Bezug auf die ontologisch erfahrenen Dinge das gleiche. Um die Unfassbarkeit der Begegnung des Menschen mit dem Sein zu erhellen, verwendet Fink die mythische Figur des Tantalus: »Die Dinge stillen nicht unseren brennenden Hunger und Durst nach ›Sein‹, nicht die Früchte der Erde, nicht das Wasser des Himmels, wenn wir sie nicht essen und trinken wie Brot und Wein im Sakrament, – wenn wir sie nicht als die Gaben des Gebenden erfahren; wenn wir sie mit unserer Gier und unserem Zudrang bedrängen, weichen sie zurück, sie sättigen nicht, und wenn wir den Erdball dem planenden Verfügen des Menschen unterwerfen. Der technische Herr der Erde ist der zeitgemäße Tantalide.« (Fink 1977, 316)

Das Zitat stammt aus dem Colloquium über Dialektik (Muggenbrunn, 15. September 1952), an dem u. a. Heidegger, Eugen Fink, Max Müller und Walter Biemel teilgenommen haben.

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Dem Menschen, der allein die Welt in ihrer kosmologischen, dialektischen Struktur erfahren kann und daher als ens cosmologicum erscheint, ist eine vollkommene Aneignung des Seins nicht möglich. Er vergeht im Seienden, verfällt an die Dinge, ahnt den Urstreit der in sich bewegenden Seinseinheit in der Welt – kann aber das Sein nicht ergreifen, es in seiner Vollkommenheit nicht begreifen. Dies ist für Fink jedoch kein Zeichen dafür, dass er sich in der Skepsis einer unvollendeten und unvollendbaren Erkenntnis verlieren soll. Als ens cosmologicum ist der Mensch vielmehr der Mittler zwischen Erde und Himmel. Er ist das einzige Weltwesen, das fähig ist, einen Fingerzeig auf das Sein als kosmologisches Prinzip zu geben, da er in der Endlichkeit lebt und sich doch der Unendlichkeit bewusst ist. Demzufolge bezeichnet Fink die Erkenntnis des Seins als eine tantalide Aporie: Vergeblich versucht der Mensch, das Sein durch Seiendes zu denken und es in ein begriffliches Netz einzubinden. Das Sein verweigert sich jedoch der begrifflichen Gefangenschaft. In diesem Sinn erklärt Fink: »Das Kosmologische denke ich nicht von Heraklit, sondern eher von Kant her, und zwar von der Antinomie der reinen Vernunft. Die reine Vernunft versucht, das Ganze zu denken. Das Ganze ist ein Begriff, der zunächst an den Dingen orientiert ist. In dieser Weise aber können wir nie das versammelnde Ganze denkend erfahren. Kant stellt die Aporien eines Denk-versuchs dar, der glaubt, das Ganze am Modell eines Raum-dinges denken zu können. Weil er mit diesem Ansatz nicht durchkommt, hat er das Ganze subjektiviert als subjektives Prinzip im Fortgang der Erfahrung, die durch die regulative Idee der Totalität aller Erscheinungen ergänzt wird.« (Fink u. Heidegger 1970, 178)

3.

Ens cosmologicum und Bildlichkeit

Was bedeutet es letztendlich für den Menschen, ein ens cosmologicum zu sein? Es bedeutet, das Sein als das welthafte Gegenspiel von Erde und Himmel in allen Weltwesen zu erfahren, die Dialektik als Ordnung des Makrokosmos in ihrer mikrokosmischen Vorführung zu erleben und am Ganzen im Begrenzten, am Unbedingten im Bedingten teilzuhaben. Dennoch bleibt in diesem Zusammenhang noch unklar, wie diese ›ontologische‹ Erfahrung – die Erfahrung der dialektischen Struktur des Seins in einer kosmologischen Proportion – genauer verstanden werden soll. 136 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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»Philosophierendes Denken kann es nur auf dem Grunde einer ontologischen Erfahrung geben«, schreibt Fink 1949 (Fink 1976, 128). Durch die Philosophie macht der Mensch einen »ungeheuerlichen Versuch, das Triviale zu sagen, zu nennen, ausdrücklich zu denken die ontologischen Grundvorstellungen, die uns beherrschen« (ebd. 130). Hier kommt ein neuer Aspekt ins Spiel: Das Triviale ist nichts anderes als eine Art Vorahnung des ewigen Gegenspiels des Ur-Gegensatzes, das als Prinzip des ewigen Werdens alles in Bewegung bringt. Die ontologische Erfahrung besteht letztlich in diesem Trivialen, denn auch wenn wir das Sein nicht fassen können, »leben wir in den Seinsgedanken, wir stehen in ihrer Macht, und nicht umgekehrt« (ebd. 131). Es geht darum, das Bewusstsein dieser Trivialität wiederzugewinnen, so, dass das Triviale zu einer Selbstverständlichkeit innerhalb des Lebens selbst wird. Der Sinn dieser Wiedergewinnung besteht in der Möglichkeit, hinter dem Gegebenen, »hinter dem Zudrang der Dinge das Bedingende der Dinge, die Seinsmächte ›Himmel‹ und ›Erde‹ zu spüren und zu ahnen« (Fink 1977, 274). Damit kann der Mensch der Weltvergessenheit des Lebens gedenken. In Sein und Mensch spricht Fink daher auch über die Lichtungsmacht des Seins als ›Andenken‹, als »die Weise eines gedenkenden Denkens, welches nicht vorstellt, nicht zu einem Gegenüber macht, worauf es geht, sondern gerade hinausdenkt über alles Gegebene, Anwesende, Gegenständliche in das gebende Walten der Welt, worin das Feld des Anwesens und Gegenstehens erst bereit wird« (ebd. 280 f.). Die Philosophie muss zuallererst den Sinn der Erde zurückfinden und ist dementsprechend für den Welterfahrenden das Infragestellen der Selbstverständlichkeit des vorausgesetzten Zugangs zur Welt. Mit den Ausdrücken von Finks Vergegenwärtigung und Bild gesprochen, bedeutet diese radikalere Infragestellung die ›Aufhebung‹ der sogenannten Generalthesis der natürlichen Einstellung. Die phänomenologische Reduktion übernimmt die Aufgabe, die »ständige und ständig latente ›Voraussetzung‹ des Seins der Welt […] aufzuheben« (Fink 1966, 12). 10 Für den Erfahrenden ist die Welt immer schon ›voFink betrachtet die initialen phänomenologischen Vorgegebenheiten, seien sie das ›Ich‹ oder die ›Welt‹, als eine notwendige, vorläufige ›Falschheit‹. Damit zusammen hängt die Konzeption der Methode der Reduktion als vorläufiger, stufenartiger, nie zu einer vollkommenen Erschließung der transzendentalen Subjektivität gelangender, die er später in die Nähe des Begriffs eines Absoluten bringt. »Mit anderen Worten, die ›Falschheit‹ der einsetzenden Exposition hebt sich selbst in der Durchführung auf, alle ersten Bestimmungen der Reduktion müssen grundsätzlich überholt werden.

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raus-gesetzt‹, auch wenn er von ihr nur eine ganz naive Vorstellung hat. In gleicher Weise ist das Sein für das erfahrende Seiende immer schon im Voraus gesetzt. »Das ›Sein‹ ist keine Vorfindlichkeit. Das ›Sein‹ muss zuvor in der Einheit und Mannigfaltigkeit seiner Weisen denkend entworfen sein, damit überhaupt so etwas wie das Vorfinden von Vorfindlichem möglich ist. Vorfindliches ist Seiendes. Die Vorfindlichkeit des Vorfindlichen muss ›a priori‹ entworfen werden. Das Sein des Seienden, das ganze Gerüst von Voraussetzungen für alles und jedes menschliche Verhalten zu den Dingen, muss ›im voraus gesetzt‹ werden.« (Fink 1994, 198)

Sein ist nicht vorfindlich und empirisch gefunden, macht allerdings seine ursprüngliche Helligkeit für die menschliche Vernunft aus und weist den Weg, auf dem sich der ontologische Entwurf vollziehen kann. Damit meint Fink keine angeborenen Begriffe oder Ideen, sondern jenes Vorverständnis von Sein und Seinsstruktur, das die menschliche Erfahrung von Seiendem, Wirklichem und Möglichem ermöglicht. Dieser ontologische Entwurf, den die Seinsstruktur für das Verständnis ans Licht bringt, ist »nichts anders als die Dialektik« (ebd. 186), die der Mensch in einer kosmologischen Dimension erfahren kann. In diesem Entwurf »wird denkerisch in den Begriff gestellt und festgemacht das Sinngefüge des Seins überhaupt, der Bauplan der Welt« (ebd. 195). Der Mensch befindet sich zwischen Erde und Himmel, Verborgenheit und Offenheit. Aber als endliches Seiendes inmitten der endlichen Dinge und gleichzeitig als Denker des Seins und »Mitwisser des ur-einen Grundes, dem alles von Nichtigkeit durchsetzte Seiende ›entspringt‹« (Fink 1976, 137), hat der Mensch seine Auszeichnung in der Mittlerschaft. Der Mensch als Mittler erfährt die einzelnen Zwischen-Dinge in der Spannung ihres ontologischen Was-seins. So erfährt er die Medialität aller Dinge. Um diese ontologische Erfahrung genauer zu verstehen, soll nun abschließend die Medialität des Erfahrungsobjekts expliziert werden. In seinem Frühwerk entwickelt Fink eine Theorie des Bildes im Kontext der Diskussion über die Phänomenologie der Unwirklichkeit. Das Bildphänomen zeigt nicht nur ein Unwirkliches, sondern durch Und das bedeutet wiederum: die wahre Theorie der Reduktion kann gar nicht von vornherein an ihren Anfang gestellt werden, die ersten vorläufigen […] dürfen nicht als die definitive Theorie der reduktiven Methodik verstanden werden« (Fink 2006, 111).

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die phänomenologisch ausgewiesene ›Gehaltsmodifikation‹ ein Imaginäres im Realzeitraum, einen »wirklichen Schein« (Fink 1966, 76). Als Zwischenstelle zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit stellt das Bild eine ganz besondere Form der Medialität dar: Das Raumbild bringt etwas zum Scheinen, das selbst keinen Schein hat, weil es nicht zur Wirklichkeit gehört. Das Unfassbare erhält durch das Bild die Chance, sich – wenn auch nicht in ganz fassbarer Art und Weise – zumindest als Erscheinung im Wirklichen darzustellen. Wie versteht Fink diese besondere Macht des Bildes? Als Hersteller von objektivem Schein ist das Bild dem Spiel ähnlich, da in jedem Bildphänomen Wirklichkeit und Unwirklichkeit zusammenfallen, das heißt, ein durch das Spiel von gegensätzlichen Prinzipien bestimmter Zwischenraum hergestellt wird. Das ewige Spiel zwischen Erde und Himmel, das das Wesen des ›Werdens‹ ist, bestimmt Welt und Sein. »Spielen ist schöpferischer Entwurf einer Spielwelt« (Fink 2011, 34), und daher gilt Fink das Spiel als »Weltsymbol«, da hier jeder mögliche Zwischenraum nur eine symbolische Existenz haben kann. Den Begriff des ›Symbols‹ entlehnt Fink den alten Griechen: »Das symbolon kommt von symballein, von ›zusammenfallen‹, und bedeutet einen Zusammenfall von Bruchstückhaftem mit seiner Ergänzung.« (Fink 2010, 118) Es ist dies eine Er-gänzung durch das Ganze. »Das Licht der Welt fällt auf ein Innerweltliches und hebt es in den großen Glanz des Universums. Das endliche Ding, das Seinsbruchstück, wird gleichsam ›transparent‹.« (Ebd. 119 f.) Das Bild und das Spiel verfahren dagegen »symbolisierend, weil sie in sich selbst von medialer Beschaffenheit sind« (Sepp 2012, 98). Da es Wirklichkeit und Unwirklichkeit als Bestandteile an sich hat, öffnet das Bild einen Zugang zu einer Zwischenwelt, in der das Unfassbare, Unsagbare, Ungreifbare zum Scheinen kommen kann (Fink 1966, 18). Das schöpferische Spiel, das auch in der Struktur des Bildes anwesend ist, »reflektiert somit nicht nur die ekstatische Aufgeschlossenheit des menschlichen Daseins zur Welt, sondern – spekulativ formuliert – die Welt selbst reflektiert sich im Spiel und erweist so das menschliche Spiel als Geschehen im Welt-Spiel selbst« (Sepp 2012, 100). Deswegen nennt Fink das Bild ein »Fenster ins Absolute«. Das Bild ist somit kein Symbol für etwas anderes, sondern Symbol an und in sich selbst. Als Symbol, als Ganzheit zweier spielender Gegensätze – Wirkliches-Unwirkliches, Verborgenheit-Offenheit, Erde-Himmel, usw. – erhellt das Bild die innere Struktur der ontologischen Erfahrung, die sich auch als Dialektik verstehen lässt. 139 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Anna Luiza Coli

Wenn die Dialektik der Struktur des Ganzen entspricht und die ontologische Erfahrung das Ganze in seinem dialektischen spielerischen Sein erfährt, so wäre das Bild, dank seiner Medialität par excellence, die mediale Form der Erfahrung des Menschen als eines ›Mittlers‹.

Schlussbemerkung Für Fink ist die ontologische Erfahrung dialektisch, das heißt eine kosmologische Dialektik, weil in ihr der Mensch die Struktur des Makrokosmos, des Ganzen, in einem mikrokosmischen Ausschnitt (Einzel-Zwischen-Ding) erfahren kann. Die Erfahrung der Einzeldinge spiegelt die ursprüngliche Zugehörigkeit zum Urstreit von Erde und Himmel wider. Das bedeutet aber nicht, dass dadurch das Sein für den Menschen erkennbar würde, sondern dass durch die Erfahrung des kosmologischen Prinzips der Urstreit von Gegensätzen in dem begrenzten Ausschnitt einer weltlichen Situation erscheint. Eben dies ermöglicht den menschlichen Fingerzeit in die Richtung des Seins. Das Bild bringt das zum Scheinen, was kein Scheinbares ist, es etabliert diese Zwischen-Welt zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit, die durch den Bildträger das Unwirkliche in das Wirkliche einbringt. Das Unwirkliche bleibt somit bestehen, bekommt aber eine Erscheinung in der Wirklichkeit, es drückt sich aus. Genau so können wir die Geste Finks verstehen, auf den Rahmen des Ganzen zu zeigen und gegenüber seiner absoluten Unfassbarkeit kontemplativ zu verweilen. Mit anderen Worten: Ich habe hier zu zeigen versucht, dass und inwiefern die Struktur des Bildes der Struktur der ontologischen Erfahrung entspricht – und wie entfernt diese wiederum von einer wissenschaftlichen Konzeption des Seins ist. Es geht also nicht um Regionalontologie, sondern um die ontologische Erfahrung des Ganzen, die das dialektische Spiel von Gegensätzen innerhalb des Seienden zur Einsicht bringt. Durch diese begrenzte Erfahrung eines Ausschnittes – d. h. durch das Licht, das die menschliche Vernunft zünden kann – erkennt der tantalide Mensch das, was unmittelbar unter dem Licht steht, aber doch nicht alles. Das Dunkel der Nacht des Seins bleibt immer noch dunkel und unfassbar. Aus der Erfahrung der Zündung des eigenen Lichts jedoch kann der Mensch auf das himmlische Licht zeigen – und dadurch versuchen, das Unfassbare darzustellen, das Unsagbare zu sagen. 140 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Tantalus und die kosmologische Dialektik

Literatur Fink, E. (1959): Alles und Nichts. Ein Umweg zur Philosophie, Den Haag. – (1966): Studien zur Phänomenologie 1930–1939 (Phaenomenologica, Bd. 21), Den Haag. – (1976): Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hg. v. F.-A. Schwarz, Freiburg/München. – (1977): Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, hg. v. E. Schütz u. F.-A. Schwarz, Freiburg/München. – (1985): Einleitung in die Philosophie, hg. v. F.-A. Schwarz, Würzburg. – (1994): Philosophie des Geistes, hg. v. F.-A. Schwarz, Würzburg. – (2006): Phänomenologische Werkstatt. Teilband 1: Die Doktorarbeit und erste Assistenzjahre bei Husserl (EFGA, Bd. 3/1), hg. v. R. Bruzina, Freiburg/München. – (2008): Phänomenologische Werkstatt. Teilband 2: Die Bernauer Zeitmanuskripte, Cartesianische Meditationen und System der phänomenologischen Philosophie (EFGA, Bd. 3/2), hg. v. R. Bruzina, Freiburg/München – (2010): Spiel als Weltsymbol (EFGA, Bd. 7), hg. v. C. Nielsen u. H. R. Sepp, Freiburg/München. – (2011) »Nietzsches Metaphysik des Spiels« in: C. Nielsen u. H. R. Sepp (Hg.): Welt denken. Annäherung an die Kosmologie Eugen Finks, Freiburg/München. Fink, E. u. M. Heidegger (1970): »Heraklit. Seminar Wintersemester 1966/67«, in: M. Heidegger: Seminare (Heidegger Gesamtausgabe, Bd. 15), hg. v. C. Ochwadt, Frankfurt am Main. Heidegger, M. (2011): Seminare Hegel-Schelling (Heidegger Gesamtausgabe, Bd. 86), hg. v. P. Trawny, Frankfurt am Main. Sepp, H. R. (1998): »Medialität und Meontik. Eugen Finks spekulativer Entwurf« in: Internationale Zeitschrift für Philosophie I, 85–93. – (2005): »Totalhorizont – Zeitspielraum. Übergänge in Husserls und Finks Bestimmung von Welt«, in: A. Böhmer (Hg.): Eugen Fink. Kosmologie – Anthropologie – Methodik – Pädagogik – Sozialphilosophie, (Orbis Phaenomenologicus Perspektiven N.F., Bd. 12), Würzburg, 154–172. – (2012): Bild. Phänomenologie der Epoché I (Orbis Phaenomenologicus Studien, Bd. 30), Würzburg. * Dieser Artikel entstand an der Fakultät für Humanwissenschaften der Karls-Universität in Prag.

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Exzentrisch wohnen Anmerkungen zu Finks Bestimmung des Menschen als eines Verhältnisses 1 Hans Rainer Sepp

Mit dem Begriff des »Wohnens« charakterisiert Fink das Selbstverhalten menschlicher Existenz. Da der Mensch zugleich als »Verhältnis« welthaft existiert, entsteht die Frage, wie sich sein Selbstverhalten vor dem Hintergrund des Weltverhaltens realisiert. Eine Antwort gibt Fink mit dem Hinweis auf die Exzentrizität menschlicher Existenz, die exzentrisch ist, sofern sie in einem besonderen Grenzverhältnis gründet: Der Mensch ist so bei sich, dass er außer sich ist, er ist im Unverfügbaren der Welt verankert und gezwungen, in seinem Verhältnissein die dem Weltverhältnis inhärente Spannung von Natur und Freiheit auszutragen. Im Anschluss daran ist zu fragen, ob menschliche Existenz nicht nur zur Welt, sondern auch zu ihrem Selbst in einer nicht zu überwindenden Distanz steht, deren Überwindung gleichwohl versucht wird, wobei aber Näherung auch hier nur dann möglich ist, wenn die prinzipielle Unüberwindlichkeit, ohne ihr auszuweichen, akzeptiert wird; ob des weiteren die Beschreibung einer Grenzerfahrung genügt, die nur in der Dimension des Sinns verläuft, ob also nicht auch eine absolute Grenze des Sinnbezugs selbst anzunehmen ist; und schließlich, inwiefern eine äußerste Form der Freiheit darin besteht, die Tendenz preisgeben zu können, sich auf ein Absolutes im Endlichen zu verlegen.

I.

Wohnen als Weltverhältnis

1. In seinen Vorlesungen »Philosophie der Erziehung« vom Wintersemester 1951/1952 2 und »Grundprobleme der menschlichen Gemeinschaft« vom darauf folgenden Wintersemester 1952/1953 3 umDie vorliegende Publikation ist an der Humanwissenschaftlichen Fakultät (FHS) der Karls-Universität in Prag im Rahmen des Forschungsvorhabens Life and Environment: Phenomenological Relations between Subjectivity and Natural World (Grantová agentura ČR, č. 401/15–10832S) entstanden. 2 Veröffentlicht 1992 unter dem Titel Natur, Freiheit, Welt (Fink 1992). 3 In der überarbeiteten Fassung vom Wintersemester 1969/1969 veröffentlicht 1987 1

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Exzentrisch wohnen

reißt Fink eine Philosophie des Wohnens, die Grundmomente seines Denkens zusammenführt: eine Philosophie der Erziehung im Kontext einer Theorie des »Ideals«, sodann die Charakterisierung des Menschen als eines in der Spannung von Natur und Freiheit stehenden »Mittlers«, dessen Funktion als »Verhältnis« näher gefasst und als Weltverhalten und Selbstverhalten dargelegt wird, und schließlich die Einzelexistenz als zugleich coexistentielles, auf Gemeinschaftlichkeit angelegtes Dasein. Der Sachverhalt des Wohnens kann als eine grundlegende anthropologische 4 Bestimmung gelesen werden: als die Art und Weise, wie der Mensch existiert und sich weltlich einrichtet. Die Rede von »Wohnen« oder »Wohnsitz« (Fink 1992, 64) des Menschen bezieht Fink also unmittelbar darauf, wie sich menschliches Leben als ein weltliches realisiert, oder anders gesagt, weltlich verfasst zu sein, ist gleichbedeutend mit dem Faktum, ein sich orthaft-zeitlich generierendes Lebensverständnis auszubilden. Ein solches Verstehen ist schon ein unausdrückliches Wissen um sich im Kontext von all dem, was jede einzelne Existenz übersteigt und doch auf sie wirkt, es ist, in Finks Begrifflichkeit formuliert, ein »Verhältnis« 5 – zu sich selbst und zur Welt. Verhältnis zu sein als Selbst- und Weltverhalten, lässt sich somit vorläufig so bestimmen, dass der Mensch, der als »ein ›Verhältnis‹« existiert (ebd. 168), gar nicht anders kann, als sich zur Welt zu verhalten, und dass Weltverhalten zugleich ein Selbstverhalten einschließt und umgekehrt (Fink 1987, 202), sofern sich menschliche Existenz im Verhalten zu dem, was sie übersteigt, unthematisch zu sich selbst verhält, und sich solches Sichzu-sich-selbst-Verhalten vor dem Hintergrund eines Weltverhaltens ausbildet. 2. Ein solches Verhältnissein als Selbst- und Weltverhalten könnte als Ethos in einem ursprünglichen Sinne gefasst werden: als éthos (ἔθος bzw. ἦθος) eben im Sinne von Wohnen, in seiner jeweiligen orthaft-zeitlichen Ausprägung. 6 Fink zieht es jedoch vor, dafür den unter dem Titel Existenz und Coexistenz (Fink 1987); jetzt im Rahmen der Eugen Fink Gesamtausgabe neu hg. v. A. Hilt (Fink 2018). 4 Anthropologie verweist in Finks Werk nicht auf eine Sonderregion, ein bestimmtes philosophisches Genre, sondern »führt immer ins Ganze der Philosophie« (Fink 1987, 211). 5 Der Mensch »existiert als ein Verhältnis« (Fink 1987, 71; Fink 1979, 408). 6 Ein solches Verständnis des Ethos, aber ohne Verweis auf das Wohnen, entwickelt z. B. Scheler.

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Begriff der phýsis (φύσις) zu verwenden, womit er auf die antike kosmologische Bestimmung des Eingefügtseins des Menschen in Welt Bezug nimmt. Er schließt sich damit an Platon an und distanziert sich zugleich von ihm. Die Antike bis hin zu Platon habe mit dem Begriff der Physis jenes kosmische Eingefügtsein bezeichnet, doch Platon markiere zugleich den Beginn der europäischen Auffassung, dass der Mensch in die Dichotomie von Natur und Geschichte aufgespalten sei, wobei der Schwerpunkt auf das geistige Prinzip gelegt wurde (Fink 1992, 63 f.). Warum aber Fink – gerade mit Blick auf das Wohnen des Menschen als grundlegende Bestimmung seiner Existenz – den Begriff der Physis favorisiert, hat mit der eigentümlichen Konstellation zu tun, die zwischen Weltverhältnis und Selbstverhältnis besteht. Weltverhalten und Selbstverhalten sind nicht lediglich zwei Möglichkeiten des Menschen, den Grundzug seiner Existenz als Verhältnis zu verwirklichen. Letztlich greift auch die Feststellung, dass Weltverhalten und Selbstverhalten wechselseitig aufeinander bezogen sind und einander durchdringen, noch zu kurz. Um den Bezug zwischen beiden besser zu verstehen, sei zunächst Finks Begriffe des ›Verhaltens‹ und des ›Verhältnisses‹ genauer in den Blick genommen. In Existenz und Coexistenz heißt es, dass der Weltbezug das »Verhältnis aller Verhältnisse« sei (Fink 1987, 193), weil er allein es ist, der »nicht in Analogie zu einem Bezug zu Dingen gedacht werden« kann (ebd. 192). Das Verhältnis besagt hier folglich nicht eine Relation, bei der eine Substanz in Bezug zu einer anderen steht (vgl. ebd. 210); 7 Verhältnis zu sein, ist zudem nicht ein anderer Ausdruck für Korrelativität, denn die intentionale Struktur von ego – cogito – cogitatum setzt für Fink schon ein Verhalten zur Welt, in dem sich diese auf eine bestimmte Weise eröffnet hat, voraus (vgl. ebd. 72). Die Einzig(artig)keit der Charakterisierung des Menschen als eines Verhältnisses rührt vielmehr daher, dass das Verhältnissein weder ausgehend vom Subjektiven noch im Sinne einer objektiv-neutralen Relation zweier Verhältnisglieder noch so gefasst werden kann, als stünde Welt dem Menschen gegenüber. Eher ließe sich sagen, dass der Mensch schon in Welt steht, ehe er in einen Bezug zur dinglichen Vielheit tritt; dass er aber so in der Welt steht, dass diese sich ihm in dem Maße, wie sie sich ihm eröffnet, auch absolut entzieht. Dieses

7

»Gerade das Verhältnis« selbst sei das »substantielle Wesen« des Menschen (210).

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sich eröffnende/entziehende Doppelgeschehen bezeichnet Fink als das »Walten von Welt«, das »raumgebend« und »zeitlassend« sei (ebd. 211). Das sich eröffnende und entziehende Walten von Welt macht Fink mit einer Begrifflichkeit thematisch, die er (antik-europäischen) Kulturtraditionen entnimmt – mit den Begriffen von »Licht«, »Tag« oder »Himmel« einerseits, »Dunkel«, »Nacht« oder »Erde« andererseits (vgl. z. B. 1992, 72), die er damit in ihrer kosmologischen Relevanz heraushebt. Dabei ist es bezeichnend, dass auch hier das Dunkle und das Lichte nicht einfach einander gegenübergesetzt werden in dem Sinn, dass das Lichte das Eröffnete, das Dunkle das Verschlossene bezeichnet. Das Lichte kann ebenso das Dunkle in sich bergen, wie das Dunkle auf gewisse Weise erschlossen, ›gelichtet‹, sein kann. Entscheidend ist also, dass das Lichte sich nie ganz und gar durchhellt präsentiert, wie auch das Dunkle nie völlig verschlossen ist. Dass stets ein mehr oder weniger großer ›Rest‹ des Entzogenen bestehen bleibt, führt Fink nicht auf ein im Moment vorhandenes Unvermögen des Menschen zurück, das durch eine Optimierung seines Wissens aufgehoben werden könnte, sondern erblickt darin einen Effekt des Waltens der Welt selbst. Demzufolge sei das (unthematische wie thematische) Wissen stets bruchstückhaft – im wörtlichen Sinn des sýmbolon als eines Fragments: Erfahrungen des Tatsächlichen verlieren sich in unauslotbare Tiefen. Begriffe wie das ›Lichte‹ und das ›Dunkle‹ sind demnach selber Symbole dieser Art: Manifestationen von Erfahrungen, die das, was sie erfahren, im Ausdruck ebenso ›auf den Begriff‹ bringen wie ungesagt sein lassen. Das zu Sagende, das Sagbare, ist somit das sichtbare Indiz von solchem, das sich mit diesem Indiz präsentiert und gleichzeitig nicht in ihm aufgeht, das Symbolon ist faktisches Dokument dafür, dass das, was es präsentiert, nicht alles ist. Das ›alles‹, nämlich das ›Ganze‹ der sich im Erscheinen entziehenden Welt, ist Fink zufolge von dieser ›meontischen‹ Struktur. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass eine so verstandene Meontik aus einem subjektgebundenen Perspektivismus austritt – und damit auch aus der herkömmlich verstandenen Korrelation, die ohne implizierte Negativität Subjektivität und Welt zu verbinden sucht. Es geht vielmehr darum, bei der Bestimmung von Welt diese aus der Bindung ans Subjekt zu entlassen, ohne die Möglichkeit zu verlieren, dass wir es sind, die sie erfahren und zum Thema des Denkens machen. Der Begriff des Meontischen, mit dem der frühe Fink die Stel145 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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lung des phänomenologischen Zuschauers beschreibt, 8 der aufgrund von Epoché und Reduktion nicht mehr in der Seinstendenz des transzendental-konstituierenden Lebens steht, taucht expressis verbis im späteren Werk nicht mehr auf. Gleichwohl begegnet er in der Sache, und zwar dort, wo sich der Bezug zur Welt in seiner Abgründigkeit zeigt und als Negativität gefasst wird. 9 So fordert Fink gegenüber Hegels Logik und Dialektik des Widerspruchs eine »vertieftere Einsicht in die Natur des Negativen« (Fink 1977, 236). Es genüge nicht, Unterschiede scharf heraustreten zu lassen, um sie letztlich in einer Einheit wieder zusammenzuführen, sondern es gehe darum, das Gegensätzliche »›unversöhnter‹ zu denken«, es »nicht auf den Unterschied hin zu interpretieren, welcher zwischen dem einen Sein und den vielen seienden Dingen waltet«. Fink distanziert sich hier auch explizit von Heideggers ontologischer Differenz, wenn er den Unterschied in der »unversöhnbaren Zwietracht von Himmel und Erde« erblickt und als »das unterschiedliche Walten der Welt selbst« bezeichnet (ebd. 237). 10 Wenn Fink feststellt, dass beim Menschen »die Paradoxie« vorliegt, dass »ein Seiendes sein ›Wesen‹ nicht in sich selber hat, […] sondern selbsthaft, d. h. bei-sich ist, indem es außer-sich ist« (Fink 1987, 209), meint dies nicht, dass menschliche Existenz ›zunächst und zumeist‹ bei den Dingen ihres praktischen Umgangs ist, denn dabei wäre sie ja gerade nicht bei sich. Das Verhalten zur Welt ist nicht in einem Selbstwerden aufzuheben, da sich Existenz nur im Weltverhalten verwirklicht und verwirklichen kann. 11 Wie menschliches Leben sich im Schnittpunkt von Helle und Vgl. Fink 1988. – Dazu Giubilato 2017. Vgl. auch Aussagen wie diese: Im Weltverhalten »verhalten wir uns in einer seltsamen und verwunderlichen Weise zu einem ›Grund‹, der nirgends ist« (Fink 1987, 199). 10 Das paradox angelegte meontisch-negative Verstehen würde folglich bedeuten, »den Gedanken eines für den Gedanken undurchdringlichen Seins [zu] denken« (ebd. 238). Es wäre näher zu untersuchen, wie Finks Konzept der Meontik bzw. seiner negativen Dialektik mit seinem Bestreben zusammenhängt, das Modell schlichter Entgegensetzungen durch das Ansetzen einer nicht aufzuhebenden Spannung im Selben zu ersetzen. Hier böte es sich auch an, Finks Umformulierung der Hegelschen Negativität in Bezug zu den Bemühungen zweier anderer Hegelianer zu setzen, von Adorno und Nishida. 11 Was die Distanz zum späteren Heidegger betrifft, merkt Fink z. B. an: »Sein ist einzig und allein nur im Zeitraum der Welt […].« (Fink 1987, 211) Der Unterschied zu Heidegger zeigt sich besonders plastisch dort, wo Fink Grenze so fasst, dass sie die menschliche Existenz durchschneidet (bei-sich im außer-sich), wohingegen Heidegger in »Bauen Wohnen Denken« die Grenze als solche bestimmt, in deren Mitte des 8 9

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Dunkelheit, von Weltöffnung und Weltverschluss, vollzieht, besagt die Weise, wie der Mensch als Verhältnis existiert. Seine ›teilerhellte‹, symbolhafte Struktur manifestiert sich für Fink in »Grundphänomenen« (vgl. Fink 1979), die sich in augenscheinlichen Gegensatzpaaren wie etwa »Liebe« und »Tod« aktualisieren (Fink 1987, 216 ff.), wobei sich die ›Gegensätze‹ jeweils durchdringen und somit letztlich auch hier keine Felder des wirklich Gegensätzlichen bilden, sondern Bereiche inhärenter Spannungen. Diese Spannungen bewegen sich zwischen jenen Zonen des Lichten und des Dunklen oder, wie Fink auch sagt, zwischen dem Heimischen oder Heimatlichen und dem Unheimlichen oder Fremden 12 – also nicht nur steht die lichte Liebe mit dem dunklen Tod in Spannung, sondern auch mit dem Abgründigen in ihr bzw. der Tod mit dem möglichen ›Versöhnlichen‹ in ihm, ja Fink erblickt im Tod des »sterblichen Wesens« sogar die »Bedingung der Liebe« (ebd. 222). Das Heimatliche und das Unheimliche – als Heimat und Fremde selbst ein in sich gespanntes Grundphänomen – bezeichnet damit die stimmungsmäßige Erfahrung, wie sich menschliche Existenz mehr oder weniger als Fragment erfährt. Dass der Mensch ein Verhältnis sei, ließe sich also konkreter so fassen, dass er in der Erfahrung der ›Grundphänomene‹ auf die eine oder andere Weise seine fragmentarische Existenz realisiert. Der Vollzug fragmentarischer Existenz ist aber sowohl Weltverhalten als auch Selbstverhalten. Er ist Selbstverhalten, weil der Mensch sich in jenen Grundphänomenen selbst versteht; und er ist Weltverhalten, weil er in die Grundphänomene gestellt ist und sich als in sie gestellt erfährt; damit impliziert Weltverhalten zugleich wieder ein Selbstverhältnis derart, dass sich im Vollzug fragmentarischen Erlebens ein implizites Verstehen des nicht wirklich, positiv zu Verstehenden aktualisiert und in der fragmentarischen Erfahrung zudem das eigene Fragmenthafte aufschimmert, ein Wissen darum, dass eben das, was jetzt und hier ›ist‹, nicht alles ist. Das zeigt deutlicher, dass das Weltverhalten auf etwas verweist, das auf den Menschen nicht relativ ist, dass aber Selbstverhalten die Faktizität menschlicher Existenz selbst ist, und zwar so, dass sich der Mensch im Selbstverhalten seiner Weltstellung inne wird. Selbstver»Eingeräumten« der Mensch seinen Ort hat: »Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern […] von woher etwas sein Wesen beginnt.« (Heidegger 1954, 149) 12 »Das Heimatliche hat das Fremde nicht außer sich, […] wenn plötzlich das Unheimliche mitten im Heimischen aufbricht.« (Fink 1987, 220; vgl. Fink 1992, 64 f.)

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halten hat mit Verstehen zu tun, aber mit einem Verstehen, dessen Verstandenes und zu Verstehendes nicht im Selbstverhalten zu verorten ist. Selbstverhalten wird von Weltverhalten ›getragen‹, da das Verhalten zur Welt insofern ›früher‹ ist, als in diesem Verhalten und durch es das zeit-räumliche Wirken der Welt zugänglich wird. Weltverhalten ist aber zugleich Selbstverhalten in dem Moment, wo sich dieses Zugänglichwerden als Verstehen im weitesten Sinn, das auch ein »Ahnen« miteinschließt, 13 aktualisiert. So gibt es für den Menschen zwar kein Verhalten zur Welt, das außerhalb seines Selbstverhaltens bestünde, und doch kann das, was im Selbstverhalten zugänglich wird, Welt nicht ausloten. Man könnte es auch so ausdrücken: Die Differenz von Weltverhalten und Selbstverhalten wird dort aufdringlich, wo Selbstverhalten an die Grenze seiner selbst gelangt; und dass das Verstehen, das Selbstverhalten – eine Helle, in der das unzugängliche Dunkle noch als das Unzugängliche zugänglich wird –, eine Grenze aufweist, ist dem Umstand geschuldet, dass Selbstverhalten in Welt verfugt ist. Im Erleben seiner Grenze macht das Selbstverhalten die Erfahrung, dass es etwas gibt, was das Selbstverhalten übersteigt, menschliche Existenz erfährt im Grenzbereich des Selbstverhaltens die Erfahrung des Dunklen als Ausdruck eines radikalen, nicht durch die Helle eines verstehenden Selbstverhaltens schon adaptierten oder überhaupt zu adaptierenden Verhaltens zur Welt. An dieser Grenze meldet sich verstärkt Welt, und Selbstverhalten zeigt sich ostentativer als ein Verhalten zu Welt. Es ist gerade diese außertheoretische und zumeist unthematische Erfahrung des Grenzbereichs des Selbstverhaltens, die Fink in ›meontischer‹ Hinsicht als eine Erfahrung von Negativität kosmologisch zu reformulieren versucht. Dieses nur im Negativ, d. h. in der Positivität des Erscheinens und der erscheinenden Dinge sich andeutend-entziehende Walten der Welt selbst 14 – sich andeutend im Fragmenthaften der ›Grundphänomene‹ – lässt sich formal nach zwei Richtungen fassen: zum einen in Richtung auf das Dunkle, selbst nie »Wohnen ist ein Verstehen, ein dunkles, uns unbegreifliches Ahnen des ›Grundes‹.« (Fink 1987, 197) In Natur, Freiheit, Welt spricht Fink auch von »Einverständnis« als einer »fundamentalen Weise des Verstehens« (Fink 1992, 70; 93). 14 Die Bewegung des Sich-Manifestierens von Welt im Binnenweltlichen bezeichnet Fink als einen Widerschein von Welt (»Das als Ganzes nie sichtbare Ganze erscheint in einem Binnenfeld seiner selbst. Es ist reluzent in sich« [Fink 2010, 126]). Das Binnenweltliche im Fragment eines jeweiligen Selbstverhaltens ist dieser Widerschein in seiner symbolhaften, bruchstückhaften Verfasstheit. 13

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zu Erhellende, und zum anderen in Richtung auf die Helle, die jeweilige Wegstrecken des Menschen beleuchtet. Diese lichtende Erhellung beschreibt Fink, anknüpfend an Kant und an Nietzsche, auf der Seite der menschlichen Existenz, also des Binnenweltlichen, als das Setzen von Entwurfsdimensionen, von »Idealen« (hierzu Fink 1978, Kap. 2). In beiden Richtungen begegnen sich Selbstverhalten und Weltverhalten; während aber im ersten Fall Selbstverhalten mit dem Grenzbereich dessen konfrontiert wird, was Selbstverhalten nicht mehr anzueignen vermag und in diesem Sinn eine meontische, negative Erfahrung des sich absolut Entziehenden und damit seiner eigenen Grenze macht, tendiert im zweiten Fall das Selbstverhalten dazu, sein Entwurfsgeschehen zu verabsolutieren, d. h. zu übersehen, dass auch sein Setzen von ultimativen Wegmarken (›Idealen‹) zugleich und grundlegender eine Bewegung der Welt selbst ist, in die sich die Bewegung des Selbstverhaltens mit der Bildung jener Marken einschreibt. Dem Selbstverhalten ist hier zwar auch eine Grenze gezogen, und es besteht zumindest die Möglichkeit einer meontischen Erfahrung des im Setzen von Idealen sich andeutend-entziehenden Waltens von Welt, es ist dies jedoch eine Grenze, die im Bezogensein auf das Ideal zumeist überspielt wird. Konstatiert man, dass menschliche Existenz Welt im Wie des Selbstverhaltens erschließt, dass also jegliches Selbstverhalten unausdrücklich auf Welt bezogen ist, so dass Selbstverhalten zugleich Weltverhalten ist, das insbesondere in den Randzonen des Selbstverhaltens vordringlich wird, tritt in der Tat der Bezug zur Welt, zum Kosmischen in den Vordergrund, ein Bezug, den Fink mit dem Begriff der Physis bezeichnet. Das kosmische Geschehen (Walten der Welt), als Physis gefasst, ist dann die basale, jeglichen Bezug bestimmende Bewegung der Welt, eine Bewegung, die sich dem Selbstverhalten noch in ihrem Entzug meontisch erschließt. In der Konsequenz ist es dann in der Tat die Physis (und nicht das Ethos), die für ein jeweiliges Selbstverhalten das zeit-räumliche Aus-Maß, d. h. das Wohnen in seiner konkreten binnenweltlichen Gestalt, vorprägt, aber doch so, dass jegliche Vorprägung schon dem Verstehen seitens des Selbstverhaltens eröffnet ist. 3. Das ›Wohnen‹, den zeit-räumlichen Aufenthalt des Menschen in der Situativität seiner kulturellen Genese, belegt Fink mit Hegels Begriff der »Sitte«, die damit zum Ausdruck für das in das Weltverhalten verwobene Selbstverhalten wird (Fink 1987, 200): Sitte betrifft 149 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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den »Wohnsitz« des Menschen als eines Wesens, das auf Welt bezogen ist, bezeuge mithin das Weltverhalten des Menschen (Fink 1992, 59) und bringe, in ihrer jeweiligen Ausprägung, das »Heimischsein in der Welt« (ebd. 64) zum Ausdruck, Wohnen ist »verstehendes Wohnen im Weltall« (Fink 1987, 225), ›Sitte‹ somit »Selbstauslegung« einer »menschlichen Gemeinschaft (Fink 1992, 34). Als Ausdruck des Selbstverhaltens sei ihr ein autoreflexives Potenzial zueigen, ein »unausdrückliches Umsichselbstwissen« der Existenz (ebd. 34). Im Wohnen des Menschen bekunden sich für Fink Freiheit und Natur, wobei ›Freiheit‹ als »Dimension des Selbstverhältnisses« (ebd. 15; 121) auf das Selbstverhalten Bezug nimmt und sich zuhöchst im Setzen von Idealen ausformt, sich also in Richtung auf das Helle bewegt, und ›Natur‹ als Natur in uns und außer uns 15 in das Dunkle reicht, das letztlich nicht aufgehellt zu werden vermag. Fink wird nicht müde, gegen den Hauptstrom europäischer Überlieferung zu betonen, dass menschliche Existenz nicht gespalten sei in eine tierhafte Naturseite und eine freie, geistige, dem Göttlichen verwandte Seite. Für ihn stehen Natur und Freiheit in einer unauflöslichen Spannung, markieren den »Ur-Riß« der Wirklichkeit (Fink 1987, 226), so dass ein jedes von beidem, Natur und Freiheit in ihrer gegenseitigen Inkommensurabilität, »in einer bestimmten Weise das Ganze ist« (ebd. 141) – und zwar in der Bewegung des (letztlich sich entziehenden) ›Ganzen‹ der Physis der Welt, die sich nicht anders als in der Spannung von Natur und Freiheit aktualisiert. 16 Der Mensch werde zum »Mittler«, der diese Grundspannung der Welt mit seiner Existenz austrägt (Fink 1992, 59). Die naturhaft-geschichtliche »Doppelstellung« des Menschen (ebd. 57) reformuliert Fink folglich so, dass ›Natur‹ zu einem »wesenhaften Element der sittlichen Welt« werde und nicht deren »bloßen Unterbau« darstelle (ebd. 59), auf den sich das Geschichtliche als genuiner Ort der Freiheit aufstufe. Vgl. hierzu Fink 1992, Kap. II, 66. Daher sei menschliches Dasein nicht in Sittlichkeit und Natur aufzuspalten, »es ist im ganzen sittlich, d. h. weltbezogen«, aber »verstrickt in den Kampf gleichsam zweier Sittlichkeiten« (Fink 1992, 82). – Wenn man den existenziell und denkerisch nur meontisch verfügbaren ›Ganzheits‹-Sinn von Welt festhält, ließe sich sagen, dass Fink Differenz und Identität dergestalt zusammen denkt, dass das unaufhebbar Differente menschlicher Faktizität Ausdruck einer einheitlichen, aber nicht als Einheit festzustellenden Bewegung ist. Nimmt man die Dynamik zeit-räumlicher Verwirklichung hinzu, käme dies dem Konzept der »diskontinuierlichen Kontinuität« im Sinne Nishidas nahe. 15 16

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Exzentrisch wohnen

Im Befund, dass menschliche Existenz bezüglich Natur und Freiheit in Welt verankert ist bzw. dass lichtende Freiheit mit einer in das Dunkle versinkenden Natur in Spannung tritt, erblickt Fink ihr exzentrisches Merkmal. Das »exzentrische Wesen des menschlichen Daseins« sei daher »vom Weltganzen her zu verstehen« (Fink 1987, 201), wobei sich die Exzentrizität schon dort bezeugt, wo Dasein sich selbst versteht, 17 indem Freiheit im verstehenden Selbstverhalten an ihre Grenze stößt, sofern »selbsthaftes Seiendes […] nie rein aus ihm selbst« zu verstehen ist, sondern »von dem her, wofür es offen ist« (Fink 1992, 159). Wohnen, der irdische Aufenthalt des Menschen, ist für Fink folglich nur in einem exzentrischen Sinne zentrisch, da die Zentrierung, die Verankerung des Menschen in einem Heimatlichen, stets nur relativ ist. Dass eine ›sittliche‹ Gestalt oder ein Ethos zu Abgrenzung und Verabsolutierung tendiert, ließe sich noch als Beleg für die exzentrische Verfassung menschlicher Exiszenz deuten, sofern die darin erfolgende Stärkung des Zentrischen eine implizite Reaktion auf die exzentrische Faktizität darstellt, Zentrizität also Ausdruck des Faktums des Exzentrischen ist. Vor dem Hintergrund von Finks kosmologischem Ansatz würde sich diese Tendenz zur Zentrizität nach drei eng aufeinander bezogenen Hinsichten beschreiben lassen: zum einen als eine Überrationalisierung, als ein Überziehen des Kontos der Freiheit, was in seiner selbstblinden fungierenden Mächtigkeit auf paradoxe Weise Ausdruck des Dunklen ist; sodann in einer Verabsolutierung der eigenen Idealsetzung und schließlich in einem Übersehen der binnenweltlichen Verortung, in der das Wohnen in seiner jeweiligen ›sittlichen‹ Prägung zeit-räumlich je an einen Ort und eine Zeit gebunden wird – im Ganzen also in dem dreifachen Überspringen einer Grenze: der Grenze der Kapazität der Aufhellung, der Idealsetzung und der zeit-räumlichen Situativität. 4. Neben der Spannung von Freiheit und Natur im Kontext der Welt findet sich bei Fink noch ein weiteres Spannungsverhältnis, dasjenige, das zwischen einzelner und gemeinschaftlicher Existenz besteht – zwischen »Existenz und Coexistenz« in Finks Terminologie. Beide Verhältnisse bestehen freilich nicht nebeneinander, sondern sind innig miteinander verwoben. Dies wird insbesondere dort deutlich, wo »Gerade in der ›Selbstheit‹ des menschlichen Daseins liegt die Exzentrizität des Menschenwesens.« (Fink 1992, 159)

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Fink den für eine Einzelexistenz unverfügbaren Hintergrund ihrer selbst, etwa im Geborenwerden, betont. 18 Verweist die generative Verspannung mehr auf das Naturhafte, so das Eingebundensein in eine ›Sitte‹ auf ein von einer Gemeinschaft ausgeprägtes und vorprägendes Selbstverhalten als Ausdruck ihrer (relativen) Freiheit. Im »Miteinandersein« als »InderWeltsein« sind folglich nicht nur die Einzelexistenz und ein soziales Gesamt ineinander verschränkt, sondern, sofern Fink das Miteinandersein als eine »Teilung von Welt« versteht, auch die Weltbezüge von Natur und Freiheit in der Verspannung von Selbst- und Weltverhalten (Fink 1987, 192). Da Fink aber jegliches Wohnen, jegliche Sitte, so denkt, dass sie von der Physis des Waltens der Welt bestimmt wird – jeder Brauch ist »ein Verstehen der welthaltigen Symboltiefe« der Dinge (ebd. 196) –, ist der Vorgang der Sozialisation nicht im Sozialen selbst zu verorten: Alle »faktischen Gemeinschaften von Menschen« gründen »in der Ur-Gesellung von Mensch und Welt« (ebd. 193). Nur sofern Dinge Welt »vermitteln«, ist »Gemeinschaft […] das im Brauch miteinander geteilte InderWeltsein«, ist Sitte ein »gemeinsames Wohnen« (ebd. 202). Trotz aller nach Generativität und Weltverständnis erfolgenden Einbindung in ein faktisches Gesamt kann ein Ich einem Wir entgegentreten, Existenz sich als einzelne, als Individuum entdecken. Fink fasst dies noch radikaler, indem er eine Gleichursprünglichkeit von Ich und Wir betont, wobei das Ich »nie früher als das Wir« ist (Fink 1992, 106): »In jedem Ich steckt schon das Wir und umgekehrt.« (Ebd. 111) 19 Auch dies drückt letztlich einen paradoxen Befund aus: Dass ein Ich das Wir schon ab ovo in sich trägt, schließe nicht aus, dass es doch ganz und gar Ich, eben gleichursprünglich mit dem Wir, ist: Obgleich das »Miteinandersein völlig vom Menschen unablösbar« ist, ist der Mensch »das am meisten selbstische Lebewesen, das vereinzelt ist« (Fink 1987, 211). Demzufolge ist das Wohnen schon in seinem generativen Grund zwiespältig: Die Geburt vereinzelt den Menschen, gleichwohl wird er in einem sozialen Umfeld an- und aufgenommen, so dass die »›Aussetzung‹ […] nämlich die Vereinzelung […] ihm als sein heimischer Wesensort« gilt (ebd. 221).

Vgl. hierzu Shchyttsová 2016. Die »Wechselseitigkeit des Anerkennens« sei die »Urhandlung, in der allein Ichheit entsteht«; »Anderer und Ich sind jeweils unselbständige Momente, die aus der Anerkennung, dem Grundakt menschlichen Miteinanderseins, hervorgehen« (Fink 1992, 111).

18 19

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Fink deutet eine Analyse dieses paradoxen Befundes nach zwei Aspekten an. Eine Sozialisation kann offenbar nie soweit reichen, dass die im Naturhaften des Menschen gründende Vereinzelung in das Soziale tatsächlich aufgehoben wäre. Dies hat zum einen zur Folge, dass im Heimischen stets auch das Unheimliche lauert, das dort aufbricht, wo der soziale Syndesmos Risse bekommt. Heimat gehe also nicht kontinuierlich in das Fremde über, sondern das Fremde steckt schon im Eigenen (vgl. ebd. 220). Das ursprünglich Fremde wäre dann das zumeist sozial überdeckte Faktum, dass ich eben doch nicht in ein Wir verspannt bin, in dem ich gleichwohl immer schon existiere, ein Fremdes, das ich zunächst im Miteinander als Entzug der Geborgenheit erfahre. Zum anderen ist die Vereinzelung Bedingung dafür, dass ich nicht nur Fremdsein im Eigenen erlebe, sondern mich auch aus jedem Gesamt aussondern, ja zu ihm in einen Gegensatz treten kann: Die »Entzweiung«, die »unterscheidende und ausgrenzende Macht der Vereinzelung« kann »den Frieden stören« (ebd. 207). Das ambivalente Verhältnis von Heimischsein und Fremdsein, von Frieden und Konflikt gründet also offenbar nicht nur darin, dass Einzelexistenz nie ganz in ein soziales Gesamt aufgehoben zu werden vermag, sondern ist auch ein Indiz für die unaufhebbare Verschränkung von Helle und Dunklem, von Natur und Freiheit: Ist Vereinzelung ein Indiz für das Klare, das zur Unterscheidung drängt und darin verwandt mit den Dingen, die im Licht des Tags ihr sie unterscheidendes Profil zeigen, so trägt sie an sich doch zugleich das dunkle Feld der sich ab- und aussondernden Grenze; und das zunächst als Bedrängnis und als Einschränkung erfahrene Fremdwerden im Gewohnten kann die Möglichkeit zur Emanzipation eröffnen. Die geburtliche ›Aussetzung‹ erhält durch Sozialisation ein heimatliches Gesicht; darin bleibt aber die Möglichkeit geborgen, dass eine einzelne Existenz im Fremdwerden des Heimischen, in der Erfahrung ihrer Vereinzelung, die Freiheit erlangt, entweder sich zu sich (und zu den Anderen und zu sich über die Anderen) zu öffnen oder den Eigenwillen (auf Kosten der Anderen) durchzusetzen. In diesem ambivalenten Feld der Freiheit verankert Fink sein Programm einer Philosophie der Erziehung. Bestimmt er Pädagogik als eine »Weise der Bewegung der menschlichen Freiheit« (Fink 1992, 40), so ist für ihn eine »Philosophie der Erziehung« der »ausdrückliche Vollzug der Lebensbesinnung, […] ein Mitgehen im Bildungsprozeß der sittlichen Welt« (ebd. 43); dieser Mitgang wird als »Wohlberatenheit« (euboulía) beschrieben (ebd. 44) und verwirklicht sich 153 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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als eine »Selbstverständigung des Daseins« (ebd. 46). Pädagogik und eine Philosophie der Erziehung intensivieren somit das welteröffnende und durch und im Weltverhalten eröffnete Potenzial des Selbstverhaltens, so dass das »Selbstverhältnis des menschlichen Daseins […] das Grundphänomen ist, wovon eine Philosophie der Erziehung ihren Ausgang nimmt« (ebd. 27). Denn bereits die »echte Gestalt« der Erziehung bringt »das menschliche Dasein in ein neues Grundverhältnis zu allem, was ist« und ist demzufolge »Einfügung ins Wirkliche im gemeinsamen Durchsprechen (dialegesthai) der staunenden Verwunderung über das Seiende in allen seinen Grundbereichen« (ebd. 181). Dann ließe sich sagen, dass in der durch die dialogische, coexistenziale Begegnung mit dem Anderen ermöglichten Verwunderung ein möglicher Keim zu einem Fremdwerden des eigenen Gewohnten liegt. Eine auf solche Weise in der dialogischen Begegnung mit den Existenzgründen der Anderen verankerte Erziehung würde über das Potenzial verfügen, ein Bewusstsein von der Grenze des eigenen existenzialen und coexistenzialen Lebensmodus, d. h. der ›Sitte‹ oder des ›Wohnens‹, zu erlangen.

II.

Drei Anmerkungen

1. Bemerkenswert ist, dass Fink nicht lediglich konstatiert, dass menschliche Existenz zunächst sozialbezogen ist und erst in späterer kultureller Entwicklung sich als Individuum aus seinem sozialen Verband emanzipiert, sondern Wert auf die Betonung einer Gleichursprünglichkeit von Ich und Wir legt. Wenn aber das Ich »nie früher als das Wir« ist, zugleich aber gesagt wird, dass der Mensch das »am meisten selbstische Lebewesen« sei, stellt sich die Frage, wo der Ursprung dieses Selbstischen, dieses ›natürlichen‹ Egoismus, liegt. Beruht er im Sozialen oder liegt er in der einzelnen Existenz oder in beidem? Wollte man das Selbstische in beidem verorten, würde man der Antwort vorwerfen können, sie verfehle die Frage nach dem Ursprung, wenn sie sich mit der Feststellung begnügte, dass es eben den Egoismus des einzelnen Menschen, aber auch Gruppenegoismen gibt; würde man es entweder im Wir oder im Ich zu lokalisieren versuchen, widerspräche dies der Aussage des Gleichursprünglichen von Ich und Wir. Eine ähnlich parallele Problematik liegt im Begriff der ›Vereinzelung‹ vor. Bedeutet Vereinzelung nach Fink das geburtliche Zur154 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Welt-Kommen der notwendigerweise einzelnen Existenz, verleitet dies zu dem Schluss, dass die vereinzelte Existenz aufgrund ihrer geburtlichen Separation früher als ihr Sozialkonnex ist; die einzelne Existenz ›erwacht‹ jedoch, so könnte dagegen eingewendet werden, gerade nicht als vereinzelte, sondern inmitten einer sozialen Situation der Familie und ihres näheren und ferneren Umfelds. Das Entweder-Oder dieser Aussagen zusammennehmend, lässt sich aber auch sagen, dass Geborenwerden als Zur-Welt-Kommen eben beide Momente aufweist, die offenbar nicht aufeinander rückführbar sind: einmal das ›naturhafte‹ Faktum der Trennung des Kindes von seiner Mutter und zum anderen die Integration des Kindes in eine es schon umgebende Welt, sei es in Fürsorge oder in Vernachlässigung. Die Trennung ist bloße Faktizität, aber deshalb freilich nicht irrelevant, während die Einfügung im Wesentlichen über das Verstehen verläuft. Das hätte zur Folge, dass der Satz von der Gleichursprünglichkeit von einzelner Existenz und Sozialbezug differenziert werden müsste: Eine Gleichursprünglichkeit liegt nur vor, wenn die Einzelexistenz auf zwei unterschiedliche Weltbezüge, in Finks Terminologie auf ›Natur‹ und ›Freiheit‹, bezogen wird, in dem Sinn, dass einzelne Existenz gleichursprünglich in einer sie außersinnhaft separierenden leib-körperlichen 20 Faktizität und zugleich in einer im Horizont des Verstehens operierenden und sie integrierenden Sozialbindung gründet. Das Gleichursprüngliche betrifft dann die Partizipation an zwei Wirklichkeitsbereichen, die voneinander absolut geschieden sind. Der Satz ›Das Ich ist gleichursprünglich mit dem Wir‹ müsste folglich so verdeutlicht werden, dass der Ursprung des Ich und der Ursprung des Wir in zwei völlig unterschiedlichen Dimensionen liegt, und diese sind gleichursprünglich in dem Sinn, dass die eine nicht auf die andere zurückgeführt werden kann. Um dem Tatbestand der Vereinzelung gerecht zu werden, wäre zu sagen, dass Geburt Vereinzelung bewirkt und folglich das Faktum eines rein passiven ›Egos‹ seiner Sozialbindung vorhergehe – dies nicht im Kontext eines Selbstverstehens, sondern in einem Bereich, wo es schlechterdings (noch) nicht um Verstehen geht. Für die adäquate Bezeichnung eines

Der Ausdruck ›leiblich-körperlich‹ wird hier verwendet, um damit nicht nur leibliche Funktionen zu benennen, sondern die Körperlichkeit des Leibs, mit der ich dem Realen Widerstand leiste, mit einzubeziehen; dabei ist Körperlichkeit nicht in einem objektivierenden Sinn verstanden, sondern als Faktum realer subjektiver Existenz (s. hierzu Novotný 2016).

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solch frühen, außerhalb des Verstehens fungierenden ›Egos‹ (das nur in Anführungszeichen zu schreiben ist), fehlt schlechterdings der Begriff. Levinas verwendet hierfür das Wort das Selbe, der frühe Nishida spricht von »Reiner Erfahrung«, und Michel Henry konstruiert die selbstaffektive Bewegung einer vorgängigen Subjektivität, die sich mit Mitteln des Verstehens nie einholen kann. Man sieht hier: Das paradoxe Verhältnis, das Fink in der meontischen Begegnung mit dem Ausstehen des ›Ganzen‹ von Welt zu fassen sucht, besteht als ein paralleles meontisches auch bezüglich der ›Tiefe‹ des je eigenen Selbst. Daraus würde folgen, dass der von Fink konstatierte ›Riss‹ nicht nur das Gegenwendige von Dunkel und Licht bzw. von Natur und Freiheit betrifft, in das der Mensch in seinem kosmischen Eingefügtsein in die Physis der Welt gehalten ist und darin als ›Mittler‹, als ›Verhältnis‹, existiert, sondern, umfassender, auf die Spannung von Welt und Selbst in ihren jeweiligen Tiefendimensionen bezogen werden müsste. Selbstredend würde dies zu einer veränderten Konfiguration im Bezug von Selbst- und Weltverhältnis führen. Dies hätte zur weiteren Folge, dass die Rede von einem Insein menschlicher Existenz differenziert werden müsste. Das Insein als Inder-Welt-sein 21 bzw. als »Mit-Teilen« im coexistenziellen Sinne Finks würde nur diejenige Art und Weise bezeichnen, wie sich Existenz versteht, nämlich ›zunächst und zumeist‹ als solche, die in einen sozialen Verband verfugt ist. Finks Leistung ist es, dass er im Kontext seines kosmologischen Denkens der Physis die Natur-›Seite‹ menschlicher Existenz als einen Randbereich existenziellen Verstehens (des Selbstverhaltens) in den Blick bringt. Er verbleibt dabei aber noch im Kontext des Verstehens 22 und bezieht zudem den meontischen Grenzbereich, der dabei thematisch wird, nur auf Welt (Weltverhalten) und nicht auch auf das Selbst. Davon müsste auf einer völlig anderen Ebene – einer Ebene, die nicht mit einem Verstehen korreliert – ein anderes Insein angesetzt werden, welches das Leben in bloßer leib-körperlicher Faktizität, im Berühren der Erde, im Ein- und Ausatmen der Luft, in der Nahrungsaufnahme, im Wachen und Schlafen etc., zum Ausdruck bringt. Es könnte ferner gezeigt werden, wie dem Begehren, dem Triebhaften, überhaupt der Ausrichtungskapazität der Existenz eine vermittelnde Wohnen als »das menschliche In-sein in der Welt« (Fink 1987, 219). Auch wenn er betont, dass »nicht jedes Verstehen […] ›hermeneutisch‹« ist (Fink 1992, 70).

21 22

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Funktion zukommt, die zwischen jenem ursprünglichen Insein, Inmeiner-Leib-Körperlichkeit-Sein und dem sozialisierten Insein vermittelt und damit erhellen könnte, wie es überhaupt dazu kommt, dass leib-körperlich vereinzelte Existenz sich in einer sozial gestifteten Welt findet und sich sodann von dieser her versteht. 2. Das a-soziale Insein leib-körperlicher Existenz wäre somit noch nicht hinreichend gefasst, wenn es meontisch als Abgrund des Selbst und darin als Randzone verstehenden Weltbezugs beschrieben wird. Denn das Meontische zieht dem Verstehen eine absolute Grenze nur von ihm aus und in ihm selbst, indem es konstatiert, dass das zu Verstehende in seiner erkannten (symbolhaften) Bruchstückhaftigkeit nicht alles ist. Das Meontische in diesem Sinn korreliert zunächst mit einer lebensweltlichen Erfahrung, in der Grenzen des Verstehbaren und Sagbaren aufdringlich werden, wobei aber zumeist, wie weitgehend auch in der metaphysischen Denkentwicklung Europas, die erfahrene Grenze ignoriert und überschritten wird, weil Erfahrung sich gewöhnlicherweise nicht mit Negativität zufrieden gibt, sondern auf etwas Handfestes aus ist. Demzufolge ist das Meontische in binnenweltlicher Erfahrung zumeist nur implizit erfahren und wird erst in der philosophischen Theorie als Strukturmoment der Beschreibung von Grenzen des Verstehens explizit. Wird jedoch das Zudrängende der ›Natur‹ – der Natur in uns und außer uns – nur meontisch als eine Grenze unserer Possibilität beschrieben – z. B. als das Dunkle, in das jegliches Gelichtete verläuft –, dann ist es fraglich, ob damit faktisches Erfahren hinreichend gefasst oder sogar überhaupt getroffen ist. Wenn wir im Gegensatz dazu ein Insein ansetzen, das von einem verstehenden Insein gänzlich geschieden ist, wird es nicht mehr möglich, genuine Erfahrungsweisen dieses leib-körperlichen Inseins noch auf dem Weg von Randzonen eines verstehenden Weltbezugs aus zu fassen. Aber gibt es überhaupt ein Erfahren außerhalb jeglichen Verstehens? Zur Beantwortung dieser Frage finden sich bei Fink durchaus Hinweise, so z. B. wenn er bei seiner Analyse des Grundphänomens der Arbeit von einem »Widerstand der Erde« spricht (z. B. Fink 1987, 232). Von ›Erde‹ ist hier nicht mehr (nur) in dem Sinn die Rede, dass damit ein Bereich des Verschlossenen im Gegensatz zum Gelichteten des Himmels gemeint ist (was noch im Bereich des Verstehens zu verorten wäre); 23 es geht 23

Was den Entzug im Modus eines meontisch verstandenen Verstehens (›Sehens‹)

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nicht um solches, das sich mir über den Weg des Sinns verschließt, sondern sich schlicht meiner sich an sie anlegenden Hand verweigert. Der Widerstand der Erde korreliert als solcher nicht mit einem Sinn, sondern mit ihrer namenlosen Festigkeit und Undurchdringlichkeit, 24 die meinem Tun Grenzen zieht. Leib-körperlich erfahrene Widerständigkeit bricht mein (verstehendes) Verhalten, und erst meine daraufhin erfolgende Reaktion kann eine sinnhafte sein. Im Befund des Verschlossenen der Erde steckt aber noch der Hinweis auf die Grenze verstehender Erfahrbarkeit überhaupt. Es gibt also eine Erfahrung, die nicht über das Verstehen verläuft. Ist das Verstehen im Grunde stets symbolisch – in dem allgemeinen Sinn, dass immer etwas aussteht, das entweder nur jetzt oder aber, radikal, nie einzuholen ist (und Letzteres wäre eine meontische Erfahrung) –, so besitzt menschliche Existenz noch die Möglichkeit einer völlig anderen Erfahrung, als es diejenige ist, die im Bereich des Verstehens fungiert. Lacan bezeichnet sie, wie vor ihm schon Scheler, als die Erfahrung von Realem. Ist das Reale auch nie über das Verstehen zugänglich, so gibt es im Widerstandserlebnis doch Erfahrung von ihm, wobei über diese nicht über Sinn vermittelte Erfahrung zu sprechen, sie also thematisch zu machen, selbst nur eine meontische Aussage sein kann. Meontische Erfahrung überhaupt und Erfahrung von Realem bezeichnen dabei jeweils unterschiedliche Grenzen des Phänomenalen, wenn anders Phänomenalität mit Verstehen korreliert. Demzufolge ließe sich meontisch die Frage nach dem Realen stellen, das die Natur in uns und außer uns betrifft, nach dem Realen des Selbst und auch der Welt. Sofern man bezüglich des Realen auch auf eine genuine Erfahrung rekurrieren kann, wäre es nicht nötig, dafür die Klaviatur zu wechseln, von der Phänomenologie zur Spekulation überzugehen, wie Fink dies, im Rahmen des Verstehens verbetrifft, heißt es z. B. bei Fink mit Bezug auf den »Erdboden«, dass er zwar »undurchsichtig dem Blick widersteht«, aber »gerade in seiner Verschlossenheit gesehen wird« (Fink 1987, 218). 24 Auch dies hatte Fink noch im Blick, mag er auch nicht die Konsequenz daraus gezogen haben, wenn er beispielsweise anmerkt, dass ›Erde‹ »das Elementare, das Undurchdringliche« meine, das »alle Offenheit erst trägt« (Fink 1990, 173) Es würde also darum gehen, dieses ›Tragen‹ in einem radikalen Sinn zu nehmen, der besagt, dass sich das Tragende außerhalb jeglichen Sinns manifestiert, dass es also darum geht, das sogenannte ›Dunkle‹ zunächst nicht in einen Bezug zum Lichten, zur Offenheit, überhaupt zum Erscheinen zu setzen.

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bleibend, unternahm, vorausgesetzt allerdings, dass die Phänomenologie die absolute Grenze des Verstehens noch mit in ihr Programm aufnimmt. 3. Das Gesagte hat des weiteren Folgen für ein Verstehen der Reichweite des Könnens menschlicher Existenz, seiner Freiheit. Wenn die Wurzel des selbstischen Wesens des Menschen den Bereich des Verstehens unterläuft, indem sie ihm unterliegt, unter ihm liegt und von ihm überdeckt wird, folgt daraus, dass ein vom ›positiven‹ Verstehen aus unternommener Versuch, ihr zu begegnen, notwendig scheitern muss. Auf schlichte ›aufklärerische‹ Weise kann die Helle das Dunkel der ›Natur in uns‹ nicht domestizieren. Das aber heißt nicht, dass es nicht andere Weisen eines solchen Versuchs geben könnte, dort nämlich, wo die Grenze des Verstehens selbst in Rechnung gezogen wird. Und dies scheint nicht der Weg eines Selbstverhaltens im Sinn reflektierender Theorie zu sein, sondern der Vorgang einer Praxis, einer existenziellen Disposition, die wiederum mit theoretischen Mitteln beschrieben werden kann. Hier stellt sich somit die Frage nach den ›Grenzerfahrungen‹, den Bedingungen für eine existenzielle Kehre, sei es, dass diese wie in der Verwunderung zur Stiftung von Theoría hinführt oder in der Praxis verbleibt. Jegliches Grenzerfahren ist ein reales Erleben im strengen Sinn und reißt die Erfahrenden aus dem imaginativen Gefüge ihres sozialen Syndesmos heraus. Die Frage ist dann nur, ob die Rettung dieses Bruchs im Bau eines neuen imaginativen Hauses, genannt Theoría, gesucht wird, in das man sich, wie in Europa geschehen, schließlich einrichtet, oder ob die Erfahrung der Vereinzelung, das Fremdgewordensein im eigenen Heim, ausgehalten wird, um so zur Basis für ein neues Selbst- und Weltverhalten zu werden. So bestehen etwa Parallelen zwischen der europäischen Epoché und dem buddhistischen bzw. zen-buddhistischen Erleuchtungs- oder Satori-Erleben. 25 Beides sind praktische Vorgänge, beide entspringen einer Brechung des Gewohnten, und beide führen zu einer neuen Antwort, einem neuen Verstehen (das japanische Wort satori [悟り] Es sei daran erinnert, dass Pyrrhon, der die Epoché zum Grundstock seiner von Sextus Empiricus überlieferten Praktischen Philosophie gemacht hat, Alexander auf seinem Indienzug begleitet hatte. Historisch gesehen verliert sich das Wissen um die in dieser ersten Globalisierung erfolgte Begegnung des westlichen Kulturraums mit östlichen Kulturtraditionen im Dunkel, ohne Ergebnisse wird diese Begegnung jedoch nicht geblieben sein (vgl. hierzu die neueren Forschungen bei Beckwith 2015).

25

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kann mit ›Verstehen‹ wiedergegeben werden). Das ›Neue‹ besteht dabei nicht im Setzen eines neuen Ideals, sondern gründet, radikaler, in der Brechung jeglicher Gewohnheit, die sich auf ein Absolutes im Endlichen verlegt. Das macht deutlich, dass es dabei nicht einfach um die Brechung einer ›sittlichen‹ Welt geht. Jeder ›Außenseiter‹ bleibt diesbezüglich noch konventionell. Wenn eine derartige Welt zu Abgrenzung und Verabsolutierung tendiert, dann besteht die Sprengung darin, aus der coexistenziellen Tendenz solcher Absolutsetzung geworfen zu werden, gleich um welche ›Sitte‹ es sich im Einzelfall handelt. Ein Weiteres wird hier deutlich: Im Blick auf die Absolutsetzung stehen Existenz und Coexistenz nicht unbedingt in einem Gegensatz, der Abweichler, Verräter, die selbstisch Handelnden bleiben mit der Gemeinschaft, gegen die sie sich wenden mögen, darin vereint, dass alle in das Portfolio ihrer jeweiligen Ideale verschossen sind und darin ihre Investitionen anlegen. Das radikale Fremdwerden bricht den Horizont eines Verstehens, das Existenz und Coexistenz im endlichen Dort der eigenen, in ihren Grenzen nicht erkannten Entwürfe festhält. Die damit entbundene Freiheit bietet die Chance für ein neues Heimischwerden im Da, vor der Selbstsetzung selbstischer Existenz. Anders gesagt: Ist jegliche Zentrik impliziter Ausdruck der exzentrischen Bewegung menschlicher Existenz, so wiederholt Leben mit der Aufhebung der Tendenz zur Zentrierung seine Exzentrik, nur jetzt explizit, in einem ausdrücklichen Selbstverhalten.

Literatur Beckwith, Chr. J. (2015): Greek Buddha. Pyrrho’s Encounter with Early Buddhism in Central Asia, Princeton/Oxford. Fink, E. (1977): Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, hg. v. E. Schütz u. F.-A. Schwarz, Freiburg/München. – (1978): Grundfragen der systematischen Pädagogik, hg. v. E. Schütz u. F.-A. Schwarz, Freiburg i. Br. – (1979): Grundphänomene des menschlichen Daseins, hg. v. E. Schütz u. F.-A. Schwarz, Freiburg/München. – (1987): Existenz und Coexistenz. Grundprobleme der menschlichen Gemeinschaft, hg. v. F.-A. Schwarz, Würzburg. – (1988): VI. Cartesianische Meditation (Husserliana Dokumente, Bd. II/1), hg. v. H. Ebeling, J. Holl u. G. van Kerckhoven, Dordrecht/Boston/London. – (1990): Welt und Endlichkeit, hg. v. F.-A. Schwarz, Würzburg.

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Exzentrisch wohnen – (1992): Natur, Freiheit, Welt. Philosophie der Erziehung, hg. v. F.-A. Schwarz, Würzburg. – (2010): Spiel als Weltsymbol (EFGA, Bd. 7), hg. v. C. Nielsen u. H. R. Sepp, Freiburg/München. – (2018): Existenz und Coexistenz (EFGA, Bd. 16), hg. v. A. Hilt, Freiburg/ München. Giubilato, G. J. (2017): Freiheit und Reduktion. Grundzüge einer phänomenologischen Meontik bei Eugen Fink (1927–1946) (Ad Fontes, Bd. 8), Nordhausen. Heidegger, M. (1954): Vorträge und Aufsätze, Pfullingen. Novotný, K. (2016): »Der Leib-Körper als Kern und Grenze der Subjektivität«, in: C. Nielsen, K. Novotný u. Th. Nenon (Hg.): Kontexte des Leiblichen/Contexts of Corporality, Nordhausen, 71–96. Shchyttsova, T. (2016): Jenseits der Unbezüglichkeit. Geborensein und intergenerative Erfahrung (Orbis Phaenomenologicus Studien, Bd. 42), Würzburg.

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»Der Zug der Welt« Erziehung und Heilen im Miteinandersein von Alt und Jung Tatiana Shchyttsova

Der Beitrag unternimmt den Versuch, die besondere Phänomenologie und Dialektik, die vom Miteinandersein von Alt und Jung herausgefordert werden, auf der Grundlage von Finks kosmologischer Philosophie zu erörtern. Die Art und Weise, wie Fink das Begriffspaar Leben und Existenz deutet, ermöglicht es, Erziehung und psychisches Heilen als zwei gleichursprüngliche und miteinander wesentlich verbundene Dimensionen der intergenerativen Co-Existenz auszulegen. Dass der Erziehungsvorgang eine heilende Wirkung entfaltet, wird anhand der Beziehungsgeschichte zwischen einem alten Mann und einem Jungen in John Crowleys Film Is Anybody There? aufgewiesen. Es wird gezeigt, dass sich die unreduzierbar asymmetrische Struktur des intergenerativen Verhältnisses als der Kreis des Mitleids und der Neugier interpretieren lässt. In diesem Kreis handelt es sich um Lebensbejahung, die implizit auf die Permanenz des urtümlichen Lebens verweist und in diesem Zusammenhang ihr heilendes Potenzial entfaltet. Der hier entwickelte Ansatz erlaubt es, Finks Erläuterung der Motivation der Erziehung wesentlich umzudenken.

Unsere Zeit ist von einer dramatisch wachsenden Diskrepanz zwischen den Generationen – zwischen Erwachsenen und Kindern, Alten und Jungen – gekennzeichnet. Dadurch wird nicht nur das Feld der Pädagogik als einer Spezialwissenschaft und wissenschaftlich begründeten Praxis in Frage gestellt, auch die alltäglichen intergenerativen Beziehungen (allen voran die zwischen Eltern bzw. Großeltern und Kindern) geraten in eine Schwebe. Sie erweisen sich zunehmend als problematisch insofern, als es immer weniger Sinnsysteme, Werte und Normen gibt, die für alle Generationen der jeweiligen Gesellschaft den gemeinsamen Bezugspunkt bilden und als solche die primäre und fraglose Verantwortung der Erwachsenen für ihre Bewahrung voraussetzen würden. Man bezeichnet diese relativ neue Situation der Unsicherheit häufig als »Grundlagenkrise«, wobei unter diesen Grundlagen in erster Linie zwei (wesentlich miteinander verbundene) Sachverhalte zu verstehen sind: die moderne Auffas162 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

»Der Zug der Welt«

sung vom Subjekt und das moderne Konzept des Nationalstaates (einschließlich der entsprechenden Religion der Nation). Beide Konzepte verhielten sich ihrer Logik und geschichtlichen Genese nach komplementär zueinander und bedingten in ihrer Komplementarität sowohl die entsprechenden Wahrheitsdiskurse (einschließlich des Diskurses über Werte und Normen) als auch das dazugehörige Bild vom Menschen. Die radikale Änderung unserer jeweiligen globalen Lebenswelt, die mitsamt der durchgängigen (durch die neuen Medien intensivierten) Fragmentierung des Selbstseins aus dieser Grundlagenkrise resultierte, verlangt daher ein radikales Umdenken im Blick auf die Hauptprinzipien der intergenerativen Co-Existenz. Lapidar formuliert lautet die Frage, die unsere Gegenwart aufs Neue zu beantworten hat: »Erziehung – wozu?«. Dabei lässt sich dieses »Wozu« in zweierlei Hinsicht deuten. Erstens im Sinne des »Wohin« – auf welche Orientierungen und Leitbilder hin – hin zu welchem Ideal? Was will man am Ende des Erziehungsprozesses erreichen? Zweitens lässt sich das »Wozu« in einem generellen Sinn als Problematisierung der erzieherischen Tätigkeit als solcher verstehen – ja, wozu überhaupt Erziehung? Welchen Sinn hat sie heutzutage? Dass der Sinn sowohl im Bereich der schulischen Ausbildung als auch in dem der Universitätsausbildung vorwiegend in technisch-pragmatischen Termini (Kompetenzen, Fähigkeiten, ökonomischer Nutzen) ausgelegt wird, scheint dabei nicht wirklich eine Antwort auf die Frage zu geben, sondern eher ein Symptom des Sinnverlustes zu sein. Je tiefer die Bodenlosigkeit (das Abwesen eines allgemein gültigen, zu übermittelnden Wertesystems) in den intergenerativen Verhältnissen erfahren wird, desto fester hält man an jenem technisch-bürokratischen Verstand fest, der den erzieherischen Vorgang systematisch als Instrument eines Gewährleistens wirtschaftlicher Effizienz begreift. Dem gegenüber werden in den unterschiedlichen Bereichen der Kultur einschließlich Philosophie und Kunst Versuche unternommen, einen neuen (»vergessenen«) Boden der intergenerativen CoExistenz freizulegen, der die Unsachgemäßheit bzw. den ungeheuren Reduktionismus des technisch-ökonomischen Ansatzes entblößt und neue Richtlinien für eine Beantwortung der Frage nach dem »Wozu« aufscheinen lässt. In dem vorliegenden Beitrag werden zwei dieser Versuche näher betrachtet: die kosmologische Deutung des Erziehungsphänomens durch Eugen Fink und die filmische Darstellung der Beziehung zwischen einem alten Mann und einem Jungen von 163 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Tatiana Shchyttsova

John Crowleys. Es liegt dabei in der Sache begründet, dass ich die beiden Quellen gemeinsam besprechen möchte. Meine diesbezügliche Hauptthese lautet, dass sich die Überlegungen Finks und Crowleys (die Art und Weise, wie das intergenerative Miteinandersein im Film gezeigt wird) wesentlich komplementär zueinander verhalten und, mehr noch, dass das im Film Gezeigte dazu verhelfen kann, eine wichtige Implikation der Erziehungsdeutung Finks explizit zu machen. Konkreter gesprochen möchte ich zeigen, dass der kosmologische Ansatz Eugen Finks beinhaltet, dass Erziehung und psychisches Heilen zwei gleichursprüngliche Dimensionen der intergenerativen Co-Existenz bilden und dass der genannte Film gerade diese These in einer gewissen Hinsicht zur Anschauung bringt. Damit ist gemeint, dass Erziehung und psychisches Heilen zwei miteinander wesentlich verbundene, ja einander implizierende Aspekte des intergenerativen Verhältnisses sind – soweit dieses als ein kosmologisches Geschehen betrachtet wird. Es geht mir also in meinem Beitrag darum, die flimmernde (kosmologische) Dialektik der beiden Aspekte zu berühren bzw. aufzuweisen, dass Erziehung als ein Grundphänomen des menschlichen Daseins zugleich psychisch heilend ist, während das psychische Heilen als eine gleichermaßen grundlegende Dimension im intergenerativen Miteinandersein immer schon eine erzieherische Funktion hat. Das Letzte, was ich in meiner Einleitung erwähnen möchte, ist der unspezialisierte bzw. vor-wissenschaftliche Sinn der Erziehung, von der hier die Rede ist. Zwar hat Fink der Neubegründung der Erziehungswissenschaft (Pädagogik) bzw. der spezialisierten (professionellen) erzieherischen Tätigkeit mehrere Werke gewidmet (Fink 1970; 1978; 1995). Seine entsprechenden Überlegungen gingen aber immer von einer Auffassung von Erziehung aus, die diese als ein Phänomen der ursprünglichen (kosmologischen) Aufeinanderbezogenheit der unterschiedlichen Generationen deutete (Fink 1992). Erziehung wird bei Fink also als ein Phänomen betrachtet, das jeder spezial-wissenschaftlichen Reflexion vorausliegt und diese überhaupt erst ermöglicht und motiviert. Dieses vorwissenschaftliche Phänomen der Erziehung, das für die alltägliche intergenerative Erfahrung charakteristisch ist, bildet den prinzipiellen Treffpunkt (die gemeinsame Sache) der philosophischen Theorie Finks und der filmischen Vision Crowleys.

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»Der Zug der Welt«

1.

Das Phänomen der Erziehung im Lichte des Begriffspaars Leben – Existenz

Die These, die ich in diesem Abschnitt entwickeln möchte, lautet, dass die Art und Weise, wie Fink die Begriffe Leben und Existenz in seiner kosmologischen Lehre deutet, eine prinzipielle Grundlage dafür bilden, Erziehung zugleich als ein Heilen auslegen zu können. Beide Begriffe sind von zentraler Bedeutung in Finks Kosmologie und werden unter anderen auch in denjenigen Kontexten benutzt, in denen es um das Verhältnis zwischen den verschiedenen Generationen bzw. um das Erziehungsphänomen geht. Um sich der Bedeutung der begrifflichen Differenz zwischen Leben und Existenz in der kosmologischen Erziehungslehre Finks bewusst zu werden, gilt es zunächst, das konzeptionelle Novum seiner Erziehungsauffassung herauszustellen. Die Neuheit der philosophischen Konzeption Finks gründet letzten Endes in der De-subjektivierung der Welt, das heißt in dem philosophischen Ansatz, demzufolge die Welt nicht als ein begrifflich fassbares bzw. phänomenalisierbares Korrelat des (transzendentalen) Bewusstseins zu denken ist, sondern als ein Geschehen, welches nie in seiner Totalität fassbar wie auch nie auf den Bereich des Erscheinenden reduzierbar ist. Um den Charakter des Weltgeschehens ahnbar werden zu lassen, führt Fink die Figur des Spiels – Spiel als Weltsymbol (Fink 1960) – ein, was in erster Linie eine dialektische Verfassung des Weltgeschehens bzw. das gegenwendige Zusammenspiel konstitutiver Weltmomente (etwa Möglichkeit und Wirklichkeit, Anwesenheit und Abwesenheit, Lichtung und Verbergung, Himmel und Erde, Apollinisches und Dionysisches, Freiheit und Blut, Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit u. a.) impliziert. Der kosmische Weltbegriff, der die Welt als eine vom Menschen unabhängige Allheit thematisiert, impliziert somit ein radikales Umdenken bezüglich des Wesens des Menschen. Die anthropologische Konzeption Finks wird entsprechend in der Definition des Menschen als eines ens cosmologicum programmatisch zusammengefasst. Fink geht davon aus, dass der Mensch als jenes innerweltliche Seiende zu verstehen ist, »das ekstatisch sich zum Weltganzen verhält« (Fink 1995a, 161 f.), das »ekstatisch offen ist für das Ungeheure des Weltganzen« (ebd. 307). Die anthropologische Aussage Finks, welche die Weltoffenheit als ein wesentliches Charakteristikum des Menschen nennt, ist auch für die Originalität und den bahnbrechenden Charakter seiner Erziehungsdeutung verantwortlich. Dass die Welt kosmologisch verstan165 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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den wird, setzt voraus, dass die menschliche Weltoffenheit eine Seinsweise ist, die sich nicht im Rahmen der klassischen dualistischen Unterscheidung zwischen Natur und Freiheit (Materie und Geist) beschreiben lässt. Ja, die philosophische Herausforderung Finks bezüglich des Naturhaften im Menschen liegt darin, die klassische dualistische Gegenüberstellung von Geist und Materie im Rahmen der kosmologischen Dialektik so umzudenken, dass »Natur […] nicht im Widerspruch zu Freiheit [steht], sondern mit ihr zusammen jene Wirklichkeit aus[macht], die die menschliche Existenz umfängt« (Nielsen u. Sepp 2011, 19). Die dualistische (nach einem Wort Finks »kentaurische«) Auffassung vom Menschen als der Synthese von Natur und Freiheit wird eben dadurch überwunden, dass Fink zeigt, dass die menschliche Existenz sowohl von Selbstoffenheit als auch von Weltoffenheit gekennzeichnet ist, und zwar so, dass »Selbstoffenheit der Existenz wesenhaft zugleich immer auch Weltoffenheit [ist]« (ebd. 119). Es ist dieses einzigartige Ineinander von Selbstoffenheit und kosmologischer Weltoffenheit, das dem menschlichen Dasein zueigen ist und den Menschen zu einem ›Mittler‹ macht, der dem gegenwendigen Zusammenspiel der konstitutiven Weltmomente gleichsam ausgeliefert ist 1 und stets eine Ahnung vom Weltgeschehen als dem Allumfangenden hat (vgl. Fink 1992, 195). Es ist schließlich dieses Ineinander, das bewirkt, dass Fink sich kritisch mit Heideggers These vom derivativen Charakter des Lebens im Verhältnis zur Existenz auseinandersetzt (vgl. ebd. 69). Damit erweist sich auch das uns interessierende Begriffspaar Leben – Existenz als durch das dialektische Zusammenwirken von Selbstoffenheit und Weltoffenheit im menschlichen Dasein bedingt. Dies lässt sich zwar Fink zufolge mit gleichem Recht sowohl als Existenz als auch als Leben bestimmen – die Begriffe sind jedoch in seiner kosmologischen Lehre nicht in einem strengen Sinne identisch. Auch wenn die Begriffe einander häufig ersetzen könnten, ohne dass die entsprechenden Kontexte dadurch ihren Sinn ändern würVgl. Fink 1976, 137: »Der Mensch ist ›Mittler‹: er ist ein endliches Seiendes inmitten der endlichen Dinge – und ist zugleich der Mitwisser des ur-einen Grundes, dem alles von Nichtigkeit durchsetzte Seiende ›entspringt‹; er ist Mittler, sofern er zwischen den Dingen vorkommt – und zugleich sich hinaushält in das Allumfangen der Welt; er ist Mittler, sofern er existiert in der Unterscheidung von wahrhaftem und nichtigem Seienden; und endlich ist er Mittler, sofern er Offenbarkeit und Verschlossenheit des Seins zugleich aushält, heimisch ist im Zwielicht, in der Dämmerung, wo das Sein nie weicht und nie ganz vorhanden ist.«

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den, lässt sich die Tatsache, dass Fink beide Begriffe gebraucht, keinesfalls nur rhetorisch erklären. Dass der Sinnunterschied zwischen menschlichem Leben und menschlicher Existenz eher changiert, als dass er klar und deutlich definiert ist, entspricht der oben bezeichneten ambivalenten Offenheitsstruktur der menschlichen Seinsweise. Leben und Existenz benennen den Menschen in gleichem Maße, weil er eben ein Weltwesen ist, das sich zu sich selbst und zugleich zur Welt (zum Allumfangen der Welt, zur kosmischen Ganzheit) verhält. Leben und Existenz implizieren dabei unterschiedliche Sinnverweisungen oder Konnotationen. Während das (menschliche) Leben im Blick auf den Begriff des allumfangenden Lebens, der nicht weniger wichtig bei Fink ist, gedacht werden muss, ist Existenz in erster Linie mit der Idee der individuellen Freiheit verbunden. Leben und Existenz sind also keinesfalls Synonyme, sondern komplementäre Begriffe, d. h. sie ergänzen einander in der kosmologischen Lehre Finks, und zwar so, dass dieses Begriffspaar den spannungshaften Charakter des menschlichen Daseins offenlegt. Im Spielraum dieses Begriffspaars zeigt es sich als eines, das einerseits durch die wesentliche Zusammengehörigkeit von Individuation und Leiblichkeit gekennzeichnet und andererseits auf einen tieferen (vorindividuellen) Lebensgrund angewiesen ist. »Leben« ist also ein janusköpfiger Begriff, der die Perspektive des jeweiligen individuellen Lebensvollzugs mit der des allumfassenden Lebens vereinigt und damit den Spielraum für ein Zusammendenken von Freiheit und Natur eröffnet. Dementsprechend findet man bei Fink eine ambivalente Auffassung von Individuation. Sie wird sowohl als strukturelles Moment in der immanenten Selbst-Ausdifferenzierung des allumfassenden Lebens gedacht als auch als das Prinzip des eigenständigen existenzialen Weltentwurfs 2 (bzw. des Selbstseins). Es ist also dieses Begriffspaar, das die spannungshafte Seinsstruktur des Menschen markiert, der »verstehend ins kosmische Ganze des Seienden ›hinaussteht‹« (Fink 1978, 79). 3 Dass Leben und Existenz als Grunddimensionen im jeweiligen menschlichen Dasein untrennbar und zugleich nicht aufeinander re-

Fink unterscheidet den kosmologischen vom existenzialen Weltbegriff, der das auf das menschliche Dasein bezogene Entwurfsfeld bedeutet. 3 Vgl. Fink 1978, 69: »In der Ganzheit seines Lebens ist der Mensch von der Sitte, von seinem Wohnen im Weltganzen bestimmt«. 2

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duzierbar sind, hat wichtige Folgen für das Verständnis des sozialen Lebens in der kosmologischen Lehre Finks. Er betont diesbezüglich: »Wir finden Mitmenschen vor, Zeitgenossen – aber eben nicht in einer neutralen Art als bloße Mitsubjekte, die ebenso wie wir die Dinge wahrnehmen, vorstellen, beurteilen. Wir begegnen einander […] innerhalb einer Familie als Eltern und Kinder, innerhalb einer Sippe als die Sorgenden und Umsorgten, innerhalb eines Volkes als die erwachsene und die heranwachsende Generation. Wir unterscheiden uns voneinander – aber wissen oder ahnen doch, dass solche Unterschiede nur die individuelle Existenz betreffen und wir in einem tieferen Lebensgrunde eines und dasselbe sind.« (Ebd. 79)

Damit zeigt sich, dass die höchste Spannung, die im Begriffspaar Leben – Existenz impliziert ist, die zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit ist. Da der Mensch ein Wesen ist, das zugleich in Termini des Lebens und der Existenz bestimmt ist (bzw. zugleich selbstoffen und weltoffen), ist er in seiner individuellen Sterblichkeit auf die Unsterblichkeit angewiesen, die mit der vorindividuellen Dimension des Lebens verbunden ist. 4 Daher behauptet Fink, dass »die Sozialwelt im ganzen durchwirkt ist von der menschlichen Grundstellung zur Unsterblichkeit unseres Geschlechts« und dass wir »einander in Lebenscharakteren ›sterblicher Unsterblichkeit‹« (ebd.) begegnen. Die kosmologische Deutung des Erziehungsphänomens durch Fink gründet sich auf das spannungshafte Verständnis der menschlichen Seinsweise, das primär im Begriffspaar Leben – Existenz gefasst wird. Sie besagt, dass das Miteinandersein der unterschiedlichen (erwachsenen/heranwachsenden) Generationen sowohl im Blick auf die jeweilige individuelle Freiheit (des Erziehenden wie des zu Erziehenden) als auch im Blick auf das all-einheitliche Leben betrachtet wird. Die erzieherische Co-Existenz wird in diesem Kontext als eine primäre Form des intergenerativen Welt–Teilens thematisiert. Soweit also die Welt als kosmologisches Geschehen verstanden wird, an dem Alt und Jung durch ihre wechselseitige Relationalität beteiligt sind, ist Erziehung ursprünglich als ein welthaftes Phänomen zu deuten bzw. als die Art und Weise, wie sich Erwachsene und Heranwachsende im Weltgeschehen (bzw. in der kosmologisch gegründeten Sozialwelt) kraft ihrer naturgemäßen Aufeinanderbezogenheit zueinander zu verhalten haben. Fink versucht, die konstitutive (welthafte) Spannung im menschlichen Dasein mithilfe der Figur des Bogens auszudrücken (ebd. 166).

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Die für die Erziehung als Weltphänomen charakteristische Spannung entspringt der Weise, wie das Begriffspaar Leben – Existenz im Bereich des intergenerativen Miteinanderseins gilt. Hier weist Fink einen ähnlichen dialektischen Sachverhalt auf. Einerseits wird die gegenseitige Lebensvertrautheit der Altersstufen zum Thema gemacht – und zwar als ein Urphänomen, das einen vor-sozialen und vor-individuellen Verstehenszusammenhang voraussetzt, der durch das alleinheitliche Leben gewährleistet wird: »Alt und Jung kann sich verstehen, weil das Leben mit sich selber bekannt ist, sich erkennt in allen Altersstufen.« (Fink 1992, 91) In dieser Hinsicht ist die Erziehung als Grundphänomen der intergenerativen Co-Existenz eben insofern möglich, als die Alten »geheimnisvoll sich in [den Jungen] erkennen, mit ihnen eins sind«, bzw. »in dem Wandel der Lebensstufen durch Alter und Tod hindurch das unvergängliche eine, alle befassende Leben des Ganzen ahnen« (ebd. 92). Andererseits kann diese innige Vertrautheit des Lebens mit sich selbst durch alle Formen der Individuation hindurch den Sinn der Erziehung nicht erschöpfen. Die Auseinandersetzung bzw. Aufeinanderbezogenheit von Alten und Jungen in der erzieherischen Co-Existenz ist Fink zufolge kein rein immanentes Prinzip des Lebens, sondern dadurch charakterisiert, dass die Lebensvertrautheit der Altersstufen immer wieder in Frage gestellt wird, was Fink ganz deutlich in der These vom wechselseitigen Missverständnis der Generationen als Spielraum erzieherischer Co–Existenz fasst (Fink 1995b, 55). Der kosmologische Ansatz Finks deutet also Erziehung als das Zusammenspiel von vor-individuellem Verstehenszusammenhang einerseits und zwischenindividuellem Missverständnis der Generationen andererseits. Der erzieherische Vorgang ist somit dadurch charakterisiert, dass die gegenseitige Lebensvertrautheit der Generationen dadurch, dass im Laufe der intergenerativen Kommunikation jeweils neue Sachverhalte angegangen bzw. besprochen werden, als eine vorgegebene Grundlage immer wieder reaktualisiert und bestätigt wird. Da diese vitale Grundlage einerseits unabdingbar, andererseits nicht offensichtlich ist, wird der erzieherischen Co-Existenz durch ihre Vergegenwärtigung bzw. Bestätigung eine charakteristische Lebendigkeit verliehen. Soweit Fink also Recht darin hat, Erziehung als einen kosmologischen Prozess zu betrachten, setzt der letztere es voraus, dass beide Lebensalter – gerade durch ihre intergenerative Relationalität, insofern die Aufeinanderbezogenheit der Generationen in der gemeinsamen Sozialwelt in dem Erzogenwerden 169 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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der Heranwachsenden resultiert – auf den sie verbindenden vor-individuellen Lebensgrund angewiesen sind. Ja, sie teilen diese Lebensangewiesenheit, und zwar so, dass durch dieses Teilen die Permanenz des Lebensgrundes als einer unzerstörbaren Einheit für sie wachgerufen wird. Hier sind wir bereits an einem Punkt angelangt, an dem ersichtlich werden kann, aus welchen Gründen Erziehung zugleich den Charakter des psychischen Heilens gewinnen kann. Heilend kann die erzieherische Co-Existenz eben insofern sein, als es sich dabei um das Erleben handelt, welches die jeweilige intergenerative bzw. erzieherische Relationalität durch die Lebendigkeit untermauert, deren Lebensbejahung der Permanenz des urtümlichen Lebens entspringt. Es muss dabei betont werden, dass nicht jede (historische Form der) Erziehung heilend sein kann. Fink beschreibt Erziehung als kosmologisches Phänomen, das heißt als die Art und Weise des intergenerativen Welt-Teilens. Damit Erziehung jedoch als ein Phänomen erfahren werden kann, das sich demzufolge nicht auf den neuzeitlichen bzw. aufklärerischen Begriff des Subjekts zurückführen lässt, müssen zunächst bestimmte Voraussetzungen gewährleistet sein. 5 Die wichtigste unter ihnen ist das Vermeiden jener Form des gewaltsamen Zwangs im Verhältnis des/der Erwachsenen zum Kind, den man durch den Vorrang des erwachsenen Subjekts zu rechtfertigen pflegt. Heilend kann die erzieherische Co-Existenz insofern nur sein, als sie als Kooperation oder, wie Fink dies einmal nennt, als zwischenmenschliche Beratung (Fink 1970, 221) verläuft. Dass der Erziehungsvorgang eine heilende Wirkung entfaltet, muss offensichtlich zunächst an Fällen aufgewiesen werden können, in denen diese nicht sozusagen präventiv wirkt, sondern einem Defizit der immanenten (selbst-referenten) Lebensbejahung begegnet. Genau dies betrifft den Fall, der in John Crowleys Film Is Anybody There? dargestellt wird.

Vgl. dazu Fink 1978, 180: »Aber nur der weltoffene Mensch als solcher kann auch weltverschlossen sein, sich verlieren an den Zudrang des Seienden, an den Reiz des Momentanen, an die Aktualität des Sensationellen.«

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2.

Der heilende Kreis des Mitleids und der Neugier

Ich möchte zunächst eine kurze Beschreibung des Films auf Englisch anführen, eine Mischung von zwei Zusammenfassungen aus dem Internet. »Set in the 1980s seaside England, this is the story of Edward, an unusual ten year old boy growing up in an old people’s home run by his parents. Whilst his mother struggles to keep the family business afloat, and his father copes with the onset of mid-life crisis, Edward is busy tape-recording the elderly residents to try and discover what happens when they die. Increasingly obsessed with ghosts and the afterlife, Edward’s is a rather lonely existence until he meets Clarence, the latest recruit to the home, a retired magician with a liberating streak of anarchy. The film tells the story of this odd couple – a boy and an old man – facing life together, with Edward learning to live in the moment and Clarence coming to terms with the past.« 6

Der Film erzählt also die Geschichte der zwischenmenschlichen Beziehung zwischen einem Alten und einem Jungen. Seine philosophische oder anthropologische Hauptaussage besteht darin, dass eine bestimmte Art und Weise des intergenerativen Verhältnisses eine heilende Wirkung ausüben kann. Es gilt daher, im Folgenden auf zwei miteinander verbundene Fragen einzugehen: 1. auf die nach dem Charakter der dargestellten intergenerativen Beziehung, und 2. auf die nach der Transformation, die beiden Protagonisten widerfährt. In Bezug auf die kosmologische Lehre Finks kann der Film als ein ausgezeichnetes Beispiel dafür betrachtet werden, wie das Miteinandersein von Alt und Jung nach dem Prinzip des Welt-Teilens in concreto aussehen kann. An anderer Stelle habe ich die genauere Struktur bzw. die genuine Weise des intergenerativen Welt-Teilens als den Kreis der Neugier bestimmt (Shchyttsova 2016, 166 ff.). Darunter verstehe ich die hierarchiefreie Weise des Miteinanderseins der Generationen, für welche die eigenartige Verflechtung der Neugier des Kindes und der des Erwachsenen konstitutiv ist. Die Verflechtung ›wächst‹ auf dem Boden der lebendigen wechselseitigen Bezogenheit der beiden Lebensalter in Situationen, an denen beide beteiligt sind und die von ihnen als offene, geteilte Ganzheiten erfahren werden. Die jeweilige Neugier bezieht sich dabei sowohl auf die mit dem anderen Alter geteilte Situation als auch auf das eigene In-der-Welt-Sein des je6

http://www.imdb.com/title/tt1130088/plotsummary?ref_=tt_ov_pl

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weiligen Beteiligten. Der Kreis der Neugier lässt sich in zahlreichen Situationen bzw. Praktiken aufzeigen, die für den alltäglichen Umgang mit Kindern charakteristisch und zudem dadurch gekennzeichnet sind, dass der/die Erwachsene sich zum Kind eben in seinem aktuellen Anders-Sein und nicht aus der Perspektive seines Erwachsenwerdens bzw. einer pädagogisch-didaktischen Perspektive verhält. Eine letzte wichtige These bezüglich dieses Begriffs lautet, dass die hierarchiefreie Struktur des Kreises der Neugier durch eine spezifische Heuristik und Poetik gekennzeichnet ist. Der Film Is Anybody There? zeigt die oben bezeichnete Struktur – den Kreis der Neugier – sozusagen in actu. Zudem wird im Film ersichtlich, dass die Struktur sowohl erzieherisch als auch heilend sein kann und dass der Verlauf des psychischen Heilens eine eigene Dynamik hat, die zeitlich begrenzt und mit konkreten Ereignissen im Miteinandersein des Alten und des Jungen verbunden ist. Darum ist es zunächst erforderlich, den diachronischen Spielraum dieses in sich heilenden Miteinanderseins zu umreißen, d. h. die äußeren Grenzen zu markieren, die das immanente Feld des Heilens aufweisen. Die Grenzen sind demgemäß die entsprechenden Zustände, in denen sich die Helden zuerst unmittelbar vor dem Beginn der heilenden Dynamik und dann nach ihrer Erfüllung befinden. In der Tat stellt der Film die beiden Protagonisten zu Beginn als marginalisierte, zurückgezogene und in ihren Verhältnissen zur Welt und zu den Anderen stark reduzierte Subjekte dar, während man am Ende sieht, dass die soziale Isolation mitsamt der entsprechenden psychologischen Enge bei beiden überwunden ist. Im Sinne des allgemeinen Lebensgefühls markiert also die erste äußere Grenze einen ›unheilen‹ Zustand, unter dem die Protagonisten leiden, und die zweite einen ›geheilten‹ Zustand, in dem sie sich wohlfühlen. Die bezeichneten Grenzen implizieren die enigmatische Frage einerseits nach dem Eintritt in den heilenden Kreis und andererseits nach dem Austreten aus ihm. Nimmt man an, dass der heilende Kreis eine mögliche Weise des intergenerativen Miteinanderseins ausmacht, muss man zunächst fragen, wie bzw. warum diese Möglichkeit im jeweiligen Miteinandersein aktualisiert werden kann. Anders gesagt geht es um die Frage, wie es dazu kommen kann, dass in der faktischen Co-Existenz von Alt und Jung der dynamische Prozess einer im existenziellen Sinne heilenden Transformation entsteht. Der Film ist hier insofern äußerst aufschlussreich, als er das Eintreten in den Kreis bzw. die Aktivierung der heilenden Dynamik sehr prä172 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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zise und inhaltlich reich darstellt. Ich gebe eine kurze Beschreibung des Anfangs der Geschichte. Die erste Begegnung der Protagonisten ist eine extrem negative Erfahrung. Der Alte ist aggressiv und böse auf den Jungen, der Junge seinerseits verärgert. Es muss also etwas geschehen, damit sich ihre wechselseitige Idiosynkrasie zu einer wechselseitig heilenden Beziehung verwandeln kann. Als der Junge eines Tages aus seinem Haus flieht, findet er den Alten bewusstlos in seinem Auto liegen. Der alte Mann wollte Selbstmord begehen, und der Junge muss nun, um ihn zu retten, zuhause bleiben. Nach diesem Ereignis kann man eine qualitative Wendung im Charakter ihrer Verhältnisse erkennen. Man sieht nämlich, wie der Alte und der Junge allmählich füreinander zu Nächsten bzw. Freunden werden und wie diese Freundschaft – die man mit guten Gründen mit Finks Begriff der zwischenmenschlichen Beratung beschreiben könnte – in dem jeweiligen Geheiltwerden resultiert. Phänomenologisch gesehen zeigt der Anfang der Geschichte die konstitutive Bedeutung des Transzendenten für die Initiierung des neuen Modus des Miteinanderseins der Generationen auf. Es handelt sich um das affektive Verhältnis zum Anderen in seinem erschütternden Lebensuntergang. Die daraus folgende wesentliche Verwandlung der intergenerativen Erfahrung, die das Eintreten in den heilenden Kreis besagt, hat somit eine wirksame affektive Wurzel. Man kann also hier mit vollem Recht von einer affektiven Verwandlung des intergenerativen Verhältnisses sprechen, welche die weitere erzieherische Co-Existenz des Alten und des Jungen ermöglicht. Ja, es ist eine affektive Erschütterung, die die Co-Existenz der unterschiedlichen Lebensalter in den Kreis der ganz charakteristischen lebendigen Wechselseitigkeit – welche nämlich von Anfang an sowohl von Neugier als auch von Mitleid geprägt ist – einführt. Der Film zeigt in diesem Sinne sehr genau, dass es sich um einen Kreis handelt, der zugleich einer der Neugier und des Mitleids ist. Die nächste Phase in der Geschichte des intergenerativen Verhältnisses zwischen dem Alten und dem Jungen zeigt, wie sich der neue Modus ihres Miteinanderseins nach und nach durchsetzt. Dabei wird die bereicherte Definition des Kreises als eines Kreises der Neugier und des Mitleides anschaulich und überzeugend bestätigt. Die Beziehung und das Verhalten des Alten und des Jungen weisen durch die unterschiedlichen Formen ihrer Kommunikation und Interaktion hindurch ein grundlegendes wechselseitiges Interesse füreinander 173 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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bzw. für ihr Zusammensein als solches auf. Dieses Interesse an ihrer Co-Existenz ist dabei nicht von der wechselseitigen Sorge zu trennen. Die lebendige Mitwirkung der Helden, die in ihrem strukturellen Sinn mit dem Begriff des Kreises gefasst wird, ist also von einem dialektischen Ineinander von Interesse und Sorge, Neugier und Mitleid gekennzeichnet. Dialektisch ist ihr Zusammenhang in dem Sinne, dass die jeweiligen Elemente wesentlich aufeinander bezogen sind, und zwar so, dass ihr Zusammenspiel zugleich den Verlauf der Erziehung and den des psychischen Heilens gewährleistet. Erziehung und Heilen ergeben sich also gleichursprünglich im Rahmen des Kreises, der jenen Modus des intergenerativen Miteinanderseins besagt, welcher dem (Finkschen) Prinzip des Welt-Teilens entspricht. Der Film ist sehr hilfreich auch in der Hinsicht, dass er sehen lässt, wie der Kreis der Neugier und des Mitleides aufrechterhalten wird. Das Prinzip seiner Eigendynamik zieht Initiativen nach sich. Immer wieder initiiert einer der beiden Helden in seinem Verhältnis zum Anderen etwas, was eine Sorge um das Sich-wohl-fühlen des Anderen zum Ausdruck bringt und darauf zielt, dessen Interesse (oder gar Bewunderung) zu erregen. Die darauf folgenden unterschiedlichen Initiativen machen die intergenerative Freundschaft zu einem echten Abenteuer, in dem die Neuheit der geteilten Erfahrungen mit dem Erlebnis des Sich-Wohlfühlens verbunden ist. Die entscheidende Phase der Beziehung zwischen dem Alten und dem Jungen besteht im Grunde genommen in dem, was oben das Austreten aus dem Kreis genannt wurde. Am Ende des Filmes sieht man, dass beide Protagonisten ihre jeweilige anfängliche Situation, die von entsprechenden inneren und äußeren Konflikten und einer bestimmten Weltfremdheit gezeichnet war, überwunden haben. Im Falle des Alten lag die biographische Ursache seiner Weltverlorenheit in der unglücklichen Beziehung zu seiner innig geliebten und seit langem verstorbenen Frau. Im Falle des Jungen lag sie in den problematischen Verhältnissen innerhalb seiner Familie. Dass beide zu einer wesentlich anderen Haltung in ihrem Verhältnis zur Welt, zu den Anderen wie auch zu sich selbst gelangen, resultiert aus der exklusiven Erfahrung ihres Miteinanderseins. Unter dem Austreten aus dem Kreis verstehe ich demnach seine endgültige heilende Wirkung, die darin besteht, dass die Beteiligten durch ihre Beziehung schließlich dazu kommen, sich in ihrem In-der-Welt-sein wohlfühlen zu können. Es besagt, dass es nicht mehr um den Kreis geht, dessen Beteiligte der Heilung bedürftig sind. »Austreten« ist also ein Begriff der imma174 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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nenten strukturellen Dynamik des Kreises selbst, ja das Ergebnis seiner eigenen Leistung, welche in der existenziellen Transformation der am Kreis Beteiligten resultiert. Die Transformation zeigt sich zunächst dadurch, dass die Offenheit bzw. Bereitschaft zu Begegnungen, die von den Helden früher nur im Verhältnis zueinander manifestiert wurde, zum Hauptprinzip ihres jeweiligen In-der-Welt-seins im Ganzen wird. Das so verstandene Austreten lässt sich zugleich als eine immanente Transzendenz beschreiben, die in den Kreis als das genuine intergenerative Welt-Teilen hineingehört und von den am Kreis Beteiligten insofern je individuell erfahren wird, als sich ihre anfänglich gestörte Seinsweise verwandelt.

3.

Hokuspokus. Der Schlussteil

Eine der finalen Episoden des Films: Einige Tage nach dem Tod seines alten Freundes führt Edward ein ziemlich meisterhaftes Zauberkunststück für eine alte Frau auf. Sein Hokuspokus mit der Rose, die ›aus dem Nirgendwo‹ erscheint und der alten Dame dargebracht wird, zieht große Bewunderung auf sich. Diese Szene ist ein Zeichen seiner neuen Lebenshaltung bzw. seiner durch die Freundschaft mit Clarence erworbenen Weltoffenheit. Der Film als ganzer kulminiert grundsätzlich darin, dass es bei der Erziehung ursprünglich darum geht, den Heranwachsenden existenziell dazu bereit zu machen, am Weltgeschehen einschließlich der Sozialwelt zu partizipieren. Es ist also die entsprechende Bereitschaft, die den ursprünglichen Sinn der Bildung (des Erzogenwerdens) ausmacht. Sie manifestiert sich zuerst in der lebendigen bzw. freudigen Offenheit binnenweltlichen Begegnungen gegenüber, die ihrerseits wesentlich mit der Freiheit des »Gebildeten« verbunden ist. Dieses keineswegs geläufige Verständnis von Erziehung/Bildung verhält sich durchaus komplementär zu der kosmologischen Perspektive Finks: »Bildung des Menschen ist im wesenhaften Sinne kein Inbegriff von Kulturgütern, die man konsumiert haben muss […]; Bildung ist auch nicht ein festliegendes System traditionaler Wertungen, kein fragloses Innestehen in einer gültigen Überlieferung und dgl.; Bildung ist wesenhaft Mitgang des Menschen mit der schöpferischen Bewegung des Seins, ist ein Sicheinfügen in die kosmische Entsprechung.« (Fink 1978, 180)

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Dass der Junge Zauberkunststücke für ein Publikum macht, hat in diesem Zusammenhang eine besondere symbolische Bedeutung im Film. Durch seine Kunst bringt er das Als ob eines Wunders hervor. Diese dank seines Freundes neu erworbene Praktik ist die Weise, wie er Kommunikation zu den Mitmenschen aufbaut und dadurch sein Vermögen offenbart, sich zu dem, was erscheint, spielerisch zu verhalten. Dieses Vermögen ist ein wesentliches Charakteristikum seiner Freiheit und Offenheit, wobei das jeweilige »Wunder«, das er hervorbringt, auf seine existenzielle Transformation – und damit auf das heilende intergenerative Welt-Teilen – als ein unfassbares Urwunder verweist bzw. seine Wirksamkeit bestätigt. Der Hokuspokus ist somit zugleich ein Symbol der existenziellen Freiheit und Lebensbejahung. Daher lässt sich der Junge bzw. seine neu erworbene Seinsweise mit Finks Termini der kosmischen Entsprechung des Menschenwesens bestimmen: nämlich als »Mit-Spieler im Spiel der Welt«. Ich möchte zum Schluss zwei Folgerungen ziehen, welche die Hauptthese meines Beitrags – die Gleichursprünglichkeit von Erziehung und psychischem Heilen im (kosmologisch verstandenen) intergenerativen Miteinandersein – berühren. Zunächst ist festzuhalten, dass das Zusammenspiel der beiden Dimensionen exemplarisch an einem Fall aufgewiesen wurde, in dem es um eine defiziente Seinsweise der Protagonisten ging. Es ist somit die Co-Existenz der sich in einer seelisch-existenziell kritischen Lage befindenden Helden (von denen einer alt, der andere jung ist), die es ermöglicht, ihr Miteinandersein, dem die Dimension der Erziehung ursprünglich zueigen ist, zugleich im Lichte des beiderseitigen Bedürfnisses nach Lebenshilfe bzw. heilsamer Unterstützung zu erblicken. Sofern sich also die Beteiligten jeweils in einer Notlage befinden, zeigt sich, dass es im intergenerativen Miteinandersein auf einer ganz basalen Ebene (und zwar für beide Lebensalter!) um das existenzielle Vermögen der Weltoffenheit überhaupt geht. Indem der Alte und der Junge einander dazu verhelfen, von ihrer jeweiligen (altersspezifischen) pathologischen Zurückgezogenheit befreit werden zu wollen, wird solch ein Ideal der Lebensbejahung bzw. existenziellen Offenheit für die beiden Lebensalter (im Kreis des Mitleides und der Neugier) wachgerufen. 7 Die intergenerative Asymmetrie (als die Grundbedingung des menschlichen Daseins, die den unumkehrbaren Charakter des erzieVgl. die Neubestimmung des Ideals bei Fink (Fink 1978, 157 ff.); siehe dazu auch Sepp 2005.

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herischen Verhältnisses impliziert) führt dabei dazu, dass im Blick auf den Jungen die heilende Wirkung seiner Beziehung zu dem Alten mit der erzieherischen Wirkung zusammenfällt bzw. als erzieherische gedeutet werden kann, während im Blick auf den Alten die heilende Wirkung seiner Beziehung zu dem Jungen im Wiederaufbau des Vermögens besteht, weltoffen zu sein. Die zweite Folgerung lautet, dass die durchgeführte Analyse es erlaubt, Finks Erklärung der Motivation der Erziehung in Frage zu stellen. Fink betont: »Der Erziehungsvorgang kann überhaupt erst verständlich werden, wenn die tiefere Motivation des gegenseitigen menschlichen Interesses aufgespürt wird.« (Fink 1978, 97) Er deutet diese tiefere Motivation als den Unendlichkeits-Willen, der stets in zwei zusammenhängenden Hinsichten am Werk sei – 1. in der menschlichen Paarung bzw. Fortpflanzung und 2. darin, dass die Erwachsenen an der heranwachsenden Jugend interessiert sind. Es handelt sich somit um das metaphysische Interesse am ewigen Leben, welches Fink zufolge insofern begründet ist, als das individuelle Interesse an der Unsterblichkeit des sterblichen alten Menschen in seinem Verhältnis zum jungen verankert und in diesem Verhältnis letzten Endes wesentlich auf das vor-individuelle (ewige) Leben angewiesen ist. Dementsprechend erläutert er die erzieherische CoExistenz so, dass »hier nicht einfach ein Fremder ein ihm fremdes Leben belehren und unterweisen will, sondern dass der Lehrende im Belehrten sich selbst erkennt, in den vergänglichen Gestalten und Gefäßen doch die unzerstörbare Einheit des Lebens ihrer selbst inne wird« (Fink 1992, 97). Das Problematische dieses Ansatzes, der die (dem sterblichen Menschen einzig zugängliche) irdische Unsterblichkeit im Weiterleben in den Kindern erblickt (Fink 1978, 70) und der in der europäischen philosophischen Tradition von Platon bis Levinas in unterschiedlichen Versionen aufrechterhalten wird, liegt darin, dass er linear verfasst ist. Er unterstellt also das intergenerative Miteinandersein dem Interesse des Alten an der Unsterblichkeit, das in der Zukunft (durch das Fortleben in den Kindern) befriedigt werden wird (Shchyttsova 2016, 135–137; 185–189). Die Frage nach einem metaphysischen Interesse (oder nach einer tieferen Motivation) des Kindes geht im Rahmen dieses Ansatzes dagegen gänzlich verloren. Die Behauptung, dass »der Lehrende im Belehrten sich selbst erkennt«, zieht keineswegs nach sich, dass der Belehrte dasselbe metaphysische Interesse wie der Lehrende verfolgt bzw. durch die tiefere Motivation 177 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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bewegt wird, in den Kindern (in sich selbst?) fortzuleben. Wenn dies so ist, muss die Frage nach der tieferen Motivation des gegenseitigen Interesses der Lebensalter aneinander neu aufgeworfen werden. Es ist diesbezüglich bedeutsam, dass die Kosmologie Finks zugleich einen anderen Gedankengang hinsichtlich der tieferen Motivation der erzieherischen Co-Existenz impliziert, und zwar einen, der in dem besprochenen Film seine Bestätigung findet. Es geht dabei nicht darum, auf die lineare Interpretation, die vom Standpunkt des erwachsenen/ alten Menschen entworfen wird, zu verzichten. Vielmehr gilt es, eine andere Dimension aufzuweisen, in der sich Alt und Jung (als je individuelle Existenzen bzw. Lebewesen) durch ihre Aufeinanderbezogenheit zum unteilbaren ewigen Leben verhalten. Wir kommen somit zu der Frage nach dem Zusammenhang der Begriffe Leben und Existenz zurück. Am Ende des ersten Teils wurde zusammenfassend gesagt, dass sich die erzieherische Co-Existenz von der Lebendigkeit bzw. Lebensbejahung nährt, die der Permanenz des urtümlichen Lebens entspringt. Dass der Alte in diesem Kontext die Permanenz des Lebens als Fortleben in den Kindern verstehen (ahnen) 8 kann, ist sicher nur ein Aspekt der intergenerativen Erfahrung. Der andere Aspekt wird im Film berührt und besteht darin, dass die Lebensalter durch ihre Aufeinanderbezogenheit einander in ihrem aktuellen Lebensvollzug unterstützen. Die beiderseitige Lebensbejahung, welche ihrem Miteinandersein entspringt, verdankt sich der naturgemäßen inter-generativen Relationalität kraft ihrer wesentlichen Asymmetrie. Dass im menschlichen Dasein Alt und Jung unausweichlich so aufeinander bezogen sind, dass der erste zu erziehen hat, während der zweite zu erziehen ist, ohne dass dabei die Erziehung ausdrücklich zum Thema gemacht werden muss – diese fundamentale Bedingung des menschlichen Daseins bringt die entsprechende Spannung bzw. den Anspruch in ihre Co-Existenz. Die Wirksamkeit dieser Spannung oder dieses Anspruchs kann man (im Rahmen der kosmologischen Lehre Finks) als den Zug der Welt beschreiben. Im zweiten Teil wurde gezeigt, dass »der Zug« die Struktur des Kreises – des Kreises der Neugier und des Mitleids – voraussetzt. Diese Struktur (welche die Struktur des inter-generativen Welt-Teilens ist) besagt nun, dass sich die von den Lebensaltern (je alters-

8

Siehe Fink 1978, 70.

178 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

»Der Zug der Welt«

gemäß) geteilte Lebensbejahung 9 zur Permanenz des Lebens nicht in der linearen Hinsicht des Fortlebens (des Erwachsenen), sondern sozusagen zentripetal verhält. Anders gesagt, der Kreis als die Struktur der lebendigen wechselseitigen Relationalität der Generationen ist dadurch gekennzeichnet, dass die Verbindung mit der Permanenz des Lebens zentripetal (»in den Kreis hinein«) intensiviert wird. 10 Dass – wie der Film zeigt – sowohl Alt als auch Jung durch ihre CoExistenz geheilt werden können, lässt sich somit als eine andersartige, tiefere Motivation ihres gegenseitigen Interesses verstehen, welche eben die Intensivierung der Angewiesenheit auf die Permanenz des Lebens voraussetzt. Das oben erwähnte Vorführen von Zauberkunststücken ist in diesem Sinne ein symbolisches Moment der Bifurkation, das einen neu erworbenen, geheilten Lebenszustand bezeichnet: Die vitale Lebendigkeit des Jungen ist mit seinem Erzogenwerden untrennbar verflochten.

Literatur Fink, E. (1960): Spiel als Weltsymbol, Stuttgart. – (1970): Erziehungswissenschaft und Lebenslehre, Freiburg. – (1976): Nähe und Distanz, hg. v. F.-A. Schwarz, Freiburg/München. – (1992): Natur, Freiheit, Welt. Philosophie der Erziehung, hg. v. F.-A. Schwarz, Würzburg. – (1995a): Grundphänomene des menschlichen Daseins, hg. v. E. Schütz u. F.-A. Schwarz, Freiburg/München. – (1995b): Pädagogische Kategorienlehre, hg. v. F.-A. Schwarz, Würzburg. Nielsen, C. u. H. R. Sepp (2011): »Welt bei Fink«, in: dies. (Hg.): Welt denken. Annäherungen an die Kosmologie Eugen Finks, Freiburg/München, 9–24. Sepp, H. R. (2005): »Finks Neubestimmung des Ideals«, in: A. Hilt u. C. Nielsen (Hg.): Bildung im technischen Zeitalter. Sein, Mensch und Welt nach Eugen Fink, Freiburg/München, 187–202. Shchyttsova, T. (2016): Jenseits der Unbezüglichkeit. Geborensein und intergenerative Erfahrung (Orbis Phaenomenologicus Studien, Bd. 42), Würzburg. Vgl. zur These über die geteilte Freude im intergenerativen Welt-Teilen Shchyttsova 2016, 189 ff. 10 Vgl. Sepps Kommentar zur Spekulation als einer zusätzlichen und entscheidenden Zugangsweise zum Weltall bei Fink: »Die Spekulation fragt hier nicht mehr wie die traditionelle Metaphysik linear über das Sichzeigende hinaus in eine Unendlichkeit. Hier wird die Ferne des Ideals thematisch erfasst, indem das spekulative Denken mitgeht im Zirkel der ins Spiel der Welt sich einschreibenden Idealbildung und zugleich die Differenz aushält, in die solcher Mitgang ebenso wie die Idealbildung selbst als ein ›kosmisches‹ Geschehen versetzt ist.« (Sepp 2005, 200) 9

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Absolute Incomprehension as Meontic Singularization in Eugen Fink’s Critique of Hermeneutics Krystof Kasprzak

»Das Unausdenkliche ist das Feld des Denkens.« Fink, Pädagogische Kategorienlehre In his article the author discusses Eugen Fink’s critique of hermeneutics, with the aim to show how a thematization of this critique can contribute to the development of the understanding of his meontic philosophy. Emphasis is put on the importance of incomprehension for Fink, which he sees as the beginning of thinking and philosophical experience. Fink’s concept of experience is mainly confronted with Hans-Georg Gadamer’s via their different interpretations of Hegel. Finally, Fink’s understanding of absolute incomprehension as philosophical experience is put in proximity with Reiner Schürmann’s concept of a »coming singularization«. This proximity makes it possible to formulate the question about the meaning of meontic philosophy in terms of the meontic nature of the singular.

Introduction It is a misconception to think that understanding only concerns understanding, and that incomprehension is merely a lack of understanding. This is a critique that Eugen Fink directs against hermeneutics throughout his work. In the following the implications of this critique will be explored, with the aim to introduce Fink’s thinking to the field of philosophical hermeneutics. Firstly, Fink’s critique will be presented in relation to its main target, which is Martin Heidegger’s fundamental ontology. Secondly, it will be confronted with Hans-Georg Gadamer’s hermeneutics. The reason for this second move is that although Fink questions hermeneutics well before Gadamer’s Truth and Method was published in 1960, the problem that he sees in Heidegger’s thinking is even more

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Absolute Incomprehension as Meontic Singularization

acute in Gadamer, in how hermeneutics has become a »hypercritical methodology« for the humanities (Fink 1976, 190). The discussion will circle around the different interpretations of the concept of experience in Hegel, which reveals the tragic to be at the heart of Fink’s insistence on the importance of incomprehensibility for thinking. Therefore, finally, with the help of the work of Reiner Schürmann, it will be suggested that Fink, because of his emphasis on the tragic, can be said to understand incomprehension as a singularizing event, in contrast to the dialectics of the universal and the particular that permeates the relation between pre-understanding and understanding in Gadamer.

1.

The Impenetrability of Absolute Incomprehension

Already in Sixth Cartesian Meditation: The Idea of a Transcendental Theory of Method (written 1932) young Fink questions the philosophical status of hermeneutics when he writes that the »›circle of understanding‹ […] is the basic formal structure of understanding only as long as one remains in the natural attitude.« (Fink 1994, 38) The pregivenness of the world that is crucial for hermeneutics is according to him a pregivenness within the horizons of the natural attitude, for which the transcendental subjectivity »is in no sense there« because it »stands in a fundamental antithesis to« understanding, including pre-understanding (ibid. 36 f.). Between the lines these statements are addressed against Martin Heidegger’s fundamental ontology, and one could argue that they are written with the sole purpose to distance »the transcendental theory of method« from the hermeneutics of facticity. But the same critique of hermeneutics is still present in Fink’s later works, after he turned away from transcendental phenomenology towards a cosmological dialectic. In Natur, Freiheit, Welt. Philosophie der Erziehung, a lecture course from 1951/52, Fink criticizes hermeneutics in a similar way as in Sixth Cartesian Meditation. More precisely he problematizes what can be described as the »logocentric« character of hermeneutics. 1 According to Fink this »logocentricity« reveals the continuity between hermeneutics and what he calls the »metaphysics of light« François Dastur uses Jacque’s Derrida’s expression »logocentrism« to describe Fink’s critical approach towards Heidegger (Depraz/Richir 1997, 333).

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of occidental philosophy that understands understanding itself »to narrowly, to intellectualistically, to logically, in the sense of the conceptual penetration and setting apart that takes place in logos.« 2 Fink writes that this limited notion of understanding manifests itself through the importance ascribed to the »as«, which characterizes understanding as a »laying out« (Auslegung) of whatever is being understood. Clearly, Fink has the »as-structure« (als-Struktur) in Heidegger’s fundamental ontology in mind, and he insists that not all forms of understanding are a »laying out« in this sense. He exemplifies with the unarticulated, non-conceptual, and silent understanding shared by friends and lovers. The form of understanding that Fink has in mind is a mode of knowing that does not conceptually penetrate and »set apart«, because it is not directed towards the realm of individuated things. Instead, from within this realm, which is the realm of the day, it indicates individuation as such in a closed (verschlossen) and silent (verschwiegen) manner, as in the nocturnal knowledge about birth, aging and death. 3 Of course, closing and silence are crucial themes in Heidegger, without which it can be said to be impossible to grasp his thinking. One could even argue that Fink has a narrow understanding of the meaning of understanding in Heidegger. As Marcia Sá Cavalcante Schuback shows, the meaning of understanding in Heidegger must be interpreted from the perspective of the question about how the whole of the existing of existence »is an overwhelming ›happening‹ (Geschehen).« (Schuback 2014, 99) Fink interprets the logos of hermeneutics in terms of a distancing from objects, while, as Schuback »Zunächst fassen wir den Begriff des Verstehens zu eng, zu intellektuell, zu logisch, etwa im Sinne des begrifflichen Durchdringens, der Auseinanderlegung, die im logos geschieht.« (Fink 1992, 70) 3 »Es ist zu vermuten, daß es ein Seinsverständnis nicht nur dort gibt, wo die Begriffssprache herrscht, sondern in einer tieferen Weise auch dort, wo wir in der Furcht des Todes und in der Verzückung der Liebe als der zeitweiligen Aufhebung der Individuation leben. Eine Ontologie, die am λóγος und an der Sprache orientiert ist, ist auf das Feld des individuierten Seienden bezogen. Es ist aber die Frage, ob es nur individuiertes Seiendes und dementsprechend ein Seinsverständnis nur von Individuiertem gibt, oder ob wir mit unserem Seinsverständnis auch hinter das Feld des Individuierten in den Ursprungsgrund der Individuation hineinreichen.« (Fink 2011, 791). »Unser herkömmliches Seinsverständnis ist fixiert in der Seinsauslegung der Sprache, ist im Sprachspiel befangen. Außer diesem Sprachspiel gibt es vielleicht ein tieferes Weltspiel, das wir allerdings heute noch kaum zu denken vermögen.« (Ibid. 792) 2

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contends, in Heidegger »›the point of view‹ of existing is neither a point nor a ›self‹ and even less a ›view‹. It is the sight of the world, the sight ›from within‹ the event of existence existing.« Instead of being a »point of view«, Schuback writes that existence should be interpreted as the transparency of existence in-being (In-Sein), which can also be formulated as the tautology between existence and the clearing of Being, keeping in mind Heidegger’s late description of his phenomenology as a tautological phenomenology of the inapparent in the seminar he held in Zähringen 1974 (Heidegger 1986). This very between is the meaning of understanding in Heidegger, in the sense of a »standing« in the »tensional in-between«, in the trans of the transparency of the world (Schuback 2014, 99). However, to dismiss Fink’s critique on the grounds that he is misreading Heidegger would be to shy away from the philosophical motive behind his critique, whereas this very critique might actually be a contribution to the development of philosophical hermeneutics. In what follows it will be argued that it can in fact become such a contribution because of its emphasis on the importance of incomprehensibility for thinking. Especially in Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, lectured for the first time in 1950/51, Fink discusses the meaning of incomprehensibility in terms of the impenetrable (das Undurchdringliche), in explicit contrast to the primacy of transparency in Heidegger. The impenetrable signifies for Fink a conceptual inaccessibility, a limit for the penetrating presencing of logos that occurs within the horizons of the clearing of Being. In this sense the impenetrable does not only concern understanding but, as Fink already emphasized in Sixth Cartesian Meditation, also pre-understanding, which for Heidegger is the »always already« of transparency in oblivion. Fink describes the conceptual impenetrability of incomprehension in the following way: »The impenetrable must […] beset us through its impenetrability. This happens when our understanding is thrown back upon something incomprehensible which refuses every penetration. There may be many incomprehensible things and events which exceed the reach of human comprehension; however, what concerns us here is not an arbitrary limit for human understanding, but an essential limit. The absolutely incomprehensible [Das schlechthin Unverständliche] is that there are beings at all. We can ›explain‹ things by relating them back to other things, and we can explain events through the events that they have caused; but the original fact [das

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Urfaktum] that there are beings at all is impenetrable, and rejects the obtrusive advances of conceptual thinking.« (Fink 2004, 269 f.) 4

Clearly, with his implicit reference to Leibniz’s famous question regarding the principle of sufficient reason – »Why is there something rather than nothing?« (Leibniz 1951, 527) – Fink does not have an ontic incomprehension in mind, but the »essential limit« of the absolute incomprehensibility »that there are beings at all«. Incomprehensibility can therefore, preliminarily, be said to be an experience of ontological difference that hovers in the between of this difference, between Being and beings, without covering up its abysmal gap. Such covering up is the move of both rationalism and irrationalism. They try to escape the incomprehensibility as such, either through a positivist gesture or through some form of mythologizing, which tries to turn the incomprehensible into something that can be understood in analogy to how things and events are explained in relation to their past and future grounds and reasons. According to Fink, what is not endured in both of these positions is the presence of the incomprehensibility of the whole (das Ganze), not in a quantitative sense, but as the whole of the »original fact« of the all of beings being at all. The impenetrability experienced in absolute incomprehension should therefore not be interpreted in terms of the resistance things exert against an external force. Instead, Fink thinks impenetrability as the medium for all beings: »All beings stand in the medium of impenetrability, which is not in things, but rather enfolds them.« (Fink 2004, 270 f.) 5 The experience of the impenetrability of the all as a medium involves the one trying to comprehend the all in such a way that the effort of the penetrating and separating »laying out« of logos is ruptured. According to Fink this is a rupture of the horizontality that is a »Das Undurchdringliche muß uns zuvor in seiner Undurchdringlichkeit bedrängen. Das geschieht dann, wenn unser Verstehen zurückgeworfen wird auf ein Unverständliches, das jedes Eindringen von sich abweist. So mag es zwar viele unverständliche Dinge und Ereignisse geben, welche die menschliche Fassungskraft übersteigen; aber das ist nicht gemeint; es handelt sich nicht um eine zufällige Grenze der menschlichen Erkenntnis, sondern um eine wesentliche. Das schlechthin Unverständliche ist, daß es überhaupt Seiendes gibt. Dinge können wir ›erklären‹ im Rückgang auf andere Dinge, Ereignisse durch andere, welche sie bewirkt haben; aber das Urfaktum, daß es überhaupt Seiendes gibt, ist undurchdringlich.« 5 »Alles Seiende steht im Medium der Undurchdringlichkeit, aber diese ist nicht an den Dingen; sie hält vielmehr alle Dinge umfangen.« 4

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condition for the logos that seeks knowledge about the incomprehensible from the perspective of the conceptually explicable through continuous transitions between pre-understanding and understanding. Absolute incomprehension explodes the circularity of this natural attitude and awakens existence’s proximity to the incomprehensibility of the appearing of all things, which is not reachable through continuous transitions since appearing enfolds every possible transition as its obscure medium (ibid. 304). Absolute incomprehension can therefore be said to appear as a discontinuity at the heart of the continuity of the event of the existing of existence. This discontinuity is a negative movement between pre-understanding and understanding, the elusive time-space of the world between the heartbeats of existing that reveals an intimacy with the mystery all beings share, which is the »original fact« of their being at all.

2.

Absolute Incomprehension and the Meontic

In the discussion above the formulation of Fink’s understanding of the impenetrability of absolute incomprehension as an experience of ontological difference is described as »preliminary«. This description is justified by the fact that the ontological difference in Heidegger is an important point of departure for Fink’s thinking. However, this is the case because as he interprets it, the ontological difference is the most radical expression of the metaphysics of light that began with Parmenides; Being is the simple (einfach) clearing that withdraws as it lets beings show themselves in the openness of their appearing. The emphasis in Heidegger on Being »letting appear«, on Being as the appearing of appearances, is according to Fink in agreement with the primacy of light in metaphysics, for which privation is essentially an ontic occurrence, and not a movement of Being itself. 6 The impenetrability felt in absolute incomprehension is thereby for Fink not only an experience of the difference between Being and beings. Instead, in the between of Being and beings existence is beset by the privative movement of Being itself, which Fink calls »the night of Being« in contrast to »the day of Being«, the latter corresponding The ontic understanding of privation is according to Fink paradigmatically formulated in Aristotle’s understanding of steresis, which is inseparable from the metaphysical devaluation of movement (see especially Fink 1957).

6

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to Heidegger’s notion of clearing (Lichtung). While the ontological difference is characterized by its opening of horizons for understanding, the privative movement of Being – »the night of Being« – is vertical, in the Heraclitic sense of the verticality of the lightning, when it momentarily illuminates the cosmic strife between the closed nature of the earth and the openness of the sky. How Fink attempts to think »the night of Being« beyond the ontological difference can further be elaborated in relation to his reading of Hegel, more precisely with an attention to his interpretation of the meaning of experience in Hegel, which will also be important when Fink is confronted with Gadamer. The outline of Heidegger’s interpretation of Hegel in especially »Hegels Begriff der Erfahrung« is well known, and will not be treated here (Heidegger 1977). Instead, consideration will be given to what Fink understands to be »unthought« in Hegelian dialectics. Like so many others in 20th century philosophy, Fink attempts to think beyond the reconciling character of Hegel’s dialectics. On the other hand, he does not merely try to do away with the reconciliation at the »end of history«. Instead, he can be said to take seriously Heidegger’s description of Hegel’s dialectics as the fulfilment of metaphysics, but in the sense that he understands this fulfilment to be finite. As Fink sees it, Hegel both presents and represents the exhaustion of the metaphysics of light, which is the metaphysics of logos as the realisation of the transparency of Being »in and for itself«. This turns Phenomenology of Spirit into a recollection of the possibilities of experiencing Being within the horizons of metaphysics. However, because Fink takes seriously the finitude of Hegel’s dialectics, it becomes possible for him to engage in a critical dialogue with Heidegger regarding the »unthought« in this very dialectics. As Fink sees it, Heidegger reads Hegel in a restricted way when he interprets his concept of experience mainly from the perspective of modernity, and thus turns him into a »Cartesian« (Fink 2004, 175). Referring to Hegel’s famous discussion about the Sphinx in his lectures on aesthetics, Fink writes that in Heidegger’s interpretation »Hegel loses the sphinx-like character of being a transition«. 7 Heidegger’s narrow reading ensues because he ignores that the problem of the relation between in-itself and for-itself is not identical to the problem of the relation between essence and appearing (although the introduction to 7

»Hegel verliert den sphinxhaften Charakter des Übergangs« (ibid. 172).

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Phenomenology of Spirit gives this impression, and according to Fink Heidegger’s emphasis on the importance of the introduction contributes to his misreading) (ibid. 182). Fink argues that it is crucial to keep in mind that the difference between in-itself and for-itself belongs to modernity, while the difference between essence and appearing belongs to antiquity. Only then is it possible to see that in Hegel’s thinking both are brought to their limits, in such a way that the touching of these limits shows how the metaphysics of light itself, as a finite whole, becomes a limit-situation (Grenzsituation) (ibid. 174). Experience in Hegel is for Fink, and he is clear about not being fully true to Hegel’s own words here, an »ontological experience« of the self-movement of Being. He describes this movement alluding to Rainer Maria Rilke, in an attempt to simultaneously think Heidegger through Hegel, and Hegel through Heidegger: Being manifests itself through a withdrawal which »passes« to existence the nothingness of its ontological concepts, in such a way that existence has to be able to »play along« in order for a »new ontological interpretation« to leave its hands »as a shining meteor«. 8 For Fink, the crucial thing about the »unthought« in Hegel’s concept of experience is that it encompasses a »becoming nothing« of the understanding of Being. This »nothing« should of course not be interpreted as a nihil negativum, as an absolute nothingness (ouk on). Instead, Fink describes it as an »ontological depreciation« (ontologische Entwertung), which is a movement of »a metabole of Being into Nothing« (ibid. 154, 157). The opposite movement from »Nothing into Being« characterises Hegel’s dialectics. But the »ontological depreciation« is according to Fink the unthought that spurs this very movement, and it is an unthought that can be traced throughout Phenomenology of Spirit. With Hegel’s famous description of the »Bacchantic frenzy« in the introduction to this work in mind, Fink writes that when the »reverse« side of Hegel’s dialectics is emphasized he does not merely »[…] das Sein offenbart seine neue Gestalt nicht, indem es diese dem Menschen einfach zuschickt und er sie nur aufnehmen und zu greifen habe, sondern es zeigt sich gerade im Entzug; es läßt den denkenden Menschen vor dem Nichts stehen; der nichtig-gewordene Seinsgedanke ist die scheinbare Leere, welcher es standzuhalten gilt; die Leere ist der Zuwurf, den als Ball der ›ewigen Mitspielerin‹ der Mensch fangen muß, um ›gültig‹ im Wagnis der Seinswandlung mitzuspielen, derart daß der gefangene Ball als leuchtendes Meteor aus seinen Händen treten kann, als die neue ontologische Interpretation, – wie wir im Anklang an ein Rilke-Gedicht sagen können.« (Ibid. 195)

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appear as the fulfilment of metaphysics, but as »the precursor of a Dionysian experience of Being«. 9 In a surely for many contemporary »Nietzscheans« provocative way he also writes that this brings Hegel »in utmost proximity to Friedrich Nietzsche.« 10 As Fink describes it Hegel is an »Ariadne thread« that makes it possible to follow in Nietzsche’s footsteps and think truth, even in the sense of aletheia, more »critically, distrustfully, suspiciously«; that all things not only belong to the realm of openness under the sky, but that they also are in an »ontic proximity« to »the non-illuminable darkness« (nie erhellbare Dunkel) of the earth. 11 In the »ontological depreciation« at play in Hegel Fink sees the meontic dimension of Being he calls »the night of Being« in contrast to »the day of Being«. 12 This meontic dimension is a weakening of the »[D]er Vorläufer einer dionysischen Seinserfahrung […]«. (Ibid. 183, 198) Ibid. 177. This does not mean that Hegel and Nietzsche coincide in any simple way for Fink, but that a in relation to metaphysics different form of ontological experience is opened in Hegel within metaphysics, which however is not thought by Hegel himself but by Nietzsche. This is how Fink ends his lecture course on Phenomenology of Spirit, which he taught for the first time 1948/48 and a second time 1966/67 (revised): »Das offene, aufgetane Reich der Einzeldinge und ihre sie zusammenschließende Gesamtfügung – und schließlich die durchströmende Seinsbewegung – bilden das Feld des abendländischen Denkens von Parmenides bis Hegel. Der verschlossene, aller Lichtung vorgängige Grund – die Erde jedoch ist das Neuzudenkende der Philosophie und das Ältesterfahrene, des Mythos, ist die Basis, von woher vielleicht einmal eine Auseinandersetzung mit Hegel möglich werden kann – vielleicht gemäß der Forderung von Nietzsches ›Zarathustra‹: Bleibt der Erde treu! –« (Fink 1977, 352) 11 Ibid. 236–238. Fink will develop the meaning of how existence knows about the nightly dimension of the world in terms if an »ontic proximity« in the seminar on Heraclitus which he held together with Heidegger in 1966/67. See also Fink’s discussion about Heidegger’s concept of the earth in Origin of the Work of Art, which is an important inspiration for Fink (Fink 1990, 173). 12 Already in his early notebooks Fink describes Hegel as a meontic thinker, with an emphasis on Science of Logic: »Zu Hegels Satz: ›Das Sein ist das Nichts‹, ist gegen die landläufige ›ontologische‹ Interpretation, daß dies eine Gleichsetzung infolge der Unbestimmbarkeit usw. sei, zu erwidern: der Hegelsche Satz ist der ›oberste‹ Satz einer meontisch-absoluten Philosophie. Wir interpretieren: das Sein ist das Nichts, d. h. das Sein ist das Nichts. Das Nichts ist als Sein Sein als Entnichtung des Nichts. Das Nichts ›ist‹ nur sich entnichtend; es ist Sein. Die Entnichtung des Nichts, die zum Sein führt, nennt Hegel das ›Werden‹. – Werden ist für ihn ein spekulativer Begriff und bedeutet nicht ein seiendes Werden, ein Geschehnis im gewöhnlichen Sinne. Es ist die größte Absurdität, Hegel jenen albernen Begriff des ›Seins‹ zuzumuten, der ein ›starres Sein‹ meint im Gegensatz zu einem ›Geschehen‹ (z. B. heutigen Tags der populäre Gegensatz von ›Sein‹ und ›Leben‹.) Spekulativ betrachtet gehört das Geschehen, Vorgänge, Bewegung ebenso zum Sein wie ruhendes Verharren von ›Substanzen‹. Hegels Be9

10

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strength of the »day« that characterizes ontological experience, a weakening happening when the »night« withdraws the meaning of Being and presents the whole of Being in its incomprehensibility: »Here it is not about the in-itself being beyond knowledge, about the impossibility to reach it through knowledge, but rather about the weakening of the ontological strength of appearing (in opposition to the ontological fullness of essence); here we are captured in the me-ontic and miss the force, the power and the splendour of the authentically-being; but as soon as we think the given as appearing we have transcended it in an empty and unsatisfactory way, through a demand for an essence that has to be sought.« (Fink 2004, 136) 13

Fink writes that Hegel is himself a Platonist in the sense that his dialectics aim to fully sublate me on into ontos on, which is only possible through the operative presupposition that Being is in its essence light (das Sein ansich lichthaft ist), and therefore in a movement towards a realization of its self-transparency. This is according to Fink how Hegel’s words »The essence must appear« in Science of Logic should be interpreted: The »essence« (Wesen), what is hidden, must appear because by its nature it has to reveal itself for itself (ibid. 263 f.). This is the obvious side of Hegel’s dialectics, and it does not help to understand the meaning of absolute incomprehension in Fink. On the other hand, the unthought meontic dimension that Fink sees in Hegel’s concept of experience is crucial for an understanding of how absolute incomprehension is to be thought as a suspension begriff des ›Werdens‹ zielt auf das Quasi-Geschehen der ewigen Geschichte der ›Phänomenologie des Geistes‹, der Selbstverwirklichung des Absoluten als eines Sichanderswerdens in Sichselbstgleichheit. Die ›Identität‹ von Sein und Nichts ist keine ontologische. Ontologische Identität ist eine Seinsstruktur. Die ›Identität von Sein und Nichts‹: ist eine spekulativ-meontische. Das ›Werden‹ ist die Ontifikation, die Emanation des Nichts ins Sein.« (Fink 2006, Z-XV 47a-b) Fink also describes the speculative sentence as meontic in contrast to the ordinary sentence, which is ontic-ontological (ibid. Z-IX 45a). For a thourough discussion about Science of Logic in later Fink see chapter 15 in Fink, 1969. For a discussion about the neo-platonic inspiration in Fink’s reading of Hegel and in his understanding of the meontic see Bruzina 2004, 448, 450, 517. 13 »Hier also handelt es sich nicht um die Wissensjenseitigkeit des Ansich, um die wissensmäßige Unerreichbarkeit, als vielmehr um die herabgeminderte Seinsstärke des Erscheinenden (gegenüber der Seinsfülle des Wesens); wir sind befangen im MeOntischen und vermissen die Kraft und die Macht und die Herrlichkeit des EigentlichSeienden; aber sofern wir das Gegebene als das Erscheinende denken, haben wir es immer schon in einer leeren und unbefriedigten Weise überstiegen mit der Forderung nach einem Wesen, das erst zu suchen ist.«

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tween pre-understanding and understanding. This is the case because according to Fink the very loss of pre-understanding of Being is the meontic movement that existence has to endure, in order not to immediately transcend the exposed »between« through a new »empty and unsatisfactory« search for an essence of Being. 14 Only held out in the »between«, »captured in the me-ontic«, existence senses »the tragic character of Being« as an irreconcilable strife between night and day, between the simultaneous appearing and privation in-being – which solely the absolute magnitude of the world can encompass. This distinguishes the cosmological dialectics that Fink attempts to develop through a thematization of two differences, for the understanding of which the ontological difference is merely an opening. They are the differences between night and day, or earth and sky, and between the world and the inner-worldly (Fink 2004, 316). The site of absolute incomprehension is the crossing of these differences that only appears through a weakening of the conceptual fixation of Being that allows the poles of the crossing to be mediated (vermittelt) through each other. Thus, according to Fink’s meontic interpretation of Hegel, mediation does not put an end to the strife in-Being, but brings it to its outmost severity through conflagration (ibid. 211 f.). In this conflagration absolute incomprehension appears as meontic comprehension, which means that it is a comprehension of the weakening of the understanding of Being. Fink argues that Hegel precisely through his effort to efface the strife in Being reveals this strife. He shows that »the deepest fundament of ›dialectics‹« is the immanently contradictory nature of Being, through which in-itself becomes problematic for-itself, and vice versa, the for-itself becomes problematic in-itself. For Fink the focal point in Hegel’s dialectics is that »it puts the diremption at the beginning of ontological speculation« (Fink 2004, 214) 15, allowing a thinking of Being as originally broken and in strife with itself, in contrast to its ontological simplicity in the metaphysics of light, which is according to Fink still dominant in Heidegger. The meontic weakening of the strength of the appearing essence of Being should therefore not be The word »transcend« is here deliberately used in its Kantian sense, since Fink interprets Hegel from the perspective of an original interpretation of the transcendental dialectics: »Die ›Dialektik‹ der Hegelschen Philosophie ist gegründet in der Heimat des transzendentalen Scheins, in der katabantischen Ohnmacht der ekbantischen Erkenntnis.« (Fink 2006, ZV VI/33b) 15 »[D]aß sie die Entzweiung an den Anfang der ontologischen Spekulation stellt.« 14

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interpreted as a result of a shortcoming of existence, in the sense that it is forced to think the infinite with finite concepts, or that it has to »name« Being in ontic terms. Instead, the tension of the crossing between earth and sky and the world and the inner-worldly can be said to be in-being through a presentiment of a meontic comprehension in absolute incomprehension, as the sublime presencing of the absolute magnitude of the world in existence. In other words: meontic comprehension in absolute incomprehension allows for cosmological dialectics to permeate the »conversation« of logos, as the common life of the cosmic movements that continually turn into each other, appearing in one another through the experience of the unity of life and death in the »Bacchantic frenzy« of Being.

3.

Hermeneutical Experience and Absolute Incomprehension

In the previous section Fink’s notion of absolute incomprehension is discussed in relation to his interpretation of »ontological experience« in Hegel. To a large extent this discussion emphases how Fink sees that his cosmological dialectics differs from Heidegger’s ontology, when he outlines the possibility for a new ontological experience beyond the metaphysics of light, which he thinks still governs Heidegger’s thinking. This is not the place to further develop this confrontation, but it had to be sketched out in order to articulate Fink’s critique of hermeneutics in the context that it is formulated. It has become clear that he understands absolute incomprehension from the tragic perspective of an original diremption of Being, and that the impenetrability of absolute incomprehension is a meontic movement of the night of Being in-existence, which appears through a weakening of the strength of the understanding of Being. In the following Fink’s notion of absolute incomprehension will be discussed in relation to Gadamer’s hermeneutics, with an emphasis on how Gadamer interprets Hegel’s concept of experience for the sake of his own formulation of hermeneutical experience. Gadamer’s development of Heidegger’s concept of pre-understanding centres around his important and very influential liberation of prejudice (Vorurteil) from its negative connotations. To a large extent this is an attempt to question the heritage of enlightenment thinking, according to which all prejudices should be overcome in order for reason to be able to judge in agreement with its universality. 191 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Similarly, in the development of the ideal of objective knowledge in the modern sciences, prejudice is to be excluded from the scientific process of acquiring knowledge about nature. Gadamer does not question the pragmatic validity of such an exclusion of prejudice from, for example, the methods of natural sciences. However, he challenges the claim that takes this view to be valid for human understanding as such. In other words, he questions the more or less explicit philosophical assertion that understanding is per definition knowing without prejudice. In his endeavours to develop a positive notion of prejudice Gadamer shows that the meaning of tradition has to be thought in a more fundamental way than in enlightenment philosophy. For Gadamer tradition is not merely a residue of prejudices, that are supposed to be overcome by an accumulation of knowledge that allows humanity to understand the world through pure observation and quantification. Taking his main point of departure in Heidegger’s descriptions of existence as being in the world, Gadamer develops an understanding of tradition as the necessary horizon for all understanding. In this sense tradition is the very »in« of »being in the world«. Standing in a tradition, the subject always judges from out of this tradition; it always pre-judges from out of the horizons of meaning that shape the tradition in which it stands. Crucially, for Gadamer, this pre-judging is the very condition of possibility for understanding the other, which, if it is another subject, also approaches the subject from the perspective of the horizons of its own tradition. This means that the other subject’s efforts to understand are likewise pre-judging. When the mutual attempts to understand meet through the medium of prejudice, there occurs what Gadamer calls a melting of horizons. This is a »melting together« of prejudices, which transform and develop into new forms of understanding. What is said above is more or less common knowledge about Gadamer’s hermeneutics. In this context, it merely serves to point out the horizontal character that the relation between pre-understanding and understanding has in it, and that this horizontality is determined by a logic of universality and particularity. Gadamer’s endeavours to liberate prejudice from its negative connotations and to show how it is a condition for understanding as such, turns prejudice into the universal structure of understanding, and understanding into the particular that results from a widening of the horizons of prejudice. This does of course not mean that any one prejudice is 192 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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universal. Instead, Gadamer reverses enlightenment thinking; instead of posing understanding as the universal, and prejudice as the particular to be overcome and left behind as a mere relic of the past, prejudice becomes the universal condition for the particular understanding that takes place through melting of horizons. However, this reversal seems to trap hermeneutics within the very logic of universality and particularity that is fundamental to enlightenment thinking. This is the logic of a »will to knowledge«, which is indifferent to the question whether prejudice or understanding is primary, as long as the horizons of knowledge are expanding. This »will to knowledge« is in fact expressed by Gadamer himself in the closing page of Truth and Method: »Thus there is undoubtedly no understanding that is free of all prejudices, however much the will of our knowledge must be directed toward escaping their thrall.« (Gadamer 2006, 484) The interpretation suggested, that the relation between pre-understanding and understanding in Gadamer is determined by a »will to knowledge« in the sense of a will to expand horizons, is confirmed by his reading of Hegel, in the section in Truth and Method where he discusses the concept of experience (Erfahrung) in Phenomenology of Spirit. Gadamer contrasts this concept of experience against the epistemological one, according to which the goal of experience is to be able to be objectified through a methodical process that eliminates »any historical moment« in it. This is based upon a requirement for repeatability that according to Gadamer goes counter to historical experience itself, which is always situated and therefore also unique (ibid. 341 f.). He argues that Hegel shows that experience actually resists this form of generalisation through its negative character, because it reveals that something has not been understood correctly, which is the reason why experience forces one to rethink whatever was previously thought to be true. Gadamer describes this negativity as »the strange productive meaning« of experience, which expands knowledge. He argues that thus with Hegel the historicity of experience comes to its right, because Hegel shows how the experiencing subject arrives at itself, precisely through the negativity of experience that forces it to simultaneously turn towards and beyond the truth content of its previous experiences. Every time such a »turning« takes place, the experiencing subject gains a new horizon of meaning. This very »turning« of experience is as Gadamer formulates it an experience of »nothingness«, in the sense that it shows that what was thought to be, is not the case (ibid. 347 f.). 193 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Where Gadamer says that he departs from Hegel, is regarding the possibility for the process of the »turning« of experience to ever come to an end. This happens in Hegel through the teleological movement of consciousness, when nothing alien is left for it, because it has become completely transparent to itself in »absolute knowledge«. Hegel’s measuring of experience through self-knowledge is the reason why his dialectics of experience must overcome experience. According to Gadamer this differs from hermeneutical consciousness, since it puts a halt to experience as an openness to new experiences (ibid. 350). This openness is however saved if one insists on holding on to the moment of negation in experience: »Thus the historical nature of man essentially implies a moment of fundamental negation, that emerges in the essential relation between experience and insight.« (Ibid. 350) 16 The experience of negation in the very process of experiencing is for Gadamer how the subject gains insight about its own finitude: »Thus experience is experience of human finitude. The truly experienced person is one who has taken this to heart, who knows that he is master neither of time nor the future. The experienced man knows that all foresight is limited and all plans uncertain. In him is realized the truth value of experience. If it is characteristic of every phase of the process of experience that the experienced person acquires a new openness to new experiences, this is certainly true of the idea of being perfectly experienced. It does not mean that experience has ceased and a higher form of knowledge is reached (Hegel), but that for the first time experience fully and truly is. In it all dogmatism, which proceeds from the soaring desires of the human heart, reaches an absolute barrier. Experience teaches us to acknowledge the real. The genuine result of experience, then—as of all desire to know—is to know what is. But ›what is,‹ here, is not this or that thing, but ›what cannot be destroyed‹ (Ranke).« (Ibid. 351)

The »absolute barrier« of understanding is for Gadamer the limit of a horizon, in view of a new horizon. Following Jean-Luc Nancy this can be said to be an expression of Gadamer’s understanding of communication as a form of appropriation through anticipation of meaning (Nancy 1990). This stands in stark contrast to the notion of absolute incomprehension in Fink. First of all, this is the case because Gadamer can be said to think the limit ontically, in a way following Hegel’s »So enthält das geschichtliche Sein des Menschen als sein Wesensmoment eine grundsätzliche Negation, die in dem wesenhaften Bezug von Erfahrung und Einsicht zutage tritt.« (Gadamer 1990, 362; transl. mod. K. K.)

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famous critique of Kant according to which the limit is the posited that is always already surpassed by the reason positing it. In this sense, the limit is relative and tradition is the medium for its continuous overcoming through the expanding movement of the negations that lead from pre-understanding to understanding. Nancy describes how this structures the hermeneutical circle as a relation to a lost origin: first the hermeneutical circle is marked by an original lost immediacy, second there is an intervention of a substitute for this immediacy, which is followed by a negation and conservation of the substitute. In this sense the hermeneutical circle can be nothing but the movement of an origin, and a preservation of the origin through sublation. According to Nancy this turns hermeneutics into »the history of permanence and remanence«. 17 In this movement, there is no encounter with the impenetrable in Fink’s sense, with the »original fact« of beings being at all, the obscurity of which is not a question about the relative limits of man’s finite horizons of understanding. Instead, the impenetrability of absolute incomprehension impedes all horizontal expansion, through a vertical exposure of existence as »the wound of the world« (Wunde der Welt) in the strife between earth and sky (Fink 2006, Z-XII 20d, 24a). In Gadamer, the conceiving of pre-understanding never loses its universality, because the very particularity of understanding furthers the universality of pre-understanding precisely by questioning it. In Fink, the impenetrability of absolute incomprehension suspends the very possibility of a transition between universality and particularity, thereby breaking up what he considers to be the closed character of the hermeneutical circle of understanding. When absolute incomprehension is interpreted in this way it becomes inseparable from Fink’s formulation of astonishment (Staunen), which exposes existence »between knowledge and non-knowledge« (zwischen Wissen und Nichtwissen). The astonishment of absolute incomprehension is like a Nancy stresses that the hermeneutical circle in Heidegger is not a circle of preunderstanding in this sense, but the event of presence that opens the past and the future and that therefore also opens the very possibility of interpretation, simultaneously withdrawing from the plenitude of meaning that is anticipated. In proximity to Fink, Nancy understands the announcement of meaning in terms of enthusiasm (when he discusses Ion). When the poets are enthusiastic they are »out of their minds«, which means that they do not interpret the meaning that they announce. The rhapsode, who is in the middle between the poets and the spectators, reveals that the announcement is always shared, but nor from the distance of interpretation.

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meontic fire of the world (Weltbrand) in-existence, turning tradition problematic by weakening the bonds of unquestioned meaning. This is also how Fink interprets Hegel’s notion of »the inverted world«, the inversion being the meontic movement of absolute incomprehension that awakens existence to the »Bacchantic frenzy« of existing (Fink 1976, 62–65). 18

4.

Absolute Incomprehension as Singularization

The difference between Fink and Gadamer regarding their understanding of the importance of negativity for thinking, which for Gadamer is a question about determinate negation and for Fink a question about meontic privation, is reflected in their very divergent concepts of play. This is stressed by Mihai Spariosu in Dionysus Reborn: Play and the Aesthetic Dimension in Modern Philosophical and Scientific Discourse. He writes that even if Gadamer criticizes the subjectification of play in Kant and Schiller, he shares their rationalistic understanding of play, which leads him to emphasize the orderly character of play that gives it an identity and makes it communicable. As Spariosu shows this differs strongly from Fink’s Heraclitic and Nietzschean perspective, for which play is a violent expression of »will to power«. While Gadamer emphasizes how play creates a structure out of chaos, Fink asserts the contingency of play – »the throw of the dice« – as the very force of play that not only affirms the creativity of the event of the appearing of a play-world, but also sees the child-like lightness of destruction of play-worlds as essential to the phenomenon of play. The difference between the two thinkers is obvious in Gadamer’s review of Fink’s Play as Symbol of the World where he, as Spariosu rightly observes, completely ignores the cosmic dimension in Fink’s concept of play when he questions its non-teleological character (Spariosu 1989, 139, 142). 19 Despite their differences there may be a proximity between Gadamer and Fink regarding their interpretation of »the inverted world« in Hegel. See Gadamer’s interpretation of this notion as satire, as a »self-inversion of the world« that reveals »the untruth of the world of ›ideals‹« (Gadamer 1975, 417). 19 See Gadamer’s review of Spiel als Weltsymbol in Gadamer 1961. His critique of Fink similar to the moralism that Emmanuel Levinas directs against Fink in Otherwise than Being, where Levinas writes that Fink’s notion of the play of the world requires a freedom without responsibility, which he contrasts to his own concept of 18

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On a similar basis Gadamer criticizes Fink’s understanding of enthusiasm, as a movement of existence that reveals the ecstatic nature of its being-a-way (Weg-Sein) in a non-teleological sense (Fink 1947). Fink makes a distinction between this enthusiastic movement and what he calls a »purely human rapture« (Begeisterung). Gadamer accuses Fink for not providing any criteria to distinguish the »bad madness« of »purely human rapture« from the »good madness« of enthusiasm (as Gadamer formulates it). He writes that Fink discusses both the »purely human rapture« and enthusiasm through a concept of power that cannot do justice to the »being outside oneself«, when he describes the former to be a merely human expression of power and the latter to be an overwhelming power (Gadamer 2006, 167). Also in this context Gadamer, knowingly or unknowingly, opposes the strong Nietzschean accent in Fink. The difference between the »purely human rapture« and enthusiasm is that the former is a mere expression of human power, through which man confirms his position in the world. In contrast, Fink’s understanding of the being-away of enthusiasm should be interpreted in a heraclitic sense. Enthusiasm reveals that »Up down way: one and the same« (Kahn 1981, 75). That life and death, Dionysus and Hades, are »the same« and that the existing of existence is the event of the very simultaneity of this »sameness«. In contrast, the »purely human rapture« has a »human all too human« telos, which inevitably aspires to expel death from life through an effort to ground a definite position in the world. A thorough interpretation of Fink’s concept of play and enthusiasm must be developed elsewhere. However, these concepts touch on something crucial in his understanding of the meontic dimension in absolute incomprehension – which is the presencing of death in life. This presencing is not a question about the relation between the universal and the particular that according to Fink permeates hermeneutics. Rather, following Reiner Schürmann, it can be formulated as

fraternity and the responsibility for the other, which according to Levinas carries the universe (Levinas 1998, 116). This sharp contrast between the gravity of responsibility and the lightness of play is a typical trait of Levinas’ thinking. For Fink play touches the question about the groundless movement of the world in existence, in which gravity and lightness come together when man appears not to be the carrier (Träger) of the world. Of course, the antipathy in Gadamer and in Levinas against Fink’s understanding of play has to do with its strong nietzschean accent »beyond good and evil«.

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the problem of the singular, which is always a thantic interruption of the life that is lived in oblivion of death. Previously, it was emphasized that Fink formulates absolute incomprehension as tragic. In Broken Hegemonies Schürmann develops an understanding of tragedy in terms of singularization. He describes singularization as a withdrawal from the logic of universality and particularity that mark the »hegemonic phantasms« determining the epochal character of the understanding of Being. The phantasms are hegemonic because they appear as if they were unconditioned, with the power to determine the particular as a case of an unconditioned universality. The withdrawal in tragedy reveals an absence of any reconciliation between these universalizing claims of principles and reasons and the singular. In other words, the tragic shows a resistance in the singular against turning into a particular case. The singular does not obey what the hegemonic phantasm signals that it should be as a particular, it does not give in to the semblance that the hegemonic imperative conveys it to express (Schürmann 2003, 4 f.; 10). Interpreted in Schürmann’s terms, absolute incomprehension in Finks’ sense singularizes in such a way that the very correspondence between universality and particularity reveals itself to be phantasmatic. What is revealed can even be described as a transcendental illusion. 20 Expressed with Schürmann’s words singularization is always thantic, and as such it »deprives sense itself of sense«. This loss of meaning does not imply a complete disappearing of meaning, but the appearing of totalizing meaning as illusion (Schein). In this appearing there remains a relation to hegemonic meaning, but it becomes impossible to think or act in the name of it, which creates a double bind between hegemony and singularity (ibid. 12). Strongly inspired by Nietzsche, and in consonance with Fink’s thinking, Schürmann writes that it is not possible to turn only to the singular, since illusion (Schein) is necessary for life. Pure singularity would be death (ibid. 23). Therefore, the double bind should rather be conceived as the tragic spacing of life through the presencing of meontic comprehension in absolute incomprehension, when existence is exposed to In Schürmann hegemony turns the singular into a particular and appearance (Erscheinung) into a signifier, which constitutes phenomenality as a totality by organizing it around a phantasmatic reference that appears as if it were a first principle (ibid. 11).

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the finitude of meaning and, as Schürmann formulates it, is »devoured by negative experience« (ibid. 35). Absolute incomprehension in Fink is the time of the »coming singularization« (ibid. 14; 25). It is the time that reveals the tragic conflict to be the forgotten brokenness in the grounds of hegemonic principles and reasons, throwing existence out of the closed circularity of the logic of universality and particularity.

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Krystof Kasprzak Kahn, Ch. H. (1981): The Art and Thought of Heraclitus: An Edition of the Fragments with Translation and Commentary, transl. C. H. Kahn, Cambridge. Leibniz, G. W. (1951): »The Principles of Nature and of Grace, Based on Reason«, in: Ph. P. Wiener (ed.): Leibniz Selections, New York. Levinas, E. (1998): Otherwise than Being, or, Beyond Essence, transl. A. Lingis, Pittsburgh. Nancy, J.-L. (1990): »Sharing Voices«, transl. G. L. Ormiston, in: G. L. Ormiston & A. D. Schrift (eds.): Transforming the Hermeneutic Context: From Nietzsche to Nancy, Albany. Schuback, M. Sá Cavalcante (2014): »Exile and Existential Disorientation«, in: T. Lane & M. Schuback (eds.): Dis-Orientations: Philosophy, Literature and the Lost Grounds of Modernity, London. Schürmann, R. (2003): Broken Hegemonies, transl. R. Lilly & R. Schürmann, Bloomington. Spariosu, M. (1989): Dionysus Reborn: Play and the Aesthetic Dimension in Modern Philosophical and Scientific Discourse, Ithaca.

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Die Welt und das Ereignis des Erscheinens Bemerkungen zu einem zeitgenössischen kosmologischen Ansatz 1 Karel Novotný

Finks denkerischer Einfluss ist gegenwärtig besonders deutlich in einem Projekt zu spüren, das mit dem Buch Die Dynamik der Manifestation aus dem Jahre 2013 zu einem systematischen Höhepunkt gelangt ist. Der Autor dieses Projekts, Renaud Barbaras, greift Impulse von Fink auf, wobei dieser jedoch zumeist nicht direkt zitiert wird, sondern eher vermittelt wirkt. Der Beitrag weist auf Parallelen und Unterschiede beider Denkansätze hin und kommt zu einem Schluss, der die Rolle der Leib-Körperlichkeit betont: Die Dynamik der Manifestation erwächst trotz der Übermacht der Welt aus einem Bezug des endlichen Lebens zur Welt und ist von der Erde getragen, die in diese Dynamik selber weder eingeht noch in ihr aufgeht. Wenn auch die Erde diesseits der erhellten Welt der Manifestation verbleibt, so verweist das Ereignis dieser Auflichtung – das Erscheinen als solches, das bereits Subjektivität impliziert, auch wenn es vom Schenken und Nehmen seitens der Erde von dieser her nicht erklärt werden kann – doch auf die Erde, weil die implizierte Subjektivität nicht anders als leiblich-irdisch lebt.

Einleitung Der denkerische Einfluss Eugen Finks ist gegenwärtig ganz deutlich in einem Projekt zu spüren, das mit dem Buch Die Dynamik der Manifestation aus dem Jahre 2013 zu einem systematischen Höhepunkt gelangt ist. Der Autor dieses Projektes, Renaud Barbaras, Professor an der Universität Paris I, greift die Impulse des deutschen Denkers auf, wobei Fink jedoch zumeist nicht direkt zitiert wird, sondern eher vermittelt wirkt. Renaud Barbaras hat sich zunächst als Interpret des Spätwerks von Merleau-Ponty einen Namen gemacht, mit dem Buch Der Aufsatz ist entstanden im Grant-Projekt »Leben und Umwelt. Phänomenologische Bezüge zwischen der Subjektivität und der natürlichen Welt« (GAP 15–10832S).

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Das Sein des Phänomens (Barbaras 1991), anschließend hat er sich immer intensiver und näher mit dem Werk Jan Patočkas beschäftigt, nicht zuletzt, um dabei auch an eigenen Thesen zu arbeiten, was man besonders in seinem Buch Die Offenheit der Welt (Barbaras 2011) erkennen kann. 2 Es ging Barbaras also immer, auch in den anderen Autoren gewidmeten Texten, um das Entwickeln eines eigenen systematischen philosophischen Ansatzes, welcher zum ersten Mal mit dem Buch Das Begehren und die Distanz aus dem Jahre 1998 vorgestellt wurde. Was seine Themen sind und wie sie der Philosophie Eugen Finks begegnen, das verraten allein schon die genannten Titel. Dabei spielen die Themen »Erscheinen« und »Welt« in allen seinen Büchern eine zentrale Rolle. Das Erscheinen als solches bemüht sich Barbaras dezidiert und derart zu entsubjektivieren, dass er es auf die Welt in ihrem eigenen – vom Bewusstsein unabhängigen – Werden zurückführt. Dabei ist diese Prozessualität der Welt nicht das Resultat einer Konstitution in einem (wie auch immer impliziten) Welt-Bewusstsein. Ganz im Gegenzug versucht Barbaras – durch Fink inspiriert – den folgenden Gedanken zu etablieren: Was klassisch gefasst im Erleben als Erscheinen subjektiv geschieht, wie zum Beispiel der Gabevorgang durch Abschattung des sinnlich Wahrnehmbaren, leitet sich von einem Prozess ab, dessen »Träger« nicht das Erleben, sondern die Welt ist. Mit anderen Worten, das erlebte Erscheinen entstammt einer Prozessualität, in der die Welt selbst besteht. Oder noch einmal anders gesagt: Es leitet sich von einem Geschehen ab, das die Welt ausmacht. Das Erleben als Erscheinen ist lediglich dessen »Verlängerung« oder subjektive Aufnahme. Und doch prägt das Moment der Subjektivität – das nicht aus dem Geschehen der Welt herkommt und das daher anders gedacht werden muss – das erlebte Erscheinen mit, auch wenn der Ursprung der Phänomene eben nicht subjektiv sein soll. Wie ist der Status dieser Welt zu denken? Sie soll Ursprung aller Phänomenalität sein, auch ihrer abgeleiteten oder sekundären Modalität des Erscheinens in der Korrelation mit dem Erleben, nicht aber Ursprung einer wesentlichen Dimension dieser Modalität – der Subjektivität. Worin besteht diese Subjektivität und woher stammt sie? Im ZusamDieser Untertitel lehnt sich an die Formulierung an, mit der Jan Patočka seinen Aufsatz »Weltganzes und Menschenwelt« über Fink untertitelt hat (Patočka 1970). Barbaras stützt sich in einem zentralen Teil seines Konzeptes der Phänomenalität auf Patočkas Bezugnahmen auf Fink (vgl. Barbaras 2007; 2011)

2

202 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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menhang mit dieser Frage tritt dem Begriff der »Welt« in den neueren Arbeiten Barbaras’ der Begriff des »Ereignisses« zur Seite. Umso rätselhafter wird dann aber zugleich das Verhältnis zwischen beiden. Darin ist – noch sehr grob gesehen – trotz einer großen Nähe zu der kosmologischen Überwindung der klassischen Phänomenologie Husserls durch Fink ein Unterschied zwischen Barbaras und Fink zu erkennen. Während für Fink das »Ereignis« auf die Seite der Welt selbst gehört, ist es für Barbaras eine Bezeichnung dafür, was zwar der Welt zuteil wird, ihr selbst aber nicht eigen ist und in diesem Sinne sozusagen als etwas ihr Fremdes geschieht. Fremd ist es deshalb, weil es nicht aus der Welt kommt. Indem es sich ereignet, entspringt Subjektivität, aber wo sie auftritt, ist sie notwendig weltlich, denn es gibt nichts außerhalb der Welt. Das Moment der Subjektivität wird der Welt, die es nicht aus sich selbst hervorbringen kann, gleichsam angetan, und doch ist sie – in sich selbst, außerhalb der Welt – an sich selber nichts und fügt der Welt nichts hinzu. Für Barbaras bezeichnet das Ereignis dieses ›Nichts der Subjektivität‹. Für Fink ist die Welt Alles und Nichts. Und so ist es für beide Denker zweifellos die Welt – und keine Subjektivität –, die Erscheinendes zum Erscheinen bringt. Was ich mit meinem Beitrag leisten möchte, ist die Frage nach einer Art Vermittlung zwischen beiden Positionen: das Erscheinen als ein Ereignis zu fassen, welches die Subjektivität der Welt eröffnet, die durch den Weltbezug zugleich sich selbst begegnet. Das Ereignis würde hier weder der Welt zugeschrieben, wie bei Fink, noch allein dem Moment der Subjektivität zugrunde gelegt, wie bei Barbaras. Das »Ereignis« würde dafür stehen, dass es etwas nicht nur gibt, sondern dass es eben erscheint. Was sich dem Erscheinen entzieht, ist dabei nicht nur die Subjektivität, sondern auch die Welt.

1.

Der Monismus der Welt im Kontext

Insbesondere mit dem bereits erwähnten Buch Die Dynamik der Manifestation, aber auch schon mit dem vorhergehenden systematischen Entwurf einer Einführung in eine Phänomenologie des Lebens (Barbaras 2008), geht Barbaras einerseits konsequent gegen das in Frankreich sehr berühmte und einflussreiche Projekt Michel Henrys vor, der in Das Wesen der Manifestation aus dem Jahre 1964 mit seinem Nachdruck auf dem selbstaffektiven Leben der Subjektivität 203 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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als Ursprung und Wesen des Erscheinens seinerseits eine Alternative zu Merleau-Ponty, Heidegger und a fortiori zu Fink aufstellte, insofern diese Denker die Phänomenalität jeweils auf das Offene der Welt als ihren Ursprung beziehen. Da Henry dadurch den Rahmen der französischen Phänomenologie der Gegenwart tief geprägt hat – wie dies auch an der Bestimmung des Erscheinens als einer »donation« noch bei Jean-Luc Marion offenkundig wird, dürfen wir diesen Rahmen als einen »engeren« Kontext begreifen und sagen: Barbaras stellt mit seinem Ansatz bei der Welt eine klare Opposition zur Lebensund Phänomenalitätsauffassung Henrys her, indem er die schöpferische Kraft der Phänomenalisierung der transzendentalen Subjektivität resolut entzieht und alles Phänomenale der Übermacht der Welt unterstellt – ähnlich, wie eben Eugen Fink es unmissverständlich tut. In einem breiteren Kontext, der über die internen Divergenzen der Phänomenologen untereinander hinausgeht, wie etwa in den Debatten der französischen Phänomenologie-Kritik der letzten Jahrzehnte (Post-Strukturalismus, Deleuze, Neorealismus jetzt bei Quentin Meillassoux u. a.), bringt Barbaras durch seinen starken monistischen Nachdruck auf der Welt allerdings – für die neue Phänomenologie, nicht nur in Frankreich, etwas unerwartet – klassische Motive ins Spiel zurück. Bereits Barbaras’ »gegenwärtiger kosmologischer Ansatz« stellte diesbezüglich eher eine Ausnahme in der phänomenologischen Philosophie der Gegenwart dar, und das Gleiche kann man auch von seinem Schritt in die Metaphysik sagen, der darauf folgte. Was Barbaras anzustreben scheint, ist nämlich keine Überwindung der klassischen Phänomenologie, die durch eine Radikalisierung ihres anti-metaphysischen Potenzials auf eine neue Phänomenologie aus ist, wie man das bei anderen Autoren kennt (etwa bei Jean-Luc Marion oder Marc Richir, die das Erscheinen als solches von metaphysischen Denkfiguren möglichst zu befreien suchen). Zwar wird auch bei Barbaras unter derartigen Denkfiguren vor allem jener mit dem modernen Subjekt der Neuzeit auftretende Dualismus zentral angegriffen, mit der Absicht, eine fast vollständige Resorption der leistenden Subjektivität in die Welt hinein durchzuführen, aber doch so, dass dabei ein »radikalisierter« ontologischer »Monismus« re-etabliert wird. Welches Konzept von »Welt« könnte diesem Anspruch Rechnung tragen? Eine kosmologische Überwindung der transzendentalphänomenologischen Reduktion der Welt auf ein Korrelat des Bewusstseins soll auch die Transzendenz des Erscheinenden und vor allem eben der Welt selbst in den Vordergrund rücken und die für das 204 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Erscheinen wesentliche Distanz noch überbieten, ohne die es unmöglich wäre. So legt Barbaras es auf der methodischen Ebene der phänomenologischen Analyse der Korrelation immer wieder am Gabevorgang des Wahrgenommenen durch Abschattungen sehr plastisch nahe: Das Wahrgenommene, aber auch die Welt selbst, ist in den Abschattungen seiner sinnlichen Gegebenheit da – und doch zugleich und grundsätzlich nie ganz. Ja, die Welt selbst zieht sich stets und wesentlich zugunsten der jeweiligen Abschattung und des sich darin Abschattenden zurück (vgl. z. B. Barbaras 1998; 2013). Doch zugleich gilt es, die Welt auch von dieser an die Zentrierung in Subjekten gebundenen Gegebenheitsweise noch zu befreien, denn diese Struktur gehört noch der Korrelation an, ist also nach wie vor auf das einverleibte Erleben und seine durch Inkarnation zentrierten Perspektiven bezogen – auf Perspektiven also, die der Welt selbst kaum zu unterlegen sind, durch welche wir jedoch ihrer Nähe und Ferne gewahr werden. Bereits hier also müssen die ersten Differenzierungen ansetzen, denn die Manifestation der Welt bezeichnet nicht das Gleiche wie das Erscheinen eines Dinges, wo sich die einzelne Erscheinung als Abschattung vom Horizont als Hintergrund abhebt, der hier nie anders als in dieser Funktion mit da ist. Doch die Welt selbst ist daran nicht notwendig gebunden. Andererseits gilt: Auch wenn die Manifestation der Welt für Barbaras eine »onto-genetische Bewegung«, ein »Welten« (mondification) bedeutet, dann doch stets im Verhältnis zu einem innerweltlichen »Sediment« dieser Bewegung, zum Seienden als Phänomen. Und damit hängt das klassische korrelative Gegebensein von etwas auf dem Hintergrund der Welt(-Horizonte) zusammen, es stellt den Gabevorgang, die Bewegung der Manifestation, von einer Seite dar, in der eben schon ein Adressat, eine leibliche Subjektivität impliziert ist. Im Blick auf die Frage, wie diese Subjektivität in jene noch »anonyme« »onto-genetische Bewegung« der Welt selbst hineinkommt, muss auch der kosmologische Plan, der einen Überstieg der klassischen Korrelation darstellt (was schon an sich sehr schwierig ist) seinerseits noch überstiegen werden. Von diesem zweiten Überstieg aus kann auch rückwärtig die Frage beleuchtet werden, wie das Verhältnis zwischen der Manifestation der Welt und dem Binnenweltlichen, das einem Subjekt erscheint, zu denken ist; von deren Verschränkung in der Korrelation der Phänomene den Subjekten gegenüber nahm ja die phänomenologische Fragestellung ihren Ausgang und hat dies für Barbaras auch weiterhin zu tun. 205 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Barbaras fängt bei Husserl an, der die universale Korrelation cogito – cogitatum etabliert, deren Modell die Wahrnehmung – also der Gabevorgang durch Abschattungen – ist. Die Abschattungen geben einen Gegenstand auf dem horizontalen Hintergrund der Welt, aber so, dass dabei weder die Gegenstände der Welt noch diese selbst vollkommen gegeben werden können. Die Wahrnehmung ist prinzipiell unabschließbar und weist auf eine Unendlichkeit auf beiden Seiten der Korrelation des Gebens hin, auf die unerschöpfliche Tiefe der Welt auf der einen Seite, und auf das unendliche, weil unstillbare Begehren des Lebens, die Welt zu erreichen, auf der anderen. Der gegenständlichen Korrelation liegen somit eine Bewegtheit des Lebens – das Begehren – und die Bewegung der Welt zugrunde. Barbaras geht es nun darum, diesen Grund als einen gemeinsamen Boden der beiden Korrelationsrelata zu denken, der die Korrelation und ihre Korrelata sein lässt, ohne sie zu Attributen einer Substanz oder zu Abspaltungen von einer Bewegung zu machen. Daher der Schritt von der Phänomenologie der Korrelation, die noch in einem Dualismus von Erleben und Objekt zu hängen droht, zu einer Ontologie, die eine Verwandtschaft oder Gemeinschaft beider Relata von einem gemeinsamen Boden etablieren würde. Der Schritt geht also in eine Richtung, die sowohl von dem Weg einer Reduktion auf die transzendentale Subjektivität als auch von dem einer naturalisierenden Reduktion des Erscheinens auf binnenweltliche Prozesse abweicht. Gegen die transzendentale Phänomenologie gewendet heißt das: Es geht nicht nur darum, die Angehörigkeit der Phänomenalisierung zur Welt einseitig so zu fassen, dass das Erleben der Phänomene anhand der motivierten Bewegung des Erlebens durch Abschattungen immer weiter in die Horizonte der Welt hineingebunden wird, weil sich die Welt auf diese Weise doch immer noch nur in ein Korrelat des transzendentalen Lebens auflösen würde. Die Korrelation zwischen dem Erleben des Erscheinens und dem Erscheinenden muss vielmehr auch umgekehrt von der Seite beleuchtet werden, dass die weltliche Verankerung des phänomenalisierenden und darin transzendentalen Lebens anhand der Korrelation verstanden wird. Man könnte sagen, es soll ein fundamentales »In-der-Welt-Sein« gedacht werden, das dieser Korrelation vorangeht und sie ermöglicht, aber eben fundamentaler noch, als es die Fundamentalontologie Heideggers und ihre spätere Vertiefung im Seinsdenken tun, insofern sie das Primat des Sinnverstehens beibehalten. Die Suche nach der Verwandtschaft oder Gemeinschaft verläuft bei Merleau-Ponty und auch bei Barbaras 206 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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zunächst über die phänomenologische Analyse der sinnlichen Implikate auf beiden Seiten der Korrelation. Doch wie kann zwischen der Sinnlichkeit der Welt und der Sinnlichkeit ihres Erlebens eine andere als eine naturalisierte Gemeinschaft oder Verwandtschaft etabliert werden, eine, die die Differenz zwischen beiden verringert oder gar einebnet? Die Phänomenalisierung muss nach Barbaras ursprünglich der Welt selbst oder ihrem Werden gleichgesetzt werden, daher darf sie nicht als Produkt der Subjektivität gefasst werden. In diesem kosmologischen Ansatz kommt nicht nur jedes Seiende allein weltlich vermittelt phänomenal »als etwas« hervor, ist also nicht nur im Sinnhorizont bzw. der Bewandtnisganzheit der Welt gegeben, wie es noch bei Husserl oder dem frühen Heidegger der Fall ist. Vielmehr kommt alles Seiende, um zu sein, d. h. auch (aber nicht nur) »als etwas« zu erscheinen, aus der Welt als ihr eigenes »Produkt« hervor. In diesem Sinne bezeichnet Barbaras die Manifestation auch als die ontogenetische Bewegung der Welt, wobei hier die Genesis in der Individuierung des Seienden durch eine primäre Phänomenalisierung, also eine Art Manifestation zustande kommt, die noch keinen Adressaten des Erscheinens impliziert. Es geht also darum, die Welt als einen Prozess des Werdens zu denken, der alle Dinge und gleichermaßen alle Subjekte in sich begreift und jeweils aufeinander bezieht. In seinem bisher letzten Buch Das Begehren und die Welt fasst Barbaras drei Bedeutungen der Welt zusammen: »Im Schoße dieses Prozesses können insgesamt drei Weltsinne unterschieden werden: Es gibt die Welt als Grund, sozusagen die Quelle und das Subjekt des Prozesses; es gibt die Welt als eine differenzierte Vielfalt, die sich aus dem Herausgehen aus dem Grund ergibt; schließlich gibt es die Welt als eine Totalität, insofern die Undifferenziertheit des Grundes nicht aufhört, sich in dem fortzusetzen, was sie bricht. Diese ist nichts anderes als das Sediment oder die Spur der Unabtrennbarkeit des Grundes im Schoße des Mannigfaltigen, das vom Grunde herkommt, oder anders gesagt, sie ist nichts anderes als das gemeinsame Element, welches das Seiende in seiner Entknüpfung selbst miteinander verknüpft, das undifferenzierte Gewebe, welches sie stets verbindet und daran hindert, vollkommen individuiert zu werden.« (Barbaras 2016b, 146)

Daran schließt sich eine explizite Präzisierung: »Es muss gleich hinzugefügt werden, dass diese Dreiheit eine abstrakte ist, da die Welt eben die Einheit dieser drei in einer Welt ist, da sie der Prozess selbst

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ist, von dem die drei Weltsinne nur Modalitäten sind, die von ihm abgeleitet wurden.« (Ebd. 147) Man könnte diese ersten Zitate gewissermaßen als Motto über jene Zusammenfassung stellen, die Eugen Fink in seinem programmatischen Vortrag über »Welt und Geschichte« formuliert: »Aber die Dimensionen der Welt, das helle Land der Unterschiede und das dunkle, unsägliche Land der All-Einheit liegen nicht nebeneinander wie zwei Seiten eines Dinges. Die Weltdimensionen sind ineinander verschränkt in einer unaufhörlichen Bewegung, für welche wir keine ontischen Gleichnisse haben. Es ist die große Welt-Bewegung des Erscheinens, das die endlichen Dinge ins Offene aussetzt und nach der zugemessenen Weile des Währens in den gestaltlosen Grund zurücknimmt.« (Fink 1976, 178)

Das ist die Bewegung, auf die beide Denker mit ihren Kosmologien hinauswollen. Und beide stellen das Bestreben, diese Bewegung wieder zu erreichen, in das Zentrum ihres Denkens, das damit zugleich auch das Wesen des menschlichen Lebens mit erfassen möchte: Das Leben als Begehren, das ständig, so Barbaras, durch diese Überfülle, aber auch unerreichbare Tiefe von der Übermacht der Welt angezogen wird, oder, wie es bei Fink heißt, umgriffen und ergriffen ist vom Andrang der Welt, aus der Tiefe ihres dunklen Grundes. Das primäre Erscheinen oder die Manifestation sind dabei nur ein selbst prozessuales, vorübergehendes Medium. Der Ursprung der Manifestation wird in einem solchen kosmologischen Ansatz sowohl bei Fink als auch bei Barbaras zwar konsequent aus der klassisch gedachten Subjektivität evakuiert und in der Welt verortet. Dabei wird die Distanz als phänomenaler Wesenscharakter der Welt selbst jedoch nach Barbaras aus dem Weltbezug der lebendigen Wesen erschlossen. Was phänomenologisch noch als eine Bewegtheit des Begehrens in die Welt hinein beschrieben werden kann, hat eine ontologische oder kosmologische Bedingung in ihrer Tiefe, denn die Dynamik des Gabevorgangs durch Abschattungen findet ihre Bedingung im Charakter des sich Abschattenden selbst – bereits des Dinges und umso mehr der Welt, als die Welt schon in der Dingerscheinung zurücktritt, um diese zu ermöglichen. Die Tiefe der Welt zieht das Begehren des Lebendigen gleichsam an sich und in sich hinein. Daher die Umarbeitung der Idee des Chiasmus, wie sie der späte Merleau-Ponty formuliert, in der Kosmologie bei Barbaras; sie gilt diesem nun als ein Ineinander der Bewegung der Welt, die (wie bei Fink) in einem Hervortreten des Seienden aus einem dunklem 208 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Hintergrund in die Helle der Manifestation besteht, und der subjektiven Bewegung des begehrenden Leibes in die Welt hinein, die in den gleichen Vorgang der Manifestation gehört, anstatt ihn subjektivistisch zu verdoppeln oder umzukehren. Das Erscheinen als Erleben fügt der Manifestation laut Barbaras nichts hinzu und doch ändert sich durch das Erscheinen alles. Ich habe jedoch den Eindruck, dass die im engeren Sinne phänomenalisierende Dimension – das Erscheinen als solches – weder von einem bewusstseinsreflexiven noch von einem kosmologischen Ansatz aufgeklärt werden kann: Zwar kann durch die Welt vieles keimartig verbunden werden, aber der Bezug des Lebens auf die Welt im Erscheinen, also das Erscheinen als solches, das im Leben erfahren wird, lässt sich nicht aus der Gabe der Welt ableiten. Es ist eher die Bedingung für eine solche Gabe, so wie eben die Subjektivität, die für Barbaras erst mit dem metaphysischen Schritt in ein Ereignis verbunden ist. Da es ohne diese Subjektivität kein Erscheinen gibt – aber auch keine Subjektivität ohne das Erscheinen! –, bietet sich die Hypothese an, dass weder das Moment der Subjektivität noch das Erscheinen für eine Subjektivität aus der Welt zu fassen sind, und beides verweist in seinem »Weder-Noch« auf etwas, wofür – in einer metaphysischen Konstruktion – das Ereignis stehen kann. Daher der Titel meines Beitrages: »Welt und Ereignis des Erscheinens«. Barbaras’ Wende hin zu einem Prinzip – eben dem Ereignis –, das seinen radikalisierten Monismus zugleich relativiert, zwar nicht auf ontologischer, wohl aber auf der metaphysischen Ebene der Reflexion (so wie Barbaras diese Ebenen unterscheidet), führt uns zu eigenen Überlegungen.

2.

Das Ereignis des Fremden: die Subjektivität

Die für das Begehren des Lebens nach der Welt konstitutive unaustilgbare Distanz hat zwar ihren Ursprung in der Welt selbst, ist also keine bloße Projektion, sondern ein Wesenscharakter der Welt. Aber die unerschöpfliche Tiefe der Welt öffnet sich als Transzendenz doch erst für ein Begehren, das heißt in einer Beziehung, deren Voraussetzung eine Differenz bleibt, ein Riss, eine scission, durch welche die Subjektivität allererst ankommt, und die phänomenal anhand der gegebenen Korrelation zwischen dem Begehren der Welt und der Welt selbst bezeugt wird. Von den Phänomenen der Korrelation geht auch 209 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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die Phänomenologie bei Barbaras aus und sie sucht dieser Korrelation die Treue zu halten. Das Begehren geht nicht über die Welt hinaus, die Bezogenheit auf sie wird nie (wie etwa bei Levinas) aufgebrochen, im Gegenteil: Nach Barbaras tritt die Welt im Begehren des Lebens gleichsam in einen Bezug zu sich selbst. Aber – und hier möchte ich ein Fragezeichen setzen: Geschieht all das im Erscheinen als solchem, das insofern nicht auf die Welt zurückgeführt werden kann, als es erst vom Ereignis der scission, also von der Subjektivität aus ihr »Wie« erhält, eine Qualität also, die die Welt an und für sich nicht kennt? Demnach ereignete sich allererst mit der Subjektivität auch die Manifestation als das Erscheinen selbst. Das Ereignis der Abspaltung schafft die Möglichkeit einer Umwendung der Manifestation und somit das Erscheinen. In diesem Sinne enthält auch das Erscheinen als solches etwas vom Charakter des Ereignisses. Die Fremdheit kommt mit dem lebendigen Wesen in die Welt, als einem Subjekt. 3 Und dieses Hineinkommen kann nicht auf die UrBewegung der Welt oder des Ur-Lebens selbst zurückgeführt werden. Was bei Husserl als ein Urfaktum der Subjektivität begriffen werden konnte (Tengelyi 2014), wird bei Barbaras in einer metaphysischen Perspektive als Ur-Ereignis betrachtet, das die Welt (in einem doppelten Sinne) ›an-geht‹, jedenfalls eine metaphysische, weil unbegründbare Spaltung, eine Dualität, ja möglicherweise sogar einen Dualismus in sie einzeichnet. Die Hypothese, die sich anhand dieser metaphysischen Wiedergewinnung der Subjektivität als einer nicht reduzierbaren Instanz konstruieren ließe, lautet: Dieses Ur-Ereignis geschieht als das Erscheinen selbst. Vom Ereignis des Erscheinens selbst eröffnet sich nicht nur das Bewusstsein, das Erleben mit seiner eigenen selbstbezüglichen Dynamik, die auf keine Welt zurückzuführen ist, sondern es eröffnen sich auch alle Korrelate dieses Erlebens, die Dinge und ihre Welten mit ihren vom Begehren angestrebten »Hinterwelten«, Ur- und Abgründen. Zwar kann man die Selbstbezüglichkeit – also das Moment der Subjektivität als solcher – von Fink spricht seinerseits vom Menschen als »verlorenem Sohn der Natur, [als] Fremdling«, wobei diese Ausgesetztheit [des Menschen] aus dem Ganzen« als »eine Bedingung der Möglichkeit seines Verhältnisses zum Ganzen« betrachtet werden muss. Auch für Fink beruht die Subjektivität, also »Selbständigkeit«, »gewissermaßen auf dem Unterbrechen der hinströmenden Lebenswoge, in einem Hinaustreten aus dem hen kai pan, auf einer ›Isolation‹« – also »auf einem Ruck« (Fink 1992, 174), wobei dieser als ein Geschehen charakterisiert wird, in dem »der Mensch sich losreißt aus dem mütterlichen Grunde« (ebd. 175).

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210 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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keinem Ereignis ableiten, aber die Umwendung der Manifestation ins Erscheinen kann man sich auf diese Weise doch sehr gut vorstellen. So ist es aber bei Barbaras nicht gemeint. Er spricht vom UrEreignis der Spaltung, die jedoch keine Diskontinuität zwischen Welt und Lebewesen im Medium der Phänomenalität einbringt. Was mit dem Ereignis der Spaltung in diesem Medium geschieht, soll im Gegenteil die Verlängerung und Umwendung eben dieses (Welt-)Prozesses sein, die keine Änderung in ihn einzeichnet. Nach Barbaras affiziert das Ereignis zwar diesen Prozess, aber er bleibt dennoch derselbe. Das Erscheinen, das sich dem Ereignis verdankt, ist von hier aus betrachtet nichts anderes als die Manifestation. Oder mit anderen Termini: Es ist dasselbe Leben, einmal kosmologisch als Ur-Leben betrachtet, das andere Mal als endliches Leben, welches (phänomenologisch betrachtet) das unendliche Ur-Leben durch das Erscheinen hindurch begehrt. Die Differenz liegt nicht auf der ontologischen Ebene der Phänomenalität, die als physis gedeutet wird. Also muss es einen Bereich diesseits oder jenseits der Phänomenalität geben, aus dem die Subjektivität stammt: den der Metaphysik. In dem, was sich nicht manifestiert, ist das Subjekt etwas anderes als die Welt. »Das Gebiet einer Seinsgemeinschaft zwischen dem Subjekt und der Welt, das Gewebe, das durch das Ur-Ereignis zerrissen wurde, konnte in der Tat als physis charakterisiert werden, im griechischen Sinne einer produktiven Macht, die sich von ihren Werken nährt, eine Art natura naturans. Wenn das Ur-Ereignis das Negative in diese physis einbringt, auf die Weise einer Privation ihrer Macht, so bleibt es ihr nichtsdestoweniger vollkommen fremd, ja es kann das Negative überhaupt nur in sie hineinbringen, weil es ihr fremd ist. Die Macht, die im Herzen der Ur-Bewegung waltet, kann sich in der Tat keineswegs selber verneinen oder einschränken: Sie ist eins mit ihrem eigenen Vollzug, d. h. mit der vollen Affirmation ihrer selbst. In diesem […] Sinne – insofern es fremd ist in der Ordnung der physis und diese daher transzendiert – kann sich das Ur-Ereignis auf nichts anderes beziehen als auf eine Metaphysik.« (Barbaras 2013, 273)

Das Erscheinen geschieht nicht, damit die Welt – das einzig sich Manifestierende – zu sich selbst kommen kann, so wie etwa bei Hegel das Erscheinen der Selbstoffenbarung des Geistes dient. Derart spekulativ-metaphysisch soll das Verhältnis von Manifestation und Erscheinen nicht gedacht werden. Doch ist das Erscheinen für Barbaras eine »Falte«, eine Transformation oder Umwendung der Manifestation, da nur die Manifestation, also allein die Welt selbst und kein Subjekt, alles und jedes zur Erscheinung bringt. Die Frage ist aber nun: Wie 211 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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kommt es zu dieser Umwendung? Die Antwort lautet unserer Meinung nach: eben durch das Ereignis des Erscheinens, wenn es denn zutrifft, dass diese Umwendung durch nichts in der Manifestation der Welt (also in der Welt selbst) vorbereitet oder motiviert ist. Von der Welt aus betrachtet ist auch das Erscheinen nichts anderes als Manifestation, es ist dasselbe. Hier weichen nun unsere Überlegungen von denen Barbaras’ ab, sofern es in unserer Perspektive sehr wohl eine Negativität gibt. Barbaras hingegen möchte bei dieser Negativität nicht stehenbleiben: Erst durch das Ur-Ereignis der Spaltung (scission), durch die ein Teil der Welt vom Ganzen separiert wird, wird der Platz für das Subjekt geschaffen, welches in seiner Subjektivität nicht in seinem Sein (das weiterhin weltlich bleibt und nicht anders sein kann) verbleibt, sondern ein Loch (trou) oder eine Lücke (lacune) in das Gewebe der Welt reißt. Das Subjekt ist ebenfalls ein individuiertes Seiendes und damit ohnmächtig in Bezug auf die primäre Manifestation, das heißt: Es bringt ebenfalls kein Erscheinen hervor, auch das sekundäre Erscheinen nicht, das auf es hin zentriert wird, denn alles, was so oder so erscheint, stammt aus der Übermacht der Welt. Dieses Her- oder Zum-Vorschein-Kommen ist nichts anderes als die Ur-Bewegung der Welt. Dazu ein Zitat: »Das Subjekt kann nur in dem Maße aktiv durch sein Begehren auf die Welt zugehen, wie es auf sie zurückkommt, da die Wirklichkeit seiner Bewegung ganz und gar auf einer fundamentalen Beweglichkeit fußt, die zunächst die Beweglichkeit der Welt selbst ist. Weil die Bewegung des Subjekts von der Bewegung der Welt herstammt, kann es sich auf die Welt zubewegen und sie auf diese Weise erscheinen lassen.« (Barbaras 2013, 151)

Lebensphänomenologisch bedeutet das: »Es ist unsere Bewegung, die uns zu lebendigen Wesen macht, zugleich ist sie letztlich keine andere als die Bewegung des Lebens selbst.« (Ebd.) Das Erscheinen als solches kann als Weltprozess allein nicht erhellt, geschweige denn aus den binnenweltlichen Prozessen kausal erklärt werden. Es lässt sich weder auf die Leistung der erlebenden Subjektivität zurückführen, die (Kant variierend) ›leer‹ ist, noch auf das Treiben der Welt, denn dieses ist ›blind‹. Das Wort für das, wofür uns die Worte fehlen, wenn wir das Erscheinen fassen wollen, ist das »Ereignis«. Das Ereignis des Erscheinens, das weder Natur ist noch Geist, könnte negativ zwischen zwei Beschreibungen situiert werden, die Barbaras anbietet, zwischen der Ewigkeit des Kosmos bzw. des Ur212 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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Lebens, aus dem alles bzw. alle lebendigen Wesen stammen, und der Zeit des Erlebens. Dies glaube ich aus zwei Passagen, die ich im Folgenden zitieren werde, rekonstruieren zu können: »Nur das Ur-Leben des Weltprozesses ist ewig, da es das Hervorbringen dessen ist, was immer schon da ist, oder weil es als Ankunft schon da ist: Die Ewigkeit des Ur-Lebens ist im Grunde nur ein anderer Name für die absolute Ursprünglichkeit der Welt, ein Name, der seiner konstitutiv dynamischen Dimension ausdrücklich Rechnung trägt. Über die Welt zu sagen, sie sei die ursprünglichste Gabe, heißt genau dasselbe, wie zu sagen, ihre Bewegung sei ewig, die Ewigkeit sei dem Ur-Leben eigen.« (Barbaras 2013, 187) »Die Zeit [dagegen] […] ist ein Zug oder Charakter des Erscheinens und zwar genauer […] des sekundären oder subjektiven Erscheinens: Sie ist auf keinen Fall ein Zug oder Charakter des Seins. Trotzdem, auch wenn die UrBewegung zeitlos ist, auch wenn sich die Zeit durch unser Verhältnis zur Welt ereignet, ändert das nichts daran, dass es die Ur-Bewegung ist, die sich ereignet, und dass sich die Zeitlichkeit als Zeitlichkeit der Ur-Bewegung ›gibt‹. Anders gesagt, die Zeitlosigkeit der Ur-Bewegung ist kein Hindernis dafür, dass sich die Ur-Bewegung der Zeitigung hingibt, und dass sie sozusagen den Boden oder die ontologische Bedingung der Zeitlichkeit bildet.« (Ebd. 188)

An diesem Punkt könnte eine komparative Arbeit ansetzen, die den Aufriss der Unterschiede zwischen den Projekten von Eugen Fink und Renaud Barbara zum Ziel hätte, eine Aufgabe, die den Rahmen meines Beitrages sprengen würde. Wenn bei Fink wiederholt die These formuliert wird, es sei »das eigentümliche Wesen der Welt«, dem Seienden Raum zu geben und Zeit zu lassen (z. B. Fink 1990, 34), dann scheint die zuletzt zitierte Passage bei Barbaras dieser These – zumindest in Bezug auf die Zeit – zu widersprechen.

3.

Ereignis und Erde bei Fink

Auch wenn nach dem kosmologischen Weltbegriff Finks die Welt als »das umgreifende Ganze, welches alle Orte und alle Zeiten umfängt […] selbst keinen Ort und selbst keine Dauer« hat, so ist dieses WeltGanze doch »nicht jenseits von Raum und Zeit«, im Gegenteil: »es ist vielmehr gerade räumlicher und zeitlicher als alles, was in ihr [der Welt] vorkommt« (Fink 1990, 33). Mit diesem Raum und dieser Zeit hängt für Fink das »Erscheinen« – das, was Barbaras als primäre Ma213 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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nifestation beschreibt – auf das Engste zusammen: »Zwischen dem verschlossenen Grund der Erde und der ›lieblichen Bläue‹ des Himmels ist das Reich der Erscheinung, das Reich des Heraustretens ins Offene der Welt. Raum und Zeit und Erscheinen hängen hier offenbar in einer wesentlichen Weise zusammen. Raum und Zeit und Lichtung sind ein einheitliches Wesen.« (Ebd.) Renaud Barbaras betont zugleich, dass die in seinem Konzept unterschiedenen Weltsinne eine dynamische Einheit bilden. Wo also zweifellos eine Brücke zwischen Finks Ansatz und demjenigen von Barbaras zu finden wäre, ist die dynamische Auffassung der Welt als eines Werdens: »Es ›geschieht‹ der Raum, die Zeit, das Erscheinen«, schreibt Fink in derselben Vorlesung etwas später (ebd. 205). In seiner Prägung durch Heidegger besetzt Fink den Begriff des »Ur-Ereignisses« an dieser Stelle allerdings anders als Barbaras. Für ihn weist das Werden der Welt auf das Aufgehen des Seins: »Das Sein […] ist das Werden selbst. Sein und Werden fallen zusammen. Das Sein ist kein vorhandener Block, keine Ansammlung, kein Vorgang: es ist als der urspringende Aufgang für alle Dinge und Vorgänge; Sein ist, indem es als Welt waltet. Welt ist das Aufgehen des Seins. Für dieses UrEreignis, das allen Dingen und Begebenheiten erst den Spielraum gewährt, haben wir keinen rechten Namen und wir können keinen haben […].« (Ebd. 204)

Wollten wir dennoch versuchen, diesem Ereignis des Werdens einen Namen zu geben, könnten wir die folgenden Worte Finks heranziehen: »Am schwersten ist der Bewegungscharakter der Welt zu begreifen.« Dennoch ist evident, dass der Unterschied zwischen der Ur-Bewegung des Weltwerdens und dem Ur-Ereignis der Abspaltung der Subjektivität von der Welt hier nicht mit der Begrifflichkeit Finks in Einklang gebracht werden kann. Wenn Fink zum Beispiel schreibt: »Raum, Zeit und Erscheinen sind das ursprünglich-wesende Urereignis des welthaft aufbrechenden Seins« (ebd. 205 f.), wird das Ereignis eindeutig dem Werden der Welt zugeschrieben, also jenem Werden, welches auch bei Barbaras als »Welten« bezeichnet wird, durch das Seiendes ins Sein gelangt. Im Blick auf die Bewegung der Welt schreibt auch Barbaras von einer Proto-Spatialisierung (Barbaras 2013, 324 f.), die mit der Individualisierung der lebendigen Subjekte vor sich gehe – allerdings eben noch ohne Bezug auf die Zentren der Orientierung in den Leib-Körpern. Das Problem, das sich dabei erneut für eine phänomenologische 214 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Die Welt und das Ereignis des Erscheinens

Sichtweise ergibt, ist die Frage, was mit dem Ereignis der Subjektivität in Bezug auf die Umwandlung der Manifestation in das Erscheinen passiert. In diesem »räumlichen« Moment scheint es an Relevanz zu gewinnen, denn das Erscheinen etwa als Gabevorgang durch Abschattungen (und das ist das Modell des Erscheinens, von dem Barbaras mit Husserl und Merleau-Ponty immer wieder seinen Ausgang nimmt) ist doch wesentlich mit der Zentralität der Perspektiven, also mit Subjekten als Adressaten der Manifestation verbunden, die dadurch zum Erscheinen transformiert oder ›verlängert‹ wird. Welche Rolle spielt dabei das Ereignis der Subjektivität, wodurch es allererst zu Subjekten kommt, und welche Rolle spielen umgekehrt die individuierten Körper dafür, dass sich solche perspektivischen Zentren im Sinne subjektiver Leib-Körper als Adressaten der Manifestation/des Erscheinens bilden? Ohne das Ereignis der Spaltung, ohne Subjektivität wären sie keine Leib-Körper, »Nullpunkte der Orientierung« und Perspektiven des Erscheinens, sondern lediglich manifeste, also individuierte Dinge in der Welt. Doch um diese Genesis des Raumes, um ein solches »erstes Gesicht« des Raumes für den Leib-Körper und seine kinästhetischen Systeme, geht es im Projekt der Kosmologie eben nicht. Es geht vielmehr darum, sich in die Perspektive der Welt selbst zu versetzen, nicht von den Sedimenten ihrer Bewegung im sekundären Erscheinen, sondern vom primären Erscheinen aus in die Manifestation des Grundes selbst hineinzufinden. Es gilt also, von den ›Deformationen‹ durch die subjektive Bewegung des Erscheinens eher abzusehen, als sie für verbindlich für das Werden der Welt zu halten. Zwar mag es so scheinen, dass uns auch das große Spiel der Welt nur als Leib-Körper angeht. Denn wäre es nicht sonst nur eine Sache des spekulativen Denkens (nicht des Lebens!), nach einer Welt zu suchen, die uns leiblich nicht(s) angeht? So könnte man zweifeln. Aber die Kosmologie denkt eben tiefer. Bei Fink ist jeder Ding-Raum, davon ausgehend und allgemeiner gefasst jeder Orts-Raum und darin eingeschlossen eben auch »der auf den Leib hin orientierte Um-Raum« (Fink 1990, 199) als vom Raum als Weltcharakter noch umgriffen, ermöglicht und gegeben zu fassen. Und ganz ähnlich verhält es sich für ihn auch mit der Zeit: »Die Zeitinterpretation nimmt zumeist ihren Ausgang beim InderZeitsein von Seiendem; und dieser Ansatz bestimmt folgenschwer das Zeitverständnis. Zeit wird ähnlich wie der Raum als ein Stellensystem für die Dinge

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genommen, als eine Sphäre, worin das Seiende sich breitet und dehnt. So aber ist die Zeit die gezeitigte Zeit. Sie wird nicht zur Weltzeit, wenn wir diese Dingzeit ins Unendliche verlängern – aber auch nicht, wenn wir in die ›Zeitlichkeit des Daseins‹ zurücksteigen, und dort eine ursprünglichere Zeitdimension auffinden wollen. […] Aber was noch viel entscheidender ist, auch nicht der bloße Abstoß vom Binnenweltlichen, das Hinausstehen über alles Seiende auf das umfangende Ganze zu, ist die rechte Bahn. Wo Welt, wo der Weltraum und die Weltzeit sozusagen nur angedacht werden, in der Negation des Binnenweltlichen, gemeint werden als das Umfangende, das vom Umfangenen wesensverschieden ist, dort kann, wenn es hochkommt, nur die Unerreichbarkeit der Welt erfahren werden als unerreichbar für das metaphysische Denken, das vom Seienden ausgeht – und sich vielleicht noch davon abstößt. […] Die Selbstverdeckung von Raum und Zeit, ihr Sichzeigen am Binnenräumlichen und Binnenzeitlichen, ist gerade eine fundamentale Weise, wie sich die Welt dem Zugriff des metaphysischen Denkens entzieht.« (Fink 1990, 201 f.)

Bei Barbaras finden wir nicht genau dieselbe Sachlage wieder, zweifellos nicht dieselbe Bahn und Begrifflichkeit, aber doch einen vergleichbaren denkerischen Drang, die Tiefe der Welt als Ursprung und Grund des Erscheinens philosophisch neu zu ent-decken. Um die Differenz der beiden Denker in der doch sehr nahen Sache zu illustrieren, möchte ich abschließend eine Zusammenfassung der entsprechenden Darstellung bei Barbaras zitieren: »So erweist sich unsere Position als denkbar entfernt von jedem Subjektivismus und Transzendentalismus, einschließlich ihrer existenzialen Form, in der sie sich heute verbergen. Wenn die Welt in einer Hinsicht in der Zeit ist, dann ist in der Tat ebenso und zunächst die Zeit in der Welt, […] insofern sie sich nicht anders in das Wesen der Welt einschreiben kann als so, dass sie auf eine absolute Weise in ihr auftaucht, begünstigt von einem Ereignis, welches nicht zeitlich ist, insofern es den metaphysischen Ursprung der Zeit in einer Welt darstellt, welche, auch wenn sie wesentlich dynamisch geschieht, in sich selbst doch der Zeit fremd ist. In diesem Sinne ist der Raum tiefer als die Zeit: die Zeit setzt notwendigerweise einen Raum voraus, den sie insofern betrifft und ›angeht‹, als sich das Ur-Ereignis nicht anders gibt als in der Form einer immensen Metamorphose in dem, was bereits da ist. Die Zeitlichkeit nimmt ihren Platz in diesem Proto-Raum in Form jener Bewegung ein, durch welche die Zeit versucht, die ur-ereignishafte Spaltung zu überwinden, die ihre ruhige Ewigkeit des Lebens beendet hat, durch die sie versucht, sich zu sammeln.« (Barbaras 2013, 328)

Etwas Ähnliches könnte man auch bei Fink finden, allerdings in Bezug auf die Erde, die aus dem Entwurf von Barbaras doch herauszufallen scheint. Die Stelle, die ich hier als Beleg zitieren möchte, 216 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Die Welt und das Ereignis des Erscheinens

weist zum Schluss jedoch auf das Moment hin, in dem auf den ersten Blick die größte Differenz beider Ansätze geahnt werden kann, das Moment des verschlossenen Grundes der Erde, was bereits zu Beginn dieses Abschnittes erwähnt wurde (Fink 1990, 33). In einer sehr inspirierenden Lesart von Cathrin Nielsen finden wir eine Annäherung zwischen dem Motiv des Raumes als der ursprünglichen Dimension des Kosmos und der Erde: »Die Erde ist als der vorgeschichtliche Raum und Boden, auf dem wir stehen, der alles ins Licht wachsen lässt und sich zugleich dunkel-verschlossen dagegen abhebt, das Irdische schlechthin, aber ein Irdisches, das von seinen Gewächsen her (Fink spricht vom ›Binnenweltlichen‹) unfassbar bleibt. Es zeigt sich zunächst als ›Materie‹, als bloßer Stoff und dingliche ›Vorhandenheit‹, aber diese zunächste Ansicht verdeckt ihre eigentümliche Ständigkeit und Schwere, die darin besteht, dass sie der Zeit nicht enthoben, sondern gleichsam anfangs- und endlos in-der-Zeit, ja, als der vorübergehende ›Zeit-Anhalt‹ diese selbst ist, aber so, dass sie ihre Gegenwart zugleich schon immer räumlich unterwandert. Das Räumliche als eine die drei Zeitekstasen tragende und in sich aufnehmende Dimension (gr. chora) umfasst alles Werden von Etwas; es gibt ihm den dunklen Rückhalt und Boden. In diesem Rückhalt bleibt die Erde gleichsam ›das Unbewegte in allen Bewegungen‹ [Fink 1957, 180].« (Nielsen 2011, 172)

Wir können hier das Programm einer solchen Auseinandersetzung zwischen den beiden Denkern über die Andeutungen in den wenigen Zitaten hinaus nicht weiter vorzeichnen – das soll Renaud Barbaras in einer seiner zukünftigen Arbeit am besten selber tun. Unsere Aufgabe war es, auf die Präsenz des Anliegens von Eugen Fink in einem zeitgenössischen kosmologischen Ansatz aufmerksam zu machen, dem von Renaud Barbaras. Es galt, einige Spuren ihres gemeinsamen Anliegens, in den Ursprung, das alles tragende Geschehen der Welt selbst vorzudringen, sichtbar zu machen. Die Dynamik der Manifestation, das heißt bei Barbaras: die Welt, löst alles Seiende in sich auf; bei Fink dagegen scheint dieses Werden einen Boden zu haben, der nicht verzehrt, der in die Phänomenalisierung nicht eingehen und durch sie aufgelöst werden kann: die Erde als das Unbewegte, als der in sich verschlossene Abgrund. 4 Um noch einmal den ausgezeichneten Aufsatz von Nielsen zu zitieren:

»Alle Dinge gründen in der einen Erde; alle bestehen aus Erde, aber Erde nie aus Dingen; sie ist das unvordenklich Eine, aus dem das viele und besondere Seiende aufgeht […]; der ur-eine Abgrund, der durch die Vielheit […] nicht zerspalten und zer-

4

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»Statt des induktiven Fortganges innerhalb der ›gelichteten‹ Welt der Gründe und Ursachen, der von der (bekannten) Nähe in die (offene) Ferne ausgreift, hält Fink an der räumlichen und zeitlichen Unermesslichkeit der Erde als dem proteron und d. h. der reinen Ermöglichung schlechthin fest, die sich in den scheinbar transzendenzlosen und bloß ›vorhandenen‹ Dingen des Irdischen verbirgt. Sie erzwingt den umgekehrten Gang aus der Ferne in die Welt der nächsten Dinge, aber nicht aus der metaphysischen Ferne der ersten Gründe und Ursachen, sondern aus der des ›fragwürdigen dunklen Zusammenhanges von der Zeit zum Raum, vom Himmel zur Erde, von der Lichtung zum verschlossenen Grund‹ [Fink 1960, 114].« (Nielsen 2011, 173)

Diese Erde ist dem metaphysischen Denken als Grund verschlossen, sie ist jedoch im Leben als Boden aller Körperlichkeit ständig da. Wenn sich die Erde dem Erscheinen entzieht und auch der Manifestation der Welt zugrunde liegt, ohne ihr Produkt werden zu können, dann gilt etwas ähnliches auch für die Subjektivität, die aufgrund ihrer irreduziblen Leib-Körperlichkeit erst durch den Widerstand der Erde gesetzt wird. Diese Setzung scheint am Rande der Dynamik und der Bewegung der Manifestation zu geschehen und das Ereignis des Erscheinens oder Erhellens der Welt nur faktisch zu bedingen. Als Ereignis der körperlichen Setzung der Subjektivität kann sie zugleich nicht aus der großen Korrelation der Welt und des Lebens herausfallen.

Schluss Die These, kein Erscheinen sei möglich ohne die Welt, ist zweifellos nachvollziehbar. Nicht nur im klassischen Sinne dieser Position, wonach die einzelne Erscheinung nur vor einem Hintergrund, von einem Horizont aus gegeben wird, der letztlich – als ein umfassender Sinnzusammenhang – »Welt« genannt werden kann. Man kann die These auch in dem Sinn intuitiv nachvollziehen, dass jede einzelne Erscheinung nicht nur als Sinnbildung diakritisch auf Sinnhorizonten beruht, sich also von ihnen abhebt und individualisiert, sondern auch in ihrem Erscheinen als solchem nicht gleichsam »in der Luft« schwebt – um es naiv realistisch auszudrücken –, ganz so, wie der Leib-Körper durch die Erde getragen wird, ohne dass dieses Tragen rissen wird, sondern sie ruhig an sich erträgt.« (Fink 1977, 293; zitiert nach Nielsen 2011, 172)

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Die Welt und das Ereignis des Erscheinens

auf dieselbe Weise erschiene, wie sich Dinge zeigen, die da, auf diesem Boden hier stehen oder liegen, die als diese oder jene in der Welt sind und wirken. So würde die Welt über ihr Wirken als Sinnzusammenhang hinaus das Erscheinen tragen. Das Tragen selbst wie auch das ›Tragende‹ würden also selber nicht erscheinen, und doch wären sie auf eine subtile und zugleich fast materielle Weise im Erscheinen mit da. Fink schreibt im Blick auf die Gegenüberstellung von Erde und Welt bei Heidegger: »Was ist denn nun diese Erde, die der Welt so gegenübergestellt wird? Nicht die Erde als Planet; nicht der kleine Wandelstern, den wir bewohnen. ›Erde‹ meint hier das Elementare, das Undurchdringliche, das alle Offenheit erst trägt. So wie wir auf dem Boden der Erde leben und darauf das helle, gelichtete Reich kennen, wo die Dinge alle abgegrenzt sind in ihrer Besonderheit, so ist jede geschichtliche Menschenwelt aufruhend einem verschlossenem Grund, der nur als verschlossen in das Offene hereinsteht. Es ist sehr schwer, in einer kurzen Anzeige zu sagen, was die Erde ist. Am ehesten fassen wir sie als die elementarische Natur, als den dunklen Urgrund, der alles trägt, aber in seinem Tragen undurchsichtig bleibt.« (Fink 1990, 173)

Es ließen sich hier weder dieses Tragen und Erscheinen noch die Menschenwelt von der Erde ableiten, wohl aber Bezüge zwischen ihnen anzeigen. Und eben dies unternimmt Fink auf unterschiedliche Weise immer wieder von neuem. Die Fremdheit und Anonymität der Welt, von der im kosmologischen Ansatz die Rede ist, kann dann – wenigstens bei Barbaras – nicht so weit gehen, dass sie mit der Korrelation des Erscheinens und des Erscheinenden gar nichts zu tun hätte. Bei Barbaras wird in der Welt jedenfalls ein gemeinsamer Boden der Relata der Korrelation gesucht, die als Relation von Erscheinen und Erscheinendem gegeben und zugänglich ist. Die Relation geschieht also als ein Erscheinen, das nicht als Produkt auf eines der Relata zurückgeführt werden kann. Es ist ein nicht durch Subjekte geschaffenes Erscheinen, aber insofern es erlebt wird, kann es zugleich nicht restlos von der Bewegung der Welt ableitbar sein. Positiv ausgedrückt würde die Hypothese, die meine Lektüre leitete, so lauten: Man müsste konsequent vom Ereignis des Erscheinens und nicht von einer Bewegung der Welt selbst ausgehen, denn erst vom Erscheinen aus (oder mit ihm) entzündet sich das Begehren der lebendigen Wesen nach Welt, auch wenn diese, wie Barbaras betont, ihr Sein wie jedes andere Seiende auch restlos der Bewegung der Welt verdanken. Nur bezieht sich das menschliche Leben auf sich selbst und auf die Welt, was nicht von allem weltlichen Sei219 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

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enden gesagt werden kann, und es tut dies dank einer Subjektivität. Wie kommt es zu dieser Subjektivität? Sie entspringt dem Ereignis der Spaltung, welches die Welt affiziert, was dazu führt, dass in ihr gleichsam Löcher aufreißen, von denen aus die Welt begehrt und sekundär (perspektivisch) phänomenalisiert wird, nämlich von den Zentren der perzeptiven Perspektiven aus, die sich dadurch zugleich allererst als Leib-Körper konstituieren. Durch sie erfahren wir unsere irdische Verankerung in der Welt, die uns daher (etwas) angehen kann. Es ist allerdings die Frage, ob sie uns ausschließlich als primäre Manifestation – d. h. als »Produktion« der erscheinungsmäßigen Einzel-Onta in der individuierenden Bewegung des Hervortretens aus dem dunklen Grund des Ungeschiedenen, noch in sich Verschlossenen und Fremden angeht – oder ob uns bereits dieser Grund selbst angeht, in sich verschlossen, fremd und noch diesseits der Phänomenalisierung. Das scheint bei Fink der Fall zu sein. Und auch Barbaras bahnt sich dazu in einer »Metaphysik des Sentiments«, der bisher letzten Phase seines Werkes, einen eigenen Weg. Um an diesem letzten Punkt unsere Darstellung abzuschließen, komme ich noch einmal auf die weiteste Korrelation zurück, auf das Begehren der Welt. Nur wenn die Welt uns zugleich fremd ist, kann sie begehrt und nicht lediglich genossen und bedürfnishaft gebraucht werden. Wenn sie das Begehrte ist (wobei das Begehren eben die transzendentale Bedingung der ungegenständlichen Manifestation der Welt im Erscheinen ist, nicht nur des Erscheinens des Seienden in der Welt, sondern durch die weltlichen Onta hindurch auch der Manifestation der Welt selbst), dann reichte die Transzendenz der Welt dennoch nur so weit, wie mein Begehren reicht. Wie kann ich aber die unendliche Tiefe als die Welt begehren, wenn sie prinzipiell jenseits dessen liegt, was sich mir sinnlich gibt? Die Tiefe des Sinnlichen findet ihre Grenze in dem, was ich noch begehren kann. Die Transzendenz der Welt als diese Tiefe ist noch an eine derartige Korrelation gebunden. Für die Tiefe des unpersönlichen anonymen Elements gilt jedoch: Je mehr sie als das Fremde in der Welt gespürt wird, desto weniger kann das Fremde in diesem Spüren begehrt werden – aber statt dessen kann um so mehr die Welt begehrt werden. Hier lässt sich der Unterschied zwischen den Kosmologien Barbaras’ und Finks, den wir am Element der Erde aufgezeigt haben, das in Barbaras’ Dynamik der Manifestation nicht restlos aufgelöst werden kann, erahnen. Doch hinsichtlich der von mir so genannten »weitesten Korrelation« weist Fink zugleich auf die »Große Sehnsucht« der 220 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Die Welt und das Ereignis des Erscheinens

Seele bei Friedrich Nietzsche hin und auf das »Lieben des Grundes, der schenkt und nimmt« (Fink 1990, 209). Die Dynamik der Manifestation erwächst trotz der Übermacht der Welt aus einem Bezug des endlichen Lebens zur Welt und ist von der Erde getragen, die in diese Dynamik selber weder eingeht noch in ihr aufgeht. Die Erde bleibt diesseits der erhellten Welt der Manifestation, und das Ereignis dieser Auflichtung – das Erscheinen als solches, das bereits die Subjektivität impliziert, auch wenn es vom Schenken und Nehmen durch die Erde her nicht erklärt werden kann – verweist doch auf die Erde, weil die implizierte Subjektivität nicht anders als leiblich-irdisch lebt.

Literatur Barbaras, R. (1991; 2001): L’être du phénomène. Sur l’ontologie de MerleauPonty, Grenoble. – (1998): Le désir et la distance. Introduction à une phénoménologie de la perception, Paris. – (2007): Le mouvement de l’existence. Études sur la phénoménologie de Jan Patočka, Chatou. – (2008): Introduction à une phénoménologie de la vie, Paris. – (2011a): L’ouverture du monde: Lecture de Jan Patočka, Chatou. – (2011b): La vie lacunaire, Paris. – (2013): La dynamique de la manifestation, Paris. – (2016a): Métaphysique du sentiment, Paris. – (2016b): Le désir et le monde, Paris. Fink, E. (1957): Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung, Den Haag. – (1960): Nietzsches Philosophie, Stuttgart. – (1976): Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hg. v. F.-A. Schwarz, Freiburg/München. – (1977): Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, hg. v. E. Schütz u. F.-A. Schwarz, Freiburg/München. – (1990): Welt und Endlichkeit, hg. v. F.-A. Schwarz, Würzburg. – (1992): Natur, Freiheit, Welt. Philosophie der Erziehung, hg. v. F.-A. Schwarz, Würzburg. Husserl, E. (1973): Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil (1929–1935), (Husserliana, Bd. XV), Den Haag. Nielsen, C. (2011): »Kategorien der Physis. Heidegger und Fink«, in: C. Nielsen u. H. R. Sepp (Hg.): Welt denken. Annäherungen an die Kosmologie E. Finks, Freiburg/München, 154–183. Patočka, J. (1972): »Weltganzes und Menschenwelt. Bemerkungen zu einem zeitgenössischen kosmologischen Ansatz«, in: W. Beierwalters u. W. Schrader

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222 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Die Autorinnen und Autoren

Giulia Roberta Cervo hat 2017 mit einer Doktorarbeit über Eugen Fink promoviert und ist gegenwärtig Gymnasiallehrerin in Philosophie und Geschichte in Bergamo. – F: Den Mittelpunkt ihrer Forschungsinteressen bildet – im Kontext der Phänomenologie und in ihrem Verhältnis zur Kosmologie – das Thema der Freiheit, das sie in ihrer Doktorarbeit und in Aufsätzen entwickelt hat. – P: »Per una filosofia meontica dell’origine: Eugen Fink dalla dialettica trascendentale alla dialettica cosmologica«, in: Magazzino di filosofia, 28 (2016), A10, 115–145; »Outlines for a Phenomenology of Freedom: Eugen Fink and the Aporetic Beginning of Philosophy«, in: Phänomenlogische Forschungen, Hamburg, 1(2018), 89–116. Georgy Chernavin lehrt als Professor für Philosophie an der National Research University – Higher School of Economics (HSE, Moskau) und ist Mitglied des Redaktionskollegiums der Zeitschrift Horizon. Studien zur Phänomenologie (Sankt-Petersburg). – F: Doxa; Einstellungs- und Aspektwechsel; philosophisches Erstaunen; Grundintuitionen der Phänomenologie in der Romankunst (Pessoa, Musil, Robbe-Grillet); klassische deutsche Phänomenologie (Husserl, Fink), zeitgenössische französische Phänomenologie (Richir). – P: Transzendentale Archäologie – Ontologie – Metaphysik: Methodologische Alternativen in der phänomenologischen Philosophie Husserls (libri virides, Bd. 7), Nordhausen 2011; La phénoménologie en tant que philosophie-en-travail, Amiens, 2014. Anna Luiza Coli hat an der Bundesuniversität Minas Gerais (UFMG – Brasilien) den Master erworben (zur Erkenntniskritik im Werk Walter Benjamins im Rahmen von Ästhetik und Philosophie der Kunst) und als Erasmus Master Mundus-Stipendiatin in Frankreich, Italien und der Tschechischen Republik eine Masterarbeit zum Frühwerk Eugen Finks und seiner Kritik an der Husserlschen Phäno223 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Die Autorinnen und Autoren

menologie verfasst. Gegenwärtig promoviert sie an der Bergischen Universität Wuppertal und der Karls-Universität Prag. Sie ist Koordinatorin der Núcleo de Pesquisa em Fenomenologia (Londrina/Brasilien) und tätig als Übersetzerin von Werken Finks ins Portugiesische. – F: Phänomenologie, zeitgenössische und moderne deutsche Philosophie, Philosophie der Kunst. – P: »Heidegger and the question of pain in the ›Black Notebooks‹, in: Natureza Humana, 2016; »Le problème de la fondation de la phénoménologie de Merleau-Ponty ou comment Eugen Fink peut-il l’avoir influencé«, in: Chiasmi International, 18 (2017); »O mundo da imagem e a subversão do real: Fink, Kandinsky e a imagem como ›janela para o absoluto‹«, in: Fenomenologia em Debate, 2018. Giovanni Jan Giubilato (geb. 1984) studierte Philosophie an der Alma Mater Studiorum zu Bologna und an der Università degli Studi von Padua. 2016 promovierte er an der Bergischen Universität Wuppertal mit einer Arbeit zum Frühwerk Finks. Er ist Mitglied der Sociedad Iberoamericana de Estudios Heideggerianos, des Círculo latinoamericano de Fenomenología, und Begründer des brasilianischen Núcleo de Pesquisa em Fenomenologia. Seit 2017 ist er PNPD/ CAPES-Stipendiat an der Universidade Estadual de Londrina (Brasilien). – F.: Phänomenologie, philosophische Anthropologie, Hermeneutik, Philosophie der Geschichte, Ästhetik und Theorie der neuen Medien. – P: Freiheit und Reduktion. Grundzüge einer phänomenologischen Meontik bei Eugen Fink (Ad Fontes, Bd. 8), Nordhausen 2017; »Eugen Fink’s architectonic Foundation of a constructive Phenomenology«, in: Horizon VII (2018); als Hg.: Lebendigkeit der Phänomenologie. Tradition und Erneuerung (libri nigri, Bd. 72), Nordhausen, 2018; »Fenomenologias do começo. Sobre a essência da filosofia em Husserl, Heidegger e Fink«, in: Hybris X (2019). Yusuke Ikeda (geb. 1983) ist Dozent für Philosophie und Sozialwissenschaft am Staatlichen Institut für Technologie in Kushiro, Japan. Er promovierte 2014 an der Ritsumeikan-Universität in Kyoto mit einer Dissertation über die frühe Philosophie Eugen Finks im Kontext der Freiburger Phänomenologie. – F: Phänomenologie, Metaphysik, Transzendentalphilosophie. – P: »Entgegenwärtigung bei Husserl und Fink« [jap.], in: Jahrbuch der Gesellschaft für Existenzialdenken, 2014; »Eugen Finks Kant-Interpretation«, in: Horizon, 4/2 (2015); »L’événementialité du phénomène selon Neue Phänomenologie in 224 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Die Autorinnen und Autoren

Frankreich«, in: Revue International Michel Henry, 6 (2015); »Finks Phänomenologie des Weltursprungs« [jap.], in: Jahrbuch der japanischen Gesellschaft für Phänomenologie, 32 (2016); »Eugen Fink’s Transcendental Phenomenology of the World: Its Proximity and Distance in relation to Kant and to the late Husserl«, in: I. Apostolescu u. C. Serban (Hg.): Husserl, Kant and Transcendental Phenomenology, Berlin 2019. Krystof Kasprzak ist Senior Lecturer am Center for Practical Knowledge an der Södertörn Universität in Stockholm. Er schloss 2017 an der Södertörn Universität seine Dissertation ab: Vara – Framträdande – Värld. Fenomenets negativitet hos Martin Heidegger, Jan Patočka och Eugen Fink [Being – Appearing – World. The Negativity of the Phenomenon in Martin Heidegger, Jan Patočka and Eugen Fink]. – F: Phänomenologie, Kritische Theorie, Deutscher Idealismus. Cathrin Nielsen arbeitet als Freie Lektorin für Philosophie in Frankfurt am Main und ist Mitglied am Mitteleuropäischen Institut für Philosophie in Prag | Středoevropský institut pro filosofii | sowie Leiterin des Wissenschaftlich-technischen Rats des Eugen Fink-Zentrums (EFZW) der Bergischen Universität Wuppertal. – F: Deutsche Phänomenologie, Philosophie des 19. Jahrhunderts, Zeit, Gedächtnis, Philosophie der Kunst. – P: Die entzogene Mitte. Gegenwart bei Heidegger (Orbis Phaenomenologicus Studien, Bd. 3), Würzburg 2003; Zeitatomistik und Wille zur Macht. Annäherungen an Nietzsche, Tübingen 2014. Als Hg.in zu Fink: (m. A. Hilt) Bildung im technischen Zeitalter. Sein, Mensch und Welt nach Eugen Fink, Freiburg/München 2005; (m. H. R. Sepp) Welt denken. Annäherungen an die Kosmologie Eugen Finks (Phänomenologie Kontexte, Bd. 19), Freiburg/München 2011; (m. H. R. Sepp) Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol (EFGA, Bd. 7), Freiburg/München 2011. Artikel und Editionen u. a. zu Platon, Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger, Fink, Ricœur. Zahlreiche Katalogbeiträge zur zeitgenössischen Kunst. Karel Novotný ist Associate Professor an der Fakultät für Humanwissenschaften (Fakulta humanitních studií) der Karls-Universität Prag und Research Professor am Philosophischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik. Er leitet mit Hans Rainer Sepp das Mitteleuropäische Institut für Philosophie | 225 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Die Autorinnen und Autoren

Středoevropský institut pro filosofii | und koordiniert an der KarlsUniversität das Erasmus Master Mundus-Programm Deutsche und französische Philosophie in Europa. – F: Deutsche und französische Phänomenologie; Hermeneutik. – P: O povaze jevů. Úvod do současné fenomenologie ve Francii, Červený Kostelec 2010; Neue Konzepte der Phänomenalität. Essais zur Subjektivität und Leiblichkeit des Erscheinens (Orbis Phaenomenologicus Studien, Bd. 26), Würzburg 2011; La genèse d’une hérésie. Monde, corps et histoire dans la pensée de Jan Patočka, Paris 2012; Relevance subjektivity. Tělo a duše z hlediska fenomenologie afektivity, Červený Kostelec 2016. Als Hg.: (m. H. Blaschek-Hahn) Jan Patočka, Vom Erscheinen als solchem. Texte aus dem Nachlaß (Orbis Phaenomenologicus Quellen, Bd. 3), Freiburg/München 2000; Ludwig Landgrebe, Der Begriff des Erlebens. In Beitrag zur Kritik unseres Selbstverständnisses und zum Problem der seelischen Ganzheit (Orbis Phaenomenologicus Quellen N.F., Bd. 2), Würzburg 2010; Co je fenomén? Husserl a fenomenologie ve Francii, Červený Kostelec/Praha 2010; (m. G.-J. van der Heiden, I. Römer u. L. Tengelyi) Investigating Subjectivity. Classical and New Perspectives, Boston/Leiden 2011; (m. A. Schnell u. L. Tengelyi) Phénoménologie comme philosophie première, Prague/Amiens 2011; (m. P. Rodrigo, J. Slatman u. S. Stoller) Corporeity and Affectivity. Dedicated to Maurice Merleau-Ponty, Boston/Leiden 2013; (m. Jan Bierhanzl) Za hranicemi tváře. Levinas a socialita, Praha 2014; (m. C. Nielsen u. Th. Nenon) Kontexte des Leiblichen, Nordhausen 2016. Hans Rainer Sepp lehrt Philosophie an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität Prag und ist, gemeinsam mit Karel Novotný, Direktor des dortigen Mitteleuropäischen Instituts für Philosophie | Středoevropský institut pro filosofii sowie Vorsitzender des Forums Münchener Phänomenologie International (FMPI) und Mitglied des Executive Committee von Organization of Phenomenological Organizations (O.P.O.). – F: Interkulturelle Philosophie im Kontext der Wissensbereiche von Kunst, Wissenschaft, Religion, Mythos; Entwicklung des Konzepts einer Oikologie. – P: Hg. der Buchreihen libri nigri und libri virides, Mit-Hg. der Reihen Orbis Phaenomenologicus, Ad Fontes. Studien zur frühen Phänomenologie und Philosophische Anthropologie – Themen und Positionen sowie der Eugen Fink Gesamtausgabe. Jüngste Buchpublikationen: Philosophie der imaginären Dinge (Orbis Phaenomenologicus Stu226 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .

Die Autorinnen und Autoren

dien, Bd. 40), Würzburg 2017; In. Grundrisse der Oikologie, Freiburg/München 2019; Phänomenologie und Oikologie. Ausgewählte phänomenologische Abhandlungen [chines.], hg. v. W. Zhang, Peking 2019. Tatiana Shchyttsova ist Professorin für Philosophie und Leiterin des Zentrums für philosophische Anthropologie an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius. – F: Existentialphänomenologische Philosophie, Phänomenologie der Intersubjektivität, philosophische Anthropologie, Ethik bzw. Bioethik, Sozialphilosophie. – P: Ereignis in der Philosophie von Bakhtin [russ.], 2002; Memento nasci: Miteinandersein und generative Erfahrung. Studien zur existentialen Anthropologie [russ.], 2006; Anthropologie. Ethik. Politik [russ.], 2014; Jenseits der Unbezüglichkeit. Geborensein und intergenerative Erfahrung (Orbis Phaenomenologicus Studien, Bd. 42), Würzburg 2016. Als Hg.in: In statu nascendi. Geborensein und intergenerative Dimension des menschlichen Miteinanderseins (libri nigri, Bd. 13), Nordhausen 2012. Artikel und Editionen im Bereich von Phänomenologie und philosophischer Anthropologie. Sie ist seit 2000 Herausgeberin von Topos, Zeitschrift für Philosophie und Kulturanalytik, und seit 2002 Herausgeberin der Buchreihe Conditio humana. Nicola Zippel machte seinen Masterabschluss 2001 an der Universität La Sapienza zu Rom mit der Arbeit »Der Zeitbegriff in den Cartesianischen Meditationen Edmund Husserls«. 2007 promovierte er mit einer Dissertation, die Zeit, Methode und Subjekt in Husserls Phänomenologie zum Thema hatte. Er lehrte sowohl an italienischen Universitäten (Rom und Neapel) als auch an der Köln-Leuven Summer School in Phenomenology. Derzeit ist er unabhängiger Forscher und Lehrer für Philosophie an einer Oberschule in Rom. Seit vielen Jahren leitet er in verschiedenen Grundschulen in Rom ein Philosophielabor. – F: Husserls und Finks Phänomenologie, Beziehungen zwischen Phänomenologie, Psychologie und Neurowissenschaften, Didaktik der Philosophie. – P: »Tempo e metodo. Il problema del soggetto nella fenomenologia di Edmund Husserl«, 2007; »Coscienze possibili. Commento alla Dissertazione di Eugen Fink«, 2011; »I bambini e la filosofia«, 2017; »C’era una volta la filosofia …«, 2018. F = Forschungsschwerpunkte; P = Ausgewählte Publikationen.

227 https://doi.org/10.5771/9783495820520 .