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German Pages 372 [374] Year 2013
Geschichte Franz Steiner Verlag
h i s to r i s ch e m it te i lu ng en – b e i h e f te 8 4
Luise Güth / Niels Hegewisch / Knut Langewand / Dirk Mellies / Hedwig Richter (Hg.)
Wo bleibt die Aufklärung? Aufklärerische Diskurse in der Postmoderne
Luise Güth / Niels Hegewisch / Knut Langewand / Dirk Mellies / Hedwig Richter (Hg.) Wo bleibt die Aufklärung?
h i s to r i s c h e m it t e i lu n g e n – b e i h e f te Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft. Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V. herausgegeben von Jürgen Elvert
Wissenschaftlicher Beirat: Winfried Baumgart, Michael Kißener, Ulrich Lappenküper, Ursula Lehmkuhl, Bea Lundt, Christoph Marx, Jutta Nowosadtko, Johannes Paulmann, Wolfram Pyta, Wolfgang Schmale, Reinhard Zöllner
Band 84
Luise Güth / Niels Hegewisch / Knut Langewand / Dirk Mellies / Hedwig Richter (Hg.)
Wo bleibt die Aufklärung? Aufklärerische Diskurse in der Postmoderne
Festschrift für Thomas Stamm-Kuhlmann
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: „Spectre aérien observé au Pic du Midi, le 17 juillet, 1882“, in: Camille Flammarion: L’Atmosphère et les grands phénomènes de la nature. Paris 1905, S. 119 (Ausschnitt).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 Druck: Laupp & Göbel, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10423-4
TABULA GRATULATORIA Jürgen Angelow, Potsdam / Berlin Birgit Aschmann, Berlin Oliver Auge, Kiel David E. Barclay, Kalamazoo / Michigan (USA) Heide Barmeyer, Hannover Peter Baumgart, Würzburg Walter Baumgartner, Greifswald Hermann Beck, Miami (USA) Helmut Berding, Wettenberg Ludwig Biewer, Berlin Thomas Biskup, Hull (Großbritannien) Mathias J. Blochwitz, Berlin Mariacarla Gadebusch Bondio, München Franziska Borges, Greifswald Mathias Brodkorb, Rostock James M. Brophy, Newark/Delaware (USA) Werner Buchholz, Greifswald Hubertus Buchstein, Greifswald Martin Buchsteiner, Greifswald Beate Bugenhagen, Greifswald Christopher Clark, Cambridge (Großbritannien) Michael Czolkoß, Greifswald Lars Deile, Berlin Volker Depkat, Regensburg Sebastian Domsch, Greifswald Patrick Donges, Greifswald Christoph Ehmann, Berlin Enno Eimers, Leer Jürgen Elvert, Köln Philipp Erbentraut, Düsseldorf Walter Erhart, Bielefeld Stefan Fassbinder, Greifswald Ewald Frie, Tübingen Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn / Berlin Kirsten Frieling, Bielefeld Florian Gaube, Greifswald Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin Michael Großheim, Rostock
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Eberhard Grünert, Ludwigsfelde Wolf D. Gruner, Rostock Luise Güth, Greifswald Jörg Hackmann, Szczecin (Polen) Kilian Heck, Greifswald Niels Hegewisch, Greifswald Manfred Heinemann, Hannover Eckhart Hellmuth, München Michael Herbst, Greifswald Ludger Herrmann, Kempen Historisch-Technisches Museum Peenemünde Andrea Hofmeister, Göttingen Jens Hohensee, Wedel Bernhard M. Hoppe, Erfurt Dietrich Höroldt, Bonn Manfred Jakubowski-Tiessen, Göttingen Manfred Jatzlauk, Rostock Nils Jörn, Wismar Heinrich Kaak, Hannover Torben Kiel, Greifswald Harald Kocks, Greifswald Alexander König, Frankfurt am Main Esther-Beate Körber, Bremen Wilhelm Kreutz, Mannheim Martin Krieger, Kiel Frank-Lothar Kroll, Chemnitz Joachim Krüger, Greifswald Christoph Kühberger, Salzburg Thomas K. Kuhn, Lörrach / Greifswald Jan Kusber, Mainz Knut Langewand, Coventry (Großbritannien) Thomas Lenz, Torgelow Jens Leuteritz, Greifswald Jenny Linek, Greifswald Ingo Löppenberg, Greifswald Matthias Lorius, Greifswald Christian Lübke, Leipzig Girolamo Lucchesini, Paris / Lucca Hartmut Lutz, Greifswald Christine Magin, Greifswald Rafaá Makaáa, Szczecin (Polen) Dariusz Makiááa, Warszawa (Polen) Anna Gianna Manca, Trient (Italien) Anke Mann, Greifswald Dirk Mellies, Hamburg
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Jan Mittenzwei, Greifswald Frank Möller, Greifswald Sabine Mönch-Kalina, Wismar Christian Mühldorfer-Vogt, Greifswald Sabrina Müller, Stuttgart Werner Müller, Rostock Thomas Müller-Bahlke, Halle an der Saale Mathias Niendorf, Greifswald Martin Nitsche, Greifswald Paul Nolte, Berlin Michael North, Greifswald Lutz Oberdörfer, Greifswald Jens E. Olesen, Greifswald Konrad Ott, Kiel Tilman Plath, Greifswald Haik Thomas Porada, Leipzig Joachim Radkau, Bielefeld Andreas Ranft, Halle an der Saale Judith Rehfeld, Potsdam Hedwig Richter, Greifswald Robert Riemer, Greifswald Fred Ruchhöft, Greifswald Ch. Anna-Lisa Schaier, Berlin Tobias Schenk, Wien Joachim Schiedermair, Greifswald Sophie Schifferdecker, Mainz Heinz-Peter Schmiedebach, Hamburg Matthias Schneider, Greifswald Martin Schoebel, Kirchdorf Diana Schulle, Berlin Eckhard Schumacher, Greifswald Geo Siegwart, Greifswald / Mülheim an der Ruhr Wolfgang Siemann, Adelzhausen Brendan Simms, Cambridge (Großbritannien) Frank Oliver Sobich, Berlin / Paderborn Bernd Sösemann, Berlin Karl-Heinz Spieß, Greifswald Christoph Stamm, Bonn Christian Suhm, Greifswald Thomas Terberger, Greifswald Andreas Thier, Zürich Monika Unzeitig, Greifswald Barbara Vogel, Hamburg Thomas Vogtherr, Osnabrück Patrick Wagner, Halle
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Immo Warntjes, Greifswald Hans-Ulrich Wehler, Bielefeld Walter Werbeck, Greifswald Ralf-Gunnar Werlich, Greifswald / Berlin Horst Wernicke, Wackerow Bernard van Wickevoort Crommelin, Greifswald Reinhard Wolf, Frankfurt am Main Alexander Wöll, Greifswald Aloys W. Wolpers-Brakensiek, Wettringen / Wolgast
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort .................................................................................................................. 13 Aufklärung als Epoche Volker Depkat Freiheitsstreben und Ordnungsverlangen. Die Paradoxien der Amerikanischen Aufklärung im Lichte visueller Narrative.................................................................................................. 17 Bernd Sösemann Monarchen als Moderatoren aufklärerischer Vorstellungen und Forderungen in Europa. Zum Selbstverständnis von Friedrich II. und Katharina II. als „philosophes“ ...................................................................... 37 Jens E. Olesen Aufklärung in Dänemark – der Fall Struensee ...................................................... 57 Ingo Löppenberg Weiße Flecken auf der Karte des Wissensraumes. Zedlers Universallexikon und die Ränder der Welt .............................................. 69 Barbara Vogel Christian Friedrich Scharnweber. Ein vergessener Aufklärer in der preußischen Reformzeit ................................... 83 Aufklärerische Diskurse Niels Hegewisch „Nicht mehr Aufwand als die Errichtung eines complicirten Bratenwenders für herrschaftliche Küchen“. Überlegungen zur Mechanisierung der Rechtsprechung im Vormärz ................ 103 Philipp Erbentraut Moritz Rittinghausen – ein deutscher Rousseau? Vergleichende Überlegungen zur Idee einer direkten Gesetzgebung durch das Volk .................................................................................................... 119 Alexander König Das Kaiserreich und die Europäische Union. Kongruente Strukturprobleme? ........................................................................... 139
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Inhaltsverzeichnis
Wolf D. Gruner Europäische Einigung als Weg zum ewigen Frieden? Zur Europadiskussion zwischen Französischer Revolution und Europäischer Neuordnung (1789–1820) ............................................................. 149 Birgit Aschmann Francos „himmlische Heerführerinnen“. Zur Bedeutung des Sakralen in Spanien (1936–1962) ....................................... 161 Jenny Linek „... das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis“. Grenzen und Potentiale der Gesundheitsaufklärung in der DDR ....................... 179 Aufklärung und Methode Jürgen Elvert Brauchen wir einen „Maritime Turn“? Oder: Warum maritime Fragen in den Geschichtswissenschaften größere Aufmerksamkeit verdient hätten ........................................................... 193 Luise Güth Historisches Erzählen bei Friedrich Schiller. Eine Analyse mit Hayden White ........................................................................ 207 Hedwig Richter Die Heimtücke der Moderne. Warum Foucault ein Aufklärer ist ...................... 219 Torben Kiel Zufall und Staatskrise. Überlegungen zu Problemen der Thronfolge im 19. Jahrhundert ...................... 231 Dirk Mellies Von Scharlatanen und Geschichtsrevisionisten .................................................. 241 Knut Langewand ‚Keeping the lunatics out‘. Geschichtswissenschaftliche Praxis zwischen Postmoderne und Rechtsrevisionismus ........................................................................................... 255 Aufklärung und die Welt Frank Möller Authentizität und Aura. Überlegungen zu einer Theorie des Zeitzeugen im historischen Dokumentarfilm ............................................... 273
Inhaltsverzeichnis
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Monika Unzeitig Erobern und Erkunden. Anmerkungen zur literarischen und kartographischen Alexander-Geographie im Mittelalter ................................................................. 285 Heinz-Peter Schmiedebach Aufklärung, Wahrheit und die psychiatriehistorische Forschung ....................... 303 Jan Kusber Die Nation und Geschichtspolitik im öffentlichen Raum. Das Beispiel Russlands im 19. und am Beginn des 21. Jahrhunderts ................. 315 Diana Schulle „In Freundschaft Eure Magda“. Der Unternehmer Günther Quandt und sein Vetter Kurt Schneider .................... 333 Lutz Oberdörfer Großbritannien und Polen in der Zeit der Entscheidungen der Friedenskonferenz, 1919–1923 ..................................... 353 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ............................................................ 369
VORWORT Festschrift anlässlich des 60. Geburtstages von Thomas Stamm-Kuhlmann 2013 Thomas Stamm-Kuhlmann ist ein Aufklärer. In Diskussionen über Politik, Pommern, Gott und die Welt sieht man es ihm regelrecht an, wie er unter Desinformationen, Geschwätz und Ignoranz leidet. Seine Texte sind präzise und luzid, seine Vorträge ohne Räucherwerk auf den Kern konzentriert. Dabei legt StammKuhlmann – ganz aufklärerisch – stets Wert auf die angemessene Form und auf Stil. Als Wissenschaftler gehört für ihn Aufklärung vor allem zum professionellen Ethos. Zu dessen Verteidigung greift Stamm-Kuhlmann auch schon einmal zum Mittel des Leserbriefs, um Plagiatoren, „fränkische Wettertannen“ und deren Apologeten in höchsten Staatsämtern mit Fichte zu kontern: Nur indem wir uns freiwillig dem Gesetz der Wahrheit unterwerfen, lernen wir überhaupt erst, Gesetze zu respektieren. Postmoderne Paradigmen, die jede Möglichkeit von Wahrheitsfindung grundsätzlich verneinen, sieht Stamm-Kuhlmann nicht nur als Angriff auf die Wissenschaft, sondern als Affront gegen aufklärerische Werte. Sein Sachurteil steht nicht losgelöst von seinem Werturteil – wobei er Max Weber folgend beides deutlich kennzeichnet und voneinander unterscheidet. Dieser rote Faden verbindet viele seiner Forschungsfelder. In der Wissenschaftsgeschichte, in der StammKuhlmann seine Dissertation geschrieben und die er mit der Geschichte der Peenemünder Raketentechnologie verfolgt hat, fragt er nach Wissen und Gewissen und nach dem Zugriff von Herrschaft auf Wissenschaft. In seinen Arbeiten über die Hohenzollern, darunter die Biographie über Friedrich Wilhelm III., und in der Hardenberg-Forschung, die er entschieden durch die Edition der Tagebücher voran gebracht hat, fahndet er auch nach den aufklärerischen Ideen, die diese Akteure geprägt haben. Freilich lässt sich die vielfältige Forschung von StammKuhlmann nicht auf einen Punkt bringen. Als Aufklärer scheint es nichts zu geben, was ihn nicht interessiert, und immer wieder arbeitet er sich in neue Themen ein: Psychohistorie, Netzwerktheorie, Pommersche Landesgeschichte, Medizin– und Verfassungsgeschichte, Rezeption der Napoleonischen Freiheitskriege, Königin Luise, Alternativgeschichte, Nationalsozialismus in Greifswald, Romantik, Musik im öffentlichen Gebrauch, Pietisten und Häretiker. Neuerdings überraschte er, als er anfing, laut über Richard Wagner nachzudenken. Aufklärung ist für ihn nicht nur die Epoche mit ihren weitreichenden Ideen und damit ein Programm für seine Wissenschaft. Sie ist für Thomas StammKuhlmann ein Lebenskonzept. Aufklärung beginnt bei seiner frühen Begeisterung für Immanuel Kant und seiner Sympathie für Amerika, sie geht weiter mit seinem Ingrimm über vorpommersche Neonazis, mit seinem offensiven Essay in der FAZ wider die Herabsetzung der Atheisten, mit seiner Freude an guter Literatur und an
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Vorwort
der Eröffnung eines Sushi-Restaurants in Greifswald. Und sie zeigt sich an seinem kritischen Engagement für die Soziale Demokratie – für das er als Rheinländer im „schwarzen“ Vorpommern immer wieder Rede und Antwort stehen muss. Aufklärerisches Ethos bedeutet darüber hinaus, dass Stamm-Kuhlmann seine Arbeit nicht nur als Forscher, sondern gerade auch als Hochschullehrer ernst nimmt. Er bereitet seine Lehrveranstaltungen intensiv vor, nimmt Anregungen von Studierenden und Kritikern auf („Wer macht denn hier was zu Europa?“, „Wer behandelt endlich Arndt?“, „Warum wird nie Verfassungsgeschichte gelehrt?“) und arbeitet sich dafür in neue Themen ein. Wer den universitären Alltag kennt, weiß, wie wenig selbstverständlich das ist. Die Korrektur von studentischen Arbeiten überlässt er nicht seinen Mitarbeitern, sondern nimmt sie selbst vor. Er lobt darin nicht nur gutes wissenschaftliches Arbeiten oder mahnt bessere Forschung an, sondern er kümmert sich auch um Details, verweist auf sprachliche Schwächen und stilistische Unebenheiten. Wiewohl „Donaldist“, ist ihm die Pflege der deutschen Sprache ein hohes Gut. Jeder Student, der sich Thomas StammKuhlmanns Gutachten zu Herzen nimmt, hat etwas fürs Leben gelernt. Und noch etwas: Aufklärung bedeutet für ihn Ehrlichkeit und damit ein Unbehagen an Eitelkeiten. In den Untiefen des universitären und institutionellen Alltagslebens zeichnet er sich dadurch aus, dass er sich nicht auf eitle Spiele einlässt, sondern sich um die Sache bemüht. Oft im Hintergrund, ohne Aufregung, nach gerechten Lösungen suchend. Wo bleibt die Aufklärung? – fragte Thomas Stamm-Kuhlmann in einem Aufsatz von 2004, dessen Anregungen diesem Band zugrunde liegen. Er hat in dem Text sein wissenschaftliches Programm auf den Punkt gebracht. Aber wir sehen darin auch seine ethischen Grundsätze: die Suche nach Wahrheit und nach Fairness. Auch wegen dieser Grundsätze ist es immer wieder eine Freude und eine Ehre mit Thomas Stamm-Kuhlmann zusammenzuarbeiten. Luise Güth, Niels Hegewisch, Knut Langewand, Dirk Mellies und Hedwig Richter Greifswald, Hamburg und Coventry im März 2013
AUFKLÄRUNG ALS EPOCHE
FREIHEITSSTREBEN UND ORDNUNGSVERLANGEN Die Paradoxien der Amerikanischen Aufklärung im Lichte visueller Narrative Volker Depkat, Regensburg 1. Ambivalentes Erbe – Die Amerikanische Aufklärung in der Forschungsdiskussion „Wo bleibt denn da die Aufklärung?“ – über diese Frage lässt sich im Falle der USA mit Fug und Recht streiten.1 Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert herrscht auf beiden Seiten des Atlantiks große Uneinigkeit darüber, ob die Vereinigten Staaten von Amerika überhaupt etwas mit der Aufklärung zu tun haben und, wenn ja, was. Während das Berlinische Journal für Aufklärung und mit ihm viele aufgeklärte Zeitgenossen die revolutionäre Gründung der USA im Jahr 1789 als „Sieg der Vernunft“ feierten, der sich hoffentlich bald auch in Europa ereignen werde, bewunderten Friedrich von Gentz und seine politischen Freunde in der Nachfolge Edmund Burkes die Amerikanische Revolution als einen im Kern konservativen Freiheitskampf zur Verteidigung angestammter Freiheitsrechte gegen ein die überlieferte Verfassung verletzendes Mutterland, der freilich nur unter den spezifischen Bedingungen des britischen Verfassungskontexts legitim war.2 Die damals begonnene Diskussion ist letztlich bis heute nicht abgerissen. Im Gegenteil, sie hat unter dem Eindruck der terroristischen Angriffe vom 11. September 2001 neuen Auftrieb erhalten. Sie trägt maßgeblich zur Konstruktion eines binären Gegensatzes zwischen einer im Wesentlichen durch den Ideenhaushalt der Aufklärung integrierten „westlichen Welt“ und der aufklärungslosen und deshalb fanatismusgebärenden islamischen Welt bei. Es scheint so als habe die Attacke auf das World Trade Center der Aufklärung als einem Identitätsanker der westlichen Moderne neue Bedeutung verliehen. In seiner majestätischen Trilogie zur Geschichte der Aufklärung erörtert Jonathan Israel diese beispielsweise als ein Ensemble von Ideen und Praktiken, das insofern die intellektuell-kulturellen 1
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Mit diesem Beitrag setze ich eine Diskussion fort, die ich begonnen habe in: Volker Depkat, Angewandte Aufklärung? Die Weltwirkung der Aufklärung im kolonialen Britisch Nordamerika und den USA, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Die Aufklärung und ihre Weltwirkung, Göttingen 2010, 205–241. Hg. anon.: Akte wegen Festsetzung der Religionsfreiheit, wie selbige in der Versammlung in Virginien zur Anfang des Jahres 1786 zu Stande gekommen ist, in: Berlinisches Journal für Aufklärung 2/1789, 179. Volker Depkat, Amerikabilder in politischen Diskursen. Deutsche Zeitschriften, 1789–1830, Stuttgart 1998, 289–301.
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Freiheitsstreben und Ordnungsverlangen
Grundlagen der Moderne legte, als es die philosophische Vernunft zum Kriterium von säkular begründeter Wahrheit machte, Rationalität und Säkularismus zur Grundlage menschlichen Handelns erklärte, auf die umfassende Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse durch rationale Durchdringung der Welt gerichtet war und ein in den Prinzipien von Selbstbestimmung und Toleranz ankerndes Politik– und Gesellschaftsideal formulierte.3 Während Israel die Geschichte der Aufklärung gegen den Fluchtpunkt des „making of modernity“ reflektiert, sieht Gertrude Himmelfarb die Aufklärung „roads to modernity“ bahnen, und stellt Karen O’Brien in der American Historical Review jüngst fest, dass die Aufklärung sich gegenwärtig vor der Bewunderung der Historiker kaum noch retten könne.4 „Verschwunden“, schreibt O’Brien, „ist der Sinn für die Notwendigkeit, sich erneut mit der nach dem Zweiten Weltkrieg vorgebrachten Marxistischen Kritik an der Aufklärung als einem Wegbereiter des mörderischen technokratischen Staates, wie sie von Adorno und Horkheimer in ihrer ‚Dialektik der Aufklärung‘ (1944) losgetreten worden ist, auseinanderzusetzen oder sich der philosophischen Angriffe der Poststrukturalisten auf den für die Aufklärung konstitutiven Universalismus und Rationalismus zu erwehren.“5
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach Art und Charakter der Aufklärung in Amerika und deren Bedeutung für den Beginn der politischen Moderne, wie er mit der Amerikanischen Revolution im ausgehenden 18. Jahrhundert gesetzt wurde, umso dringender. Die Antwort ist alles andere als eindeutig.6 Es ist erstaunlich, dass eine ernsthafte wissenschaftliche Beschäftigung mit der amerikanischen Aufklärung überhaupt erst Mitte der 1970er Jahre einsetzte. Davor verlief der im Kern weltanschaulich-politische Streit über die Bedeutung der Aufklärung für das amerikanische Experiment in Demokratie im Wesentlichen in den Bahnen, die sich bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert abgezeichnet hatten. Während Daniel J. Boorstin im Jahre 1960 die Idee einer amerikanischen Aufklärung zu einem Mythos erklärte, weil die Gründerväter der USA keiner europäischen Philosophie bedurft hätten, um ihren durch die exzeptionellen Erfahrungen 3
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Jonathan I. Israel, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650 – 1750, Oxford 2001. Ders., Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man 1670 –1752, Oxford 2006. Ders., Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750 – 1790, Oxford 2011. Gertrude Himmelfarb, The Roads to Modernity. The British, French, and American Enlightenments, New York 2004. Karen O’Brien, The Return of the Enlightenment, in: American Historical Review 115/2010, Heft 5, 1426–1435. O’Brien, The Return of the Enlightenment, 1427. Meine Übersetzung. Die maßgeblichen Werke zur Aufklärung in Amerika sind: Henry F. May, The Enlightenment in America, New York 1976. Henry Steele Commager, The Empire of Reason. How Europe Imagined and America Realized the Enlightenment, Garden City/NY 1977. Robert A. Ferguson, The American Enlightenment, 1750–1820, Cambridge/MA 1997. Frank Kelleter, Die Amerikanische Aufklärung. Sprachen der Rationalität im Zeitalter der Revolution, Paderborn 2002. Ders., A Dialectics of Radical Enlightenment, in: Greil Marcus / Werner Sollors (Hgg.), A New Literary History of America, Cambridge, MA 2009, 98–103. Himmelfarb, Roads to Modernity (wie Anm. 4), 191–226. Israel, Democratic Enlightenment (wie Anm. 3), 443–479.
Volker Depkat
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Nordamerikas selbst beglaubigten, freiheitlich-demokratischen way of life ideologisch zu fundieren7, so charakterisierte Ralph Dahrendorf nur drei Jahre später die USA als ein Land der angewandten Aufklärung, dessen Gründerväter den Versuch unternommen hätten, „die Wirklichkeit nach dem Bilde der Vernunft zu machen“, weshalb der „Geist der angewandten Aufklärung in den USA“ auch in den 1960er Jahren noch „sehr viel spürbarer“ sei, „als er es in Europa jemals war.“8 Nun sind die Positionen von Boorstin und Dahrendorf derart überzogen, dass sich eine weitere Auseinandersetzung mit ihnen kaum lohnt. Dass allerdings solche steilen und einander diametral entgegengesetzten Thesen über die Aufklärung in Amerika bis weit ins 20. Jahrhundert hinein formuliert werden konnten, hat damit zu tun, wie Henry F. May feststellt, dass es bis Mitte der 1970er Jahre kaum eine gründliche und quellengesättigte Forschung zur Aufklärung im Kontext des revolutionären Amerika gab.9 Die gelehrte Studie von May steht am Anfang einer ganzen Reihe von Arbeiten zur Geschichte der amerikanischen Aufklärung unter anderem aus der Feder von Henry Steele Commager, Robert A. Ferguson, Frank Kelleter, Gertrud Himmelfarb und Jonathan Israel.10 Im Lichte dieser Studien lässt sich feststellen, dass es durchaus eine amerikanische Aufklärung gegeben hat, die zwar sehr facettenreich, aber doch im Kern politisch war, die im Verlauf der Amerikanischen Revolution das Bewusstsein ihrer selbst erlangte und deren Wertideen und Praktiken in den Gründungsdokumenten der USA – die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 und die Verfassungen – artikuliert und institutionalisiert sind.11 Die Gründerväter der USA sahen sich ihrem Selbstverständnis nach mit der Aufgabe konfrontiert, eine Wissenschaft der Politik zu entwickeln, um politische Ordnung zu kreieren, deren „prozeduralistische Vernunft“ (F. Kelleter) die individuellen Freiheitsrechte durch die von der Verfassung definierten Strukturen und Verfahren des politischen Prozesses auf immer garantieren würde.12 Es ging also 7
Daniel J. Boorstin, The Myth of an American Enlightenment, in: Ders., America and the Image of Europe. Reflections of American Thought, New York 1960, 65–78. 8 Ralf Dahrendorf, Die Angewandte Aufklärung. Gesellschaft und Soziologie in Amerika, München 1963, 19, 34. 9 May, Enligthenment in America (wie Anm. 6), xii. 10 Siehe die in Anm. 6 aufgeführte Literatur. 11 Zur Unabhängigkeitserklärung hier nur: Pauline Maier, American Scripture. Making the Declaration of Independence, New York 1997. Zur frühen Verfassungsgeschichte der USA: Willi Paul Adams, Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassungen und politischen Ideen der amerikanischen Revolution, Darmstadt 1973. Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic, 1776–1787, Chapel Hill/NC 1969. Richard Beeman u. a. (Hgg.), Beyond Confederation. Origins of the Constitution and American National Identity, Chapel Hill/NC 1987. Lance Banning, The Sacred Fire of Liberty. James Madison and the Founding of the Federal Republic, Ithaca/NY 1995. Jack N. Rakove, Original Meanings. Politics and Ideas in the Making of the Constitution, New York 1996. David C. Hendrickson, Peace Pact. The Lost World of the American Founding, Lawrence/KS 2003. Jürgen Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl. Vorgeschichte und Ratifizierung der amerikanischen Verfassung 1787–1791, Berlin 1988. 12 Kelleter, Amerikanische Aufklärung (wie Anm. 6), 474–478. Zur „science of politics“, die zu entwickeln die Verfassungsväter sich gezwungen sahen: Wood, Creation (wie Anm. 11), 8, 45, 149, 568.
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Freiheitsstreben und Ordnungsverlangen
um die Absicherung der Revolution und ihrer Wertideen durch Verfassungsgebung, um den Schutz der Freiheit durch die Struktur des Staates. Die Verfassung wurde als eine sich selbst bewegende Maschine konzipiert, die dafür Sorge tragen sollte, Macht in Balance zu halten, Gewalten zu teilen und so in ein Verhältnis zu setzten, dass Demokratie und Freiheit selbst durch einen Vollidioten im Präsidentenamt nicht zerstört werden könnte.13 Deshalb hat Gordon Wood den Konstitutionalismus der USA als „finest fruit of the American Enlightenment“ bezeichnet.14 Insgesamt aber ist die Bedeutung der Aufklärung für die amerikanische Demokratie höchst ambivalent. Jonathan Israel spricht von einer „inconclusive legacy“ der Aufklärung in Amerika und bringt damit den Stand der gegenwärtigen Forschungsdiskussion auf den Punkt.15 In seinem monumentalen Werk zur Geschichte der Aufklärung in globaler Perspektive unterscheidet Israel durchgehend zwischen einer moderaten und einer radikalen Variante der Aufklärung und argumentiert, dass die Gegensätze zwischen diesen bewusst miteinander konkurrierenden Lagern innerhalb der Aufklärung unaufhebbar waren. Während die moderate Variante der Aufklärung in ihrem Emanzipations– und Reformstreben darauf ausgerichtet gewesen sei, Innovation und Tradition, Vernunft und Religion, Freiheit und Ordnung in Balance zu bringen, war die radikale Aufklärung in einem umfassenden Sinne traditionszerstörerisch, weil ihr die Zerstörung des Bestehenden als Bedingung der Möglichkeit für den rationalen Neubau der politischgesellschaftlichen Ordnung erschien.16 Während also die radikale Aufklärung die Welt von Grund auf neu gestalten wollte und dabei die Maximen der Vernunft als Kriterium der Wahrheit absolut setzte, lehnte die moderate Aufklärung diese exklusive Privilegierung der Vernunft ab. Ebenso erkannte sie an, dass es durchaus noch eine andere Quelle von Wahrheit, Legitimität und Autorität gab, die mit den Maximen der universalen, philosophischen Vernunft in Einklang gebracht werden müsste, nämlich Religion und Tradition.17 Ins Politische übersetzt zielte die radikale Variante der Aufklärung auf die universale Emanzipation aller Menschen durch die Garantie der Menschenrechte, Gleichheit, Selbstbestimmung und Demokratie.18 Im Gegensatz dazu begründete die moderate Strömung der Aufklärung ein politisches Programm, das das emanzipatorische Projekt auf staatliche Institutionen und soziale Eliten beschränkt wissen wollte, damit das allmähliche Allgemein-Werden der Vernunft von ihnen vorangetrieben und in geordnete Bahnen gelenkt werden konnte.19 In diesem allgemeinen konzeptuellen Rahmen reflektiert Jonathan Israel nun auch die Amerikanische Revolution als eines der wichtigsten Ereignisse der Neueren und Neuesten Geschichte, das aufs Engste mit der Aufklärung als einem inter 13 Michael G. Kammen, A Machine that would go of itself. The Constitution in American Culture. With a new Introduction by the Author, New Brunswick/NJ 2006. 14 Wood, Creation (wie Anm. 11), 568. 15 Israel, Democratic Enlightenment (wie Anm. 3), 478–479. 16 Alle Belege: Ebd., 17–18. 17 Ebd., 19. 18 Ebd., 12. 19 Ebd., 27.
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nationalen Phänomen verschränkt war.20 Zwar betont Israel, dass die Ideengeschichte der Amerikanischen Revolution sehr komplex sei, weil sich die revolutionäre Ideologie aus verschiedenen Quellen gespeist habe. Er betont jedoch auch zugleich und völlig zu Recht, dass der Wert– und Ideenhaushalt der Aufklärung die Revolutionsdiskurse über Freiheit und Unabhängigkeit in besonderem Maße geprägt habe. Allerdings, so Israel, war die amerikanische Aufklärung im Kern moderat und setzte die Vernunft keinesfalls absolut, sondern stellte sie in den Dienst der Balance von Freiheit und Ordnung.21 Vorherrschend war im revolutionären Amerika somit eine moderate Aufklärung, die einen egalitären Naturrechtsliberalismus mit einem durchaus in Hierarchien denkenden sozialen Konservatismus verband. In den Händen der sozialen Elite war das aufgeklärte Beharren auf Balance, Ordnung und Moderation eine starke Waffe gegen die radikal-egalitären und demokratischen Tendenzen, die es im revolutionären Amerika auch gab.22 Angesichts der hegemonialen Stellung, die die moderate Aufklärung im revolutionären Amerika einnahm, erscheint die radikale Aufklärung, wie sie sich in dem im Januar 1776 erschienenen Pamphlet Common Sense von Thomas Paine und in den zentralen, von Thomas Jefferson formulierten Passagen der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung artikuliert, als die Ausnahme von der Regel. Zwar sind Common Sense und die Declaration of Independence in ihrem Universalismus und Egalitarismus sowie ihrem bedingungslosen Bekenntnis zu Menschenrechten und Demokratie Meisterwerke der radikalen Aufklärung. Eben deshalb sind sie aber nicht wirklich repräsentativ für Art und Charakter der amerikanischen Aufklärung.23 Die Unabhängigkeitserklärung war im Kontext des revolutionären Amerika ein hochgradig kontroverses Dokument, an dem sich die unauflösbare Spannung zwischen der radikalen und der moderaten Aufklärung praktisch vom Tage der Verkündigung an kristallisierte und dann im weiteren Verlauf des revolutionären Prozesses noch erhöhte.24 Zwischen 15 und 20 Prozent der weißen Bevölkerung in den britischen Kolonien waren grundsätzlich gegen die Loslösung von Großbritannien; rund 500.000 Männer, Frauen und Kinder standen auch nach dem 4. Juli 1776 weiterhin loyal zur britischen Krone und widersetzten sich der Rebellion.25 Neben diesen Loyalisten gab es jedoch auch innerhalb des revolutionären Lagers eine beträchtliche Anzahl von Leuten, denen angesichts des radikalen Egalitarismus der Unabhängigkeitserklärung zumindest mulmig wurde, wenn sie an die möglichen sozialen Konsequenzen des unveräußerlichen Grundrechts auf „life, liberty and the pursuit of happiness“ dachten. Den Sklavenhaltern des Südens war die universale Sprache, in der ihr sklavenhaltender Kollege Thomas Jefferson den Text der Unabhän 20 21 22 23 24
Ebd., 443. Ebd., 4, 443. Ebd., 443–444, 464. Ebd., 451, 453, 457. Israel spricht gar von einem „intellectual furore“, den die Unabhängigkeitserklärung verursacht habe. Ebd., 444. 25 Robert Middlekauff, The Glorious Cause. The American Revolution, 1763–1789, New York 1982, 549–555.
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Freiheitsstreben und Ordnungsverlangen
gigkeitserklärung verfasst hatte, ohnehin ein Graus.26 Doch auch andere Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung waren schon am 5. Juli 1776 erschrocken über ihren eigenen egalitären Radikalismus. Die Tinte auf dem Pergament der Unabhängigkeitserklärung sei kaum trocken gewesen, schreibt Gordon Wood, als viele der revolutionären Eliten schon zu zweifeln begannen, ob eine auf Freiheit und Gleichheit gegründete Gesellschaft überhaupt würde funktionieren können.27 Aus Sicht der wachsenden Zahl der Skeptiker schien die grundlegende Neudefinition sozialer Beziehungen, die die Unabhängigkeitserklärung vorgenommen hatte, die ohnehin schon laufende Auflösung angestammter gesellschaftlicher Hierarchien noch weiter zu beschleunigen. Tatsächlich kamen ja auch Mitglieder der unteren sozialen Schichten in den 1770/80er Jahren zunehmend in Ämter und Positionen politischer Macht. Die ehemals klaren Grenzen zwischen oben und unten, zwischen Herren und Knechten, zwischen den patriarchalischen Eliten und dem gewöhnlichen Volk wurden im Verlauf des revolutionären Prozesses immer unschärfer. Zutiefst beunruhigt über den rapiden Verfall von Autorität und Hierarchie in der revolutionären Gesellschaft begannen sich viele revolutionäre Eliten vom egalitären Universalismus der Unabhängigkeitserklärung zu distanzieren und arbeiteten darauf hin, den sich breit machenden demokratischen Radikalismus wieder einzuhegen und die naturrechtlich definierte Freiheit auf eine stabile Grundlage zu stellen. Im Kern ging es ihnen darum, das Freiheitsversprechen der Unabhängigkeitserklärung durch Verfassungsgebung abzusichern; das wurde, wie Gordon Wood feststellt, in den 1770/80er Jahren in vieler Hinsicht zur „essence of the Revolution.“28 Das Ergebnis dieser Bestrebungen war die heute noch gültige Verfassung von 1787, deren Geschichte zu kompliziert ist, als dass sie hier detailliert dargestellt werden könnte. Deshalb sei an dieser Stelle nur hervorgehoben, dass die Verfassung von 1787 die USA als flächenstaatliche Republik etablierte, die föderal organisiert war und in allen ihren Teilen auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruhte. Die Verfassung transformierte den bestehenden Staatenbund USA mit seiner nur losen und vor allem dezentralen Struktur in einen Bundesstaat mit einer starken Bundesregierung, deren Gewalt geteilt und dessen Zwei-KammernParlament dem Prinzip der repräsentativen Demokratie folgte. Diese Verfassung sollte zerstörerischen Parteienstreit überwinden und die demokratische Mitbestimmung des Volkes so regulieren, dass die Vorherrschaft der gebildeten und besitzenden Schichten gesichert sein würde, um so der Freiheit eine fest institutionelle Grundlage zu geben. In seinem berühmten Federalist Paper No. 10 charakterisierte James Madison die Verfassung von 1787 als „Republican remedy for the 26 Peter Kolchin, American Slavery 1619–1877, rev. ed., New York 2003, 85–92. May, Enlightenment in America (wie Anm. 6), 133–134, 249–250. Kelleter, Amerikanische Aufklärung (wie Anm. 6), 669–680. Generell zum Zusammenhang von Sklaverei und Republikanismus im Süden: Edmund S. Morgan, American Slavery, American Freedom. The Ordeal of Colonial Virginia, New York 1975, 363–387. 27 Gordon S. Wood, The Radicalism of the American Revolution, New York 1992, 229. 28 Wood, Creation (wie Anm. 11), 129.
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diseases most incident to Republican Government.“29 Er meinte damit, dass die Verfassung eine ideale Balance von Freiheit und Ordnung, Selbstbestimmung und Stabilität, Staatsmacht und Grundrechtsgarantie gefunden habe. Charles Beard hat in seiner wirkmächtigen Interpretation der Verfassung aus sozio-ökonomischer Perspektive argumentiert, dass die Verfassung von 1787 ein konterrevolutionärer Coup der besitzenden Eliten gegen den Geist der Unabhängigkeitserklärung gewesen sei.30 Das sehen heute nicht mehr allzu viele Historiker so. Wohl aber gibt es einen weithin geteilten Konsens, wonach die Verfassung von 1787 eine konservative Reaktion auf einen kraftvollen Demokratisierungsprozess war, der durch die revolutionären Ideale von 1776 nachhaltig beschleunigt wurde.31 Allerdings fiel diese konservative Reaktion nicht aus dem Wertehimmel der Aufklärung heraus. Die Verfassung von 1787 ist vielmehr ein Sieg der moderaten über die radikale Aufklärung in den USA. Für Henry F. May ist sie „perhaps the greatest monument of the Moderate Enlightenment“, weil der für die moderate Aufklärung so zentrale „spirit of balance and compromise“ mit ihr institutionalisiert worden sei.32 Alles in allem also machten sich die amerikanischen Revolutionäre im späten 18. Jahrhundert Maximen der politischen Aufklärung zu Eigen. Die Folgen waren jedoch höchst ambivalent. Die zentrale Rolle des universalen Naturrechtsliberalismus in der Gründungsideologie der USA produzierte politische, soziale und kulturelle Frontstellungen und Zerwürfnisse, die die Konfliktsignatur der USamerikanischen Geschichte bis in die Gegenwart prägen. Weil in diesen Konflikten immer auch konkurrierende Spielarten der Aufklärung aufeinanderprallten, hat die Aufklärung in Amerika in der Tat ein höchst ambivalentes Erbe hinterlassen. 2. Macht der Bilder – Bilder der Macht. Zur Visualisierung der Aufklärung in der Amerikanischen Revolution Diese unauflösbare Spannung von Moderation und Radikalismus, Freiheit und Ordnung, Egalitarismus und Hierarchie, Radikalismus und Moderation findet sich auch in den visuellen Narrativen der Zeit, die, wenngleich seit langem bekannt, kaum je einmal daraufhin befragt wurden, welche Spielart der Aufklärung ihre spezifische Ikonographie generiert hat. Es ist ja überhaupt charakteristisch für die Aufklärungsforschung, zumal für die jüngste, dass sie primär geistes– und ideengeschichtlich ausgerichtet ist und ihr Quellenmaterial deshalb nahezu ausschließlich aus dem Reservoir geschriebener Texte zieht. Gegen die traditionelle Schrift– und Textfixiertheit nicht nur der Geschichtswissenschaft, sondern der Geisteswis 29 James Madison, Federalist Paper No. 10, in: http://www.ourdocuments.gov/doc.php?doc=10. 30 Charles A. Beard, An Economic Interpretation of the Constitution of the United States, New York 1913. 31 Middlekauff, Glorious Cause (wie Anm. 25), 649. Diese Interpretation geht zurück auf: Wood, Creation (wie Anm. 11). 32 May, Enlightenment in America (wie Anm. 6), 100, 360.
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senschaften überhaupt, formiert sich seit etwa den 1990er Jahren die Teildisziplin der Visual Culture Studies, die kurz nach der Wende zum 21. Jahrhundert auch die deutsche Geschichtswissenschaft erreichte.33 Nachdem diese sich bis vor kurzem fast ausschließlich über geschriebene Texte Pfade in die Vergangenheit gebahnt und bildliche Quellen deshalb fast gänzlich ignoriert hat, geht es nun in der deutschen Geschichtswissenschaft mit aller Kraft an die Macht der Bilder. Der Konstanzer Historikertag stand 2006 unter dem Titel Geschichtsbilder. Zwei Jahre später gab Gerhard Paul den ersten Band seiner schnell vergriffenen Sammlung Das Jahrhundert der Bilder heraus, eine Art Katalog von Bildern des Säkulums, die buchstäblich Geschichte gemacht haben.34 Im September 2012 ließ Martin Sabrow auf den Helmstedter Universitätstagen die „Macht der Bilder in der Zeitgeschichte“ diskutieren35, und im Februar 2012 beschäftigten sich die deutschen Amerikahistoriker auf ihrem Jahrestreffen in Tutzing mit der „Visual History of the United States.“ Nachdem die Historikerinnen und Historiker in Deutschland lange Zeit nichts mit Bildern anzufangen wussten und in ihnen allenfalls Illustrationen zu geschriebenen Texten erblickten, ist die Visual History in der deutschen Geschichtswissenschaft nun plötzlich auf dem Vormarsch. Wohin die Reise geht, kann man gegenwärtig noch nicht sagen. Vieles spricht jedoch dafür, dass Visual History gekommen ist, um zu bleiben. Im Feld der American Studies hat sich der sogenannte Visual Turn allerdings schon vor einiger Zeit ereignet; die Visual Culture Studies haben sich bereits seit den 1990er Jahren zu einem der am schnellsten wachsenden und innovativsten Felder kulturwissenschaftlicher Forschung entwickelt. Drei der Prämissen der Visual Culture Studies sind für die folgenden Betrachtungen besonders wichtig. Da ist zunächst die Ansicht, dass sich Bilder als visuelle Argumente begreifen lassen, die integraler Bestandteil von sozialen Selbstverständigungs– und Selbstbeschreibungsprozessen sind, durch die sich einzelne Gruppen und ganze Gesellschaften über sich selbst und ihren Ort in der Welt verständigen. Das macht Bilder zu Akten kultureller Sinnstiftung, die jene Perspektiven auf „Welt“ organisieren und Orientierungen stiften, ohne die intentionales Handeln in der Welt nicht möglich ist. Bilder sind alles andere als ein gleichsam passiver Spiegel einer äußeren Wirklichkeit, denn sie bringen die Wirklichkeit, die sie darstellen, immer auch ein stückweit mit hervor.
33 Nicholas Mirzoeff, An Introduction to Visual Culture, London 22009. Ders., The Visual Culture Reader, London 22002. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek b. Hamburg 42010, 329–380. W. J. T. Mitchell, What do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago 2005. Ders., Showing Seeing. A Critique of Visual Culture, in: Journal of Visual Culture 1/2002, 165–181. Ders., Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago 1994. Volker Depkat / Meike Zwingenberger (Hgg.), Visual Cultures – Transatlantic Perspectives, Heidelberg 2012. Jane Kromm / Susan Benforado Bakewell (Hgg.), A History of Visual Culture. Western Civilization from the 18th to the 21st Century, Oxford 2010. 34 Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, Göttingen 2008. Ders. (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder. 1900 bis 1949, Göttingen 2009. 35 http://www.universitaetstage.de/.
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Aus dieser ersten Prämisse ergibt sich eine zweite: Bilder lassen sich als Visualisierung von abstrakten Wertideen und Normen einer Kultur lesen. Sie machen also das Unsichtbare sichtbar, visualisieren das Abstrakte. Deshalb kann man Bilder darauf hin untersuchen, wie sie Konzepte und Werte wie beispielsweise Vernunft, Tugend und Ordnung repräsentieren und damit sichtbar machen. Das heißt dann drittens wiederum, dass Bilder Perspektiven auf „Welt“ organisieren und Orientierung ihr gegenüber stiften, ohne die intentionales Handeln in der Welt nicht möglich ist. Perspektiven auf „Welt“ sind also stets kulturell konditioniert und die visuelle Repräsentationen von ihr somit nicht beliebig, sondern abhängig vom Werthaushalt einer Kultur. Damit ist dann freilich auch gesagt, dass es so etwas wie visuelle Grammatiken gibt, die – wie die Grammatik der Sprache – Regelsysteme beschreiben. Diese bestimmen, wie Bilder aufgebaut sind, aus welchen Elementen sie bestehen und wie diese arrangiert sind, welche Bedeutung den Farben zukommt und welchen Informationsgehalt die verschiedenen Zonen eines Bildes haben.36 Damit sind die theoretisch-konzeptionellen Grundlagen für die nun folgende Analyse von drei visuellen Repräsentationen der Amerikanischen Revolution gelegt, die als Visualisierung von aufklärerischen Wertideen und Praktiken gelesen werden können und doch zugleich von der unauflösbaren Spannung zwischen moderater und radikaler Aufklärung in der Amerikanischen Revolution getragen sind. 2.1 John Trumbull, The Declaration of Independence, July 4, 1776 Das erste Fallbeispiel ist John Trumbulls berühmte Darstellung The Declaration of Independence, July 4, 1776, die zwischen 1787 und 1826 in mehreren Versionen entstand und die Ikonographie der Revolution entscheidend geprägt hat.37 John Trumbull war als Veteran des Amerikanischen Revolutionskrieges entschlossen, der revolutionär begründeten Republik durch Historienmalerei zu einer nationalen Identität zu verhelfen. 1785 begann er mit einem auf dreizehn Teile angelegten Zyklus zur Geschichte der Amerikanischen Revolution; acht davon stellte er fertig, darunter die erste Version von The Declaration of Independence, July 4, 1776. Dieses 53 x 78,7 Zentimeter große Ölgemälde ist offenbar schon in Paris auf Anregung von Thomas Jefferson begonnen worden, und es basiert maßgeblich auf Beschreibungen und Skizzen, die der Hauptverfasser der Unabhängigkeitserklärung vom Versammlungsraum des Zweiten Kontinentalkongresses im 36 Gunter Kress / Theo van Leeuwen, Reading Images. The Grammar of Visual Design, London 2 2006. 37 Irma B. Jaffe, John Trumbull. Patriot-Artist of the American Revolution, Boston 1975. Dies., Trumbull. The Declaration of Independence, New York 1976. Helen A. Cooper, John Trumbull. The Hand and Spirit of a Painter, New Haven/CT 1982. J. F. Weir, John Trumbull. A Brief Sketch of His Life, to which is added a Catalogue of his Works, New York 1901. Robert Hughes, American Visions. The Epic History of Art in America, London 1997, 132–135. Stuart A. P. Murray, John Trumbull. Painter of the Revolutionary War, Armonk/NY 2009.
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Pennsylvania State House – heute die Independence Hall – Trumbull zur Verfügung gestellt hatte (Abb. 1). Nach 1815 bemühte sich Trumbull dann energisch um eine Kommission für die kunstmalerische Ausgestaltung des neu errichteten U.S. Capitol in Washington, D.C., und 1817 gab der amerikanische Kongress bei ihm vier historische Szenen aus der Revolutionszeit in Auftrag, die in der Rotunda des Kapitols angebracht werden sollten. Bei den vier Szenen handelt es sich um die Kapitulationen der Briten bei Saratoga (1778) und Yorktown (1783), den Rücktritt Washingtons als Oberkommandierender der Kontinentalarmee (1783) sowie The Declaration of Independence. Im Jahre 1817 bestellt und im Jahr 1819 angekauft, wurden die Bilder 1826 in der Kuppel des Parlamentsgebäudes angebracht und der Öffentlichkeit übergeben, die damals jedoch kaum Notiz davon nahm.
Abb. 1: John Trumbull, The Declaration of Independence, July 4, 1776 (Quelle: Yale Art Gallery, Trumbull Collection, 1832.3).
Im Kapitol misst das monumentale Ölgemälde The Declaration of Independence 3,6 x 5,4 Meter, und wie schon sein deutlich kleiner dimensionierter Vorgänger aus den 1780er Jahren zeigt es eine Szene, die sich nicht am 4. Juli, sondern am 28. Juni 1776 ereignet hat. Zu sehen ist wie die aus fünf Männern – Thomas Jefferson, Benjamin Franklin, John Adams, Roger Sherman und Robert Livingston – bestehende Arbeitsgruppe den von ihr in rund zweiwöchiger Diskussion erarbeiteten Entwurf für den Text der Unabhängigkeitserklärung an den Präsidenten des Kongresses, John Hancock, zur weiteren Beratung übergibt. Der von Adams, Sherman, Livingston und Franklin umgebende Jefferson steht im Zentrum der Gruppe und hält mit seiner rechten Hand die linke untere Ecke des Papiers noch in
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der Hand, der Großteil des Blattes liegt aber schon auf dem Schreibtisch vor John Hancock. Wir sehen hier also buchstäblich den Moment der Übergabe der Unabhängigkeitserklärung, wie er auch von 42 weiteren Menschen im Raum beobachtet wird. Bei ihnen handelt es sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, um spätere Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung. Deren Portraits hatte Trumbull über lange Jahre hinweg am lebenden Modell abgenommen, so dass wir hier mit den Bildnissen von 42 historischen Individuen konfrontiert sind, die sich freilich niemals zur selben Zeit im gleichen Raum befunden haben. Insgesamt verbindet sich deshalb in diesem Bild das Bemühen um historische Authentizität mit einem geschichtspolitischen Gestaltungswillen, der ein zentrales Ereignis der amerikanischen Geschichte jenseits der historischen Faktizität als Gründungsmoment der amerikanischen Demokratie konstruiert. Die visuelle Grammatik dieses Bildes betont ganz die Ordnung und innere Rationalität des Vorgangs. Die Fluchtlinien des Bildes teilen das Bild in klar abgetrennte Zonen auf. Im Vordergrund der Szene, der rund zwei Drittel der Leinwand einnimmt, steht die Arbeitsgruppe am Tisch des sitzenden Präsidenten, der scheinbar regungslos, in kühl-sachlicher Manier den Textentwurf entgegennimmt. Rund um diese Szene sitzen die Delegierten des Zweiten Kontinentalkongresses in gerader Linie aufgereiht. Wie das Publikum in einem Theater schauen die Delegierten des Zweiten Kontinentalkongresses dem sich in deutlichem Abstand vor ihren Augen abspielenden Geschehen auf der politischen Bühne zu, doch nicht alle schauen in die Mitte des Raumes. Die Delegierten erscheinen ebenfalls regungslos und gefasst; Bewegung ist in dieser ganzen Szene insgesamt nicht festgehalten. Es ist alles sehr getragen, würdevoll, gemessen und abwägend – ein wohlgeordnetes Ganzes, frei von jeder Leidenschaft, Unordnung und Tumult. Die Rationalität des Moments wird durch die prominent ins Licht gerückten Papiere auf dem Schreibtisch von John Hancock noch unterstrichen. Auch ein Buch und Feder mit Tintenfass sind dort zu sehen. Dies deutet auf den hohen Bildungsgrad der Versammlung und ihre sich in Schriftstücken niederschlagende kollektive Weisheit hin. Thomas Jefferson fügt den dort bereits liegenden Papieren nur noch ein weiteres hinzu. Durch das Arrangement der Gruppe, in der Jefferson als primus inter pares erscheint, wird der kollektive Charakter des Textes der Unabhängigkeitserklärung bereits angedeutet. Historisch war es so, dass der Text weitgehend von Jefferson im Alleingang verfasst und dann von den anderen Mitgliedern der Arbeitsgruppe nur modifiziert wurde. Auch hat Jefferson als Sprecher der Gruppe den Textentwurf offenbar allein überreicht.38 Indem er Jefferson hier von den anderen Mitgliedern der Gruppe einrahmt, visualisiert Trumbull die Unabhängigkeitserklärung jedoch als einen kollektiven Text, und verankert ihn gleichzeitig in noch weiteren Bezügen der Kollektivität. Denn festgehalten wird ja nur der Moment, in dem die von den Delegierten des Zweiten Kontinentalkongresses eingesetzte Arbeitsgruppe das Ergebnis ihrer Überlegungen dem Präsidenten des Gremiums überreicht, auf dass es diesen Text im Anschluss dis 38 Middlekauff, Glorious Cause (wie Anm. 25), 320–328. Maier, American Scripture (wie Anm. 11).
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kutiere. Das die Szene im Hintergrund umstehende Publikum ist damit nicht nur passiver Beobachter, sondern wird im Anschluss an diese Episode zur Instanz der kritischen Prüfung der in der Unabhängigkeitserklärung vorgebrachten Argumentation durch öffentliche Diskussion. Trumbull visualisiert hier das, was Immanuel Kant den „öffentlichen Gebrauch der Vernunft“ und was Jürgen Habermas „Diskurs“ genannt hat: Eine ideale Gesprächssituation des herrschaftsfreien, durch Rede und Gegenrede strukturierten öffentlichen Austausches von Argumenten mit der Öffentlichkeit als Schiedsinstanz, an dessen Ende das „bessere“, weil „rationalere“ Argument obsiegt haben und somit die ‚Wahrheit’ selbst erschienen sein würde.39 In diesem Zusammenhang sei betont, dass Trumbull das Geschehen in einen komplett geschlossenen Raum verlagert. Türen und Fenster sind geschlossen, die Vorhänge sind zugezogen. Abgeschirmt von äußeren Einflüssen sind die Delegierten ganz auf sich selbst und ihren Verstand zurückgeworfen und mit den Argumenten der jeweils anderen konfrontiert. Diese kritisch zu prüfen ist ihre Aufgabe. Allerdings wird gerade in der Abgeschlossenheit des Raumes auch die für die Aufklärung in Amerika so zentrale Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus deutlich: Die Gruppe derjenigen, die hier im Namen der universalen Vernunft die naturrechtliche Freiheit eines jeden Menschen proklamieren, ist in ihrer sozialen Zusammensetzung höchst homogen und zugleich partikular: Es sind nur erkennbar wohlhabende, weiße Männer der oberen sozialen Schichten auf der Szene zu sehen, die bei allem egalitären Radikalismus doch immer auch nach einer Balance von Freiheit und Ordnung trachteten, weil sie selbst in einer radikal egalitär-demokratischen Gesellschaft viel zu verlieren hatten. 2.2 Gilbert Stuart, Landsdowne Portrait von George Washington Das zweite Beispiel, das hier erörtert werden soll, ist das sogenannte Landsdowne Portrait von George Washington, das Gilbert Stuart im Jahr 1797 angefertigt hat.40 Es zeigt George Washington als Präsidenten der USA und ist als ein erster Versuch zu werten, Autorität und Legitimität eines postrevolutionären Staatsoberhaupts zu visualisieren. Dieses Bild, von dem Stuart mehrere Kopien anfertigte, war im April 1796 von Senator William Bingham (Pennsylvania) in Auftrag gegeben und dem britischen Premierminister William Petty FitzMaurice, 2nd Earl of 39 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784, 481–494. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1981. 40 Carrie Rebora Barratt / Ellen G. Miles, Gilbert Stuart, New Haven 2004, 166–183. Dorinda Evans, The Genius of Gilbert Stuart, Princeton 1999, 60–73. Noble E. Cunningham, Popular Images of the Presidency. From Washington to Lincoln, Columbia 1991, 130–139. Volker Depkat, The Grammar of Postrevolutionary Visual Politics. Comparing Presidential Stances of George Washington and Friedrich Ebert, in: Udo J. Hebel / Christoph Wagner (Hgg.), Pictorial Cultures and Political Iconographies. Approaches, Perspectives, Case Studies from Europe and America, Berlin 2011, 176–197.
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Shelburne, 1th Marquess of Lansdowne, als Geschenk verehrt worden. In Form von Stichen und Drucken war das Bild breit und vielfältig in den USA – aber auch in Europa – präsent. Das zeigt nicht zuletzt der hier abgedruckte Stich General Washington, der im Jahre 1818 von C. Goodman und B. Piggot in Philadelphia zum Verkauf auf dem damals rasch expandierenden Markt für Stiche angefertigt wurde (Abb. 2). Das Landsdowne Portrait ist in vieler Hinsicht das Urbild demokratischer Staatsikonographie, und es visualisiert auf seine Weise den Werthaushalt der moderaten Aufklärung, wie er in der amerikanischen Verfassungsordnung institutionalisiert worden ist. Washington steht im Zentrum des monumentalen Bildes. Sein Körper ist im halblinken Profil ganz zu sehen, sein rechter Arm ist in Rednergeste ausgestreckt, in seiner linken Hand hält Washington ein Zierschwert in der Scheide, dessen Spitze auf den Boden zeigt. Das Schwert deutet auf seine in der Vergangenheit liegenden militärischen Verdienste hin, doch bleibt der General George Washington in diesem Bild ganz klar der Zivilperson des Präsidenten George Washington untergeordnet. Washington hat einen dunklen Samtanzug an, dessen Jacke mit Stehkragen bis auf seine Knie herab reicht. Dazu trägt er schwarze Strümpfe, schwarze Lederschuhe mit silbernen Schnallen und ein weißes Hemd mit Spitzenborten an Kragen und Ärmeln. Insgesamt ist seine Kleidung von unaufdringlicher Eleganz. Sie ist zwar von erkennbar guter Qualität, aber nicht pompös oder extravagant, sondern eher moderat, zurückgenommen und bürgerlich. Ein schwarzer Hut mit Kokarde, der auf dem Schreibtisch liegt, komplettiert seinen formal korrekten Anzug. Der Hut des Bürgers ist an die Stelle der monarchischen Krone getreten. Das Gesicht Washingtons ist symmetrisch geformt und ebenmäßig proportioniert. Er wirkt wie eine antike Statue und verrät Milde und Entschlusskraft zugleich. Vor dem Hintergrund physiognomischer Theorie wird sein „schönes“ Gesicht zum Spiegel seiner „schönen“ Seele – und wir wissen, wie sehr Gilbert Stuart sich angestrengt hat, dem in Wirklichkeit sehr viel grobschlächtigeren Gesicht Washingtons die engelsgleiche Ebenmäßigkeit zu geben.41 Politisch gewendet heißt das, dass das Gesicht Washingtons den tugendhaften und moralischen Charakter des ersten amerikanischen Präsidenten visualisiert, ohne den im Denken der Zeit ein auf Freiheit und Selbstbestimmung gegründetes Gemeinwesen nicht bestehen konnte.42 Betont sei, dass Washington hier als Bürger des Staates dargestellt wird, dem er als Staatsoberhaupt und Regierungschef vorsteht. Der fiktive Raum, in dem er sich befindet, ist offen und transparent. Washington selbst steht nicht erhöht auf einem Podest, wie so viele Könige und Fürsten in der europäischen Ikonographie der Macht. Seine ausgestreckte Hand scheint anzudeuten, dass er als Redner ver 41 Barrat / Miles, Stuart (wie Anm. 40), 147–153. 42 Volker Depkat, Die Erfindung der republikanischen Präsidentschaft im Zeichen des Geschichtsbruchs. George Washington und die Ausformung eines demokratischen Herrscherbildes, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56/2008, Heft 9, 728–742, hier: 738–739.
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Abb. 2: G.Stuart (Maler), C. Goodman, B. Piggot (Stecher), General Washington, Philadelphia 1818 (Quelle: American Antiquarian Society, R54 B dr 6 – CAPE).
sucht, sein Publikum mit Argumenten zu überzeugen und somit mit der Kraft des besseren Argumentes zu regieren. Dabei ordnet er sich stets der Verfassung als Quelle seiner temporären Macht unter. Das kommunizieren vor allem die Bücher, die unter und auf dem Schreibtisch durcheinander liegen. Eines der Bücher unter dem Tisch heißt Constitution & Laws of the United States, und auf dem Schreibtisch liegen The Federalist Papers und The Journal of Congress.43 All diese Werke sehen benutzt aus; der Präsident arbeitet also mit ihnen, wie überhaupt die Schriftstücke auf dem Schreibtisch und das Tintenfass mit Feder Washington alle 43 Barrat / Miles, Stuart (wie Anm. 40), 169.
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samt als ein persönlich regierendes Staatsoberhaupt ausweisen, das durch seine Tätigkeit die Verfassungsordnung erhält und in die Zukunft sichert. Individuelle Leistung als Ausweis moralischer Integrität wird somit zum zentralen Kriterium von Washingtons Autorität und Legitimität. Das wird auf dem Bild auf vielfache Weise visualisiert. Zwei der Bücher unter dem Tisch – ein Werk mit dem Titel American Revolution und die von ihm als Oberkommandierenden der Kontinentalarmee erlassenen Tagesbefehle („Circular Orders“) – verweisen direkt auf Washingtons Verdienste um die Amerikanische Revolution und lassen ihn gleichsam zur Personifikation der in der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung von 1787 eingeschriebenen, politisch-sozialen Wertideen erscheinen. Ebenso verweist das Zierschwert auf seine militärischen Erfolge im Amerikanischen Revolutionskrieg. Allerdings entwirft die klare Unterordnung der militärischen unter die zivile Symbolik Washington als Cincinnatusfigur, als einen idealen Republikaner also, der in Zeiten der äußeren Bedrohung seine privaten Interessen hintanstellt und das bedrohte Gemeinwesen unter Einsatz seines Lebens verteidigt, nur um wieder ins Privatleben zurückzugehen, sobald die Gefahr abgewendet ist.44 Wenngleich die Darstellung Washingtons als erstem postrevolutionären Staatsoberhaupt und Regierungschef im Landsdowne Portrait noch unverkennbar viele Elemente der aristokratisch-monarchischen Ikonographietraditionen aufweist, auf die hier gar nicht eingegangen werden konnte, so ist es doch bemerkenswert, dass Gilbert Stuart sich entschloss, Washington ostentativ als ersten Bürger des Staates zu entwerfen, der auch im Amt des Präsidenten stets Teil der Gesellschaft bleibt, die er regiert. Dominant sind Symbole von Staatsbürgerlichkeit und bürgerlicher Respektabilität, die auf persönlicher Bildung, individueller Leistung, Tugend und Moral aufruht. Allerdings steht das visuelle Narrativ, das aus den beiden bislang besprochenen Bildern hervorgeht und das die Amerikanische Revolution als rationale Anwendung aufklärerischer Wertideen und Praktiken im Kontext von Freiheitsstreben und Ordnungsverlangen darstellt, nicht allein. Es gibt noch eine weitere, mit dieser ersten kaum zu vereinbarenden Erzählung, die die radikalen, leidenschaftlichen und tumultuarischen Aspekte des Geschehens betont. 2.3 John Warner Barber, Celebration of Independence at New York in 1776 Ein Beispiel für dieses alternative visuelle Narrativ findet sich in dem illustrierten Geschichtslesebuch Interesting Events in the History of the United States. Being a Selection of the Most Important and Interesting Events which have Transpired since the Discovery of this Country to the Present Time von John Warner Barber, das 1832 in New Haven erschien. John Warner Barber war ein sehr wirkmächtiger 44 Vgl. dazu Garry Wills, Cincinnatus. George Washington and the Enlightenment, New York 1984. Karsten Fitz, The American Revolution Remembered, 1830s–1850s. Competing Images and Conflicting Narratives, Heidelberg 2010.
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Geschichtspolitiker in der frühen amerikanischen Republik, der in volkspädagogischer Absicht eine Vielzahl von illustrierten Geschichtsbüchern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den Markt warf, um so zur nationalen Identitätsbildung beizutragen. Die Bücher waren primär für den jugendlichen Leser und zum Gebrauch in der Schule gedacht, doch sie wurden auch in anderen Alltagskontexten gelesen. Die Bücher boten in der Regel einen Durchgang durch die amerikanische Geschichte von dem Beginn der europäischen Besiedlung bis in die Schreibgegenwart und waren vielfach episodisch strukturiert und mit Stichen illustriert, die von Barber selbst angefertigt worden waren. Die Illustrationen sollten, so Barber, dem Leser helfen, die im Text präsentierten Fakten aufzunehmen und zu erinnern.45
Abb. 3: Celebration of Independence, in: John Warner Barber, Interesting Events in the History of the United States. Being a Selection of the Most Important and Interesting Events Which Have Transpired Since the Discovery of this Country to the Present Time, New Haven 1832, 120-121, (Quelle: American Antiquarian Society E100 B234 I832).
45 Zum generellen geschichtsdidaktischen Konzept: John Warner Barber, Historical Scenes of the United States, or Selection of Important and Interesting Events in the History of the United States, New Haven 1827, Preface (ohne Paginierung). Zum Genre der „Illustrated Histories“ siehe: Georgia B. Barnhill, Pictorial Histories of the United States, in: Visual Resources 11/1995, 5–19. Gregory M. Pfitzer, Picturing the Past. Illustrated Histories and the American Imagination, 1840–1900, Washington/DC 2002.
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In dem 1832 erschienenen Interesting Events in the History of the United States finden sich insgesamt fünfzehn Bildseiten mit jeweils zwei Szenen aus der amerikanischen Geschichte; davon sind allein elf der insgesamt 30 Szenen Ereignissen und Personen der Amerikanischen Revolution gewidmet. Es beginnt mit der Boston Tea Party46 und geht dann über zu den ersten Gefechten des Amerikanischen Revolutionskrieges bei Lexington und Bunker Hill.47 Des Weiteren warden Arnold’s March through the Wilderness und Death of General Montgomery48, Murder of Miss McCrea und Storming of Stoney Point49 sowie Capture of Andre und Surrender of Cornwallis50 bildlich dargestellt. Für den vorliegenden Beitrag besonders interessant ist die zwölfte Bildseite, auf der Celebration of Independence (Abb. 3) und Battle of Trenton dargestellt sind.51 Der komplette Titel des der Unabhängigkeitserklärung gewidmeten Bildes lautet: Celebration of Independence at New York in 1776. At this celebration the statue of George III was demolished – being composed of Lead it was converted into Musket Balls. Zu sehen ist, wie die Bürger New Yorks das Reiterstandbild Georgs III. mit einem Seil, das um den Hals des Monarchen geschlungen ist, unter lautem Gejohle vom Podest ziehen. Das Geschehen wird im Vordergrund eingerahmt von zwei Soldaten in Habachtstellung und einem rechts von ihnen stehenden Offizier, während im Hintergrund Rauch aufsteigt. Das Zentrum des Bildes ist zweigeteilt: Das Reiterstandbild ist im halblinken Zentrum der Darstellung positioniert, die johlende Menge im halbrechten Zentrum. Verbunden sind beide Bildhälften durch das Seil, mit dem die New Yorker Bürger den König in ihre Bildhälfte ziehen. Diese visuelle Semantik des Rechts-Links ist wichtig, weil die rechte Zone eines Bildes im Kontext westlicher Semiotik oft die Vergangenheit, das Traditionelle, das Alte und das Überkommene repräsentiert, während die linke Zone die Gegenwart, aber auch das Noch-Nicht, die Zukunft darstellen kann.52 Mit der symbolischen Zerstörung der Monarchie zerstören die Bürger New Yorks hier also das Alte und Überkommene, um die Grundlage für die Zukunft zu legen. Der Gesamteindruck des Bildes ist der eines tumultuarischen Aufflammens von Passion und Leidenschaft, Unordnung und Gewalt. Die Menge im Hintergrund ist ungeordnet, steht durcheinander, ist in Bewegung. Damit fügt sich dieses Bild harmonisch in das im Geschichtslesebuch John Warner Barbers insgesamt um die Elemente Konflikt, Kampf, Krieg, Leidenschaft und Nationalismus organisierte visuelle Narrativ zur Amerikanischen Revolution ein. In seiner Darstellung der Feierlichkeiten zur Unabhängigkeitserklärung bekommen wir einen Diskurs 46 John Warner Barber, Interesting Events in the History of the United States. Being a Selection of the Most Important and Interesting Events which have Transpired since the Discovery of this Country to the Present Time, New Haven 1832, 95 (Destruction of Tea). 47 Barber, Interesting Events (wie Anm. 46), 96–97 (Battle of Lexington; Battle of Bunker's Hill). 48 Ebd., 108–109. 49 Ebd., 126–127. 50 Ebd., 146–147. 51 Ebd., 120–121. 52 Vgl. Kress / van Leeuwen, Reading Images (wie Anm. 36), 179–185.
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strang zu fassen, der dem von Trumbull und Stuart diametral entgegensetzt scheint, der sich aber doch mit dem radikalen Egalitarismus der Unabhängigkeitserklärung verbinden lässt. Mit ihrem Bekenntnis zum Naturrechtsliberalismus und einer daran gekoppelten liberalen Staatstheorie, die den Schutz individueller Grundrechte zum einzigen Staatszweck erklärte, hatte die Amerikanische Revolution ihre anti-monarchische und anti-autokratische Wende genommen. Die Unabhängigkeitserklärung markierte nicht nur den Bruch mit dem Mutterland und machte den britischen König Georg III. als Alleinschuldigen aus. Sie diskreditierte vielmehr auch alle Formen von zentralisierter Gewalt und staatlicher Exekutive grundlegend.53 Staatliche Macht – und insbesondere die der Exekutive – hatte demnach einen ihr innewohnenden Drang zur fortwährenden Ausweitung; am Ende dieses Prozesses drohte Despotie und die völlige Zerstörung individueller Freiheit. Deshalb konnte es nur darum gehen, die Macht des Staates zu beschränken, sie zu dezentralisieren und auf möglichst viele Schultern zu verteilen. In noch weiteren Bezügen reflektiert, war die anti-monarchische Wende der Amerikanischen Revolution, wie sie sich am 4. Juli 1776 vollzog, auch eine anti-autoritäre, radikal egalitäre Wende, die Staat und Gesellschaft auf die Grundlage der „ordinary people“ stellte.54 Deshalb feierten die New Yorker die Erklärung der Unabhängigkeit mit der Zerstörung des Reiterstandbildes von Georg III., während anderswo Bilder des Monarchen verbrannt oder königliche Wappen demoliert wurden.55 3. Schluss Wo bleibt denn in Amerika die Aufklärung? Das ist gar nicht so leicht zu beantworten, sofern man nicht zunächst den Begriff der Aufklärung in verschiedene „Aufklärungen“ zerlegt und gar nicht erst versucht, die konkurrierenden Varianten in einem monolithischen Ganzen harmonisierend aufzulösen. Weiterführend für die Beantwortung der Frage, was die USA denn mit der Aufklärung zu tun haben, ist in diesem Zusammenhang die von Henry F. May, Jonathan Israel und anderen angeregte systematische Trennung zwischen einer moderaten und einer radikalen Strömung innerhalb der politischen Aufklärung, die nicht nur miteinander konkurrierten, sondern einander auch bekämpften. Vor diesem Hintergrund hat der vorliegende Beitrag gezeigt, dass die USA als Land der angewandten Aufklärung den unauflösbaren Gegensatz von radikaler und moderater Aufklärung in sich eingeschrieben haben. Er trägt die verbalen Diskurse, wie sie im Schrifttum der Zeit niedergelegt sind, genauso wie die visuellen Narrative der amerikanischen Revolution, die im Zentrum dieses Beitrags standen. 53 Ralph Ketcham, Presidents above Party. The First American Presidency, Chapel Hill/NC 1984, 69–85. Saul Cornell, The Other Founders. Anti-Federalism and the Dissenting Tradition in America, 1788–1828, Chapel Hill/NC 1999, 19–34 u. passim. Depkat, Erfindung (wie Anm. 42), 731–733. 54 Das ist das zentrale Argument von Wood, Radicalism (wie Anm. 27), ix. 55 David Waldstreicher, In the Midst of Perpetual Fetes. The Making of American Nationalism, 1776–1820, Chapel Hill/NC 1997, 30–37.
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Viele der Paradoxien Amerikas sind genau diesem Gegensatz geschuldet: Sklaverei in einem Land der Freiheit, Diskriminierung von Frauen und Minderheiten in einem Land der grundrechtlich definierten Chancengleichheit und vieles andere mehr. Das wohl größte Paradoxon der amerikanischen Geschichte, betrachtet man sie denn unter dem Blickwinkel der Aufklärung, ist freilich, dass die Gründerväter der USA die moderate Aufklärung in ihren Verfassungen institutionalisierten, um die radikal-egalitären und demokratischen Tendenzen in Schach zu halten, und dabei die Spielregeln für einen politischen Prozess definierten, in dessen Vollzug das revolutionäre Freiheitsversprechen auf immer weitere Kreise der Bevölkerung ausgeweitet wurde. Die Demokratisierung der amerikanischen Republik als ein Basisprozess des 19. und 20. Jahrhunderts vollzog sich zwar in vieler Hinsicht gegen die ursprünglichen Intentionen der Verfassungsväter, aber stets auf der Grundlage der in der Verfassung von 1787 institutionalisierten „prozeduralistischen Vernunft“. Allerdings war das alles andere als eine harmonische, „rationale“ Entwicklung, sondern vielmehr ein von Konflikt, Kampf und Gewalt strukturierter Prozess. Auch diese Dynamik deutete sich in den hier analysierten visuellen Repräsentationen schon an, in denen Freiheitsstreben und Ordnungsverlangen gleichermaßen präsent sind.
MONARCHEN ALS MODERATOREN AUFKLÄRERISCHER VORSTELLUNGEN UND FORDERUNGEN IN EUROPA Zum Selbstverständnis von Friedrich II. und Katharina II. als „philosophes“ Bernd Sösemann, Berlin Im vergangenen Friedrichjahr ist nur eine gründliche Darstellung zur preußischosteuropäischen Geschichte erschienen. Das Buch von Hans-Jürgen Bömelburg und Matthias Barelkowski 1 berücksichtigt in fünf seiner dreizehn Kapitel auch die politisch-ideologischen Instrumentalisierungen von Friedrich dem Großen in Polen, Deutschland und Preußen. Einen zentralen Platz in der Beziehungs– und Wirkungsgeschichte nehmen die russisch-preußische Entente ein, die erste Teilung Polens und ihre Auswirkungen auf die spätere Geschichte. Auf diese Monographie ist aufmerksam zu machen, weil sie in mehreren Abschnitten die selten behandelte Mittler– und Vermittler-Position des preußischen Monarchen in der europäischen Staatenwelt ebenso beachtet wie die rezeptionsgeschichtliche Thematik, die selbst in neueren oder wieder aufgelegten Friedrich-Biographien fehlt. Dieses Defizit erstaunt allein schon deshalb, weil in dem Siècle des lumières der europäische Kommunikationsraum, der Buch– und Zeitungsmarkt sowie die Verkehrslinien, sehr gut erschlossen war, respektive seit der Jahrhundertmitte zügig und effizient organisiert oder ausgebaut wurde. 2 Der europaweite Austausch an 1 2
Hans-Jürgen Bömelburg / Matthias Barelkowski, Friedrich II. zwischen Deutschland und Polen. Ereignis– und Erinnerungsgeschichte, Stuttgart 2012. Um 1700 erschienen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation rund 60 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von etwa 4.000 Exemplaren, um 1750 waren es fast einhundert. Bis zur Jahrhundertwende steigerte sich das Aufkommen auf rund 250 Einheiten mit einer Gesamtauflage von ungefähr 120.000 Exemplaren, so dass eine Leserschaft von mehr als 1,3 Millionen angenommen werden kann. Allein der Reichs-Post-Reuter kam im Siebenjährigen Krieg auf eine Auflage von 13.000 Exemplaren (Holger Böning, Dem Bürger zur Information und Aufklärung: Die Staats– und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 14 (2012), 5–41; hier: 32). Die Zahlenangaben über das Publikum der Kaffeehäuser und Lesegesellschaften, Lesezirkel und ähnliche Vereine und Gesellschaften sind unsicher; daher gestatten die Quellen nur grobe Schätzungen (Martin Welke, Zeitung und Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. Betrachtungen zur Reichweite und Funktion der periodischen deutschen Tagespublizistik, in: Elger Blühm / Martin Welke (Hgg.), Presse und Geschichte, München 1977, 71–99); zu Öffentlichkeit und Kommunikation s. Patrick Merziger, Der öffentliche König? Herrschaft in den Medien während der drei Schlesischen Kriege, in: Bernd Sösemann / Gregor Vogt-Spira (Hgg.), Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung. 2 Bde., Stuttgart 2012, Bd. 1, 209– 223; hier: 214–216 und 221f.
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Ideen gestaltete sich so intensiv, dass die wechselseitige Rezeption der in gelehrten Abhandlungen, Broschüren, Journalen oder in populären Pamphleten veröffentlichten Gedanken relativ schnell und vielschichtig ablief. Dennoch sei aber eine „Europäisierung Preußens, der eigentlich angemessene Umgang mit dem ostmitteleuropäischen Machtstaat“, zumeist ausgeblieben, wie Bömelburg und Barelkowski in ihrem Vorwort betonen. 3 Das von Gregor Vogt-Spira und mir konzipierte Sammelwerk Friedrich der Große in Europa hat mit seinen aus sieben Nationen stammenden Autoren den preußischen Monarchen bewusst als eine Persönlichkeit des 18. Jahrhunderts zu erfassen versucht. 4 Die 55 Beiträge thematisieren daher durchgehend den europäischen Kontext und rezeptionsgeschichtliche Fragestellungen. 5 Mir geht es hier vorrangig um die Einstellung, Mentalität und das Verhalten von zwei außergewöhnlichen Staatsoberhäuptern. 6 Sie haben sich in derselben Epoche mit dem gesamteuropäischen Projekt Aufklärung nachdrücklich, anspruchsvoll und gezielt auseinander gesetzt. Ich frage nach den Kenntnissen und Erfahrungen dieser beiden Souveräne, nach der Stärke ihres Engagements sowie nach ihren Reaktionen auf die Ideen und praktischen Forderungen aus den Kreisen der Aufklärer. Beide verstanden sich als „philosophes“ im Sinn der „Aufklärung“, wie sie vornehmlich von den „encyclopédists“ am klarsten und emphatischsten sowie besonders nachhaltig und effektvoll vertreten wurde: „honnête homme qui agit en tout par raison, & qui joint à un esprit de réflexion et de justesse les mœrs & les qualitiés sociables.“ 7 Zum einem als an der Praxis und Empi3 4
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Bömelburg / Barelkowski, Friedrich II. (wie Anm. 1), VII. Sösemann / Vogt-Spira, Friedrich (wie Anm. 2). – Diese Schwerpunktsetzung und weitere Besonderheiten bestimmten den Rezensenten Heinz Duchhardt zu der Feststellung, das Werk werde „für längere Zeit als eine Wegmarke der Friedrich-Historiographie“ gelten: „die europäische Einbettung des Monarchen [ist ] noch längst nicht die Regel und wird hier in der Regel konsequent befolgt. […] Friedrich ist hier nicht nur ‚europäisiert‘, sondern zu einem guten Stück auch ‚normalisiert‘ worden […]“ (Sehepunkte, Ausgabe 12 [2012], Nr. 9). Das gilt auch für den ergänzenden Sammelband über die Vorstellung und Diskussion des Projekts an ausgewählten Orten Europas. In Wien hat der niederländische Wirtschaftshistoriker Peer Vries in einem chinesisch-deutschen Vergleich (Ein ferner Spiegel: der QianlongKaiser, in: Bernd Sösemann (Hg.), Friedrich der Große in Europa – gefeiert und umstritten, Stuttgart 2012, 82–94) Friedrichs Staat und Politik mit dem Reich, Handeln und dem Wirken des Qianlong-Kaisers (1711–1799) verglichen, „um die Kontextualisierung des Handelns der beiden Herrscherpersönlichkeiten zu ermöglichen. Er zeigt, dass eine ausgewogene Bewertung der ‚Größe‘ Friedrichs und der Tragweite seines Handelns nur aus einem spezifisch europäischen Kontext heraus erreicht werden kann. Die Logik der europäischen Politik und der europäischen Staatenbildung war nicht unbedingt die ‚normale’“ (ebd., 82). – Beiden wurde von den Zeitgenossen und Nachlebenden der ehrende Namenszusatz „der Große“ verliehen. Erste Überlegungen zu diesem Thema bildeten die Grundlage eines von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius geförderten Vortrags am Deutschen Historischen Institut Moskau (8.11.2012). Für Anregung und Förderung, Organisation und Moderation danke ich den Herren Dr. Klaus Asche, Prof. Dr. Michael Göring, Prof. Dr. Nikolaus Katzer und Sascha Suhrke. Mit Bezug auf den 12. Band der Encyclopédie finden sich detaillierte Hin– und Nachweise bei Andreas Gipper, „Je ne me suis jamais piquée d’être philosophe (…)“, Philosophie und
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rie interessierte, vorurteilslose sowie im Gebrauch ihrer Vernunft systematisch geschulte „Dilettanten“ in einem europäischen Siècle des lumières. Damit unterschieden sie sich vom Schöngeist („bel esprit“). Zum anderen setzten sie sich auch vom Wissenschaftler und Gelehrten („erudit“, „savant“) ab, indem sie bewusst als sozial engagierte Moderatoren handelten („erster Diener“). Aus ihrer Selbstdarstellung und Positionierung dürften sich Erkenntnisse für den Vergleich zweier „aufklärerischer Lebens– und Regierungskonzepte“ ergeben. Deshalb sind Aufschlüsse bedeutsam über – ihre persönlichen Voraussetzungen, d.h. ihre Mentalität, Motive und Intentionen bei der Aneignung „aufklärerischer“ Ideen, – die Möglichkeiten und den Umfang einer von philosophischen Entwürfen mitbestimmten Politik, – die Reformfähigkeit, die Bedingungen und Grenzen des Wandels in absolutistisch regierten Gesellschaften, – transkulturell bedeutsame Wechselwirkungen im „philosophischen Jahrhundert“ und – den systematischen Einsatz von Medien und literarischen Formen. Katharinas und Friedrichs macht– und geopolitische Positionen, ihre Territorien und Bevölkerungen waren höchst ungleich. Für das 18. Jahrhundert liegen verlässliche Zahlen nur im eng begrenzten Umfang vor, wobei die Angaben für Preußen weniger umstritten sind als für das russische Reich. Um 1750 lebten in Preußen rund 5,5 Millionen Personen, in Russland knapp fünfmal so viel (25 Mill.), die sich bis zur Jahrhundertwende auf fast 40 Millionen vermehrten, eine Bevölkerung wie sie damals nur von Großbritannien zusammen mit allen deutschen Territorien erreicht wurde. 8 Die Geschichte sowie die strukturellen, soziokulturellen und mentalen Unterschiede der beiden Staaten waren zwar erheblich 9, doch die beiden Monarchen fühlten sich ähnlich stark herausgefordert durch die zeitgenössischen philosophischen und naturwissenschaftlichen Ideen, die Welt der Musik und der Künste. Sie gehörten der gleichen Generation an, wurden 1712 bzw. 1729 geboren. Sie hatten ihre Sozialisation in jener norddeutschen höfischen Welt erfahren, die evangelisch-lutherisch bzw. calvinistisch geprägt war. Beide zeigten sich gegenüber den Ideen der Aufklärung früh aufgeschlossen, verachteten
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aristokratischer Habitus in der Korrespondenz Wilhelmines von Bayreuth, in: Günter Berger (Hg.), Wilhelmine von Bayreuth heute. Das kulturelle Erbe der Markgräfin (Archiv für Geschichte von Oberfranken), Bayreuth 2009, 72. Dazu: Hans-Jürgen Gerhard, Land, Wirtschaft und Leben in Zahlen und Graphiken , in: Sösemann / Vogt-Spira, Friedrich (wie Anm. 2), Bd. 2, 420, und Massimo Livi Bacci, Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte, München 1999, 18f. Theodor Schieder, Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche, Frankfurt am Main 1983; Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit. 2. Auflage, München 2012; Erich Donnert, Katharina die Große und ihre Zeit. Rußland im Zeitalter der Aufklärung. 2. Auflage, Leipzig 1996; Hamish M. Scott, Katharinas Russland und das europäische Staatensystem, in: Claus Scharf (Hg.), Katharina II., Russland und Europa (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz / Universalgeschichte; Beiheft 45), Mainz 2001, 3–57.
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Fanatismus, Aberglauben und Bigotterie. In Preußen behinderten die Erziehungsgrundsätze des Vaters, Friedrich Wilhelms I., die frühen musischen, literarischen und philosophischen Interessen des Kronprinzen. Erst in den Jahren nach seiner Vermählung, in der Rheinsberger Zeit, konnte sich Friedrich dem Studium, den Gesprächen und dem Musizieren intensiv widmen. In Katharinas Leben spielte die fast zwei Jahrzehnte währende Kronprinzessinnenzeit eine vergleichbar fruchtbringende Rolle. Beide entwickelten und stillten ihren Lesehunger somit außerhalb des Elternhauses bzw. des Hofes. Ihre frühen Büchersammlungen konzipierten sie als „Gebrauchsbibliotheken“. Selbst die späteren „Repräsentationsbibliotheken“ – es existierten mehrere an den verschiedenen Aufenthaltsorten 10 – zeigten ihre persönlichen Liebhabereien und ein lebenslang bestehendes Interesse, so dass heute noch Spuren des Gebrauchs wahrzunehmen sind. Beide Herrscher hielten sich für „freimütig“ und pflichteifrig, diszipliniert und „vernünftig“, also logisch denkend; sie achteten auf Sorgfalt und Ordnung. Sie studierten am intensivsten Voltaire, den meist gelesenen Autor ihrer Epoche; dann folgten die großen antiken Autoren sowie Leibniz, Newton, Montesquieu und Molière. Sie zitierten aus eigener Kenntnis Corneille, Montaigne oder Bayle, Locke, Christian Wolff, d‘Alembert oder Diderot. 11 Ein gemeineuropäischer Katalog von „aufklärerischen“ Prinzipien, der beide gleichermaßen hätte binden können, existierte zwar nicht, doch das Ziel aller propagierten Kerngedanken war der mündige, vernunftorientierte und vorurteilsfreie Mensch. Mit ihm wollten sie „erfahren“ und „lernen“, was für das Individuum und zugleich für die Gesellschaft das „Richtige“ sei. Die Vernunft steht unter dem Primat des Praktischen. 12 In einem Brief an den Kronprinzen fordert Voltaire am 10. März 1740, ein aufgeklärter König habe sich mit Literatur zu beschäftigen und künstlerisch tätig zu sein, „viele Menschen glücklich [zu] machen; (…) die Künste erblühen zu lassen, weise und vorteilhafte Bündnisse zu schließen, Manufakturen einzurichten, sich Unsterblichkeit zu verdienen.“ 13
In seinem politischen Testament von 1752 konkretisiert Friedrich seine Auffassung von einer „glückseligen“ Politik mit der bis heute wohl populärsten Phrase: „Der Herrscher [Le Souverain] ist der erste Diener [Serviteur] des Staates. Er wird gut besoldet, damit er die Würde seiner Stellung aufrechterhalte. Man fordert aber von ihm, dass er 10 Katharina erstand die Bibliothek Voltaires und die des Berliner Geographen und Pädagogen Anton Friedrich Büsching; Friedrich hatte seine privaten Büchersammlungen an sechs Orten zusammengetragen (Wolfgang J. Kaiser (Hg.), Die Bücher des Königs. Friedrich der Große. Schriftsteller und Liebhaber von Büchern und Bibliotheken, Berlin 2011, 188–200). 11 Aus dem Briefwechsel Voltaire – Friedrich der Große. Hg., vorgestellt und übersetzt von Hans Pleschinski, Zürich 1992, 20 (4.11.1736). 12 Vgl. dazu: Manfred Geier, Aufklärung. Das europäische Projekt, Reinbek 2012, 250–268. 13 Voltaire – Friedrich der Große (wie Anm. 11), 164. – Deshalb enthalten die Korrespondenzen der Aufklärer und insbesondere die volksaufklärerischen Broschüren und populären Kalenderschriften Ratschläge für den Alltag: Empfehlungen zur Erziehung, Weisungen für Sitten und Moral, ja selbst Belehrungen zur Ernährung, Gesundheit und zur angemessenen Kleidung.
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werktätig für das Wohl des Staates arbeite und wenigstens die Hauptgeschäfte mit Sorgfalt leite.“ 14
Das Zitat lenkt die Aufmerksamkeit auf das Faktum, dass dem gemeineuropäischen Ruf nach „Aufklärung“ eine eminent politische Zielsetzung innewohnte. Die „grandes philosophes“ sahen mit dem „Philosophen auf dem Thron“ und der „Femme intellectuelle“ „ein neues Jahrhundert“ heraufziehen. 15 Sie registrierten aufmerksam die Ankündigung der Reformvorhaben der Zarin und des preußischen Königs und deren Bereitschaft, Glückseligkeit der Untertanen zum Prinzip zu erheben. Die Zarin war für Voltaire ein „großer Mann, den man Katharina nennt“, die „Wohltäterin Europas“ und der „Stern“ bzw. die „Semiramis des Nordens“; Friedrich ist für ihn der „Held“, ein Vorbild für „alle Fürsten“. 16 Seit ihrem Regierungsantritt, aber auch schon in den Jahren davor korrespondierten Friedrich und Katharina mit mehreren renommierten Gelehrten und Publizisten Europas. Sie nutzten den europaweiten Buchvertrieb und rezipierten europaweit vertriebene Zeitungen. Der Mercure de France und das London Magazine sowie die Korrespondenzen von Pierre de Morand (1757) und insbesondere die über ein halbes Jahrhundert erscheinenden Berichte von Melchior Grimm (seit 1753) und Jakob Heinrich Meister (seit 1773) nahmen die ersten Plätze unter den Journalen und Korrespondenzen ein. Grimms und Meisters Berichte erschienen in Form von handschriftlichen Kopien und wurden an rund anderthalb Dutzend Fürsten und Aufklärer in Europa „geheim“ expediert, also der Zensur in jenen Ländern entzogen, wo sie denn streng praktiziert wurde. 17 Die Abonnenten 18 erwarteten kleine „catalogues raisonnés“ aller Neuerscheinungen, Berichte über das Theater, die Oper und über die „beaux-arts“ und natürlich Informationen über kriegerische Konflikte in Europa, Asien und über die französisch-britischen Kämpfe auf amerikanisch-kanadischem Terrain. Gelegentlich gehörten dazu aber auch Mitteilungen über wirtschafts– und finanzpolitische Entscheidungen und theologische Disputationen. Auch „Gemischtes“, die „petites historiettes plaisantes“, fehlten nicht,
14 Friedrich der Große, Die politischen Testamente. Übersetzt von Friedrich v. OppelnBronikowski, mit einer Einführung von Berthold Volz (Klassiker der Politik 5). Berlin 1922, 42. 15 Katharina die Große / Voltaire. Monsieur – Madame. Der Briefwechsel zwischen der Zarin und dem Philosophen. Übersetzt, herausgegeben und mit einer Einführung von Hans Schumann. Zürich 1991, 381 (Voltaire an Katharina, 28.10.1777). – Russische und auch ausländische Gelehrte sprachen bereits in Katharinas ersten Regierungsjahren von der „Philosophin auf dem Thron“ (Claus Scharf, Aufgeklärter Absolutismus und Großmachtpolitik, in: Hans Ottomeyer / Susan Tipton (Hgg.): Katharina die Große. Eurasburg 1997, 15–24; hier: 20). 16 Voltaire – Friedrich der Große (wie Anm. 11), 257 (November 1742); wiederholt auch „Minerva des Nordens“ (ebd., 378 [21. September 1777]). 17 Maria Moog-Grünewald, Jakob Heinrich Meister und die „Correspondance littéraire“. Ein Beitrag zur Aufklärung in Europa (Komparatistische Studien 13), Berlin 1989. 18 Correspondance privée de Frédéric-Melchior Grimm 1723–1807. Présentée et annotée par Jochen Schlobach, Genf 2009. – Friedrich II. bezog die Correspondance seit 1763, Katharina II. seit 1764.
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wie es Karoline Luise von Baden formulierte. 19 Die Korrespondenten bedienten diese Erwartungen gern, denn sie profitierten von der Exklusivität des ihnen in großer Fülle und Dichte lancierten Materials. Es kam nicht einmal dann zu Konflikten, wenn die Monarchen versuchten, die ihnen wohlgesinnten Autoren zu instrumentalisieren. Zensurmaßnahmen des Hofes oder von lokalen Gewalten spielten im Übrigen keine herausragende Rolle. 20 Beide Herrscher bevorzugten vorbeugende Maßnahmen, weil die selbst in Preußen schwach ausgebildeten Verwaltungsstrukturen ihren Sanktionen enge Grenzen gesetzt hätten. Es herrschte nicht allein ein gravierender Mangel an qualifiziertem Personal. Katharina stand wegen der räumlichen Dimensionen, der ethnischen und kulturellen Vielfalt ihres Reiches vor den größten Schwierigkeiten. Am 29. Mai 1767 schrieb sie auf einer Wolga-Reise an Voltaire aus Kasan: „Bedenken Sie bitte, daß Sie sowohl Europa als auch Asien von Nutzen sein müssen und wie verschieden sind doch Klima, Menschen, Gewohnheiten und auch Ideen! Ich bin nun also in Asien. (…) In dieser Stadt gibt es zwanzig verschiedene Völker, die sich überhaupt nicht ähnlich sind. Und doch muß man ihnen ein Kleid schneidern, das für alle paßt. Allgemeine Grundsätze lassen sich leicht aufstellen. Aber im Detail steckt der Teufel. Und um welche Details geht es hier! Es gilt, fast eine Welt schaffen, zu vereinen und zu bewahren. Damit komme ich nie zu einem Ende, es gibt einfach zu viele Schnittmuster.“ 21
Bereits in den dreißiger und fünfziger Jahren hatten sich viele unter den Korrespondenzpartnern und Diplomaten gefragt, in welchem Umfang und auf welche Weise Friedrich und Katharina ihre aufklärerischen Gedanken würden realisieren können. Die einen hoffend, die anderen mit angespannter Aufmerksamkeit oder sogar von Befürchtungen bestimmt. Es herrschte die Überzeugung vor, entschiedene Reformmaßnahmen würden Traditionen und Privilegien, ja das gesamte Feudalsystem in seinen Grundzügen bedrohen. Die Wohlgesinnten argwöhnten, dass die realen alltäglichen Herausforderungen ihren Tribut verlangen und zu Kompromissen oder sogar zur Resignation führen würden. 22 Unter diesen Umständen überrascht es nicht, dass eine Fülle von Gerüchten der unterschiedlichsten Art kursierte und die meisten Korrespondenzen nicht vertraulich oder geheim blieben. Sie bildeten zusammen mit den zuverlässigen oder beglaubigten Informationen ein letztlich kaum noch zu durchschauendes Konglomerat von Informationen und Vermutungen. 19 Jan Lauts, Karoline Luise von Baden. Ein Lebensbild aus der Zeit der Aufklärung, Karlsruhe 1980, 106f. 20 Zu den frühen Ausnahmen gehörte in Russland 1765 die Verfolgung des Dichters Alexander Petrowitsch Sumarokov, weil er mit einer Fabel auf das schlechte Verhältnis Katharinas zu ihrem Sohn Paul angespielt hatte (Isabel de Madariaga, Katharina die Große. Das Leben der russischen Kaiserin, München 2006, 122, 126). 21 Monsieur – Madame (wie Anm. 15), 55f. 22 „Zu Königen geworden, denken die ehemaligen Kronprinzen allgemein weniger edel und großzügig (…)“ stellt der französische Frühaufklärer Charles-Irénée de Castel, Abbé de Saint Pierre in seinen Reflexions sur l’Antimachiavel de 1740 (Rotterdam 1741) fest (dt. Übersetzung: ders., Kritik des Absolutismus, hg. von Herbert Hömig / Franz-Joseph Meißner (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, 117), München 1988, 270; ähnlich: 288).
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Katharinas Briefwechsel mit Voltaire – vermittelt von ihrem Sekretär François Pictet – hatte erst nach ihrer Krönung im Oktober 1763 eingesetzt. Zu diesem Zeitpunkt stand sie im 34. Lebensjahr. Friedrich dagegen hat aus eigenem Antrieb schon als 25-jähriger Kronprinz den gefeierten Philosophen angeschrieben. Die Initiationskorrespondenz beider Herrscher stimmt auffallend überein. Katharina spricht ihre Intention am offensten aus: Sie schreibe einem „berühmten Autor“, „der dafür bekannt ist, junge Leute zu protegieren und zu fördern, von deren Talenten man erwarten kann, daß sie eines Tages für die Menschheit nützlich sein werden.“ 23
Friedrich und Katharina konnten den ehrgeizigen, hochgeschätzten und gut vernetzten Schriftsteller für sich gewinnen, weil sie seine Selbstgefälligkeit nutzten, die nicht fern von Arroganz und Überheblichkeit lag. Sie näherten sich ihm schmeichelnd, bewundernd, entzückt und enthusiastisch lobend, da sie Zweierlei wussten: Ein eitler Mensch wie Voltaire erzählt und schreibt mit Vergnügen überall alles – und plaudert besonders gern vertraulich Mitgeteiltes aus. 24 Sie erklärten ihn zur entscheidenden moralischen Instanz in Europa, zum ingeniösen Dichter und „Förderer“ ihres „Geschmacks und (…) liebsten Vergnügens“ (Katharina). 25 Voltaire gereiche dem „Jahrhundert und dem menschlichen Geist überhaupt zur Ehre“ und habe als „Meister“ aller Menschen „im gesamten Universum“ (Friedrich) zu gelten. Friedrich versichert Voltaire, seine Werke seien ihm „Schätze des Esprits (…), die mit soviel Geschmack, Delikatesse und Kunst gearbeitet [seien], daß ihre Schönheit bei jedem Wiederlesen ganz neu“
erscheine. „Nie zuvor hat ein Dichter metaphysischen Gedanken rhythmisch[er]en Schwung verliehen, (…). Ihre ‚Henriade‘ bezaubert mich (…). Ah! Möge der Ruhm sich meiner bedienen, um Ihre Erfolge zu krönen!“ 26
Und Friedrich endete seinen ersten Brief mit der huldigenden Schlussformel: „Ihr zutiefst ergebener Freund (…), Frederic, P[rince] R[oyale] de Prusse.“ 27 Katharina beteuerte: „Wirklich, wenn ich über einige Kenntnisse verfüge, dann verdanke 23 Monsieur – Madame (wie Anm.15), 32 (Juni 1765). 24 Voltaire hatte für die Zarin Elisabeth eine geschichtliche Darstellung zu Peter dem Großen verfasst. Mochte man ihn danach auch heimlich als bezahlten Barden verspottet haben, Katharinas und Friedrichs Entscheidung bestimmte, dass Voltaires „Histoire de l’Empire de Russie sous Pierre le Grand“ die Meinung der europäischen Elite über den „Werkmann auf dem Thron“ anhaltend prägte; s. dazu: Michael Schippan, Die Reichshistoriographie in Russland im Zeitalter der Aufklärung, in: Markus Völkel / Arno Strohmeyer (Hgg.), Historiographie an europäischen Höfen (16.–18. Jahrhundert). Studien zum Hof als Produktionsort von Geschichtsschreibung und historischer Repräsentation (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 43), Berlin 2009, 323–352; hier: 335f. 25 Monsieur – Madame (wie Anm. 15), 30 (Juni 1765). 26 Voltaire – Friedrich der Große (wie Anm. 11), 7f. (8.8.1736). 27 Ebd., 7–11 (8.8.1736). – Nach seinem Regierungsantritt, im Brief vom 2. August 1740 an Voltaire, wird er ihn „lieber Freund, erhabener Geist, Erstgeborener unter den Denkenden“ nennen.
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ich sie einzig Ihnen.“ Voltaires Werke hätten sie seit dem 15. Lebensjahr betört. Am liebsten würde sie jede Buchseite auswendig lernen und das Genie andichten. Nun müsse sie zum ersten Mal in ihrem Leben bedauern, dass ihr die Reime zu anspruchslos gerieten. „Ein sehr starkes Dementi“ werde sie Rousseaus Prophezeiungen erteilen, der es als Irrweg ansähe, Russland europäisieren zu wollen.28 Sie sei voller Tatkraft, werde im Geist Peters des Großen regieren und ihm – als Andenken und auch als Symbol ihrer Politik – ein Denkmal errichten. 29 Sie beschwor den „Geist Peters des Großen“ wiederholt öffentlich und in der Weise, wie es sich in Grimms Korrespondenz im November 1775 spiegelte: „Das Schicksal hat erst Katharina II. den Ruhm vorbehalten, die weitreichenden Pläne zu verwirklichen, die dieser glühende, erhabene Geist gefaßt hat. Wenn er in die noch wilden Gegenden den Samen des Wissens hineintrug, so ließ Katharinas Weisheit ihn aufgehen; erst die von ihr befohlenen neuen Einrichtungen werden in ihren Staaten die Tugenden und Kenntnisse heimisch machen, die dieser große Fürst ins Land gezogen hatte, die dort bis jetzt aber nur fremdländische Ansiedlungen bildeten.“ 30
Die brieflichen Annäherungen der Zarin an Voltaire führten unverzüglich zum Erfolg. Der galante französische Höfling widmete Katharina sogleich seine „Geschichte der Philosophie“, schmeichelte ihr mit Feststellungen wie „die Wahrheit kommt jetzt aus dem Norden, wie der Firlefanz aus dem Süden“, er bewunderte „die Größe Ihres Genies, Ihres Geistes und Ihres Mutes“ und die Entschlossenheit, mit der sie die „Priester wieder nützlich und abhängig gemacht“, also unter staatlichen Einfluss gebracht habe. 31 „Alle Gebildeten Europas müssen vor Ihnen niederknien“, beschied Voltaire: „Ich bin ein so guter Prophet, daß ich kühnlich Eurer Majestät größten Ruhm und größtes Glück voraussage. Entweder werden die Menschen völlig schwachsinnig, oder sie werden alles, was Sie Großes und Nützliches tun, bewundern.“ 32
Auch der ungleich jüngere Bewunderer Voltaires, der preußische Kronprinz, hatte in seinem Begrüßungsbrief den richtigen Ton getroffen. Ihm antwortete Voltaire ebenso prompt, dass er mit tausendfacher Freude jetzt den einzigen Prinzen getroffen habe, „der als Mensch denkt, einen Fürsten-Philosophen, der die Menschen beglücken wird. (…) Es gibt keinen so gesonnenen Fürsten, der seine Staaten nicht in das Goldene Zeitalter zurückzu-
28 Monsieur – Madame (wie Anm. 15), 30f. (Juni 1765). 29 1782 wurde in St. Petersburg das Reiterdenkmal des französischen Bildhauers Etienne Falconet mit der Inschrift „Petro Primo Catharina Secunda MDCCLXXXII“ enthüllt (Volker Hunecke, Europäische Reitermonumente. Ein Ritt durch die Geschichte Europas von Dante bis Napoleon, Paderborn 2008, 264–277). 30 Melchoir Grimm, Paris zündet die Lichter an. Literarische Korrespondenz, Leipzig 1977, 372. 31 Monsieur – Madame (wie Anm. 15), 32f. (Juni 1765); Katharina belehrte Voltaire am 11. (22.) 8.1765: „Toleranz herrscht allgemein (…), nur die Jesuiten werden nicht geduldet“ (ebd., 34). – Doch gewährte sie ebenso wie Friedrich der Große dem Jesuitenorden Schutz, nachdem ihn der Papst verboten hatte. 32 Ebd., 38 (30.9.1765), 41–43 (24.1.1766 / 21.6.1766).
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führen vermöchte. (…) eines Tages (…) werden Sie von Ihren Völkern angebetet und von der ganzen Welt gepriesen werden.“ 33
Voltaire spielte am preußischen und alsbald auch am russischen Hof die bedeutendste Rolle. Er war für beide Monarchen der Adressat ihrer Wünsche, die zentrale geistige Bezugsgröße und der stärkste Vermittler ins europaweite Kommunikationsnetz hinein. Eine Korrespondenz mit ihm – wie sie auch von Luise Dorothea von Sachsen-Gotha oder Wilhelmine von Bayreuth heiß begehrt und sorgfältig gepflegt wurde 34 – machte politisch und literarisch Sensation und stärkte die Reputation in ganz Europa beträchtlich. Ähnliches galt in abgestufter Form für die Kommunikation mit Autoritäten wie Rousseau oder Maupertuis, für einen Besuch von Diderot, d’Alembert, Algarotti oder Schlözer. Die Informationspolitik beider Monarchen orientierte sich bei allen „instructions philosophiques“, die sie erhielten, an dem Ziel, jeder Zeit untadlig im hellen Licht der Öffentlichkeit zu stehen. Friedrich und Katharina wollten im Chor der „philosophes“ als aufklärerische Geister wahrgenommen werden, ohne dass sich daraus die geringste rangmäßige Angleichung ergab. Das Bild des souveränen Potentaten musste neben dem des geistesmächtigen und reformorientierten Herrschers unvermindert bestehen bleiben. Wählten die Gelehrten und Künstler aber den richtigen Ton und beachteten die Würde ihrer Adressaten gewissenhaft, dann waren sogar ein überraschender Ratschlag oder eine moderat vorgetragene Kritik gelitten. Doch selbst einen Voltaire verwiesen die Fürsten in seine Schranken, wenn seine Vorschläge und Kritik zu aufdringlich ausfielen. 35 Jeder, der sich bereits bei der Thronbesteigung gut positioniert hatte, konnte eine gewisse Nachsicht erwarten. Die Zustimmung war den Aufklärern in der Ersten Stunde am leichtesten gefallen. Die Maßnahmen der Monarchen hatten sich 1762 in Russland für sie und mit ihnen für die Bevölkerung als ebenso populär und spektakulär wie gut zwei Jahrzehnte zuvor in Preußen erwiesen. Katharina reduzierte damals die Salzsteuer, verzichtete auf den Einsatz der Folter und weitgehend auf Zensurmaßnahmen. Sie ließ Diderot Riga als sicheren Redaktionsort für seine „Encyclopédie“ anbieten. 36 Mit ihrem Manifest vom 4. Dezember 1762 lud sie alle Ausländer – erst im Folgejahr waren ihr auch Juden genehm – zur An33 Voltaire – Friedrich der Große (wie Anm. 11), 13f. (September 1736). – Im Februar 1737 wird Voltaire ihn als seinen „Heiland“ apostrophieren (ebd., 38), am 20. Dezember desselben Jahres als den „jungen Salomon des Nordens“ (ebd., 80). 34 Bärbel Raschke (Hg.), Der Briefwechsel zwischen Luise Dorothée von Sachsen-Gotha und Voltaire (1751–1767), Leipzig 1998, und Günther Berger / Julia Wassermann (Hgg.), Nichts Neues aus Bayreuth, Briefe der Markgräfin Wilhelmine an Friedrich II. und Voltaire, Übersetzt von Studierenden der Universität Bayreuth, Bayreuth 2008. 35 Dazu gehört, dass Katharina Voltaire häufig en passant zur Reise aufgefordert, aber ihn nie direkt und nachdrücklich zu einem Besuch eingeladen hat. Ihr bot, anders als bei Diderot, die räumliche Distanz beim Gedankenaustausch mit Voltaire offensichtlich genügend an konsiliarischer Nähe. 36 Diese Politik änderte Katharina unter dem Eindruck der Französischen Revolution im September 1796 entschieden, wenn auch relativ spät. Sie errichtete Zensurstellen in St. Petersburg, Moskau, Riga, Odessa und an der polnischen Grenze, um dort den Buch– und Schriftenimport aus den west– und mitteleuropäischen Ländern steuern zu können.
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siedlung ein. Ähnlich wie es Friedrich bereits in den Jahren zuvor praktiziert hatte, sicherte die ZDULQGHQ.DXIOHXWHQ%DXHUQXQGÄ.OHLQEUJHUQ³PHãþDQH 5HL segeld und Kredite, freie Religionsausübung, Kirchenbau und eine zehnjährige Befreiung von Steuern und Diensten zu. Friedrich holte den Aufklärer Christian Wolff aus dem Exil zurück, schuf die Folter in nahezu allen Bereichen und die Zensur weitgehend ab. Mit großem Aplomb kündigten beide Herrscher eine Politik der Toleranz sowie weitere Reformmaßnahmen zum Wohl ihres Landes und seiner Bewohner an. In den folgenden Regierungsjahren fehlte beiden Monarchen oftmals die Zeit für die Fortführung der Korrespondenz in der gewohnten Frequenz und inhaltlichen Fruchtbarkeit. Schon am 2. August 1740, also nur zwei Monate nach Regierungsantritt, sah Friedrich seine Vorahnung bestätigt, „daß ein König tausendfach unglücklicher ist als ein Privatmann.“ 37 „Die liebenswerte Poesie wartet vor der Tür, ohne Audienz zu bekommen“, seufzte er anderthalb Jahre später gegenüber Voltaire. 38 Mit dem Amt wurden die behandelten Themen naturgemäß praktischer, alltagsbezogener und kleinteiliger. Die beiden Monarchen verknüpften sie jedoch für die Öffentlichkeit mit den großen, alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umschließenden Reformvorstellungen. Die größten Vorschusslorbeeren ernteten sie mit der Erklärung, Toleranz üben zu wollen, die Akademien zu fördern und das Elementarschulwesen zu verbessern, indem es als staatliche Aufgabe verstanden und alimentiert werde. Grimm antizipierte für Russland im Juli 1775 bereits das Ergebnis: „Es kann nicht anders sein, als daß die aus dieser vortrefflichen Lehre hervorgegangenen Untertanen die Kenntnisse und die vaterländische Gesinnung, (…) in alle Schichten der Gesellschaft hineintragen. Es ist undenkbar, dass das Beispiel einer öffentlichen Erziehung, deren Vorteile so offenkundig sind, in Zukunft nicht auch auf die häusliche Erziehung, und zwar auf die des Volkes wie die der Großen, abfärbt.“ 39
Ähnlich stark wirkten auch andere Ankündigungen: Man werde Reformen in der Verwaltung, im Justizwesen und auf dem Land einleiten, um die Abhängigkeit der Bauern von der Gutsherrschaft im Osten Preußens bzw. die Leibeigenschaft in Russland zu beseitigen. Katharina hat 1768 aus ihrer ersten Niederschrift ihrer „Instruktion“ für das Komitee 40, das die neuen Gesetze formulieren sollte, mehrmals längere Passagen aus den über sechshundert Artikeln stolz Voltaire mitgeteilt. Friedrich erhielt das gedruckte Exemplar 41 am 17. Oktober 1767 mit den Worten: 37 38 39 40
Voltaire – Friedrich der Große (wie Anm. 11), 193. Ebd., 232 (8.1.1742). Grimm, Paris (wie Anm. 30), 371. Es kamen 1767 594 Deputierte zusammen: 28 Angehörige aus der Zentralverwaltung, 161 Mitglieder der Adelskorporationen, 208 Städter, 167 Freie aus der Landbevölkerung – darunter befanden sich keine Geistlichen und Leibeigenen. 41 Katharinae der Zweiten, Kaiserin und Gesetzgeberin von Russland, Instruction für die Verfertigung des Entwurfs zu einem neuen Gesetzbuch verordnete Commission, Riga / Mitau 1768. – Der Text mit dem spektakulären Satz „Russland ist eine europäische Macht“ (Paragraph 6) erschien gleichzeitig in russischer, französischer, deutscher und lateinischer Sprache; in Frankreich wurde er verboten.
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„Eure Majestät, werden an dieser Instruktion nichts Neues finden, nichts, was Sie nicht schon wüßten. Sie werden sehen, daß ich es gemacht habe, wie der Rabe in der Fabel, der sich mit Pfauenfedern schmückt.“ 42
Katharina gab sich bescheiden und spielte darauf an, dass sie für ihre „Instruktion“ Montesquieus De l‘esprit des lois ausführlich plagiiert hatte. 43 Die Bewunderung im europäischen Publikum war groß. Denn die Zarin hatte die westeuropäische Vorstellung von ständischen Zwischengewalten auf die russischen Verhältnisse kenntnisreich übertragen (1767/68). Ebenso beeindruckten knapp ein Jahrzehnt später ihre an William Blackstone orientierten Reformvorschläge zur Gerichtsverfassung (1775/76) 44, Vereinheitlichung der Reichsverwaltung (1775), Neuaufteilung Russlands in Gouvernements (41 statt 15) und zu einer Städteordnung (1785). Man erkannte in ihren Großvorhaben ebenso wie bei Friedrich das ernsthafte Bemühen, aufklärerische Ideen in der politischen Praxis zu verwirklichen. 45 Meine Ausführungen münden in vier Fragen: – In welcher Intensität hat das Interesse von Friedrich und Katharina an theoretischen und lebenspraktischen Ideen der Aufklärer ihre politischen Vorstellungen bestimmt? – Welches Verständnis von einem „aufgeklärten Herrscher“, von Medien und Öffentlichkeit beeinflusste die Politik der beiden Monarchen? – Stellt ihre Haltung eines „aufgeklärten Monarchen“ lediglich eine Attitüde aus politischen Opportunitätsgründen dar? – Verbleibt heute, als Resümee einer kritischen internationalen Forschung noch so viel Substanz an „Größe“, dass sich die Verwendung des historischen Ehrentitels rechtfertigen lässt? Meine Antworten beziehen sich auf einzelne Aspekte der Forschung zum Absolutismus und zur Aufklärung, respektive zu einem „aufgeklärten Absolutismus“. Den analytischen Wert des auch im Bereich der öffentlichen Kommunikation, Medien und Mentalitäten nicht unstrittigen Terminus halte ich dennoch für relativ hoch. Die bisher vorgeschlagenen Alternativen für die Epoche und den Herrschaftsstil, „Zeitalter des Barock“ und „Despots éclairés“ oder „enlightened des42 Reinhold Neumann-Hoditz, Katharina II. die Große mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (rowohlts monographien, 50392). 9. Auflage, Reinbek 2008, 78. – Und von Voltaire erfuhr Katharina, seine „Heilige“, am 18.10.1771, dass der König von Preußen von ihrer Tatkraft sicher ebenso freudig überrascht sei wie er selbst, und Voltaire schmeichelte: „wäre ich jünger, würde ich Russe“ (Monsieur – Madame [wie Anm. 15], 250). 43 Der zweiteilige Text umfasste 655 Paragraphen. Im ersten Teil (526) orientierten sich 294 an Montesquieus Esprit des Lois und 108 an Cesare Beccarias Delle delitte e delle pene; Weiteres hatte Katharina der Encyclopédie und den Institutions Politiques des Barons Bielfeld sowie Schriften von Beccaria, Justi und Pufendorf entnommen (Madariaga, Katharina [wie Anm. 20], 38–52). 44 Scharf, Absolutismus (wie Anm. 15), 21. 45 Madariaga, Katharina (wie Anm. 20), 87–102; Monika Wienfort, Gesetzbücher, Justizreformen und der Müller-Arnold-Fall, in: Sösemann / Vogt-Spira, Friedrich (wie Anm. 2), Bd. 2, 33–46.
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potism“, vermochten sich nicht durchzusetzen. 46 Dagegen ist „aufgeklärter Absolutismus“ als durchgängig verwendeter Quellenbegriff mit dem Selbstverständnis der Akteure und ihrer Erfahrungswelt eng verbunden. Für den zentralstaatlichen und sozialen Formierungs– und Integrationsprozess ist er von hoher staatsrechtlicher wie kulturgeschichtlicher Bestimmtheit und Anschaulichkeit. 47 Das persönliche Interesse von Friedrich und Katharina an den theoretischen und lebenspraktischen Ideen der Aufklärer war zusammen mit literarischen und musischen Vorlieben seit ihrer Jugend vorhanden und bereits in der Zeit vor ihrem Regierungsantritt außerordentlich hoch. In den sich anschließenden Jahren veränderten sich die Schwerpunkte der Themen nur geringfügig. Trotz der alltäglichen Belastungen verringerte sich die Wissbegierde nicht. Die Neugier und sachbezogene Leidenschaft in Gesprächen und Korrespondenzen blieben bestehen und auch das Verlangen nahm nicht ab, möglichst umfassende Informationen über ihr Land und ihre Untertanen zu erfahren. Außerdem sind das Niveau der behandelten Themen– und Fragestellungen sowie der Wert der von den Monarchen selbst verfassten Schriften starke objektive Indizien für die Ernsthaftigkeit und den Nachdruck, mit denen die aufklärerische Publizistik bis ins Alter kritisch rezipiert wurde. Diese Einschätzung darf nicht nur im Vergleich mit den mächtigen europäischen Potentaten der Epoche als gesichert angesehen werden. Sie gilt allerdings cum grano salis auch für den König von Polen, Stanislas Poniatowski, und Großherzog Leopold von Toskana, dem späteren Kaiser Leopold II., sowie für aufgeklärte Fürstenhäuser von geringerem machtpolitischen Gewicht und geringerer Bevölkerung. Hier sind zu nennen Hessen-Darmstadt (Prinz Georg), die Markgrafschaften von Ansbach unter Karl Alexander und Baden-Durlach unter Karl Friedrich, dessen Gemahlin, Karoline Luise von Baden, ihm übrigens wenig nachstand. 48 Die Cor-
46 Hierzu Bernd Sösemann, Friderizianische Ambiguitäten auf europäischer Bühne, in: ders. / Vogt-Spira, Friedrich (wie Anm. 2), Bd. 1, XXI–XXIV. 47 Zu den Themen „politische Macht“ und „mediale Öffentlichkeit“ in der Frühen Neuzeit liegen zumindest vier umfassende Studien vor. Es sind zum einen Johannes Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 103), Göttingen 1994, und Rudolf Schlögl, Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt (Historische Kulturwissenschaft, 5), Konstanz 2004; zum anderen die von Daniel Bellingradt, Flugpublizistik und Öffentlichkeit um 1700. Dynamiken, Akteure und Strukturen im urbanen Raum des Alten Reiches (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, 26), Stuttgart 2011, und Esther-Beate Körber, Öffentlichkeiten der Frühen Neuzeit. Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618 (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, 7), Berlin 1998, die konsequent aus kommunikationspolitischer Perspektive verfasst worden sind. Von diesen Studien ausgehend dürften sich die Wechselwirkungen zwischen dem „aufklärerischen“ Gestus eines Herrschers und seiner Informations– und Zensurpolitik bzw. seinen Instrumentalisierungsversuchen der Publizisten, Medien und Adressaten europaweit präziser analysieren lassen. 48 Sie korrespondierte mit dem Botaniker Carl von Linné, dem Direktor des Botanischen Gartens in Straßburg, Jacques-Renard Spielmann, und dem Chemiker Balthasar-Georges Sage ausführlich, musizierte und zeichnete als Schülerin Jean-Etienne Liotards. Friedrich nannte sie eine „Zierde und Bewunderung unseres Jahrhunderts“ und ließ auf ihrer Graburne die In-
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respondance littéraire verzeichnete unter ihren Abonnentinnen auch Luise Ulrike, Königin von Schweden, Luise Dorothea, Herzogin von Sachsen-Gotha, und Sophie Erdmuthe von Nassau-Saarbrücken. 49 Friedrich und Katharina sahen sich als herausgehobene Repräsentanten eines „philosophischen Jahrhunderts“ und verstanden sich zugleich als souveräne Potentaten und „aufgeklärte Herrscher“. Bei strenger Betrachtung, die sie selbst favorisierten, waren beide Standpunkte schwerlich nebeneinander zu vertreten. Beiden Monarchen ging es vorrangig um die Sicherung, Rationalisierung und Ethisierung ihrer Macht, die Rechtfertigung von Vertragsbrüchen und (Angriffs-) Kriegen sowie um die Präzisierung von Herrscherinteressen einerseits und des Wohls und Glücks der Untertanen andererseits. Sie beherrschten den Ausnahmezustand; sie bestimmten, ob eine Notlage für den Staat und die Bevölkerung bestehe. Im militärischen Bereich waren die sogenannten Machtsprüche bis 1945 geltendes Recht. Katharina zeigte hier, aber auch in zivilen Verfahren, ebenso wie Friedrich, keine Zurückhaltung. Der Vergleich zweier in ganz Europa stark beachteter Justizfälle aus der Geschichte Preußens im 18. Jahrhundert zeigt die rigorose Einstellung Friedrichs. Sein Vater, Friedrich Wilhelm I., hatte Friedrichs Jugendfreund, Hans Hermann von Katte, trotz anderslautender Urteile hinrichten lassen. Der königliche Machtspruch rangierte über dem einstimmigen Urteil des Militärgerichts; die Unabhängigkeit der Justiz blieb aber unangetastet. Im Prozess gegen den Wassermüller Arnold urteilte Friedrich gegen den Gutsherrn und sprach den in allen Instanzen als schuldig befundenen Müller frei. Er war der irrigen Auffassung, seine adeligen Richter seien sämtlich voreingenommen gewesen und hätten aus sozialem Vorurteil zu Gunsten des Gutsherrn entschieden. Zwar war auch dieser königliche Machtspruch rechtens, nicht aber die harte Bestrafung der Richter durch den König und die despotische Demontage richterlicher Unabhängigkeit. 50 Dennoch hat sich Friedrich ebenso wie Katharina bemüht, aufklärerischen Ideen und Forderungen konsequenter als andere Herrscher großer Reiche nachzukommen. Als „Schüler Voltaires“ übten sie sich in einem schwierigen Balance-
schrift „femina sexu, ingenio vir“ anbringen (Lauts (wie Anm. 19), Luise, 152). – Katharina ernannte sie zum Ritter des St. Katharinenordens (ebd., 307). 49 Es sind noch die folgenden Abonnenten der Correspondance littéraire namentlich bekannt geworden: die Hohenzollern-Prinzen Heinrich, August Wilhelm und Ferdinand; Caroline, Landgräfin von Hessen-Darmstadt; Leopold II., Großherzog von Florenz; Wilhelm Heinrich, Fürst von Nassau-Saarbrücken; Christian IV., Herzog von Zweibrücken; Maria Antonia, verw. Kurfürstin von Sachsen; Karl, Prinz von Mecklenburg-Strelitz; Karl-August, Herzog von Weimar und Graf Firmiani; in Braunschweig soll es eine weitere Person gegeben haben. – Zu den Einzelheiten s. J[ohann] Schlobach, Die frühen Abonnenten und die erste Druckfassung der Correspondance Littéraire, in: Romanische Forschungen 82 (1970), 1–36; hier: 8– 21. 50 Dazu im Einzelnen Jürgen Kloosterhuis (Hg.), Kriegsgericht in Köpenick! Anno 1730: Kronprinz – Katte – Königswort, Katalog zur Ausstellung „Kriegsgericht in Köpenick!“ im Schloss Köpenick, Berlin 2011, 184–209.
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Akt. Die Abschaffung der Folter bedeutete sehr viel 51; eine ähnlich deutliche Distanzierung von allen Formen der Leibeigenschaft riskierten sie nicht. Friedrich und Katharina bezogen Medien, Publizisten und die für sie mentalitätspolitisch relevante Öffentlichkeit mit ins Kalkül ein. Es leiteten sie dabei primär macht– und besonders integrationspolitische Erwägungen; beide waren auf Ruhm und Rangerhöhung bedacht. Ihre berechnende Haltung war keineswegs neu und der Umgang mit den Medien und Kommunikatoren nicht originell. Doch die Monarchen erkannten die wachsende Bedeutung der Publizistik, nutzten die Dynamik eines entstehenden Nachrichtenmarktes mit einer für ihre Zwecke günstigen Konkurrenzstruktur. Sie setzten das absolutistische Instrumentarium der dirigierenden Beeinflussung auch medienpolitisch „aufklärerisch“ ein. Denn sie unterschätzen die Schwierigkeiten selbst eines gutwilligen Untertanen nicht, „(…) eigene Schritte ohne Leitung durch paternalistische, kirchliche, staatliche oder traditionsmächtige Vormünder zu gehen.“ 52 Offensichtlich hielten sie auf diesem Weg zur Mündigkeit die Existenz von vier eng aufeinander bezogenen Voraussetzungen für wichtig: Informations– und Denkfreiheit, Publizität und Öffentlichkeit. Doch gleichzeitig mussten sie die Gefahren fürchten, die ihrem absolutistischen System von der Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit drohten. Als Gegenmittel setzten sie alle Formen des Propagandistischen ein: zu ihrer Selbstdarstellung53 und zur Information über die fortwährende Sorge um das Wohl der Untertanen (Katharina) und über die Leistungen im Dienst für den Staat (Friedrich). Beide Monarchen belebten die öffentlichen Debatten der Aufklärer mit eigenständigen Publikationen unter ihrem Namen oder pseudonym. 54 Sie unterstrichen die auch von ihnen beanspruchte Deutungshoheit, indem sie einen umfassenden aufklärerischen Fragenkatalog entwarfen und mit ihm die Legitimität ihrer Reformen begründeten. Für Friedrich ist hier an erster Stelle seine Abhandlung Antimachiavel (September / Oktober 1740) zu nennen, die weithin als direkte Widerlegung von Machiavellis Darstellung verstanden wurde. 55 Die 1750 und im Folgejahr publizierten Werke waren nicht minder erfolgreich: die Abhandlungen über die Gründe, Gesetze einzuführen oder abzuschaffen, mit denen Friedrich die rechtsphilosophischen Debatten mit bestimmen wollte, und Mémoires pour servir à l‘Histoire de la Maison de Brandebourg, denn das Studium der Geschichte sei jedem 51 Sie setzten durch ihre Maßnahmen eine europaweite Diskussion in Gang und fanden Nachahmer wie den Markgrafen Karl Friedrich von Baden (1767). – Als erster Monarch in Europa hob Friedrich 1747 die Sanktionen auf, die einem Selbstmörder die „ehrliche“ Beerdigung verwehrten (Ursula Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Weimar 2001, 19). 52 Geier, Aufklärung (wie Anm. 12), 258. 53 Vgl. dazu: Christopher Clark, „Le roi historien“ zu Füßen von Clio, in: Sösemann / VogtSpira, Friedrich (wie Anm. 2), Bd. 1, 159–177. 54 Zu Katharina s. Frank Göpfert, Russische Autorinnen von der Mitte bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Teil 1: 1750–1780 (FrauenLiteraturGeschichte, 20), Fichtenwalde 2007, 148– 154, 177–254. 55 Unter den zeitgenössischen Kommentaren ragt die Abhandlung von Saint Pierre, Reflexions (wie Anm. 23) hervor.
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Thronprätendenten zu empfehlen. 56 Katharina verfolgte ebenfalls das Ziel, mit ihren Memoiren ihre Interpretation der Biographie und der Staatsgeschäfte der Nachwelt überzeugend darzulegen. Die zahlreichen Neuansätze und Überarbeitungen zeigen das Ringen um eine angemessene Form, das Streben nach einem überzeugenden Inhalt, also einer plausibel erscheinenden Entwicklung. 57 Friedrich formulierte in den Kriegsjahren propagierende Zeitungsberichte, die ihren Weg bis in die französischen Salons und englischen Wirtshäuser fanden. Katharina unterstützte aufklärende Journale ihres Reiches finanziell und mit eigenen Beiträgen. Sie propagierte im Kampf gegen die Pocken die Vorteile der Impfung, prangerte falsche Frömmigkeit, Aberglauben und Laster an. Durch geschickt eingefügte kleine pädagogische Diskurse belehrte sie das Publikum über allerlei Unsinniges und Rückständigkeiten im Alltag. Sie erheiterte ihre Leser und Zuschauer, indem sie dem „modernen“ Petersburger Russen den unzeitgemäßen und unaufgeklärten aus Moskau gegenüberstellte. Sie verfasste unter mehreren Pseudonymen aufklärende Essays für Zeitschriften und dichtete Komödien, die teils nur am Hof, teils aber auch an öffentlichen Theatern erfolgreich aufgeführt wurden. Ihr Ideal und ihren Maßstab für die Elite der russischen Gesellschaft fand sie im Westen Europas, in einer „fabrication de l’homme idéal et du citoyen parfait“ (1762). Satirische Schauspiele, die das absolutistische System in Russland geißelten, verbot sie nicht, sondern gestattete ihre Aufführung, jedoch im kleinen Kreis. 58 Seit dem Ende der sechziger Jahre schrieb sie auch Libretti und engagierte italienische Komponisten. Das russische Volksschulsystem folgte in den achtziger Jahren relativ glücklos österreichischen Vorbildern, nicht jedoch den friderizianischen (1763). Anders als Friedrich unterstützte sie auch nicht das Freimaurertum, ja sie tolerierte es nicht einmal. 59 Etliche ihrer Tischgespräche und Briefpassagen handelten von den Problemen, die sich aus der Inkongruenz von absolutem Herrschaftsanspruch und aufklärerischen Idealen ergeben mussten. Nur an den von einer breiteren Öffentlichkeit abgeschirmten Orten, an der Tafel, in der Audienz oder Akademie, konnte jede Materie uneingeschränkt thematisiert und offen diskutiert werden. 60 Über ketzerische Auffassungen zu Religion und Konfession, zu Pädagogik oder Moral 56 Brunhilde Wehinger, Der Intellektuelle auf dem Thron und die „République des lettres“, in Sösemann /Vogt-Spira, Friedrich (wie Anm. 2), Bd. 1, 182–195; hier: 190f. 57 Zur Apologie ihrer Herrschaft sind auch ihre autobiographischen Schriften zu zählen, die beide mehrfach und sorgfältig überarbeitet haben. Einblicke in den Entstehungsprozess gibt Annelies Graßhoff (Hg.), Katharina II. Memoiren (Bibliothek des 18. Jahrhunderts). 2 Bde., Leipzig 1986, Bd. 2, 315–349. 58 Annelore Engel-Braunschmidt, Katharina II. als Autorin und die Literatur ihrer Zeit, in: Ottomeyer / Tipton, Katharina die Große (wie Anm. 15), 45–52; hier: 48f.. 59 Pierre-Yves Beaurepaire, Freimauerer. Fürstliche Protektion, Hoflogen und hugenottische Netzwerke, in: Sösemann / Vogt-Spira, Friedrich (wie Anm. 2), Bd. 2, 97–110, und Michel Kerautret, Religiöse Toleranz oder philosophische Indifferenz, in: ebd., 47–66. 60 Die Hälfte der Akademiemitglieder waren aus deutschen Staaten berufen worden (55 von 111 in den Jahren bis 1799), drei stammten aus Westpreußen und Danzig, drei weitere aus den baltischen Provinzen; s. dazu Ingeborg Fleischhauer, Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutsch-russische Kulturgemeinschaft, Stuttgart 1986, 90–97.
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und Vermutungen über die Entwicklung der Technik oder des Klimas empörte sich dort niemand. Behauptungen über die Freiheit des Willens, zu einer naturgegebenen sozialen Gleichheit oder zur Rolle der Geschlechter reflektierte und diskutierte man frei und unbekümmert. Selbst Friedrich achtete darauf, dass von den zynischen religionsspöttischen Kommentaren am Tisch oder Schriften wie dem Palladion nichts nach außen drang – waren doch gottesfürchtige Untertanen leichter zu beherrschen. Wollten einige seiner Gesprächspartner ihre Auffassungen dennoch veröffentlichen, so hinderte die königliche Zensur sie daran. Selbst Akademiemitglieder mussten sich klandestiner Publikationsformen bedienen oder im Ausland publizieren. In beiden Staaten waren die Möglichkeiten für eine Verwirklichung der von den Philosophen proklamierten Menschenrechte und Humanitätsideale durch prinzipielle Bedenken eingeengt. Beide Monarchen lehnten es entschieden ab, einen Reformprozess eigenhändig in Gang zu setzen, der die Basis ihres Herrschaftssystems unterminieren und letztlich das System des Ancien régime sprengen musste. Sie modifizierten ihre betont adelsfreundliche Politik zu Gunsten einer Stärkung ständischer Rechte nur in einem unbedeutenden Maß und beließen auch dem Militär seine starke Position im Staat. Friedrich hatte auf dem Land eine für die Bauern erträgliche Lage stabilisieren können. Aber Katharinas Versäumnis, sich der Frage der Leibeigenschaft rechtzeitig zu widmen, hatte 1773/74 zu den verheerenden Pugatschow-Aufständen geführt. Ihre Versuche, die kritische Lage auf dem Lande durch Belehrungen und Gespräche zu entspannen, waren damit endgültig gescheitert. 61 Sie sah eine „französische Pest“ in den kritischen Buchbeiträgen und Zeitungen, Zeitschriften und Flugschriften sowie in den sich im Alltag abzeichnenden Tendenzen zur Aufweichung jeglicher Subordination. In diesem Kontext erklärt sich ihre heftige Reaktion auf Alexander Radischtschews Fundamentalkritik in der Reise von Petersburg nach Moskau von 1792. Die anschwellende Flut leicht zugänglicher politischer Informationen „aufklärerischer“ Substanz bildete eine wichtige Voraussetzung für die zunehmende kritische Auseinandersetzung mit den alltäglichen Erscheinungsformen absolutistischer Herrschaft und ihrer Legitimität. 62 Am 11. Februar 1794, unter dem Eindruck der jakobinischen Terreur, verurteilte Katharina die Kirchenkritiker Hume, Helvetius und d’Holbach. Sie berief sich auf Friedrich, dem Helvetius zugegeben habe, ihr Ziel sei es, alle Throne zu stürzen. Die „Encyclopédie“ habe man mit der Absicht verfasst, alle Könige und alle Religionen zu vernichten. 63 Die öffentliche Kritik riskierte viel, wenn sie im letzten Jahrzehnt vor der Französischen Revolution, nach dem Ende der sogenannten Liberalen Phase, nicht moderat ausfiel. Auf die traditionellen Instrumente der Überwachung und Unterdrückung griffen jetzt beide Herrscher zurück, weil sie die Flugpublizistik und 61 Die Gründung einer „Freien Ökonomischen Gesellschaft“ war gut gemeint, aber allgemeine Belehrungen über den modernen Landbau reichten ebenso wenig aus, wie die Aufklärung über neue agrarische Methoden. 62 Hierzu Böning, Bürger (wie Anm. 2), 32. 63 In einem Brief an Melchior Grimm (Madariaga, Katharina [wie Anm. 21], 245).
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Zeitschriften oder Reden von Dissidenten für nicht mehr steuerbar hielten. In Preußen wurden Journalisten mit amtlicher Billigung gelegentlich verprügelt; die Zarin verhängte wiederholt jahrelange Kerkerhaft oder Verbannung ohne Gerichtsverfahren. Friedrich und Katharina replizierten bei vorsichtig formulierten Vorhaltungen nicht nur einmal mit dem ironischen Hinweis, es sei eben schwer, außerhalb der Studierstube mit derartigen Problemen oder Aporien in der politischen Praxis umzugehen. Friedrich hielt Voltaire entgegen: „Während Sie in Ihren Werken die Kriegskunst verschreien, die Sie infernalisch schimpfen, muntern zwanzig Ihrer Briefe mich auf, mich in die orientalischen Wirren zu mischen. Vereinen Sie, so Sie können, diese Widersprüche (…).“ 64
Nachdem Voltaire Katharina zeitweise in jedem zweiten seiner Briefe zu einem „Gott sehr wohlgefällige[n] Werk“, dem allentscheidenden Krieg gegen die „verfluchten Türken“ 65 aufgefordert hatte, gestand er ihr die Berechtigung zu, seine Kriegshetzereien in Namen der aufklärerischen Ideale zurückzuweisen: „Das stimmt nicht mit meinen Grundsätzen von Toleranz überein; aber die Menschen sind nun einmal aus Widersprüchen zusammengeknetet, und im übrigen verdrehen mir Eure Majestät den Kopf.“ 66
Kant und die Berliner Aufklärer feierten ihren Monarchen als aufgeklärt und weise, verzichteten dabei aber nicht auf Kritik. Unter dem Druck der Zensur beschränkten sie sich in der Öffentlichkeit darauf, ihre Missbilligung verdeckt zu platzieren und die nicht erreichten Ziele eines wahrhaft aufklärerischen Denkens nur anzudeuten. Sie beschrieben die Inhalte des idealiter Anzustrebenden als eine logische und deshalb in naher Zukunft sicher bevorstehende Konsequenz des bereits Realisierten. Sie begnügten sich dabei allerdings mit der schwachen Art eines nötigenden Hinweises, denn sie lebten zwar unter einem aufgeklärten Herrscher, aber nicht unter einer aufgeklärten Regierung. Zeitgenossen haben bereits die überdurchschnittlichen intellektuellen und politischen Fähigkeiten Friedrichs und Katharinas erkannt. 1767 hielt es die rund fünfhundertköpfige Gesetzgebende Kommission für passend, mit dem einzigen ihrer Beschlüsse Katharina den ehrenden Titel „die Große“ und „weiseste Mutter des Vaterlandes“ offiziell zu verleihen. Friedrich soll erstmals in Zurufen aus dem Volk „der Große“ genannt worden sein, als er aus dem sogenannten Zweiten Schlesischen Krieg in Berlin einzog. 67 Voltaire hat schon früher Friedrich häufiger als „der Große“ bezeichnet. 68 Der Zarin gegenüber steigerte er seine schmei64 Dazu Näheres bei John T. Alexander, Catherine the Great. Life and Legend, New York 1989, 247–261. 65 Monsieur – Madame (wie Anm. 15), 330 (12.8.1773). – Voltaire schlug Katharina allen Ernstes den Einsatz von Nachbauten antiker Sichelwagen gegen das osmanische Heer vor. 66 Ebd., 133 (11.8.1770). 67 „Der [Ehren-]Name bringt alle Akten zum Sprechen. Im Namen verbirgt sich, in ihm enthüllt sich das Antlitz der Zeit“, meinte Reinhard Wittram, Peter I. Czar und Kaiser. Peter der Große in seiner Zeit, 2 Bde., Göttingen 1964, Bd. 1 (Vorwort). 68 Voltaire – Friedrich der Große (wie Anm. 11), 242f. (Juli 1742). – Sein letzter Brief an Friedrich (1. April 1778) schließt mit den Worten: „Sie haben die Vorurteile besiegt, wie auch Ihre
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chelnden Widmungen auch in dieser Hinsicht, doch es wurde nicht mehr als ein banales „die sehr Große“. 69 Die Frage, ob Persönlichkeiten wie Friedrich und Katharina diesen ehrenden Zusatz zu Recht tragen, wird heute gelassener als je zuvor diskutiert, da sich keine strengen Kriterien haben finden lassen, nach denen dieser Titel vergeben wird. Wer heute das Epitheton bei Friedrich und Katharina verwendet, setzt es in der Regel nicht zur Heroisierung ein, sondern zur Individualisierung. Eine würdigende Hervorhebung schließt keineswegs ein uneingeschränktes Lob mit ein. Katharina gestand dem Arzt Johann Georg Zimmermann brieflich, alles, was sie unternommen habe, erscheine ihr rückblickend als „höchst mittelmäßig“ 70; bei Friedrich findet sich sogar das Eingeständnis eines Scheiterns. In seiner Histoire de mon temps heißt es: Der Leser werde aber in seiner Kritik zwischen dem Philosophen und Herrscher, dem Moralisten und Politiker zu trennen wissen. Doch derartige um Nachsicht heischende Eingeständnisse zählten auch zum konventionellen Dekor jener Zeit, wenn eine „femme intellectuelle“ oder ein „honnête homme“ zu ehren waren.
Abb. 1 und 2: Antimachiavel. Die von Voltaire gegen den Willen Friedrichs in Den Haag publizierten Abhandlungen erschienen im September (Van Duren) und Oktober (Paupie) 1740 anonym;
anderen Feinde; alles, was Sie schufen, ist für Sie Anlaß zur Freude. Sie sind der Überwinder des Aberglaubens wie auch die Säule der germanischen Freiheit. (…) Möge Friedrich der Große der unsterbliche Friedrich sein! Empfangen Sie gnädig den tiefen Respekt und die unverbrüchliche Verbundenheit Ihres Voltaire“ (ebd., 556). 69 Monsieur – Madame (wie Anm. 15), 365 (7.7.1775). 70 Hedwig Fleischhacker, Mit Feder und Zepter. Katharina II. als Autorin, Stuttgart 1978, 139.
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die überarbeitete deutsche Ausgabe fünf Jahre später. Die verstümmelte, mit zahlreichen Zusätzen von Voltaire auch noch zusätzlich partiell abgeänderte Erstausgabe verärgerte den Autor: „In Ihrer [Voltaires] Ausgabe gibt es soviel Fremdes, dass es nicht mehr mein Werk ist“ (Friedrich, 7.11.1740). Am liebsten hätte der König sein nicht ausdrücklich zum Druck frei gegebenes Manuskript noch zurückgezogen oder die gesamte Druckauflage aufgekauft. In seinen einleitenden Bemerkungen verkürzte Friedrich seine Intention öffentlichkeitswirksam auf ein einziges Ziel: „Ich wage es, zur Verteidigung der Menschheit gegen ein Ungeheuer anzutreten, das sie zerstören will. (...) Ich habe Machiavellis ‚Fürsten‘ immer als eines der gefährlichsten Werke betrachtet, die in der Welt verbreitet sind. (…) Es sei mir erlaubt, für die Fürsten und gegen ihre Verleumder das Wort zu ergreifen, um diejenigen von der abscheulichsten Anklage in Schutz zu nehmen, deren einzige Aufgabe es ist, für das Glück der Menschheit zu arbeiten.“ 71 Der Antimachiavel war zu Lebzeiten Friedrichs in 38 Ausgaben verbreitet; bis 1803 gab es 63, zur Hälfte französische Drucke, 15 Übersetzungen ins Deutsche und außerdem Ausgaben in Englisch, Italienisch, Holländisch, Russisch, Schwedisch und eine auf Latein.
Abb. 3: Illustrierte Flugpublizistik zur Unterstützung von Katharinas Kampf gegen die Pocken. Das obere Bild zeigt das Leid und die Folgen, das untere die Segnungen der Impfung. Übersetzung oben: „Die verderblichen Taten bringen Pocken der Hässlichkeit, Krankheit, ein verkürztes Leben und (schließlich) den Tod mit sich.“ Übersetzung unten: „Die rettenden Taten wirken sich als Schönheit und als gesundes und langes Leben aus.“
71 Anne Baillot / Brunhilde Wehinger (Hgg.), Friedrich der Große. Potsdamer Ausgabe, Bd. 6: Philosophische Schriften, Berlin 2007, 47 und 49, das Briefzitat: ebd., 419.
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Abb. 4: Anzügliche Karikatur von Thomas Rowlandson zu Katharinas „Griechenland-Projekt“, das unter den Mächtigen in Europa kaum Beifall fand. „AN IMPERIAL STRIDE! / Russia. – Constantinople.“ / Doge [Ludovico Manin] (Venedig): „To what a length Power may be carried“ – Papst Pius VI.: „I shall never forget it“ – Karl IV. (Spanien): „By Saint Jago, I’ll strip her of her Fur!“ – Ludwig XVI. (Frankreich): „Never saw anythink like it“ – Georg III. (Großbritannien): „What! What! What! What! A prodigious expansion!“ – Leopold II. (Deutschland): „Wonderful elevation“ – Selim (Türkei): „The whole Turkish Army wouldn’t satisfy her“ / EUROPEAN POWERS. 12. April 1791 (FU, FMI, AKiP-Sammlung).
AUFKLÄRUNG IN DÄNEMARK – DER FALL STRUENSEE Jens E. Olesen, Greifswald Die im 18. Jahrhundert und besonders in dessen zweiter Hälfte fast überall in Europa verbreitete Geistesbewegung „Aufklärung“ nahm Stellung u. a. gegen überlieferte Anschauungen in Religion und Philosophie, gegen die Ordnung und Einrichtung des Staatslebens und gegen die soziale Organisation der Gesellschaft. Besonders auf dem Gebiet der Politik und auf der sozialen Ebene hinterließ die Bewegung tiefe Spuren. Auch Fürsten und Machthaber wurden von der Aufklärung beeinflusst und konnten sich dieser Geistesströmung nicht entziehen. Der aufgeklärte Absolutismus setzte sich allgemein durch. Trotz mehrerer Formen und unterschiedlicher Wirkungen in den europäischen Staaten war vieles gemeinsam, vor allem ein bewusstes und rationelles Streben nach Verweltlichung des Staatslebens. Der ältere Absolutismus hatte die Machtausübung und Alleinherrschaft der Herrscher befördert, und dies setzte sich im aufgeklärten Absolutismus weiter fort. Die Souveränität des Staates wurde in den Händen der Fürsten und Monarchen konzentriert, obwohl die Privilegien und Rechte der Stände beibehalten wurden. 1 Der Zeitgeist forderte aber Reformen. In fast allen europäischen Staaten, wo der aufgeklärte Absolutismus sich durchsetzte, wurde die Rechtspflege humaner, die Geistesfreiheit erweitert, und die Rechte der einzelnen Menschen mehr respektiert. Viel vorsichtiger waren die Reformen auf den ökonomischen und sozialen Gebieten. Hinter allen Bemühungen lag aber ein allgemein verbreitetes Verständnis für die Notwendigkeit von Reformen. 2 Auch in Dänemark setzte sich der aufgeklärte Absolutismus allmählich durch. Vor allem die Reformzeit 1769–72, als der deutsche Arzt und Geheime Kabinettsminister Johan Friedrich Struensee (1737–1772) sich um eine Modernisierung innerhalb der dänischen Monarchie rastlos bemühte, zeichnet sich als eine kurze hektische Epoche ab. Geboren in der pietistisch-aufklärerischen Hochburg Halle, kam er über Altona in Holstein nach Dänemark. Schon in Halle und später
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Hanne Sanders, Sekularisering – et relevant begreb for historisk forskning? In: Mellem religion og oplysning. Sekularisering af 1700-tallets politiske og kulturelle univers, Den jyske Historiker 2004 (Nr. 105), 5–18. Erik Lund u. a., De europæiske idéers historie, Kopenhagen 1962, 254ff. Axel Linvald, Oplysningens Tidsalder, in: Det Danske Folks Historie, Bd. VI, Red. Aage Friis u. a., Kopenhagen 1928, 3ff. Siehe u. a. Linvald, Oplysningens Tidsalder (wie Anm. 1), 5f.
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in Altona hatte er neben seinem Beruf als Arzt mehrere aufklärerische Schriften verfasst. 3 Das Reformwerk von Struensee ist von mehreren Historikern umfassend analysiert worden, aber es herrscht keine Einigkeit, wie diese Jahre aufzufassen seien. War es hauptsächlich u. a. eine interne und persönliche „Affäre“ am Königshof im Kampf um die Macht, oder eher ein Ausdruck für eine Krise des dänischen Gesamtstaatssystems, oder sind die vielen Reformen Struensees, wie nach der Auffassung von Kersten Krüger, viel mehr in Zusammenhang des Phänomens „Aufgeklärter Absolutismus“ zu verstehen? 4 In Schweden waren die Jahre nach dem großen Nordischen Krieg und bis zum Staatsputsch von König Gustav III. im Jahre 1772 von der sogenannten „Freiheitszeit“ geprägt. Die schwedischen politischen Verhältnisse mit Proto-Parteien im Reichstag sind interessanterweise in der Forschung hinsichtlich der Entwicklung in Dänemark nie einbezogen worden. Dies ist erklärbar, denn zur Bildung solcher Proto-Parteien kam es in Dänemark nicht. Wichtig ist aber die Feststellung, dass das schwedische Königtum in diesen Jahren vom direkten politischen Einfluss im Reichstag fast ausgeschlossen und im zentralen Regierungsrat ohne entscheidenden Einfluss war. Die nicht-adligen Ständegruppen versuchten ihre Interessen gegen Adel und Kirche durchzusetzen.5 Die schwedischen Modernisierungstendenzen (u. a. umfassende Pressefreiheit 1766 auf Vorschlag vom finnischen Pfarrer und Ständepolitiker Anders Chydenius) scheinen als Referenzrahmen für eine Bewertung der Struensee-Ära in Dänemark dienen zu können. 6 Denn die Tätigkeit Struensees am dänischen Königshof als königlicher Geheimer Kabinettsminister und alles entscheidender Leibarzt des schwachen und geistig verwirrten Christian VII. (und geheimer Liebhaber der jungen Königin) lässt die Frage aufkommen, ob nicht die Person Struensee viel mehr als übergreifendes Symbol und als Exponent für ein bürgerliches aufklärerisches Bemühen besonders 3
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Reinhard Schlifke, Doctor Johann Friedrich Struensee, Physicus der Stadt Altona, der Herrschaft Pinneberg und der Grafschaft Rantzau 1757–68, in: Heimatkundliches Jahrbuch für den Kreis Pinneberg 2009, 201–228. Paul Barz, Der Leibarzt des Königs. Die Geschichte des Doktor Struensee, Berlin 2002, 54–96. Stefan Winkle, Johann Friederich Struensee, Arzt, Aufklärer und Staatsmann. Beitrag zur Kultur–, Medizin– und Seuchengeschichte der Aufklärungszeit, Stuttgart 21989, passim. Stefan Winkle, Struensee und die Publizistik (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, 19), Hamburg 1982, passim. Siehe u. a. Kersten Krüger, Johann Friedrich Struensee und der Aufgeklärte Absolutismus, in: Hartmut Lehmann / Dieter Lohmann (Hgg.), Aufklärung und Pietismus im dänischen Gesamtstaat 1770–1820, Neumünster 1983, 11–36. Sebastian Olden-Jørgensen, Struenseeaffæren 1772, in: Thomas Lyngby u. a. (Hgg.), Magt og pragt. Enevælde 1660–1848, Kopenhagen 2010, 185–215. Michael Roberts, Sverige under Frihetstiden 1719–1772 (Übersetzung aus dem Englischen von Lars Göran Larsson), Falun 1995, passim. Siehe u. a. Thomas von Vegesack, Smak för frihet. Opinionsbildningen i Sverige 1755–1830, Stockholm 1995, 31–41. Anders Burius, Ömhet om Friheten. Studier i frihetstidens censurpolitik, Uppsala 1984, 262–278. Stig Boberg, Gustav III och Tryckfriheten 1774–1787, Göteborg 1951, 17–22. Hilding Eek, Om Tryckfriheten, Stockholm 1942, 163ff.
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gegen Monarchie, Aristokratie und Kirche zu betrachten ist. Durch seine Verhaftung im Monat Januar 1772 und seiner späteren Verurteilung und Hinrichtung im April desselben Jahres wurden die frühere königliche Machtposition und das alte aristokratische Regime wieder hergestellt. Auch in Schweden vollzog sich im selben Jahr ein Machtwechsel. Gustav III. stellte die Macht des Königtums wieder her und beendete die „Freiheitszeit“. 7 Im Folgenden sollen die Hintergründe für das Agieren Struensees und die wichtigsten Aspekte seiner rastlosen und energischen Wirkungszeit am dänischen Königshof diskutiert werden. Kennzeichnend für die Situation in Dänemark um die Mitte des 18. Jahrhunderts war ein schwacher Regent auf dem Thron. König Frederik V. (1746–1766) konnte seine Position an der Spitze des dänischen Gesamtstaates nur schwer ausfüllen. Es fehlten ihm die Fähigkeit und der Wille zum Regieren. Erfahrene Persönlichkeiten übten die Regierung im Namen des Königs aus. Diese Männer konnten sicher sein, dass der König bereit war zu unterzeichnen, was sie – und nur sie – an ihn zur Unterschrift herantrugen. In den Jahren von 1746 bis 1766 basierte das Fundament der Staatsleitung vor allem auf dem Vertrauen zwischen dem König und dem Staatsmann und Oberhofmarschall Adam Gottlob Moltke. Dessen großes Verdienst war es, dass er die etablierte Struktur des dänischen Absolutismus bewahren konnte. Die Macht ruhte bei den Ministern im Geheimen Rat und bei den Leitern der Kollegien. Moltke hätte durchaus durch Kabinettsbefehle mit der Unterschrift des Königs regieren können. Als Konservativer hielt er aber loyal an der erprobten Regierungsform aus den Regierungszeiten der Könige Christian VI. und Frederik IV. fest. Aber er erweiterte seine Machtposition durch ein Netzwerk informeller Kontakte. Die Regierungszeit Frederiks V. war nicht ohne interne Spannungen, aber sowohl Moltke als auch Johan Hartwig Ernst Bernstorff als Außenminister konnten sich beide in ihren Positionen halten. 8 Nach dem Tod Frederiks V. im Monat Januar 1766 wurde sein 17-jähriger Sohn Christian VII. König von Dänemark-Norwegen. Er war für die meisten fast ein Unbekannter. Niemand hatte sich früher ernsthaft um ihn gekümmert. Seine Mutter war gestorben, als er noch zwei Jahre alt war, und der Vater hatte sich nie für ihn interessiert. Der Schweizer E. S. F. Reverdil (1732–1808) musste als Lehrer des Kronprinzen bald erkennen, dass es unmöglich war, seine Aufmerksamkeit über längere Zeit über irgendwas festzuhalten. Bald nach dem Thronwechsel wurden psychische Defizite festgestellt: Lust und Interesse andere zu schikanieren und gelegentlich ein in seiner Traumwelt abgekapseltes Leben ohne Kontakt zur Umwelt. Bald wurde für seine Umgebung am Königshof klar, dass der junge Mo-
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Betr. Dänemark, siehe Linvald, Oplysningens Tidsalder (wie Anm. 1), 30 („borgerligt Fremstød“), 68–87. Roberts, Sverige under Frihetstiden 1719–1772 (wie Anm. 5), 274–302. Linvald, Oplysningens Tidsalder (wie Anm. 1).
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narch geisteskrank war. Die Krankheit scheint nach moderner psychischer Forschung Schizophrenie zu sein. 9 Der Thronwechsel leitete einen Kampf um die Beherrschung des jungen absolutistischen Königs ein, der erst 18 Jahre später seinen Abschluss finden sollte, als Kronprinz Frederik de facto die Macht durch einen Putsch übernahm und im Namen seines kranken Vaters Dänemark-Norwegen regierte. 10 Es waren 1766 Männer am Hofe, in Verwaltung und Militär, die in der Opposition zu den Ministern Frederiks V. gestanden hatten, die jetzt versuchten die Macht an sich zu reißen. Sie waren u. a. mit der bisherigen pro-russischen Politik der Regierung unzufrieden und wollten stattdessen eine französisch orientierte Außenpolitik. Es scheint, als wollten sie den leicht beeinflussbaren und naiven König zu einem persönlichen königlichen Regiment drängen, unabhängig von den Conceil-Ministern und den Leitern der Kollegienverwaltung. Die ersten vier Regierungsjahre Christians VII. wurden vor diesem Hintergrund von Intrigen, Machtkämpfen, plötzlichen Entlassungen und erfolgslosen politischen Initiativen geprägt. Der alte Moltke sowie Reverdil u. a. wurden bald entmachtet. Das politische System und die Verwaltung konnten zwar trotz dieser markanten Veränderungen weiterhin funktionieren. Die Minister mussten aber ständig um ihr politisches Leben kämpfen und die Angriffe abwehren, die politisch verantwortungslose Kreise in der Umgebung des orientierungslosen Königs in Gang setzten. 11 Das wilde Leben des jungen Königs nahm am Anfang eher harmlose und traditionelle Formen, wie Feste, Maskeraden und Schauspiele, an. Die Minister hatten gehofft, dass man den König durch die Heirat im November 1766 mit seiner 15-jährigen Cousine Caroline Mathilde, einer Schwester des Königs Georg III. von England, bändigen könnte. Christian VII. verlor aber bald Interesse für seine junge Frau und tummelte sich nachts in den Kneipen und in den Straßen Kopenhagens mit einer Prostituierten namens Anne Katrine Benthagen (1745–1805), „Stiefelett-Katrine“ genannt. Gemeinsam mit seinem neuen Favoriten, Conrad Holck (1742–1800) und anderen Trinkbrüdern machte der König die Straßen unsicher und kämpfte mehrere Male mit den Nachtwächtern der dänischen Hauptstadt. Der russische Botschafter Caspar von Saldern (geb. in Apenrade) und der dänische Finanzminister sorgten diskret dafür, dass „Stiefelett-Katrine“ aus Kopenhagen entfernt wurde. 12 Um den König auf andere Gedanken zu bringen und ihn von den Hofintrigen fernzuhalten, wurde von den verantwortlichen Ministern der Plan gefasst, dass Christian VII. eine „Grand-Tour“ in Europa unternehmen sollte. In Regierungs-
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Sebastian Olden-Jørgensen, Den dansk-norske solkonge, in Lyngby u. a., Magt og pragt. Enevælde 1660–1848 (wie Anm. 4), 155–160. Ole Feldbæk, Den lange fred 1700–1800 (Gyldendal og Politikens Danmarkshistorie, 9), Kopenhagen 1990, 216–220. 10 Feldbæk, Den lange fred (wie Anm. 9), 234ff. Linvald, Oplysningens Tidsalder (wie Anm. 1), 78ff. 11 Feldbæk, Den lange fred, 221. Linvald, Oplysningens Tidsalder, 13. 12 Olden-Jørgensen, Struensee-affæren 1772 (wie Anm. 4), 193–196.
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kreisen hatte man vor dem Auftreten des Königs im Ausland Angst. Die Meinungen waren geteilt, aber am 6. Mai 1768 reiste Christian VII. mit einer Gefolgschaft von 55 Personen ab. Unter den wichtigsten Persönlichkeiten befand sich der Arzt Johan Friedrich Struensee aus Altona, der kurz vorher als Reisebegleiter des Königs angestellt worden war. 13 Die Reise ging durch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Holland, England und Frankreich und dauerte bis Mitte Januar 1769 an. Es gelang weitgehend den König zu unterhalten und zu vermeiden, dass er nicht zu viele Skandale veranstaltete. Privat zeigte Christian VII. aber ein beunruhigendes Desinteresse für alles, was um ihn herum passierte, und oft versank er in seiner eigenen Welt. Die Reise war aber in mehrerlei Hinsicht ein Erfolg. Als Christian VII. zurückkehrte, folgte Struensee mit nach Kopenhagen. Der König vertraute ihm, und Struensee war als Arzt seinerseits überzeugt, dass er den König heilen konnte. 14 Die von Struensee und seinen Mithelfern unternommene Therapie des Königs machte Christian VII. zuerst ernst, aber bald versank er in einer tiefen Depression. Struensees nächster Schritt war, mit den sozialen und gefühlsmäßigen Relationen des Königs zu arbeiten, d. h. sein Verhältnis zur Königin Caroline Mathilde. Struensee zog ins Schloss ein, um in der nahen Umgebung seines Patienten besser arbeiten zu können. Das Ergebnis ist bekannt: Bald wurde er heimlicher Liebhaber der jungen und vernachlässigten Königin. Gemeinsam übernahmen die beiden die Kontrolle über den kranken König. Neue Helfer, u. a. Struensees Freund aus der Jugendzeit, Enevold Brandt, wurden angestellt. 15 Mit Unterstützung der Königin gelang es Struensee die volle Kontrolle über Christian VII. zu bekommen. Das politische Spiel war nicht länger ein chaotischer Machtkampf hinter den Kulissen, wo bald der eine oder andere seinen Willen durchsetzen konnte. Jetzt gab es nur den Willen Struensees, und er konnte sich schnell durch Kabinettsbefehle durchsetzen. Denn Christian VII. hatte lange gegen das Geheime Conceil einen tiefen Groll gehegt, weil er sich ihm hoffnungslos unterlegen und dadurch seiner Entscheidungsfreiheit beraubt fühlte. Einen Ausweg hatte Christian VII. in der Ausstellung von Kabinettsordern, mit denen er seit 1768 – also noch vor Struensees Zeit – zunehmend in die Regierungsführung eingriff und beschleunigte Agrarreformen sowie wichtige Erneuerungen in der Zentralverwaltung durchsetzte: 1768 die Einsetzung des General-Landwesens-Kollegiums und die Neugründung der General-Zollkammer. Struensee, seit Januar 1769 ständiger Leibarzt, seit Mai 1770 zusätzlich Konferenzrat und Vorleser des Königs, unterstützte mit Nachdruck dessen Streben nach Unabhängigkeit vom Geheimen Conceil. Im September 1770 wurde Johann Hartwig Ernst Bernstorff, Außenminister Dänemarks seit 1742, Mitglied des Geheimen Conceils und einer
13 Olden-Jørgensen, Struensee-affæren 1772 (wie Anm. 4), 196–199. Barz, Der Leibarzt des Königs (wie Anm. 3), 97–108. Winkle, Johann Friedrich Struensee (wie Anm. 3), 151–177. 14 Olden-Jørgensen, Struensee-affæren 1772 (wie Anm. 4), 197–199. 15 Siehe u. a. Winkle, Johann Friedrich Struensee (wie Anm. 3), 179–199. Feldbæk, Den lange fred (wie Anm. 9), 225.
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der einflussreichsten Minister am Königshof, entlassen. Christian VII. übernahm von den Beamten die Regierung, löste Ende 1770 das Conceil auf und verabschiedete seine Mitglieder. 16 Der damit durchgesetzte und vollzogene Wechsel der Regierungsform vom Ministerrat zum Kabinett bedeutete eine grundlegende Verfassungsänderung, die allerdings im Rahmen des dänischen Absolutismus möglich war. Die politische Macht wurde der Verwaltungsbürokratie genommen und voll auf den König konzentriert. Struensee verteidigte sich später vor Gericht, dass die festen Verfahrensregeln der Kabinettsregierung persönliche Willkürherrschaft verhindern sollten. Denn solche hätte er selbst am Hofe erlebt. Auf diese Weise gab Struensee die Missbrauchsmöglichkeiten der Kabinettsregierung zu und leugnete von ihnen Gebrauch gemacht zu haben. 17 In den führenden politischen Kreisen war es aber klar – und natürlich vor allem auch bei Struensee selbst – dass Christian VII. wegen seines schlechten geistigen Zustandes kaum regierungsfähig, ja für eine Kabinettsregierung völlig ungeeignet war. Die Gefahr politischer Fehlentscheidungen und der unkontrollierten Herrschaft durch königliche Günstlinge lag auf der Hand. Und genau diese Schwäche wurde von Struensee zum konsequenten Ausbau seiner eigenen persönlichen Machtstellung ausgenutzt. Hatte er bisher als Leibarzt und Vorleser des Königs sowie daneben als Liebhaber der Königin nur persönlichen Einfluss am Königshof gehabt, so bekam er mit der Ernennung zum „Maître des Requêtes“ im Monat Dezember 1770 eine offizielle führende Amtsstellung als Verwaltungschef des Kabinetts oder als einziger Minister des Königs. Alle Vorgänge gingen jetzt durch seine Hände. Im März 1771 übernahm er zusätzlich die Geschäfte des Kabinettssekretärs. Am 14. Juli 1771 ließ er sich schließlich zum Geheimen Kabinettsminister ernennen mit der Befugnis, Kabinettsordern im Namen des Königs auszufertigen und zu unterschreiben. Die auf diese Art und Weise ausgefertigte Kabinettsorder sollte dieselbe Gültigkeit wie die von Christian VII. eigenhändig geschriebene Befehle besitzen. Mit dieser Verfügung waren die verfassungsmäßigen Grenzen des Absolutismus überschritten und der Weg frei für eine persönlichen Diktatur des Kabinettsministers. Im Sommer 1771 erhielt Struensee anlässlich der Taufe der Prinzessin Louise Augusta, die das gemeinsame Kind von ihm und der Königin war, den in Dänemark neuen Titel des Geheimen Kabinettsministers, der ihn mit allen Vollmachten ausstattete und ihm freie Hand ließ. 18 Struensee brachte sich voll in seine neue Aufgabe, ein Land zu regieren, ein. Er verfügte über kein eigentliches erarbeitetes politisches Konzept, ließ sich aber im Wesentlichen von den Ideen der Aufklärung, die er sich während seiner Zeit in Altona angeeignet hatte, leiten. Während seiner fast eineinhalbjährigen rastlosen
16 Krüger, Johann Friedrich Struensee und der Aufgeklärte Absolutismus (wie Anm. 4), 17–19. Linvald, Oplysningens Tidsalder (wie Anm. 1), 27. 17 Wie Anm. 16. 18 Siehe u. a. Feldbæk, Den lange fred (wie Anm. 9), 227. Krüger, Johann Friedrich Struensee und der Aufgeklärte Absolutismus (wie Anm. 4), 19.
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und ungeduldigen Tätigkeit als Geheimer Kabinettsminister wurden mehr als 1.800 Kabinettsbefehle erstellt. Es ist hier aus Platzgründen nicht möglich darauf näher einzugehen; nur einige zentrale sollen erwähnt werden. Am 4. September 1770 wurden die ersten beiden Kabinettsordern erlassen, die allerdings, wie auch die folgenden, noch vom König signiert waren. Mit der ersten wurde die Zensur aufgehoben und die uneingeschränkte Pressefreiheit verkündet; die zweite richtete sich gegen den „Lakaiismus“, die Unsitte, Ämter und Titel wahllos zu vergeben und mit ihnen zu handeln, und verordnete, dass Titel und Ämter nur noch für erworbene Dienste vergeben werden dürften. Damit war ein Anfang gegen die „Rang– und Titelsucht“ eingeleitet, etwa auch eigene Dienstboten für öffentliche Ämter vorzuschlagen. 19 Struensees Reformeifer umfasste so gut wie alle Bereiche. Es schwebte ihm u. a. eine Neuordnung der Staatsfinanzen und der Verwaltung nach preußischem Vorbild vor. Auch das Schul– und Hochschulwesen sollte reformiert werden. Weiter entzog er dem neuen Kopenhagener Magistrat die richterliche Gewalt, indem er alle rechtlichen Streitsachen an den neuen allgemeinen Gerichtshof verwies. Damit räumte er mit einer Institution der Vetternwirtschaft auf. Zugleich erging an die Kollegien und an den Kopenhagener Magistrat ein Verbot „Sporteln“ (Schmiergelder) anzunehmen, weil die Beamten auf feste Gehälter gesetzt werden sollten. Adlige sollten bei Besetzung von Ämtern den Bürgerlichen nicht vorgezogen werden. In den höheren Regierungskollegien bemühte er sich um größere Schnelligkeit, Ordnung und Einfachheit in der alltäglichen Arbeit. 20 Auch gegen andere Privilegien ging Struensee mit Kraft und Energie vor. So wollte er die allzu freigebige Verteilung von Privilegien und Pensionen einschränken. Die Etikette, die König Christian VII. ohnehin nicht mochte, wurde abgeschafft, die Hofaristokratie fast beseitigt und ein neuer „gutbürgerlicher Hof“ – wie es ironisch hieß – geschaffen, an dem „Herr Struensee“ seine Gesellschaften empfing und den Ton angab. Das vakante Amt als Oberzeremonienmeister wurde nicht wieder besetzt, ebenso das Amt des Oberhofmarschalls. Viele Höflinge und mehrere Hofdamen der Königin wurden als Sparmaßnahme entlassen. Die Pagen des Königpaares wurden durch Land– und Seekadetten ersetzt. Auch die Zahl der in den königlichen Gestüten gehaltenen Pferde wurde von 800 auf 100 vermindert. 21 Unter den Reformen war auch die Abschaffung einer Reihe von Feiertagen. Dies war in den meisten protestantischen Ländern schon längst passiert, doch erregte diese Maßnahme als eine Verletzung der christlichen Religion den Zorn Vieler im dänischen Reich. Die Arbeiten an der Kopenhagener Marmorkirche wurden eingestellt. Die dadurch arbeitslos gewordenen Handwerker bildeten zusammen mit den entlassenen Gesellen der wegen Unrentabilität aufgelösten kö19 Holger Hansen (Hg.), Kabinetsstyrelsen i Danmark 1768–1772, Bd. 1–3, Kopenhagen 1916– 1923. Winkle, Johann Friedrich Struensee (wie Anm. 3), 201–206. 20 Winkle, Johann Friedrich Struensee (wie Anm. 3), 206, 216f. 21 Ebd., 207f.
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niglichen Seidenmanufaktur ein Störelement unter der ärmeren Gruppen der Stadtbevölkerung. Struensee hielt sich fern von dem öffentlichen Gottesdienst, was genauestens von seinen Gegnern notiert wurde. Als ein weiterer Beweis für seine Geringschätzung der Religion galt die Erlaubnis, in der Theatersaison auch sonntags Opern aufführen zu dürfen. Auch gegen Spielleidenschaft in Form von Lotto und Hasardspielen ging er vor. Als Struensee neben der Sondersteuer für Luxuspferde auch die Glücksspiele zugunsten der Findelkinder mit hohen Steuern belegten, stieg die Unzufriedenheit unter den Menschen. Sein Einsatz für uneheliche Kinder und unverheiratete Frauen wurde von vielen als Untergrabung der öffentlichen Moral interpretiert. 22 Der Geheime Kabinettsminister bemühte sich den dänischen Gesamtstaat als Rechtsstaat zu festigen. Dies wurde vor allem in der Humanisierung der Rechtspflege deutlich. Besonders die Abschaffung der Folter im November 1771 erregte Aufsehen weit über die Landesgrenzen. Gleichzeitig mit dem Erlass gegen die Folter erfolgten Maßnahmen gegen die Prozessverschleppung und Korruption in der Justiz. Die verschiedenen Kopenhagener Gerichte wurden aufgehoben und durch den Hof– und Staatsgerichtshof ersetzt, der nun in allen Rechtssachen, mit Ausnahme militärischer und geistlicher Angelegenheiten, zu entscheiden hatte. Auf dem platten Land wurden die bäuerlichen Frondienste eingeschränkt und die Bauern der Gerichtsbarkeit ihres Gutsherrn entzogen. 23 Das Heerwesen hatte mit hohen Kosten zur Staatsverschuldung Dänemarks beigetragen. Struensee beauftragte 1771 seinen Freund Obrist Falkenskiold die Armee zu reformieren und alles, was für die eigentliche Landesverteidigung unnötig war, mit Sparmaßnahmen zu belegen. Um Geld zu sparen wurden allen unrentablen Manufakturen und Fabriken die Zuschüsse verwehrt. Zur Regelung der Finanzen wurde von Struensee sein älterer Bruder Carl August berufen. Auch auf den Gebieten des Sanitätswesens und der Medizinal-Verwaltung leistete Struensee Beachtenswertes. 24 Allen Verdächtigungen zum Trotz waren Struensees gesellschaftspolitische Reformen notwendig und zukunftsweisend. Mehrere Reformen stießen aber allgemein auf Unverständnis und Ablehnung. Nur schwer lässt sich Struensees gesamte Tätigkeit überblicken und beurteilen. An seinem Anliegen, dem Gemeinwesen nützlich zu sein, kann nicht gezweifelt werden, ebenso wenig wie an seinem Fleiß, der in den vielen Kabinettsordern dokumentiert ist. Die gesellschaftlichen Reformen und die Erneuerungen in der Zentralverwaltung brachten außer Frage deutliche Vorteile und waren zum Teil ihrer Zeit weit voraus. 25 Die Bereitschaft zu Reformen innerhalb der Wirtschaft und Verwaltung scheint in großen Teilen von Adel und Bürgerschaft am Anfang vorhanden gewe-
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Winkle, Johann Friedrich Struensee (wie Anm. 3), 208f. Ebd., 209–211. Ebd., 212–218. Olden-Jørgensen: Struensee-affæren 1772 (wie Anm. 9), 215. Vgl. Krüger, Johann Friedrich Struensee und der Aufgeklärte Absolutismus (wie Anm. 4), 30.
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sen zu sein. Daher hatte Struensee zu Beginn seiner Regierungszeit durchaus Anhänger. 26 Doch wurden seine Reformen oft rücksichtslos und mit unnötiger persönlicher Schärfe und Arroganz durchgesetzt. Dass er alleine Entscheidungen traf, ohne den Rat anderer vorher einzuholen, brachte ihm großes Misstrauen ein. Dazu trugen sein Unkenntnis der dänischen Verhältnisse und sein ungeschicktes Verhalten dem Adel und der Kirche gegenüber, denen er mit vielen Reformen zu nahe trat, bei. Auch die Art und Weise, mit der er den kranken König bei Seite schob, um an die Macht zu gelangen, schürten Hass und Ablehnung gegen den bürgerlichen deutschen Emporkömmling. Seine Modernisierungsbemühungen wurden allgemein mit Unverständnis und einer sich verhärtenden Opposition in den gesellschaftlichen Schichten begegnet. 27 Der Widerstand gegen Struensee hatte lange mehr oder weniger offen existiert, aber im Herbst 1771 nahm die Opposition feste Form an. Gerüchte florierten, dass Struensee und die Königin planten, Christian VII. zur Abdankung zu zwingen. Dies war nicht der Fall, aber der Hass verbreitete sich unter der Bevölkerung Kopenhagens. Es erschienen mehrere Schmähschriften und Flugblätter mit eindeutigen Darstellungen und Versen, besonders die Liebesaffäre mit der Königin wurde Gegenstand vieler Texte. 28 Viele von Struensees Maßnahmen zeigten sich als schwer durchführbar; man kann von einer chaotischen Situation und einer akuten politischen Krise sprechen. Die Wirtschaftsreformen führten zu Teuerungen und steigender Arbeitslosigkeit, was natürlich die Stimmung in der Hauptstadt verschlechterte. 29 Schon im Sommer 1771 scheint sich ein Kreis von Struensee-Gegnern gebildet zu haben, denen sich auch die Königinwitwe Juliane Marie und ihr Sohn, Erbprinz Frederik, anschlossen. Zu diesem Kreis gehörte u. a. Graf Schack Carl von Rantzau, der sich von Struensee in seiner Karriere behindert fühlte. Eine zentrale Rolle spielte der Sekretär des Erbprinzen Frederik, Ove Høegh-Guldberg. In der Nacht vom 17. auf den 18. Januar 1772, nach einem Maskenball auf Schloss Christiansborg, wurde ein friedlicher Staatsstreich durchgeführt. Die „Patrioten“ zwangen Christian VII. einen Arrestbefehl seines Kabinettsministers zu unterschreiben. Danach wurden Johan Friedrich Struensee, Enevold Brandt, die Königin Caroline Amalie und einige weiteren Mitarbeiter Struensees verhaftet. Struensee und Brandt wurden in das Kastell gebracht, die Königin nach Helsingør auf die Festung Kronborg. Um der Bevölkerung zu zeigen, dass der König „befreit“ worden war, fuhr Christian VII. mit dem Erbprinzen in der Stadt herum. 30
26 Der Historiker Peter Frederik Suhm war u. a. ursprünglich ein Anhänger Struensees. 27 Siehe u. a. Linvald, Oplysningens Tidsalder (wie Anm.1), 27–48. 28 Christine Keitsch, Der Fall Struensee – ein Blick in die Skandalpresse des ausgehenden 18. Jahrhunderts (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte, 26), Hamburg 2000. Klaus Bohnen, Johann Friedrich Struensee und die Folgen. Aus Anlass von Christiane Keitschs „Der Fall Struensee“, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 25/2001, 272–278. 29 Linvald, Oplysningens Tidsalder (wie Anm. 1), 49. 30 Siehe ausführlich Winkle, Johann Friedrich Struensee (wie Anm. 3), 249–271.
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Die Verhaftung Struensees wurde allgemein mit Jubel begrüßt. Seine Reformen wurden bis auf wenige Ausnahmen zurückgenommen. Eine Inquisitionskommission wurde am 20. Januar 1772 eingesetzt, die über alle Inhaftierten befinden sollte. Eine gesonderte Kommission wurde darüber hinaus einberufen, um die Angelegenheiten hinsichtlich Struensees und der Königin sowie den wegen dieser Affäre angestrebten Scheidungsprozess sorgfältig zu prüfen. 31 Struensee wurde ein Majestätsverbrechen zu Last gelegt. Denn durch seine Ernennung zum Geheimen Kabinettsminister mit der Befugnis, Kabinettsordern im Namen des Königs auszufertigen und zu unterschreiben, hatte er die verfassungsmäßigen Grenzen des Absolutismus überschritten. Die Kabinettsorder vom 14. Juli 1771 stellte den Klägern zufolge einen klaren Vorstoß gegen die Artikel 7 und 26 der Lex Regia von 1665 dar. Der Verteidiger, Peter Uldall, konnte als Gegenargument nur aufbringen, dass Struensee die gegebenen Möglichkeiten zum Machtmissbrauch nicht reell ausgenutzt habe. Es herrscht kein Zweifel, dass Struensees Ermächtigung zur Ausstellung von Kabinettsordern die Souveränität des Königs beschränkte bzw. aufhob. Der Prozess, dessen Einzelheiten mit Bedacht nicht an die Öffentlichkeit gelangten und bei dem die Person des Königs nicht mit einbezogen wurde, endete am 26. April 1772 mit dem Todesurteilen sowohl für Struensee als auch für Enevold Brandt, wegen des „crimen laesae majestatis.“ Beide wurden am 28. April 1772 auf dem Osterfeld (dän. Østerfælled) vor den Toren Kopenhagens in Anwesenheit einer großen Menschenmenge öffentlich hingerichtet. 32 Die Familie von Graf Enevold Brandt hatte sich vergeblich um Gnade für ihn bemüht, in der Hoffnung die Strafe mildern zu können. Auch für Struensee wäre eine Änderung der strengen Strafe zu Gefängnis auf Lebenszeit möglich gewesen, aber am Urteil wurde festgehalten. Es sollte ein abschreckendes Beispiel statuiert werden. Schon diese harte Haltung zeigt die Ausmaße und die herrschende hetzerische Stimmung gegen den früheren Geheimen Kabinettsminister. Königin Caroline Mathilde musste Dänemark im Mai 1772 verlassen, ihre beiden Kinder verblieben aber in Kopenhagen. Sie erhielt Celle als Residenz zugewiesen, nach der Intervention ihres Bruders, dem englischen König. Die übrigen Inhaftierten kamen fast alle wenige Wochen nach der Hinrichtung Struensees wieder frei. 33 Das unglückliche und grausame Schicksal Struensees war vor allem dem geschuldet, dass er sich zum Geheimen Kabinettsminister mit umfangreichen Befugnissen hatte ernennen lassen. Auch die Liebesaffäre mit der Königin Caroline Mathilde und die Geburt einer gemeinsamen Tochter trugen zum Hass und zur
31 Holger Hansen (Hg.), Inkvisitionskommissionen af 20. Januar 1772, Bd. 1–5, Kopenhagen 1927. Linvald, Oplysningens Tidsalder (wie Anm. 1), 59. 32 Winkle, Johann Friedrich Struensee (wie Anm. 3), 273–316. Jens Glebe-Møller, Struensees vej til skafottet. Fornuft og åbenbaring i Oplysningstiden, Kopenhagen 2007, 47ff. Feldbæk, Den lange fred (wie Anm. 9), 228–230. Linvald, Oplysningens Tidsalder (wie Anm. 1), 61– 66. 33 Keitsch, Der Fall Struensee (wie Anm. 28), 41.
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Ablehnung in der Bevölkerung bei. Dazu kam die respektlose Behandlung König Christians VII. und die Gerüchte über eine angeblich harte Erziehung des jungen Kronprinzen Frederik. Seine Gegner bemühten sich mit Erfolg, Struensee als Deutschen mit dem Ziel die dänische Kultur und die dänische Sprache zu unterdrücken, darzustellen. Durch seine Reformen forderte er besonders den Adel und die Kirche vehement heraus. Struensees Freund und Sekretär, David Panning, äußerte wenige Jahre nach der Katastrophe, dass „Adel und Klerus bereit waren mit Zähnen und Klauen ihre geheiligten Vorrechte zu verteidigen.“ 34 Zum Teil war Struensees Tragik die Folge mangelnder Kommunikation. Einige Missverständnisse hätten sich wohl ausräumen lassen. Er sammelte aber weder eine Gruppe einflussreicher Personen des Königshofes um sich, noch kümmerte er sich um die sich gegen ihn wendende Propaganda, die eine Folge der durch ihn verfügten Aufhebung der Pressezensur war. Es scheint als hätte Struensee sich eine solche Reaktion in der Bevölkerung nicht vorstellen können. Jetzt schuf er eine unkontrollierte Öffentlichkeit, vernachlässigte aber selbst die Öffentlichkeitsarbeit. Struensee kommunizierte in deutscher und französischer Sprache, die dänische beherrschte er nicht – viele Dänen sah darin ein Ausdruck von Arroganz. 35 Struensees Ungeduld bedeutete insgesamt wie von Sebastian Olden-Jørgensen gezeigt eine Nicht-Einhaltung der allgemeinen politischen Spielregeln. Er ignorierte darüber hinaus Punkt für Punkt die politische Kultur des dänischen Absolutismus. Außerdem hatte er kein Verständnis für die dynastische Grundlage des Staates. Dazu kam, dass er und die junge Königin Christian VII. als Haupt des Staates isolierten. Damit vernachlässigten sie, dass das Volk gewöhnt war dem König öffentlich zu begegnen und ihn sehen zu können. Ein weiterer grundlegender Fehler Struensees war, dass er den Staat und dessen Angestellten als eine Maschine auffasste. Er kündigte rücksichtslos Beamten, um seine Ziele zu erreichen, und war nicht bemüht Kompromisse zu finden. Seine Politik kann als ein markanter Traditionsbruch bezeichnet werden. Es ist kennzeichnend, dass die Königinwitwe und ihre Ratgeber bald das traditionelle Hofleben wiederbelebten. König Christian VII. nahm an diesen Veranstaltungen pflichtgemäß, aber ohne Begeisterung teil. Er spielte wie erwartet seine Rolle im Theater der Macht; man konnte ihn sehen, und er war unter der Kontrolle und Aufsicht seiner Familie. 36 Wenden wir uns abschließend von der kurzen und hektischen Epoche der Struensee-Jahre in Dänemark der Situation in Schweden während der Freiheitszeit zu. In Schweden dominierten der Reichstag in Stockholm und die um die Macht ringenden Proto-Parteien „Hüte“ und „Mützen“. Das Königtum befand sich nach dem Tod Karls XII. 1718 und den vielen Kriegsjahren in einer politisch schwachen Situation. Nach einem erfolglosen Versuch die Machtposition des Königtums durch einen Putsch wiederherzustellen, inszeniert vom König Adolf Fredrik, wurde 1756 vom Reichstag ein Stempel mit der Signatur des Königs geschaffen; 34 Winkle, Struensee und die Publizistik (wie Anm. 3), 88 (mit Fußnote 189). 35 Sie u. a. Linvald, Oplysningens Tidsalder (wie Anm. 1), 48–55. 36 Olden-Jørgensen, Struensee-affæren 1772 (wie Anm. 9), 204–210.
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ob er dann im Reichsrat persönlich anwesend war oder nicht, um die neuen Gesetze und Regierungshandlungen zu unterschreiben, war grundsätzlich ohne Bedeutung. Als es 1768 zum Konflikt mit dem König kam, wurde der Namensstempel vom Reichsrat gegen den König verwendet. Der Rat versuchte somit ohne den König das Land weiter zu regieren. Die Beamten weigerten sich aber, den Befehlen Folge zu leisten, und auf dem Reichstag 1769 sprach der Geheime Ausschuss sich gegen eine solche Anwendung der Namensstempel aus. Dieses Verfahren zeigt, wie sehr die königliche Gewalt in Schweden zu einer bloßen Chimäre geworden war und wie sehr die faktische Macht, trotz der prinzipiellen Gleichheit zwischen dem König und dem Reichsrat, auf der Seite der Senatoren der HütePartei lag. 37 In Dänemark war das politische System, wie gezeigt, anders; der geisteskranke König Christian VII. war formell Zentrum der Macht, wurde aber von seinem Kabinettsminister durch die Kabinettsbefehle politisch völlig entmachtet. Es ist leider nicht bekannt, wie viel Struensee über die politischen Auseinandersetzungen in Schweden informiert war. Die Macht des Reichstages und die über Jahrzehnte andauernde politisch schwache Stellung des schwedischen Königs in der Politik waren ihm allem Anschein nach bekannt. 38 Obwohl die schwedischen Verfassungsverhältnisse nicht mit der Situation in Dänemark zu vergleichen sind, tragen die dort vorherrschenden institutionellen Auseinandersetzungen zur Untermauerung der Auffassung dazu bei, dass die Tätigkeit von Johan Friedrich Struensee in Dänemark als aufklärerischer Reformer und Alleinminister ohne Rücksicht auf den König als ein machtvoller Exponent für das selbstbewusste und heranwachsende Bürgertum im Kampf gegen veraltete Strukturen zu betrachten ist.
37 Artikel „Namnskydd“ in: Nordisk Familjebok, Stockholm 1913, 411f. Für die politische Situation 1768, siehe u. a. Roberts, Sverige under Frihetstiden 1719–1772 (wie Anm. 5), 240– 242. 38 Vgl. Linvald, Oplysningens Tidsalder (wie Anm. 1), 41.
WEISSE FLECKEN AUF DER KARTE DES WISSENSRAUMES Zedlers Universallexikon und die Ränder der Welt Ingo Löppenberg, Greifswald Seit den Fahrten des Christoph Columbus hatten sich europäische Seefahrer über alle Ozeane der Erde bewegt, Küsten und Inseln entdeckt und mit fremden oder unbekannten Völkern einen kulturellen Austausch begründet. 1 Wissen über Gebräuche und Sitten, Religionen, geographischen Begebenheiten, Geschichte und Sprache der anderen Kontinente flossen nach Europa und wurden dort von den Gelehrten, Händlern, Missionaren und Beamten aufgenommen und verarbeitet. Ein Hauptprodukt dieses globalen Wissensaustausches waren die Karten über die neuentdeckten und kolonialisierten oder noch zu kolonialisierende Gebiete in Übersee. 2 Landkarten entstanden anhand der Reiseberichte über die Fahrten und Entdeckungen und fanden im Zeitalter der Aufklärung ein zunehmend größeres Publikum in den europäischen Staaten, selbst in denen ohne eigenes Kolonialgebiet. Diese Karten und Reiseberichte formten in den Köpfen der Leser kognitive Landkarten, sogenannte „Mental Maps“. 3 Kognitive Landkarten ordneten das beste1
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Zur Entdeckungsgeschichte der Erde vgl. Felipe Fernández-Armesto, Pathfinders. A Global History of Exploration, New York London 2007. Speziell zum 18. Jahrhundert Philippe Despoix, Die Welt vermessen. Dispositive der Entdeckungsreise im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 2009; John H. Parry, Europäische Kolonialreiche. Welthandel und Weltherrschaft im 18. Jahrhundert, München 1972. Ich danke Hedwig Richter und Jens Peters für ihre konstruktive Kritik an früheren Versionen! Dazu Jürgen G. Nagel / Hans-Heinrich Nolte / Hans-Joachim König u. a., Wissensaustausch, globaler, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Wissen – Zyklizität. Nachträge. Enzyklopädie der Neuzeit Band 15, Stuttgart / Weimar 2012, 31–59; Urs Bitterli, Die Wilden und die Zivilisierten. Grundzüge einer Geistes– und Kulturgeschichte der europäischen-überseeischen Begegnungen, München 1976; Hans-Jürgen Lüsebrink, Wissen und außereuropäische Erfahrung im 18. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen / Sina Rauschenbach (Hgg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln / Weimar / Wien 2004, 629–653; Jürgen Osterhammel, Von Kolumbus bis Cook. Aspekte einer Literatur– und Erfahrungsgeschichte des überseeischen Reisens, in: Michael Maurer (Hg.), Neue Impulse der Reiseforschung (Aufklärung und Europa. Beiträge zum 18. Jahrhundert), Berlin 1999, 97–131. Frithjof Benjamin Schenk, Literaturbericht Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung, in: Geschichte und Gesellschaft 28/2000, 493–514, 494. Ein anderes Beispiel für eine ähnliche Untersuchung über indigene Völker wäre das Konzept der „Stereotypen“. Vgl. dazu Ulrike Hönsch, Wege des Spanienbildes im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Von der schwarzen Legende zum „Hesperischen Zaubergarten“, Tübingen 2000, 1–4.
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hende Wissen über ein geographisches Gebiet und formten das individuelle Raumwissen des Lesers. Dadurch legten diese geistigen Landkarten die Handlungen des Reisenden in Bezug auf den Erwerb von Wissen fest. Dieses Raumwissen bestimmte z. B. welche Gebiete auf einer wissenschaftlichen Reise bereist werden, oder welche Thesen mit anderen Gelehrten diskutiert werden sollten. Ich vertrete nun die These, dass neben den Landkarten auch Lexikonartikel eine ähnliche Funktion aufwiesen. Ihr Inhalt ließ dem Leser selbst die Möglichkeit eine geistige Landkarte zu erschaffen. Diese formte, wie eine Karte, den Wissensraum des Lesers und damit z. B. sein Verständnis und seine Meinung über geographische Probleme, wie den postulierten Süd-Kontinent. Als Hauptquelle dient für die Untersuchung das Zedlersche Universallexikon. Nach einer kurzen Vorstellung dieser Quelle werde ich anhand ausgewählter Artikel über die Polarländer, Afrika und den Südkontinent Ähnlichkeiten zu den Karten und ihrer Darstellungsweise aufzeigen. Ziel ist es dabei die für die Frühaufklärung typischen Merkmale, wie Mehrdeutigkeit durch die gleichzeitige Verwendung von alten und neuen Informationen, aufzuzeigen, die den Diskurs und den Wissensraum über die Ränder der Welt bestimmten. Neben der Mehrdeutigkeit war ein weiteres Problem im alten Wissen die eindeutigen Lücken. Und diese Lücken zu füllen wurde zu einem wesentlichen Anliegen in der neuen Auffassung vom Fortschritt des Wissens. Francis Bacon formulierte 1605, dass es eine „Schande“ wäre, wenn den Entdeckungen „des materiellen Globus“ nicht auch solche „des geistigen Globus“ folgen würden. 4 Nur das Neue, verstanden als Korrektur und Überprüfung des Alten, als DeMythologisierung, versprach den Fortschritt, und das Neue lag in den Lücken der „Landkarte des Wissens“, zu deren neue Vermessung von Jean-Baptiste D‘Alembert in der Vorrede zur großen Encyclopédie aufrief. 5 Neben Landkarten waren es Enzyklopädien und Lexika 6, die in der Frühen Neuzeit versuchten das ganze vorhandene Wissen über einen speziellen Gegenstand oder einer Wissenschaft zu sammeln, zu ordnen und zu präsentieren. Sie lassen sich folgendermaßen definieren: „Enzyklopädien sind im pragmatischen Sinn Wissensmaschinen mit einem Anspruch auf Orientierung, mit einer hohen Leistung der Informationsvermittlung und mit einer Ausrichtung auf möglichst unkomplizierter Benutzbarkeit.“ 7
In ihren Länderartikeln gaben sie das Wissen über die Geographie der Gebiete an die interessierte Leserschaft weiter. Der in der Aufklärung verbreitete Versuch, das Wissen der Welt in einem Werk universal, also vollständig, zu erfassen, führte 4 5 6
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Zit. n. Peter Burke, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2002, 136. Burke, Papier und Marktgeschrei (wie Anm. 4), 137. Vgl. Klaus Vogelsang, Zum Begriff Enzyklopädie, in: Theo Stammen / Wolfgang E. J. Weber (Hgg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien (Colloquia Augustana, 18), Berlin 2004, 15–22. Ulrich Johannes Schneider, Bücher als Wissensmaschinen, in: Ders. (Hg.), Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006, 9–20, 9.
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durch die Erkenntnis der bestehenden Lücken und ihrer expliziten und impliziten Nennung zu spezialisierten Fragestellungen in den Wissenschaften der explorativen Geographie. Neuere Studien zeigten die grundlegende Bedeutung dieser Literaturgattung, der Lexika und Enzyklopädien für die wissenschaftlichen Diskurse, auch der geographischen, in der Aufklärung auf. Für den deutschsprachigem Raum hat besonders die Forschung zu dem wichtigsten, auch als „Prototyp“ 8 bezeichneten, Universallexikons des Verlegers Zedler, in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Dennoch lässt sich diese Forschung insgesamt immer noch als „sehr überschaubar“ 9 bezeichnen. Neben zwei Dissertationen über die militärischen und die politischen Artikel gibt es zu speziellen Themen auf literarischem und kulturellem Gebiet einige Aufsätze. 10 Im hier zu behandelnden Feld der Betrachtung von Länderartikeln sind die Arbeiten von Georg Lehner und Eun-Jeung Lee zu China11 und die Studie von Ute Fendler und Susanne Greilich zu Afrika 12 zu nennen. Insgesamt schätzte Ulrich Johannes Schneider, der als der führende Repräsentant in der Zedler-Forschung gilt, dass von den Artikeln im Universal-Lexikon gerade mal knapp 1.000 wirklich analysiert wurden. Die Untersuchungen zum Zedler, wie das Universal-Lexikon häufig einfach bezeichnet wird, unterschieden sich von den gegenwärtigen Trends der europäischen Enzyklopädie-Forschung, denn die Geschichte der Enzyklopädien hat in den letzten Jahren auf verschiedenen Feldern, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, große Fortschritte gemacht.13 Der Rückstand in der Zedler-Forschung hatte verschiedene Gründe. Ein Umstand der alle Studien und Arbeiten zum Zedler erschwerte, war das fehlende Archiv zu diesem Unternehmen. Somit waren Untersuchungen zur Redaktion der Artikel und zu ihrer Entstehung auch auf Grund der verschwundenen Bibliothek mit der Referenzliteratur nur über den Weg der philologischen Analyse 8
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Stephan Rosenke, Universallexikon, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Subsistenzwirtschaft – Vasall. Enzyklopädie der Neuzeit Band 13, Stuttgart / Weimar 2011, 1002–1006, 1003. Vgl. auch Bernhard Kossmann, Deutsche Universallexika des 18. Jahrhunderts. Ihr Wesen und ihr Informationswert, dargestellt am Beispiel der Werke Jablonski und Zedler, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 9/1969, 1553–1596; Ulrich Johannes Schneider, Der Aufbau der Wissenswelt. Eine phänotypische Beschreibung enzyklopädischer Literatur, in: Ders. (Hg.), Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, Berlin 2008, 81–100. Ulrich Johannes Schneider, Die sachliche Erschließung von Zedlers Universal-Lexicon. Einblicke in die Lexikographie des 18. Jahrhunderts, in: Das Achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 32/2008, 96– 125, 97. Schneider, Erschließung (wie Anm. 9), 97–98. Georg Lehner, China in European Encyclopaedias. 1700–1800 (European Expansion and Indigenous Response, 9), Leiden / Boston 2011, 32–39; Eun-Jeung Lee, „Anti-Europa“. Die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung (Politica et Ars, 6), Münster / Hamburg / London 2003, bes. 40 und 55. Ute Fendler / Susanne Greilich, Afrika in deutschen und französischen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts, in: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen 2006, 138–156. Lehner, China (wie Anm. 11), 32–39.
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möglich. 14 Ein anderes Hindernis war die schiere Menge an Text. Schneider bezeichnete deshalb den Zedler auch als „ein rätselhaftes Monstrum in der Mitte des 18. Jahrhunderts.“ 15 Allein der Titel war und bleibt ein weitgefasstes Panoptikum des ganzen bekannten Wissens von Raum und Zeit: „Grosses vollständiges UNIVERSAL LEXICON Aller Wissenschafften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Darinnen sowohl die Geographisch-Politische Beschreibung des Erd-Kreyses, nach allen Monarchien, Käyserthümern, Königreichen, Fürstenthümern, Republiquen, freyen Herrschafften, Ländern, Städten, See-Häfen, Vestungen, Schlössern, Flecken, Aemtern, Klöstern, Gebürgen, Pässen, Wäldern, Meernen, Seen, Inseln, Flüssen, und Canälen; samt der natürlichen Abhandlung von dem Reich der Natur, nach allen himmlischen lufftigen, feurigen, wässerigen und irrdischen Cörpern, und allen hierinnen befindlichen Gestirnen, Planeten, Thieren, Pflantzen, Metallen, Mineralien, Saltzen und Steinen [etc.] Als auch eine ausführliche Historisch-Genealogische Nachricht von den Durchlauchten und berühmtesten Geschlechtern in der Welt, Dem Leben und Thaten der Käyser, Könige, Churfürsten und Fürsten, grosser Helden, Staats-Minister, Kriegs-Obersten zu Wasser und zu Lande, den vornehmsten geist- und weltlichen RitterOrden [etc.] Ingleichen von allen Staats-Kriegs-Rechts-Policey und HaußhaltungsGeschäfften des Adelichen und bürgerlichen Standes, der Kauffmannschaft, Handthierungen, Künste und Gewerbe, ihren Innungen, Zünfften und Gebräuchen, Schiffahrten, Jagden, Fischereyen, Berg-Wein-Acker-Bau und Viehzucht [etc.] wie nicht weniger die völlige Vorstellung aller in den Kirchen-Geschichten berühmten Alt-Väter, Propheten, Apostel, Päbste, Cardinäle, Bischöffe, Prälaten und Gottes-Gelehrten, wie auch Concilien, Synoden, Orden, Wallfahrten, Verfolgungen der Kirchen, Märtyrer, Heiligen, Sectirer und Ketzer aller Zeiten und Länder, Endlich auch ein vollkommener Inbegriff der allergelehrtesten Männer, berühmter Universitäten Academien, Societäten und der von ihnen gemachten Entdeckungen, ferner der Mythologie, Alterthümer, Müntz-Wissenschafft, Philosophie, Mathematic, Theologie, Jurisprudentz und Medicin, wie auch aller freyen und mechanischen Künste, samt der Erklärung aller darinnen vorkommenden Kunst-Wörter u.s.f. enthalten ist. Nebst einer Vorrede, von der Errichtung dieses mühsamen und grossen Werkes Joh. Pet. Von Ludewig, JCti, (…), Mit Hoher Potentaten allergnädigsten Privilegiis. Halle und Leipzig, Verlegts Johann Heinrich Zedler Anno 1738.“ 16
Insgesamt waren dies ungefähr 284.000 Artikel mit 276.000 Verweisungen verteilt auf 64 Bände mit vier Ergänzungsbänden auf knapp 63.000 zweispaltigen Folioseiten. 17 Diese „gigantische Kompilationsleistung“ und „Zäsur in der Geschichte der Wissensvermittlung“ 18, hatte sich Johann Heinrich Zedler ausgedacht. Doch stand sein geplantes Universal-Lexikon unter keinen guten Stern. 14 Schneider, Erschließung (wie Anm. 9), 97. 15 Ulrich Johannes Schneider, Die Konstruktion des allgemeinen Wissens in Zedlers UniversalLexicon, in: Theo Stammen / Wolfgang E. J. Weber (Hgg.), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien (Colloquia Augustana, 18), Berlin 2004, 81–101, 88. 16 Das gesamte Lexikon wurde zunächst durch die Bayrischen Staatsbibliothek digitalisiert und anschließend als ein gemeinsames Projekt mit der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel katalogisiert und ist somit vollständig im Internet verfügbar. http://www.zedler-lexikon.de/ index.html (05.09.2012). Beiträge werden zitiert mit Artikel Name, in: Zedler, Band X, Jahr, Spalte. 17 Schneider, Erschließung (wie Anm. 9), 96; Ders., Konstruktion (wie Anm. 15), 86–87. 18 Schneider, Bücher (wie Anm. 7), 9.
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Durch juristische Klagen von anderen Verlegern mit einem Druckverbot belegt, musste Zedler den Druck und den Vertrieb des Lexikons nach Halle und Berlin verlegen, das eigentliche Schaffungszentrum blieb aber Leipzig. Aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten drohte kurzzeitig der Konkurs des Unternehmens. Das Lexikon wurde durch das Eingreifen des Kaufmanns Johann Heinrich Wolf und eines Konsortiums gerettet. Das Druckverbot wurde 1738 aufgehoben und nach zwölf weiteren Jahren war das Lexikon vollständig. Zedler starb ein Jahr später 1751 und hatte mit den vier Supplementbänden 1751 bis 1754 nichts mehr zu schaffen. 19 Hauptsächlich verantwortlich für die Inhalte des Lexikons waren verschiedene Redakteure. Als die beiden wichtigsten gelten der Historiker und Philologe Paul Daniel Longolius und Karl Günther Ludovici, der ab dem 19. Band die Redaktion übernahm. Neben ihnen arbeiteten die „neun Musen“, unbekannte Autoren, deren einziges Merkmal war, dass ein jeder auf einen bestimmten Bereich des Wissens spezialisiert war. Hinzu kam noch ein Aufruf des Redakteurs Ludovici, der alle Leser aufforderte, eigene Beiträge einzuschicken. Es war diese Arbeitsorganisation als Gruppe von Individuen mit fachlichen Schwerpunkten, die den Ausstoß von knapp 4.000 Seiten im Jahr ermöglichte. 20 Zedler verfolgte in Zusammenarbeit mit seinen Redakteuren ein aufklärerisches Programm. Sein Ziel war es, mit einem Lexikon etliche andere Speziallexika überflüssig zu machen. Diese Wissenssynthese sollte dazu dienen, Wissen in der Gesellschaft zu verbreiten und zu vertiefen. Die „Mental Maps“ wurden dadurch weit verbreitet. Gleichzeitig sollte es Gelehrten durch das neue Lexikon ermöglicht werden, über ihr eigenes Spezialgebiet hinaus zu denken, ein Beitrag zur Interdisziplinarität im 18. Jahrhundert. 21 Als Ludovici mit dem 19. Band die Redaktion übernahm, erweiterte er das Programm und die Artikelgestaltung. Er forderte die Straffung der Artikellänge, die stärkere Berücksichtigung des Werkes von Gelehrten, die häufigere Verwendung von Querverweisen und die Aufnahme von lebenden Personen in das Universallexikon. Der Totalitätsanspruch wurde also erweitert und gestrafft, die Benutzbarkeit erheblich verbessert. 22 Dass das Universallexikon überhaupt geographische Beiträge enthielt, war keine Selbstverständlichkeit, auch nicht für ein Universallexikon. 23 So enthielt 19 Eckart Kutsche, Kriegsbild, Wehrverfassung und Wehrwesen in der Deutschen Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts dargestellt an Zedlers Großem Universallexikon, Freiburg i. Brg. 1975, 39–47. 20 Ulrich Johannes Schneider, Zedlers Universal-Lexicon und die Gelehrtenkultur des 18. Jahrhunderts, in: Detlef Döring / Hanspeter Marti (Hgg.), Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780 (Texte und Studien, 6), Basel 2004, 195–213, 195–200. 21 Kutsche, Kriegsbild (wie Anm. 19), 41–42. 22 Kutsche, Kriegsbild (wie Anm. 19), 48–49. 23 Zum folgenden vgl. Ulrich Johannes Schneider, Europa und der Rest der Welt. Zum geographischen Wissen in Zedlers Universal-Lexicon, in: Paul Michel / Madeleine Herren / Martin Rüesch (Hgg.), Allgemeinwissen und Gesellschaft. Akten des internationalen Kongresses über Wissenstransfer und enzyklopädische Ordnungssysteme vom 18. bis 21. September 2003 in Prangins, 431–450, http://www.enzyklopaedie.ch/kongress/aufsaetze/schneider.pdf (18.01.13).
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Jablonskis Allgemeines Lexikon der Künste und Wissenschaften keine Artikel über Geographie und auch keine historischen oder biographischen Artikel. Die Einführung der Abbildung von Raum und Zeit in das allgemeine Bewusstsein der gelehrten Welt und der interessierten Laien war eng mit dem Erscheinen des Zedlers verknüpft. Die geographischen Artikel im Zedler umfassten knapp ein Viertel aller Artikel und beschrieben meist Länder, Regionen, Städte, Flüsse und Gebirge. Sie waren alles andere als einheitlich verfasst oder geordnet worden. So gab es erst ab dem 32. Band in einigen europäischen Länderartikeln Zwischenüberschriften, die für außereuropäische Artikel nicht nachgewiesen werden konnten. 24 Als Quellen dienten neben dem Werk des französischen Geographien AntoineAugustin Bruzen de La Martiniére – Grand Dictionnaire Géographique Et Critique in 13 Foliobänden seit 1744 ins Deutsche übersetzen und ebenfalls um Zedlerscher Einträge ergänzt – vor allem Reiseberichte und Atlanten. Es gab einen direkten Zusammenhang zwischen der Länge eines Länderartikels und einem vorhandenen Reisebericht. Dabei galt die Entdeckung eines Reisenden als wichtiger als der Reisende selbst, wie die biographischen Artikel zeigen. So enthielt der Artikel über Abel Tasman nur geringe biographische Daten und konzentriert sich mehr auf seine Entdeckungsfahrt, welche kurz gerafft anhand des Werkes von Montanus Unbekend Zuidlandt dargestellt wurde. 25 Ähnliches zeigte sich auch im Verhältnis der Artikel über den Entdecker Henry Hudson und der nach ihm benannten Bucht. Der geographische Artikel war fast dreimal so lang wie der über die Biographie Hudsons. 26 In der Frühaufklärung war man noch von der Heroisierung des Entdeckers weit entfernt. Dies geschah erst mit dem Tod von Cook. 24 Die Einführung von Zwischenüberschriften für längere Artikel findet sich z. B. auch in längeren Artikeln philosophischen Inhaltes. Vgl. Kossmann, Deutsche Universallexika (wie Anm. 8), 1588. Zu europäischen Länderartikel vgl. Hönsch, Wege des Spanienbildes (wie Anm. 3), 46–63; Ulrich Johannes Schneider, „Russland“ in Zedlers „Universal-Lexicon“, in: Dittmar Dahlmann (Hg.), Die Kenntnis Rußlands im deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert. Wissenschaft und Publizistik über das Russische Reich (Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte, 2), Bonn 2006, 247–268. Die Artikel mit Bezug zur Übersee dominierten zwar nicht den Zedler, aber im direkten Vergleich mit der französischen Encyclopédie waren sie deutlich länger. In der Encyclopédie umfasste der Artikel Mexico drei Spalten, Brasilien elf Zeilen, und ähnlich kurz waren die Beiträge über Peru und Chile. Im Zedler umfasst Mexiko drei Seiten und Brasilien immerhin einandhalb. Insgesamt entstanden so Länderartikel eines neuen Typs, „für die Vorformen höchstens in Kaufmanns-Enzyklopädien gefunden werden können.“ Vgl. Lüsebrink, Wissen und außereuropäische Erfahrung (wie Anm. 2), 640. Artikel Mexiko, in: Zedler, Band 20, 1739, 1465–1472; Artikel Brasilien, in: Zedler, Band 4, 1733, 1098–1100; Ulrich Johannes Schneider / Helmut Zedelmaier, Wissensapparate. Die Enzyklopädistik der Frühen Neuzeit, in: Richard van Dülmen / Sina Rauschenbach (Hgg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln / Weimar / Wien 2004, 349–363, 362. 25 Vgl. Artikel Tasman, in: Zedler, Band 42, 1744, 113–114. 26 Artikel Hudson (Henr.), in: Zedler, Band 13, 1739, 1061 und Artikel Hudson, in: Zedler, Band 13, 1739, 1061. Ein anderes Beispiel ist der Artikel über Ferdinand Magellan. Vgl. Artikel Magellanes, in: Zedler, Band 19, 1739, 259–261. Das die Person gegenüber seinem Werk zurücktritt, ist ein auch bei Gelehrten zu beobachtender Zug im Universal-Lexikon. Kossmann, Deutsche Universallexika (wie Anm. 8), 1589.
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Reiseberichte waren aber nun mit dem Problem behaftet, nur selten zwischen Fakt und Fiktion unterscheiden zu wollen, ein Problem, das den Verfassern am Zedler bewusst war: „Man weiß gar wohl, daß man denen Reise-Beschreibungen so schlechterdings nicht trauen darf. Es kommen manche Erzehlungen darinnen vor, die falsch und unbegründet sind (…).“ 27
Als ebenfalls einschränkend erwiesen sich die unterschiedlichen Intentionen der Verfasser der Reiseberichte. Auch wenn die Autoren der Länderartikel im Zedler sich um Ähnlichkeit im Aufbau und im Inhalt bemühten, konnten die Artikel z. B einen ökonomischen, historischen oder politischen Schwerpunkt besitzen. Trotz des Widerspruches zwischen Fakt und Fiktion, der wieder auf die Mehrdeutigkeit in der Frühaufklärung zurück weist, benennt der Zedler das Reisen als Methode der Wissensaneignung. Wichtig war dazu eine genaue Apodemik, also Reisekunst. 28 Im Artikel „Reisen, Reisen an fremde Orte, Wanderschaft“ wurde zunächst eine genaue Planung der Reise angemahnt: „Wer vernünftig und also klüglich reisen will, muß hauptsächlich sein Absehen, so er dabey hat, überlegen, und die zu demselben dienlichen Mittel nicht nur aussinnen, sondern auch geschickt appliciren.“ 29
Dabei muss sich der Reisende bewusst sein, dass er einen bestimmten Stand angehört, und Allgemeines mit Speziellem zu seinem Beruf passendes ansieht, ein Theologe die Religion, ein Rechtsgelehrter die Verfassungen, ein Mediziner die Natur und Philosophen und Philologen „Dinge, die in ihren Kram dienen.“ 30 Auch wird ausdrücklich darauf verwiesen in einem Reisebuch alles „Sehenswürdige“ aufzuschreiben, ohne „Prahlen und Aufschneiderey.“ 31 Zur Vorbereitung sollte sich ein Reisender die Literatur über die Gegend besorgen, in die er Reisen wollte. Aufschreiben sollte er nur Fehlendes oder Neues und dabei die alte Literatur korrigieren. Dies galt auch für die Landkarten, die ein Reisender mit sich führen sollte. 32 Aktualität und Authentizität waren die Anforderungen an die Reisenden, denn nur diese Postulate garantierten die De-Mythologisierung des Wissens. Gerade für die Geographie schien das 18. Jahrhundert noch viele neue Erkenntnisse bereit zu halten. 33 27 Artikel Volck, in: Zedler, Band 50, 1746, 362–375, 369. Es wurde aber auch drauf verwiesen, dass neue Reisebeschreibungen die Alte korrigieren konnten. 28 Vgl. Justin Stagl, Die Apodemik oder „Reisekunst“ als Methode der Sozialforschung vom Humanismus bis zur Aufklärung, in: Mohammed Raasem (Hg.), Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit, vornehmlich im 16.–18. Jahrhundert. Bericht über ein interdisziplinäres Symposium in Wolfenbüttel 25.–27. September 1978 (Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Staatsbeschreibung und Statistik, 1), Paderborn 1980, 131–204. 29 Artikel Reisen, das Reisen an fremden Orten, Wanderschaft, Wanderung, in: Zedler, Band 31, 1742, 366–385, 366. 30 Artikel Reisen, (wie Anm. 29), 366–367. 31 Artikel Reisen, (wie Anm. 29), 367. 32 Artikel Reisen, (wie Anm. 29), 368. 33 Artikel Geographie oder Erd-Beschreibung, in: Zedler, Band 10, 1735, 919–931. Dort auch die negative Bewertung der alten Geographie, ebd., 926. Auch dies verweist auf die Mehrdeu-
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Bevor nun einige geographische Artikel des Universallexikons betrachtet werden, gilt es kurz die wichtigste Entwicklung in der Kartographie der Frühen Neuzeit zu skizzieren. Man kann sie als die Durchsetzung der zwei Prinzipien der Aktualität und der Authentizität definieren, die also nicht nur für den Reisenden galten, der das Wissen nach Europa brachte, sondern auch für den in Europa Verweilenden und das Wissen von den Rändern der Welt Darstellenden. 34 Für sie verantwortlich zeichneten sich zwei bedeutende Kartographen aus Frankreich, Guillaume Delisle 35 und Jean-Baptiste Bourguignon d‘Anville. 36 Beide lebten und arbeiteten in Paris, dem damaligen Zentrum der Kartographie. Delisle besaß ein dichtes Netzwerk an Zuträgern von Informationen und las immer die neuesten und aktuellsten Reiseberichte, um ihr Wissen in seine neuen Karten einzuarbeiten. Dieses Aktualitätspostulat zwang ihn dazu, permanent Neuauflagen seiner Karten herauszugeben. Seine Fähigkeiten und Kenntnisse brachten ihn dazu sowohl den Pazifik, welchen er stark vergrößerte, als auch das Mittelmeer, welches er stark verkürzte, genauer an ihre natürlichen Gestalten anzunähern. Revolutionär war aber seine Entscheidung, dass unbekannte Gebiete bewusst leer, also weiß, blieben. Dies geschah zum ersten Mal auf seiner 1700 erschienenen Karte von Südamerika. 37 Delisle wurde, ganz nach dem Diktum Ludovicis, auch im Zedler im Artikel „Land-Charte“ erwähnt und die Präzision seiner Karten gelobt. 38 Delisles Arbeitsweise folgte d‘Anville konsequent. Alle „einer strengen Quellenkritik nicht standhaltenden Nachrichten und Angaben“ 39, wurden von ihm nicht in seine Karten aufgenommen. Die Überlieferung der alten Kartographie musste von neuen Beobachtungen bestätigt worden sein, um weiterhin in den Karten abgebildet zu werden. Somit verschwanden nach und nach „legendäre Elemente.“ 40 In diesem Sinne bearbeitete d‘Anville seine großen Karten von Afrika 1727 und Arabien 1751. Letztere sollte dann einen großen Einfluss auf die geographische Forschungsarbeit der dänischen Jemen Expedition von 1761 bis 1767
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tigkeit der Frühaufklärung. Zwar kann man die Methoden der alten Geographie kritisieren, sich aber nicht von ihren Ergebnissen lösen. Peter Whitfield, New Found Lands. Maps in the History of Exploration, New York 1998, 90– 184. Lucie Lagarde, Delisle, Guillaume, in: Johannes Dörflinger / Ingrid Kretschmer / Franz Wawrik (Bearb.), Lexikon zur Geschichte der Kartographie. Von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, Band 1 A–L (Die Kartographie und ihre Randgebiete. Enzyklopädie Bd. C/1), Wien 1986, 158–160. In Fernández-Armesto, Pathfinders (wie Anm. 1), 281, findet sich die Schreibweise de L‘Isle. Edwige Archier, Anville, Jean-Baptiste Bourguignon d‘, in: Dörflinger / Kretschmer / Wawrik, Lexikon zur Geschichte der Kartographie, Band 1, 18–21. Luisa Martín Merás, Südamerika, in: Dörflinger / Kretschmer / Wawrik, Lexikon zur Geschichte der Kartographie. Band 2, M–Z (Die Kartographie und ihre Randgebiete. Enzyklopädie Bd. C/2), Wien 1986, 791–794, 792. Artikel Land-Charte, in: Zedler, Band 16, 1737, 393–397, 396. Dort ebenfalls de L‘Isle geschrieben. Archier, Anville (wie Anm. 36), 20. Margarete Lazar, Afrika, in: Dörflinger / Kretschmer / Wawrik, Lexikon zur Geschichte der Kartographie. Band 1, 1–5, 3.
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haben. 41 Auch er fand, allerdings nur mit einem kurzen biographischen Artikel über seine wissenschaftlichen Arbeiten, Aufnahme in das Universal-Lexikon. 42 Ein weißer Fleck markiert einen Punkt auf einer Karte so gut wie ein Kreuz. Neben dieser impliziten Technik der Darstellung von Wissenslücken, entwickelte sich auch die explizite Technik in der genauen Benennung des Unbekannten. Der deutsche Kartograph Johann Matthias Hase nannte in seiner Afrikakarte von 1737 Teile Äthiopiens „tota fere incognita“ 43, und der Kartograph Hermann Molls benannte in einer 1720 erschienen Karte den Nord-Westen von Nordamerika als „Parts Unknown.“ 44 Das Unbekannte übernahm damit im 18. Jahrhundert die Funktion jener Sagen und Legenden, welche die Europäer nach Übersee gelockt hatten. Sie waren die neuen sieben goldenen Städte. 45 Beide Darstellungsmöglichkeiten des Unbekannten lassen sich auch in den Geographischen Beiträgen im Zedler finden. Beginnt man mit der Suche nach Artikeln über den Nordpol, so führt der Zedler zunächst ins Leere. Der angekündigte Artikel „Pole der Welt“ existiert nicht. 46 Unter „Pole des Aequators“ stand, beides wären Punkte, die auch als „Welt-Pole, (Polos mundi) oder auch auf der Erd-Kugle die Erd-Pole (Polos telluris)“ genannt wurden, „von denen der Artickel: Pole der Welt nachzulesen.“ 47 Doch der Beitrag „Arctica Terra“ lieferte Genaueres. Darunter wurden alle Gebiete um den Nordpol zusammengefasst, Island, Grönland Spitzbergen, „Jesso“, „Nova Zembla“ und „andere mehr, die noch nicht entdeckt sind.“48 Das Bekannte und das Unbekannte wurden gleichberechtigt nebeneinander gestellt. Doch bereits im Band 28 wurde eine neue Fassung unter dem Titel „Polar-Länder (Nördliche) oder Nord-PolLänder, Lat. Terræ Arcticæ oder Terra Septentrionales“ eingefügt. Damit wurden alle Gebiete bezeichnet, die sich durch die „Zona Frigidam“ erstrecken, wobei über ihr genaues Ausmaß „man nichts gewisses davon bringen kan.“ Dennoch hatten Seefahrer die Gegend erkundet und ihr Namen gegeben „wie sie es von denen Inwohner gehoret.“ Nach den „neueren Nachrichten“ sollte die Luft „sehr 41 Helga Fischer, Arabien, in: Dörflinger / Kretschmer / Wawrik, Lexikon zur Geschichte der Kartographie. Band 1, 22–24, 23. 42 Artikel Anville (M. d.), in: Zedler, Supplement Band 1, 1751, 1657–1658. Vgl. zu diesem Abschnitt auch Fernández-Armesto, Pathfinders (wie Anm. 1), 278–286. Ein anderer französischer Kartograph, der im Zedler Erwähnung fand, war Nicolas de Fer. Auf seine Karte von der Südsee, und auf eine Ost-Indien-Karte von Delisle, allerdings nur Lile geschrieben, wurde im Artikel Philippinische Insuln (Neue), in: Zedler, Band 27, 1741, 1951, verwiesen. 43 Lazar, Afrika (wie Anm. 40), 3. 44 John A. Walter, Nordamerika, in: Dörflinger / Kretschmer / Wawrik, Lexikon zur Geschichte der Kartographie. Band 2, 536–541, 538. 45 Zur Bedeutung von Mythen für die Entwicklung der Geographie vgl. John L. Allen, Lands of Myth, Waters of Wonder. The Place of the Imagination in the History of Geographical Exploration, in: David Lowenthal / Martyn J. Bowden (Hgg.), Geographies of the Mind. Essays in Historical Geosophy. In Honor of John Kirtland Wright, New York 1976, 41–61. 46 Darauf verweisen die Artikel Pol (Nord–), in: Zedler, Band 28, 1741, 1050 und Pol (Süder–), in: Zedler, Band 28, 1741, 1051. 47 Artikel Pole des Aequators, in: Zedler, Band 28, 1741, 1077. 48 Artikel Arctica Terra, in: Zedler, Band 2, 1732, 1263.
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kalt“ sein und die Sonne „einen guten Theil des Jahres gar nicht, auch mehr oder weniger“ scheinen. 49 Anschließend wurden die bereits im Artikel „Arctica“ genannten Gebiete wiederholt, wobei hier noch „Neu-Dänemarck“ und „Estotiland“ hinzugekommen waren. Auch dieser Artikel endete mit dem Verweis auf „etlichen andern Inseln, die man aber noch nicht recht kennet.“ 50 Diese explizit genannten weißen Flecken wurden auch Bestandteile der Beschreibungen jener Länder am nördlichen Rand der Welt. Im Artikel über „Zembla, Nova-Zembla, Neu-Zembla“ hieß es, dass diese Gegend, „beständig mit Schnee bedeckt“, unbestimmt war. Es gab die Meinung, das Land würde sich bis zum Nordpol erstrecken oder das es mit Sibirien im Osten verbunden war. „Nunmehro aber präsentiert es sich auf allen Charten als eine Insul, die mit lauter Wasser, oder vielmehr mit lauter Eis umgeben ist.“ 51 Zwar wurden vielen Orten von den Holländern Namen gegeben, „die man noch auf den neueren Charten findet (…) es ist aber nichts mehr, als die blossen Nahmen davon bekannt.“ 52 Die Mehrdeutigkeit wurde also nicht aufgehoben. Vielmehr wurden verschiedene Möglichkeiten der Gestaltung der mentalen Landkarte dargeboten und die Entscheidung darüber dem Leser abverlangt. So konnte er selbst eine eigene Meinung verfassen und sie im Diskurs über geographische Fragen einbringen. Ein ebenfalls nur an den Rändern bekanntes Gebiet stellte der afrikanische Kontinent dar. 53 Zunächst hieß es im gleichlautenden Kontinental-Artikel schlicht: „Africa, ist eines von den 4 Theilen der Welt.“ 54 Anschließend folgten Bemerkungen über die Entstehung des Namens und der geographischen Gestalt. Der Zedler unterteilte Afrika in sieben Gebiete (Ägypten, Barbarey, Numidien, Lybien, Nigritenland, Abyssinien auch Ober-Mohrenland, Nieder-Mohrenland), die wiederum in kleinere Königreiche zergliedert wurden. So bestand z. B. die „Barbarey“ aus den Königreichen „Marocco, Fez, Tunis, Algier Tripoli, Tremesen und Barcan.“ Anschließend folgten die Beschreibung der Inseln und Meere, der wichtigsten Berge und Flüsse und der klimatischen Bedingungen. 55 Ausdrücklich wurde auf die große Wüste im Inneren des Kontinents verwiesen, wo „überdies der Mangel an Wasser so groß [ist], daß die daselbst Reisenden allemal einen Vorrath davon mit sich führen müssen.“ 56 Reisetipps für einen Entdecker, der sich auf den Weg machen will. 49 Artikel Polar-Länder (Nördliche), in: Zedler, Band 28, 1741, 1062–1063, alle Zitate 1062. 50 Artikel Polar-Länder (Nördliche), (wie Anm. 49), 1063. 51 Artikel Zembla, Nova Zembla, Neu-Zembla, in: Zedler, Band 61, 1749, 1201–1202, 1201. Ein Ähnliche Diskussion über die Inselgestalt auch im Artikel Grönland, in: Zedler, Band 11, 1735, 979–983, 979. „Wie breit es gegen Norden sey, ist unbekannt.“ 52 Artikel Zembla (wie Anm. 51), 1202. Die Bibliographischen Angaben verweisen z. B. auf Martiniére. Ebd. 53 Zum deutschen Afrika-Diskurs vgl. Fendler / Greilich, Afrika (wie Anm. 12); Matthias Fiedler, Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus. Der deutsche Afrikadiskurs im 18. und 19. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien 2005, bes. 27–80. 54 Artikel Africa, in: Zedler, Band 1, 1732, 728–733, 728. 55 Artikel Africa, (wie Anm. 54), 729. 56 Artikel Africa, (wie Anm. 54), 729.
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Als letztes folgte ein Abschnitt über die Entdeckungsgeschichte des Kontinents, die nach dem Zedler vor 500 Jahren begann. „Vor solcher Zeit“, glaubte man in Europa, dass der Kontinent wegen der starken Hitze unbewohnbar war. „Aber die neuen Schiffahrten, und daselbst hin angestellte Reisen, haben derer Alten ihre Fehler diesfalls kund gemachet“ und dort sowohl fruchtbares Land als auch Bewohner gefunden. 57 Zwar wurde noch auf die Erfolge der karthagischen und phönizischen Seefahrer verwiesen, die eigentliche Entdeckung aber den Portugiesen zugesprochen, ein seltenes Beispiel für ein aufklärerisches Selbstbewusstsein gegenüber dem Wissen und Taten der Antike. Dieses Verhältnis von Details und Grobem im Wissen über Afrika bestimmte den europäischen Blick. Die scheinbar genaue Einteilung des Raumwissens steht im Widerspruch zur bisherigen Mehrdeutigkeit. Doch diese scheinbare Sicherheit wurde in den Artikeln über die Gebiete des Kontinents wieder zerbrochen. Ein Gebietsartikel war ähnlich aufgebaut, wie der Artikel über den Kontinent, doch je weiter sich die Länder von Europa entfernt befanden und je seltener sie besucht wurden, desto unbestimmter wurden die Angaben und forderten indirekt zu einer Festlegung auf. So war es im Artikel „Nigritien, oder das Land der Schwarzen“, das geographisch zwar über seine Grenzen zu bestimmen war, doch eine genaue Angabe von Länge und Breite war unmöglich: „Die Länge dieses Landes soll sich, wie einige wollen, auf 900, hingegen wie andere behaupten, auf 855, und wie endlich noch andere rechnen, auf 800 oder 650 Meilen; die Breite aber nach den ersten auf 300, nach den andern auf 282, nach den dritten aber auf 195, und endlich nach den vierten auf 180 Meilen erstrecken.“ 58
Erneut wurde es dem Leser überlassen, sich eine Karte des Landes zu machen. Auch die Herkunft der schwarzen Hautfarbe der Bewohner wurde nicht festgelegt, sondern sowohl der Fluch des Noah an seinem Sohn Ham, die der Zedler durch einen Vergleich mit anderen Völkern in der „Zona torrida“ als die plausibelste darstellte, als auch das Klima oder der Körperbau als Erklärung herangezogen.59 Ein deutlicher Hinweis auf die Grenzen einer De-Mythologisierung, welche das Wissen der Bibel nicht umfasste. Nach der Beschreibung von Lebensweise, Religion und Sprache – eine eigene Geschichte besaßen die schwarzen Einwohner in den Augen der Europäer nicht – folgte eine kurze Auflistung von „merckwürdigen Seltenheiten der Natur“, die nur an den Rändern des Wissensraums auftreten konnten, unter anderem einen „Brunnen von 10 Faden tieff (…), dessen Wasser einen solchen süssen Geschmack hat, daß man meynen sollte, man hätte ein ordentliches Zucker-Wasser im Munde.“ 60
57 Artikel Africa, (wie Anm. 54), 733. 58 Artikel Nigritien, in: Zedler, Band 24, 1740 887–891, 887. 59 Artikel Nigritien, (wie Anm. 58), 888. „welche Meynungen alle man, ohne darunter eine zu erwehlen, schlechterdings dahin gestellet seyn lässet.“ 60 Artikel Nigritien, (wie Anm. 58), 891.
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Dieser scheinbar neue Mythos wurde aber mit einer genauen Ortsangabe versehen, der eine Überprüfung und damit eine eventuelle Zerstörung möglich machte. 61 Die einzelnen Reiche und Gebiete in „Nigritien“ wurden dann noch unbestimmter behandelt. Je kleiner das Gebiet war, desto größer war die Unsicherheit und Mehrdeutigkeit. Über das Königreich „Senega“ hieß es nur, dass es am Fluss Senegal lag, die Bewohner die ersten europäischen Schiffe für riesige Vögel hielten und das dort mit Goldstaub, Gummi und Leder gehandelt wurde. 62 Aber um das Gebiet zu überblicken riet der Zedler: „Man kann hier des berühmten de L‘Isle Charte zur Hand nehmen, die er von der Gegend gestochen; so wird man sich leichte hiervon hinlänglichen Begriff machen können.“ 63
Hier wurde also zur Kombination und Ergänzung von Karte und Lexikonartikel aufgefordert. Ganz im Süden gab es noch die antarktischen Gebiete, welche an den Rändern der Welt und damit an den Rändern der „Mental Maps“ lagen. Diese Randlage ermöglichte dem Leser besonders eigenständig mit dem Wissen über die Region umzugehen, da es weniger gesichertes Wissen gab. Auch diese waren, wie der arktische Bereich, in zwei Artikel aufgespalten. Der erste Artikel verwies bereits im Namen auf die Unsicherheit über die genaue Ortskenntnisse der Region: „Antarctica terra, oder Terra Antarctica Australis incognita.“ Es wurden nun die Gebiete aufgelistet, von denen eine Zugehörigkeit zum Südkontinent vermutet wurde, wie „Neu-Holland, Neu-Seeland, das Land Ferdinandi“ usw. Doch sei eine weitere Erforschung bisher immer gescheitert, da die Entdecker „entweder vor Hunger gestorben, oder von den Wilden gefressen“ wurden. 64 Es gab hier also keinen Wissensaustausch, wie in den Nordpolgebieten mit den Einheimischen und anscheinend auch keine Handelsmöglichkeiten. Der Artikel „Polar-Länder (Südliche) oder Süd-Pol-Länder, Lat. Terræ Antarcticæ oder Terræ Australes“ ähnelte mehr seinem Pendant. Wie in den Gebieten am Nordpol verhindere die Kälte eine genaue Erkundung. Zusätzlich erschwert werde dies durch die Strömungen und Stürme und besonders durch die „unmanierliche Grausamkeit derer dasigen Einwohner.“ Nach den neusten Nachrichten gab es „kein Zweifel“, dass „das grosse Sudland nicht grösser seyn sollte, als Asien.“ Doch da noch kein Seefahrer über den „60 Grad mittäglicher Breite“ hinausgekommen war, wurde das Land „von verschiedenen Völckern mehr von der Ferne erblicket, als eigentlich und in der Nähe entdecket worden.“ Die Mehrdeutigkeit wird hier greifbar. Es gibt keinen Zweifel über die Größe des Landes obwohl es noch nie betreten wurde! Der Leser 61 „Nahe bey Sanyeng, einem Dorffe in eben demselben Lande“, Artikel Nigritien, (wie Anm. 58), 891. 62 Artikel Senega, in: Zedler, Band 37, 1743, 25. Diese Unbestimmtheit setzt sich z. B. im Artikel über das Königreich Bena fort, wo es besseres Eisen als in Europa gab und der König mit einer Schlange „wie mit einem kleinen Hündgen“ spazieren ging. Artikel Bena, Beccabena, in: Zedler, Band 3, 1733, 1091. 63 Artikel Senegal (La Compagnie du), in: Zedler, Band 37, 1743, 25. 64 Artikel Antarctica terra, in: Zedler, Band 2, 1732, 492. Alle Zitate ebd.
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konnte sich hier eine eigenständige kognitive Landkarte erstellen und über sie mit anderen Gelehrten diskutieren. Dass es dort aber viele Früchte und „uns dermahlen noch unbekannte Thiere“ gab, stand fest und lockten mehr als die im ersten Artikel genannten Kannibalen. Die bisher bekannten Länder umfassten NeuGuinea 65, die Salomon-Inseln, „verschiedene andere Inseln“ und schließlich „das eigentlich so genannte Südland.“ 66 Über dieses gab dann der gleichlautende Artikel nähere Informationen: „ist ein sehr grosses und meist unbekanntes Land.“ Und obwohl es noch „ganz verborgen lieget“ wurde, wie in „Polar-Länder (Südliche)“ auf vermeintlich dazugehörige Inseln und Landschaften hingewiesen. Die häufig auftretenden Stürme erschwerten die Erkundung. Dennoch hatten die Holländer nicht nur vielen Gebieten Namen gegeben, Neuholland, Neuseeland, usw. sondern „auch zu Amsterdam auf dem Ost-Indischen Hause eine grosse Taffel darauf solches Land gemahlet, in vim possessionis haben aufhängen lassen.“ 67 Die geographischen Artikel im Zedler folgten inhaltlich dem typischen Aufbau eines Beitrages in einer Enzyklopädie. Sie besaßen eine Komplexität, die durch die Verwendung von alten Informationen entstand, welche von den neuen, die das Aktualitätspostulat erforderte, gleichzeitig bereits korrigiert wurden.68 Dabei konnte es vorkommen, dass ein späterer Artikel einen vorangegangenen korrigierte. Hierzu gehörte ebenfalls die fortschreitende Abnahme von mythischen Inhalten. Authentizität, nicht Legenden und Sagen, waren gefordert. Eine Ausnahme bildete hier nur die Überlieferungen der Bibel, die noch als unangreifbare Autorität galt. Die teilweise umfangreichen bibliographischen Angaben von Reisebeschreibungen, Atlanten und geographischen Speziallexika ermöglichten dem interessierten Leser, einen Artikel gegenzulesen. Der Leser wurde so in den Inhalt eingeführt und es wurde ihm zugleich ermöglicht, über den Artikel nachzudenken und sich am Diskurs zu beteiligen. Der Zedler forderte dazu auf, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen. Gerade die Artikel über geographische Begebenheiten wirkten somit insgesamt als „Landkarte und Wanderweg zugleich, sie orientieren und sie dokumentieren, sie geben Überblick und Fülle des Materials.“ 69 Die Artikel verwiesen auf die „Veränderungen in der mentalen Landkarte“, im Zeitalter der Aufklärung. Afrika war gekennzeichnet durch die Unbestimmtheit der über den Kontinent vorhandenen Informationen. Auch die nördlichen und südlichen Gebiete waren unbekannt und schienen nichts ökonomisch Verwertbares zu bie65 Artikel Guinea Noua, in: Zedler, Band 11, 1735, 1350. „(…) wovon aber noch nicht gäntzlich kund ist, ob es eine Insel oder ein festes Land von terra australi sey.“ 66 Artikel Polar-Länder (Südliche), in: Zedler, Band 28, 1741, 1065. Alle Zitate ebd. Auf beide Antarktis Beiträge verweisen auch die Artikel Terra Antarctica und Terra Antarctica Australis Incognita, beide in: Zedler, Band 42, 1744, 1089. 67 Artikel Sudland oder Südland, in: Zedler, Band 40, 1744, 1732–1733. Alle Zitate 1732. Und das obwohl einzelne Landstriche anscheinend nicht einträglich waren. Über Neu-Seeland hieß es im Zedler: „Es ist daselbst wenig oder gar nichts zu holen, und daher geben sich die Holländer keine Mühe darum.“ Artikel Zeeland oder Seeland, (Neu–), in: Zedler, Band 61, 1749, 364. 68 Schneider, Bücher als Wissensmaschinen (wie Anm. 7), 11. 69 Schneider, Bücher als Wissensmaschinen (wie Anm. 7), 11.
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ten. Nur der unbekannte Südkontinent lockte zunächst die europäischen Entdecker. Das nächste Ziel war also fixiert, die Zukunft lag in der Terra Incognita. Es wäre interessant zu wissen, ob vielleicht Vater und Sohn Forster vor ihrer Reise mit Cook über das Südland oder die vermeintlichen Riesen in Patagonien 70 zum Zedler gegriffen haben, um sich über die Ziele ihrer Reise zu informieren. Gerade der vermeintliche Südkontinent lockte die europäische Öffentlichkeit. In seinem Lettre sur le Progrés des Sciences forderte der Lapplandreisende Maupertuis die Erforschung der „Terres Australes“, die Überprüfung der angeblichen Riesen von Patagonien, die Suche nach der Nordwest– und der Nordost-Passage und die Erforschung Afrikas. 71 Aber nicht nur Maupertuis sprach sich für die Erforschung der bestehenden Wissenslücken aus, auch wenn sich die Ziele der Entdeckungen nach dem Ende der Erschließung der landarmen Wasserfläche des Pazifiks wandelten. In einem anderen Lexikon, dem Brockhaus, findet sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Artikel über den afrikanischen Kontinent: „Afrika ist noch immer nicht so erforscht, als es in naturhistorischer, geschichtlicher und politischer Hinsicht zur Forschung auffordert“ 72, und zum Abschluss hieß es: „So dringt der Muth europäischer Entdecker von vier Seiten her (…), in das verschlossene Binnenland vor, wo ihnen der Lauf des Niger, die Quellen des Nils und Timbuctu (…) noch ungelöste Räthsel zeigen.“ 73
Dies war die große Entwicklung in den Enzyklopädien von der Früh– zur Spätaufklärung: Vom Sichtbarmachen des Unbekannten im Zedler hin zum Forschungsimperativ im Brockhaus.
70 Artikel Magellaner, in: Zedler, Band 19, 1739, 258–259. „(…) die Spanier haben sie vor Riesen gehalten; Allein die letzten Reise-Beschreibungen der Engländer berichten das Gegenteil.“ 71 M. d. Maupertuis, Lettre sur le Progrés des Sciences, Berlin 1752, 5–22 und zu Afrika 26–27. 72 Artikel Afrika, in: Conversationslexikon. Neue Folge. In zwei Bänden. Erste Abtheilung des ersten Bandes oder des Hauptwerks Elften Bandes erste Hälfte. A–Cz, Leipzig 1822, 36–39, 36. 73 Artikel Afrika, (wie Anm. 54), 39.
CHRISTIAN FRIEDRICH SCHARNWEBER Ein vergessener Aufklärer in der preußischen Reformzeit Barbara Vogel, Hamburg Der in der Geschichtswissenschaft nahezu unbekannte Christian Friedrich Scharnweber (1770–1822) ist ein Kronzeuge für Stärke und Grenzen der Aufklärung in Politik und Geschichtswissenschaft Deutschlands. Die Zeit seines aktiven Wirkens in der preußischen Staatsverwaltung zwischen 1810 und 1821, die unter dem Schlagwort „Preußische Reformen“ in die Geschichtsbücher Eingang gefunden hat, bildet einen Höhepunkt der politischen Aufklärung in Preußen – einerseits. Das damals geschnürte Reformpaket ist aus dem Geist der Aufklärung entstanden. Seine Protagonisten waren von der Erwartung beflügelt, durch gesetzgeberische und administrative Maßnahmen alle Kräfte zu mobilisieren, um dadurch einen zukunftsträchtigen Erfolgsweg für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu bahnen. Andererseits teilte die Opposition, die sich ihnen entgegenstellte und der sie schließlich unterlagen, nicht nur nicht den Optimismus des Gestaltenkönnens, sondern bezweifelte grundsätzlich Mittel und Ziele der Aufklärungsprogrammatik. Insofern stehen Initiativen der politischen Aufklärung und mächtige Vorbehalte gegenüber einem System neuer staatswirtschaftlicher Theorien neben– oder gegeneinander. Der Vorwurf der Theorielastigkeit war auf das Aufklärungskonzept insgesamt gemünzt und sollte es verächtlich machen. Es reicht nicht aus, in den damaligen Auseinandersetzungen über die erforderlichen Maßnahmen zur Reorganisation des 1806/07 zusammengebrochenen ‚Alten Preußens‘ einfach personalistisch Machtkämpfe zwischen Befürwortern und Gegnern von Reformen zu diagnostizieren oder sie typisierend als Kampf zwischen Tradition und Fortschritt zu schematisieren. 1 In der Notwendigkeit oder Unvermeidbarkeit von Reformen waren sich die meisten Zeitgenossen einig, Regierung ebenso wie die Öffentlichkeit. Dabei war die sich rege an den Debatten beteiligende „Opinion“, wie die öffentliche Meinung in der Sprache der Zeit oft hieß, selbst eine Folge der Aufklärung. Streit tobte vielmehr darum, welche Maßnahmen und welche Konzepte zum Zuge kommen sollten. Natürlich prallten dabei auch unterschiedliche Interessenstandpunkte aufeinander. Doch in der Frage, wer die politische und gesellschaftliche Deutungshoheit über angemessene Ziele und 1
Vgl. für die hier angesprochene Thematik: Barbara Vogel, Allgemeine Gewerbefreiheit. Die Reformpolitik des preußischen Staatskanzlers Hardenberg (1810–1820), Göttingen 1983, 21– 132; dies., Reformpolitik in Preußen, in: Hans-Jürgen Puhle / Hans-Ulrich Wehler (Hgg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, 202–223.
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Mittel der angestrebten „Reorganisation“ von Staat und Gesellschaft erringen würde, ging es nicht nur um platte Interessenpolitik. Scharnweber, in der Überzeugung, dass gegen die Interessen der großen Gutsbesitzer in Preußen keine Agrarreformen durchsetzbar sein würden, beklagte sich über die mangelnde Einsicht der Großgrundbesitzer in ihre eigenen Vorteile. Die Schärfe der Auseinandersetzungen ergab sich vielmehr aus grundsätzlichen Richtungsentscheidungen, die zwischen ‚Aufklärern‘ und ‚Romantikern‘ umstritten waren. Am stärksten erwies sich nach 1806 zunächst diejenige Strömung, die einen jahrzehntelangen ‚Reformstau’ endlich auflösen, sich dabei auf die schon in den Aufklärungsgesellschaften der achtziger und neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts erörterten Grundsätze berief, und sie in praktische Politik umsetzen wollte. Jedoch formierten sich gegen diese Sichtweise von Anfang an Gegenkräfte: Sollte man in die Lebenswelt mit willkürlichen Handlungen eingreifen? Und konnte man damit wirklich Besseres erreichen? Die Philippika des angesehenen Rechtsgelehrten Friedrich Carl von Savigny aus dem Jahre 1814 gegen den seiner Meinung nach falsch verstandenen „Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung“, gegen die „Gesetzmacherei“ überhaupt 2, steht symptomatisch für die Gegenbewegung zur Aufklärung, versammelt unter dem Signum des „historischen Denkens“, der „Romantik“, der „Restauration“, denen sich die, spätestens seit dem Wiener Kongress, wieder Oberwasser spürenden „Reactionäre“ anschlossen. Die Aufklärung, weil ein Kind des 18. Jahrhunderts, galt demnach als überholt, war altmodisch und zwar einerlei, ob ihre Errungenschaften aus der Tradition des ‚aufgeklärten Absolutismus‘ stammten oder ein Ergebnis der Französischen Revolution waren. Der romantische Zeitgeist nannte die Aufklärung schlichtweg „unhistorisch“, denn sie stürzte ehrwürdige, historisch gewachsene Institutionen und Freiheiten um und missachtete angeblich alle daraus erwachsenen Rechte. Die wegen ihrer vermeintlich kalten Rationalität gescholtene Aufklärung schien die emotionalen Bedürfnisse der Menschen zu vernachlässigen. Diese Opposition meldete sich immer stärker zu Wort, seitdem Karl August von Hardenberg als Staatskanzler mit Rückendeckung des Königs eine neue „Grundverfassung im Innern“ einzurichten begann. Unter dem Eindruck des stolzen Siegesgefühls nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon hatte die Aufklärung sodann in der preußischen Politik vollends verloren. Die politische Biographie des Reformers Christian Friedrich Scharnweber steht im Schnittpunkt der großen Erfolge und des schließlichen Scheiterns des Aufklärungsprojekts in der preußischen Staatsverwaltung. Das zeigt sich sowohl an der Person selbst als auch am Schweigen über sie in der Geschichtsschreibung. Scharnweber war ein Aufklärer, und als Aufklärer gehörte er anfangs zu den Siegern, später aber zu den Besiegten in der Reformzeit. Beide Aspekte leiten die folgenden Bemerkungen, die allerdings mehr als eine Skizze nicht sein können. Bisher gibt es keine Monographie über Scharnweber, obwohl sie – weit mehr als 2
Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), in: Hans Hattenhauer (Hg.), Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften, München 1973, 95–132.
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nur eine Lücke unserer Kenntnis füllen zu können – die Gesamtbewertung der preußischen Reformen erheblich korrigieren würde. Deshalb soll es zunächst um die Frage gehen, warum Scharnweber in der Geschichtsschreibung so auffällig vernachlässigt wurde (1.); Stichworte zu seiner Biographie schließen daran an (2.). 1. Gründe dafür, dass Scharnwebers Leistung, sein beachtlicher Anteil an der Reformpolitik, vergessen ist, haben ihren Kern in der Neuorientierung der Geschichtsschreibung seit der Napoleonischen Ära. Auch hier findet sich das Schema einer Ablösung der Aufklärung. Zeithistorische Zufälligkeiten treten hinzu: Die Wende in der Geschichte der Geschichtswissenschaft von der Aufklärungshistorie zum Historismus ist mit Namen wie Barthold Georg Niebuhr und Friedrich Carl von Savigny besetzt. Beide waren zugleich scharfe Opponenten Scharnwebers und seines Mentors Hardenberg. Die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts demontierte nachhaltig das Bild und die Leistungen Hardenbergs in der preußischen Geschichte, was sich im Übergehen und Vergessen seines wohl wichtigsten Mitarbeiters Scharnweber fortsetzte. Insoweit sich der Historismus als Gegenentwurf zur Aufklärungshistorie verstand, verlor Scharnwebers Anteil an der Reformpolitik jegliche Relevanz. Diese Geringschätzung lässt sich bis zu dem abwertenden Urteil einiger Zeitgenossen zurückverfolgen, von denen besonders wirkungsmächtig der Freiherr vom Stein wurde. In den Akten des Geheimen Preußischen Staatsarchivs ruhen zahlreiche Denkschriften und Gutachten Scharnwebers zu einzelnen Reformprojekten ebenso wie zur Begründung und Einordnung der Reformpolitik insgesamt. Diese Zeugnisse sind an Themen und Argumentationen so inhaltsreich wie kaum andere aus der Reformzeit. Sie sind allesamt nicht publiziert, was überraschend ist für das 19. Jahrhundert, das so reich an Editionen von Quellentexten ist. Es gibt nur wenige Ausnahmen, die sich aus der Archivarbeit von Spezialisten erklären: So ist bei Georg Friedrich Knapp Scharnwebers Rede zum Entwurf des Regulierungsedikts, die er vor der Convozierten– oder Notabelnversammlung am 23. Februar 1811 hielt, abgedruckt. 3 Und bei Maximilian Blumenthal werden, in seiner Monographie zum Landsturmedikt, Scharnwebers leidenschaftliche Plädoyers für eine Modifikation des Landsturmedikts gedruckt oder ausführlich zitiert.4 Das Thema Landsturmedikt verfestigte das Negativurteil über Scharnweber zusätzlich, weil er hier als Gegner der „Patriotenpartei“ erschien. Unter den von der Geschichtsschreibung außer Acht gelassenen Denkschriften ragen drei wegen ihrer Ergiebigkeit zur Bewertung der Reformpolitik besonders heraus: Erstens Scharnwebers Rede vor der Interimistischen Landesrepräsen3 4
Georg Friedrich Knapp, Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußen, Bd. 2, 2. Aufl. München / Leipzig 1927, 248–256. Maximilian Blumenthal, Der Preußische Landsturm von 1813, Berlin 1900, 74–127.
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tation am 14. März 1814 (194 handschriftliche Seiten), in der er einen Gesamtentwurf der schon auf den Weg gebrachten Gesetze sowie der noch vorgesehenen vortrug. 5 Diese Rede für die Landesrepräsentanten zu publizieren versagte der Innenminister seine Genehmigung mit dem vorgeschoben wirkenden Argument einer darin enthaltenen Kritik an der Finanzverfassung Friedrichs des Großen. Zweitens eine undatierte, unabgeschlossene Ausarbeitung Scharnwebers für den Staatskanzler mit dem Titel Über die Vermehrung des Wohlstandes der niederen Volksclassen (75 Seiten) ebenfalls aus dem Jahre 1814. 6 Sie gibt Auskunft darüber, dass Scharnweber gerade auch die unterständischen Schichten in die „Entfesselung aller Kräfte“ einbeziehen wollte, und dass er den Erfolg der Reformpolitik davon abhängig sieht, wie weit auch die breite Bevölkerungsmehrheit zu ihrem Nutznießer gemacht werden könnte. Im vorliegenden Teil 1 dieser Denkschrift möchte Scharnweber zeigen, dass „den unteren Ständen ohne Abbruch für die höheren bedeutend mehr Wohlstand und Glückseligkeit als bisher verschafft werden können.“ Inwiefern die Interessen der höheren Stände unberührt bleiben könnten, sollte der fehlende Teil 2 darlegen. Drittens eine große, in Hardenbergs Auftrag angefertigte Rechtfertigung der Verwaltung Hardenbergs aus dem Jahre 1820 (197 Seiten). 7 Hardenberg beabsichtigte einer jüngst erschienenen politischen Broschüre des rheinischen Publizisten Johann Friedrich Benzenberg entgegenzutreten. Benzenberg feierte darin Hardenbergs Reformpolitik als liberal, um ihn zu beschwören, seine Politik in dieser Richtung fortzuführen. 8 „Liberal“ genannt zu werden war im Jahre 1820 das Schädlichste, was dem Staatskanzler geschehen konnte, in einer dramatischen Situation, in der er gegenüber den Romantikern und Reaktionären am Hofe und in der Verwaltung immer mehr Boden verloren hatte und trotzdem den König doch noch für eine Nationalrepräsentation zu gewinnen hoffte. Scharnweber unternimmt in dieser Schrift das Kunststück, Hardenbergs Reformpolitik als vernünftig, alternativlos und zukunftsweisend darzustellen und ihn gleichzeitig von jedem Liberalismusvorwurf zu entlasten. Indem sie diese Scharnweberschen Denkschriften außer Acht ließ, hat die Geschichtsforschung auf zentrale Quellen zur Reformpolitik des Staatskanzlers Hardenberg verzichtet. Die große Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) enthielt zunächst keinen Artikel über Scharnweber. Erst im Nachtragsband aus dem Jahre 1910 findet sich ein Artikel über ihn, in dem der Verfasser Friedrich Meusel schreibt:
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Christian Friedrich Scharnweber, in: Geh. StA Preuß. Kulturbesitz Rep. 77 CCCXX Nr. 35, Bl. 3–96. Christian Friedrich Scharnweber, in: Geh. StA Preuß. Kulturbesitz Rep. 92 Hardenberg, H 11 ¾, Bl. 1–38. Christian Friedrich Scharnweber, in: Geh. StA Preuß. Kulturbesitz Rep. 92 Hardenberg, H 16 d, Bl. 1–98. Vgl. dazu Patrick Schlieker, Christian Friedrich Scharnwebers Schrift zur Verteidigung der Hardenbergschen Reformpolitik aus der Perspektive des Jahres 1820, unveröff. Magisterarbeit, Hamburg 2010.
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„Scharnweber, (…) der hervorragendste Mitarbeiter Hardenbergs an der Agrarreform, war lange Zeit vergessen und ist erst von der neueren Forschung wieder entdeckt worden.“ 9
In den Jahren um 1900 herum hatte Maximilian Blumenthal, königlicher Bibliothekar an der Berliner Universitätsbibliothek, in verschiedenen aus Archivalien geschöpften Beiträgen entdeckt, dass Scharnweber eine Schlüsselfigur der Reformpolitik gewesen sein müsse, dass er vor allem der vertrauteste, wichtigste Ratgeber des Staatskanzlers Hardenberg gewesen ist. Blumenthal zeigt das breite Wirkungsspektrum Scharnwebers in seinen Publikationen zum Landsturmedikt10, zum Gendarmerieedikt 11 und zur Konvention von Tauroggen. 12 In der letztgenannten Schrift von 1901 versuchte er auf der Grundlage einer von ihm entdeckten Scharnweberschen Denkschrift Gründe zur Kriegserklärung gegen Frankreich vom 20. Dezember 1812 nachzuweisen, dass General Yorck von Wartenburg keineswegs ohne „von oben“ stammende Instruktionen den Abfall des preußischen Hilfscorps von Napoleon vollzogen hatte. Aber welches Gewicht besaß schon ein Bibliothekar gegenüber der universitären Geschichtswissenschaft! Blumenthals überzeugend argumentierende Schrift hat bis heute Gustav Droysens Bild über Graf Yorck von Wartenburg nicht revidiert, dass nämlich Yorck durch tapferes, kühn eigenmächtiges Handeln dem unsicheren König und dem ewigen Cunctator Hardenberg den Entschluss zum Befreiungskrieg aufgezwungen habe. 13 Blumenthal starb 1910, zu früh, um seine angekündigte Biographie über Scharnweber zu verwirklichen. 14 Aber immerhin geht auf Blumenthals Forschungen wahrscheinlich Meusels Bemerkung in der ADB zurück. Sie gilt heute, hundert Jahre später, fast unverändert. Scharnwebers damalige Wiederentdeckung war offensichtlich nur vorübergehend. Was in der ADB nach einer Wende klingt, blieb folgenlos. Erst als in den 1970er Jahren die preußische Reformzeit von neuem Forschungsaufmerksamkeit fand, zeigten sich abermals Ansätze zu Scharnwebers Wiederentdeckung, so dass er inzwischen bei Wikipedia Eingang gefunden hat. 15 Biographien hatten jedoch in diesen Jahren keine Konjunktur in der Geschichtswissenschaft. Deshalb blieb der Name Scharnweber weiterhin nur einigen Spezialisten der preußischen Reformen geläufig. 16 Zwar gibt es zwei kurze biographische Überblicke, die aber seinem Rang als Reformpolitiker nur partiell gerecht werden. Der ältere stammt 9 10 11 12 13 14 15
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Friedrich Meusel, Scharnweber, in ADB, Bd. 55, Berlin 1910 (ND Berlin 1971), 595–598, 595. Blumenthal, Landsturm. Maximilian Blumenthal, Preußische Communal-Gesetzgebung in der Reformperiode, Hamburg 1900. Maximilian Blumenthal, Die Konvention von Tauroggen, Berlin 1901. Blumenthal, Konvention, 34–35. Blumenthal, Landsturm, 74, Anm. 21. http://de.wikipedia.org/wiki/Christian_Friedrich_Scharnweber (10.2.2013); vgl. Vogel, Gewerbefreiheit; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, München 1987, 402. Dazu gehört auch schon früh Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart u. a. 1957, 134.
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von Ernst Klein, dessen Untersuchungen sich vornehmlich mit der prekären Finanzlage des preußischen Staates unter Hardenberg beschäftigten und der an Scharnweber vor allem zwei Dinge hervorhebt: sein „ungezügeltes Temperament“ und seine „unaufhörlichen Geldverlegenheiten.“ 17 Der zweite Aufsatz von Hartmut Harnisch, Akademie der Wissenschaften (Ostberlin), würdigt Scharnweber als den modernsten und bauernfreundlichsten Agrarpolitiker. 18 Insgesamt erscheint Scharnweber im Bild der preußischen Reformzeit weiterhin als Leerstelle. 19 Dieser Befund ist deshalb so verblüffend, als er tatsächlich, wie es in der ADB heißt, der hervorragendste Mitarbeiter des Staatskanzlers war und zwar nicht nur auf dem politischen Feld der Agrarreform. Die Gründe für die Gleichgültigkeit gegenüber diesem Mitarbeiter liegen gewiss weniger darin, dass Scharnweber schon bei seinen Zeitgenossen, umstritten war, denn Kontroversen sind oft das Salz in der Suppe der Geschichtsschreibung. Eher schon darin, dass er bald während des immer mächtiger werdenden Vordringens der Restauration in der preußischen Staatsverwaltung schwer erkrankte, von heute auf morgen aus dem aktiven Dienst ausschied und nur wenig später im Alter von 52 Jahren starb. Ihm blieb insofern auch die Möglichkeit versagt, in dem so memoirensüchtigen Jahrhundert sein Selbstbild zu porträtieren oder wenigstens mitzuformen. Die Inszenierung des Gedächtnisses ging vorwiegend von den Gegnern der Hardenbergschen Reformpolitik aus. Von ihnen war ein anerkennendes Wort über seine Verdienste am Gang der Reformpolitik eher nicht zu erwarten. Friedrich Meusel, der sich offensichtlich über das allgemeine Schweigen wundert, sagt über Scharnweber: „Seine Ansichten deckten sich völlig mit denen des späteren Staatskanzlers, an dem er mit warmer persönlicher Verehrung hing.“ 20
Insofern ist es nahe liegend, dass mit dem abwertenden Urteil über den einflussreichen Mitarbeiter der Staatskanzler selbst getroffen werden sollte. Der im politischen Abseits grollende Freiherr vom Stein lässt ihn als verhängnisvollen Einflüsterer Hardenbergs erscheinen. Stein führt Scharnweber als Beispiel an für das aus seiner Sicht skandalöse Versagen Hardenbergs bei der Personalauswahl: Ihm seien die Fähigen weggelaufen und er habe sich stattdessen von zwielichtigen Gestalten und sogar von Phantasten beraten lassen. 21 Dieses harsche Urteil ist von der Forschung zwar deutlich abgemildert, aber nicht wirklich revidiert worden, so 17 Ernst Klein, Christian Friedrich Scharnweber, in: Heinz Haushofer / Willi A. Boelcke (Hgg.), Wege und Forschungen der Agrargeschichte (Fs. f. Günther Franz), Frankfurt a. M. 1967, 197–212. 18 Hartmut Harnisch, Agrarpolitische und volkswirtschaftliche Konzeption einer kapitalistischen Agrarreform bei Christian Friedrich Scharnweber, in: Probleme der Agrargeschichte des Feudalismus und des Kapitalismus, Teil VIII, Rostock 1977, 109–122. 19 Noch bei Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, 3. Aufl. München 2007, 394, wird Scharnweber nur einmal, beim Gendarmerieedikt, erwähnt. 20 Meusel, Scharnweber, 595. 21 Karl vom und zum Stein, Briefe und amtliche Schriften, bearbeitet von Walther Hubatsch, Bd. 9, Historische und politische Schriften, Stuttgart 1972, 878*, 887–888.
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dass es im Hardenbergbild weiterhin nachwirkt und Hardenberg insbesondere im Vergleich zu Stein herabsetzt. Dadurch überlebt im Geschichtsbild bis heute der groteske Befund, dass der überwiegende Teil der Reformmaßnahmen zwar in die Zeit der Administration Hardenbergs fällt 22, gleichwohl Stein der Hauptanteil an der Reorganisation Preußens zugeschrieben wird. 23 Der witzige Vergleich Johannes Frieds von Historikern als bisweilen „mythenspinnende Nornen“ 24 drängt sich hier auf. Von Hardenberg selbst gibt es aus dem Jahr 1820 ein Zeugnis seiner Verbitterung: Gegenüber Varnhagen von Ense warb er dafür, „den Anteil des Herrn von Stein und den meinigen an der Reorganisation des Preußischen Staats richtig zu stellen. Ich bin weit entfernt, ersterem irgendein Verdienst streitig zu machen, nur ist’s billig, daß ihm nicht, wie fast allgemein geschieht, zugeschrieben werde, was mir gebührt.“ 25
Die Abwertung Hardenbergs zieht die Vernachlässigung Scharnwebers nach sich. Stein insinuiert, dass der Berater des Staatskanzlers verrückt war, indem er sagt, er habe „im Irrenhaus“ geendet. 26 In der Tat starb Scharnweber im ‚Irrenhaus Eberbach‘, nach heutigem medizinischem Kenntnisstand offenbar, nachdem er mehrere Schlaganfälle oder auch eine Hirnblutung erlitten hatte. In Steins regem Briefverkehr mit anderen Gegnern Hardenbergs, die sich als HardenbergGeschädigte fühlten, verfestigte sich diese Aussage – vom „verrückten Scharnweber“ hatte auch der prominente Hardenbergkritiker von der Marwitz gesprochen.27 Das unhaltbare „verrückt“ mutierte dann in der Meinung von Historikern zu einer Exaltiertheit in Scharnwebers Charakter. Als Steins Sottisen weitere Kreise zogen, war auch Hardenberg längst gestorben und konnte weder sich selbst noch seinen Mitarbeiter verteidigen. Doch auch wenn man in dem ebenfalls bis heute eher geringschätzigen Urteil über Hardenbergs Bedeutung und Leistung eine Parallele erkennt, bleibt offen, wie das negative Urteil über den einen wie den anderen zustande kommt. Die nahezu vollständige Eliminierung Scharnwebers aus dem Geschichtsbild oder Kenntnisstand über die preußischen Reformen passt nicht dazu, dass andere, weit weniger einflussreiche Personen auf der Ebene der Vortragenden Räte und Staatsräte durchaus namentlich überliefert sind und ihre Tätigkeit im Kreis der Refor22 Barbara Vogel, Der Freiherr vom Stein als nationale Identifikationsfigur, in: Journal für Geschichte 3/1981, Heft 4, 36–42. 23 Zuletzt Peter Brandt, Der Freiherr vom Stein, das preußische Reformwerk und der Kampf gegen das napoleonische Hegemonialsystem, in: Schriftenreihe des Freiherr-vom-SteinGymnasiums in Kleve, 2010, 15–33; vgl. Maximilian Blumenthal, Aus Hardenbergs letzten Tagen, Berlin 1902, 52. 24 Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004, 334. 25 Hardenberg an Varnhagen, 8. Februar 1820, zit. nach Blumenthal, Hardenbergs letzte Tage, 52. 26 Stein, Briefe, 878*. 27 Friedrich August Ludwig von der Marwitz, Friedrich August Ludwig von der Marwitz. Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der Befreiungskriege, herausgegeben von Friedrich Meusel, Bd. 1, Lebensbeschreibung, Berlin 1908, 675.
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mer beschrieben wird. Der Grund führt auf den Epochenbruch hin, der sich während dieser Jahre vollzog und die Bewertung der Reformzeit nachhaltig beeinflusste – ein Beispiel für den „Schleier der Erinnerung“ (Johannes Fried) 28, der sich über das Faktische legt und dessen Wirkungen verwandelt. In der borussischen Geschichtsschreibung fanden die gesellschaftspolitischen Reformen generell deutlich weniger Interesse als die gleichzeitige Vorbereitung des europäischen Befreiungskriegs gegen Napoleon, übrigens unter Überschätzung der Schlüsselrolle Preußens. Kriegsminister von Boyen gehört zu den ganz wenigen, die sich auch rückblickend positiv über Scharnweber geäußert haben: Obwohl ebenfalls dem Emporkömmling eher abgeneigt und im Unfrieden mit dem Staatskanzler, urteilt Boyen in seinen Erinnerungen, dass wegen seiner Agrarpolitik „sein Name einen Platz in Preußens Kulturgeschichte verdient“ habe. 29 Beim Thema Befreiungskrieg steht die Sympathie des kollektiven Gedächtnisses auf der Seite derjenigen, die so schnell wie möglich, koste es, was es wolle, losschlagen wollten. Sie reservierten für sich den Titel Patriot und verdächtigten jeden, der zum Abwarten mahnte und auf unzureichende Vorbreitungen verwies, als Vaterlandsverräter. Infolgedessen verengte und verwandelte sich das Bedeutungsspektrum des Ausdrucks Patriot auf kriegerische und heroische Aspekte, übt aber insofern seine Wirkung bis heute aus, indem in der Konstellation der Jahre 1812/13 stets alternativ zwischen der Patriotenpartei und allen anderen unterschieden wird. Scharnweber wurde (wie Hardenberg) von der Patriotenpartei nicht als einer der ihren anerkannt. In der Geschichtsschreibung erscheint nicht selten die Kompromisslosigkeit, mit der für einen frühen Zeitpunkt des Kriegseintritts plädiert wurde, als Gradmesser für den Patriotismus, so dass Abwarten und nüchternes Abwägen der Bündnis– und Kräfteverhältnisse demgegenüber abfielen. 30 In die Historiographie zum Landsturmedikt von 1813, das oft als Ausdruck der Idee des „Volkskriegs“ dargestellt wird, hat Scharnweber als dessen leidenschaftlicher Gegner Eingang gefunden. Dass er während der heftigen Auseinandersetzungen, die im Übrigen tatsächlich zu Modifikationen des Edikts führten, Gneisenau zum Duell forderte, zu dem es aufgrund eines Machtspruchs des Königs allerdings nicht kam, gehört zu den wenigen biographischen Details, die regelmäßig überliefert werden. Auch diese Episode hält oft dafür her, Scharnweber für überspannt zu erklären, ohne die damalige Bedeutung des Duellierens beim Austrag von Ehrenhändeln zu berücksichtigen. Die Reformen von Wirtschaft und Gesellschaft sind zwar mit der Vorgeschichte und Geschichte des Befreiungskriegs eng verbunden, die Parteibildung hier entwickelte sich jedoch nach anderen Kriterien. Unter den sog. Patrioten z. B. befand sich eine Reihe von Gegnern der Eigentumsregulierung zu Gunsten der Bauern. Selbst der Freiherr vom Stein, der 1807 das Oktoberedikt zur Bauernbe28 Fried, Schleier. 29 Hermann von Boyen, Erinnerungen aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen, neu herausgegeben, mit einer Einführung und Anmerkungen von Dorothea Schmidt, Bd. 1, 1771–1848, Berlin 1990, 355. 30 Ansatzweise (im Kapitel Patrioten und Befreier) auch noch bei Clark, Preußen, 406–415.
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freiung unterzeichnet hatte und deshalb bis heute als Initiator der Agrarreformen gilt, verurteilte mit bösen Worten die Agraredikte des Jahres 1811 als „Neuerungssucht“ des Staatskanzlers Hardenberg, für die er insbesondere den „Phantasten“ Scharnweber verantwortlich sieht. 31 In der Tat war Scharnweber der führende Kopf beim Entwurf des Regulierungsedikts sowie des Landeskulturedikts, und Hartmut Harnisch nennt ihn den „wahre[n] spiritus rector der Agrarreformen in Hardenbergs Staatskanzleramt.“ 32 Stein brachte seine autobiographischen Erinnerungen zu Papier, als der Konflikt zwischen Aufklärung und Romantik in der öffentlichen Wertschätzung der Reformzeit längst entschieden war. Die Wirkung dieses Paradigmenwandels beeinflusste ebenfalls das Bild Hardenbergs in der Geschichte. Seine Leistung als Reformpolitiker wurde in der Historiographie des 19. Jahrhunderts abgewertet, und bis in die Gegenwart liegt dem Schlagwort „Stein-Hardenbergsche Reformen“ eine historische Hierarchisierung zugrunde: Stein vorn, Hardenberg eher der Epigone. Schon Treitschke benutzt den Antagonismus von Aufklärung und Romantik, um Wert und Gewicht der Reformkonzepte zu qualifizieren. Er sieht in Hardenberg den „Jünger der Aufklärung“, der an „Steins historischer Staatsanschauung“ nicht heranreichen könne. 33 Dieses Urteil verfestigte sich in den folgenden langen Jahrzehnten. Da Leopold von Rankes umfangreiches Werk Denkwürdigkeiten Hardenbergs keinen Beitrag zur Reformpolitik bietet, kam auch von dieser Seite keine Korrektur. Ein Wandel des Hardenbergbilds setzte erst nach weiteren hundert Jahren ein. Thomas StammKuhlmann kommt das Verdienst zu, wichtige Beiträge für eine Revision des unangemessenen Hardenbergbilds geleistet zu haben. 34 2. Scharnwebers persönlicher und beruflicher Werdegang, soweit er sich aus den überlieferten Zeugnissen erschließen lässt, passt in das Muster der Aufklärung, die den Menschen aus ständischen Schranken befreien und jedem Individuum seinen Ort in der Gesellschaft nach Verdienst und Leistung zuweisen wollte. Zugleich zeigt sein Beispiel den Abstand zwischen Norm und gesellschaftlichem Alltag. Denn Scharnweber errang trotz seines Einflusses in der Staatsverwaltung der Hardenberg-Ära nie eine unangefochtene gesellschaftliche Position. Auch als er im Juli 1812 eine standesgemäße Ehe mit Marie Christiane Schüler-Baudesson, aus ehemals hugenottischer Familie stammend, schloss und im Jahre 1817 das Rittergut und Herrenhaus Hohenschönhausen als Familiensitz erwarb, änderte sich daran nichts. Äußerer Höhepunkt seiner dienstlichen Karriere wurde im Jahre 31 Stein, Briefe, 878*. 32 Hartmut Harnisch, Vom Oktoberedikt des Jahres 1807 zur Deklaration von 1916, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Sonderband, Berlin 1978, 255. 33 Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Teil 1, Bis zum zweiten Pariser Frieden, 9. Aufl. Leipzig 1913 (ND Königstein / Düsseldorf 1981), 279. 34 Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.), „Freier Gebrauch der Kräfte“. Eine Bestandaufnahme der Hardenberg-Forschung, München 2001.
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1817 seine von Hardenberg durchgesetzte Berufung in den neu geschaffenen Staatsrat, in dem er seinen Sitz neben der Creme der preußischen Adelsgesellschaft einnahm. Stets bleibt der Eindruck, als ob er nie recht ‚dazu gehörte‘. Standesgemäße gesellschaftliche Akzeptanz erreichte erst sein 1816 geborener Sohn Georg, der es als Eigentümer von Hohenschönhausen und der üblichen akademischen Ausbildung zum langjährigen Landrat in Niederbarnim brachte. 35 Friedrich Meusel nennt Scharnweber eine „Art ‚Immediat-Bevollmächtigten‘“ Hardenbergs. 36 Dieser Ausdruck deutet auf eine gewisse Verlegenheit hin, Scharnwebers herausragende Stellung im Verwaltungsapparat angemessen zu bestimmen. Sein dienstlicher Werdegang führte ihn von einem subalternen Offizianten bis zum Staatsrat im Staatskanzleramt im Jahre 1810 – ein bemerkenswerter Aufstieg, zu dem ihm eigentlich alle laufbahnmäßigen Voraussetzungen fehlten, der jedoch seinem politischen Einfluss auf die politischen Vorgänge in Preußen entspricht. Der Titel Staatsrat verschaffte ihm einen Dienstrang, der ihm verantwortliches Wirken in geschäftlichen Angelegenheiten sicherte, wenn auch ohne die entsprechende gesellschaftliche Anerkennung. Seine Außenseiterstellung in der Staatsverwaltung lag in seiner sozialen Herkunft als Sohn ‚kleiner Leute‘ begründet: ohne gymnasiale Bildung, ohne Studium und ohne Prüfung vor der Oberexaminationskommission. Staatskanzler Hardenberg jedoch holte bei fast allen Reformprojekten seinen Rat ein, forderte ihn meistens zu schriftlichen Stellungnahmen auf, und Scharnwebers Vorschläge schlugen sich in vielen Gesetzen und administrativen Verfahren nieder. In der Sprache eher missgünstiger Zeitgenossen hieß es, er sei Hardenbergs „Günstling“. 37 Nur wenige Informationen über Scharnwebers Lebenslauf sind überliefert. Das Verdienst, neuerlich die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt und alles zugängliche biographische Material über ihn zusammengetragen zu haben, kommt dem Förderverein Schloß Hohenschönhausen e. V. zu. Dort wurde im September 2011 eine kleine, informative Ausstellung über Christian Friedrich Scharnweber, dessen Familie von 1817 bis 1872 im Besitz Hohenschönhausens war, eröffnet. 38 Die zur Eröffnung gehaltenen Vorträge sind kürzlich publiziert worden. 39 Die lokale Nachbarschaft zu Hardenbergs Gut Lichtenberg lenkte den Blick der Ausstellungsmacher auf die dramatischen Wochen der „Nebenregierung“ Hardenbergs von März bis Juni 1810 vor dessen Ernennung zum Staatskanzler. Scharnweber spielte bei diesen „Lichtenberger Konferenzen“ eine wichtige Rolle. Er war an den entscheidenden Gesprächen und Verhandlungen beteiligt, pendelte zwischen 35 Claudia Wilke, Die Landräte der Kreise Teltow und Niederbarnim im Kaiserreich, Potsdam 1998, 139–157. 36 Meusel, Scharnweber, 596. 37 Bei Clark, Preußen; wird er eingeführt als „(alter fränkischer) Protegé Hardenbergs.“ 38 Friedrich Scharnweber an der Seite des preußischen Staatskanzlers Carl August von Hardenberg. Ausstellung des Fördervereins Schloß Hohenschönhausen e. V. vom 11. September 2011–31. Januar 2012. 39 Christian Friedrich Scharnweber. Ein preußischer Reformer in Lichtenberg (Autoren: Knut Käpernick u. Barbara Vogel), Förderverein Schloß Hohenschönhausen e. V., Berlin, o. J. [2012].
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Berlin und Lichtenberg, arrangierte ein Treffen Hardenbergs mit dem Königspaar und übermittelte Hardenberg den Auftrag des Königs zur kritischen Durchsicht des Altensteinschen Finanzplans, der als letzten Ausweg, für den König inakzeptabel, die Abtretung der Provinz Schlesien an Napoleon vorschlug. 40 Hardenberg hatte Scharnweber, einen jungen Mann aus offenbar nicht unbescholtenem Vaterhaus, schon zwanzig Jahre zuvor kennen gelernt, hatte offenbar dessen wache Intelligenz und schnelle Auffassungsgabe bemerkt und ihn in seiner Kanzlei beschäftigt. Über Scharnwebers Herkunft und Familie liegen nur spärliche Fakten vor. Er ist ein Landsmann Hardenbergs, geboren am 10. Februar 1770 in Weende bei Göttingen. Sein Vater, offenbar Gutspächter, beging anscheinend Unterschlagungen, wodurch die Familie aus der Bahn geworfen wurde. Als Knabe und junger Mann war Scharnweber bei verschiedenen Personen in Diensten. Unter der Ägide Hardenbergs begann sein Aufstieg von Kopisten– und Sekretärstätigkeit zu einer Art ‚persönlichen Referenten‘. Er war in Hardenbergs Diensten in Bayreuth und wechselte mit ihm 1798 in die preußische Hauptstadt. Er war in der Verwaltung von Hardenbergs Gütern tätig, eignete sich dabei die landwirtschaftlichen Kenntnisse Albrecht von Thaers an, dem er freundschaftlich verbunden war. Seit Dezember 1805 taucht Scharnweber in Hardenbergs Tagebuch auf, auch als häufiger Gast bei Abendeinladungen. 41 Nach dem Tilsiter Frieden wirkte Scharnweber als Verbindungsmann zwischen der Verwaltung und dem auf Verlangen Napoleons „verbannten“ Hardenberg. In die Diskussion über die Bauernbefreiung im Sommer 1807, die das Oktoberedikt vorbereitete, war Scharnweber einbezogen. Sein Verhältnis zu Stein scheint nach Ausweis der Quellenedition Das Reformministerium Stein nicht besonders intensiv gewesen zu sein. 42 Für seine Karriere unter Staatskanzler Hardenberg konnte Scharnweber demnach weder vornehme Abstammung noch akademische Zertifikate vorweisen. Deshalb wurde seine unstandesgemäße Herkunft leicht zum Stein des Anstoßes, was vor allem dann ins Gewicht fiel, wenn er sich argumentativ in sachlichen Meinungsverschiedenheiten durchzusetzen verstand oder wenn er für Hardenbergs Entschließungen als treibende Kraft vermutet wurde. Meusel hebt hervor, dass Scharnweber eine gewandte Feder führte und seine Denkschriften, die sich auf fast alle Themenbereiche der Reformen bezogen, Klarheit und Folgerichtigkeit der Darstellung, praktischen Sinn, gesunden Menschenverstand und Geschäftskenntnis zeigen. 43 Es gibt nur ein Beispiel dafür, dass Scharnweber, aus eigener Erfahrung schöpfend, die Meinung vertrat, für eine amtliche Position könne auf 40 Beispiele für Scharnwebers Aktivitäten in der Aktenpublikation Heinrich Scheel / Doris Schmidt (Hgg.), Von Dohna zu Hardenberg. Dokumente aus dem Interimsministerium Altenstein/Dohna, Berlin 1986. Allgemein vgl. Hans Haussherr, Hardenberg. Eine politische Biographie, Teil 3, Die Stunde Hardenbergs, 2. Aufl. Köln 1965. 41 Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.), Karl August von Hardenberg 1750–1822. Tagebücher und autobiographische Aufzeichnungen, München 2000, 408. 42 Heinrich Scheel / Doris Schmidt (Hgg.), Das Reformministerium Stein. Akten zur Verfassungs– und Verwaltungsgeschichte aus den Jahren 1807/08, 3 Bde., Berlin 1966–68. Darin gibt es nur eine Fundstelle zu Scharnweber: Bd. 2, 530f. 43 Meusel, Scharnweber, 597.
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eine akademische Qualifikation verzichtet werden, wichtiger sei der Nachweis von Sachkunde. 44 Dieser Vorschlag fand keine Berücksichtigung. Blumenthal geht davon aus, dass Scharnweber sich seiner nur durch Hardenberg gedeckten Stellung bewusst war. Er habe besondere Auszeichnungen und repräsentative Positionen zurückgewiesen, um keinen Anlass für kritische Kommentare zu geben. Dennoch wich er keinem Disput zur Durchsetzung beabsichtigter Reformmaßnahmen aus, vertraute offenbar fest auf die Überzeugungskraft seiner Darlegungen, die Einsichtsfähigkeit seiner Gesprächspartner und auf die Rückendeckung Hardenbergs. Das nach mehrjährigen Anläufen im Juli 1812 veröffentlichte Gendarmerieedikt, mit dem Scharnweber hoffte, die Reform der ländlichen Herrschaftsverhältnisse zu krönen, löste massivste Opposition aus. Der eingebürgerte Kurztitel des Gendarmerieedikts ist irreführend, denn der wichtigste Teil handelte von der „Verbesserung der Kreisverfassungen“; insofern lautet der vollständige Titel Edikt wegen Errichtung der Kreisdirektorien und der Gendarmerie. Da die öffentliche Debatte darüber in die heiße Phase des sich abzeichnenden Scheiterns Napoleons in Russland platzte, wurde es den Gegnern umso leichter, es zu Fall zu bringen. Für Scharnweber lag darin die herbste Niederlage. Denn eine neue Chance, die Modernisierung der Gutswirtschaft mit der Beseitung der Gutsherrschaft zu verbinden, ergab sich nicht wieder. In Preußen hörte folglich noch jahrzehntelang der Staat beim Landrat auf. 45 Auf welche Weise und durch Lektüre welcher Autoren Scharnweber sich seine beeindruckende Geschäftskenntnis verschaffte, ist nicht bekannt, auch nicht, wie weit seine Fremdsprachenkenntnisse reichten. Seine schriftlichen Zeugnisse, insbesondere die von ihm benutzte Begrifflichkeit, zeigen, dass er in die zeitgenössischen Aufklärungsdiskurse eingebunden war. Sein Staats– und Gesellschaftsverständnis, ebenso sein Vertrauen auf die Kraft von Argumenten sind durch die Gedankenwelt der Aufklärung geprägt. Er war, wie er in seinen Denkschriften immer wieder darlegte, überzeugt vom stetigen Fortschritt der physischen, geistigen und moralischen Kräfte des Menschengeschlechts, sah von Stufe zu Stufe der Entwicklung immer breitere Bevölkerungsschichten einbezogen. Aus dem optimistischen Glauben an den gesellschaftlichen Fortschritt folgte der Imperativ an die „gebildeten Stände“ und im Besonderen an die Staatsverwaltung, den notwendigen Entwicklungsgang zum Besseren durch kluge Maßnahmen zu lenken und zu fördern. Dass ‚richtige‘ Institutionen und eine ‚richtige‘ Grundverfassung im Innern die gesellschaftliche Verbesserung beschleunigen würde, machte ihn zum aktiven Befürworter von Reformen. Trotz solch optimistischen Weltbilds blieb Scharnweber in der Einschätzung der Möglichkeiten realistisch: Verbesserungen könnten nur erfolgreich durchgesetzt werden, wenn sie ohne Minderung für die Interessen der höheren Stände blieben. Daraus erklärt sich die Ausführlichkeit und Detailliertheit seiner sachkundigen Lagebeschreibungen und Be44 Blumenthal, Communal-Gesetzgebung, 48f. 45 Hans Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660– 1815, Cambridge/Mass. 1958, 39.
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standsaufnahmen. Sie sollten seine Reformvorschläge fundieren. Verzögerungen und Rückschläge bei der Umsetzung erklärte er aus mangelnder Einsichtsfähigkeit bei den „gebildeten Ständen.“ Er sah in deren Kurzsichtigkeit einen Grund dafür, dass Erforderliches oft verhindert oder verzögert worden war. Die Konsequenz hieß für ihn Erziehung und Belehrung. Aus Scharnwebers Denkschriften spricht Vertrautheit mit physiokratischen und liberalen staatswirtschaftlichen Theorien, ohne dass er sich auf konkrete Schriften oder Autoren beriefe oder sie zitierte. Ausnahmsweise findet sich der Name des englischen Agrarspezialisten Arthur Young (1741–1820). Oberstes Leitbild für seine Reformvorstellungen, in voller Übereinstimmung mit Hardenberg, war „der möglichst freie Gebrauch aller Kräfte“ für alle Menschen. 46 In seiner Abhandlung Über die Vermehrung des Wohlstandes der niederen Volksclassen zeigt er sich als derjenige im Verwaltungsapparat, der den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt auch den unteren Bevölkerungsschichten in Stadt und Land zugute kommen lassen will. Schon bei Knapp erscheint Scharnweber als der bauernfreundlichste unter den Agrarreformern. Darüber hinaus scheint er der einzige gewesen zu sein, der beachtete, dass die Inhaber von Bauernstellen, um deren Eigentumszuweisung es bei der „Bauernbefreiung“ ging, bereits eine Minderheit in der ländlichen Gesellschaft bildeten. Scharnweber schätzte, dass drei Viertel von ihnen Knechte und Mägde waren. Auch für sie galt es, bessere Existenzmöglichkeiten zu schaffen. Seinen Entwürfen für Edikte und Verordnungen pflegte Scharnweber ausführliche sozial– und kulturgeschichtliche Einleitungen voranzustellen. Darin beschreibt er Ausgangslage und Absichten und entwickelt die zu erwartenden Ergebnisse der Gesetzestexte. Solche Ausführlichkeit war sehr unüblich, so dass sich oft gerade an diesen Einleitungen Kritik der innerdienstlichen Kommunikation entzündete. Zu Scharnwebers Beweisführung gehörten oft Statistiken; auch hier erweist er sich als Zögling der Aufklärung, an ihrer statistischen Sammelleidenschaft. Aus der Analyse vergangener Verhältnisse und der Vorausschau zukünftiger Entwicklungen leitet er ab, dass durch planvolle Gesetze und anschließende tatkräftige Administration die Lebens– und Erwerbsbedingungen der Bevölkerung zum Besseren gewendet werden könnten. Sowohl die Theorie, sich wünschenswerte Verhältnisse auszudenken, als auch die Praxis des bewussten Eingreifens riefen die Opposition des romantischen Zeitgeists hervor. Infolgedessen wurde Scharnwebers unerschütterlicher Optimismus gezügelt durch Skepsis gegenüber der Einsichtsfähigkeit und Bereitschaft der höheren Stände, von alten Gewohnheiten und Vorrechten abzulassen. Gleichwohl verließ ihn die Überzeugung nicht, dass eine vorausschauende Anpassung der Institutionen und staatlichen Einrichtungen allen Menschen bessere Chancen zur Erreichung eines höheren Grads von Glückseligkeit bringen würde. Scharnwebers zahlreiche Abhandlungen und Gutachten blieben immer Dienstleistung für den Staatskanzler. Sie gingen auf Aufträge Hardenbergs zurück 46 Zitat aus verschiedenen Reformdenkschriften. Vgl auch Stamm-Kuhlmann, „Freier Gebrauch der Kräfte“.
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oder antizipierten dessen politische Pläne. Ein ständiger Rat– und Ideengeber für den Staatskanzler war Scharnweber insbesondere für den gesamten Bereich der Wirtschafts– und Gesellschaftsreformen. Sein Hauptthema, die Reform der Agrarverfassung, betraf im damaligen Preußen den bei weitem wichtigsten Wirtschaftszweig. Hier entfaltete er die kontinuierlichste und stärkste Aktivität, sowohl bei der Abfassung der entscheidenden Edikte (Regulierungsedikt und Landeskulturedikt vom September 1811 sowie der Deklaration von 1816 und Vorbereitung der Gemeinheitsteilung 1821) als auch bei ihrer Umsetzung. Dabei besaßen die Grundsätze, die die Agrarreformen leiteten, durchaus allgemeine Geltung: „Entfesselung aller Kräfte“, Gewerbefreiheit für Stadt– und Landbevölkerung und schließlich eine Kommunalverfassung, die – als Gegenstück zur Städteordnung – die bestehenden adligen Standesvorrechte abschaffen sollte. Bis auf das letztgenannte Projekt, das Gendarmerieedikt, mit dem Scharnweber auf der ganzen Linie scheiterte, konnten seine Initiativen erfolgreich auf den Weg gebracht werden. In Handbüchern zählen sie als hervorhebenswerte Leistungen der preußischen Reformen. Der Staatskanzler zog seinen Vertrauten auch bei anderen politischen Entscheidungen heran. Am Anfang stand Scharnwebers Teilnahme an den Lichtenberger Konferenzen und am Ende schrieb Scharnweber – seine letzte Ausarbeitung für Hardenberg – die Rechtfertigung der Politik des Staatskanzlers. Auch in der aufregenden Phase der Vorbereitung des Befreiungskriegs bediente sich Hardenberg des Rats und der Hilfe Scharnwebers. In der heiklen Situation im Dezember 1812, als die Spannung darüber, wann der richtige Zeitpunkt für die Aufkündigung des Bündnisvertrags mit Napoleon gekommen sei, immer schwerer erträglich wurde, verfasste Scharnweber eine Denkschrift für Hardenberg, in der er die Gründe referierte, die dafür sprachen, nicht länger mit der Kriegserklärung gegen Frankreich zu warten. Blumenthal, der diese Denkschrift vom 20. Dezember 1812 im Archiv gefunden hat, zieht sie als Beleg heran, dass König und Staatskanzler keineswegs durch die Konvention von Tauroggen überrumpelt worden seien, sondern dass Yorcks Handeln durch Instruktionen aus Berlin gedeckt war. Mit dieser in der Historiographie untergegangenen Lesart meinte Blumenthal eine durch Gustav Droysen sanktionierte Darstellung, dass es erst der vereinten Kräfte der Patriotenpartei bedurft habe, um Preußen zum Krieg gegen Napoleon zu zwingen, als borussische Legende korrigieren zu können. 47 Die Scharnwebersche Denkschrift blieb jedoch nach Blumenthals Tod unbeachtet. 48 Größere historiographische Resonanz hat dagegen Scharnwebers entschiedene Opposition gegen die in seiner Sicht alle Vernunft beiseite lassenden Pläne zur militärischen Mobilisierung der gesamten Bevölkerung, wie sie im Landsturmedikt zum Ausdruck kamen, gefunden. 49 In einem Brief an Hardenberg sprach Scharnweber von einem „System von Krieg, das mit Zivilisation schlechterdings 47 Siehe oben. 48 In einem Nachruf auf den verstorbenen Blumenthal wird Scharnwebers Denkschrift noch ausdrücklich erwähnt: Academische Monatshefte 27/1910, 31–32, 32. 49 Siehe oben.
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unverträglich [sei] und nirgends in Europa je existiert [habe].“ 50 Scharnweber entsetzte sich über die Paragraphen, in denen zur Vernichtung von Ernten, zu Brunnenvergiftungen und zur Selbstbewaffnung mit Sensen und Dreschflegeln aufgerufen wurde. Als seine Forderungen zu einer Revision des Edikts führten, kündigte ihm sogar sein alter Weggefährte Theodor von Hippel die Freundschaft. 51 Hippel war der Verfasser des Landsturmedikts ebenso wie auch des Aufrufs An mein Volk und setzte ganz auf den Enthusiasmus des Volks („mit der Nation ist alles möglich, ohne sie nichts“ 52). Scharnweber erregte sich sehr an den emotionalen Aufwallungen derer, die zu glauben schienen, dass mit Aufrufen allein schon Kriege gewonnen werden könnten. Der in der napoleonischen Ära wieder erstarkende Bellizismus drängte die Friedensvisionen der Aufklärung immer mehr zurück. 53 Scharnweber sprach in Briefen an Hardenberg darüber hinaus seine Sorge aus, dass der Krieg von den Gegnern der Reformen benutzt werden könnte, um den Reformprozess abzubrechen. Diese Befürchtungen waren, wie wir heute wissen, nicht unberechtigt. Das Engagement für eine Revision des Landsturmedikts ist ein Beispiel dafür, dass Scharnweber nicht allein mit schriftlichen Ausarbeitungen beschäftigt war, sondern dem Staatskanzler auch durch „praktische Wirksamkeit“ (Scharnweber) unschätzbare Dienste leistete. Das Ausmaß und der Erfolg auch dieser Aktivitäten sind bisher weitgehend unbeachtet geblieben. Bekannt ist, dass Scharnweber die lokalen Generalkommissionen initiierte, die wichtige Impulse zur praktischen Inangriffnahme der Eigentumsregulierung zwischen Gutsbesitzern und Bauern gaben. Darüber hinaus war Scharnweber in Hardenbergs Auftrag häufig unterwegs und auf Reisen, informierte den Staatskanzler über Vorgänge draußen im Lande und führte Gespräche zur Unterstützung der Reformpolitik. Er verhandelte mit einzelnen Vertretern der Landesrepräsentation und hielt Vorträge im Plenum. Hardenberg setzte ihn bei heiklen Aufgaben ein, z. B. im Geschäft der finanziellen Vorbereitung des Befreiungskriegs. Auch hier reiste er herum und suchte nach Kreditmöglichkeiten; so war er für die Eintreibung der ‚Zwangsanleihen‘ bei den städtischen Kaufmannschaften im Frühjahr 1813 verantwortlich. Das Thema Kriegsfinanzierung ist in der Historiographie lange Zeit unterbelichtet geblieben. Allzu überzeugend wirkten in der Historiographie offenbar die Denkschriften Clausewitz’, der geneigt war, Hinweise und Warnungen zur schwierigen Kriegsfinanzierung als Versuche zur Hintertreibung des Kriegs abzutun. 54 Es ist ange50 Scharnweber an Hardenberg, 18.5.1813, Geh. StA Preußischer Kulturbesitz, Rep. 92 Hardenberg, G 1 ½., zit. nach: Barbara Vogel, Patriotismus und Finanzen in den Befreiungskriegen. Hamburg und Preußen im Vergleich, in: Arno Herzig (Hg.), Das Alte Hamburg (1500– 1848/49), Berlin / Hamburg 1989, 135–153, 138. 51 Theodor Bach (Hg.), Theodor Gottlieb von Hippel, der Verfasser des Aufrufs: „An mein Volk“, Breslau 1863, 142, Anm.1 und 179–181. 52 Blumenthal, Landsturm, 121. 53 Johannes Kunisch, Die Denunzierung des Ewigen Friedens. Der Krieg als moralische Anstalt in der Literatur und Publizistik der Spätaufklärung, in: Johannes Kunisch / Herfried Münkler (Hgg.), Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution, Berlin 1999, 57–73. 54 Vogel, Patriotismus und Finanzen.
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sichts dieser vielfältigen Verhandlungen, zu denen Hardenberg seinen Mitarbeiter beauftragte, wenig wahrscheinlich, dass Scharnweber, wie es ihm Missgünstige nachgesagt haben, ein schroffes und unzugängliches Wesen gehabt haben soll. Die Tätigkeitsfelder Scharnwebers aufzuzählen heißt nicht, dass er immer vom Erfolg begünstigt blieb, zumal die vom Optimismus des Aufklärers getriebene Reformpolitik unter dem Druck der bedrohlichen Zeitverhältnisse stand. In der Interimistischen Landesrepräsentation gewann er nicht nur eine große Anhängerschaft, sondern fand auch entschiedene Widersacher. Opposition erfuhr er als Hardenbergs ‚rechte Hand‘ nicht zuletzt auch in der Staatsverwaltung. Die von ihm unterstützte und mitgestaltete Politik lief sich seit 1812 allmählich fest, schleppte sich schwerfällig hin oder wurde abgebrochen. Zu einer entschiedenen Revision des bis dahin Erreichten kam es allerdings nicht. In den Auseinandersetzungen um die Deklaration des Regulierungsedikts von 1816 war Scharnweber die treibende Kraft. Es gelang ihm, die Fortsetzung der Eigentumsregulierung sicherzustellen, wenn auch um den Preis erheblicher Einschränkungen bei der Zahl der Berechtigten. An Scharnwebers Erfolgen und Misserfolgen lässt sich die Zäsur in der Reformära ablesen und gewissermaßen datieren, besonders spektakulär und folgenreich am Gendarmerieedikt (1812). 55 Zwischen Erlass und Suspendierung des Gendarmerieedikts entschied sich das Schicksal der Reformpolitik. Seitdem verbuchte die Opposition gegen Scharnweber immer häufiger Erfolge. In der preußischen Staatsverwaltung lief das Projekt der Aufklärung aus, gefolgt vom Zeitabschnitt „Restauration“. Der Wandel trat nicht abrupt ein, vielmehr wogte die Entscheidung lange hin und her. Der Befreiungskrieg bildet die breite, aber deutlichste Scheidelinie für die Reformpolitik, denn zuvor hatten alle Gegner stillhalten müssen, hielten sich wohl auch zurück, solange sie die Maßnahmen dem Ausnahmezustand geschuldet sahen. In der Auseinandersetzung um das Gendarmerieedikt werden die Gräben zwischen Aufklärern und romantischem Staatsverständnis sichtbar. Die für die Gutsherrschaft streitende Interessenpolitik bediente sich der Opposition gegen die Aufklärung und kleidete Interessenstandpunkte in philosophische Argumente: Wandel durch Verordnung und Edikt zu dekretieren würde niemals zum Guten ausschlagen. Die Ideale von Gleichheit und Freiheit seien chimärisch und würden Unfrieden und Unordnung nach sich ziehen. Stattdessen sollte Vertrauen in die organischen Kräfte des Wachstums von Ideen gestärkt werden. Auf diese Weise würden sich gesunde Neuerungen von ganz allein einstellen. Der Verlust an Überzeugungskraft der Aufklärung galt nicht nur für die Staatsverwaltung. Überall in der Öffentlichkeit, unter den gebildeten Schichten, war die Kritik am aufklärerischen Rationalismus zu einer stehenden Formel geworden. Verachtung der Aufklärung bildete den Hintergrund für die oppositionellen Stimmen, ob von Joseph Görres oder in den Demonstrationen der Burschenschaften auf dem Wartburgfest im Oktober 1817. Gleichzeitig wandte sich die Geschichtswissenschaft vom Projekt Aufklärung ab. Historisches Denken 55 Blumenthal, Communal-Gesetzgebung.
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wurde als Gegenentwurf zur Aufklärung konzipiert, weil angeblich die Aufklärung alle historischen, sowohl in Völkern als auch in Individuen wirkenden Kräfte geleugnet oder unterschätzt hatte. Die antiaufklärerische Wendung blieb in der deutschen, insbesondere der borussischen, Geschichtsschreibung traditionsbildend – bis ins 20. Jahrhundert hinein. Sie tauchte im Laufe des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Variationen auf. Besonders nachhaltig und wirkungsvoll für das Geschichtsbild in Deutschland wurde die Abgrenzung gegen den „Westen“. Damit sollte eine preußische und deutsche Besonderheit gegenüber den westlichen Demokratieentwicklungen behauptet werden. 56 Treffend nimmt Heinrich August Winkler das gegen die Aufklärung gerichtete Schlüsselwort „Westen“ in den Titel seines Werks über die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts auf. 57
56 Barbara Vogel, „Option gegen den Westen“. Anfänge eines politischen Schlüsselworts zwischen Revolution und „neuer Ära“ in Preußen. In: Dagmar Bussiek / Simona Göbel (Hgg), Kultur, Politik und Öffentlichkeit (Fs. f. Jens Flemming), Kassel 2009, 134–155. 57 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, 2 Bde., München 2000.
AUFKLÄRERISCHE DISKURSE
„NICHT MEHR AUFWAND ALS DIE ERRICHTUNG EINES COMPLICIRTEN BRATENWENDERS FÜR HERRSCHAFTLICHE KÜCHEN“ Überlegungen zur Mechanisierung der Rechtsprechung im Vormärz Niels Hegewisch, Greifswald 1. Mit Vernunft und Wahrheit sind zwei zentrale Prämissen der Aufklärung in die Defensive geraten. Zu diesem Befund gelangt Thomas Stamm-Kuhlmann und nennt als Beispiel den geschichtswissenschaftlichen Trend zu einer „betroffenheitsbezogene[n] Geschichtsschreibung nationaler, ethnischer, gendermäßiger und anderer Gruppen.“ 1 Dekonstruktivistisch verfahrende Historiker lehnten Vernunft und Wahrheit als relevante Kategorien ab. Stattdessen gebe es nur zu dekonstruierende Narrative, Symbole oder Realitäts-Fiktionen, die per definitionem weder wahr noch falsch sein können. 2 Die Vernunft ist hier ein Mythos unter anderen. Nicht nur in der Geschichtswissenschaft, sondern in weiten Teilen von Gesellschaft und Wissenschaft wird, so Stamm-Kuhlmann, „[d]ie Echtheitsfrage (…) an den Rand geschoben.“ Mehr noch, „[w]er auf ihr herumreitet, darf erwarten, als humorloser Sauertopf bezeichnet zu werden.“ 3 Im Feuilleton werden bereits die Auswirkungen entsprechender wissenschafts– und forschungspolitischer Weichenstellungen der letzten Jahre auf heutige Studenten– und Doktorandengenerationen diskutiert. Denn das sozialkonstruktivistische Trommelfeuer, dem sich mittlerweile niemand mehr entziehen kann, leistet einem entschlossen unentschlossenen Hang zur Ambivalenz Vorschub. Man habe es mit einer „Generation der Jeinsager“ zu tun, konstatiert die FAZ. „Die Wahrheit ist heute derart außer Mode, wie es noch vor ein paar Jahren der Vollbart für den jungen Mann und die hochgeschlossene Spitzkragenbluse für die junge Frau waren.“ 4
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Thomas Stamm-Kuhlmann, Wo bleibt die Aufklärung? Unser entspannter Umgang mit der Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Religions– und Geistesgeschichte 56/2004, Heft 2, 107. Ebd., 99–104. Ebd., 98f. Eva Berendsen, Wir wollen lieber nicht – oder doch? In: FAZ vom 13.2.2013. Vgl. hierzu den Protest der amerikanische Romanistin Christy Wampole gegen die Ironie als Lebensform der zwischen 1980 und 1990 Geborenen in einem Blog für die New York Times. Christy Wampole, How to Live Without Irony, http://opinionator.blogs.nytimes.com/2012/11/17/how-tolive-without-irony/ (14.2.2013).
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Die Popularität einer solchen Haltung, so warnt Stamm-Kuhlmann, dürfe jedoch nicht über deren Kollateralschäden hinwegtäuschen, denn die Leugnung von Vernunft und Wahrheit negiere die Voraussetzungen für sinnvolles Reden über und Denken von Gerechtigkeit. Daher das Plädoyer Stamm-Kuhlmanns: „Unterwerfen wir uns, im Wissen um die Subjektivität unserer Ausgangsposition, der regulativen Idee einer möglichen Annäherung an die Wahrheit.“ 5
Den praktischen Implikationen einer so verstandenen Aufklärung entspricht unter anderem der Rechtsstaat. Im Wissen um die Subjektivität ihrer Ausgangsposition und im Bestreben, unter diesen Bedingungen dennoch gemeinschaftliches Zusammenleben zu ermöglichen, unterwerfen sich die Menschen der Regulierung ihrer wechselseitigen Verhältnisse durch das Recht. Das Recht wiederum wird nach bestimmten, im besten Fall vernünftigen Regeln gesetzt, angewandt und ausgelegt. Die Wahrheit des gesetzten Rechts fungiert im Gerichtsverfahren als regulative Idee bei der Suche nach Gerechtigkeit und ist dabei einer nachträglichen Einwirkung auf den vorliegenden Einzelfall entzogen. Mit der Etablierung des modernen Rechtsstaats im Laufe des 19. Jahrhunderts waren in Deutschland ausgreifende Diskussionen und Kontroversen verbunden. Die Annahmen von Vernunft, Wahrheit und Gerechtigkeit spielten hierbei eine wichtige Rolle. Dies illustriert das Beispiel des früh und nachhaltig von der französischen Aufklärung beeinflussten Frankfurter Anwalts, Politikers und Publizisten Ludwig Daniel Jassoy 6 und sein Vorschlag einer Mechanisierung der Recht-
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Stamm-Kuhlmann, Aufklärung, 109. Zur Biographie Jassoys (1768–1831) siehe: Henning Wicht, Ludwig Daniel Jassoy. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen politischen Publizistik zwischen dem Wiener Kongreß und der Julirevolution, Wiesbaden 1950, 1–49; Barbara Dölemeyer, Frankfurter Juristen im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1993, 95f. Als Belege für die zeitgenössische Wirkmächtigkeit Jassoys wird sein Verkehr mit Persönlichkeiten des Vormärz wie vom Stein, Arndt und anderen herangezogen. Einer politischen Strömung lässt sich Jassoy jedoch nicht eindeutig zuordnen. Zwar bestehen große Überschneidungen mit dem Liberalismus. Zeitgenossen und spätere Autoren heben jedoch Jassoys Abneigung gegen den intellektuellen Dogmatismus der Liberalen und seine pragmatische Kompromissbereitschaft gegenüber Konservativen und Romantikern hervor. Henning Wicht, der 1950 die einzige größere Studie zu Jassoy vorgelegt hat, erkennt im Werk Jassoys fünf zentrale Forderungen: 1. Die Schaffung eines nationalen Einheitsstaats, 2. eine der politischen Kultur angepasste Verfassung mit republikanisch-liberalen Grundsätzen, 3. die enge Verbindung von Leben und Politik durch publizistische Aufklärung und Unterrichtung der Bürger über die Bedingungen gesellschaftlichen und staatlichen Lebens, 4. die Ablehnung der ästhetisch-quietistischen Weltanschauung von Romantik, Neuhumanismus und Religiosität, 5. die Erhebung der Politik zur Wissenschaft einer undoktrinären, überparteilichen und realistischen Betrachtung politischer Ereignisse. Wicht, Ludwig Daniel Jassoy, 170f. Ausgewählte Aphorismen aus Jassoys Hauptwerk Welt und Zeit sind vor einiger Zeit neu aufgelegt worden: Ludwig Daniel Jassoy, Man muß erstlich wissen, was man will, ehe man thun kann, was man soll. Aphorismen und Glossen aus Welt und Zeit (1815–1828), Ausgewählt und mit einem Nachwort von Dirk Sangmeister, 2. Aufl. Eutin 2009.
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sprechung durch eine „Spruchmaschine“ 7. Mit der Spruchmaschine implementiert Jassoy in der Rechtspflege das Gebot der Vernunft, menschlichen Einfluss auf die Erkenntnis gesetzlicher Wahrheit möglichst zu begrenzen. Die Akten der Prozessparteien werden in die Maschine eingespeist und ohne weiteres menschliches Zutun gehen gerechte Urteile „fix und fertig“ 8 aus ihr hervor. Diese unorthodoxe Antwort auf die Frage nach dem Verbleiben der Aufklärung im Bereich der Justiz wird im Folgenden rekonstruiert (3.) und auf ihre Intention sowie aktuelle Relevanz hin überprüft (4.). Zuvor lohnt es sich jedoch, Jassoys durch die Aufklärung beeinflusste Kritik der zeitgenössischen Privatrechtspflege sowie seine Reformforderungen als argumentativen Kontext der Spruchmaschine näher zu betrachten (2.). 2. „Vernunft, Wahrheit und Gerechtigkeit sind die 3 herrlichsten Töchter des Himmels“ 9, und um deren Bedeutung für das Justizwesen, genauer gesagt die Privatrechtspflege, geht es dem juristischen Praktiker Jassoy in seinen 1826 unter einem Pseudonym publizierten Aphorismen über bürgerliche Gesetzgebung und Rechtspflege. Als ein roter Faden der ansonsten disparaten und unsystematisch angeordneten Aphorismen findet sich in dem Werk zweierlei. Einerseits Jassoys Plädoyer für Vernunft, Wahrheit und Gerechtigkeit in der Rechtspflege, mit dem er sich gegen die zeitgenössische Auffassung richtet, „daß es kein eigentliches Recht oder Unrecht gebe, sondern alles Convenienz und Gewohnheit auf Erden sey.“ 10 Andererseits aber auch ein skeptischer Realismus, der auf dem Wissen um die Fehlbarkeit des Menschen beruht. Die Wirkmächtigkeit von Vernunft, Wahrheit und Gerechtigkeit in der Rechtspflege ist somit stets prekär. Diese Ambivalenz bringt Jassoy in einem doppelten Gleichnis zum Ausdruck. Der Mensch trägt die Begriffe von Recht und Gerechtigkeit von Natur aus in sich wie der Baum seine Früchte. Die Gerechtigkeit wirkt in der menschlichen Gesellschaft wie die Medizin im menschlichen Körper. Aber „so bleibt doch so viel ausgemacht, daß wir bisher die Früchte dieses Baumes nur schlecht zu pflücken verstanden, und bei dem Suchen der Gerechtigkeits-Medicin weder die rechte Aerzte gefunden haben, noch in die rechte Apotheke gerathen sind!“ 11
Menschliche Leidenschaften und Willkür in der Rechtspflege sind, um in Jassoys Bild zu bleiben, eine Krankheit, unter der die zeitgenössische Gesellschaft leidet. Hervorgerufen wird diese Krankheit, so diagnostiziert die Vernunft als Arzt des 7
Jonathan Kurzrock [Ludwig Daniel Jassoy], Aphorismen über bürgerliche Gesetzgebung und Rechtspflege. Aus den Papieren des Verfassers von Welt und Zeit, Stuttgart 1826, 299. 8 Ebd., 297. 9 Jonathan Kurzrock [Ludwig Daniel Jassoy], Welt und Zeit. Theil 1, Germanien [Berlin / Heidelberg] 1816, 18. 10 [Jassoy], Aphorismen, 19f. 11 Ebd., 20f.
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Jassoyschen Gleichnisses, durch die zeitgenössische Rechtszersplitterung sowie die Historische Rechtsschule. 12 Beide zeitigen als Symptome Unvernünftigkeit, Subjektivität und Kontingenz in der Privatrechtspflege. 13 Richterliche Urteile beruhen auf der selektiven Exegese „römisch-juristische[r] Reliquien“ 14 und einem „Kampf der Autoritäten“ mit der Folge, dass „das Recht selbst immer schwankender und unsicherer“ 15 wird. Praktische Vernunft, in Jassoys Gleichnis ein Apotheker, verordnet daher die Medizin einer Vereinheitlichung von Gesetzgebung und Rechtsprechung. Als beste Therapieform empfiehlt Jassoy in einem beachtenswerten Aphorismus schließlich die Mechanisierung der Rechtsprechung durch die Spruchmaschine. Doch zunächst zurück zur Jassoyschen Kritik. Ohne ein kodifiziertes Privatrecht sind der juristischen Phantasie und damit Beliebigkeit und Zufall in der Rechtspflege keine Grenzen gesetzt. „[V]on dem regsamen Geiste der Juristen [werden] immer neue Systeme ausgesponnen, ewig an dem lockeren Rechte gezerrt und gezaust“ mit dem Ergebnis kontinuierlicher „Unsicherheiten und Verwirrungen“ über das, was Recht ist. Statt „geprüfter legislatorischer Weisheit“ bestimmen „einseitige Meinungen“ das Privatrecht. 16 Dieses ist für die Bürger ein undurchschaubares Arkanum, das kaum nachvollziehbare Entscheidungen produziert und jeder Vernünftigkeit entbehrt. Recht und Rechtsprechung gleichen einer „Lotterie“ 17 und stehen damit den Bedürfnissen der zeitgenössischen Gesellschaft nach Berechenbarkeit und Rechtssicherheit entgegen. 18 „Wer sich in unserm Vaterlande, wo alt– und neurömische, canonische, hundertfältige statutarische Geseze und Gewohnheiten, von den Gelehrten nach hundertfachen abwechselnden Methoden, in den verschiedenartigsten Töpfen gekocht, gesotten, gebraten, und mit unzähligen Meinungen der Einzelnen vermengt, dem juristischen Publikum als Orakelsprüche aufgetischt werden (…) noch auf ein festes gutes Recht verlassen kann, muß wirklich von allem Verstande verlassen seyn!“ 19
Die Wurzel des Übels ist für Jassoy die intellektuelle Trägheit zeitgenössischer Juristen. Allein aus Bequemlichkeit halten diese an überkommenen Verfahren und Grundsätzen fest. Diese sind
12 Zur rechtsgeschichtlichen Diskussion siehe: Sérgio Fernandes Fortunato, Vom römischgemeinen Recht zum Bürgerlichen Gesetzbuch. In: Zeitschrift für das juristische Studium 4/2009, 327–334. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Barbara Vogel in diesem Band. 13 [Jassoy], Aphorismen, IVf., IX–XIII, 305–313. 14 Ebd., 5. 15 Ebd., 308, vgl. 30f. 16 Ebd., 60f. 17 Ebd., Anm. 308. Das Ausmaß an Kontingenz der zeitgenössischen Rechtsprechung vergleicht Jassoy ausführlich mit einer Satire Rabelais’ über einen Pariser Richter aus der Zeit Ludwigs XIV., der jahrelang unbemerkt und ohne jedes Unrechtsbewusstsein seine Urteilssprüche mithilfe von Würfeln fällte. Jassoy hält dieses Verfahren immer noch für gerechter als „das Kopfwürfeln eigensinniger eitler Pedanten mit ihrem eingebildeten Scharfsinn.“ Ebd., 22–29. 18 Ebd., 38, 40–43, 315. 19 Ebd., 286f.
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„für beschränkte pedantische Köpfe wahre Schlagbäume und Hemmschuhe für die allenfallsigen Eingebungen des Verstandes geworden, haben die Vernunft der bessern Juristen gleichsam fest genagelt, mit blosen Formen genährt, welche jedes Nachdenken überflüssig machen, und einen Dünkel erzeugt, der alle Einwirkungen der Wahrheit und des fortschreitenden Geistes verächtlich von sich weist! So fährt dann die Gerechtigkeitspflege in dem schwerfälligensten Rumpelkasten auf der Eisenbahn alter Formen, von tauben Pedanten gezogen, unbekümmert um den Zuruf der Philosophie, immer ruhig fort (…).“ 20
Den meisten Juristen mangelt es also an geistiger Unabhängigkeit und praktischem Verstand, ihre „Vernunft [ist] von Vorurtheilen und Gewohnheiten beherrscht“ 21 und indem sie die „Tyrannei und Willkühr in ein consequentes System“ brachten, haben sie „sich stark an der Menschheit versündiget.“ 22 Schlimmer noch als die Beliebigkeit der Privatrechtspflege wiegt für Jassoy die durch Schriftlichkeit und Nichtöffentlichkeit des Verfahrens begünstigte Willkür und Korruption des Justizpersonals. So wirken im Rahmen der Rechtspflege sach– und rechtsfremde Einflüsse auf Referenten, Rechtsgelehrte und Richter ein. Den Referenten, die die schriftlich eingereichten Prozessunterlagen für den Richter sortieren, anordnen und aufbereiten, bietet sich die Möglichkeit, das Urteil durch Hervorhebung oder Unterdrückung bestimmter Aspekte zu beeinflussen. Von den Prozessparteien unbemerkt geschieht es, dass die Referenten das „Factum leicht entstellen, wichtige Beweise überspringen, und dadurch ihre Collegen in Beurtheilung der Rechtsverhältnisse irre führen (…).“ 23 Das Wohl rechtsuchender Bürger ist damit „von der Ungeschicklichkeit, den Leidenschaften, der Faulheit, Schwäche, Feigheit und Bestechlichkeit aller Art eines Referenten abhängig (…), welcher sich vor dem Papier nicht schämt (…).“ 24
Die Beispiele für „Dummheit, Partheilichkeit, vorgefaßte Meinungen oder Bosheit“ 25 der Referenten sind beträchtlich. Über die Möglichkeit zur Beeinflussung des Urteils verfügen auch die universitären Rechtswissenschaftler, bei denen Richter Rechtsgutachten einholen. Denn bei Auswahl und Interpretation historischer Rechtssätze spielen persönliche Interessen der Gutachter ebenso eine Rolle wie mangelnde Kompetenz oder Unwissen. In jedem Fall erhält der Richter durch die Gutachten keine objektive Richtschnur für sein Urteil, sondern lediglich subjektive Meinungen einzelner Gelehrter, die nicht selten einander widersprechen. Die Orientierung am römischen
20 Ebd., 151f. 21 Ebd., „Verstand“ wie „Vernunft“ beziehen sich bei Jassoy zumeist auf eine praktische Vernunft. Hinter dem Jassoyschen Vernunftbegriff steht nach Wicht „nicht mehr der abstrakte Moralismus und Eudämonismus der Aufklärung und nicht mehr der Glaube an das Alleinseligmachende der Vernunft, sondern ein auf das Handeln, und zwar politisches Handeln gerichteter Tatwille.“ Wicht, Ludwig Daniel Jassoy, 153. 22 [Jassoy], Aphorismen, 146f. 23 Ebd., 177. 24 Ebd., 153. 25 Ebd., 177.
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Recht ist für Jassoy damit nicht mehr als eine akademische Spielerei und Richter, die dies erkennen, verfügen über nahezu unbeschränkte Ermessensspielräume. 26 Richterliche Ermessensspielräume sind jedoch keine Lösung, sondern eine Verschärfung des Problems. Wie alle Menschen tendieren auch Richter nach Jassoy dazu, sich von ihren Launen und oberflächlichen Eindrücken leiten zu lassen. Prozessordnungen bieten keinen verlässlichen Schutz, denn „[f]ast alle unsere Compendien und Geseze über den Proceß sind nur schwache Spinngewebe, durch welche die richterliche Willkühr (…) leicht bricht.“ 27 So nimmt es kaum Wunder, dass sich nicht nur die Gutachten, sondern auch die Urteile desselben Gerichts und derselben Richter zu ähnlich gelagerten Fällen häufig widersprechen. 28 Da die Prozessparteien in Unkenntnis über die Gründe eines Urteils gelassen werden, fehlt ihnen jegliche Möglichkeit einer Kontrolle von dessen Angemessenheit und Entstehung. 29 Begünstigt wird richterliche Willkür ferner durch die „von dem Volke hermetisch abgeschlossene“ soziale Stellung der Richter, die dadurch an einseitigen oder vorgefassten Meinungen festhalten und „aus geheimen Zimmern ihre auf geheime Vorträge gestützte geschriebene Orakelsprüche unter das Publikum werfen.“ 30 Von Willkür zu Korruption ist der Weg nicht weit. „Die Bestechungen der Richter sind gar vielfältig! Geld und Geschenke, versprochene eigene Beförderung, oder die ihrer Söhne und Verwandten sind die gröbsten, (…) Benutzung der Schwächen, Vorurtheile, vorgefaßten Meinung, Furcht, Besorgnisse, (…) die durch Weiber, verwandtschaftliche Verhältnisse, Schmeicheleien, Freunde, bilden die feinern, – und endlich die durch Aufreizung der Eigenliebe und Eitelkeit gegen eine Parthei die feinsten!“ 31
Beschwerden der Prozessparteien gegen korrupte Richter sind ebenso aussichtslos wie die Hoffnung auf Revision eines Urteils. Jassoy kritisiert „die richterliche Gefälligkeit und Nachsicht gegen Fehler oder Vergehen von Unterrichtern“ aus dem Motiv heraus, „daß man das Richteramt nicht herabwürdigen dürfe.“ 32 Solche „Gevatterprincipien“ machen „schlechte Menschen nur dreister“ und zerstören den Gerechtigkeitsglauben der Bürger. 33 Objektivität und Gerechtigkeit in der Rechtspflege sind, so lässt sich Jassoys Kritik zusammenfassen, mehr Fiktion als Realität. Rechtsuchende Bürger sind neben praxisfernen Rechtssätzen vor allem herrschsüchtigen Richtern und selbstverliebten Akademikern ausgeliefert, die „alle Intelligenz und Würde im chinesischen Schuh ihrer eigenen Erbärmlichkeit erdrücken (…).“ 34 Die von Jassoy diskutierten Reformmaßnahmen haben daher zum Ziel, Subjektivität und Beliebigkeit in der Rechtspflege zurückzudrängen. Konkrete Maßnahmen sind einerseits die Rechtsvereinheitlichung durch Kodifikation sowie die 26 27 28 29 30 31 32 33 34
Ebd., 43. Ebd., 149. Ebd., 70f., 179f. Ebd., 46f., 195–197. Ebd., 216f. Ebd., 52f. Ebd., 37. Ebd.; vgl. 49–52, 173. Ebd., 357; vgl. 33–35.
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Anpassung des Rechts an die praktischen Bedürfnisse der Gesellschaft. 35 Es ist also „nützlicher und ehrenvoller, mit eigenen Füßen und mit eigenen Händen nach der Wahrheit zu tappen und zu greifen, als dieselbe in verfaulten Stücken gleichsam aus der Erde graben zu wollen.“ 36
Denn „[d]ie Natur hat uns Verstand gegeben, um denselben zur Schöpfung eigener Ideen für unsern Bedarf, nicht aber blos als Copiermaschine dessen zu gebrauchen, was Andere gethan haben, oder noch thun! Sie hat unsern Kopf nicht rückwärts, sondern vorwärts gerichtet! (…) [N]ur vor den Ergebnissen eigner hoher Vernunft soll man die Knie beugen!“ 37
Rechtsuchende Bürger sollen durch Mündlichkeit der Prozesse vor Inkompetenz und Willkür des Justizpersonals geschützt werden. Wenn die Prozessparteien an der Verhandlung unmittelbar beteiligt sind, „muß sich nothwendig immer wenigstens das Factum klar herausstellen (…)!“ 38 Die Öffentlichkeit von Verfahren dient Jassoy als Schutz vor ungerechten Richtern, die sich freilich einer solchen Reform dergestalt widersetzen, „wie schiefe Frauen die Parthei der Schnürbrüste, und Kahlköpfe die der Perücken nehmen.“ 39 3. Eine besonders zuverlässige Möglichkeit, den Einfluss menschlicher Fehlbarkeit auf die Rechtsprechung „zur Beförderung des Rechtsgangs und Erhaltung der Unbefangenheit“ 40 zu minimieren, erblickt Jassoy in deren Übertragung an eine Spruchmaschine. Den Vorschlag einer solchen Maschine leitet Jassoy aus einer Grundannahme der Frühaufklärung ab, wonach sich alles im Universum „blos nach mechanischen Gesetzen“ 41 bewegt, die sich beobachten und zum Zweck einer Mechanisierung instrumentalisieren lassen. Dies betrifft, so Jassoy unter Berufung auf den französischen Physiokraten Pierre Samuel du Pont de Nemours
35 Ebd., 4, 8–18, 54f., 140 147f., 248f. Damit übernimmt Jassoy in weiten Teilen die Argumentation des liberalen Juristen Anton Friedrich Justus Thibaut in dem mit Friedrich Carl von Savigny 1814 ausgetragenen Kodifikationsstreit. Im Unterschied zu Thibaut lehnt Jassoy jedoch eine Orientierung am Naturrecht und Philosophie als zu spekulativ ab. Ebd., 57f., 309. Vgl. Anton Friedrich Julius Thibaut, Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland, Heidelberg 1814. Im zehn Jahre zuvor erschienenen ersten Band von Welt und Zeit nennt Jassoy Savignys Über den Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Heidelberg 1814) noch ein „geistreiches und gelehrtes Buch.“ [Jassoy], Welt, Th. 1, 47. 36 [Jassoy], Aphorismen, 5. 37 Ebd., 7f. 38 Ebd., 178. 39 Ebd., 339. 40 Ebd., 296f. 41 Ebd., 303.
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und seine Studien über staatenbildende Insekten, ausdrücklich auch intelligible menschliche Angelegenheiten wie Staat und Recht. 42 „Wer Dupont de Nemours Ameisen– und Bienenstaat (in welchem ebenfalls Justizfälle vorkommen, die geschlichtet werden) mit Aufmerksamkeit gelesen hat, kann (…) an der Möglichkeit reinmechanischer Einrichtungen wahrer Musterstaaten nicht mehr zweifeln!“43
Zeitgenössische Rechen– und Schachmaschinen führt Jassoy als Beispiele erfolgreicher Mechanisierung intelligibler Tätigkeiten an. Dass die technische Entwicklung noch nicht an ihr Ende gelangt ist, die Umsetzung einer Spruchmaschine in Zukunft eher leichter als schwieriger wird, zeigen weitere bahnbrechende Erfindungen wie Geräte zur Tonaufzeichnung oder Web– und Papiermaschinen. Im Lichte dieser Entwicklungen besteht für Jassoy kein Zweifel daran, dass früher oder später „fast alle (…) mechanischen Arbeiten der Menschen durch Maschinen“ 44 ersetzt werden können. Jassoy erweist sich hier als aufmerksamer Beobachter der technischen Neuerungen seiner Zeit. 1805 entwickelte Joseph-Marie Jacquard den ersten durch Lochkarten gesteuerten Webstuhl, 1820 wurde von Charles Xavier Thomas de Colmar mit dem Arithmometer die erste mechanische Rechenmaschine in Massenproduktion erfunden und 1822 stellte Charles Babbage eine Differenzmaschine zum mechanischen Lösen polynominaler Funktionen vor. 45 An Jassoys Begeisterung für die Schachmaschine, dem Beispiel für eine besonders anspruchsvolle, da zu eigenem Denken fähige Mechanisierung intelligibler Tätigkeit, zeigt sich freilich ein fließender Übergang zwischen fortschrittsoptimistischer Vision und naiver Illusion. Denn Jassoys Argument für die Umsetzbarkeit einer Spruchmaschine gründet auf der Überzeugung, dass die Entscheidung der meisten Rechtsstreitigkeiten nicht schwieriger sei als „das Gewinnen einer Schachparthie.“ 46 Mit seinem Verweis auf die erfolgreiche Konstruktion einer Schachmaschine sitzt Jassoy jedoch einem Betrug auf, indem er sich vermutlich auf den bereits 1769 von Wolfgang von Kempelen konstruierten Schachtürken oder einen seiner Nachahmer bezieht. Diese vermeintlichen Androiden bestanden aus einer menschlichen Gestalt, bei von Kempelen in eine türkische Tracht gekleidet, die an einem Tisch mit Schachbrett saß. Zu den Geräuschen eines Uhrwerks bewegte der Androide mit seinen Armen die Figuren auf dem Spielbrett und kommunizierte durch Bewegungen seines Kopfes mit dem Gegenspieler. Zwar konnten Kempelen und andere mit ihren Schachmaschinen interna42 Du Pont de Nemours beruft sich hierbei wiederum auf François Quesnay. Pierre Samuel Du Pont de Nemours, De l’origine et des progress d’une science nouvelle, Paris 1768. 43 [Jassoy], Aphorismen, 303f. 44 Ebd., 296. 45 Vgl. Wilfried de Beauclair, Rechnen mit Maschinen. Eine Bildgeschichte der Rechentechnik, Braunschweig 1968; Annette Beyer, Faszinierende Welt der Automaten. Uhren, Puppen, Spielereien, München 1983; Siegfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt a. M. 1982; William Aspray (Hg.), Computing Before Computers, Ames/Ia. 1990. 46 [Jassoy], Aphorismen, 297.
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tional jahrelang reüssieren, doch gilt für alle Schachmaschinen der Zeit, was nicht wenige Zeitgenossen vermuteten, dass es sich um eine Täuschung handelte. Unter dem Schachbrett saß in Wirklichkeit ein Mensch, der die Bewegungen des vermeintlichen Androiden steuerte und die Spielfiguren mithilfe eines Magnets bewegte. 47 Immerhin mit der Analogie liegt Jassoy richtig, denn im 20. Jahrhundert dienten – diesmal aber echte – Schachcomputer erneut als Vorbild für die Automation juristischer Entscheidungen. 48 Doch für Jassoys Fortschrittsoptimismus und Technikbegeisterung spielen technische Einzelheiten ohnehin keine große Rolle. Bezeichnenderweise äußert sich Jassoy auch nur nebulös zur Funktionsweise der Spruchmaschine. Seine Beschreibung des Mechanismus erschöpft sich in dem Prozess des Einwerfens der Akten auf der einen und der Ausgabe des Urteils auf der anderen Seite der Maschine. 49 Einzig hinsichtlich des Anspruchs an den Mechanismus der Spruchmaschine wird Jassoy etwas konkreter. Dieser richtet sich nach Komplexität und Menge zu entscheidender Fälle. Für kleinere Gerichtsstandorte erfordert der Mechanismus der Spruchmaschine daher „nicht mehr Geistesaufwand (…), als die Errichtung eines complicirten Bratenwenders für herrschaftliche Küchen.“ Für Residenzen und große Handelsstädte sind kompliziertere und damit auch teurere Spruchmaschinen erforderlich. 50 Dass seine Technikbegeisterung auf Vorbehalte vor allem bei Juristen stoßen wird, antizipiert Jassoy. Wie wir bereits wissen, sind ihm die deutschen Juristen „zu geisteslahm und faul (…), um neue Institutionen zu schaffen, und diese nach den wahren Bedürfnissen der Gesellschaft einzurichten.“ 51 Die Beschränktheit und Neuerungsfeindlichkeit seiner Kollegen kritisiert Jassoy an anderer Stelle ausführlich. „Juristen, welche ihr ganzes Leben in mühsamem Aufsuchen der verschiedenen Lesarten alter Gesezbücher, oder in der Rumpelkammer griechischer und römischer juristischer Antiquitäten zugebracht, mit diesen Herrlichkeiten allein ihren Kopf angefüllt, oder sich auch durch Bearbeitung einzelner steriler Rechtsmaterien gleichsam schon die Verstandszähne ausgebissen, und die Urtheilskraft erschöpft haben, scheucht freilich der Gedanke: daß irgend ein Herostrat den aufgeputzten Tempel der Themis anzünden, und ihre juristische Unsterblichkeit zerstören könnte, von jeder Neuerung zurück, welcher weit mehr Umfang, eine größere Unabhängigkeit, mehr Beweglichkeit, Kühnheit, Gewandheit des Geistes erfodert als sie ihrem eigenen Gefühl nach besitzen. Da man nun nicht gerne eine solche innere Impotenz öffentlich eingesteht, so fallen dieselbe mit der ganzen eingebildeten Autorität ihrer Heiligthümer und
47 Dieser Mechanismus war freilich für die damalige Zeit besonders anspruchsvoll und ausgeklügelt. Siehe hierzu das Nachwort in: Marion Faber (Hg.), Der Schachautomat des Baron von Kempelen, Dortmund 1983, 65–126. Vgl. Tom Standage, The mechanical Turk. The true story of the chess-playing machine that fooled the world, London 2003. 48 Vgl. Walter Popp / Bernhard Schlink, Artificial Intelligence (AI) in der Rechtsinformatik – Stationen einer Forschungsreise in Nordamerika, in: Datenverarbeitung im Recht 4/1975, 320. 49 [Jassoy], Aphorismen, 296f. 50 Ebd., Anm. 304. 51 Ebd., 150.
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Niels Hegewisch dem kleinen Maaßstabe ihrer Intelligenz über jede neue Idee her, und zerzausen dieselbe so gut wie sie können.“ 52
Im Falle einer erfolgreichen Einführung der Spruchmaschine und dem damit verbundenen Verlust an Macht wie Prestige schließt Jassoy gar einen Maschinensturm der Richter, Referenten und Professoren nicht aus. Sie werden „eben so sehr schreien, als die Ludditten in England über die Aufstellung der Maschinen zu allen Arbeiten in den Fabriken.“ 53 Dessen ungeachtet sieht Jassoy der Kritik an seinem Vorschlag gelassen entgegen. Er vertraut auf den Erfindungsreichtum zeitgenössischer Ingenieure. Er habe bereits zu „den berühmtesten Mechanikern Englands“ 54 sowie dem „genialen Masera, Erfinder des Musikographen“ 55, Kontakt hergestellt und gehe davon aus, „recht bald mit solchen Kunstwerken aller Dimensionen unsere teutschen Messen zu beziehen.“ 56 Zuversichtlich freut sich Jassoy bereits „im Voraus auf die Widerlegung und siegreiche Bekehrung der ungläubigen Recensenten dieses Vorschlags, [er] hofft in kurzer Zeit allen Regierungen (…) die Beschreibung der Spruchmaschinen aller Art mit den nöthigen Steinabdrücken der Modellen dediciren zu können, und ist (…) überzeugt, daß man sein Buch freundlich aufnehmen, und nicht lange antichambriren lassen wird.“ 57
Sehr viel ausführlicher als den technischen Details widmet sich Jassoy hingegen den Vorteilen, die der Rechtspflege aus der Einführung seiner Spruchmaschine entstehen. Zunächst einmal macht sie die Rechtsprechung effizienter. Für Wartung und Betrieb der Spruchmaschinen benötigt man weit weniger Personal als bislang an Gerichten beschäftigt wird. Durch den Bedarf von überwiegend einfach zu schulendem technischen Personal sinken die Kosten für und die Anforderungen an die Ausbildung von Juristen. „[A]uf Universitäten [wäre] nur der Gang der Maschine zu erklären.“ 58 Darüber hinaus kann durch die Mechanisierung in derselben Zeit eine größere Anzahl an Fällen bearbeitet werden. Das langwierige Verfahren des Einreichens und Aufbereitens schriftlicher Unterlagen sowie der Einholung von Rechtsgutachten und des Ausfechtens rechtshistorischer Kontroversen entfällt. Insbesondere Anwälte wie Jassoy werden
52 53 54 55
Ebd., 247f. Ebd., 304. Ebd., Anm. 304. Ebd. In einer zeitgenössischen Publikation heißt es: „Joseph Masera in Turin, ursprünglich ein Schäfer und Bauer, hat schon die bewundernswerthesten Automaten, einen David, der die Harfe spielt etc., geschaffen. (…) Vorzüglich hat er mehrere künstliche Orgel– u. Spieluhren und musikal. Instrumente, insbesondere ein Pantaphonium und einen Musikograph, welcher die Musik, während man sie spielt, genau aufzeichnet, gearbeitet.“ Christian Daniel Beck, Allgemeines Repertorium der neuesten in– und ausländischen Literatur für 1825. Herausgegeben von einer Gesellschaft Gelehrter, Leipzig 1825, 380. 56 [Jassoy], Aphorismen, Anm. 304. 57 Ebd. 58 Ebd., 299.
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„der Mühe überhoben, blos der vorkommenden Allegaten wegen viele höchst langweilige starke Bände durchzulesen, in welchen nur unpraktische altrömische Gesezstellen, oder juristische Antiquitäten mühesam und mit schweren Füßen breit getreten werden.“ 59
Die „Mumie des römischen Rechts“ muss nicht immer wieder aufs Neue „aufgelöst“ und „neu präpariert“ werden. 60 Folglich entfällt auch „die ganze juristische Schriftstellerei, welche immer nur den Gesichtspunkt des Rechts ändert, verrückt und verwirrt (…).“ 61 „Wir würden dann wenigstens eine feste Jurisprudenz erhalten, allen Controversen und Meinungsabweichungen über das Recht entgehen, viel Zeit gewinnen, und ungeheure Kosten ersparen, indem ein einziger Rechtsprakticant oder Assessor, mit etlichen Taglöhnern, den richtigen Gang der Maschine besorgen und man nur zur Publikation der Urtheile selbst einen Herold brauchen würde (…).“ 62
Angesichts solcher Zeit– und Kostenersparnisse erhofft sich Jassoy Unterstützung durch die „Finanzmänner (…), welche gerne die öffentlichen Abgaben herabsetzen möchten, und nicht wissen, wie dieses anzufangen ist.“ 63 Auch die Bürger wähnt Jassoy auf seiner Seite, denn sie profitieren am meisten von den beschleunigten und kostengünstigen Verfahren, die ihnen langes Warten sowie hohe Anwalts– und Gerichtskosten ersparen. Gerichtsverfahren werden durch Einsatz der Spruchmaschine zum Abschluss gebracht, „ohne daß die Partheien nöthig hätten, Jahre lang zu sollicitiren, zu intriguiren, große Summen Geldes auszugeben, sich schlaflose Nächte zu machen, und drei Instanzen durchzulaufen, während deren Geburtswehen oft ihr ganzes Vermögen zu Grunde geht.“ 64
Die Einführung von Spruchmaschinen löst ferner das Problem der Rechtszersplitterung. Denn der Mechanismus der Spruchmaschine verlangt einen systematisch strukturierten formalen Code. Dies erleichtert zugleich die Herstellung von Öffentlichkeit, denn es spricht nichts dagegen, den Code öffentlich bekannt zu machen und auch die Maschine öffentlich zu betreiben. „Wären die Acten gehörig in Gegenwart der Partheien instruirt in die Maschine geworfen, so könnte ein ruhig abgewogenes unpartheiisches Erkenntniß unmöglich fehlen (…).“ 65
Transparenz und Berechenbarkeit der Rechtsprechung für die Bürger sind die Folge. Nun kann „jeder leicht selbst ermessen, was bestimmt Recht oder Unrecht sey, und sich vor Processen hüten, deren Erledigung nicht zu seinem Vortheile ausfallen dürfte.“ 66 Einzig eine Beibehaltung des schriftlichen Verfahrens ist erforderlich, da die Spruchmaschine nicht auf Zuruf arbeitet. Angesichts der Vorteile einer effizienten, unabhängigen und gerechten Rechtsprechung durch eine Be59 60 61 62 63 64 65 66
Ebd., 299f. Ebd., Anm. 300. Ebd., 299. Ebd., 297f. Ebd., 304. Ebd., 298. Ebd., 298f. Ebd., 299.
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schränkung menschlichen Einflusses auf die Festlegung des Codes und die technischen Aspekte von Betrieb und Wartung der Spruchmaschine ist dies ein Übel, das Jassoy bereitwillig in Kauf nimmt. Denn das eigentliche Urteilen, die Erkenntnis rechtlicher Wahrheit, bleibt subjektiven Einflüssen entzogen, wodurch Jassoy seine zentralen Forderungen realisiert: Das Privatrecht wird kodifiziert und vereinheitlicht, die Rechtsprechung wird verlässlicher und weniger willkürlich, das Verfahren wird öffentlich. Eine von Jassoy ebenfalls ohne Erläuterung der konkreten Funktionsweise ins Spiel gebrachte Variante der Spruchmaschine stellt die „Regierungsmaschine“ dar. Voraussetzung hierfür ist die Reduktion der Staatstätigkeit auf ein notwendiges Minimum, indem die Gesellschaft das Gros ihrer Angelegenheiten selbst regelt. Ohnehin habe der Staat zahlreiche Tätigkeiten an sich gezogen, „gleichsam nur, um etwas zu thun“, mit dem Ergebnis einer „Verschleifung und Verwirrung derselben.“ 67 Es ist daher das „ärgste Uebel unserer Zeit (…), daß darin zu viel regiert wird.“ Ohne dass sich „der eigentliche Regierungsstoff“ vermehrt hat, ist „die Beamtenzahl wenigstens auf das Dreifache gestiegen.“ 68 Entledigte sich der Staat aller überflüssigen Aufgaben, „so würden die eigentlichen Regierungs– und Verwaltungs-Geschäfte (…) noch viel leichter durch eine Regierungsmaschine besorgt werden können.“ Gleich dem Justizwesen könnte erheblich Personal eingespart werden, „somit also die höhere Staatsverwaltung nur ganz wenig Unterbehörden, diese nur einen Subalternen gebrauchen.“ 69 Bei den Oberbehörden der Verwaltung verbliebe „blos die Anordnung derjenigen Geschäfte (…), welche einen von dem immerwährenden Wechsel der Verhältnisse abhängigen wandelbaren Aufwand des Geistes erfordern.“ 70
4. Nach der Rekonstruktion des Jassoyschen Vorschlags einer Spruchmaschine bleiben zwei Fragen: Meint es Jassoy wirklich ernst mit der Spruchmaschine, und was können wir mit der Idee heute noch anfangen? Die Frage nach der Ernsthaftigkeit des Vorschlags stellt sich beinahe zwangsläufig in Anbetracht des tief von Satire durchzogenen Werkes Jassoys, das in der Tradition von Georg Christoph Lichtenberg und François Rabelais steht. 71 Satiri67 68 69 70 71
Ebd., 301f. Ebd., 130. Ebd., 301f. Ebd. Als Höhepunkte des satirischen Schaffens Jassoys können das zwischen 1826 und 1829 geschriebene, aber unveröffentlichte Manuskript der Fabel Das Thierreich und seine Revolution sowie der Kleine Orbis pictus für große Kinder in Knittelversen (Stuttgart 1831) gelten. Dirk Sangmeister, Ein Anwalt der Vernunft im Widerstreit mit Welt und Zeit. Anmerkungen zur politischen Aphoristik zwischen Spätaufklärung und Vormärz, in: Jassoy, Man muß erstlich wissen, 59f.
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sche Bezugnahmen auf Mechanisierung und Maschinen finden sich denn auch andernorts bei Jassoy. 72 Zwei gegensätzliche Interpretationen bieten sich daher an: Einerseits könnte der Vorschlag einer Spruchmaschine – im eingangs diskutierten Gleichnis gesprochen – die Funktion eines vom Arzt zur möglichst akkuraten Diagnose verabreichten Kontrastmittels haben. Denn nur, „wenn die Krankheiten vorher genau erkannt worden, kann man auf Heilmittel denken, und ist Besserung der Patienten zu hoffen!“ 73 Die Rede von der Spruchmaschine wäre dann vor allem eine satirische Herabwürdigung überbordender Geltungsbedürfnisse von Richtern, Referenten und Professoren. Rechtsprechung, so zeigte schon die Denkmöglichkeit einer Spruchmaschine, ist nicht anspruchsvoller als die Herstellung von Papier oder das Weben von Stoffen und umso unerklärlicher sind die von Jassoy kritisierten Missstände. Richter und Referenten wären dann nicht mehr als veraltete und verschlissene Maschinen, die dringend durch neue, zuverlässigere ersetzt werden müssten. 74 Vielleicht wusste Jassoy gar um den Betrug der Schachmaschine, wodurch der Vergleich von Schachandroiden und Richtertätigkeit ebenfalls wenig schmeichelhaft ausfällt. Die Satire erfüllte damit wie auch andernorts bei Jassoy die Funktion einer schonungslosen Aufdeckung herrschender Verhältnisse als notwendige Voraussetzung zu deren Besserung. 75 Jassoy selbst sagt: „Eine ernstliche Widerlegung der menschlichen Thorheiten steigert nur den Widerstand derjenigen, welche dabei gewinnen, und verlängert dadurch ihre Dauer, während das Salz des Witzes dieselben schnell auflöst!“ 76
Andererseits könnte die Spruchmaschine aber auch eine besonders erfolgversprechende Therapie bezeichnen, die Vernunft, Wahrheit und Gerechtigkeit zu mehr Geltung in der Rechtspflege verhilft. Denn neben dem Hang zur Satire sind die Aphorismen Jassoys auch durch dieses Anliegen gekennzeichnet. Es dürfte daher nicht Jassoys Absicht gewesen sein, die Forderung nach Vernunft, Wahrheit und Gerechtigkeit in der Rechtspflege durch einen ganz und gar abwegigen Vorschlag vorsätzlich der Lächerlichkeit preiszugeben. Die Spruchmaschine könnte also Jassoys Überzeugung Ausdruck verleihen, dass Gerechtigkeit in der Rechtspflege 72 Jonathan Kurzrock [Ludwig Daniel Jassoy], Welt und Zeit. Theil 4, Germanien [Berlin / Heidelberg] 1819, 217–224. Weitere Nachweise bei Wicht, Ludwig Daniel Jassoy, 87f. 73 [Jassoy], Aphorismen, VIf. 74 Die These, dass Menschen nicht mehr als schlechte Maschinen seien, formulierte bereits der französische Aufklärer Julien Offray de La Mettrie in seinem 1748 anonym erschienen Werk L’Homme Machine. Vgl. Ernst Strouhal, Uhrwerk und Schachspiel. Zur Motivgeschichte des Bildes der intelligenten Maschine, in: Brigitte Felderer (Hg.), Wunschmaschine Welterfindung. Eine Geschichte der Technikvisionen seit dem 18. Jahrhundert, Wien / New York 1996, 453f. 75 Eine weitere Funktion der Maschinen-Satire könnte die Kritik organizistischer romantischer Vorstellungen von Staat und Gesellschaft sein, denen Jassoy ablehnend gegenüber stand. Wicht, Ludwig Daniel Jassoy, 148–160. Vgl. Wolfgang Müller-Funk, Die Maschine als Doppelgänger. Romantische Ansichten von Apparaturen, Automaten und Mechaniken, in: Felderer, Wunschmaschine, 494–497, 501–504. 76 [Jassoy], Aphorismen, 29.
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möglich und folglich ein Gebot der Vernunft ist, eine Voraussetzung hierfür aber die objektive Erkenntnis gesetzlicher Wahrheit durch Maschinen bildet. Einen weiteren Anhaltspunkt für die Ernsthaftigkeit des Vorschlags bietet das offensichtliche Anknüpfen Jassoys an Diskurse der Frühaufklärung über mechanische Naturgesetze und deren Nutzbarmachung durch Maschinen. 77 So wurden bereits im 18. Jahrhundert unter anderem Richter– und Verwaltungsmaschinen konzipiert. 78 Und auch die Analogie von Schachspiel und Rechtsprechung kann auf eine längere Tradition „als Modell der rationalen Beherrschung der Welt“ 79 durch Erkenntnis zwingender Kausalitäten zurückblicken. Jassoys Aphorismen sind damit auch für die politische Ideengeschichte relevant, indem Jassoy eine Brücke von der mechanistischen Metaphorik der Frühaufklärung zum Fortschrittsoptimismus und den technischen Innovationen des 19. Jahrhunderts schlägt. Die Rede von Justiz– und Verwaltungsmaschinen verliert bei Jassoy ihre vormals metaphorische Bedeutung und wird zu einem wörtlich zu verstehenden Vorschlag. Damit ist Jassoy auch aus heutiger Perspektive noch interessant, denn seine Spruchmaschine ist an verwaltungs– und rechtswissenschaftliche Diskurse über Datenverarbeitung, Automatisierung und Kybernetik im Bereich von Justiz und Verwaltung anschlussfähig. Dies sei abschließend kurz erläutert. Seit den Zeiten Jassoys haben die Aufgaben und Kompetenzen von Rechtsprechung und Verwaltung kontinuierlich zugenommen. Infolge dessen ist der Umfang zu bewältigender Daten und Informationen stetig gestiegen. In den Anfangsjahren der Bundesrepublik wurde daher von einer „Informationskrise“ 80 gesprochen, die das Auseinanderklaffen der Quantität verfügbarer Informationen und der Möglichkeit ihrer angemessenen Bearbeitung durch Justiz und Verwaltung bezeichnet. Die Einführung von Computern in Justiz und Verwaltung und die damit verbundene elektronische Archivierung und Dokumentation von Daten bis hin zu vollständig automatisierten Prozessen waren eine Antwort auf die Informationskrise. Eine Automatisierung der Rechtsprechung wird seitdem kontrovers diskutiert. 81 Bemerkenswert ist nun, dass die Befürworter einer juristischen Entscheidungsautomation auf Argumente zurückgreifen, die bereits Jassoy zur Propagie-
77 So etwa die Leibnizsche Kindmaschine. Strouhal, Uhrwerk, 447–452. 78 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats, Berlin 1986; Andreas Anter, Verwaltung und Verwaltungsmetaphorik. Der lange Weg der Maschine, in: Peter Collin / Klaus-Gert Lutterbeck (Hgg.), Eine intelligente Maschine? Handlungsorientierungen moderner Verwaltung (19./20. Jh.), BadenBaden 2009, 28–32. 79 Strouhal, Uhrwerk, 455. 80 Svenja Lena Gräwe, Die Entstehung der Rechtsinformatik. Wissenschaftsgeschichtliche und -theoretische Analyse einer Querschnittsdisziplin, Hamburg 2011, 40. 81 Vgl. Jon Bing, Computers and Law: Some beginnings, in: Information Technology 49/2007, Heft 2, 71–82; Thomas Jandach, Juristische Expertensysteme. Methodische Grundlagen ihrer Entwicklung, Berlin u. a. 1993.
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rung von Spruch– und Regierungsmaschine 82 dienen: Effizienzgewinne, Kostensenkungen sowie Vereinheitlichung und Systematisierung durch eine „automationsgerechte Gesetzgebung.“ 83 Auch das Jassoysche Verfahren – der Mensch ist für die Formulierung des Entscheidungscodes sowie die Auswahl und Einspeisung relevanter Informationen in den Entscheidungsautomaten verantwortlich, die eigentliche Entscheidung fällt die Maschine aber ohne menschliches Zutun – kann in der Diskussion angetroffen werden. 84 Freilich haben sich die besonders während der 1950er und 1960er mit einer Automation der Rechtsprechung verbundenen Hoffnungen bis heute nicht erfüllt. Einerseits hat sich die automationsgerechte Aufbereitung selbst scheinbar einfacher juristischer Fälle als problematisch erwiesen, andererseits sind die Befürworter einer solchen Automation seit Beginn der Diskussion in der Minderheit. 85 Jassoys Vorschlag einer Spruchmaschine ist also mehr als ein ideengeschichtliches Kuriosum, seine Implikationen reichen über den Vormärz hinaus. Zwar hat Jassoy zu den technischen Details und Abläufen einer automatisierten Rechtsprechung kaum etwas beizutragen, doch könnte er einen Weg weisen, wie dem „Theoriedefizit“ 86 einer vorrangig von technischen oder juristischen Experten in fachlichen Nischen geführten Diskussion begegnet werden könnte. Denn Jassoy macht nicht allein auf kostensenkende Effizienzgewinne durch Mechanisierung und Automatisierung aufmerksam. Vielmehr ist sein stärkstes Argument die leidenschafts– und vorurteilslose Erkenntnis der Wahrheit des Gesetzes durch eine automatisierte Rechtsprechung als Gebot der Vernunft. Mit Jassoy lassen sich somit Vernunft, Wahrheit und Gerechtigkeit als zentrale Prämissen der Aufklärung für eine Diskussion aktualisieren, die angesichts einer fortschreitenden Entwicklung immer leistungsfähigerer datenverarbeitender Systeme eher am Anfang denn am Ende steht. Ob es allerdings wünschenswert ist, dass Vernunft, Wahrheit und Gerechtigkeit zugunsten von Maschinen und zulasten menschlicher Freiheit wieder in die Offensive gelangen, steht auf einem anderen Blatt.
82 Vgl. Hans Peter Bull, Verwaltung durch Maschinen, Köln 1964; Spiros Simitis, Automation in der Rechtsordnung – Möglichkeiten und Grenzen, Karlsruhe 1967; Fritjof Haft, Nutzenanwendung kybernetischer Systeme im Recht, München 1968. 83 Gräwe, Entstehung, 117. 84 Ebd., 113–115. 85 Exemplarisch sei die lapidare Feststellung des Staatsrechtlers Christoph Möllers angeführt: „Gerichte [sind] keine Falllösungsautomaten.“ Christoph Möllers, Die drei Gewalten. Legitimation der Gewaltengliederung in Verfassungsstaat, europäischer Integration und Internationalisierung, Weilerswist 2008, 103. 86 Gräwe, Entstehung, 244.
MORITZ RITTINGHAUSEN – EIN DEUTSCHER ROUSSEAU? Vergleichende Überlegungen zur Idee einer direkten Gesetzgebung durch das Volk Philipp Erbentraut, Düsseldorf Einleitung Man stelle sich vor: Es ist Demokratie und alle gehen hin. Gesetze werden nicht länger im Parlament gemacht, sondern von allen Bürgern gemeinsam beraten und beschlossen. Überhaupt, es gibt keine Vertreter mehr, sondern nur noch mündige Staatsbürger, die alle ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. So verstehen und betätigen sie sich erstmals wirklich als die Autoren jener Rechte, denen sie sich als Adressaten derselben unterwerfen wollen. Das gesamte politische Leben vereinfacht sich spürbar. Fast fühlt es sich an, als bedürften die Menschen überhaupt keiner Regeln mehr. Die Korruption versiegt, der Staat floriert, allen geht es besser. Eine kindische Utopie? Eher die Vollendung der Aufklärung, meinte der deutsche Radikaldemokrat Moritz Rittinghausen (1814–1890). Mit seinen Vorstellungen zur direkten Demokratie erregte der Rheinländer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Phantasie seiner europäischen Zeitgenossen. Konkret ging es ihm darum, Rousseaus attisches Ideal einer vom Gemeinwillen gelenkten Stadtrepublik auf die großen Flächenstaaten der Neuzeit zu übertragen. Seine Mitbürger versuchte er damit an den aufklärerischen Grundsatz zu erinnern, nur solche Gesetze als legitim anzuerkennen, die sie sich – und zwar buchstäblich – selbst gegeben haben. Mit Volksgesetzgebung waren hier folglich nicht jene Mittel und Methoden gemeint, mit denen etwa heutzutage das repräsentative Gesetzgebungsverfahren auf kommunaler und auf Landesebene ergänzt werden (Volksbegehren, Volksentscheid), sondern eine gänzlich antiparlamentarische, komplett direktdemokratische Systemalternative, bei der permanent das gesamte Staatsvolk zusammentreten und entscheiden sollte. Dies war mehr als eine verrückte Idee. Es war, wie Thomas Stamm-Kuhlmann vielleicht anerkennend sagen würde, die „Exekution eines aufklärerischen Programms.“ 1 Die Rekonstruktion und Erörterung dieses raffinierten Konzepts hat der Aufsatz zum Thema. Nach einer (1) kurzen biographischen Skizze geht es (2) um die
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Thomas Stamm-Kuhlmann, Wo bleibt die Aufklärung? Unser entspannter Umgang mit der Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Religions– und Geistesgeschichte 56/2004, Heft 2, 104.
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organisatorische Umsetzung der direktdemokratischen Ideale Rittinghausens. Sodann folgen (3) einige vergleichende Überlegungen zur Gesetzgebung durch das Volk bei Rittinghausen und Rousseau. Abschließend soll die Idee der direkten Volksgesetzgebung auf mögliche Anregungspotenziale für die aktuelle Debatte um die „radikale Demokratie“ geprüft werden. 1. Leben und Wirkung Erstmals in Erscheinung trat Moritz Rittinghausen auf dem Brüsseler Freihandelskongresses im Jahr 1847, wo er gleich nachhaltigen Eindruck auf Friedrich Engels hinterließ, und zwar einen miserablen. Rittinghausen 2, ließ Engels das Publikum damals wissen, habe „einen unendlich langweiligen Aufsatz zur Verteidigung des Schutzsystems“ 3 vorgelesen. Mithin handle es sich bei diesem „deutschen Protektionisten“ um einen „im allgemeinen faden Kerl.“ 4 Politisch und publizistisch war Rittinghausen in dieser Zeit großer atmosphärischer Spannungen enorm aktiv. Er tourte unermüdlich durch die diversen politischen Klubs und Klübchen der Szene, wurde bald „einer der bekanntesten Redner am Rhein“ 5 und gehörte im Frühjahr 1848 als Abgeordneter dem Frankfurter Vorparlament an. Gleichzeitig war er Mitglied der Demokratischen Gesellschaft in Köln, der dann auch Marx und Engels beitraten und die Gründung einer Zeitung vorbereiteten. Rittinghausen erinnert sich so: „Ich war im Jahre 1848 unter den Gründern seiner (Marx’) Neuen Rheinischen Zeitung, hatte vielfachen persönlichen Umgang mit ihm und seinen Freunden und unterstützte oder bekämpfte seine Bestrebungen, je nachdem sie richtig oder – wie meistens der Fall – verkehrt waren. Ja, ich habe sogar einmal auf sein Ansuchen eine ihn Mitte 1848 (…) treffende Ausweisung rückgängig zu machen gewußt.“ 6
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Zur Biographie Rittinghausens vgl.: Peter Barth, Zur Idee und Ausgestaltung der direkten Gesetzgebung durch das Volk im Lebenswerk des Moritz Rittinghausen, o. O. 1994 (unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Bremen). Dies ist die einzige größere wissenschaftliche Arbeit über Rittinghausen, die mir bekannt ist. Ich danke dem Verfasser Peter Schlefsky (geb. Barth) für die freundliche Überlassung des Manuskripts; Ulrike Fäuster, Moritz Rittinghausen (1814– 1890). Politik für Köln und Solingen, in: Die Heimat. Beiträge zur Geschichte Solingens und des Bergischen Landes 25/2009/2010), 53–69; Friedrich Albert Lange, Über Politik und Philosophie. Briefe und Leitartikel 1862 bis 1875, herausgegeben und bearbeitet von Georg Eckert, Duisburg 1968, 140–147; Rolf Schaberg, Rittinghausen, ein Demokrat reinster Prägung, in: Die Heimat, Beilage zum Solinger Tageblatt, Mitteilungsblatt des Bergischen Geschichtsvereins, Abteilung Solingen 24, Nr. 8 (August 1958), 29–30; Biographisches Vorwort der Familie Rittinghausen, in: Moritz Rittinghausen, Die direkte Gesetzgebung durch das Volk, Zürich 5 1893, v–xx. Friedrich Engels, Der ökonomische Kongreß (1847), in: Marx Engels Werke 4, Berlin 1974, 291–295 (293). Friedrich Engels, Der Freihandelskongress in Brüssel (1847), in: Marx Engels Werke 4, Berlin 1974, 299–308 (300). Biographisches Vorwort, viii. zitiert nach Fäuster, Moritz Rittinghausen, 55.
Moritz Rittinghausen – Ein deutscher Rousseau?
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Nach dem Scheitern der Revolution exilierte Rittinghausen nach Paris und später weiter nach Belgien. 1858 kehrte er nach Köln zurück, wo er bald regen Anteil am Aufschwung der deutschen Arbeiterbewegung nahm. Zum 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein blieb er gleichwohl auf Distanz. Die hierarchische, ganz an ihrem Präsidenten Ferdinand Lassalle ausgerichtete Struktur der jungen Partei behagte ihm nicht. Zudem hielt er den alleinigen Kampf für das allgemeine Wahlrecht für einen frühsozialistischen Spleen. Lassalle behandelte er deshalb von oben herab, als „einen Mann, der es recht gut meine, aber abgetane Rezepte wieder aufwärme und noch nicht begriffen habe, daß die direkte Gesetzgebung durch das Volk das Allheilmittel sei.“ 7
Trotz seiner lebenslangen Skepsis Parlamenten gegenüber kandidierte Rittinghausen 1877 und 1881 erfolgreich für den Reichstag. Er blieb jedoch ein Einzelgänger. 1883 wurde er aus der sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen, da er sich als „Demokrat reinster Prägung“ 8 der strengen Parteidisziplin nicht beugen wollte und auch die Fraktionssitzungen nicht mehr besuchte. 1890 starb Rittinghausen im belgischen Ath, wo er, bereits schwer erkrankt, die letzten Lebensjahre verbracht hatte. Franz Mehring würdigte Rittinghausen nach dessen Tod als alten Fahrensmann der Revolution und tüchtigen Achtundvierziger, „der noch etwas von dem utopistischen Hange des vormärzlichen Sozialismus bewahrt hatte.“ 9 Andere gaben sich noch zu Lebzeiten des Querdenkers unversöhnlich: „An Rittinghausen war schon 48 nichts“, deklarierte Engels in einem Brief an August Bebel: „er ist nur Sozialist pro forma, um mit unsrer Hülfe seine direkte Volksregierung durchzusetzen. Da haben wir doch Besseres zu tun.“ 10 „La dèmocratie pure ou le gouvernement direct“? Über diese „Erfindung von Rittinghausen“ konnte Marx nur lachen – „aboutit à l’impossible et à l’absurde.“ In einer dergestalt auf die Spitze getriebenen Staatsidee trete ihr ganzer „nonsense“ hervor. 11 Unmöglich, absurd, unsinnig – damit waren die später immer wieder formulierten Einwände gegen Rittinghausens revolutionäre Pläne früh umrissen. Innerhalb der deutschen Sozialdemokratie jedoch fanden seine Thesen zeitweise solchen Anklang, dass der Kampf um Einführung direktdemokratischer Instrumente Teil der offiziellen Parteistrategie wurde, wie die Theorieteile sämtlicher Parteiprogramme von Eisenach bis Erfurt belegen. Jenen „Social-Demokraten, welche der
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So Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Band 2: Von Lassalles „Offenem Antwortschreiben“ bis zum Erfurter Programm 1863–1891, Berlin 21976, 59. 8 Schaberg, Rittinghausen, 29. 9 Mehring, Geschichte der Sozialdemokratie 2, 256f. 10 Brief Friedrich Engels an August Bebel vom 10. Mai 1883, in: Marx Engels Werke 36, Berlin 1973, 25f. 11 Brief Karl Marx an Friedrich Engels vom 8. August 1851, in: Marx Engels Werke 27, Berlin 1973, 299.
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direkten Gesetzgebung durch das Volk den Rücken kehren“ wollten, orakelte Rittinghausen düster, dass sie „allen Halt verlieren und im Sumpfe der Reaction untergehen müssen.“ 12 Anlässlich dieser unübersehbaren Erfolge des direktdemokratischen Gedankens sah sich kein Geringerer als Karl Kautsky, der Chefideologe der SPD vor dem Ersten Weltkrieg, zu einer längeren Klarstellung bezüglich der richtigen Lesart einschlägiger Textpassagen des Erfurter Programms genötigt: „Von der direkten Gesetzgebung durch das Volk dürfen wir hier absehen. Sie kann, wenigstens in einem modernen Großstaat (…) das Parlament nicht überflüssig machen, sie kann höchstens neben demselben in Einzelfällen zur Korrigirung desselben in Thätigkeit treten. Die gesammte staatliche Gesetzgebung durch sie besorgen zu lassen, ist absolut unmöglich (…) So lange der moderne Großstaat besteht, wird der Schwerpunkt der politischen Thätigkeit stets in seinem Parlament liegen.“ 13
Keine Ansicht konnte Rittinghausen ferner liegen. 14 Er hasste das Parlament, verunglimpfte es als „Wort-Klappermühle“ 15 oder „Kerker der socialen Intelligenz“16 und kämpfte dafür, „das Prinzip der direkten Gesetzgebung in seiner vollen Reinheit“ und ohne „Beimischung geduldeter Reste“ 17 des Repräsentativsystems durchzusetzen. Nicht lediglich als Korrektiv oder als Mittel zur bloßen Verbesserung der bestehenden Gesellschaft dürfe die direkte Gesetzgebung durch das Volk aufgefasst werden; „sie soll aus dieser Ordnung in eine andere hinüberleiten, ihr dann den Gnadenstoß geben und an ihrer Stelle eine auf ganz andern und richtigen Rechtsanschauungen gegründete neue Gesellschaft aufrichten.“ 18
Wie sah besagte Lehre zur Umwälzung von Staat und Gesellschaft nun im Einzelnen aus? 2. Die direkte Gesetzgebung durch das Volk Rittinghausens bekannteste Schrift trägt den programmatischen Titel Die direkte Gesetzgebung durch das Volk. Die fünf Kapitel des Bandes erschienen zuerst in den Jahren 1868 bis 1872 unter dem Titel Sozialdemokratische Abhandlungen. Im Fol-
12 Moritz Rittinghausen, Widerlegung der gegen die direkte Gesetzgebung durch das Volk gerichteten Einwürfe (1872), in: Ders., Die direkte Gesetzgebung durch das Volk, Köln 41877, 224. 13 Karl Kautsky, Das Erfurter Programm in seinem grundsätzlichen Theil, 21892, 220f. 14 Vgl.: Wolfgang Mantl, Eine frühe Weichenstellung zwischen Parlamentarismus und direkter Demokratie. Die Auseinandersetzung Kautskys mit Rittinghausen im Jahre 1893, in: Ders., Politikanalysen. Untersuchungen zur pluralistischen Demokratie, Wien u. a. 2007, 143–166. 15 Rittinghausen, Widerlegung, 209. 16 Rittinghausen, Widerlegung, 214. 17 Moritz Rittinghausen, Ueber die Organisation der direkten Gesetzgebung durch das Volk (1870), in: Ders., Gesetzgebung, 133. 18 Rittinghausen, Organisation, 129.
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genden wird hier hauptsächlich aus der 4., 1877 in Köln erschienenen Auflage zitiert. Das erste Heft enthält eine recht eigenwillige ideen– und ereignisgeschichtliche Auseinandersetzung mit der direkten Demokratie bei den alten Germanen. Die zweite Abhandlung ist der jüngeren französischen Geschichte gewidmet und zwar hauptsächlich der Zeit der Zweiten Republik bis zum Staatsstreich Napoleons III. Das dritte Kapitel umfasst eine detaillierte Kritik des Repräsentativsystems, das vierte Rittinghausens radikaldemokratischen Gegenentwurf in Form direkter Volksgesetzgebung. Im abschließenden fünften Abschnitt geht der Autor auf einige seiner Gegner ein und versucht drei der Haupteinwände (Unreife und Zeitmangel des Volkes, Forderung völliger Herrschaftsfreiheit) zu widerlegen. Seine Entdeckung, meinte Rittinghausen, lasse sich so zusammenfassen, „daß die social-demokratische Republik in der Abschaffung des Repräsentativ-Systems und in der Einführung der direkten Gesetzgebung durch das Volk besteht. Die Ehre, diese Wahrheit zuerst und unaufhörlich verkündet zu haben, darf ich ohne Anstand für mich in Anspruch nehmen.“ 19
Erstmalig habe er sein Projekt während der Revolution in einer Sitzung der Demokratischen Gesellschaft in Köln vorgestellt: „Ich wolle, sagte ich, eine für Jedermann verständliche Definition geben. Die social-demokratische Republik sei die Abschaffung des Repräsentativ-Systems und die Einführung der direkten Gesetzgebung durch das Volk. Nachdem ich diese Idee unter dem feierlichen Schweigen der Versammlung entwickelt hatte, fand in den folgenden Sitzungen des Vereins eine geordnete Debatte statt, in welcher die direkte Gesetzgebung von den Vorstands-Mitgliedern lebhaft aber ohne Erfolg bekämpft wurde.“ 20
Zu den hoffnungslos unterlegenen Diskutanten zählten freilich auch Marx und Engels… Indes: Demokratische Selbstgesetzgebung war keine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Sie stammt natürlich auch nicht von Rittinghausen. Jeder Oberstufenschüler weiß, dass die Griechen und Römer schon vor weit mehr als 2000 Jahren Formen der direkten Demokratie praktizierten. Rittinghausen selbst verweist auf die Thingversammlungen der Germanen und lobt die legislativen Volksversammlungen in einigen Kantonen der Schweiz. Worauf also gründete sich der selbstbewusste Entdeckerstolz des Autors? Die Antwort liefert das vierte Kapitel seines Buches, das die akribisch ausgetüftelte Bauanleitung eines direktdemokratisch organisierten und sozial gerechten Idealstaates enthält. Der eigentliche Clou des Werks besteht mithin in der Ausbuchstabierung von politischen Verfahrensweisen, die eine Übertragung der antiken, traditionell auf kleine, relativ homogene Gemeinwesen beschränkten unmittelbaren Demokratie auf neuzeitliche Flächenstaaten mit arbeitsteiliger Massenbevölkerung möglich und plausibel machen sollten.
19 Rittinghausen, Ueber die Notwendigkeit der direkten Gesetzgebung durch das Volk (1869), in: Ders., Gesetzgebung, 65. 20 Rittinghausen, Notwendigkeit, 69.
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Zu diesem Zweck forderte Rittinghausen als ersten Schritt die Monopolisierung der Gesetzesinitiative beim Volk. Denn: „Besser als jede einzelne Person, besser als jede Korporation oder als jeder Stand ist es in der Lage, zu begreifen, was in seinem, d. h. im allgemeinen Interesse geschehen und wie es geschehen muß.“ 21
Kommissionen zur Ausarbeitung der Entwürfe können nicht geduldet werden. Sie würden nur der Durchsetzung bestimmter Partikularinteressen dienen, den wahren Volkswillen verfälschen und die Bürger zu passiven Abnickern fremder Vorlagen degradieren. Es sei aber elementar für die Demokratie, „daß die Nation sich selbst die von ihr zu entscheidenden Fragen stellt.“ 22 Sobald ein bestimmtes, gesetzlich näher festzulegendes Quorum erreicht ist, wird aus der Initiative einiger Staatsbürger ein offizieller Gesetzesantrag. Die aus direkter Urwahl hervorgegangene Regierung (das „Ministerium“) hat dann die Pflicht, das Volk einzuladen, an einem bestimmten Tag über die Vorlage zu beraten und abzustimmen. Dazu wird das gesamte Volk in sogenannte „Sektionen“ von jeweils etwa 1000 Köpfen eingeteilt. Sektionen hießen die räteähnlichen, basisdemokratischen Bürgerversammlungen in der Französischen Revolution. Sie sollen in einem geeigneten „Lokale“ tagen, „sei es eine Schule, Kirche, in einem Rathhause oder anderm öffentlichen Saale.“ 23 Unausgesprochen bleibt, wer ihre Einteilung vornimmt und nach welchen Kriterien sie erfolgt – etwa territorial, nach Berufen oder unter einem ganz anderen Gesichtspunkt, auch ob die Bildung dauerhaft oder spontan sein soll. Nicht einmal, ob Frauen zu den Versammlungen zugelassen sind, verrät der Verfasser. Jede Sektion wählt zu Beginn der Sitzung einen Vorsitzenden, der die Debatte in streng vorgeschriebener Weise zu gliedern und zu leiten hat. Zuerst ist stets „das der vorliegenden Gesetzgebungs-Materie zu Grunde zu legende Prinzip“, also das Kernproblem, zu erörtern. Anschließend kommen die „untergeordneten Fragestellungen“ 24 an die Reihe: „Glaubt man nun, daß es unter solchen Umständen dem Vorsitzenden irgend einer Sektion schwer fallen könnte, in derselben die Prinzipien-Frage richtig zu stellen? Glaubt man, daß – wenn die Letztere Anfangs unrichtig gestellt sein sollte – von den Sektions-Mitgliedern nicht Zurechtweisung erfolgen (…) würde?“ 25
Alle Anwesenden sind rede– und stimmberechtigt. Ist die Debatte geschlossen, gibt jeder Bürger sein Votum ab. Entschieden wird durchgängig nach dem Mehrheits-
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Rittinghausen, Organisation, 135. Rittinghausen, Organisation, 153. Rittinghausen, Organisation, 136. Rittinghausen, Organisation, 137. Rittinghausen, Organisation, 142.
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prinzip, denn wo verschiedene Interessen aufeinandertreffen, kann es niemals Einstimmigkeit geben. 26 Selbst ein berühmter Philosoph wie Kant habe diese Wahrheit übersehen. 27 Nach der Abstimmung leitet der Vorsitzende das Sektionsergebnis an den Bürgermeister weiter, der wiederum das Resultat der Abstimmungen aller Sektionen seiner Gemeinde festzustellen und an die Kreis– oder Bezirksebene zu melden hat. Von hier aus werden die Ergebnisse schließlich an die Regierung übermittelt, die – „natürlich immer unter scharfer Kontrolle“ des Volkes – das Gesamtergebnis feststellt und „durch das amtliche Preßorgan zu verkünden hat.“ 28 In einer früheren, französischen Ausgabe erwähnt Rittinghausen noch eine Redaktionskommission. Diese werde aus den eingelaufenen Daten einen klaren und einfachen Gesetzestext redigieren, der zudem den Vorteil genieße, dass er keine verschiedenen Interpretationen zulasse, wie dies beim Großteil der heutzutage von Parlamenten verabschiedeten Gesetze der Fall sei, von denen man den Eindruck erhalten könne, sie strebten absichtlich danach, die Neigung der Juristen für Zweideutigkeiten zu begünstigen. 29 Nach der Veröffentlichung des vorläufigen amtlichen Endergebnisses folgt dann noch die „Wiederaufnahme und Weiterführung der Debatte“ über untergeordnete Teilaspekte in denjenigen Sektionen, die in der Prinzipienfrage ursprünglich anders als die Mehrheit entschieden und somit die Feststellung des allgemeinen Interesses offenkundig verfehlt haben. 30 So werde sich die gesamte Gesetzgebung „in organischer Weise aus dem Volk selbst entwickeln.“ 31 Die abenteuerliche Naivität und technische Unausführbarkeit all dieser Vorstellungen sind in der Rezeptionsgeschichte von Rittinghausens Werk immer wieder bemängelt worden. In ihrer simplifizierenden „Schablonenhaftigkeit“ sei die vorgeschlagene Form der Rechtserzeugung der Komplexität einer modernen Produktionsweise mit ihren „hunderterlei Kombinationen“ 32 einfach nicht gewachsen, monierte zum Beispiel Kautsky. Diese Methode werde die Gesetzgebung nicht vereinfachen, sondern unrettbar verwirren: „Die Uebertragung der gesetzgebenden Arbeit von einer Versammlung an zehntausend, die neben einander und unabhängig von einander thätig sind, könnte nur ein Resultat haben: das Chaos.“ 33
Auch Robert Michels, der Rittinghausens Vorschläge in seiner Parteiensoziologie ausführlich diskutierte, war skeptisch. In der Praxis biete das entworfene Verfahren 26 Diese Verbindung der freien Diskussion mit dem Mehrheitsprinzip ähnelt auf interessante Weise dem prozeduralen Verständnis von Volkssouveränität bei Julius Fröbel. Vgl.: Philipp Erbentraut, Volkssouveränität. Ein obsoletes Konzept? Marburg 2009, 77ff. 27 Rittinghausen, Widerlegung, 236. 28 Rittinghausen, Organisation, 137. 29 Vgl. Moritz Rittinghausen, La législation directe par le peuple, et ses adversaires, Brüssel u. a. 1852, 26. 30 Rittinghausen, Organisation, 151. 31 Rittinghausen, Organisation, 133. 32 Karl Kautsky, Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Sozialdemokratie, Stuttgart 1893, 60. 33 Kautsky, Parlamentarismus, 61.
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keine ausreichende Gewähr gegen die Entstehung oligarchischen Führertums. In ihrer Eigenschaft als Masse sei die Volksversammlung nämlich in besonderer Form der Gefahr ausgesetzt, der gewaltigen Redemacht von Demagogen zu erliegen.34 Gleichwohl würdigte Michels die Grundidee als „geniales System“ und ersten großen Versuch, der direkten Volksgesetzgebung eine „reale Basis“ zu geben. 35 Schließlich konstatierte Ernst Fraenkel, Rittinghausen nehme in der Reihe der „Propheten einer parlamentslosen unmittelbaren Volksherrschaft (…) eine hervorragende Stelle ein.“ 36 Damit rückt Fraenkel Rittinghausen implizit in die Nähe Rousseaus und wirft gleichzeitig die Frage einer geistigen Wahlverwandtschaft zwischen beiden Autoren auf. Also: War Rittinghausen ein deutscher Rousseau? Die Gegenüberstellung der wichtigsten Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Selbstgesetzgebung des Volkes soll im Folgenden eine Antwort liefern. 3. Ein deutscher Rousseau? Zugegeben, die Frage nach dem deutschen Rousseau trägt entschieden rhetorischen Charakter und dient in erster Linie der Dramaturgie. Sie ist aber darüber hinaus nützlich als heuristische Navigationshilfe, um Reichweite und Grenzen der direktdemokratischen Visionen Rittinghausens vor dem Hintergrund einschlägiger Überlegungen seines bei weitem bedeutenderen Vorgängers präziser verorten zu können. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) zählt in der Geschichte des politischen Denkens unbestritten zu den echten Klassikern. Würdigungen seines Lebens, des Werkes sowie seiner ungeheuren Wirkungsgeschichte sind Legion. Kürzlich wurde der Meisterdenker wieder anlässlich seines 300. Geburtstags mit einer Flut neuer Publikationen und Konferenzen von Sao Paulo bis Greifswald gefeiert. Rousseau hat tiefe Spuren hinterlassen, in der Philosophie und Literatur, der politischen Theorie und Pädagogik, aber auch in Naturkunde oder Musik. Dagegen ist Rittinghausens Gesichtskreis monothematisch auf den Modus der Gesetzgebung verengt. Seine Argumentation ist assoziativ, nicht analytisch, häufig unsystematisch und redundant, der Stil im Ganzen verschwurbelt und nicht frei von Manierismen. Er war „augenscheinlich mehr Politiker und Journalist, als Forscher“ 37, wie schon ein früher Rezensent treffend bemerkte. Was ihren ideengeschichtlichen Rang angeht, spielen die beiden Autoren nicht in derselben Liga. Rittinghausen war kein Rousseau. Das wollte er auch gar nicht sein. Allein die Andeutung, er stehe diesbezüglich in einer gewissen Traditionsli-
34 Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens (1911), Stuttgart 1989, 28f. 35 Michels, Soziologie des Parteiwesens, 27. 36 Ernst Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, Tübingen 1958, 44. 37 Edmund Bernatzik, [Rezension zu:] Rittinghausen, Moritz: Die direkte Gesetzgebung durch das Volk. Fünfte Auflage. Zürich 1893, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 21/1897, 324–330 (325).
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nie, hätte der selbstbewusste Rheinländer wahrscheinlich als Beleidigung aufgefasst und empört zurückgewiesen. Die Frage der geistigen Führungsrolle beantwortete Rittinghausen auf eigene Art. Ein kleiner Teil der französischen Demokratie, so beschwerte er sich im Schlusskapitel seines Buches, habe die Schwäche, „das Auffinden und die Bearbeitung der revolutionären Ideen als Monopol Frankreichs zu betrachten.“ 38 Dies sei eine Torheit, die man belächeln könnte, würde sie sich nicht regelmäßig zum Nachteil der gesamten Menschheit auswirken. So auch im Fall von Rousseau, der von aller Welt fälschlicherweise als Vater der direkten Gesetzgebung durch das Volk angesehen werde. In Wirklichkeit sei der Genfer aber nicht nur nicht der Vater dieser Idee, er habe ihrer Durchsetzung im Gegenteil „nur geschadet.“ 39 „Wenn vor 80 Jahren ein Physiker erklärt hätte, es sei nicht möglich, sich der Elektrizität zur Zeichengebung zu bedienen: dürfte man dann heute behaupten, er sei der Erfinder der elektrischen Telegraphie?“ 40
Der kleinen Boshaftigkeit zum Trotz lassen sich in der jeweiligen Argumentation für die direkte Demokratie doch einige Parallelen identifizieren. 3.1 Gemeinsame Basis: Kritik des Repräsentativsystems Die offenkundigste Gemeinsamkeit zwischen beiden Autoren stellt ohne Zweifel die kompromisslose Ablehnung des Repräsentativsystems dar. Rittinghausen widmete diesem Thema innerhalb seines Hauptwerks sogar eine eigene Abhandlung. 41 Seine Kritik der Repräsentation ist stark polemisch, aber komplex und teilweise durchaus bedenkenswert. So wird er heute zumindest als „antiparlamentarischer Theoretiker von einiger Bedeutung“ 42 noch wahrgenommen. Rittinghausen betrachtet die Repräsentativverfassung als „eine Entartung politischer Einrichtungen des Mittelalters.“ Ähnlich hatte sich einige Generationen zuvor Rousseau geäußert. Der Gedanke der Volksvertretung stamme „aus dem Feudalsystem, dieser ungerechten und widersinnigen Regierungsform, in der die menschliche Art herabgewürdigt und wo das Wort Mensch entehrt ist. In den alten Republiken (…) hatte das Volk niemals Vertreter.“ 43
Nur mit der langen Entfremdung von den öffentlichen Angelegenheiten und der damit einhergehenden politischen Unerfahrenheit des Volkes, meint Rittinghausen
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Rittinghausen, Widerlegung, 246. Rittinghausen, Widerlegung, 253. Rittinghausen, Widerlegung, 255. Moritz Rittinghausen, Die unhaltbaren Grundlagen des Repräsentativ-Systems (1869), in: Ders., Gesetzgebung, 95–128. 42 Wolfgang Durner, Antiparlamentarismus in Deutschland, Würzburg 1997, 45. 43 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts (1762). In Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker neu übersetzt und herausgegeben von Hans Brockard, Stuttgart 2004, Buch III., Kap. 15, 103.
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nun, sei es überhaupt zu erklären, dass dieser Anachronismus die Französische Revolution überlebt habe. Es sei aber gänzlich unvernünftig, „weiß durch schwarz, ein allgemeines Interesse durch ein Privat-Interesse, das ihm schnurstracks entgegengesetzt ist, vertreten zu lassen.“ 44 An keinerlei Weisungen der Gesamtheit gebunden, seien die so genannten Volksvertreter in Wahrheit „Bruchtheile eines WahlHerrscherthums, dessen Majestät hoch über dem Volke thront und es zu einem willen– und rechtlosen Körper herabwürdigt.“ 45 Auf ähnliche Weise hatte Rousseau mit Blick auf die Engländer, die einzig am Tag der Parlamentswahl frei seien, jegliche Repräsentation in der Gesetzgebung mit dem Verlust der Souveränität selbst gleichgesetzt: „der Wille kann nicht vertreten werden: er ist derselbe oder ein anderer; ein Mittelding gibt es nicht.“ 46 Die buchstäbliche und unbedingte Identität von Gesetzgebern und Gesetzesadressaten wird somit von beiden Denkern zum unauflösbaren Kern der Volkssouveränität erklärt. 47 „Jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst beschlossen hat, ist nichtig; es ist überhaupt kein Gesetz.“ 48 Da das Repräsentativsystem somit auf einem falschen Grundgedanken basiere, argumentiert Rittinghausen, müsse es logischerweise auch in der praktischen Umsetzung ein Gewebe sonderbarer Widersprüche bilden. Die lange Mängelliste, die nun folgt, enthält zweifellos einige scharfe und zeitlose Beobachtungen des parlamentarisches Betriebs: Er zeigt zunächst die Unhaltbarkeit auf zwischen der verfassungsmäßig geforderten Stellung der Abgeordneten als „Vertreter des ganzen Volkes“ und ihrer tatsächlichen Ernennung in Wahlkreisen, 49 beklagt das Fehlen des imperativen Mandats und die Veräußerung der Volkssouveränität an das Parlament. Dieselbe sei zudem unvereinbar mit der Immunität der Abgeordneten. „Wie Alles in dem Repräsentativ-System sind auch die Wahlen eine grobe Täuschung
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Rittinghausen, Grundlagen, 102. Rittinghausen, Grundlagen, 100. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, III, 15, 103. Nicht die Identität von Regierenden und Regierten (!), wie so häufig, namentlich von der Schmitt-Schule, in denunziatorischer Absicht gegen das Konzept der Volkssouveränität unterstellt wird. Rousseau fordert ausdrücklich Selbstgesetzgebung und weist von sich aus auf die Ambivalenzen der Selbstregierung hin. Weder sei es gut, dass diejenigen, die die Gesetze machen, sie auch ausführen, noch, dass das Volk seine Aufmerksamkeit von den allgemeinen Gesichtspunkten auf Einzelgegenstände richte (Gesellschaftsvertrag III, 4, 72). Aus denselben Gründen ärgerte sich Rittinghausen über den „Fehlgriff“ des Freundes Considerant, der den Begriff „direkte Volksgesetzgebung“ für das französische Publikum mit gouvernement direct du peuple, also „direkte Volksregierung“, übersetzte. Demgegenüber stellte Rittinghausen klar: „Ein Volk kann in direkter Weise seine Gesetzgebung ordnen; es kann sich aber nicht selbst in direkter Weise regieren oder ohne Mittelspersonen die Verwaltung führen.“ (Rittinghausen, Ueber die Nothwendigkeit, 51). 48 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, III, 15, 103. 49 Rittinghausen, Grundlagen, 100f.
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(…).“ 50 Die Wähler kennen die Kandidaten nicht gut genug, um eine sinnvolle Entscheidung zu treffen. 51 Also müssen sie sich auf ein „Wahlcomité“ verlassen und damit auf „einen kleinen Kreis von Leuten, die sich mehr durch das eigene Interesse, persönliche Vorliebe und Freundschaft, durch Neid, Leidenschaftlichkeit und Abhängigkeits-Verhältnisse jeder Art leiten lassen, als durch die gewissenhafte Erwägung der Sachlage.“
Auf diese Weise lasse die Herrschaft der Mittelmäßigkeit in den Wahlcomités ihrem natürlichen Widerwillen gegen alle Hochbegabten freien Lauf. Innerhalb der Parteien habe „der Ränkeschmied immer einen bedeutenden Vortheil über den ehrlichen Mann.“ 52 Ehrlichkeit, Überzeugungstreue und Talent seien sogar die „allerschlechteste Empfehlung“ bei den Führern der Comités, die die Wahl vorzubereiten haben. Deshalb bestehen in allen Kammern der Geschichte „fünf Sechstel der Abgeordneten aus höchst mittelmäßigen Köpfen“ 53, was zwangsläufig dazu führt, dass „die kleine Zahl begabter und tüchtiger Männer durch die Reihen einer großen und gewissenlosen Mehrheit von Mittelmäßigkeiten gleichsam Spießruthen läuft.“ 54
Um seine Wiederwahl muss auch der blasseste Hinterbänkler dennoch nicht fürchten. Schließlich lehre die Erfahrung, „daß die schlechtesten Abgeordneten die längste parlamentarische Laufbahn durchmachen; sie überleben den Sturz aller Ministerien und aller Regierungen.“ 55
Doch selbst achtbare Personen werden im Parlament schnell korrumpiert. Ohne Verantwortlichkeit für das eigene Tun schwindet die Moral. Ständig lockt die Aussicht, sich persönlich oder die Familie nach Gutdünken zu bereichern. „Es gibt Versuchungen, denen man die Menschen nicht aussetzen muß, wenn man sie nicht unterliegen sehen will (…).“ 56 – eine ernste Warnung, die den Verfasser freilich nicht davon abhielt, selbst eine recht erfolgreiche Karriere als Parlamentarier zu absolvieren. Neben den privaten Vorteil tritt die Versuchung der Klasseninteressen. Und stets sind es die Begierden der besitzenden Klasse, die das Plenum bedient: „Das Repräsentativ-System ist unfähig, etwas Anderes als den heutigen Bourgeois-Staat hervorzubringen. Es treibt vielmehr alle Consequenzen desselben auf die äußerste Spitze (…) Nie und nimmer geizt das System mit dem Schweiße der arbeitenden Klasse, und das Kapital erhebt nicht vergeblich den Anspruch auf Staatshülfe, welche man dem Arbeiter gegenüber als eine utopische Forderung bezeichnet.“ 57
Die Bourgeoisie saugt den Staat förmlich aus. Doch der Volksvertreter schaut tatenlos zu und unterstützt das Treiben mit umso größerer Gewissensruhe, 50 Rittinghausen, Grundlagen, 106. 51 Ein interessanter Einwand, der sich gleichsam auch gegen Rittinghausens eigenen Vorschlag richtet, die Ministerialbeamten durch das Volk wählen zu lassen. 52 Rittinghausen, Grundlagen, 107. 53 Rittinghausen, Grundlagen, 108. 54 Rittinghausen, Widerlegung, 173. 55 Rittinghausen, Grundlagen, 114. 56 Rittinghausen, Grundlagen, 109f. 57 Rittinghausen, Organisation, 131f.
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Philipp Erbentraut „als er leider von einer ganzen Schule von Volkswirthschafts-Lehrern umschwärmt wird, welche ein Gewerbe daraus machen, die Wissenschaft im Dienste des Klassen-Egoismus mit unermüdlicher Zuvorkommenheit zu verdrehen.“ 58
Die bestehenden Gesetze werden von Rittinghausen als ein betrügerisches Manöver der Reichen auf Kosten der Armen entlarvt, denen unter dem Deckmantel allgemeiner Sicherheit und formaler Rechtsgleichheit die Zustimmung in die bestehende ungleiche Herrschafts– und Besitzordnung abgerungen wird. Dieselbe Diagnose hatte Rousseau bereits 1755 in seiner Abhandlung über die Ungleichheit gestellt. Den Gegenentwurf zu einem solchen System kranker Sozialbeziehungen enthält dann einige Jahre später der Gesellschaftsvertrag mit der Konstituierung einer vom Gemeinwillen gleich und gerecht gelenkten Republik. Im Grunde verfolgte Rittinghausen mit seinem Modell der direkten Selbstgesetzgebung kein anderes Ziel. „Der moderne Staat“, so sekundiert er Rousseau „erkennt im Prinzip die Berechtigung einzelner Stände (…) nicht mehr an. Er stellt sich als eine Einheit hin, welche allen Staatsbürgern gleiche Rechte und Vortheile sichern und gleiche Verpflichtungen auferlegen soll.“
Die Feststellung dieser Rechte und Pflichten sei die Aufgabe des „aufgeklärten Volkswillens“ selbst. 59 Moritz Rittinghausen bewegt sich also – wider Willen – sehr wohl im „Gedankenkreis Rousseaus, dem er alle principiellen Argumente gegen das repräsentative System entnimmt.“ 60 Worin liegen dann aber die Unterschiede zwischen beiden Autoren? 3.2 Streit um die richtige Größe direktdemokratischer Gemeinwesen Eine unüberbrückbare Differenz zwischen Rittinghausen und Rousseau betrifft die Frage der Größe der Gemeinwesen, in denen ihnen die Praxis unmittelbarer Demokratie jeweils möglich schien. Wolfgang Mantl hat sich zur Charakterisierung des Rittinghausenschen Modells den passenden Begriff „dezentralisierte Versammlungsdemokratie“ 61 einfallen lassen. Im Anschluss daran ließe sich der Gegensatz zu Rousseau in diesem zentralen Punkt auf den Nenner dezentralisierte versus monistische Versammlungsdemokratie bringen. Bekanntlich war Rousseau mehr als skeptisch, was die Möglichkeiten staatsbürgerlicher Autonomie in großen Flächenstaaten anging. Dies galt bereits für das Frankreich des 18. Jahrhunderts. Von den heutigen Großstaaten ganz zu schweigen. Da Rousseau jede Form der Repräsentation mit der Veräußerung der Volkssouveränität selbst gleichsetzte, schien ihm die volle Entfaltung des Bürgerideals nur unter den Bedingungen der Sklaverei im alten Griechenland möglich. 62 Da er aber
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Rittinghausen, Grundlagen, 112. Rittinghausen, Grundlagen, 99f. Bernatzik, Rittinghausen, 327. Mantl, Eine frühe Weichenstellung, 155. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, III, 15, 105.
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zugleich ein neuzeitliches Recht auf Sklaverei kategorisch ausschloss, war der Weg zurück zur Polis verstellt. Mit dieser, aus seiner Sicht vorschnellen Historisierung der Volkssouveränität wollte sich Rittinghausen jedoch nicht zufrieden geben. Rousseau sei viel zu sehr auf die Antike fixiert. Parallelen zu Rom oder Griechenland taugten aber nicht als historisches Reflexionsmaterial zur Lösung aktueller Probleme, da sie einer ganz anderen, nicht vergleichbaren geschichtlichen und kulturellen Epoche entstammten. Die „wahre Aufklärung“ ergebe sich stattdessen aus dem Studium der politischen Einrichtungen „unserer Urväter“, der Germanen. Dort habe ursprünglich die direkte Gesetzgebung durch das Volk „in der vollsten Ausdehnung“ geherrscht, bevor Christianisierung, Kriegsdienst und die Einführung des Privateigentums diese urwüchsige Institution zerstört hätten. 63 Über diese Tatsachen habe Rousseau nicht richtig nachgedacht und außerdem schlampig recherchiert; „in seiner Flüchtigkeit übersah er aber ganz, daß die direkte Gesetzgebung – zehn Schritte vor seiner Thüre – in mehreren Schweizer Kantonen seit einem Jahrtausend bestand und zwar ohne Sklaven trotz rauhem Klima und unfruchtbarem Boden.“ 64
Durch die Teilung des Volkes in Sektionen und die Wahl eines adäquaten Versammlungsortes, anderswo als unter freiem Himmel, sei es sehr wohl möglich, die dumpfen Sprachen des Nordens vernehmbar zu machen. Immerhin hielt Robert Michels den Vorschlag, in ein „Lokale“ umzuziehen, für einen ideengeschichtlichen Fortschritt. Auf diese Weise ließen sich Tempo und Beständigkeit der Gesetzgebung zuverlässiger gewährleisten als im Freien, wo immer wieder „Gewitter und Regenschauer dazwischenkommen und die Menge auseinanderjagen.“ 65 Wie das Wetter auch wird. Mit dem innovativen Vorschlag, alle Bürger zur selben Zeit, aber nicht am selben Ort, sondern in einer Vielzahl von Versammlungslokalen aus der Mitte des Volkes selbst formulierte Gesetzesvorlagen beraten und beschließen zu lassen, hat sich Rittinghausen erkennbar von Rousseau emanzipiert. 3.3 Das Problem Deliberation oder die Frage: Wie laut darf Demokratie sein? Ein weiterer eklatanter Unterschied im Demokratieverständnis der beiden Autoren betrifft die Frage der Deliberation. Der öffentliche und universelle Diskurs aller Staatsbürger bildet bei Rittinghausen einen Prozess, aus dem als Resultat das Gemeinwohl erwächst. Die Volkssouveränität ist hier als Verfahren gedacht. Rousseaus volonté générale dagegen ist substanziell gemeint und Ergebnis eines epistemologischen Vorgangs, der sich privat und in aller Stille in Form eines inneren Monologs vollzieht. Rittinghausen hat ein diskursives Verständnis von Demokratie, Rousseau ein monologisches. Letzten Endes läuft diese Differenz auf die interes63 Moritz Rittinghausen, Die Philosophie der Geschichte (1868), in: Ders., Gesetzgebung, 5ff. 64 Rittinghausen, Widerlegung, 255. 65 Michels, Soziologie des Parteiwesens, 30.
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sante, und soweit ich sehe, von der Aristotelischen Staatsformenlehre etwas stiefmütterlich behandelte Frage hinaus, ob die Demokratie eine laute oder eine leise Verfassung sei. Auf dem Weg zu echter staatsbürgerlicher Autonomie war die Etablierung eines permanenten gesamtgesellschaftlichen Diskurses für Rittinghausen ein unentbehrlicher Schritt. Dabei baute er ganz offenkundig auf die entgegenkommenden Tendenzen einer sich Mitte des 19. Jahrhunderts gerade erst entwickelnden Öffentlichkeit als Resonanzboden für die erforderliche breite und aktive Partizipation. „An einem unwiderstehlichen Drange hierzu“ werde „es nirgends fehlen.“ 66 Jedenfalls könne die bestehende Politikverdrossenheit vieler Bürger nicht als Ausweis eines generellen Desinteresses an den öffentlichen Angelegenheiten genommen werden. Man zeige nur nicht mit dem Finger auf „unsere Clubs (…) weiß man doch, daß die dort gefaßten Resolutionen und Beschlüsse ein rasch verhallender Wortschwall sind, an dessen unmittelbare Wirkung keine Seele glaubt.“
Werde sich das Volk in Zukunft aber der Tatsache bewusst, dass seine Abstimmungen tatsächlich Greifbares zu Stande bringen, „da wird es auch gewissenhaft die Pflicht erfüllen, Alles genau zu prüfen, um das Beste zu unterstützen und festzuhalten.“ 67 Doch nicht nur in den gesetzgebenden Sektionen selbst sollte kräftig diskutiert werden. Fast noch bedeutsamer erschien Rittinghausen die umfassende Erörterung aller anstehenden Themen im Vorfeld der eigentlichen Beschlussfassung. Die Frist zwischen Antragstellung und Versammlung sei deshalb so großzügig zu bemessen, „daß in der Zwischenzeit Vereine, freie Versammlungen und Presse die vorliegende Frage nach allen Seiten hin systematisch beleuchten können.“ Auf diese Weise sollte der einzelne Bürger befähigt werden, sich im Spiegel der Meinungen der Anderen, einen fundierten eigenen, wenn zunächst auch noch vorläufigen Standpunkt zu erarbeiten, „so daß eigenes, durch die von allen Seiten kommenden Aufklärungen geleitetes Nachdenken jeden Staatsbürger auf die entscheidende Debatte vorbereitet.“ 68
Die Vorstellung eines solchen gesamtgesellschaftlichen Gemurmels wäre Rousseau ein Graus gewesen. Im Gegenteil vertrat er die Ansicht, die politische Willensbildung müsse sich bei jedem Bürger einzeln und unter Ausschluss der schädlichen Einwirkung fremder Meinungsmacher vollziehen. Andernfalls drohten die Partikularinteressen das gemeinschaftliche Wohl zu untergraben. Hätten die Bürger keinerlei Verbindung untereinander, wären ihre Entscheidungen „immer gut“ 69; „lange Debatten jedoch, Meinungsverschiedenheiten, Unruhe zeigen das Emporkommen der Sonderinteressen und den Niedergang des Staates an.“ 70
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Rittinghausen, Organisation, 135. Rittinghausen, Organisation, 136. Rittinghausen, Organisation, 135. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, II, 3, 31. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, IV, 2, 114f.
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Den Sieg der Sonderinteressen suchte selbstverständlich auch Rittinghausen zu verhindern. Allerdings sei Schweigen hierzu der falsche Weg. Vielmehr erblickte er das geeignete Mittel im Kampf für das Gemeinwohl in der richtigen Größe und Anzahl der Sektionen. Zuallererst gelte es, sich den Vorteil großer Versammlungen zu Nutze zu machen. Große Versammlungen zeigten sich nämlich den Ideen der Gerechtigkeit stets zugänglicher als kleine. In letzteren dominierten häufig die Privatinteressen, da der Druck des durch die Masse vertretenen allgemeinen Interesses hier weniger spürbar sei. „In einer Versammlung von mehr als 1000 Personen hingegen muß man eine starke Lunge und sehr gute Ohren haben.“ 71 Ähnlich wie die Größe jeder einzelnen Sektion wirke auch die schiere Anzahl aller Sektionen entzündungshemmend auf Partikularismen jeder Art. Gerechnet auf die stimmberechtigte Bevölkerung der heutigen Bundesrepublik gäbe es immerhin rund 62.000 dieser regelmäßig stattfindenden Basistreffen. Aber: „Jede Sektion ist ein zu unbedeutender Theil des ganzen Volkes, ihre Stimmen geben einen zu geringen Ausschlag, als daß sie sich über den Ausfall ihrer Debatten so zu ereifern vermöchte wie die Mitglieder einer Kammer, in welcher das Schicksal eines Gesetzvorschlags von der Abstimmung einiger hundert Menschen abhängt.“ 72
Folglich sind viele Kammern besser als eine. Der Gedanke, die Sonderinteressen durch ihre Potenzierung sich gegenseitig in Schach halten und somit unschädlich machen zu lassen, findet sich auch bei Rousseau: „Wenn es aber Teilgesellschaften gibt, ist es wichtig, ihre Zahl zu vervielfachen und ihrer Ungleichheit vorzubeugen (…) damit der Gemeinwille immer aufgeklärt sei und das Volk sich nicht täusche.“ 73
Waren die beiden Autoren über das genaue Zustandekommen der Gesetze auch uneins, so teilten sie doch das verfassungspolitische Ideal eines auf möglichst wenigen und allgemeinen Grundsätzen beruhenden Gemeinwesens. Ein gut regierter Staat brauche nur sehr wenige Gesetze, erklärte Rousseau. Und so oft es nötig wäre, neue zu erlassen, sei die Notwendigkeit hierfür allgemein sichtbar: „Wer sie als erster vorschlägt, spricht nur aus, was alle schon gefühlt haben (…).“ 74 Auch Rittinghausen ging von einem künftig spürbar reduzierten Normierungsbedarf von Staat und Gesellschaft aus, sobald die nötigen Reformen im politischen Leben erst einmal greifen. „Ich habe die Ueberzeugung, daß – wenn das Volk der Gesetzgebung eine oder zwei Sitzungen wöchentlich widmen wollte – es nach einiger Zeit in Verlegenheit sein würde, diese wenigen Stunden mit seinen Berathungen auszufüllen.“ 75
Dem Gesetzgeber gehen die Gesetze aus! Neben der persönlichen Vorliebe für schlanke Paragraphenschuber mag bei dieser Projektion für die Zeit nach dem Systemwechsel auch der praktische Wunsch 71 72 73 74 75
Rittinghausen, Organisation, 136. Rittinghausen, Widerlegung, 204. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, II, 3, 32. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, IV, 1, 112. Rittinghausen, Widerlegung, 230.
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eine Rolle gespielt haben, die deliberative Demokratie gegen den Einwand zu wappnen, die Bürger hätten zu wenig Zeit zum Diskutieren. Tatsächlich baute Rittinghausen auf eine enorme Effizienzsteigerung der Legislative im Zuge der Einführung direkter Demokratie. So werde das Volk in Zukunft durch einen einzigen Beschluss ganze Gegenstände aus dem Bereich der Gesetzgebung verbannen, über die heute Berge von Kammerverhandlungen aufgetürmt würden. 76 Aber wird sich das Volk die Kosten dieser intensiven Vollzeit-Demokratie auch leisten können? Immerhin gilt es jede Woche einige unbezahlte Nachmittage in den Versammlungen zuzubringen, während zu Hause, im Büro oder in der Werkstatt die Arbeit liegen bleibt. Für Rittinghausen ebenfalls eine einfache Rechnung. Allein durch ihr Bestehen würde die direkte Gesetzgebung volkswirtschaftlich „Milliarden werth sein“, indem sie der Misswirtschaft der Volksvertreter ein Ende setzt. Wer zahle denn heute, fragt der Sozialdemokrat, „die Hunderte von Millionen, welche in den größten Staaten jährlich unnütz verschleudert werden und nur Ruinen hervorbringen?“ Es sind natürlich die Arbeitnehmer, auf die sich schließlich alle Steuern gleichmäßig verteilen. Somit seien die Stunden, die das Volk künftig in seinen Sektionen zubringt, zweifellos die „bestverwandten und einträglichsten seiner Wirksamkeit.“ 77 3.4 Législateur oder Laissez faire: Wann ist ein Volk reif zur Autonomie? Jenseits der Abwägung der materiellen Ressourcen stellte sich schließlich die Frage, ob das Volk überhaupt im Besitz der geistigen Reife zur Demokratie sei. Bemerkenswerterweise war Moritz Rittinghausen in diesem Punkt sogar noch um einiges optimistischer als Rousseau, der seinerseits schon im Verdacht stand, die Menschen ethisch und moralisch zu überfordern. Hierin besteht der dritte markante Unterschied zwischen beiden Autoren. Während Rousseau in seinem Staat auf die aktive Vermittlung klarer Orientierungen und Wertvorstellungen pochte, bezweifelte Rittinghausen die Angemessenheit von Druck und Dirigismus in einer demokratischen und offenen Gesellschaft. Der Gegensatz lässt sich hier auf den Konflikt zwischen autoritärer und permissiver (erlaubender) Demokratie zuspitzen. Rittinghausen fragt sein Volk was es will, Rousseau erklärt ihm, was es wollen soll. Folglich war der Verfasser des bekanntesten Erziehungsratgebers des 18. Jahrhunderts (Emile) ganz entschieden der Meinung, dass nicht nur jeder einzelne Bürger, sondern auch ein ganzes Volk auf dem Weg zum politischen Erwachsenwerden fürsorglich begleitet, ja geführt, werden müsse. Zur Lösung dieses Problems führte er den Gesetzgeber (législateur) ein, einen weisen Erzieher nach der Art Lykurgs oder Calvins, der dem Volk die Dinge zeigt, „wie sie sind“ und manchmal so, „wie
76 Rittinghausen, Widerlegung, 229. 77 Rittinghausen, Widerlegung, 230f.
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sie ihm erscheinen müssen.“ 78 Heute wäre Rousseau vielleicht wirklich „Leiter eines Erziehungsheims, voller origineller Ideen für die Heimordnung.“ 79 Damals betraf seine pädagogische Hauptsorge indes den richtigen Aufbau einer republikanischen Verfassungsordnung. Dabei quälte ihn die Einsicht, dass die Menschen zwar stets das Gute wollen, aber nicht immer wissen, was das Gute ist: „Wie soll eine verblendete Menge, die oft nicht weiß, was sie will, weil sie nur selten weiß, was ihr zum Guten gereicht, durch sich selbst ein derart großes, derart schwieriges Unternehmen ausführen, wie ein System der Gesetzgebung es ist?“ 80
Ausdrücklich weist er deshalb die Ansicht zurück, wonach „die Beschlüsse des Volkes immer gleiche Richtigkeit haben. Zwar will man immer sein Bestes, aber man sieht es nicht immer. Verdorben wird das Volk niemals, aber oft wird es irregeführt.“ 81
Gerade weil Rousseau also nicht auf die Tugend seiner Staatsbürger baut, sind die rechtsstaatlichen Verfahrensordnungen im Gesellschaftsvertrag so streng, dass sie selbst den gewaltsamen Zwang zur Freiheit einschließen. 82 Aus dieser durchaus skeptischen Anthropologie speist sich wahrscheinlich auch seine ambivalente Haltung gegenüber der Demokratie als Regierungsform, die einerseits sein politisches Ideal verkörpert, andererseits aber so viel Tugend verlangt, dass sie ein „Volk von Göttern“ 83 erfordert: „Streng genommen“, meint er „hat es niemals eine echte Demokratie gegeben, und es wird sie niemals geben.“ 84 Ganz anders dagegen Rittinghausen, für den das Volk, hier und jetzt, zur Demokratie bereit ist. Laissez faire, laissez passer. Eines politischen Kommissars bedarf es nicht. Stets wisse das Volk „selbst am Gründlichsten, was es drückt und was ihm fehlt, wo die Ursachen seines Elends zu suchen und die Mittel zur Abhülfe.“ 85 Geradezu bewundernswert sei „jener richtige Takt der Massen in den großen politischen Angelegenheiten.“ 86 Zwar könne sich das Volk in Personen täuschen, nie jedoch in Sachfragen. 87 Worauf gründet diese Zuversicht? Was lässt Rittinghausen in Bezug auf die politische Reife des Volkes nur so überaus optimistisch in die Zukunft blicken, dass er glaubt, „die Massen können sich selbst nicht ausbeuten
78 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, II, 6, 42. 79 Joseph Vogl, Der Mann ist wie ein Brühwürfel. Rousseau zum 300. Geburtstag, in: Spiegel Online (http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/jean-jacques-rousseau-joseph-vogl-im-inter view-zum-300-geburtstag-a-840805.html; 26. Juni 2012). 80 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, II, 6, 42. 81 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, II, 3, 30. 82 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, I, 7, 21. 83 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, III, 4, 74. 84 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, III, 4, 72. 85 Rittinghausen, Widerlegung, 170f. 86 Rittinghausen, Widerlegung, 175. 87 Rittinghausen, Organisation, 162.
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und übervortheilen“ 88, das Volk wolle ja „keine Thorheiten begehen“ 89? Drei Aspekte scheinen hier von Bedeutung. Zunächst einmal erkennt Rittinghausen in den Volksmassen den Schöpfer bedeutender Errungenschaften der Menschheitsgeschichte, allen voran der Sprachen. 90 Die Massen haben also bereits unter Beweis gestellt, dass sie durch gemeinschaftliche Geistesanstrengung viel größere Projekte auf die Beine zu stellen in der Lage sind, als einzelne Erfinder und Gelehrte. Zweitens ist das Volk für Rittinghausen nicht nur die Quelle der Herrschaftslegitimation, sondern gleichzeitig rechtmäßiger Inhaber der tatsächlichen Staatsgewalt. Deshalb müsse auch die gesetzgebende Gewalt dem Volk, von dem sie schließlich abgeleitet werde, mit vollem Vertrauen in die gute Benutzung ausgehändigt werden. „Man muß schmieden, um Schmied zu sein“, zitiert er ein altes französisches Sprichwort. „Und so ist auch die Ausübung der direkten Gesetzgebung durch das Volk für das letztere ein Bildungsmittel, wie ihm zur Hebung seiner Gesetzgeber-Einsicht und Fähigkeit kein zweites zu Gebote steht.“ 91
Drittens verficht Rittinghausen eine eigentümliche, episodisch offenbar immer wieder in Mode kommende Vorstellung von Schwarmintelligenz. Zehn Deutsche sind dümmer als fünf Deutsche lautet ein berühmtes Scherzwort von Heiner Müller. Rittinghausen hält dagegen jeden Einzelnen für einen Trottel, alle gemeinsam aber für genial. Die Intelligenz der Gesellschaft als Ganze überrage „jede andere Intelligenz“ bei weitem. 92 Dies sei eine Frage der größeren Zahl. So müsse die Gesetzgebung im gesamten Bund stets vollkommener ausfallen als in der Provinz: „im ganzen Deutschland besser als in Preußen oder Baiern, in Preußen oder Baiern vorzüglicher als in Westphalen oder Unterfranken.“ 93 Allein in dieser Tatsache wurzle das Recht des deutschen Volkes auf den Einheitsstaat. Ein so großer Verehrer alles Regionalen wie Rousseau hätte spätestens an dieser Stelle wohl nur noch mit dem Kopf geschüttelt. Schluss – was von Rittinghausen bleibt Was von Rittinghausen bleibt? Es sind ein Stachel, ein Versprechen und eine Erkenntnis. Der Stachel steckt tief im Fleisch der repräsentativen Demokratie. Gilt nach landläufiger Meinung der durch sie verkörperte Mix aus Parteienwettbewerb, regelmäßig stattfindenden freien Wahlen und öffentlicher Debatte – wenn auch nicht als beste aller möglichen Welten – so doch immerhin als das heute überhaupt erreichbare, demokratische Optimum. Dagegen setzte Rittinghausen die für jeden wahren Demokraten berauschende Idee, die gesamte Gesetzgebung eines modernen Großstaates lasse sich unmittelbar durch das versammelte Volk selbst organisieren. 88 89 90 91 92 93
Rittinghausen, Widerlegung, 173. Rittinghausen, Widerlegung, 203. Rittinghausen, Widerlegung, 226f. Rittinghausen, Widerlegung, 179. Rittinghausen, Organisation, 130. Rittinghausen, Widerlegung, 198.
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Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen diese Phantasie eines Tages Wirklichkeit werden könnte, ist ein packendes Gedankenexperiment. Praktisch freilich ist sie völlig irrelevant. Die tatsächliche Einführung dieses Verfahrens stand weder historisch, noch steht sie aktuell in irgendeiner Form auf der Agenda. Daran ändern im Wesentlichen auch die verheißungsvollen Möglichkeiten des Internets nichts. Die Demokratie ist zu groß, um sie digital zu verwirklichen. 94 Online-Versammlungen mögen helfen, manches logistische Problem zu entschärfen (Raumfrage, schnelle und unkomplizierte Weiterleitung von Abstimmungsergebnissen). Andere Aspekte berühren sie überhaupt nicht (ungleich verteilte Ressourcen und Kompetenzen der Bürger, Gefahr oligarchischer Meinungsführerschaft). Und schließlich stünde die „digitale Demokratie“ zweifellos vor neuen Aporien (selbstreferentielles Palaver, Manipulation, vor allem aber Atomisierung der politischen Meinungs– und Willensbildung zugunsten von Exekutive und Verwaltung). Gleichwohl wird man einräumen müssen, dass der gewaltige technische Forstschritt im Bereich der elektronischen Kommunikationsmittel den utopischen Ballast der Vorschläge Rittinghausens zumindest nicht weiter vergrößert hat. Sei es drum: Die direkte Demokratie scheint gegen Klugheitsargumente jeder Art ohnehin immun. So oft ihre praktische Unmöglichkeit auch gezeigt werden mag, so oft erneuert sich ihr normatives Ideal in einem kämpferischen Trotzdem. Dagegen wurde eingewandt, Rittinghausen habe der guten Sache durch ihre Dogmatisierung einen schlechten Dienst erwiesen. Seine überzogene Position, gipfelnd im Ausschluss jedweder Repräsentativorgane von der Gesetzgebung, habe es ihren Gegnern leicht gemacht, das ganze Anliegen, auch in seinen diskutablen Teilen, zu verwerfen. Anstatt in Dichotomien zu denken, hätte er besser ein „maßvolles Plädoyer für eine gemischte Staatsform“ gehalten. 95 Das Gegenteil ist richtig. Gerade in ihrer unversöhnlichen Radikalität liegt die Stärke seiner Vision. Kein Hahn würde noch nach Rittinghausen krähen, hätte er lediglich einige basisdemokratische Ergänzungen des Parlamentarismus vorgeschlagen. Das kritische Potenzial seiner Theorie entfaltet sich erst in der schonungslosen Gegenüberstellung des stets unerreichten Ideals mit einer notorisch mangelhaften Realität. Rittinghausen hatte vielleicht nicht die richtigen Antworten, aber er stellte die richtigen Fragen. Dazu zählt in erster Linie die Frage nach dem Versprechen der Herrschaftsfreiheit von Demokratie. Mit seiner Idee, alle Gesetze durch das Volk selbst beschließen zu lassen, wollte Rittinghausen die Unterscheidung von Herrschenden und Beherrschten überwinden und durch eine Identität von Gesetzgebern und Gesetzesadressaten ersetzen. Eine auf solche Weise herrschaftsfrei gewordene, identitäre Demokratie musste letztlich aber auf Konfrontationskurs zum traditionellen Herrschaftsanspruch des Staates geraten. Dieser Umstand macht Rittinghausen aus heutiger Sicht zu einem interessanten Stichwortgeber in der aktuellen Debatte um 94 Vgl. Markus Linden, Die Onlinedemokratie – Falsche Versprechen und reale Chancen digitaler Beteiligungsformate, in: Diskurs@Deutschlandfunk – Politik, Medien und Öffentlichkeit in Zeiten der Digitalisierung, Online-Debattenportal des Deutschlandradios (abrufbar unter: http://diskurs.dradio.de; 16.02.2012). 95 Mantl, Weichenstellung, 151.
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die „radikale Demokratie.“ 96 Vom Ansatz vertrat er nämlich ein ganz ähnliches Konzept, wie es kürzlich der französische Philosoph Miguel Abensour im Anschluss an den jungen Marx unter dem programmatischen Slogan Demokratie gegen den Staat entwickelt hat. 97 Abensours Grundüberlegung leuchtet unmittelbar ein: Der Staat ist ein auf Legitimität beruhendes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen. Das Versprechen der Demokratie habe aber ursprünglich genau darin bestanden, die Herrschaft von Menschen über Menschen zu beseitigen und durch die Verwaltung von Sachen zu ersetzen. Die Rede vom demokratischen Staat sei somit ein Widerspruch in sich, da „die Demokratie nur insofern existieren kann, als sie sich gegen den Staat wendet (…) Die Demokratie ist antistaatlich oder gar nicht.“ 98 Deshalb baut Abensour auf die „rebellierende Demokratie“ 99 und damit auf die (Wieder-)Entdeckung einer politischen Gemeinschaft außerhalb und gegen den Staat in einem revolutionären Interregnum. Es müsse darum gehen, den „anarchischen Reflex“ 100 der wahren Demokratie gegen jede Form von Herrschaft zu reaktivieren. Gegen die letzte Konsequenz dieses Gedankens hätte Rittinghausen sich der Begrifflichkeit wegen vielleicht gesträubt, geißelte er den Proudhonschen Anarchismus seiner Zeit doch als ein „Erzeugniß krankhafter Phantasie.“ Aus seiner Sicht stellte die direkte Gesetzgebung durch das Volk als Ausdruck des Gesamtwillens der Nation die „Grenze des Erreichbaren“ dar. 101 Was Rittinghausen – und dies ist die abschließende Erkenntnis – mit dieser Grenze gefunden zu haben glaubte, war nichts weniger, als der Ausweg aus der selbst verschuldeten politischen Unmündigkeit des Volkes. Nur durch die Einführung der direkten Demokratie, davon war Rittinghausen zutiefst überzeugt, könne sich der wahre und aufgeklärte Volkswille äußern und die „Freiheit und das Gefühl der persönlichen Würde“ 102 jedes Einzelnen erhalten bleiben. Er lobte die heilsame Wirkung der gründlichen Debatten des „sich selbst Aufklärung verschaffenden Volkes“ 103 auf die sozialen Einrichtungen des Landes. Schließlich sei die direkte Gesetzgebung durch das Volk das einzige Mittel „durch welches eine vernünftige, das Wohl aller Menschen pflegende und fördernde Staatsordnung verwirklicht werden kann.“ 104 Insofern ist das von Moritz Rittinghausen vorgeschlagene Gesetzgebungsverfahren aller Schwächen ungeachtet als ein Projekt der Aufklärung zu würdigen.
96 Vgl. Giorgio Agamben u. a., Demokratie? Eine Debatte, Berlin 2012. 97 Miguel Abensour, Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellische Moment, Berlin 2012. 98 Abensour, Demokratie, 12. 99 Abensour, Demokratie, 13. 100 Abensour, Demokratie, 27. 101 Rittinghausen, Widerlegung, 233. 102 Rittinghausen, Nothwendigkeit, 66. 103 Rittinghausen, Organisation, 141. 104 Rittinghausen, Widerlegung, 169.
DAS KAISERREICH UND DIE EUROPÄISCHE UNION Kongruente Strukturprobleme? Alexander König, Frankfurt am Main Die Europäische Union (EU) und das Deutsche Kaiserreich Bismarcks und Wilhelms II. weisen 1 vergleichbare Strukturprobleme auf. In den leitenden Gremien des Deutschen Reiches gemäß Bismarck´scher Verfassung und in den entsprechenden Gremien der Europäischen Union ist die Gewaltenteilung ähnlich verschoben. Natürlich gibt es eine Menge Unterschiede, so ist die EU eine Vereinigung selbstständiger Staaten, während das Kaiserreich ein föderativ organisierter Staat war. Jedoch ist ein Trend zu verschobenen Entscheidungskompetenzen in Richtung ausgeprägterer Machtfülle von ursprünglichen exekutiven einzelstaatlichen Organen in legislative Entscheidungsfelder auffällig. Damit ist das bereits vom französischen Philosophen, Historiker, Schriftsteller und Politiker Montesquieu 2 auf der Grundlage der englischen Verfassungspraxis seit dem späten 17. Jahrhundert und den Schriften des englischen Philosophen John Locke 3 definierte Prinzip der Trennung staatlicher Machtbereiche in Gesetzgebung – Legislative, Rechtsausführung – Exekutive und Rechtsprechung – Judikative, die Gewaltenteilung 4, grundlegend gestört. Die Idee Montesquieus ist eine gleichberechtigte organisatorische Trennung dieser drei Bereiche. Sie stehen nebeneinander. Daher wird heute in diesem Zusammenhang auch von horizontaler Gewaltenteilung gesprochen. Entscheidende legislative Gremien auf gemeinsamer Ebene sind nicht mehr die einzelstaatlichen Parlamente bzw. die im Bismarck´schen und Wilhelminischen Deutschland noch existierenden anderen legislativen Einrichtungen (wie preußisches Herrenhaus o. ä.). Die an die Gemeinschaft abgegebenen Befugnisse werden nur teilweise von gewählten gemeinsamen Legislativvertretungen wie
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Zur einfacheren Lesbarkeit wird die direkte Gegenüberstellung der vergangenen und der heutigen Strukturprobleme in der Gegenwartsform geschrieben. Vgl. Charles-Louis de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Stuttgart 2011, zuerst erschienen 1748. Vgl. John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt am Main 1995, zuerst erschienen 1690. Locke hat zunächst Legislative und Exekutive getrennt, während Montesquieu dazu noch die Judikative eigenständig ausgewiesen hat. Vgl. Locke, Abhandlungen, 291ff., und Montesquieu, Geist, 213ff.
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Europaparlament 5 und Reichstag 6 ausgeübt. Ein Großteil der Gesetzgebungskompetenz fällt vielmehr den ursprünglichen Exekutivzusammenschlüssen Rat der EU, der oft als Ministerrat bezeichnet wird, sowie dem Europäischen Rat als Zusammenschluss der Staats– und Regierungschefs auf europäischer Ebene und dem Bundesrat im Reich zu. 7 Sie sind die Hauptentscheidungsträger, die die Richtung der gemeinsamen Politik festlegen. Bei ihnen liegt ein Großteil der kollektiven Initiativmöglichkeiten, ob diese oder jene Rechtssetzung sinnvoll und nützlich sei. 8 Mit der Gemeinschaftsexekutive sind die eben genannten Gremien allerdings überfordert. Daher sind neue Exekutivorgane notwendig – in der EU gibt es eine Europäische Kommission mit Vertretern aller Mitgliedsstaaten. 9 Im Deutschen Reich entstand eine Reichsleitung als de-facto-Regierung, die nur verfassungsrechtlich keine kollektiv arbeitende Regierung war und den Reichkanzler als formal einzigen verantwortlichen Minister besaß. 10 Diese Exekutivorgane führen Beschlüsse aus und können Gesetzgebungsinitiativen starten. Die Störung des Prinzips der Gewaltenteilung wird auch an einer Bezeichnung für EU-Recht deutlich. Während in den Mitgliedsstaaten Gesetze in Parlamenten beschlossen werden, sind auf europäischer Ebene die jeweiligen Regierungsmitglieder im Ministerrat an der Entscheidungsfindung maßgeblich beteiligt. EU-Recht, welches vom Regelungsgehalt her eigentlich mit Gesetz bezeichnet werden könnte, heißt daher häufig Verordnung. 11 Verordnungen fallen vom Na5
Der Grundsatz ist geregelt in Artikel 14 EU-Vertrag (nachfolgend EUV), vgl. dejure.org/gesetze/EU/14.html (13.01.2013). 6 Die wichtigsten Aufgaben des Reichstages wurden geregelt in Artikel 23 der Reichsverfassung, vgl. Werner Frotscher / Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, München 1997, 207. 7 Böhmer bezeichnet die Minister im Ministerrat und den Bundesrat als „Gesandtenkongreß“, Vgl. die einen guten juristischen Vergleich durchführende Arbeit von Alexander Böhmer, Die Europäische Union im Lichte der Reichsverfassung von 1871. Vom dualistischen zum transnationalen Föderalismus, Berlin 1999, das Zitat 76f., inhaltlich 76ff. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundesrates war geregelt in Artikel 5 der Reichsverfassung, vgl. Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, 206. 8 In der Verfassungspraxis unter Kaiser Wilhelm II. kam die Initiative oft vom Reichskanzler oder aus den Reichsämtern, die formal dem Reichskanzler als einzigem Minister unterstanden. Vgl. Alexander König, Wie mächtig war der Kaiser. Kaiser Wilhelm II. zwischen Königsmechanismus und Polykratie von 1908 bis 1914, Stuttgart 2009, 67. Auf europäischer Ebene besitzt zwar die Kommission das Initiativrecht. Jedoch haben sich die Kommissare gemäß der Luxemburger Vereinbarung von 1966 im Ministerrat vorher von der Durchsetzbarkeit ihrer Anliegen zu überzeugen. Vgl. Böhmer, Europäische Union, 82f. Auch wenn der Luxemburger Kompromiss keine formale Gültigkeit besitzt, gilt er doch als Vertrauenstatbestand und kann nicht einseitig aufgekündigt werden. Vgl. www.europarl.europa.eu/brussels/ website/media/modul_10/Zusatzthemen/Pdf/Luxemburger_Vereinbarung.pdf (13.01.2013). 9 Der Grundsatz ist geregelt in Artikel 17 EU-Vertrag, vgl. dejure.org/gesetze/EU/17.html (13.01.2013), dazu kommen die Artikel 244–250 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (nachfolgend AEUV), der nach dem Lissabonvertrag 2007 seit dem 1.12.2009 gilt. Vgl. dejure.org/gesetze/AEUV/244.html bis dejure.org/gesetze/AEUV/ 250.html (13.01.2013). 10 Vgl. König, Kaiser, Kapitel Innenpolitik 64ff., insbesondere 80. 11 Die Europäische Union erlässt nach Artikel 288 AEUV Verordnungen, die „verbindlich“ sind und „unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat gelten.“ Vgl. dejure.org/gesetze/AEUV/288.html
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men her schließlich auch in die Kompetenzen der jeweiligen nationalen Regierungen. Die oft genutzte Bezeichnung „Verordnung“ täuscht somit über die Bedeutung der für das vereinte Europa festgelegten Regeln von Gesetzesrang hinweg. Europäisches Parlament und Reichstag sind die gewählten gemeinschaftlichen Volksvertretungen. Sie sind an der Gesetzgebung beteiligt, unterliegen aber konkurrierenden Einflüssen von Ministerrat und Europäischem Rat bzw. des Bundesrates, die jeweils hauptsächlichen Einfluss auf die Gesetzgebung haben. Das Europäische Parlament war zunächst nur ein Beratungsgremium. Nach der Erweiterung seiner Befugnisse hat das Europäische Parlament heute im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die Möglichkeit, über bestimmte Vorschläge der Kommission gemeinsam mit dem Ministerrat zu entscheiden. 12 Das Europäische Parlament ändert Vorschläge der Kommission und des Rates, ist aber noch benachteiligt gegenüber den anderen beiden Gremien. Kommt keine übereinstimmende Entscheidung zustande, wird ein Vermittlungsausschuss eingesetzt, der einen Kompromiss erarbeitet. Wird der Kompromiss von einer der Seiten nicht akzeptiert, ist die Vorlage abgelehnt. Dieses Verfahren ähnelt dem heutigen innerdeutschen Vermittlungsausschussverfahren. 13 Das Vorschlagsrecht liegt dagegen noch immer bei der Kommission, die sich wiederum am Ministerrat orientiert. 14 In anderen Rechtssetzungsverfahren ist das Europäische Parlament noch weniger beteiligt. So ist in der Gemeinsamen Außen– und Sicherheitspolitik der Rat der EU, also der Ministerrat, entscheidend, während das Europäische Parlament im Bereich der Stellungnahmen verbleibt. 15 Beim Abschluss bestimmter Verträge, wie dem Beitritt von neuen EU-Mitgliedern, der Festlegung des von der Kommission entworfenen und vom Ministerrat beschlossenen EU-Etats und der Einsetzung der von den nationalen Regierungen benannten Mitglieder der EUKommission ist die Zustimmung des Parlaments nötig. 16 Zustimmung, Mitentscheidung oder Anhörung: der Aufgabenzuschnitt des EU-Parlaments ist in den letzten Jahren mehrfach verändert worden. Offenkundig ist die Rolle des EUParlaments die eines reagierenden Gremiums, die bis zu einem gewissen Grade als Kontroll– und Aufsichtsinstanz ausgeübt werden kann. Die Initiative für EURecht mit Gesetzescharakter liegt bei der Kommission, der aus den Exekutivvertretern der EU-Mitgliedsstaaten bestehende Ministerrat ist der wichtigste rechtssetzende Teil.
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und dejure.org/gesetze/AEUV/289.html (13.01.2013). Nicht alle Verordnungen sind jedoch Teil der Gesetzgebung, sondern es gibt auch Exekutivverordnungen. Die der Gesetzgebung gleichkommenden Verordnungen sind geregelt in Artikel 289 AEUV. Artikel 294 AEUV, vgl. dejure.org/gesetze/AEUV/294.html (13.01.2013). Ebd. Vgl. Hinweis zur Luxemburger Vereinbarung (Anm. 8). Artikel 36 EUV, vgl. auch die Artikel 21–46 EUV, dejure.org/gesetze/EU/21.html bis dejure.org/gesetze/EU/46.html (13.01.2013). Vgl. Informationsseite des Europäischen Parlaments, europa.eu/about-eu/institutions-bodies/ european-parliament/index_de.htm (13.01.2013).
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Der Reichstag war formal gleichberechtigter Gesetzgebungspartner gegenüber dem Bundesrat. Beide Seiten konnten Gesetze vorschlagen. 17 In der Praxis entwickelte sich aber ein Verfahren, wonach die Entwürfe überwiegend von der Reichsleitung in der Exekutive hergestellt und dann zunächst im Bundesrat beschlossen wurden. 18 Im Reichstag versuchte die nur formal an keine Parteien gebundene Reichsleitung die Zustimmung für ihre bereits durch den Bundesrat gegangenen Vorlagen zu bekommen. Der Reichstag änderte diese oftmals massiv ab, bevor er seine Zustimmung gab. Eigene Gesetzesinitiativen des Reichstages beschränkten sich meist auf Beschlüsse, die verbündeten Regierungen, also den Bundesrat, zu ersuchen, zu diesem oder jenem Thema einen Gesetzentwurf vorzulegen. Diese Beschlüsse wurden mitunter mehrfach wiederholt, wenn der Bundesrat die Angelegenheit dilatorisch behandelte. Ausformulierte Vorschläge des Reichstages waren seltener. Die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung durch den Bundesrat wurde in verschiedenen Fällen als so groß angesehen, dass der Reichstag lieber den Bundesrat aufgeforderte, selbst den Entwurf vorzulegen. Die Folge war eine eher reagierende Verhaltensweise des Reichstages mit weitgehendem Verzicht auf die Vorlegung eigener Gesetzentwürfe. 19 Dazu passend wurde auch der Haushalt, der Gesetzesrang hatte, vom Bundesrat dem Reichstag zur Zustimmung vorgelegt. 20 Bei bestimmten internationalen Verträgen des Reiches, die die Gesetzgebung tangierten, musste die Zustimmung von Bundesrat und Reichstag eingeholt werden. Auf die Ernennung der Mitglieder der Reichsleitung hatten Bundesrat und Reichstag dagegen keinen Einfluss. 21 Sowohl der Reichskanzler als auch die Mitglieder der Reichsleitung wurden allein vom Kaiser ernannt und entlassen. Der Kaiser musste bei seinen Ernennungen keine Bedingungen berücksichtigen und war in seinen Entscheidungen frei. 22 Insofern hat das Europäische Parlament an dieser Stelle weitergehende Funktionen als der Reichstag, indem das Europäische Parlament Kandidaten für die Europäische Kommission ablehnen darf.
17 Artikel 5 und 23 RV, vgl. Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, S. 206f. Böhmer benennt als Kennzeichen für den Bundesrat das Prinzip der Gewaltenvereinigung mit legislativen (gegenüber dem Reichstag), exekutiven (gegenüber der Regierung) und judikativen Kompetenzen (gegenüber dem Reichsgericht). Vgl. Böhmer, Europäische Union, 76. 18 Vgl. König, Kaiser, Kapitel Innenpolitik 64ff., insbesondere 67. 19 Vgl. ebd. 20 Der Gesetzesrang des Reichshaushalts stand in Artikel 69 RV, Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, 208. 21 Ursprünglich sollte es in der deutschen Reichsverfassung von 1871 nur einen verantwortlichen Minister geben. Bismarck wollte als dieser einzige Minister über der Reichsleitung stehen und nicht wie in Preußen von Mehrheitsbeschlüssen der Minister abhängig sein. Aufgrund der Fülle der zu bewältigenden und ständig wachsenden Aufgaben konnte der Reichskanzler nicht alle Themen alleine bewältigen. Unterhalb der Ministerebene wurden nach verschiedenen Ressorts geordnete Reichsämter mit Staatssekretären an Stelle von Ministerien geschaffen. Daher wird auch hier der in der Historiographie bereits eingeführte Begriff Reichsleitung und nicht Reichsregierung genutzt. Vgl. z. B. bei Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, Machtstaat vor der Demokratie, München 1998, passim. 22 Vgl. König, Kaiser, 66f., 76f.
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Europäisches Parlament und Reichstag sind – wie evident gezeigt – jeweils die reagierenden Teile. Sie sind jeweils unzureichend in der Lage, eigene Vorschläge durchzusetzen und müssen mit fremden Vorlagen arbeiten. Jene müssen zwar nicht passiv hingenommen werden, doch die Mitarbeit erstreckt sich entweder auf Teiländerungen von in den Grundzügen bereits vorgegebenen Entscheidungen, die auch den Aufgaben von Aufsichtsgremien entsprechen könnten, oder auf konsequente Ablehnung der Beschlussvorlagen. Europäisches Parlament und Reichstag weisen somit eine grundsätzlich destruktive Strukturkomponente auf, während Kommission und Ministerrat bzw. Reichsleitung und Bundesrat die Politikgestaltung dominieren. Die kreativen Köpfe der beiden Parlamente sind gegenüber den Kollegen aus Ministerrat und Kommission benachteiligt. Gestaltungswillige Abgeordnete können ihren mangelnden Einfluss relativ schnell erleben. Wenn sie resignieren, scheiden die Konstruktiven entweder bald aus dem Parlament aus oder begnügen sich mit ihrer zweitrangigen Stellung. Der Anteil unkreativer oder gar destruktiv tätiger Abgeordneter kann dadurch größer werden, als es in Parlamenten allgemein üblich ist. Natürlich kommen immer wieder neue Abgeordnete, die sich im Parlamentsalltag versuchen und im Selbstversuch ihre Möglichkeiten austesten. Die Anziehungskraft des Parlaments für mögliche Volksvertreter bleibt aber hinter ihren grundsätzlichen Möglichkeiten. Viele Gestaltungswillige engagieren sich lieber in anderen Gesellschaftsbereichen. Auch hier wird die destruktive Strukturkomponente sichtbar. Die Öffentlichkeitswirkung der Parlamente wird ebenfalls nachteilig beeinflusst. Zwischen der Wirkung des Europaparlaments und des Reichstags gibt es dabei viele Unterschiede. Während der Reichstag omnipräsenter Bestandteil der Tagespresse war 23, findet das Europäische Parlament vor allem zu besonderen Anlässen breitenwirksamen Eingang in die Berichterstattung. 24 Die Gestaltungschancen beider Institutionen verursachen jedoch ähnliche Abbilder in den Medien. Positivereignisse werden eher den gestaltenden Gremien zugeschrieben. 25 Die Parlamente können sich vor allem durch die Ablehnung, viel weniger durch die 23 Reichstagsreden wurden in der deutschen Tagespresse unterschiedlicher politischer Couleur an herausgehobener Stelle im Wortlaut vollständig abgedruckt. Da Radio, Fernsehen und Internet noch nicht erfunden waren, konnte sich der Zeitungsleser den Informationen aus dem Reichstag nicht völlig verschließen. 24 Natürlich bietet insbesondere das Internet heute tagtäglich reichliche Informationen zum Europäischen Parlament. Diese Nachrichten erreichen die Bürger jedoch nicht von selbst, da sie sich selbst dieses Wissen beschaffen müssen – was weniger Menschen aktiv als passiv tun – und es heute viele Informationskanäle mit einer Fülle an Details gibt. Nur wenn über das Europäische Parlament in den Hauptnachrichtensendungen von Funk und Fernsehen oder in der Boulevardpresse an exponierter Stelle berichtet wird, erreicht das Europäische Parlament größere Breitenwirkung. 25 Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied: Während sich im Kaiserreich die öffentliche Wahrnehmung vom legislativ tätigen Bundesrat, bestehend aus Vertretern der Länderexekutiven, auf die neue Gemeinschaftsexekutive Reichskanzler und Reichsleitung, sowie nach Reichskanzler Otto von Bismarck auf Kaiser Wilhelm II. übertrug, gilt die heutige öffentliche Wahrnehmung den politischen Initiativen, die in der EU sowohl aus den Regierungen der Mitgliedsstaaten (Ministerrat) als auch von den EU-Kommissaren kommen.
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Abwandlung geplanter Projekte mit Negativschlagzeilen in den Medien präsentieren. Ihre Öffentlichkeitswirkung ist somit noch destruktiver, als es den tatsächlich vorhandenen Kompetenzen entsprechen würde. Eine mögliche Strukturreform mit mehr Macht für die gewählten Volksvertretungen wird dadurch schwerer vermittelbar, da sie zwangsläufig für den Eindruck sorgen, in ihrer Mitte gar keine Kräfte zu haben, die gestalterische politische Richtlinien setzen können. Und an dem öffentlichen Eindruck ist auch etwas dran, da – wie beschrieben – kreative Köpfe weniger von der parlamentarischen Tätigkeit angezogen werden. Sehr stark vereinfacht kann man die Kompetenzverteilung in der EU und im Deutschen Kaiserreich mit der Lage in einem Sandkasten vergleichen: Setzt man in diesen Sandkasten drei Kinder zum Sandburgenbauen und gibt nur zweien von ihnen die dafür nützlichen Hilfsmittel wie Eimer, Schippen, Wasser und Buddelförmchen, werden nur diese zwei Kinder den Bauerfolg erzielen. Das dritte Kind kann den beiden Spielgefährten höchstens mit einfachen Tätigkeiten bei deren Burgenerrichtung helfen. Andernfalls kann es zusehen, den Burgenbau kommentieren, es verlässt vielleicht resigniert die Buddelkiste, oder es bleibt die destruktive Variante: Die Sandburgen der andern beiden Kinder werden kaputt gemacht. Der Ausweg ist offensichtlich: auch das dritte Kind braucht seine Hilfsmittel, damit es seine kreativen Gedanken umsetzen kann. Die Akzeptanz von Europäischem Parlament und Reichstag bei der jeweiligen wahlberechtigten Bevölkerung unterscheidet sich allerdings. Im Deutschen Kaiserreich galt das freiere Wahlrecht für den Reichstag im Vergleich zu den Einzelstaaten, daher war die Wahlbeteiligung für den Reichstag viel höher als für die im allgemeinen ungleich gewählten Vertretungen der deutschen Länder. 26 Da in den EU-Mitgliedsstaaten die nationalen Parlamente ebenso frei gewählt werden wie die EU-Parlamentarier, entfällt der „sonderkonjunkturelle“ Grund für eine besondere Akzeptanz des EU-Parlaments. Dem hinter Ministerrat und Kommission zurückfallenden Einfluss des Europäischen Parlaments entspricht somit die geringere Akzeptanz in der Bevölkerung, verdeutlicht durch den Indikator einer im Allgemeinen geringeren und sich weiter verkleinernden Wahlbeteiligung. 27 Die öffentlich tagenden Gremien Europaparlament und Reichstag haben weniger Rechtsfestsetzungsmöglichkeiten, als ihnen im Sinne konsequenter Gewaltenteilung zustünde. Die Transparenz von Entscheidungen geht dadurch in der Öffentlichkeit zurück, die durch die Berichterstattung in den Medien vermittelt 26 So lag die Wahlbeteiligung bei den Reichstagswahlen 1890 bei 71,6%, 1893 bei 72,5%, 1898 bei 68,1%, 1903 bei 76,1%, 1907 bei 84,7% und 1912 bei 84,9%. In Preußen gab es dagegen Wahlbeteiligungen für das Abgeordnetenhaus von 1893 und 1898 je 18,4%, 1908 und 1914 je knapp 33%. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, zum Reichstag 522 und zum Abgeordnetenhaus 512. 27 Die Wahlbeteiligung für das Europäische Parlament entwickelte sich von 62% 1979 für 9 Mitgliedsländer über 59% 1984 bei 10, 58,4% 1989 bei 12, 56, 7% 1994 bei 12, 49,5% 1999 bei 15, 45,5% 2004 bei 25 und 43% 2009 bei 27 Mitgliedsstaaten. In Deutschland lag die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen bei: 65,7% 1979, 56,8% 1984, 62,3% 1989, 60% 1994, 45,2% 1999, 43% 2004 und 43,3% 2009. Vgl. www.europarl.europa.eu/ aboutparliament/de/000cdcd9d4/Wahlbeteiligung-(1979–2009).html (13.01.2013).
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wird. Die mangelnde Öffentlichkeit bereits in legislativ wirkenden Gremien wie Ministerrat und Bundesrat macht die Entscheidungen der neuen Exekutiven wie Reichsleitung und EU-Kommission noch unkenntlicher, als sie es ohnehin schon sind. Ist eventuell bei nationalen Parlamenten der Beschluss von Gesetzesrang noch von öffentlicher Aufmerksamkeit begleitet worden, sind die Intentionen für die Ausführung nachvollziehbar. Wollen Beamte der Exekutive den Zweck der Rechtsgrundlage auf dem Verordnungswege umwidmen, z. B. wenn per Ausführungsverordnung statt einer zu fördernden Gruppe A plötzlich eine neue Gruppe B vorrangig berücksichtigt werden soll, kann mit öffentlichem Druck und Hinweisen an den Gesetzgeber eingeschritten werden. Die vorherige öffentliche Verhandlung des Gesetzentwurfs mit Begründungen von Regierung und Opposition kann dabei die Intentionen des Beschlusses verdeutlichen. Ist dagegen schon der Gesetzgeber im Verborgenen tätig wie der Bundesrat und zum Teil auch der Ministerrat, fehlen die Eingriffsmöglichkeiten für die Öffentlichkeit. Begünstigung und Korruption werden dadurch erleichtert. Dabei können derartige Vorwürfe aus der Öffentlichkeit selbstverständlich unbegründet sein, jedoch fördert allein die verborgene Vorgehensweise entsprechenden Verdacht, sie fördert den bösen Schein. Medienpräsenz sorgt somit durch Information für Transparenz von Entscheidungen. Es ist keine Neuigkeit, die Medien als einen über Montesquieu hinausgehenden eigenständigen vierten Bereich der Gewaltenteilung zu bezeichnen. 28 Wie konnte es zur Störung des Prinzips der Gewaltenteilung in gemeinschaftlichen Gremien sowohl im vereinten Europa als auch im Deutschen Kaiserreich kommen? Die Einigungsmotive sind zwar sehr verschieden, die Vorgehensweise beim Zusammenschluss ist aber trotz der bestehenden Unterschiede wie dem Verbund souveräner Staaten mit bundesstaatlichen Ansätzen in Europa einerseits und die Schaffung eines Bundesstaates in Form des Kaiserreiches andererseits, ähnlich. 29 Zunächst erfolgen die Verhandlungen zwischen den Regierungen der zueinander findenden Staaten auf außenpolitischem Wege. Derartige Verhandlungen sind Domäne der Exekutive. Die legislativen Gremien sind allenfalls in bestimmte Mitbestimmungsverfahren einbezogen. Bestimmte Rechte, die der Machtsicherung im eigenen Territorium dienen können, werden – insoweit dafür noch die Entscheidungsmöglichkeiten bestehen – länger in der Zuständigkeit der Staaten behalten als andere Aufgaben, die dafür im Zweifelsfall weniger nützlich sind. Oder anders betrachtet: Abgegeben werden am ehesten die Kompetenzen, die für die Herrschaftssicherung am wenigsten notwendig sind. Während also gemeinsam bestimmte Regeln z. B. für die Wirtschaft beschlossen werden, verbleibt der Zugriff auf Militär und Polizei auf einzelstaatlicher Ebene, denn die Möglichkeit des Ausstiegs aus dem sich herausbil28 Selbst Wikipedia hat einen Eintrag zur Presse als vierte Gewalt. 29 Böhmer geht sogar 1999 schon so weit von „Staatenbund/internationaler Organisation“ einerseits und „Bundesstaat und damit ,Verfassungsqualität‘“ andererseits zu schreiben. Vgl. Böhmer, Europäische Union, 203.
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denden vereinten Regierungssystem besteht nur dann, wenn der Zugriff auf den dafür erforderlichen staatlichen Erzwingungsapparat durch den Mitgliedsstaat insbesondere in den Bereichen Militär, Polizei und der Zugriff auf Finanzen noch gegeben ist. 30 Hier liegt dann auch ein wichtiger Unterschied zwischen der deutschen Reichseinigung und dem europäischen Einigungsprozess vor. Das Kaiserreich hatte im Gegensatz zur EU den Zusammenschluss zum Bundesstaat bereits vollzogen. Während sich die EU-Mitgliedsländer als souveräne Staaten innerhalb eines Staatenbundes den Zugriff auf ihre jeweiligen Streitkräfte bewahrt haben, wurde das Militär aller Einzelstaaten im Föderalstaat Deutschland mit Ausnahme Bayerns in Friedenszeiten unter preußische Führung gestellt, im Kriegsfall kam auch die bayerische Armee unter preußische Fittiche. Außerdem besaßen Württemberg und Sachsen Reservatrechte, die aber deutlich geringer als für Bayern ausfielen. 31 Im kaiserlichen Deutschland unterstand die machtsichernde Armee (im Gegensatz zur Flotte, die dem Reich zugeordnet war) damit nicht dem neugegründeten Reich sondern dem größten Einzelstaat Preußen. Die alte großgrundbesitzende, protestantische, preußische Adelselite sollte auf diese Weise auch im vereinten Deutschland den Zugriff auf den Erzwingungsapparat behalten. 32 Der evidente Unterschied zwischen der EU und dem kaiserlichen Deutschland in diesem Punkt bestätigt dabei Aussage, wonach die Entscheidungsträger der sich vereinigenden Länder am ehesten die Kompetenzen an die neue Gemeinschaft abgeben, die sie für die Machtsicherung am wenigsten benötigen, während sie im Umkehrschluss den Zugriff auf Armee, Polizei und Finanzen möglichst lange erhalten. Beim Geld sitzen die Einzelstaaten sowohl im Kaiserreich als auch in der EU am längeren Hebel. Während die finanzschwachen Reichsinstitutionen am Tropf der Ländermatrikularumlagen hingen und nur relativ geringe Steuern selbst erhoben 33, verfügt die EU heute immerhin über ein von den europäischen Länderregierungen verabredetes System der Eigenmittelfinanzierung. 34 Wenn wie im Zuge der Finanzkrise einiger EU-Staaten seit 2008 die regulären EU-Mittel jedoch nicht 30 Für die europäischen Staaten des 19. und beginnenden 20. Jahrhundert hat den Reservebehalt monarchischer Prärogativen der britisch-US-amerikanische Soziologe Michael Mann untersucht. Auch ohne Vereinigung von Staaten blieb das Militär in Europa lange Vorrecht der Monarchen, die so ihre Machtchancen wahrten. Vgl. Michael Mann, Geschichte der Macht. Bd. 3, Teil I, Die Entstehung von Klassen und Nationalstaaten, Frankfurt a. M. / New York 1998, 263–270. 31 Zu den Reservatsrechten von Bayern, Württemberg und Sachsen hinsichtlich der Organisation des Militärs vgl. Gerhard Breuer, Sonderrechte in der Reichsverfassung von 1871 und der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung der Idee der abgestuften Integration, Münster 1997, für Bayern 5–13, Württemberg 32–35, Sachsen 46–48. 32 Vgl. König, Kaiser, 130ff. 33 Vgl. Böhmer, Europäische Union, 85–89 und die zähen Finanzdebatten zwischen Reichs– und Ländervertretern in: Rudolf Kroboth, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches während der Reichskanzlerschaft Bethmann Hollwegs und die Geld und Kapitalmarktverhältnisse (1909–1913/14), Frankfurt a. M. / Bern / New York 1986, passim. 34 Artikel 311 AEUV, vgl. dejure.org/gesetze/AEUV/311 (13.01.2013).
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reichen, hängt die ganze Union wieder an den Beschlüssen der Regierungen der Mitgliedsstaaten zu EFSF und ESM 35, also am Ministerrat. Eine Reihe wichtiger Kompetenzen wird also bei der Gründung zentraler Institutionen erst einmal von den Mitgliedsstaaten behalten, bis sich eine Richtung der gemeinschaftlichen Politik herauskristallisiert. Unter anderem aus Praktikabilitätsgründen behalten dann die einzelstaatlichen Exekutiven die Regelungsinitiative in den gemeinschaftlichen Entscheidungen, was von den jeweiligen legislativen Gremien daheim bestätigt wird. Die Regelungen des fortschreitenden Einigungsprozesses sind dann aber immer weniger grundsätzliche außenpolitische Verträge, sondern sie sind vielmehr von Gesetzescharakter. Die zunächst rein außenpolitisch tätigen Regierungen der Einzelstaaten ziehen in diesem Übergang den maßgeblichen Einfluss auf die Gesetzgebungsinitiative an sich, die dadurch öffentlicher Beobachtung entzogen wird. Den neuen parlamentarischen Gremien auf gemeinschaftlicher Ebene bleibt nur die von den Mitgliedern zugeteilte passive Rolle von Zustimmung und Ablehnung. Im Ergebnis haben exekutive Gremien der Einzelstaaten auf gemeinschaftlicher Ebene schließlich ganz regulär legislative Kompetenzen, was die neugeschaffenen legislativen Gemeinschaftsgremien, wie oben dargestellt, schwächt. So verschieden EU und Kaiserreich ansonsten sein mögen, ihre jeweilige Entstehungsgeschichte führt zu sehr ähnlichen Verschiebungen bei der Gewaltenteilung.
35 EFSF (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität): der provisorische Stabilisierungsmechanismus zur Eurorettung 2010–2013 bestand noch aus Kreditgarantien der 17 Euro-Staaten. Der Nachfolger ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) bekommt dagegen eigenes Geld. Vgl. www.tagesschau.de/inland/rettungsschirm124.html und www.tagesschau.de/ wirtschaft/esm106.html (13.01.2013).
EUROPÄISCHE EINIGUNG ALS WEG ZUM EWIGEN FRIEDEN? Zur Europadiskussion zwischen Französischer Revolution und Europäischer Neuordnung (1789–1820) Wolf D. Gruner, Rostock 1. Vorüberlegungen Die Idee von der Einigung Europas lässt sich bis in das Mittelalter zurückverfolgen. 1 Insbesondere im 14. und 15. Jahrhundert erhielt der europäische Gedanke aufgrund der politischen und ideologischen Rahmenbedingungen eine neue Dimension, als sich die Konflikte zwischen dem weltlichen Herrscher, dem Kaiser, und dem geistlichen Herrscher, dem Papst, um die Vorherrschaft in der christianitas verschärften. Hinzu kam, dass seit dem 14. Jahrhundert Nationalstaaten in Frankreich und England entstanden. Die „dynastischen“ Nationen wurden zur „dritten Kraft“. 2 Diese Vorgänge und Veränderungen zerbrachen die Einheit und Universalität des christlichen Abendlandes. Sie erfassten nach und nach alle Länder Europas. An ihre Stelle traten dynastische, regionale und territoriale Einzelinteressen. Der Traum von der Einheit Europas blieb jedoch bestehen. Er verband sich in dieser Zeit mit solch unterschiedlichen Gedankengebäuden wie der Schrift des Florentiners Dante Alighieri über die Monarchia 3, der Ausarbeitung Pierre Dubois’ für den französischen König über die De recuperatione terre sancte 4 von 1306, den Überlegungen des späteren Papstes Pius II. 5 zu Europa sowie mit dem 1
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Vgl. Federico Chabod, Storia dell’ idea d’Europa, Bari 61974; Denis de Rougemont, Vingthuit siècles d’Europe, Paris 1990 oder Denis Hay, Europe. The Emergence of an Idea, Edinburgh 21968; Wolfgang Schmale, Geschichte und Zukunft der europäischen Integration, Stuttgart 2008. Vgl. hierzu u. a.: Heinz Schilling, Die Neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten 1250–1750, Berlin 1999. Dante Alighieri, Monarchia. Studienausgabe Lateinisch / Deutsch. Einleitung, Übersetzung und Kommentar von Ruedi Imbach und Christoph Flüeler, Stuttgart 2007, 59–249, sowie Dante Alighieri, Monarchia. Translated and edited by Prue Shaw (Latin / English), Cambridge / New York 1995. Pierre Dubois, De Recuperatione Terre Sancte. Traité de politique generale. Publié d’après le manuscit du Vatican per Ch.-V. Langlois, Paris 1891. [Pius II.], Aeneae Silvii de curialium miseriis epistola, hrsg. von Wilfred B. Mustard mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen, Baltimore 1928; Berthe Widmer (Hg.), Enea Silvio Piccolomini – Papst Pius II. Ausgewählte Texte aus seinen Schriften, Basel / Stuttgart 1960; Fabian Fischer, Das Europabild des Humanisten und Papstes Enea Silvio Piccolomini, München 2007.
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Traktat Georg von Podiebrads, des Königs von Böhmen, über einen Bündnis– und Föderationsvertrag aus dem Jahre 1462/1464. 6 Die Kreuzzugsidee, seit dem 14. Jahrhundert ein Element für die Einigung Europas, unter der Vorgabe die heiligen Stätten in Palästina zurück zu gewinnen, verblasste. Die Türkengefahr als „Kitt“ für die Vereinigung des Kontinents verlor seit dem frühen 18. Jahrhundert seine Schrecken. Es gab Teilungs– und Eroberungspläne für das Osmanische Reich. 7 Wichtig für die weiteren Diskussionen zur europäischen Einigung wurde der um 1610 entstandene Europaplan (Grand Dessin) Heinrichs IV., verfasst von seinem Finanzminister Sully 8, auf den bis weit in das 19. Jahrhundert immer wieder Bezug genommen wurde. Der Plan sah einen Europäischen Rat der „christlichen Republik Europa“ vor. Dieser sollte mehrheitlich entscheiden, Schieds– und Gesetzgebungskompetenzen erhalten und quasi als „Obermacht“ aller europäischen Staaten fungieren. Als „christlicher Friedensbund“ sollte Europa sein inneres Gleichgewicht erhalten und nach außen handlungsfähig werden. In Sullys Plan vermischten sich europäische Einigungsvorstellungen mit Gleichgewichtskonzepten. Die Idee eines ewigen Friedens wurde bis in die Gegenwart zu einem Strukturmerkmal für Pläne und Überlegungen zur Einigung Europas. 9 Die Personen und auch Gruppen, die sich hierüber Gedanken machten, taten dies aus sehr unterschiedlichen Motiven und vielfach höchst divergierenden Blickwinkeln. Oft gehörten sie in ihren Ländern zu einer Minderheit und wurden als Utopisten, Romantiker und realitätsferne Spinner angesehen. Dabei entwickelten sich Europapläne vor allem in Krisenzeiten. Sie waren Ausdruck eines Krisenempfindens, das das politisch-soziale, kulturelle, mentale und wirtschaftliche Klima dieser Transformationsperiode widerspiegelte. Dies traf beispielsweise für die Jahre zwischen 1789 und 1815 zu, eine Periode tiefgreifenden Wandels, der nahezu alle menschlichen Lebensbereiche erfasste, gekennzeichnet durch Jahrzehnte lange, blutige, materielle und personelle Ressourcen verschlingende Kriege. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Agrarrevolution, die Demographische Revolution – die eine bessere Hygiene und medizinischer Versorgung zeitigte –, die Industrielle Revolution, die Transatlantische Doppelrevolution, die Aufklärung und die 6
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Georgius Bohemiae Rex (König Georg von Böhmen), Initium Foederis, quod Georgius Rex Bohemiae, perpetua e pacis constituendae gratia proposuit: Tractatus Pacis toti Christianitati fiendae (Treaty of the Establishment of Peace throughout Christendom), hg. von der Tschechslowakischen Akadamie der Wissenschaftten, Prag 1964. Giulio Alberoni, Progetto del Cardinale Alberoni, per ridurre l’impero turchesco all’obbedienza de i principi christiani, e per divider tra di essi la conquista del medesimo, in: Rivista di Diritto Internazionali VII/1913, ser. II/2, 20–36; [Giulio Alberoni], Des Weltberühmten Cardinals Alberoni Vorschlag das Türkische Reich unter der christlichen Potentaten Bothmäßigkeit zu bringen, Sambt der Art und Weise, wie dasselbe nach der Ueberwindung unter sie zu vertheilen, Frankfurt / Leipzig 1736. Maximilien de Béthune, Duc de Sully, Mémoires des sages et royales oeconomies d’Estat (…) de Henry le Grand, in: Michaud / Poujoulat, Nouvelle collections des memoires pour server à l’histoire de la France depuis le XIIIe siècle, Serie II, Bd. II, III, Paris 1837. Vgl. Heinz Schilling, Europa zwischen Krieg und Frieden, in: Geschichte und Politik in der Schule 41/2004, 7–20.
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Entstehung einer europäischen Wissensgesellschaft. 10 An die Stelle der in unterschiedlichen Formen und mit unterschiedlichen Föderationen diskutierten europäische Idee trat seit dem frühen 19. Jahrhundert die Dominanz nationalstaatlichen Denkens und eine nationale Orientierung von Politik, die auch die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten erfasste. Die politische Idee von der einen und unteilbaren Nation als Erbe der Französischen Revolution von 1789 verdrängte den Europagedanken, ohne dass er vollständig verschwand. 11 2. Europäischer Völkerbund, Gleichgewicht und ewiger Frieden: Vorstellungen und Konzeptionen zwischen 1789 und 1815 Mit seinem Traktat vom Ewigen Frieden, den er zwischen 1712 und 1729 in verschiedenen Auflagen und mit unterschiedlichem Umfang vorlegte, wurde der Abbé de Saint Pierre 12 mit seinen Vorstellungen für eine „paix perpétuelle“ zum „ersten großen Propagandisten der Friedensidee.“ 13 Die politischen Eliten und die Wissenschaft diskutierten sein Projekt, auch wenn seine Ideen als „die Träume eines guten Menschen“ (Voltaire) galten. Voltaire, der im Briefwechsel mit Saint Pierre stand, setzte sich verschiedentlich mit den Ideen des bon Abbé auseinander. 14 Er nannte sie unter anderem den „undurchführbaren Frieden des Abbé de Saint Pierre.“ Für Gottfried Wilhelm Leibniz waren Saint Pierres Ideen realitätsfern. Er sprach in diesem Zusammenhang wie Voltaire vom ewigen Frieden auf dem Friedhof. In seiner Gießener völkerrechtlichen Dissertation zur Erhaltung des europäischen Gleichgewichts kritisierte Eberhard Georg Wittich das Projekt Saint Pierres. Die von diesem herangezogenen zeitgenössischen und historischen Modelle für Staatenbünde seien ungeeignet. Die Fürsten würden nie bereit sein, ihre Souveränität zugunsten eines europäischen Völkerbundes aufzugeben. Kritik an Saint Pierre kam vor allem von den Völkerrechtlern, die für den Umgang unter Staaten rechtliche Verhaltensregeln entwickeln wollten. Die Staatenbeziehungen sollten durch fixiertes, von allen Mitgliedern der Staatengesellschaft anerkanntes
10 Vgl. hierzu ausführlicher: Wolf D. Gruner, Der Wiener Kongress 1814/15 und Europa: Wandel und Neuordnung im Zeichen der Transformation 1750–1830, Stuttgart 2013. 11 Vgl. hierzu mit weiterführender Literatur: Klaus Malettke (Hg.), Imaginer l’Europe, Bruxelles / Paris 1998; Wolf D. Gruner, Europäische Geschichte und Kultur: Kontinuitäten und Brüche, Modelle und Perspektiven, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hg.), Lernen für Europa, Bonn 1994, 13–38. 12 Vgl. beispielsweise Saint Pierre, Charles Irenée Castel Abbé de, Mémoires pour rendre la paix perpétuelle en Europe, 2 Bde., Utrecht 1713; Saint Pierre, Charles Irenée Abbé de, Der Traktat vom Ewigen Frieden, 1713, hrsg. von Wolfgang Michael, Berlin 1922. 13 Kurt von Raumer, Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, München / Freiburg i. Br. 1953, 127 u. 461–496. 14 Einen guten und Ein– und Überblick auch zur Korrespondenz bietet: Jacques Lemaire u. a. (Hgg.), Dictionaire Voltaire – Les Œuvres, les Thèmes, les personage, les lieux, Brüssel 1994.
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Recht reguliert werden. Dieser Gedanke kam dem aufklärerischen Denken entgegen. 15 Saint Pierre wollte durch die Annahme seiner „articles fondamentaux“, wie er in den Annales Politiques betonte, eine „alliance générale & perpétuelle“ herstellen. Er plädierte für die Einführung eines Schiedsgerichtes, die Existenzgarantie und Rechtssicherheit für die Staaten, die Schaffung von Sicherheit, die Gewährleistung der Freiheit des Handels, die Reduzierung der Staats– und Militärausgaben, um zu einem Zusammenleben der Staaten ohne Krieg zu kommen. Die zu unterzeichnenden Artikel sollten dazu dienen künftige Kriege auszuschließen. 16 Ohne den „Katalysator“ Rousseau 17 wäre Saint Pierre einer der zahlreichen Vorkämpfer des literarischen Pazifismus geblieben. Durch seine Auseinandersetzung mit Saint Pierre systematisierte und strukturierte Rousseau dessen Überlegungen 1761 in seinem Extrait. Wichtig erschien Rousseau vor allem, dass der Bund eine Föderation der Völker und nicht der Fürsten sein sollte. Sowohl Saint Pierres Schriften als auch Rousseaus Bewertung hatten großen Einfluss auf Kants philosophischen Entwurf Zum Ewigen Frieden von 1795. 18 Kant war sich sicher, dass die von Rousseau in seinem Kommentar zu Saint Pierre vorgeschlagene Idee der Föderalität schließlich zum ewigen Frieden führen werde. Die europäischen Entwürfe des 19. Jahrhunderts übernahmen diese bahnbrechende Idee Kants fast wortwörtlich. Zwei Gesichtspunkte aus Kants Ewigem Frieden wurden zu charakteristischen Elementen für die weitere Entwicklung der Europa– und Völkerbundideen bis in die Gegenwart: 1. Die Grundlage für einen (europäischen) Völkerbund sollte das Recht bilden; somit mussten die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Föderativordnung durch das Recht bestimmt, d. h. verrechtlicht, werden. 2. Grundvoraussetzung für ein funktionierendes Föderativsystem war, dass zwischen den politisch-sozialen Systemen der Mitglieder eine gewisse Homogenität bestand. Kants Europapläne und Europatheorien trugen entscheidend dazu bei, dass die Europakonzepte nicht mehr länger als idealistische Utopie belächelt, sondern auf die Ebene des ernsthaften wissenschaftlichen Diskurses gehoben wurden. Seine 15 Vgl. Hierzu u. a. Emeric de Vattel, Le Droit des Gens ou principes de loi naturelle appliqués à la conduite et aux affaires des nations & des souverains, 2 Bde., Leiden 1758. 16 Die Artikel finden sich in: Annales politiques de feu Monsieur Charles Irenée Castel Abbé de Saint Pierre, de l’Academie Françoise, Bd. 1, London 1758, 54f. 17 M.G. de Molinari, Abbé Saint-Pierre Membre exclu de l’Academie Française sa vie et ses Œuvres précedées d’une appréciation et d’un précis historique de l’idée de la paix perpétuelle suivies du jugement de Rousseau sur le projet de paix perpétuelle et la polysynodie ainsi que du projet attribué à Henri IV, et du plan Emanuel Kant pour rendre la paix perpétuelle, etc., Paris 1857; Jean-Jacques Rousseau, Extrait du ‚Projet de paix perpétuelle‘ de monsieur l’abbé de saint pierre, Paris 1761; Barbara Stollberg-Rilinger, Einführung in die Frühe Neuzeit (2003), http://www.uni-muenster.de/FNZ-Online/politstrukturen/rahmen bedingungen/quellen/rousseau2.htm, 20.7.2012). 18 Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden. Ein Philosophischer Entwurf, in: Ders., Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, hrsg. von Rolf Malter, Stuttgart 1984. Vgl. auch: Monique Castillo / Gérard Leroy, L’Europe de Kant, Toulouse 2001.
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Schrift ließ den innerstaatlichen Bereich (bürgerliche, republikanische Verfassung) und die Außenbeziehungen institutionell konkreter werden. Die von der Französischen Revolution ausgehenden Impulse auf ganz Europa schienen nun die von Rousseau geforderten Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für eine Republik der Völker zu schaffen. Die Revolution in Frankreich, der Export der Revolution, die französische Expansion über die „natürlichen Grenzen“ Frankreichs hinaus und das Ziel der Befreiung der Nachbarn vom Joch der Tyrannen, die neuen Formen der Kriegführung, die Entwicklung neuer Kriegstechniken und Waffensysteme und die Furcht vor einer neuen Hegemonie beförderten Überlegungen für einen friedenbewahrenden europäischen Völkerbund. Die Europapläne in den Jahren von der Französischen Revolution bis zur europäischen Neuordnung von 1814/15 und der Übergangszeit vom Krieg zum Frieden reichten von Konzepten der Anhängern der Ideen der Revolution, die diese weltweit verwirklicht sehen wollten und in Frankreich das Herzstück für ein Weltreich des Friedens sahen, über Vorstellungen, die Napoleon zum Protektor für Europa machen sollten, die in Napoleon oder Zar Alexander I. einen neuen Heinrich IV. erblickten und sie zu Protektoren eines Europäischen Bundes machen wollten, bis hin zu Überlegungen, die als Voraussetzung für Frieden, Sicherheit und Wohlstandsentwicklung eine föderative Ordnung, aber auch eine neue Gleichgewichtsordnung für Europa anstrebten. Hinzu kamen Vorschläge, Konflikte zwischen Staaten auf friedlichem Wege durch Schiedsgerichte zu regeln, aber auch Überlegungen, die neu gegründeten Vereinigten Staaten von Nordamerika zum Modell für die europäische Einigung und die Sicherung des Friedens vorzusehen. Pierre André Gargaz etwa sah in seiner Schrift Conciliateur des toutes les nations d’Europe, ou projet de paix perpétuelle entre tous les Souverains de l’Europe et leurs Voisins 19 die USA als nachahmenswertes Modell für die Realisierung des Friedensgedankens in Europa an. In den Diskussionen und Verfassungsentwürfen des 19. Jahrhunderts werden die USA als eine Föderativordnung verstanden, die den Interessen der Menschen nach innen und außen am besten gerecht werde. Die Revolution von 1789 in Frankreich eröffnete dann die Chance „das Ideal des so lange erträumten Weltbürgertums und Menschenglücks“ 20 in Frankreich zu verwirklichen, zumal die Erklärung der Nationalversammlung zu den Menschen– und Bürgerrechten in ihrem Charakter kosmopolitisch war. Die Debatten über die Menschenrechte in der Nationalversammlung zeigten auch, dass die Zeit für ein neues, allgemein anerkanntes Völkerrecht gekommen war. Dieses würde auch einen allgemeinen Frieden ermöglichen, über den im Frühjahr 1790 diskutiert wurde. So verkündete Robespierre in der Nationalversammlung, dass diese das Recht habe, über Krieg und Frieden zu entscheiden, nicht der König, denn „la nation française, contente d’être libre, ne veut se engage dans aucune guerre.“
19 Pierre-André Gargaz, A Project of Universal and Perpetual Peace, New York London 1973. 20 Jacob Ter Meulen, Der Gedanke der internationalen Organisation in seiner Entwicklung. Bd. 2, 1789–1889, Teil 1: 1789–1870, Den Haag 1929, 6.
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Frankreich wolle als freie Nation den Frieden erhalten und sich daher nicht an Kriegen beteiligen und es „veut vivre avec toutes les nations, dans cette fraternité qu’avait commandée la nature. Il est de l’intérêt des nations de protéger la nation française, parceque c’est de la France que doit partir la liberté et le bonheur du monde. Si l’on reconnaissait qu’il est utile de prendre ces mesures ou toutes autres semblables, il faudrait décider si c’est la nation qui a le droit de les prendre.“ 21
In der konstitutionellen Phase der Französischen Revolution bis 1791/92 waren die Führer der Revolution durchaus der Ansicht, dass durch das französische Beispiel jetzt der Weg zu einer „Weltbrüderschaft“, zu einer menschlichen Gesellschaft geöffnet werde. 22 Auch Jean Baptiste Cloots 23 gehörte zu den Vertretern der Revolution von 1789, die kosmopolitische Ideen vertraten und sie als Traum von der universalen Republik 24 auch in ihren Schriften verkündeten. Als leidenschaftlicher Verteidiger der Revolution war er davon überzeugt, dass unter der Leitung Frankreichs ein „Weltreich des Friedens“ gegründet werden würde. 25 Der Enzyklopädist und Philosoph Jean Marquis de Condorcet 26 war einer der interessantesten Vertreter eines allgemeinen Friedens in der Revolutionszeit. Mit seiner Kulturphilosophie erreichte die französische Aufklärung einen abschließenden Höhepunkt. Seine Ideen basierten, anders als bei Cloots, auf fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Fragen und Problemen. Er gilt als einer der letzten Enzyklopädisten und Philosophen. Auf die Aufklärung blickte er bereits als eine „historische Erscheinung.“ Mit seiner kurz vor seinem Tode 1794 verfassten Schrift Equisse des progrès de l’esprit humain, eines Entwurfes einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes 27, wurde er zu einem „der wichtigsten Vertreter des Fortschrittsoptimismus und Denker der Aufklärung vor und während der Zeit
21 Moniteur 4/170, 390f. sowie [Maximilien Robespierre], Discours de Maximilien Robespierre – 21 octobre 1789 – 1er juillet 1794: Discours pronocé à l’Assemblée constituante le 15 mai 1790; Vgl. auch Ter Meulen, Gedanke, 5ff. 22 Rede Mirabeaus vom 23.8.1790 zitiert nach, Ter Meulen, Gedanke, 5. Vgl. auch Wolf D. Gruner, Les idées de l’Europe politique au XVIIIe siècle, in: Malettke, Imaginer l’Europe, 145–162, hier 162. 23 Jean Baptiste Cloots, La république universelle ou adresse au tyrannicides, Paris l’an 4 de la rédeption; Orateur du Genre Humain, [Jean Baptiste] Anarchis Cloots membre de la convention nationale, Bases constitutionelles de la republique du Genre humain, Paris 1793. 24 Vgl. Zitate bei Ter Meulen, Gedanke, 21. 25 Cloots, Bases constitutionelles, 4. 26 Marie Jean Antoine de Condorcet, Œuvre, hrsg. von A. Condorcet O’Connor / A. Arago, 12 Bde., Paris 1847–1849 (Reprint Stuttgart / Bad Cannstadt 1968). Vgl. auch: Rolf Reichardt, Reform und Revolution bei Condorcet. Ein Beitrag zur späten Aufklärung in Frankreich, Bonn 1973. 27 Marie Jean Antoine Nicolas, Marquis de Caritat, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, hrsg. von Wilhelm Alff, Frankfurt a. M. 1976.
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der Französischen Revolution.“ 28 Auch verteidigte er den Friedensplan des Abbé de Saint Pierre. Dieser habe darauf gesetzt, dass das Verstandesmäßige im Menschen sich durchsetzen werde und die Nationen das Kriegsrecht aufgeben und ihre Interessen und Ziele der Entscheidung eines Schiedsgerichtes unterwerfen werden, doch „cette espérance est encore loin de se réaliser.“ 29 Condorcet plädierte daher dafür, dass die einzelnen Staaten ihre Flotten und Heere behalten sollten, da eine Abschaffung sich nicht würde durchsetzen lassen. Er schlug aber einen internationalen Gerichtshof vor, der Streitigkeiten unter Staaten regeln sollte 30, ein Vorschlag, der am Ende des 19. Jahrhunderts wieder aufgenommen wurde. Das Zusammenwirken aller Menschen und Völker der Welt für den Fortschritt im gesellschaftlichen Bereich müsste ergänzt werden durch eine „République universelle des sciences.“ Er stellte sich dabei eine Internationale Akademie vor, die auch eine „Weltsprache“ entwickeln sollte. 31 Joseph Jean Baptiste Gondon 32 befasste sich in seinen 1807/08 vorgelegten Schriften mit dem Staatsrecht, dem Völkerrecht sowie mit den Maßnahmen für die Verwirklichung des ewigen Friedens. Charakteristisch für seine umfangreiche Darstellung sind zahlreiche, oftmals nicht klar herausgearbeitete Aspekte, die er in verschiedenen Zusammenhängen wiederholt. Es gehe ihm dabei „pour l’intérêt de toutes les nations du monde.“ 33 Sein Ziel sei es daher „de réunir les peuples pour les faire jouir d’une paix imperturbable.“ 34 Grundlage hierfür müsse die Schaffung eines „gouvernement politique“ sein, das über den anderen Verwaltungsebenen stehe und die Beziehungen zwischen den Staaten unter größtmöglicher Bewahrung der Rechte der Völker und der Regierungen regelt. Als „gouvernement civil“ bezeichnete er die Regierungsautorität jedes einzelnen Staates. Europa unter eine Regierung zu stellen hielt Gondon für problematisch, denn die Völker und Staaten seien aufgrund ihrer Traditionen, ihrer Lebensräume, ihrer geographischen Situation und ihrer Interessen grundverschieden. Es sei für das „genre humain“ eine sehr große Gefahr, wenn dieses der „puissance énorme d’un seule monarchie européenne“ ausgesetzt werde. 35 Im Jahre 1800, kurz nach dem Staatsstreich Bonapartes, veröffentlichte Jean Baptiste Claude Isoard unter dem Namen Delisle de Sales eine Schrift über die
28 Ingrid Groß, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat de Condorcet. Geschichte als Fortschrittsoptimismus, in: Tabula Rasa 75/2012, Heft 5, http://www.tabularasa-jena.de/artikel/artikel_ 3990 (1.8.2012). 29 Condorcet, Œuvres VIII, 23. 30 Ebd., 27: „renoncer au droit de faire la guerre, il leur eût proposé de conserver ce droit, mais d’établir en même temps un tribunal chargé de juger, au nom de toutes les nations, les différends qui peuvent s’élever entre elles.“ 31 Ebd., 597. 32 Joseph Jean Baptiste Gondon, Du droit public et du droit des gens, ou principes d’association civile et politique; suivis d’un projet de paix générale et perpétuelle, 3 Bde., Paris 1808. 33 Gondon, Du droit public, I, ii. 34 Ebd., I, xv. 35 Vgl. hierzu ebd., III, 10f.
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Möglichkeiten einer französischen Regierung nach dem Ende der Revolution.36 In einer weiteren untersuchte er die Grundlagen eines europäischen Friedens. 37 Delisle de Sales bewunderte Napoleon und kritisierte die Folgen der Revolution scharf. Frankreich habe sich in der vergeblichen Hoffnung auf Glück und Freiheit zu einer Revolution hinreißen lassen. 38 Die Erfolge Napoleons veränderten die Lage. Er gab Europa den Frieden zurück. Delisle de Sales beschrieb die militärischen Erfolge des jungen Napoleon in Italien. Dieser sei ein „vainqueur incomparable par ses talents et le valeur des François, une gloire nouvelle l’attend. Elle est plus belle, plus pur que celle qui l’environne déjà. Ce la gloire de Pacificateur selon le voué général de l’Europe. Quand on sait comme lui faire la guerre, on doit savoir faire la paix.“ 39
In seinem Buch über den europäischen Frieden und seine Grundlagen kritisierte er das System der europäischen Staatenbeziehungen, das durch ein neues Friedenssystem abgelöst werden sollte. Er setzte seine Hoffnung darauf, dass „le besoin de la paix a rendu pour la première fois l’Europe entière cosmopolite.“ 40 Auf einem internationalen Kongress sollte Europa neu geordnet werden. 41 Napoleon Bonaparte hatte auch außerhalb Frankreichs Bewunderer. Zu ihnen gehörte bis zur Kriegswende 1812/13 der Philosoph, Mathematiker und Sprachwissenschaftler Krause, von dem später noch die Rede sein wird. 42 Auch andere Zeitgenossen sahen in Napoleon den möglichen Vollender des „Großen Plans“ Heinrichs IV., der Europa einen und den Frieden bringen werde. Nikolaus Vogt, der 1804 zusammen mit Fürstprimas Karl Theodor Freiherr von Dalberg 43 in Paris die Krönung Napoleons zum Kaiser der Franzosen miterlebte, bewunderte Napoleon und hoffte, wie er in seinen Staatsrelationen zwischen 1804 und 1809 immer wieder betonte, dass Napoleon die Rolle des großen Friedensstifters übernehmen werde. 44 Zum Charakter des von Napoleon geplanten europäischen Völkerbundes bemerkte Vogt, dass in den mit Frankreich zu verbindenden Staaten durch die Einführung des Code Napoléon die Gleichheit der Bürger sichergestellt werde, dass die Autonomie der einzelnen Staaten in einer föderativen Ordnung erhalten und dass durch das Hausgesetz Bonapartes die Einheit der Re36 [Anonym, Delisle de Sales], De la fin de la Révolution Françoise et de la possibilité du Gouvernement Actuel de la France, Leipzig 1800. 37 Delisle de Sales [Jean Baptiste Claude Isoard], De la paix de l’Europe et de ses bases, Paris 1800. 38 Delisle de Sales, De la fin de la Révolution Françoise, 5. 39 Ebd., 37. 40 Delisle de Sales, De la paix de l’Europe, 50. 41 Ebd., 368f. 42 Vgl. hierzu ausführlicher: Wolf D. Gruner, Immanuel Kant (1724–1804) – Friedrich Gentz (1764–1832) – Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832) und die Deutschland– und Europavorstellungen ihrer Zeit. Vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Julirevolution, in: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 66/2006, 145–167, 157ff. 43 Vgl. zu Dalberg neuerdings: Herbert Hömig, Carl Theodor von Dalberg. Staatsmann und Kirchenfürst im Schatten Napoleons, Paderborn 2011. 44 Vgl. hierzu: Nicolaus Vogt, Europäische Staats-Relationen, Bde. 9, 10 und 13.
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gierung bewahrt werde. Napoleon „war durch die Schlachten von Austerlitz, Jena und Friedland zum Schiedsrichter des Kontinents geworden“ und Frankreich „gebietet über das Schicksal von Europa.“ 45 Der Philologe und Historiker August Ernst Zinserling hatte, seit 1807 im Dienste des Königs von Westfalen stehend, noch 1809 keine Zweifel daran, dass Napoleon zum Föderator Europas werden und die europäischen Völker in einem Bundesstaat vereinigen könne. Die wunderbare Union „de tous les peuples du monde sous un même empire, ne sont pas encore universellement dévéloppées.“ 46Aufgrund der Rahmenbedingungen sei ein europäischer Bundesstaat einem Staatenbund vorzuziehen. Zinserling vergleicht die „politique fédérative“ der Antike mit der Moderne und kommt zu dem Schluss, „que Napoléon vielle sur le bonheur de ses peuples. Enfin on ne saurait nier en considérant la politique fédérative de Napoléon, qu’il est impossible de se régler sur un plus parfait modèle.“ 47
Zinserling, der gerne Gegenwart und Antike gegenüberstellt, vergleicht auch Frankreich und Napoleon mit Rom und stellt fest: „La France est plus puissant que l’ancienne Rome, et les petits états près du Rhin sont moins a craindre pour elle que ne l´étaient les peuples d’Italie pour Rome. Nous n’aurons droit d’espérer des lois éternelle pour la confédérati[o]n Française que quand elle embrassera tous les peuples de la terre. Et quelles lois ne doit-on pas attendre? – C’est le grand Napoléon qui les donnera!“ 48
Im Anschluss an Kants Traktat Vom Ewigen Frieden kam es in Deutschland und Europa zu einer Zentraldebatte über den ewigen Frieden, der sich bis in die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts zog, aber zu keiner Übereinstimmung der verschiedenen Grundpositionen führte. Zustimmende Wortmeldungen kamen von Philosophen wie Jakob Friedrich Fries 49 oder dem Jurist Karl Salomo Zachariae. 50 In seinem Urteil schwankend war die unter einem Pseudonym erschienene Schrift von J. C. Justus Sincerus Veridicus. 51 Er plädierte für einen Völkerbund. Alle Mitglieder sollten gleichberechtigt sein. Um funktionieren zu können, enthielt seine staatenbündische Organisation Organe der Legislative, der Exekutive und Judikative. Die Freiheit des Handels und der Meere sah er als eine wichtige Voraussetzung für die enge wirtschaftliche Verknüpfung von Staaten. Sie würden die 45 Nicolaus Vogt, Betrachtungen über die Lage von Europa, im Juli 1808, in: Europäische Staats-Relationen, Bd. 12, Frankfurt a. M. 1808, 134–154, 134ff., 134, 137. 46 Zinserling, Système fédératif, 13. 47 Ebd., 71. 48 Ebd., 84. 49 Jakob Friedrich Fries, Die Gesetzgebung im Staatenverein, in: Ders., Philosophische Rechtslehre und Kritik aller positiven Gesetzgebung mit Beleuchtung der gewöhnlichen Fehler in der Bearbeitung des Naturrechts, Jena 1803, 170–179. 50 Karl Salomo Zachariae, Janus, Leipzig 1802. 51 J.C. Justus Sincerus Veridicus [Karl August Joseph Hofheim], Von der Europäischen Republik. Plan zu einem ewigen Frieden nebst Abriß der Rechte der Völker und Staaten und einer Erklärung derselben, Altona 1796.
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Kriege wegen der gegenseitigen Abhängigkeiten verhindern und den Weg zum ewigen Frieden öffnen. Zwischen 1800 und 1805 sah Friedrich von Gentz in einem Gleichgewicht52 den richtigen Weg zur europäischen Friedenssicherung. 53 „Das Gleichnis vom Gleichgewicht“ 54 wurde für ihn zum Leitstern seines Europadenkens. So wie die Menschen durch die „Errichtung einer Bürgergesellschaft in den Stand des Friedens übergehen sollen“ sollten die Staaten „durch Errichtung eines Völkerbundes“ einen dauerhaften Frieden herstellen. 55 Aus seiner Sicht fiel das „Ideal des ewigen Friedens“ mit dem „Ideal des vollkommenen Staates“ zusammen, auf der Grundlage der unumschränkten „Herrschaft des Rechtes.“ Die Idee des ewigen Friedens war für ihn nur insofern eine Chimäre, „als eine vollkommen-rechtliche Verfassung unter den Menschen überhaupt eine Schimäre bleibt. Wir sollen nach beiden mit Ernst und Muth, und unermüdeter Thätigkeit streben; aber so lange wir Menschen sind, werden beide unerreichbar für uns seyn.“ 56
Die Zeitgenossen strebten angesichts der Napoleonischen Hegemonialmonarchie die Wiederherstellung des europäischen Gleichgewichtes an. Nach den Erfahrungen mit der Universalmonarchie Napoleons wurde die Gleichgewichtsidee überall in Europa, insbesondere in den Kanzleien der Regierungen und unter den Staatsrechtlern, als ein sinnvolles und wirksames Zukunftsmodell, als ein Ausweg gegen die „Vergrößerungssucht“ von Staaten angesehen. Über den Umweg, ein reformiertes, verrechtlichtes europäisches Gleichgewichtssystem für eine „Europäische Republik“ zu schaffen, sollte als Endstadium doch noch der ewige Friede in der europäischen Staatengesellschaft verwirklicht werden. Es kommt dabei immer wieder zu einer Vermischung von Föderationsidee und Gleichgewichtsgedanken. 57 Der Göttinger Historiker Arnold Hermann Ludwig Heeren, der als erster eine moderne Geschichte des europäischen Staatensystems vorgelegt hatte 58, befasste sich dabei auch mit der Rolle und Bedeutung eines europäischen Zentralstaates für das europäische Gleichgewicht. Diesem maß Heeren eine wichtige Stabilisierungsfunktion für das Gesamtsystem bei; zugleich verwies er darauf, dass der Zentralstaat auch zu einem Sicherheitsrisiko für die Gleichgewichtsordnung wer52 Vgl. ausführlicher hierzu: Wolf D. Gruner, Deutschland und das europäische Gleichgewicht seit dem 18. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Gleichgewicht in Geschichte und Gegenwart, Hamburg 1989, 60–133. 53 Vgl. Friedrich Gentz, Ueber den Ewigen Frieden, in: Historisches Journal 2/3, Dezember 1800, 711–790. 54 Heinz Gollwitzer, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1964, 133ff. 55 Gentz, Ueber den ewigen Frieden, 712. 56 Ebd., 781. 57 Vgl. etwa [Anonymus], Betrachtungen ueber die Wiederherstellung des politischen Gleichgewichts von Europa, Leipzig 1814, 102f., 108f. 58 Arnold Hermann Ludwig Heeren, Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Colonien, von seiner Bildung seit der Entdeckung beyder Indien bis zu seiner Wiederherstellung, nach dem Fall des Französischen Kaiserthrons, Göttingen 31819, 6.
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den könnte. In einem „deutschen Gleichgewicht“ sah er eine Vorbedingung für ein stabiles und funktionierendes europäisches, denn „der deutsche Bundesstaat [stehe] nur insofern in Uebereinstimmung mit dem allgemeinen Wesen des allgemeinen Staatensystems von Europa, als er die Freyheit desselben aufrechterhalten [helfe].“ 59
Nach den Vorstellungen Heerens wäre die für Europas und Deutschlands Interessen sinnvollste Organisationsform des „Centralstaates“ von Europa die eines Bundesstaates, denn der „Deutsche Bundesstaat ist ein Friedensstaat in einem viel höhern Sinne. Sein Frieden ist der Frieden, der aus dem Rechtszustand hervorgeht; er dauert mit diesem und er hört auf mit diesem.“ 60
Die Überlegungen Heerens und anderer zeitgenössischer Autoren machen auf einen historischen Komplex der europäischen Geschichte aufmerksam, der unter veränderten Rahmenbedingungen und nach tiefverwurzelten Erfahrungen der europäischen Völker bis in die Gegenwart seine Aktualität nicht verloren hat. Jedes Konzept für eine europäische Ordnung, für die Verwirklichung der Einigung Europas, muss den europäischen Zentralstaat als potentielles Sicherheitsrisiko aber auch als Integrator und Stabilisator in die Betrachtungen einbeziehen. 61 Von den zahlreichen Europa– und Deutschlandplänen in der Schlussphase der Napoleonischen Kriege, fanden viele aus den unterschiedlichsten Gründen kaum Resonanz in der zeitgenössischen Diskussion. Es waren dies aber Überlegungen, die wichtige Aspekte für die weiteren Diskussionen enthielten. Hierzu gehörten u. a. der 1814 dem Wiener Kongress von Saint Simon über die Reorganisation der europäischen Gesellschaft vorgelegte Plan 62 oder der etwa gleichzeitig verfasste Entwurf eines europäischen Staatenbundes des oben erwähnten Rechtsphilosophen Karl Christian Friedrich Krause. Beide, Saint Simon und Krause, passten nicht in die politische Landschaft am Ende der Napoleonischen Kriege. Im Falle Krauses kam noch hinzu, dass er ein nationales, deutsches Pathos in seine Schrift hinein brachte. Aus Krauses Sicht waren wesentliche Entwicklungen und Errungenschaften der Kultur Europas „deutschem Geiste entkeimt, und haben in Deutschlands Boden die ersten Wurzeln getrieben.“ 63 Daher 59 Arnold Hermann Ludwig Heeren, Der Deutsche Bund in seinen Verhältnissen zu dem europäischen Staatensystem, bey Eröffnung des Bundestags dargestellt, Göttingen 1816, 11. 60 Ebd., 14f. (Hervorhebung im Original). 61 Vgl. hierzu ausführlicher: Wolf D. Gruner, Deutschland in Europa 1750 bis 2007: Vom deutschen Mitteleuropa zum europäischen Deutschland, Cluj Napoca 2009; Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund 1815–1866, München 2012. 62 M. le Comte [Claude-Henri] de Saint Simon / A[ugustin] Thierry, De la reorganization de la société européenne ou la nécessité et des moyens de rassembler les peuples de l’Europe en un seul corps politique, en conservant a chacun son independence nationale, Paris 1814. Vgl. auch: Charles-Olivier Carbonell, L’Europe de Saint Simon, Toulouse 2001. 63 Karl Christian Krause, Entwurf eines europäischen Staatenbundes als Basis des allgemeinen Friedens und als rechtliches Mittel gegen jeden Angriff wider die innere und äußere Freiheit Europas, Erlangen 1814 (Ausgabe: Leipzig 1920, 20).
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schlug er u. a. für den zu schaffenden europäischen Staatenbund Deutsch als erste Amtssprache und Berlin als Sitz des Bundes vor. Auch wenn Krauses „Europäischer Staatenbund“ nicht die gebührende Beachtung fand, enthielt er doch Elemente und Institutionen, die uns mit unterschiedlicher Akzentuierung in Überlegungen zur europäischen Einigung regelmäßig begegnen. Sie können in gewisser Weise als Kontinuitätsbausteine angesehen werden. Es sind dies u. a. das Element der Rechtsgleichheit aller Mitglieder in einem europäischen Zusammenschluss, die Existenz– und Besitzstandgarantie der Bundesstaaten, die Beistandspflicht der Mitglieder, der Schutz der Verfassungen, die Unverletzbarkeit des einzelstaatlichen Territoriums sowie die Freiheit von Handel und Verkehr. Deutschland sollte Vorbild für Europa werden. Ein europäischer Staatenbund könnte sich später zu einem „Weltrechtsbund“ fortentwickeln. Mit gewissem Recht ist rückblickend kommentierend mit Blick auf Kant und seinen Schüler Krause festgestellt worden, dass sich am Ende der Kriege nicht der Idealismus eines Immanuel Kant, eines Jakob Friedrich Fries oder eines Karl Christian Krause durchgesetzt habe, sondern die Staatsraison eines Metternich und Talleyrand. Der auf dem Wiener Kongress gegründete föderative Deutsche Bund 64 wurde im 19. Jahrhundert neben den USA wiederholt als Modell für eine Einigung Europas jenseits des Nationalstaates vorgeschlagen. Zu nennen ist die im Jahre 1821 von Conrad Friedrich von Schmidt-Phiseldek vorgelegte Schrift Der Europäische Bund 65, in der er anregte, die europäischen Staaten nach dem Vorbild des Deutschen Bundes oder der Nordamerikanischen Freistaaten (USA) zusammenzuschließen. Dieses Motiv für einen europäischen Staatenbund, vereint und gestärkt gegen außereuropäische Mächte auftreten zu können, kehrte im 19. Jahrhunderts und verstärkt im Vorfeld des Ersten Weltkrieges wieder. Es reichte über die Forderung, Europa als „dritte Kraft“ zu etablieren, bis in die Diskussionen der ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und in die unmittelbare Gegenwart hinein.
64 Vgl. hierzu ausführlicher: Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund, München 2012. 65 Conrad Friedrich von Schmidt-Phiseldek, Der Europäische Bund, Kopenhagen 1821, 3.
FRANCOS „HIMMLISCHE HEERFÜHRERINNEN“ Zur Bedeutung des Sakralen in Spanien (1936–1962) Birgit Aschmann, Berlin Zum Ende des Jahres 2007 versandte die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen eine neue Broschüre. Das Thema: Himmlische Dienstleister – konkret ging es um religionspsychologische Überlegungen zur Renaissance der Engel, die eine zunehmende Zahl von Individuen zur Linderung ihrer jeweiligen Lebensrisiken an ihrer Seite wähnen. 1 Die aktuelle Attraktivität der Engel – so die Verfasser – ergebe sich nicht zuletzt aus deren dezent-unaufdringlichem Verhalten und ihrem individuellen Design. Veranstalter von Engelkongressen laden explizit dazu ein, sich aus dem Allerlei des Angebotenen wie bei einem Buffet das herauszupicken, was den Einzelnen anspreche. 2 Diese Manifestationen eines spirituellen Bedürfnisses sind zunächst einmal geeignet, die These zu widerlegen, wonach die Zeit nach der Aufklärung eine „entzauberte“ sein müsse. Zugleich aber verweisen sie auf Vielfalt und Wandlungsfähigkeit religiöser Verhaltensmodi, schließlich steht eine derart frei flottierende postmoderne Religiosität nicht nur den Katechismen der christlichen Konfessionen entgegen, sondern unterscheidet sich auch erheblich von einigen charakteristischen Formen der Aneignung des Religiösen im 20. Jahrhundert. In diesem Säkulum stach insbesondere die Instrumentalisierung des Religiösen durch die diktatorischen Regime der Moderne hervor, die durch spezifische, durchaus konkrete Interpretationsvorgaben religiöse Empfindungen für politische Zwecke nutzbar machen wollten. Die faschistischen und kommunistischen Diktaturen waren darauf ausgelegt, das christliche Glaubenssystem auszuhöhlen, indem u. a. mit Hilfe der liturgischen Formensprache das transzendentale und emotionale Bedürfnis der Einzelnen ganz auf einen innerweltlichen Heilsprozess ausgerichtet wurde. Als „politische Religionen“ 3 im Sinne u. a.
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Sebastian Murken / Sussan Namini, Himmlische Dienstleister. Religionspsychologische Überlegungen zur Renaissance der Engel; in: EZW-Texte 196/2007. So formulierte die Mitveranstalterin des 1. Engelkongresses 2006 in Hamburg, Sabrina Fox, in ihrer Einführung: „Wir bieten Ihnen an, wie in einem Buffet, bestimmte Dinge, wovon Sie sich was nehmen können. Oder nicht.“ Sie erhielt dafür spontanen Zwischenapplaus. Siehe Murken / Namini, Dienstleister, 14. Vgl. Hans Maier / Michael Schäfer (Hgg.): „Totalitarismus“ und „politische Religionen“: Konzepte des Diktaturvergleichs, 3 Bde., Paderborn 1996–2003.
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Emilio Gentiles strebten diese totalitären Systeme danach, sich selbst an die Stelle der traditionellen christlichen Religion zu setzen. 4 Das Franco-Regime hingegen ging als prominentestes Beispiel einiger autoritärer Regime im 20. Jahrhundert einen anderen Weg, indem es sich dezidiert in die Tradition des spanischen Katholizismus stellte. 5 In keinem der westlichen Staaten Europas gingen Nation und Katholizismus eine so enge und dauerhafte Bindung ein wie im spanischen „Nationalkatholizismus“.6 Diese spezifische Entwicklung Spaniens zu kennen ist schon deshalb wichtig, weil die Nachwirkungen bis in die unmittelbare Gegenwart hineinreichen. Darüber hinaus kann die Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert als Beispiel dafür dienen, die Säkularisierungsthese zu hinterfragen, und Anregungen für die Diskussion geben, ob die Religion womöglich, wie Hermann Lübbe formulierte, gar ein „Modernisierungsgewinner“ 7 ist. Allemal lädt ein Blick auf die Religiosität in Spanien dazu ein, mittels eines noch ausstehenden internationalen Vergleiches ein präziseres Verständnis von der Bedeutung des Sakralen für die Funktionsweisen der Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu gewinnen. Dafür aber ist in Spanien selbst noch manche Forschungslücke zu schließen. Zwar sind die Kooperationen zwischen dem Franco-Staat und der spanischen Kirche hinlänglich bekannt. Auch vom – zumindest anfänglichen – Wohlwollen der Päpste gegenüber dem Franco-Regime weiß man, schließlich schickte sich Franco an, die vom Vatikan als ideal empfundene Staatsform eines autoritären Ständestaates als drittem Weg zwischen Demokratie
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Vgl. u. a. Emilio Gentile, Fascism as Political Religion; in: Journal of Contemporary History 25/1990, 229–251; ders., The Sacralisation of Politics, Definitions, Interpretations and Reflections on the Question of Secular Religion and Totalitarianism, in: Totalitarian Movements and Political Religions 1/2000, Heft 1, 18–55; Klaus-Georg Riegel, Der MarxismusLeninismus als „politische Religion“; in: Gerhard Besier / Hermann Lübbe (Hgg.), Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit, Göttingen 2005, 15–48; Claus-Ekkehard Bärsch, Der Nationalsozialismus als „politische Religion“ und die „Volksgemeinschaft“; in: ebd., 50–78. Doch gerade der anti-religiöse Impetus der Totalitarismen hat Anlass dazu gegeben, die Bezeichnung als „politische Religion“ zu hinterfragen, vgl. Hermann Lübbe in der Diskussion des Vortrags von Juan J. Linz: Der religiöse Gebrauch der Politik und/oder der politische Gebrauch der Religion. Ersatz-Ideologie gegen ErsatzReligion, in: Hans Maier (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996, 129–154; Diskussion 155–170, 167; ebenso Friedrich Kießling, Nationalsozialismus als politische Religion. Zu einer neuen und alten Deutung des Dritten Reiches, in: Archiv für Sozialgeschichte 45/2005, 538, 543. Zur Typisierung des Franquismus als „autoritäres Regime“ vgl. nach wie vor v. a. Juan J. Linz, Totalitarian and Authoritarian Regimes, in: Nelson W. Polsby / Fred I. Greenstein (Hgg.), Handbook of Political Science, Reading/Mass. 1975, Bd. III, 175–411; ders., An Authoritarian Regime: Spain, in: Erik Allardt / Stein Rokkan (Hgg.), Mass Politics. Studies in Political Sociology, New York 1970, 251–283. William J. Callahan, The Spanish Church: Change and Continuity, in: Nigel Townson, Spain Transformed. The Late Franco Dictatorship, 1959–75, New York 2007, 182–194., ders., The Catholic Church in Spain, 1875–1998, Washington/DC 2000, 381–440. Hermann Lübbe, Modernisierungsgewinner: Religion, Geschichtssinn, direkte Demokratie und Moral, München 2004.
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und Totalitarismus zu realisieren. 8 Jedoch sind die Mechanismen, mit Hilfe derer sich die Franquisten die Unterstützung der Massen sichern wollten, keineswegs vollständig erschlossen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Fragen nach politisch relevanten Alltagsritualen und sinnstiftenden Mythenproduktionen erst allmählich von der spanischen Historiographie entdeckt werden, die mit starker Verzögerung auf die Potentiale der kulturgeschichtlichen Wende reagierte. Es geht im Folgenden um die Rekonstruktion der franquistischen Vereinnahmung von Elementen der Laienfrömmigkeit, die an verschiedenen Kulten beispielhaft erläutert werden soll. Es geht um den Kult 1) des Heiligen Jakobus, 2) der Virgen del Pilar aus Zaragossa, 3) des Heiligen Herzens Jesu und 4) der Theresa von Ávila. Gemeinsam ist allen vier Kulten erstens die jahrhundertelange Verankerung im kollektiven Gedächtnis der Spanier und zweitens die Verbindung von popularer Devotion mit der Zuschreibung nationaler Anliegen. Dabei ist die Geschmeidigkeit, mit der die Bilder dieser Figuren den je aktuellen Bedürfnissen der zeitgenössischen Gegenwart angepasst wurden, ein Lehrbeispiel für die soziokulturelle Konstruktion auch religiöser Traditionen. Bis ins Mittelalter lassen sich die Wurzeln des zusehends militaristisch eingefärbten Jakobus-Kultes zurückverfolgen. Seitdem der Heilige Jakobus – der mittelalterlichen Historia Turpini zufolge – Karl dem Großen im Traum erschien, um ihn aufzufordern, in Spanien die Sarazenen zu besiegen, mutierte der Apostel und Märtyrer allmählich über den Schutzpatron der Kreuzfahrer zum schlagenden Ritter. 9 Schließlich galt er als unbesiegbarer Heerführer der Reconquista. Mit gezogenem Schwert sei er – so die jetzige Tradition – auf einem weißen Pferd den Truppen voran gezogen. Dieserart wurde aus dem friedlichen Fischer Jesu der sagenumwobene Matamoros (Maurentöter) der Reconquista. Dessen kämpferische Qualitäten ließen die spanischen Heere auch nach Abschluss der Reconquista nicht im Stich. So wurde die Schlacht von Lepanto 1571 seinem Konto gutgeschrieben, und auch in Lateinamerika sahen die Spanier den Heiligen Jakobus beim Eroberungsgeschäft vorangehen. Aus dem Matamoros war der Mataindios geworden. 10 Zum Bruch mit dem Apostel kam es dann 1931, als die spanische Republik die seit dem Mittelalter am Patronatsfest üblichen königlichen Opferga8
So hatten die Enzykliken von Leo XIII. (Rerum novarum von 1891) und Pius XI (Quadragesimo anno von 1931) einen „Dritten Weg“ aufweisen wollen: einen Staatsaufbau auf der Grundlage der christlichen Soziallehre. Pius XI nahm erwiesenermaßen gegenüber den autoritär regierten katholischen Ländern Portugal, Polen, Österreich und Spanien eine positive Haltung ein, nicht zuletzt weil er an die Notwendigkeit eines charismatischen Führers zur Durchsetzung der christlich-sozialen Ziele glaubte. Vgl. Gerhard Besier, „Berufsständische Ordnung“ und autoritäre Diktaturen. Zur politischen Umsetzung einer „klassenfreien“ katholischen Gesellschaftsordnung in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, in: Gerhard Besier / Hermann Lübbe (Hgg.), Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit, Göttingen 2005, 80f. 9 Vgl. u. a. Klaus Herbers, Jakobsweg. Geschichte und Kultur einer Pilgerfahrt, München 2006, 91–99. 10 Ilja Mieck, Kontinuität im Wandel. Politische und soziale Aspekte der Santiago-Wallfahrt vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart; in: Geschichte und Gesellschaft 3/1977, 299–328.
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ben an den Apostel aufkündigte. Die jetzige Verfassung der Republik, die jegliche öffentliche religiöse Manifestation unter den Vorbehalt der Genehmigung der Behörden stellte, sah weder offizielle Devotionsakte noch die Ausgabe öffentlicher Gelder dafür vor. Der strikte Laizismus der Republik war der Endpunkt einer sich seit dem 19. Jahrhundert abzeichnenden Entwicklung des spanischen Liberalismus, der in der Volksfront von 1936 schließlich militant antiklerikale Züge annahm. 11 Schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts hatte es immer wieder antiklerikale Ausschreitungen gegeben, doch die Eskalationen zum Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs nahmen eine neue Dimension an. Als in den ersten Wochen vor allem Priester und Ordensleute von republikanischen Truppenteilen umgebracht wurden (insgesamt verloren rund 7000 Kleriker in den ersten drei Monaten des Bürgerkriegs ihr Leben), lancierte der Erzbischof von Santiago jenes Argumentationstableau, das im Franquismus Karriere machte. 12 Es zeige sich, so stand im offiziellen Mitteilungsblatt des Erzbistums am 31.8.1936, dass der Kampf, der gegen die Mörder von Bischöfen und Priestern geführt werde, „ein patriotischer ist, ja, ein sehr patriotischer, aber vor allem ist es ein religiöser Kreuzzug, von gleichem Typ wie die mittelalterlichen Kreuzzüge, denn heute wie damals gilt der Kampf dem Glauben an Christus und der Freiheit der Völker!“
Mit dem traditionellen Aufruf zu den Kreuzzügen der Vergangenheit: „Gott will es“, und dem Schlachtruf Santiagos schloss der Bischof seine Botschaft. 13 Es handelt sich hier um die erste nachweisbare Bezeichnung des Bürgerkriegs als „Kreuzzug“, was fortan zu der von den Franquisten bevorzugten Interpretationsfolie der Ereignisse wurde. 14 In der Binnenlogik des Diskurses wurden nun die Franquisten zu Vertretern der gottgewollten Ordnung, die nicht gegen Wesen aus Fleisch und Blut, sondern gegen das böse Prinzip zu Felde zogen. „Wir kämpfen“, so Franco im November 1937, „nicht gegen Menschen, sondern gegen den Atheismus und den Materialismus, gegen alles, was die menschliche Würde erniedrigt.“ 15 In der expliziten Anknüpfung an die Rückeroberung Spaniens von den Arabern bezeichnete Franco den Bürgerkrieg als „zweite spanische Reconquis-
11 Vgl. u. a. Santiago Petschen Verdaguer, España y el Vaticano del Concordato de 1851 al de 1953, in: Paul Aubert (Hg.), Religión y sociedad en España (siglos XIX y XX), Madrid 2002, 27ff. 12 Zu den klerikalen Opfern des Bürgerkrieges vgl. u. a. Antonio Montero Moreno, Historia de la persecución religiosa en España, Madrid 1961. 13 Tomás Muñiz Pablos, Erzbischof von Santiago, Algunas advertencias y disposiciones con motivo de las presentes circunstancias, in: Boletín Oficial del Arzobispado de Santiago, 31.8.1936, 233–238, abgedruckt als Dokument 5 in: Guiliana Di Febo, Ritos de guerra y de victoria en la España franquista, Bilbao 2002, 204. 14 Der Kampf, pflichtete der Bischof von Salamanca einen Monat später bei, habe nur den Anschein eines Bürgerkriegs, in Wirklichkeit sei er halt ein Kreuzzug. Vgl. Hirtenbrief vom 30.9.1936 von Bischof Enrique Pla y Deniel, zitiert in: Montero Moreno, Historia, 698. 15 Francisco Franco im Interview mit L´Echo de Paris, 16.11.1937; abgedruckt in: Palabras del Caudillo, Madrid 1943, 454.
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ta.“ 16 Durch diese Analogiebildung war es möglich, die Kontrahenten aus der nationalen und religiösen Gemeinschaft der Rechtgläubigen auszugrenzen. „Juden, Bolschewisten und Freimaurer“, in der Regel kurz „comunistas“ genannt, galten als die „neuen Sarazenen.“ 17 Die Reconquistaanalogie gab darüber hinaus Gelegenheit zur Apotheose des Caudillo. Er wurde als Kreuzritter verklärt, der durch die siegverheißende Kriegskameradschaft des Heiligen Jakobus ins Sakrale entrückt wurde. Noch im ersten Kriegsjahr tauchten in der „nationalen Zone“ Postkarten auf, die Franco auf einem Schimmel darstellten, der ikonographisch die Assoziation mit Jacobus festschrieb. Nirgendwo kam dieses Programm eindrücklicher zum Ausdruck als bei dem monumentalen Wandgemälde von Arturo Reque Meruvia, welches ihm für die Gestaltung des Valle de los Caídos in Auftrag gegeben worden war. 18 Dieses stellt Franco als Kreuzritter dar, um welchen herum sich all diejenigen scharen, die als Teilhaber an der „Zweiten Reconquista“ galten: zum einen Vertreter aller Truppenteile, zum anderen Repräsentanten des Klerus. Während diese einer in dunklen Tönen gehaltenen irdischen Zone zugeordnet sind, dominiert Franco die Bildmitte, die durch weiße Farbgebung als transzendentale Sphäre hervorgehoben ist. Die Anbindung an das Sakrale erfolgt durch die Überwölbung Francos durch den Heiligen Jakobus, der in gestrecktem Galopp auf einem Schimmel in den Kampf zieht. Durch die Indienstnahme des Heiligen Jakobus wurde früh eine Erwartungshaltung geweckt, die Anhänger der Aufständischen mit einem schnellen Sieg rechnen ließ. Nach dem Bericht von Pilar Primo de Rivera, der Schwester des Falangegründers José Antonio, war ihr Umfeld überzeugt, dass Franco 1937 am Festtag des Jakobus in Madrid einreiten werde, „wie Santiago, auf einem weißen Pferd.“ 19 Auch wenn dieses Ereignis auf sich warten ließ, hatte der Heilige doch – 16 Dekret vom 28.4.1939, unterzeichnet von Franco und Jordana, über die Ehrung der Virgen de Covadonga; als Dokument 1 abgedruckt in: Di Febo, Ritos de guerra, 197. 17 „Los nuevos sarracenos“, vgl. Boletín del Obispado de Ávila, 13.8.1937; zitiert in: Guiliana Di Febo, La Santa de la Raza. Teresa de Ávila: un culto barroco en la España franquista (1937–1962), Barcelona 1988, 45. 18 Von einigen flüchtigen Äußerungen in der Literatur abgesehen, existieren nur erläuternde Hinweise im Internet. Offenbar gehört das Werk zu einem geplanten Zyklus Kreuzzüge im 20. Jahrhundert und ist unter dem Titel Alegoría de Franco y la cruzada 1948/49 verzeichnet vgl. http://www.oronoz.com/pagias/leefoto.php?referencia=11874. Dass das Wandgemälde nicht installiert wurde, wird – ohne belastbaren Hinweis auf die Herkunft der Information – mit der bolivianischen Nationalität des Künstlers erklärt, vgl. Wikipedia-Eintrag zu Arturo Reque Meruvia http://es.wikopedia.org/wiki/Arturo_Reque_Meruvia. Der Sohn des Künstlers, Arturo Reque Cereijo, fühlt sich dem Vermächtnis des Vaters verpflichtet, zur Homepage und zu diversen Ausstellungen seiner Werke in Spanien und Bolivien vgl. http://arturoreque.com/index.html; hier auch rudimentäre biographische Informationen. Vgl. Guiliana Di Febo / Santos Juliá, El franquismo, Barcelona 2005, 14. Nach Auskunft des Madrider Militärarchivs befindet sich das Original im Archivo General Militar de Ávila; es hat eine Größe von 13,70 x 3 m. 19 „Había, sin embargo, entre nosotros un gran optimismo, en la certeza de que todo terminaría rápidamente y que Franco entraría en Madrid como Santiago, en un caballo blanco, el 25 de
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zumindest in der Wahrnehmung der Franquisten – ein Wunder gewirkt und damit seine Parteinahme zugunsten der Aufständischen vor den Augen der internationalen Öffentlichkeit belegt. Denn unmittelbar nachdem Franco am 21. Juli 1937 Santiago wieder offiziell zum Patron Spaniens erhoben, den Jakobustag zum nationalen Feiertag erklärt und die alte Ofrenda wieder eingesetzt hatte, schien sich der Heilige dadurch zu bedanken, dass er die franquistischen Truppen just am 25. Juli die Schlacht bei Brunete gewinnen ließ. 20 Aus Santiago Matamoros war nunmehr Santiago Matacomunistas geworden. 21 Franco zeigte sich seinerseits dankbar, indem er alles tat, den Jakobuskult zu fördern. So ließ er es sich nicht nehmen, die Ofrenda selbst zu überbringen oder Sonderbriefmarken mit Motiven des Jakobswegs unter das Volk zu bringen. Gegenüber den europäischen Nachbarländern illustrierten Motive mit den weitverzweigten Jakobswegen die Relevanz eines transnationalen Kultortes. 22 Das Wiederaufleben der Pilgerfahrten nach Santiago de Compostela im 20. Jahrhundert ist damit auch auf die Nützlichkeit des Kultes für die franquistische Selbstinszenierung zurückzuführen. Dass die Pilgerfahrten im 19. Jahrhundert zurückgegangen waren, hatte u. a. damit zu tun, dass die Virgen del Pilar dem Jakobus zwischenzeitlich an Popularität den Rang abgelaufen hatte. Das auf einer Säule (Pilar) platzierte Madonnenbildnis von Zaragossa stand gemäß der Tradition wirkmächtiger Legenden in einem engen Verhältnis zum Jakobus. Schließlich sei es diese Virgen höchstpersönlich gewesen, die den schwankenden Apostel bei ihrer Begegnung am Ebro im Jahre 40 n. Chr. für die Missionierung Spaniens überhaupt erst habe gewinnen können. Von Engeln ins Heilige Land zurückgetragen, sei nur die Säule, auf der sie dem Jakobus erschienen war, zurückgeblieben, auf welche im Mittelalter eine Madonnenskulptur gehoben wurde. 23 Diese trat im 19. Jahrhundert insofern das Erbe des Jakobus‘ an, als nunmehr vor allem der Virgen del Pilar militärische Fähigkeiten zugeschrieben wurden. Sie avancierte zur Heldin des Unabhängigkeitskrieges, den die Spanier 1808–1814 gegen die napoleonischen Truppen führten. 24 Aus dieser Tradition entwickelte sich eines der bekanntesten Volkslieder der Region:
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Julio, que era su fiesta.“ Vgl. Pilar Primo de Rivera, Recuerdos de una vida, Madrid, 1983, 75. Vgl. Mieck, Kontinuität, 302. Ebd., 306. Ebd., 303. Zur umfangreichen Geschichte und ihrer Bedeutung für die Laienfrömmigkeit vgl. Francisco Gutiérrez Lasanta, Historia de la Virgen del Pilar, Bd. 1–5, Zaragoza 1971–1975. Zu den Wundern siehe insbesondere Bd. 4: Los milagros, Zaragossa 1974. Zum politischen und militärischen Kontext vgl. Charles Esdaile, War and politics in Spain 1808–1814, in: The Historical Journal 31/1988, Heft 2, 295–317; ders., Fighting Napoleon. Guerrillas, Bandits and Adventurers in Spain, 1808–1814, New Haven / London 2004; Ronald Fraser, La maldita Guerra de España. Historia social de la guerra de la Independencia, 1808–1814, Barcelona 2006, bzw. auf Englisch: Napoleon’s Cursed War. Spanish Popular Resistance in the Peninsular War, 1808–1814, London / New York 2008.
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„La Virgen del Pilar dice que no quiere ser francesa que quiere ser capitana de la tropa aragonesa.“ 25 = Die Jungfrau von Pilar sagt, dass sie nicht französisch werden, dass sie Heerführerin der aragonischen Truppe sein will.
Nun nahmen am Krieg gegen Frankreich jedoch die Spanier aller politischen oder religiösen Überzeugungen teil, die jeweils die künftige Protektion der Virgen für sich beanspruchten. Entsprechend kam es zu Beginn des Bürgerkriegs zum diskursiven Kampf um das emotional so bedeutsame Siegessymbol. Selbst kommunistische Milizionäre reklamierten die Madonna für sich. So druckte die republikanische Zeitung Heraldo de Madrid Anfang August 1936 eine Neufassung des populären Gesanges, der fortan zum meistgesungenen Lied der aragonesischen Milizen werden sollte: „La Virgen del Pilar dice que no quiere ser fascista que quiere ser capitana del obrero comunista.“ 26 = Die Jungfrau von Pilar sagt, dass sie nicht faschistisch werden dass sie Heerführerin des kommunistischen Arbeiters sein will.
Doch vergeblich protestierten die Republikaner gegen eine Vereinnahmung der so volksnahen Virgen für eine – wie sie es sahen – gegen das spanische Volk gerichtete Ideologie. Dem militärischen Sieg lange voraus eilte der symbolische Sieg über die Jungfrau. Ausschlaggebend war ein militärisches Missgeschick der Republikaner, das umgehend als wundersames Wirken der Virgen verstanden wurde. Als nämlich am 3. August 1936 ein republikanisches Flugzeug über der Basilika drei Bomben abwarf, gingen diese nieder, ohne zu explodieren. 27 Stattdessen wallten die Emotionen einer religiös tief verwurzelten Bevölkerung auf, die sich umso empfänglicher für die dualistisch-manichäische Interpretation des Bürgerkriegs als Kreuzzug zeigte. Die Franquisten schmiedeten das Eisen, indem sie die Kirche der Pilar zum nationalen Heiligtum erklärten und aus der Heerführerin der aragonesischen Truppe die „Generala“ des spanischen Heeres machten, welche sie demonstrativ mit den Insignien eines Generalkapitäns (capitán general) ausstaffierten. 28
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Zitiert in Di Febo, La Santa, 37. Heraldo de Madrid, 11.8.1936, zitiert in Di Febo, La Santa, 38. Di Febo, La Santa, 37f. Vgl. ABC de Sevilla, 14.10.1936.
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Noch nach dem Ende des Krieges lag der franquistischen Regierung an der Beschwörung der Eintracht zwischen Franco und der Virgen. Bezeichnend ist ein Schulbuch aus dem Jahr 1942, das den Grundschülern im „Triumphmarsch der Virgen Capitana“ vom Pakt Francos mit der Jungfrau von Pilar berichtet, die ihm in persönlicher Ansprache ihren Schutz zugesagt habe: „Du wirst mein Heerführer sein, und ich die Heerführerin des nationalen Spanien.“ 29 Die von ihr empfangenen Befehle hätten den Sieg der nationalen Truppen herbeigeführt, weshalb Franco den lobenden Zurufen nun betont demütig entgegnen würde: „Nicht ich habe das erreicht, es war die Virgen del Pilar.“ 30 Dabei wurde auch in dieser Darstellung der Caudillo in die Sakralsphäre des Kultes integriert, indem die Aureole der Jungfrau zugleich zum Heiligenschein Francos geriet. Auf diese Weise zum nationalen und sakralen Objekt höchster Wertschätzung gemacht, wurde die Virgen von Pilar zum Zielort von Pilgerfahrten aus ganz Spanien. 31 Den Höhepunkt dieser nationalen Wanderbewegung markiert der 12. Oktober 1940, an welchem die Erscheinung Mariens vor 1900 Jahren gefeiert wurde. Der Ruhm der Virgen del Pilar gründete nicht zuletzt auf der wundersamen Rettung aus republikanischer Gefahr. Nicht allen Orten volkstümlicher Verehrung war allerdings dieses Glück beschieden. So erlitt das zentrale Monument in Spanien für den Herz Jesu-Kult ein anderes Schicksal. Auch die Herz-Jesu-Verehrung war in Spanien lange vor Franco fest verwurzelt. Der in ganz Westeuropa v. a. von den Jesuiten verbreitete und vielfach mit nationalen Bedürfnissen verknüpfte Kult hatte im 18. Jahrhundert seine spezifisch spanische Nuancierung erhalten 32: In einer Vision habe Jesus im Jahre 1733 in Valladolid dem Jesuiten Francisco Bernardo de Hoyos sein Herz gezeigt und ihm zugleich geweissagt: „Ich werde in Spanien regieren.“ („Reinaré en España y con más veneración que en otras partes“). 33 Die Prophezeiung ging als „das Große Versprechen“ (Gran Promesa) in die volksreligiösen Überzeugungen ein, die insofern einen nationalen Anstrich erhielten, als Spanien fortan als vom Herrn bevorzugte Nation galt. Der spanische 29 „La Virgen del Pilar dijo: Tu serás mi capitán/Yo seré la capitana/De la España nacional.“ 30 So Anfang und Ende des Liedes: „Generalísimo Franco:/Bien has trazado tu plan/No he sido yo quien lo ha hecho/Fue la Virgen del Pilar.“ Vgl. „Marcha triunfal de la Virgen Capitana“, in der Fibel: Catón Moderno por Edelvive, 1942, 78f; abgedruckt in: Heike Christina Mätzing, Zum Verhältnis von Kirche und faschistischem Staat am Beispiel der Schulpolitik. Ein vergleichender Versuch, in: Gisela Teistler (Hg.), Lesen lernen in Diktaturen der 1930er und 1940er Jahre. Fibeln in Deutschland, Italien und Spanien, Hannover 2006, 103. 31 „España entera se pondrá en marcha hacia la capital del antiguo reino de Aragón“, vgl. Bulletin des Bischofs von León, 12.4.1940; über den Bericht der Pilgerfahrt von Toledo nach Zaragossa vgl. Boletín eclesiástico del Arzobispado de Toledo vom 10.6.1940, abgedruckt in: Di Febo, La Santa, 40f. 32 Zur Geschichte der Herz-Jesu-Verehrung und ihrer Relevanz für die Milieubildung in Deutschland vgl. Norbert Busch, Frömmigkeit als Faktor des katholischen Milieus. Der Kult zum Herzen Jesu, in: Olaf Blaschke / Frank-Michael Kuhlemann (Hgg.), Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, Gütersloh 1996, 136–165; ders., Katholische Frömmigkeit und Moderne. Die Sozial– und Mentalitätsgeschichte des Herz-Jesu-Kultes in Deutschland zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg, Gütersloh 1997. 33 Vgl. Di Febo, La Santa, 52.
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König Alfons XIII. setzte angesichts des innenpolitisch zerrissenen Landes schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die integrative Kraft des Herz-Jesu-Kultes, widmete 1919 ganz Spanien dem Herzen Jesu und ließ noch im selben Jahr im Vorort von Madrid, in Cerro de los Angeles (Hügel der Engel), ein Monument von majestätischer Größe errichten: 28 Meter ragte es in die Höhe, am oberen Ende befand sich eine 9 Meter große Christusstatue. 34 Dieses Monument, das weithin sichtbar die Herrschaft von Religion und Monarchie symbolisierte, war militanten Republikanern ein Dorn im Auge. So kam es ausgerechnet am ersten Freitag, d. h. dem Herz-Jesu-Freitag, des Augusts 1936 nicht allein zur Zerstörung des Monumentes, sondern zuvor zur hochsymbolischen, emotional aufgeladenen Exekution der Christusfigur. 35 Das galt als Attacke auf Christus selbst; die Anhöhe hieß seitdem auch „Kalvarienberg“. Die Bildlichkeit dieses Aktes machte es umso leichter, die unzähligen Exekutionen von Priestern und Ordensleuten als Christusnachfolge zu verstehen und die Attentäter als „die Juden von heute“ zu diskreditieren. 36 Es bestärkte die simplifizierende dualistische Interpretation des Bürgerkriegs als Kampf „zwischen der christlichen Zivilisation und der Barbarei, zwischen dem göttlichen Jesus und dem Juden Karl Marx.“ 37 Der Angriff schrie nach Satisfaktion. Dafür kam es erstens zu feierlichen Abbittzeremonien (desagravios) in Burgos und Salamanca. Zweitens schwoll im „nationalen Spanien“ die Herz-Jesu-Verehrung gemäß einem geradezu trotzigen „jetzt erst recht“ nunmehr zu einer neuen Welle an. Truppenteile und Rathäuser, Kasernen und Schulen wurden dem Herzen Jesu geweiht. Vor allem die Zeremonien in den Rathäusern, denen eine Prozession mit dem Herz-Jesu-Bildnis durch die Straßen der Stadt voranging, gerieten zur sinnfälligen Demonstration des Sieges über die Republik – hatte sich diese doch die strikte Trennung von Kirche und Staat auf die Fahnen geschrieben. Jetzt kam es ostentativ zur Resakralisierung des öffentlichen Raumes. 38 Drittens führte die Vereinnahmung des Kultus durch die franquistische Seite auch hier zur Militarisierung des Sakralen. 39 Dies zeigte sich nicht zuletzt in der Begrifflichkeit für die neu errichtete Herz-Jesu-Kirche in Valladolid, dem Ort der Vision von 1733. Das 1941 eröffnete „Nationale Heiligtum“ galt als „Hauptquartier des Herrn, des Obersten Heerführers aller himmlischen und irdischen Streitkräfte.“ 40 Es waren vor allem die irdischen Streitkräfte, die diesem „Hauptquartier“ die Ehre erwiesen: aus den zahlreichen Pilgerfahrten, die Gläubige aus allen Landesteilen herbeiführten, ragt die Militärwallfahrt von 1945 heraus, in der 50 Generäle mit weiteren 1500 Offizieren nach Valladolid reisten. Ein weiterer Beleg für das enge Bündnis zwischen Nation und Heiligtum ist die in 34 35 36 37 38 39
Ebd., 51f. Ebd., 54. Ebd., 57f. Zitiert ebd., 58. Zu den Feierlichkeiten vgl. ebd., 55ff. Deutlich wurde dies u. a. durch das Titelblatt einer (von Kardinälen und Generälen gestalteten) Sondernummer von 1937 der Zeitschrift Reinaré en España: Um das Herz Jesu herum scharen sich in bunter Reihe Engel, Heilige – und Soldaten. 40 Reinaré en España, Sondernummer vom Juni 1937, 225.
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charakteristischer Weise ausgeschmückte Form eines franquistischen Staatswappens von 1939. 41 Das gevierte Wappen zeigt die Landesteile: Kastilien, León, Aragón, Navarra; in der eingepfropften Spitze ist der aufgebrochene Granatapfel als Symbol der Einnahme Granadas zu erkennen. Das Wappen ist umrahmt von den Säulen des Herkules, geziert mit der Devise Karls V. „Plus ultra“, die nach wie vor zum spanischen Wappen gehören. Außergewöhnlich aber ist jene Aureole über dem Wappenträger, welche der Ikonographie von Isabella I. von Spanien entnommen ist, und zweitens die dem Visionsspruch von 1733 entnommene zweite Devise „Ich werde in Spanien regieren.“ Dieses Versprechen ist offenbar nun eingelöst, schließlich befindet sich im Herzschild des spanischen Wappens kein geringeres Zeichen als das Herz Jesu selbst. Möglich ist dies im Staate Francos, erkennbar durch die dritte genuin franquistische Devise: „una, grande, libre.“ Dabei ist mit „una“ die vermeintlich unteilbare nationale Einheit gemeint, die sich einerseits gegen jegliche Separatismusbestrebungen an den nordöstlichen Peripherien des Landes und andererseits gegen all jene richtete, die nicht dem „nationalen Lager“ angehören wollten. „Libre“ verwies auf die Freiheit von Materialismus, Kommunismus und Atheismus, und „grande“ stand für den selbstbewusst artikulierten Anspruch spanischer Nationaler, international wieder an Bedeutung zu gewinnen bzw. als ein Imperium zu gelten. 42 Diese Sehnsucht wurde nicht zuletzt durch die Aneignung der Symbole der Katholischen Könige zum Ausdruck gebracht: Joch und Pfeilbündel wurden zum festen Bestandteil der franquistischen Emblematik. Die imperiale Idee in das franquistische Selbstverständnis einzuspleißen und zugleich mit dem Sakralen zu verknüpfen, leistete ebenso der Kult um Theresa von Ávila. Die Mystikerin, Schriftstellerin und Begründerin des Ordens der Unbeschuhten Karmeliter im 16. Jahrhundert, wurde offenbar Francos Lieblingsheilige. Dabei war es gerade sie, die im 17. Jahrhundert dem Ruf Santiagos zugesetzt hatte. Damals hatte der Streit um das nationale Patronat die spanische Gesellschaft gespalten. Beharrten die „santiaguistas“ auf dem alleinigen Patronat des Jakobus‘, forderten die „teresianos“, dass ihm die Mystikerin an die Seite gestellt werden müsse. 43 Die spanischen Cortes und der König ließen sich schnell überzeugen und 41 In: Jordi und Arnau Carulla, La Guerra Civil en 2000 Carteles, República – Guerra Civil – Posguerra, Bd. 2, Barcelona 1997, 536. 42 Dieser außenpolitische Anspruch war schon Teil des Parteiprogramms der Falange, vgl. das 27-Punkte-Programm aus dem November 1934, übersetzt abgedruckt in Bernd Nellessen, Die verbotene Revolution. Aufstieg und Niedergang der Falange, Hamburg 1963, 101–107, hier 101f. Das meist frequentierte spanische Schulbuch in den 1950er Jahren widmete sich entsprechend den „Glorias Imperiales“ (von Luis Ortiz Muñoz, Glorias Imperiales. Libro escolar de Lecturas históricas, Madrid 1940), vgl. Carmen Diego Pérez, Die Kontrolle über das Lesen im spanischen Schulsystem der ersten Phase des Franco-Regimes, in: Teistler, Lesen lernen, 81. 43 Vgl. Erin Kathleen Rowe, The Spanish Minerva. Imagining Teresa of Avila as Patron Saint in Seventeenth-Century Spain, in: The Catholic historical review 92/2006, 574–596; zu den Interessen, die sich hinter dem Kampf um das Kopatronat verbargen, vgl. dies., St. Teresa and
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verkündeten 1627 das Kopatronat der Theresa. Deren militante Gegner aber wandten sich an die nächst höhere Instanz: Der Papst müsse entscheiden. Dieser zog sich salomonisch – aber eindeutig zum Nachteil der Frau – aus der Affäre, indem er die Wahl Theresas den einzelnen Städten Spaniens überlassen wollte. Es waren letztlich die Liberalen, die 1812 in den sensationell progressiven Cortes von Cádiz das Kopatronat der Theresa durchsetzten. 44 Theresa als die Heilige der Progressiven. Doch mit den Beschlüssen zur Säkularisation im 19. Jahrhundert gaben die „Progresistas“ das Sakrale preis – und die Konservativen zögerten nicht, sofort in dieses Vakuum vorzustoßen. Fortan vereinnahmten die ganz Rechten des politischen Spektrums Theresa für sich. 45 In den 1920er Jahren wurde sie schließlich in den Dienst der kolonialen Debatte gestellt. Diese ist zu verstehen als Reflex auf den als nationales Trauma empfundenen Verlust der letzten Kolonien im Jahre 1898. In einer von der Wissenschaft inzwischen als charakteristisch erkannten Kompensation einer nationalen Niederlage durch kulturelle und zukunftsorientierte, politisch megalomane Phantasien entwickelten die Spanier das Konzept der Hispanität. 46 Als deren Essenz galt im konservativen Lager der Glaube an eine überlegene hispanische Rasse („raza“), wohlweislich auch genetisch, aber vor allem habituell verstanden im Sinne einer von Tatkraft und Religiosität geprägten Gemeinschaft, die Spanien mit Lateinamerika untrennbar verbinde. Theresa, die sowohl für Tatkraft und Religiosität als auch für edles Geblüt stand, avancierte zur „Santa de la raza.“ Wie sehr sich Franco mit dem Prinzip der „raza“ identifizierte, verrät der Titel seiner einzigen fiktionalen Produktion: 1940 veröffentlichte er unter einem Pseudonym ein Buch unter dem Titel Raza, das als Drehbuch für den zwei Jahre später gedrehten, gleichnamigen Film diente. 47 Unter Franco galt Theresa – unter grotesker Verdrehung der Wirklichkeit – als Inbegriff all dessen, was der Nation heilig war: als Inkarnation des „imperialen, missionarischen, mystischen und heroischen Spanien“ 48 – als, wie es im bekanntesten Theresenhymnus seit 1922 hieß, „Chiffre des Ruhms, in der Spanien seine eigene Seele erkennt.“ 49
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Olivares: Patron Sainthood, Royal Favorites, and the Politics of Plurality in SeventeenthCentury Spain, in: Sixteenth Century Journal 37/2006, 721–737. Vgl. Mieck, Kontinuität, 323. Vgl. Di Febo, Ritos de guerra, 75. Zur Debatte der „Hispanidad“ unter den spanischen Intellektuellen vgl. Winfried Engler, Hispanidad 1898 oder die Erfindung des neuen Spanien, Berlin 2012. Zu den Reaktionsmechanismen auf nationale Niederlagen vgl. Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865; Frankreich 1871, Deutschland 1918, Berlin 2001. Vgl. Jaime de Andrade [Pseudonym Francos], Raza, Madrid 1940. Der Film Raza wurde 1942 die erste Produktion des 1940 gegründeten „Consejo de la Hispanidad“, das später in „Instituto de Cultura Hispánica“ umbenannt werden sollte, vgl. Di Febo, La Santa, 94. De la „España imperial, misionera, mística y heróica“, vgl. Di Febo, La Santa, 128. Die Strophe lautete „Es Teresa la cifra de gloria/donde España su propia alma ve./Ella sola resume tu historia/de heroísmo, de honor y de fe!“ Vgl. Hymnus von Aniceto de Castro Ibarrán, der im Wettbewerb von 1922 den ersten Platz erzielte, abgedruckt in Di Febo, La Santa, 86.
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Für den Franquismus besonders anschlussfähig war diejenige Tradition, die durch die Konstruktion einer doppelten Homologie Theresa (an der Seite des Jakobus‘) als genuinen Bestandteil einer Narration konstruierte, welche die nationale mit der universalen Heilsgeschichte verband. So wie Jesus und Maria als neuer Adam und neue Eva den Sündenfall überwanden und die Menschheit erlösten, so wurden Jakobus und Theresa, vereint in der Vorstellung einer spirituellen Ehe, als Antwort auf den nationalen Sündenfall imaginiert, der infolge der illegitimen Beziehung des letzten Westgotenkönigs Rodrigo mit Florinda den Einfall der Araber nach sich gezogen habe. 50 Die nationale Erlösungstat der Heiligen wurde in dem kompromisslosen Kampf gegen die Feinde der wahren Religion gesehen, der Spanien von den Kontaminationen des Unglaubens befreit habe. Entsprechend wurden die bellizistischen Kompetenzen Theresas als der „spanischen Minerva“ betont, die von Christus selbst – so eine zeitgenössische Darstellung aus dem 17. Jahrhundert – mit Schild und Speer ausgerüstet und zur „capitana general“ erklärt worden sei. Franco knüpfte an diese Konstruktion an, indem er sich erstens als „neuen Rodrigo“ inszenierte – erkennbar an dem hochsymbolischen, als Krönungszeremonie durchstrukturierten Gottesdienst am Bürgerkriegsende, der nach westgotischer Liturgie gestaltet war. 51 Die Ordensreform und Klostergründungen der Theresa von Ávila galten im Franquismus kurzerhand als territoriale Expansion; Theresas Abkunft wurde mit lupenreinen Stammbäumen verklärt. Dass 1946 ein Archivfund belegen konnte, dass der Großvater der Theresa ein Converso (also ehemaliger Jude) gewesen und von der Inquisition verurteilt worden war, all dies wurde gewissenhaft unterschlagen. 52 Für ihre Anschlussfähigkeit im Bürgerkrieg war zentral, was ihre Verehrer für das treibende Motiv ihrer Klosterreform hielten. Der wahre Antrieb sei – lautete die Interpretation – der Kampf gegen Luther. 53 Folglich setzte sie sich für die Einheit des Glaubens ein, folglich sei sie Parteigängerin des aktuellen Kampfes gegen die Häretiker der Gegenwart und damit gegen die Republikaner. Im Übrigen stimme der Kampf für die Einheit des Glaubens und die Expansion der Religiosität eins zu eins überein mit den Bemühungen von Isabella, der Katholischen Königin. Da diese die nationale und religiöse Einheit mit Heeresgewalt durchgesetzt hatte, bedeutete die Gleichsetzung beider Frauen die Militarisierung der Nonne. Als gemeinsamer Nenner galten spirituelle Unbestechlichkeit und nationa50 Siehe Rowe, Spanish Minerva, 591f. 51 Vgl. Di Febo, Ritos de guerra, 165. 52 Vgl. Narciso Alonso Cortés, Pleitos de los Cepeda, in: Boletín de la Real Academia Española 25/1946, 85–110. Zur Herkunft Theresas vgl. die biographische Einführung in: Teresa de Jesus, Das Buch meines Lebens (Gesammelte Werke 1), hrsg., übers. und eingeleitet von Ulrich Dobhan und Elisabeth Peeters, 6. Aufl. Freiburg i. Br. 2011, 16ff. Zum familiären Umfeld siehe auch Joseph Pérez, Teresa de Ávila y la España de su tiempo, Madrid 2007, 15–35. 53 So schon die Rezeption im 17. Jahrhundert, vgl. Rowe, Spanish Minerva, 579. Diese Sicht stützte sich nicht zuletzt auf (eher beiläufige) Äußerungen Theresas in ihrem Werk Camino de Perfección von 1566, vgl. Teresa de Jesus, Weg der Vollkommenheit (Gesammelte Werke 2), hg., übersetzt und eingeleitet von Ulrich Dobhan und Elisabeth Peeters, 2. Aufl., Freiburg i. Br. 2004.
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le Größe. „Grande“ (groß) wollte Franco sein Reich, groß und angesehen wie damals unter Isabella I. und ihrem Enkel Karl V. Die Nähe der Theresa von Ávila, der geistigen Schwester Isabellas, schien Franco mehr Prestige und Sakralität zu bieten als die Pflege aller anderen Kulte. Dabei ist „Nähe“ durchaus physisch gemeint. Franco pflegte einen geradezu barocken Reliquienkult. Es war eine sensationelle Nachricht, als im Februar 1937 in Málaga im Gepäck eines flüchtigen republikanischen Obersts zwischen zahllosen Geldscheinen und Juwelen ein Reliquiar gefunden wurde – mit der unverwesten linken Hand der Theresa von Ávila. 54 Mit dieser habe die Heilige – so die volkstümliche Wunderinterpretation – den Republikaner selbst aus der Region hinausgeohrfeigt und für den Sieg der Franquisten Sorge getragen. Franco ließ die Trouvaille vier Tage in Salamanca vom Volke verehren. Dann beanspruchte er die Hand für sich. Der Bischof von Salamanca willigte ein – und fortan wurde, pars pro toto, die Heilige Theresa zur unzertrennlichen Begleiterin des Caudillo, die dessen Prestige erhöhen bzw. seinen Vorrang unter allen anderen Spaniern bestärken sollte. Er nahm die Reliquie auf Reisen mit und platzierte sie daheim in einer Nische unweit des Bettes. Wie Karl V. in Yuste und Philipp II. im Escorial, die von ihren Betten aus den Blick auf den Altar der palasteigenen Kirche richten konnten, zelebrierte Franco die alltägliche Nähe zum Sakralen. In dieses Bündnis aber sollte auch die Bevölkerung integriert werden. Sichtbarer Ausdruck dieses Versuches waren die Feiern zum 400. Jahrestag des Beginns der Klosterreform 1562. Den Höhepunkt markierte die Rundreise durch Spanien, die im August 1962 ein besonders geschätztes Objekt antrat: der Arm der Theresa von Ávila. 55 Sehr zum Unmut der Bevölkerung des Dorfes Alba de Tormes, wo die sterblichen Überreste der Heiligen verwahrt wurden (Herz und Arm in Reliquiaren separiert), wurde der Arm am 25. August mit einem Opel der Regierung abgeholt, um nun für ein ganzes Jahr, eskortiert von einem Pulk aus Motorrädern, Autos und Fahrrädern, von Ort zu Ort, von Stadt zu Stadt zu reisen. Der festlichste Empfang wurde ihr in der Hauptstadt bereitet. Inmitten der zum Altar umgebauten Plaza Mayor wurden der Reliquie am 18.9.1962 bei Glockengeläut und Blumengaben feierlich gesetzlich dekretierte militärische Ehren zuteil: als „Generalkapitänin mit Befehlsgewalt.“ 56 Diese Ehrung der Reliquie verdeutlicht, wie sehr sie als Faustpfand der Präsenz der „ganzen Heiligen“ galt. Als solche wurde sie von der zusammengelaufenen Bevölkerung vergöttert. Der Boden, auf dem sie entlang kam, wurde geküsst und das Tor der Kirche, in der die Reliquie in Madrid verwahrt wurde, barst unter dem Druck der Anstürmenden. Dabei markiert dieser Kulminationspunkt der öffentlichen und staatlichen Integration des Sakralen zugleich den Anfang vom Ende der engen Kooperation von Kirche und Franquismus. Zum einen wurde die Kirche immer empfänglicher für die aus Arbeiterkreisen und den Regionen kommende scharfe Kritik am Repressi54 Im Folgenden siehe Di Febo, La Santa, 66–71. 55 Zur Rundfahrt der Reliquie 1962 vgl. ebd., 117–132. 56 „Capitán General con mando en plaza“, so verfügt von einem Dekret vom Vortag, 17.9.1962; vgl. Di Febo, La Santa, 132.
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onssystem Francos, zum anderen forcierte das Zweite Vatikanischen Konzil die Distanzierung der Kirche von der Politik. 57 Bleibt die zusammenfassende Frage, welche Funktionen diesen Instrumentalisierungen der verschiedenen Kulte zugrunde lagen. Die starke Integration von Frömmigkeitsformen der Laien bot dem Franquismus Hilfestellung bei den vier nationalen Herkulesaufgaben: nämlich der Mobilisierung, der Legitimation, der Identitätsstiftung und der Integration. Eine Mobilisierung war schon deshalb zentral, weil es sich um eine Gesellschaft im Krieg handelte. Auf den heißen Bürgerkrieg von 1936–39 folgte ein kalter, in dem zunächst Rache und Repression das Klima prägten. In diesem permanenten Kampf galt es, die Bevölkerung auf die eigene Seite zu ziehen. Dafür half die Inanspruchnahme des Sakralen, indem das Übernatürliche Siegesgewissheit ausstrahlen und Zweifel an der je individuellen Positionierung beseitigen sollte. Bedenken an der Rechtmäßigkeit auch des bewaffneten Kampfes wurden zudem durch die konsequente Militarisierung des Sakralen einerseits und die Sakralisierung des Militärischen andererseits ausgeräumt. Letzteres kam diskursiv durch die Bezeichnung „Kreuzzug“ zum Ausdruck oder dadurch, dass einzelne Militäreinheiten den jeweiligen Kulten bzw. Heiligen geweiht wurden. Dies barg zugleich den Kern der Legitimation. Als Rebell, der sich gegen die rechtmäßig gewählte Regierung der Republik erhoben hatte und sich erst innerhalb der aufständischen Offiziersclique durchsetzen musste, stand Franco unter einem erheblichen Legitimationsdruck. Dem trat er entgegen erstens mit der Diskreditierung der Kontrahenten als Unterdrücker und der Selbststilisierung zum „Befreier“ Spaniens. So bezeichnete Franco den Bürgerkrieg als „Befreiungskreuzzug“ 58 und wurde als „Caudillo libertador“ 59 gefeiert. Dass er „die Hand der Heiligen aus der bolschewistischen Sklaverei befreit“ hatte, galt als besonders wirkmächtiges Symbol dieses Befreiungswerkes. 60 Zweitens wurde die nationale politische Geschichte durch die Einfügung in einen heilsgeschichtlichen Rahmen als Ausdruck des Wirkens einer höheren, transzendentalen Macht legitimiert. Das nationale Spanien galt als von Gott bevorzugt und geleitet, als „Neues Israel“ 61, das von „einer Säule [Pilar] hin zu Gott geführt werde.“ Auf diese Weise wurde die Entscheidung zum Bürgerkrieg der individuellen Verantwortung entzogen und die Herrschaft Francos als Endpunkt einer universalen und nationalen Heilsgeschichte konstruiert. In dieser manifestiere sich das Wirken Gottes bzw. des „Schicksals“. Das spanische Schicksal – und 57 William J. Callahan, The Spanish Church: Change and Continuity, in: Nigel Townson (Hg.), Spain Transformed. The Late Franco Dictatorship, 1959–75, New York 2007, 182–194, v. a. 184–190. 58 „Cruzada de Liberación“, in: Mensaje del Jefe del Estado a la Cortes Españolas, in: Ecclesia 13/1953, Heft 2, 532. 59 So Oberst José Moscardó im Rahmen seiner „Invocación“ bei der Überbringung der Ofrenda am 25.7.1939; als Dokument 7 abgedruckt in: Di Febo, Ritos de guerra, 206. 60 Silverio de Santa Teresa, La mano de la Santa redimida de la esclavitud bolchevique in: El Monte Carmelo, abgedruckt in: Di Febo, La Santa, 68. 61 Boletín eclesiástico del Arzobispado de Toledo 10.6.1940; zitiert in Di Febo, La Santa, 41.
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damit sind wir bei Fragen der kollektiven Identität – war auf alle Fälle ein „imperiales Schicksal.“ Damit bediente die Konstruktion eine Erwartung, die genuin zu der nationalen Meistererzählung gehörte, die seit langem in der spanischen Gesellschaft fest verankert war. Gemäß der Erkenntnis von Soziologen, wonach die kollektiven nationalen Identitäten von den Polen „Triumph“ und „Trauma“ geprägt seien 62, hatte sich in der Erinnerungskultur die Wahrnehmung der spanischen Geschichte als eine Kurve durchgesetzt. Diese hatte einen fulminanten Höhepunkt mit den Katholischen Königen, um dann bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auf ein absolutes Tief zu fallen. Der Wiederaufstieg stand bevor. Der Verlauf entsprach dem vielbeschworenen Dreischritt: Größe, Dekadenz, Wiedergeburt. Selbst Ordensleute übernahmen dieses Meisternarrativ. 63 Seitdem galt die Diskussion der Frage, wem und wie es gelingen könnte, Spanien wieder zu altem Rang, zu Ruhm, Stolz und Ehre zu verhelfen. Seit dem frühen 20. Jahrhundert setzten Rechtsintellektuelle auf einen „eisernen Chirurgen.“ 64 Als solchen empfahl sich Francisco Franco. Wer aber den alten Ruhm wiederbringen wollte, musste zuvor definieren, was diesen ausmachte und wie er verloren gegangen war. Während die linken Kräfte die Dekadenz v. a. der religiösen Intoleranz des 16. und 17. Jahrhunderts anlasteten, schob Franco die Schuld auf das 19. Jahrhundert: mit seiner antikirchlichen Gesetzgebung, den parteipolitischen Zerfallsprozessen und dem Siegeszug des Liberalismus. Demgegenüber deklarierte er als Kennzeichen und Voraussetzung des Ruhmes die politische und religiöse Einheit. Deren Symbol war Theresa, die „spanischste aller Heiligen.“ Mit Blick auf diese Einheit kam der Forcierung von Frömmigkeitsformen die vierte, nämlich die integrative Funktion zu. In der von zahlreichen politischen und regionalen Spaltlinien zerklüfteten spanischen Gesellschaft stellte – trotz der inzwischen beachtlichen Zahl von Antiklerikalen – die katholische Religion, gerade in ihrer volkstümlichen, Fest und Frömmigkeit verbindenden Ausprägung den denkbar größten gemeinsamen Nenner dar. Ausschließlich die Religiosität schien in der Lage zu sein, soziale, regionale und selbst (wenn auch in Grenzen) parteipolitische Gräben zu überbrücken. Dem war die rigorose Sakralisierung der Dimensionen von Zeit und Raum verpflichtet. Über den Kalender wurde ein Heiligenkalender gestülpt, der zu unzähligen Feiern lokaler, regionaler und nationaler Kulte aufrief, und über das Land wurde ein Sakralnetz gespannt, das die einzelnen Landesteile miteinander – und nicht zuletzt mit der Zentrale in Kastilien – verbinden sollte. Pilgerfahrten quer durch das Land zu verschiedenen Kultzentren verdichteten das Netz ebenso wie die Rundreisen des Sakralen bis in die Peripherie.
62 Vgl. Bernhard Giesen, Triumph and Trauma, Boulder/Colo. u. a, 2004. 63 So z. B. der Unbeschuhte Carmeliter Crisógono de Jesús, in: Grandeza, ruina y resurgimiento de España, San Sebastián 1941. 64 So Joaquin Costa im Rahmen der Debatten der Generation 1898, vgl. u. a. Joaquin Costa, Wiedergeburt durch Europäisierung, in: Hans Hinterhäuser (Hg.), Spanien und Europa. Stimmen zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, München 1979, 233– 238, zu Costas Forderung nach einem „eisernen Chirurgen“ hier vgl. die Vorbemerkung in Costa, Europäisierung, 233.
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So wie 1962 der Arm der Theresa waren zuvor der Arm Franz Xavers (1952) und der Schädel des Ignatius von Loyola (1956) durch das Land gefahren worden. 65 Über den Erfolg der Instrumentalisierungsbemühungen lässt sich streiten. Drei Schlussbemerkungen seien mir in diesem Zusammenhang gestattet. Erstens: Zwar ist es nicht möglich, von Frömmigkeitsformen auf authentische Ergriffenheit zurückzuschließen, gleichwohl ist die Intensivierung der religiösen Praxis zu Beginn des Betrachtungszeitraums signifikant. Das kann Ausdruck eines in Kriegs– und Krisenzeiten schwindenden Sicherheitsgefühls sein, das amerikanische Soziologen als ursächlich für die Wiederbelebung des Religiösen in der Moderne betrachten. Es könnte aber ebenso mit Hermann Lübbe als „säkularisierungsbegünstigte Revitalisierung kirchlichen Lebens“ interpretiert werden. Zweitens: diese Respiritualisierung entsprang keineswegs einem vorgefertigten Programm Francos, sondern war das Ergebnis eines für den Franquismus charakteristischen Adaptationsprozesses an vorgängige Strömungen, an welche anzuschließen aus pragmatischen Gründen des Machterhalts opportun war. So wurde die Kreuzzugsanalogie erst von den Klerikern verbreitet, bevor Franco sie aufgriff und zum integralen Bestandteil seiner Kriegslegitimation machte. Drittens: Indem Franco sich an den traditionellen Katholizismus anlehnte, gehörte sein Regime nach der Klassifikation von Juan Linz nicht zu den politischen, sondern zu den „politisierten“ Religionen, deren ideologischer Aufwand insoweit begrenzter ist, als sie keine neue Religion erfinden müssen. Dabei stellt der Franquismus insofern eine eklektizistische Mixtur dar, als er zugleich mit dem traditionellen Katholizismus auf die Ersatzreligion des Nationalismus zurückgriff. Doch was bei der Implementierung des Systems „kostengünstiger“ scheint, birgt zugleich teure Risiken: Aus der begrenzten Autonomie dieser beiden „Religionen“ heraus drohte eine potentielle Opposition. Tatsächlich sollte diese dem Franquismus in seiner Spätphase massiv zusetzen. Es war zum einen der regionale Nationalismus, der sich in Katalonien, v. a. aber im Baskenland gegen den Franquismus formierte. Zum anderen entdeckten Teile der katholischen Kirche ihr soziales Gewissen und solidarisierten sich mit streikenden Arbeitern und demonstrierenden Studenten. Indem das Zweite Vatikanum die politische Abstinenz der Kirche vorschrieb, entzog es Franco vollends die entscheidende Legitimationsgrundlage. Er konnte sich zwar – nicht zuletzt wegen der kompensatorischen Prosperität der spanischen Volkswirtschaft – bis zu seinem Lebensende halten, aber die erstaunliche Geschwindigkeit, mit der die spanische Gesellschaft den langjährigen Diktator ad acta legte, indiziert, dass ihm das Charisma eines Kreuzritters für den bedrohten Katholizismus schon lange vor seinem Tod abhandengekommen war. 66 Der katholischen Kirche war die langanhaltende Allianz mit Franco insofern letztlich nicht dienlich, als diese gerade im linken politischen Spektrum eine antiklerikale Abwehrhaltung stärkte. Doch diese ist zum einen kein rein spanisches 65 Vgl. Di Febo, La Santa, 124. 66 Zur Beobachtung, dass Franco nach der Transition in erstaunlicher Schnelligkeit von den Spaniern verdrängt, wenn nicht vergessen worden war, vgl. Enrique Moradiellos, Francisco Franco – Crónica de un caudillo casi olvidado, Madrid 2002.
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Phänomen und zum anderen reichen die Wurzeln des spanischen Antiklerikalismus in viel frühere Zeiten zurück. Überdauert aber haben in Spanien – neben einem zurückgehenden strikten Katholizismus – Formen einer Volksfrömmigkeit, die schon wegen der Vielfalt verehrter Kultfiguren (genießen doch die lokalen Marienskulpturen quasi eigenen Kultstatus), in mancherlei Hinsicht an jene frei flottierende Religiosität erinnern, die den nordeuropäischen Engelskult aktuell auszeichnet. „Entzaubert“ jedenfalls ist diese Welt nicht.
„…DAS KRITERIUM DER WAHRHEIT IST DIE PRAXIS“ Grenzen und Potentiale der Gesundheitsaufklärung in der DDR Jenny Linek, Greifswald Bemühungen um medizinische Wissensverbreitung nahmen in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR von Beginn an breiten Raum ein. 1 Die Vermittlung hygienischen Wissens wurde als Voraussetzung für den Aufbau eines „demokratischen Gesundheitswesens“ verstanden. 2 Elfriede Paul, Leiterin des Lehrstuhls für Sozialhygiene an der Medizinischen Akademie Magdeburg, postulierte: „Zu einer allseitig gebildeten Nation gehört auch eine hohe hygienische Bildung.“ 3 Jedem Menschen sollte – unabhängig von seinen finanziellen Möglichkeiten – Wissen ebenso wie medizinische Versorgung zuteil werden, um den engen Zusammenhang zwischen Krankheit, Arbeitslosigkeit und Armut aus der Zeit der Industrialisierung zu überwinden. 4 Gesundheit wurde propagiert als Ergebnis eines Lernprozesses; die Bürger sollten erkennen, dass sie über die Fähigkeit verfügen, Krankheiten zu verhüten oder zu beherrschen. Der Staat, der sich in der Verantwortung für den Gesundheitszustand des Volkes sah, unterstützte sie dabei, indem er über eine
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Für Anregungen und Hinweise danke ich Susanne Michl, Hedwig Richter und Christian Sammer. Sabine Schleiermacher, Prävention und Prophylaxe. Eine gesundheitspolitische Leitidee im Kontext verschiedener Systeme, in: Alfons Labisch / Norbert Paul (Hgg.), Historizität. Erfahrung und Handeln – Geschichte und Medizin (Sudhoffs Archiv: Beihefte, 54), Stuttgart 2004, 171–177, 175. Elfriede Paul, Die Gesundheitserziehung als Aufgabe des Arztes in der sozialistischen Gesellschaft, in: Friedrich Jung u. a. (Hg.), Arzt und Philosophie. Humanismus – Erkenntnis – Praxis, Berlin 1961, 59–61, 60. Ralf Ahrens, Planwirtschaft, Prävention und Effizienz. Zur Wirtschaftsgeschichte des Gesundheitswesens in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR, in: Udo Schagen / Sabine Schleiermacher (Hgg.), Sozialmedizin, Sozialhygiene, Public Health. Konzepte und Visionen zum Verhältnis von Medizin und Gesellschaft in historischer Perspektive (Berichte und Dokumente zur Zeitgeschichte der Medizin, 5), Berlin 2002, 41–52, 41. Die Erkenntnis des Zusammenhangs von Krankheit und sozialer Lage, die die Sozialhygiene seit der Wende zum 20. Jahrhundert formulierte, wurde in der SBZ wieder aufgegriffen und in der DDR für lange Zeit zur gesundheitspolitischen Leitlinie, siehe Udo Schagen, Sozialhygiene als Leitkonzept für Wissenschaft und Gesellschaft, in: Rüdiger vom Bruch / Uta Gerhardt / Aleksandra Pawliczek (Hgg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts (Wissenschaft, Politik und Gesellschaft: Geschichte, 1), Stuttgart 2006, 223–232.
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gesunde Lebensweise informierte und über die Verhütung von Krankheiten aufklärte. 5 Bislang ist nur wenig darüber bekannt, wie es um die konkrete Umsetzung und die Auswirkungen dieser Gesundheitsaufklärung bestellt war. Dabei bietet die DDR schon allein durch ihre spezifischen Strukturen und im Vergleich zur Bundesrepublik durch die Betonung einer prophylaktischen Medizin ein besonders interessantes Forschungsfeld. Inwiefern waren beispielsweise der Zentralismus und das Prinzip der staatlichen Verantwortung hilfreich oder hinderlich für die Durchsetzung gesundheitspolitischer Ziele und Vorstellungen? Ebenso ungeklärt ist die Frage, wie staatliche Maßnahmen und politische Rhetorik das Gesundheitserleben und – verhalten von Frauen und Männern in der DDR beeinflusst haben. 6 Da die Wirkung der Gesundheitspolitik auf die davon betroffenen Menschen letztlich in entscheidendem Maße davon abhing, wie sie auf der Mikroebene implementiert wurde 7, wird es im Folgenden darum gehen, Einblicke in den Alltag der Gesundheitsaufklärung zu gewinnen. Konkret wird das Betriebsgesundheitswesen als Beispiel betrachtet. Der Fokus richtet sich auf die Tätigkeit und Handlungsspielräume der Betriebsärzte sowie auf die Ansichten und Verhaltensweisen der Arbeiter und Arbeiterinnen, vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren. Zunächst werden die institutionelle Verankerung des Gesundheitsschutzes und anschließend die Stellung des Arztes als „Hüter und Wahrer der Gesundheit“ 8 kurz dargestellt. Bereits in den ersten Nachkriegswochen begann der Wiederaufbau des stark beschädigten Gebäudes, das seit 1930 das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden beherbergte. 9 Zu den anfänglichen Aufgaben des Museums zählten die Belehrung über den Bau und die Funktion des menschlichen Körpers und über die Gefahren, die seiner Gesundheit drohen sowie die Aufklärung über die Mittel zu deren Verhütung. Kurze Zeit später verlagerte sich der Schwerpunkt stärker auf die Festigung der Gesundheit und auf eine gesunde Lebensführung. 10 Während das Deutsche Hygiene-Museum schon auf eine längere Entstehungsgeschichte zurückblicken konnte, wurde die Einrichtung eines eigenständigen Ministeriums für Gesundheitswesen 1950 erstmals in der deutschen Geschichte verwirklicht. 11 Das Ministerium, das für die zentrale Leitung des Gesundheitswesens verantwortlich war, sich aber auf zahlreiche Organe und Institutionen zur Beratung stützte, veranstaltete 1960 5
Maria Elisabeth Ruban, Gesundheitswesen in der DDR. System und Basis, Gesundheitserziehung, Gesundheitsverhalten, Leistungen, Ökonomie des Gesundheitswesens, Berlin 1981, 23. 6 Dagmar Ellerbrock, Geschlecht, Gesundheit und Krankheit in historischer Perspektive, in: Klaus Hurrelmann / Petra Kolip (Hgg.), Geschlecht, Gesundheit und Krankheit. Männer und Frauen im Vergleich, Bern u. a. 2002, 118–141, 133. 7 Ahrens, Planwirtschaft, 52. 8 Arzt sein heißt Erzieher sein, in: Deine Gesundheit 4/1960, 10. 9 Klaus Vogel (Hg.), Das Deutsche Hygiene-Museum Dresden 1911-1990, Dresden 2003. 10 Deutsches Hygiene-Museum in der DDR (Hg.), 75 Jahre Deutsches Hygiene-Museum in der DDR. Ein historischer Abriß, Dresden 1987, 29–30. 11 Udo Schagen / Sabine Schleiermacher, Gesundheitswesen und Sicherung bei Krankheit, in: Dierk Hoffmann / Michael Schwartz (Hgg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 8: Deutsche Demokratische Republik 1949-1961. Im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus, Baden-Baden 2004, 387–433, 431.
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gemeinsam mit dem Zentralkomitee der SED und dem FDGB eine Tagung in Weimar. Auf dieser so genannten „Weimarer Gesundheitskonferenz“ wurden die Leitlinien für die Gesundheitspolitik der nächsten Jahre festgelegt, u. a. erklärte man die Förderung und Hebung der Volksgesundheit zur Sache aller Bürger – nicht nur der Medizin. 12 Als Resultat und Ausdruck dieser gesamtgesellschaftlichen Verantwortung entstand ein Jahr später das Komitee für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung (später umbenannt in Nationales Komitee für Gesundheitserziehung). 13 Ihm gehörten Vertreter aller gesellschaftlichen Bereiche an, die gemeinsam Richtlinien entwickelten, welche durch Schulen, Einrichtungen der Erwachsenenbildung, Massenorganisationen, Betriebe aber auch unmittelbar durch Staatsorgane vermittelt werden sollten. 14 Neu definiert wurde in diesem Zusammenhang auch die Rolle des Arztes. Walter Friedeberger, Direktor des Hygiene-Museums und späterer Stellvertreter des Ministers für Gesundheitswesen, führte die bis in die jüngste Gegenwart andauernde Zurückhaltung der Ärzte gegenüber der Massenaufklärung auf deren Befürchtungen zurück, die Aufklärung würde das Kurpfuschertum begünstigen, dringende Arztbesuche durch Selbstheilungsversuche verzögern und dem Ansehen und der Stellung der Ärzte schaden. Die neue Stellung des Arztes in der sozialistischen Gesellschaftsordnung würde hingegen Vorteile für Arzt und Patient mit sich bringen: Da sich die Ärzte in der DDR in der Mehrzahl in einem wirtschaftlich gesicherten, festen Anstellungsverhältnis befinden, können sie „ihr ganzes Wissen und ihre ganze Aufmerksamkeit dem Patienten zuwenden.“ 15 Dieser neue Typus Arzt fungierte fortan als „sozialer Dienstleister und Volkserzieher“ 16, der die Menschen zur aktiven Gestaltung ihrer Gesundheit befähigen sollte. 17 Dabei war nicht das Wissen allein entscheidend, sondern Einsicht und Wissen. Die Bevölkerung sollte zugleich mit den Einrichtungen und Maßnahmen des staatlichen Gesundheitsschutzes vertraut gemacht werden und diese kennen und verstehen lernen (z. B. in Ausstellungen). Man wollte Einfluss auf das Bewusstsein der Menschen gewinnen, um ein kollektives Verantwortungsgefühl in gesundheitlicher Beziehung zu erzeugen. 18 Es reichte also nicht aus, nur „über die Möglichkeiten der Krankheitsverhütung aufzuklären“, sondern es war darüber hinaus notwendig, die
12 Bernhard Meyer, Gesundheitspolitik, in: Andreas Herbst / Gerd-Rüdiger Stephan / Jürgen Winkler (Hgg.), Die SED. Geschichte – Organisation – Politik, ein Handbuch, Berlin 1997, 363–377, 370. 13 Kurt Winter, Das Gesundheitswesen in der Deutschen Demokratischen Republik. Bilanz nach 30 Jahren, 2. überarb. Auflage, Berlin 1980, 171. 14 Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Das Gesundheitswesen in beiden deutschen Staaten, Bonn-Bad Godesberg 1975, 41. 15 Walter Friedeberger, Über die hygienische Aufklärung der Bevölkerung in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Wissenschaftliche Annalen zur Verbreitung neuer Forschungsergebnisse 5/1955, 275–283, 276. 16 Ahrens, Planwirtschaft, 45. 17 Paul, Gesundheitserziehung, 60. 18 Friedeberger, Aufklärung, 280.
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Menschen auch „zur gewissenhaften Befolgung einer hygienischen Lebensweise und anderer gesundheitsfördernder Maßnahmen zu erziehen.“ 19 Denn schon bald wurde deutlich, dass das erworbene medizinisch-hygienische Wissen anscheinend nicht konsequent umgesetzt wurde. Der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes in der DDR, Werner Ludwig, schilderte dieses Problem in einem Bericht vom Oktober 1962: „Das Wissen unserer Bevölkerung um die Gesundheitsprobleme ist durch die intensive Aufklärungstätigkeit des DRK, des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, des FDGB, der Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse und weiterer Institutionen laufend gestiegen, aber es hat noch nicht genügend sichtbar im Verhalten der Menschen seinen Niederschlag gefunden.“ 20
Die Geschichte der Gesundheitspolitik ist voll von Beispielen, in denen die präventiven Erwartungen der Experten hoch, die effektiven Resultate hingegen bescheiden waren. 21 Anscheinend konnte sich auch die DDR dem grundlegenden Problem der Gesundheitserziehung nicht entziehen, demzufolge es sehr viel leichter ist medizinische Kenntnisse zu verbreiten, als die Menschen zur Anwendung und Beherzigung dieser Kenntnisse zu bewegen. 22 Und das, obwohl doch – so die Hoffnung vieler Gesundheitspolitiker – im Sozialismus endlich die Chance bestand, mit der allseitigen Förderung und Sicherung der gesamten Bevölkerung Ernst zu machen. 23 Anhand von drei Analysekategorien – des Mangels (1), der Verantwortung (2) und des Gesundheitsbewusstseins (3) – soll im Folgenden Ludwigs Diagnose einer Präventionsmüdigkeit in der DDR ergründet werden. 1. Eine effektive Einflussnahme auf das Gesundheitsverhalten der DDR-Bürger gestaltete sich von vornherein schwierig, da aufgrund von diversen Mangelerscheinungen vieles anders verlief als erwartet. So konnte die Grippeschutzimpfung, die den Krankenstand in den DDR-Betrieben maßgeblich verringern und somit die Arbeitsproduktivität erheblich steigern sollte, häufig aufgrund von Impfstoffmangel gar nicht bzw. nur in Schwerpunktbetrieben durchgeführt werden. Die Kreis-Hygiene-Inspektion des Kreises Gadebusch hielt 1961 in einem Bericht fest, dass für die nasale Grippeschutzimpfung viele Betriebe aus dem Kreis gewonnen werden konnten, dass jedoch in allen Betrieben große Enttäuschung und in vielen Fällen auch starke Verärgerung herrschte, weil diese Impfung aus Mangel an Impfstoff nicht durchgeführt werden konnte. Die 19 Arzt sein heißt Erzieher sein, 10. 20 Werner Ludwig, Die Gesundheitserziehung in der DDR, in: BArch DQ 1/6018, unfol. 21 Martin Lengwiler / Jeannette Madarász, Präventionsgeschichte als Kulturgeschichte der Gesundheitspolitik, in: Dies. (Hgg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010, 11–28, 16. 22 Ruban, Gesundheitswesen, 81. 23 Ahrens, Planwirtschaft, 45.
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abschließende Einschätzung verweist auf die langfristige Nachwirkung, die sich aus dieser Situation ergab: „Es wird schwer (…), das Vertrauen dieser enttäuschten Betriebe wieder schnell zurückzugewinnen.“ 24 Auch der Mangel an Ärzten führte häufig dazu, dass Impfungen nicht durchgeführt werden konnten oder es zu langen Wartezeiten in überfüllten Warteräumen kam. Zusätzlich wirkte sich das Problem der Räumlichkeiten negativ auf den Gesundheitsschutz aus. Zum einen fehlte häufig der Wohnraum für das medizinische Personal, zum anderen verzögerte sich der Aufbau von betrieblichen Gesundheitseinrichtungen dadurch, dass kein Platz dafür vorhanden war bzw. bereits bestehende Gesundheitsräume zweckentfremdet wurden. 25 Beim Thema Ernährung wird deutlich, dass die Hinweise auf eine gesunde Lebensweise nicht unbedingt das gesundheitlich Gebotene widerspiegelten, sondern oftmals der materiellen Versorgungslage Rechnung tragen mussten. So wurde die Ausstellung des Deutschen Hygiene-Museums „Deine Ernährung – Deine Gesundheit“ 1962 eingezogen, weil sie nicht den „gegenwärtigen Möglichkeiten der gesunden Ernährung der Bevölkerung angepaßt“ war. Sie sollte so lange nicht gezeigt werden, bis Obst und Gemüse wieder in ausreichendem Maße vorhanden wären oder aber in den Ausstellungstafeln auf die zurzeit vorhanden Lebensmittel orientiert würde. 26 Auch der Sport als Beitrag zur Gesunderhaltung wurde zum Teil eher durch fehlende Sportstätten und Übungsleiter und nicht durch mangelnde Motivation ausgebremst. Ein breites Interesse an sportlichen Aktivitäten bestand und nahm im Laufe der Zeit noch zu, jedoch gab es nicht genügend Sportplätze und –hallen. Die vorhandenen Möglichkeiten blieben oft nur dem Leistungssport vorbehalten und konnten durch die Bevölkerung nicht genutzt werden. 27 2. „Die Verpflichtung, ständig zur Hebung der hygienischen Aufklärung der Bevölkerung beizutragen, geht alle verantwortungsbewußten Menschen an.“ 28
24 Protokoll der Kreis-Hygiene-Inspektion Gadebusch (Bezirk Schwerin), 1961, in: BArch DQ 1/5837, unfol. 25 Beschlussvorlage des Rates des Bezirkes Rostock zum Stand der medizinischen Betreuung im Kernkraftwerk Nord und zur Vorbereitung der Verbesserung der medizinischen Betreuung im Raum Greifswald vom 16.3.1973, in: StA Greifswald Rep. 7.17, Nr. 263, Bl. 4. 26 Brief des Ministeriums für Gesundheitswesen, Abteilung Wissenschaft und Forschung, an den kommissarischen Direktor des Deutschen Hygiene-Museums Kunkel, 1.6.1962, in: BArch DQ 1/5255, unfol. 27 Eva Schuster, Rechtliche Regelungen zur Förderung der Gesundheit und Aspekte ihrer Umsetzung in der DDR, in: Wilhelm Thiele (Hg.), Das Gesundheitswesen der DDR. Aufbruch oder Einbruch? Denkanstöße für eine Neuordnung des Gesundheitswesens in einem deutschen Staat (Forum Sozial- und Gesundheitspolitik, 1), Sankt Augustin 1990, 285–288, 288. 28 Friedeberger, Über die hygienische Aufklärung, 279.
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Neben den materiellen Grundlagen stellte das Problem der (fehlenden) Verantwortlichkeiten eine Belastung für die Gesundheitserziehung dar. Dies wurde besonders im Bereich des Betriebsgesundheitswesens deutlich. Die offizielle Verantwortung für die Gesundheit der Beschäftigten lag nämlich beim Betriebsleiter. Der Betriebsarzt sollte als sachkundiger Ratgeber fungieren 29 und war in Sachen Gesundheits– und Arbeitsschutz auf die Kooperation mit der Betriebsleitung und der Betriebsgewerkschaftsleitung angewiesen. Das medizinische Personal war zwar rechtlich gesehen unabhängig vom Betrieb, da es vom staatlichen Gesundheitswesen angestellt und entlohnt wurde und somit nicht der personellen Entscheidungskompetenz der Betriebe unterworfen war. Dessen ungeachtet ging ohne die Unterstützung der Betriebsleitung nichts voran, denn der Betrieb hatte für die materielle und finanzielle Absicherung der medizinischen Betreuung der Werktätigen zu sorgen. 30 Die Arbeit der Mediziner gestaltete sich häufig zäh und nervenaufreibend. Im Bericht über eine Betriebsbegehung im Fischkombinat Rostock hieß es: „Die Betriebsleitung bringt einfach kein Verständnis für das Betriebsgesundheitswesen auf.“ 31 Häufige Kritikpunkte der Betriebsärzte waren, dass sie nicht zu Beratungen hinzugezogen und Maßnahmepläne nicht mit ihnen abgestimmt wurden. Darüber hinaus beklagten sie die mangelhafte Unterstützung durch den Betrieb bei der Durchführung von Pflichtuntersuchungen 32 sowie die generelle Untätigkeit der Werksleitung in puncto Gesundheit– und Arbeitsschutz, besonders jedoch beim Thema Aufklärung über vermeidbare Krankheiten. 33 Auch Feststellungen wie diese waren keine Seltenheit: „Oft werden die für Zwecke des Gesundheitswesens vorhandenen Mittel gar nicht ausgegeben.“ 34 Die Betriebsärzte mussten häufig explizit darauf hinweisen, dass ihr Tätigkeitsfeld von grundlegender Bedeutung war – auch für die Produktion und die Planerfüllung. Der stellvertretende Leiter der Poliklinik der Volkswerft Stralsund forderte von der Werftleitung und der Betriebsgewerkschaftsleitung der Werft, „(…) in den Produktionsberatungen auch das Thema Gesundheitsprophylaxe genau so verantwortungsvoll zu behandeln wie jeden Produktionsvorgang.“ 35 In dem Artikel „Auch Gesundheitserziehung ist abrechenbar“ 29 Kurt Winter (Hg.), Deine Gesundheit – unser Staat, Berlin 1969, 41. 30 Ludwig Mecklinger, Zur Umsetzung der Gesundheitspolitik im Gesundheits– und Sozialwesen der DDR, Teil 3: Hygiene und Infektionsschutz, medizinische Prophylaxe (Veröffentlichungen Interessengemeinschaft Medizin und Gesellschaft, 15), hg. von Günter Ewert und Lothar Rohland, Berlin 1998, 100. 31 4. Sitzung der Ständigen Kommission für Gesundheitswesen und Sozialfürsorge des Bezirkstages Rostock, 29.3.1955, in: Landesarchiv Greifswald (im Folgenden: LAG) Rep. 200, 2.2.2.4, Nr. 32, Bl. 35. 32 Protokoll über die Beratung der ständigen Arbeitsgemeinschaft zur Senkung des Kranken– und Unfallstandes der Stadt Rostock vom 22.9.1978, in: StA Rostock 2.1.1., Nr. 10997, unfol. 33 Auswertung eines Instrukteurseinsatzes im Bezirk Magdeburg der Gewerkschaft Land, Nahrungsgüter und Forst, 1955, in: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv DY 44/295. 34 Bericht über eine Überprüfung der Ständigen Kommission Gesundheits– und Sozialwesen beim Bezirkstag Rostock im Kreis Grimmen, 28.3.1957, in: LAG Rep. 200, 9.1, Nr. 65, Bl. 74. 35 Konferenz der Poliklinik der Volkswerft Stralsund, um 1960, in: LAG Rep. 200, 9.1, Nr. 40, Bl. 201.
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brachte ein Magdeburger Bezirksarzt das fehlende Bewusstsein der Betriebsleiter folgendermaßen zum Ausdruck: „Leider finden wir auch noch Beispiele dafür, daß geglaubt wird, einige Grünpflanzen neben der lärmenden Maschine allein würden die ganze Arbeitskultur ausmachen. Wichtiger aber ist der Lärmschutz, sind Maßnahmen, die die gesundheitsschädigenden Faktoren ausschalten. (…) zu oft werden Aufgaben auf dem Gebiet des Gesundheitsschutzes noch als notwendiger Anhang zum Plan und nicht als sein Bestandteil betrachtet.“ 36
Indes gibt es auch einige Belege dafür, dass sich Betriebsdirektoren um eine betriebsärztliche Betreuung ihrer Angestellten erst bemühen mussten und dieses Anliegen sehr energisch, teilweise über Jahre hinweg, vorgebracht haben. 37 Doch insgesamt sind die Werksleitungen eher schleppend ihrer Verantwortung im Bereich Gesundheitsschutz nachgekommen. Das gleiche lässt sich aber auch für die Arbeiter selbst feststellen. Der Nachteil gesundheitspolitischer Maßnahmen, dass ihr Nutzen erst langfristig sichtbar wird, führte auch auf Seiten der Werktätigen zur Vernachlässigung des Themas Gesundheit – zumindest in dem von der offiziellen Gesundheitserziehung angedachten Sinne. Bemerkungen über schlecht besuchte Gesundheitsausstellungen und eine viel zu geringe Teilnahmebereitschaft – sowohl bei der freiwilligen Grippeschutzimpfung als auch bei den verpflichtenden Reihenuntersuchungen – finden sich sehr häufig in den Akten. 38 Eine Erklärung hierfür gab der Ärztliche Direktor der Poliklinik des VEB Waggonbau Görlitz auf der V. Nationalen Konferenz für Gesundheitserziehung des Nationalen Komitees für Gesundheitserziehung: Er hatte die Erfahrung gemacht, dass viele Arbeiter stärker an der Erschwerniszulage interessiert sind, als an dem Abbau der Erschwernisse und dass diese Einstellung sie hemmt, aktiv an der Sanierung ihrer Arbeitsplätze mitzuwirken. 39 Ein weiterer Faktor, der häufig angesprochen wurde, war die fehlende Einsicht und Überzeugung in Bezug auf die Gesundheitsmaßnahmen. Dies wiederum wurde darauf zurückgeführt – so die gängige Erklärung –, dass noch nicht genügend „ideologische Klarheit in den Köpfen von Leitern und Arbeitern“ 40 geschaffen worden sei. Friedeberger verwies sogar darauf, dass auch die Ärzte in ihrer Gesamtheit noch nicht von der Bedeutung der medizinisch-hygienischen Aufklärung überzeugt werden konnten. 41 Vielleicht waren Leiter, Arbeiter und Ärzte aber auch mit den Methoden der Gesundheitserziehung und/oder deren Umsetzung nicht einverstanden und deshalb nicht überzeugt oder einsichtig? Auseinandersetzungen mit dem Thema Gesundheit haben jedenfalls stattgefunden.
36 Gerhard Patz, Auch Gesundheitserziehung ist abrechenbar, in: National-Zeitung Nr. 226 vom 25.9.1973, 3, in: BARch DQ 113/14, unfol. 37 StA Rostock 2.1.9., Nr. 315 und 2.1.21, Nr. 17. 38 Beispielsweise LAG Rep. 242, A3, Nr. 297. 39 Bericht über die Ergebnisse der Plenardiskussion der V. Nationalen Konferenz für Gesundheitserziehung „Sozialistische Arbeitskultur und Gesundheit“ 1973 in Magdeburg, in: BArch DQ 113/14, unfol. 40 Ebd. 41 Friedeberger, Aufklärung, 278.
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3. Könnte man das fehlende Verantwortungsbewusstsein eher als Beleg für eine verfehlte Gesundheitserziehung anführen, so finden sich auch Beispiele dafür, dass sich ein gewisses Gesundheitsbewusstsein etabliert hatte und das Prinzip der prophylaktisch orientierten Medizin größtenteils als Errungenschaft und als selbstverständlich angesehen wurde. Viele kritische Äußerungen (zumeist artikuliert in Eingaben) lassen darauf schließen, dass das Bewusstsein vieler Bürger erst durch die unzureichende Umsetzung dessen, was stets als wichtiges Ziel ausgegeben wurde, geschärft wurde. Wie bereits gesehen, gab es unter den Arbeitern Enttäuschung und Verärgerung über Impfungen, die nicht durchgeführt werden konnten. Auch andere prophylaktische Maßnahmen wurden immer wieder eingefordert, z. B. Krebsvorsorgeuntersuchungen. 1977 wandten sich fünf Frauen aus dem Kreis Zittau wegen eines Problems, welches „innerhalb unseres sozialistischen Staates als unzulänglich und nicht tragbar erscheint“ ans Ministerium für Gesundheitswesen. In ihrer Eingabe machten sie darauf aufmerksam, dass sie inzwischen zwei Jahre auf einen Untersuchungstermin zur Krebsvorsorge warten müssten. Bei einer solchen Wartezeit könne man nicht mehr von einer vorbeugenden Untersuchung sprechen, hieß es in dem Schreiben. Auch wenn die Gesundheitseinrichtungen der Stadt Zittau sehr in Anspruch genommen sind, könne dies „nicht zu Lasten von viel propagierten und doch auch notwendigen Vorbeugeuntersuchungen erfolgen.“ Beim Sekretariat des Kreisarztes hätten sie in Erfahrung gebracht, dass dort viele Eingaben dieser Art vorliegen würden. 42 Bei einem anderen Thema scheint es so, als sei dieses erst von den Bürgern auf die Agenda der Gesundheitserziehung gesetzt worden. Das Problem des Rauchens am Arbeitsplatz rief massive Proteste hervor – und dies zu einer Zeit, in der Zigaretten von einer gesundheitspolitischen Ächtung weit entfernt waren, nämlich bereits Anfang der sechziger Jahre. Auf die Gefahren des Tabaks wurde in Gesundheitsbroschüren und Vorträgen zwar hingewiesen, doch ein generelles Rauchverbot bestand nicht. Viele Bürger sahen hier (vor allem in Büroräumen, Ämtern, auf Versammlungen, aber auch in Gaststätten und Zügen) Handlungsbedarf und verlangten, dass das theoretisch verbreitete Wissen auch zu konkreten Maßnahmen führt: „(…) man kann doch nicht immer nur über das Rauchen und seine Gefahr für die Gesundheit schreiben, sondern man muß mal Taten folgen lassen. Wenn das nicht mal bald getan wird, glaubt kein Mensch mehr was, wenn wir immer nur davon schreiben.“ 43
Dabei wurde immer wieder darauf verwiesen, dass doch gerade in der DDR die dafür erforderlichen Strukturen und Institutionen vorhanden sind: „Wir haben ein Ministerium für Gesundheitswesen, wir haben ein Hygienemuseum – warum tun
42 Eingabe von Inge L. und weiteren Frauen aus dem Kreis Zittau, 3.11.1977, in: BArch DQ 1/24497, unfol. 43 Ernst P. aus Halle an das Komitee für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung in der DDR, 2.8.1963, in: BArch DQ 1/22239, unfol.
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sie nichts, zumindest nichts Merkliches, gegen diese Seuche?“ 44 Weitaus häufiger wurde aber auf die Verpflichtungen und das Selbstverständnis des sozialistischen Arbeiter– und Bauernstaates abgehoben: „Warum erhält der Nichtraucher von unserem Staat, der doch so beispielhaft viel Geld für die Gesunderhaltung seiner Bürger ausgibt, keinen gesetzlichen Schutz vor dem rücksichtslosen Raucher?“ 45 Gerne wurde in den Beschwerdebriefen aus Parteitagsbeschlüssen oder Gesetzen zitiert: „Fundamentale Sätze wie: ‚Die Arbeitskraft wird vom Staate geschützt‘, oder wie es im Arbeitsgesetzbuch heißt und zwar im § 87: ‚Die Erhaltung und Förderung der Gesundheit und Schaffenskraft als Ausdruck der Sorge um den Menschen ist ein Prinzip der sozialistischen Gesellschaft’ sind zur Phrase verurteilt, wenn es weiterhin geduldet wird, daß Bürobeschäftigte während der normalen Arbeitszeit durch Rauchen (…) gesundheitsgefährdende Einflüsse (…) ausüben.“ 46
Diese und zahlreiche weitere Eingaben zeigen, dass viele DDR-Bürger großen Wert auf gesundheitsfördernde Arbeits– und Lebensbedingungen gelegt haben und mit deutlich kritischen Worten auf Unzulänglichkeiten und leere Versprechungen reagiert haben. Diesen Gesundheitsbewussten stand jedoch eine große Zahl gesundheitlich Desinteressierter gegenüber – z. B. die immer wieder angesprochenen rücksichtslosen Raucher, die eine Bitte um Unterlassen des Rauchens „oft mit Spott und frechem ins Gesicht blasen des Rauches“ beantwortet haben. 47 Bei diesem Teil der Bevölkerung blieb die langfristig angelegte Erziehungspraxis sicherlich wirkungslos, auf die die Gesundheitspolitiker gesetzt haben und die ihrer Meinung nach eng mit der Formung der sozialistischen Persönlichkeit zusammenhing. Ziel sollte es sein, „jedem Einzelnen klarzumachen, daß es mit den Prinzipien der sozialistischen Moral und Ethik unvereinbar ist, rücksichts– und verantwortungslos die Gesundheit der Mitmenschen (…) zu untergraben.“ 48
Diesen Ansatz hielten viele Ärzte für wenig erfolgversprechend, wie z. B. der Chefarzt der Betriebspoliklinik des Thomas-Münzer-Schachtes Sangershausen: „Bei der individuellen Aufklärung wird man mehr erreichen, wenn die Interessen des einzelnen berücksichtigt werden, statt von den gesellschaftlichen Interessen auszugehen.“ 49
Generell wurde die belehrende Methodik und auch die Themenauswahl von vielen im Gesundheitsbereich Tätigen kritisiert. Besonders deutlich wies ein Ludwigsluster Arzt den Gesundheitsminister darauf hin, dass die Gesundheitserziehung in der
44 Herbert T. aus Dessau an den Staatsrat der DDR, 3.3.1966, in: BArch DQ 1/5175, unfol. 45 Joachim M. aus Bad Langensalza an das Komitee für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung in der DDR, 17.2.1967, in: BArch DQ 1/2433, unfol. 46 Paul B. aus Weißenfels an den Leiter der Abteilung Gesundheits– und Sozialwesen des Rates des Kreises Weißenfels, 20.11.1962, in: BArch DQ 1/22239, unfol. 47 Joachim M. aus Bad Langensalza (wie Anm. 45). 48 OMR Dr. Thränhardt an Gemeindevertreter Pohl, 29.3.1963, in: BArch DQ 1/22239, unfol. 49 Referat auf der 3. Vollversammlung des Komitees für gesunde Lebensführung und Gesundheiterziehung in der DDR, 3.12.1963, in: BArch DQ 1/22446, unfol.
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DDR nicht auf die vorherrschenden Probleme abzielt und sich scheut, „‚heiße Eisen‘ wie Bewegungsmangel, Überernährung und Genußmittelmißbrauch auf eine neue, wirksamere Art und Weise anzupacken und zu erläutern.“ Er warf dem Minister vor, er würde zu viel über die Gesundheitspolitik theoretisieren: „Aber das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis. Und in der Praxis sieht der ärztliche Kollege Tag für Tag Besorgniserregendes.“ Vonnöten sei eine offensive Argumentation mit deutlichen und ehrlichen Worten zur gesundheitlichen Situation sowie „reale Analysen (…) aber nicht in verschlossenen Schränken.“ 50 Um die Gesundheitsaufklärung wirklichkeitsnäher und damit auch erfolgversprechender zu gestalten, wäre die aktive Einbeziehung der Bürger vonnöten gewesen. Doch die DDR unterschätzte bzw. behinderte die potentiellen Kräfte individuellen und kollektiven Handelns. 51 Außerhalb des gesellschaftlich vorgegebenen Rahmens selbst gesundheitsfördernd tätig zu werden (z. B. in selbst organisierten Gruppen und Interessensgemeinschaften), war praktisch nicht möglich. Solche Gruppierungen waren aufgrund der Befürchtung, sie würden den Rahmen für oppositionell-politische Aktivitäten bilden, nicht erlaubt. 52 Das Volk blieb auf diese Weise Adressat und Objekt einer „von oben implantierten Aufklärung.“ 53 Der ‚Alleinvertretungsanspruch‘ des Staates hat sicherlich die Entwicklung eines Gesundheitsbewusstseins bei den Bürgern behindert, teilweise herrschte eine weit verbreitete Laissez-faire-Haltung. 54 Andererseits konnte auch gezeigt werden, dass sich zahlreiche Menschen mit Gesundheitsthemen auseinandergesetzt haben. Insofern gab es durchaus auch positive Resultate der Gesundheitsaufklärung: das von allen anerkannte und geschätzte Prinzip der Gesundheitsvorsorge und den kritisch-mündigen Bürger, der auf die Einhaltung desselben bestanden hat. Fazit Die Schwierigkeit, auf das Gesundheitsverhalten der Menschen einzuwirken, ergibt sich für jedes Land und jedes politische System. Anweisungen von Hygienikern erreichen immer lediglich einen kleinen Teil der Bevölkerung und werden nur angenommen, wenn sie verstanden und als notwendig erachtet werden und wenn die 50 Brief von Dr. J. M. aus Ludwigslust an Minister Mecklinger (persönlich), 14.7.1988, in: BArch DQ 1/12332, unfol. 51 Hans Berndt, Zum Verhältnis von Prävention und kurativer Medizin in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Thomas Elkeles u. a. (Hgg.), Prävention und Prophylaxe. Theorie und Praxis eines gesundheitspolitischen Grundmotivs in zwei deutschen Staaten 1949-1990, Berlin 1991, 189–204, 190. 52 Ursula von Appen, Theoretisches Konzept und gesellschaftliche Wirklichkeit der Gesundheitserziehung. Erfahrungen des Kreiskabinetts/Kreiskomitees für Gesundheitserziehung Schwerin, in: Thiele (Hg.), Das Gesundheitswesen der DDR, 265–269, 268. 53 Reinhart Koselleck, Über den Stellenwert der Aufklärung in der deutschen Geschichte, in: Ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. und mit einem Nachwort von Carsten Dutt, Berlin 2010, 117–130, 127. 54 Appen, Theoretisches Konzept, 268.
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Chance besteht, dass sie im Alltag auch befolgt werden können. 55 Doch gerade dieses wichtige Kriterium, Angebote zu vermitteln, deren Nachfrage man auch bedienen kann, konnte die Gesundheitsaufklärung in der DDR in den fünfziger und sechziger Jahren nicht immer erfüllen. Es bestand oftmals nicht die Möglichkeit, die angeregten Gesundheitstipps auch befolgen zu können: In den Geschäften fehlten die propagierten Lebensmittel, Nichtraucher waren überall dem Passivrauch ihrer Mitmenschen ausgesetzt, Vorsorgemaßnahmen konnten nicht für alle gewährleistet werden. Obwohl das Gesamtkonzept der Gesundheitserziehung in der Theorie sehr umfassend war, hatte es trotzdem nicht den Stellenwert, der erforderlich war, um dieses Konzept wirksam werden zu lassen. 56 Diese „tiefe Kluft“ zwischen wissenschaftlicher Anstrengung, organisatorischer Aufblähung und tatsächlicher Bedeutung der Gesundheitserziehung 57 wurde interessanterweise auch von den DDRBürgern sehr deutlich wahrgenommen. Sie äußerten ihr Unverständnis darüber, dass die Pläne und Vorgaben zur Gesunderhaltung der Bevölkerung nicht mit der notwendigen Konsequenz durchgesetzt wurden. Dass beispielsweise der Appell an die Verantwortung für die Gesundheit der Mitmenschen nicht durchdrang, wurde beim Thema Rauchen sehr deutlich. Die Ursachen für die teilweise sehr begrenzte Wirksamkeit der Gesundheitsaufklärung sind vielfältig und komplex und lassen sich an dieser Stelle nur andeutungsweise zusammenführen. Zu dem nicht sehr ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein, gerade auch der leitenden Funktionäre, kamen die schwierigen ökonomischen Rahmenbedingungen sowie die Notwendigkeit der Planerfüllung und somit die Konzentration auf kurzfristige wirtschaftliche Erfolge zulasten langfristiger Kostenersparnis durch gesundheitsfördernde Lebens– und Arbeitsbedingungen. Überhaupt wurden die sozialen Bedingungen für die Entstehung von Krankheiten und die klassische sozialhygienische Sichtweise, dass Gesundheitsschutz eine sozialpolitische Aufgabe ist, im Laufe der Zeit mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Die soziale Wirklichkeit wurde nicht mehr thematisiert – die Verantwortung (im internationalen Trend der Risikofaktorenmedizin) dem Einzelnen und seiner Lebensführung zugeschrieben. 58 Auch im Unterricht an den Hochschulen wurden prophylaktische Aspekte vernachlässigt, so dass es Studenten und Ärzten an Kenntnissen und an der Motivation in Bezug auf die Gesundheitsberatung fehlte. 59 Letztlich wurde das Gesundheitswesen auch überstrapaziert durch Patienten, die die
55 Dietrich Mühlberg, Gesundsein ist Pflicht oder die Erziehung zu Wohlbefinden durch Leistung. Anmerkungen zur Gesundheitserziehung in der DDR, in: Schmerz laß nach. Drogerie-Werbung der DDR, Ausstellungskatalog Deutsches Hygiene-Museum, Berlin 1992, 37–56, 47. 56 Appen, Theoretisches Konzept, 267. 57 Jens-Uwe Niehoff, „Sozialismus ist die beste Prophylaxe“? Anmerkungen zum Präventionsdiskurs in der DDR, in: Susanne Roeßiger / Heidrun Merk (Hgg.), Hauptsache gesund! Gesundheitsaufklärung zwischen Disziplinierung und Emanzipation, Marburg 1998, 180–201, 197. 58 Zum Wandel von der sozialen Prävention (Verhältnisprävention) zur medizinischen Prävention (Verhaltensprävention) siehe u. a. Niehoff, „Sozialismus ist die beste Prophylaxe“. 59 Berndt, Verhältnis, 193.
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staatlich garantierte Sicherheit des Arbeitsplatzes und die sozialpolitischen Regelungen ausnutzten. 60 Demgegenüber lassen sich aber auch Vorteile des sozialistischen Gesundheitssystems benennen. Die Durchsetzung zentraler gesundheitspolitischer Konzepte konnte ohne Rücksichtnahme auf die Gegenmacht von Ärzteverbänden oder Krankenkassen erfolgen. Initiativen wie das Berliner Zytologieprogramm 61, das 1972 von Ärzten aus der Klinik auf den Weg gebracht wurde, unterstreichen darüber hinaus den Vorzug der Einbettung des prophylaktischen Wirkens in den Alltag von Praxis und Klinik – ganz im Gegenteil zur Handhabung in der alten Bundesrepublik, wo Vorsorgeuntersuchungen nur von den niedergelassenen Ärzten angeboten wurden. 62 Grundsätzlich ist positiv hervorzuheben, dass Vorsorgeuntersuchungen einer breiten Bevölkerungsschicht kostenfrei zur Verfügung standen und in den Berufsalltag integriert wurden. Die mitunter starke Nachfrage spricht für den Erfolg und das Ansehen dieser Maßnahmen. Auf Defizite und Engpässe in diesem Bereich haben viele Bürger in Leserbriefen und Eingaben hingewiesen und Verbesserungen eingefordert. Insgesamt funktionierte die Gesundheitserziehung also nicht wie intendiert über positive Vorbilder und die gesamtgesellschaftliche Einbettung und Zuständigkeit, sondern eher über negative Beispiele aus der Praxis, die den Unterschied zwischen dem propagierten Anspruch des Gesundheitswesens und der wahrgenommenen Realität der DDR verdeutlicht haben.
60 Dierk von Appen, Anspruch und Wirklichkeit. Gesundheitsschutz und ambulante Betreuung, in: Thiele (Hg.), Das Gesundheitswesen der DDR, 105–108, 107. 61 Das Programm war eine Maßnahme zur Bekämpfung des Zervixkarzinoms (Gebärmutterhalskrebs). Diese Vorsorgeuntersuchung wurde in die gynäkologische Sprechstunde integriert. Für nähere Informationen siehe Berndt, Verhältnis, 200 f. 62 Zur Prävention in der Bundesrepublik siehe u. a. Rolf Rosenbrock, Wa(h)re Gesundheit. Prävention und Gesundheitsförderung in der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren, in: Roeßiger / Merk (Hgg.), Hauptsache gesund! 202–16.
AUFKLÄRUNG UND METHODE
BRAUCHEN WIR EINEN „MARITIME TURN“? Oder: Warum maritime Fragen in den Geschichtswissenschaften größere Aufmerksamkeit verdient hätten Jürgen Elvert, Köln Von der Eindeutigkeit zur Vieldeutigkeit Ein zentrales Kriterium wissenschaftlichen Denkens ist, neben der Suche nach neuen Erkenntnissen, die ständige Auseinandersetzung der Wissenschaften mit sich selbst, insbesondere mit dem vorhandenen Methodenapparat. Die Überprüfung, ob das „Werkzeug“ zur Gewinnung neuer Erkenntnisse den jeweiligen Ansprüchen noch genügt, gewährleistet im Idealfall die Zeitgemäßheit der Forschung. Die stete Suche nach alternativen Zugängen zu wissenschaftlichen Problemen eröffnet überdies neue Perspektiven, kann zu innovativen Fragestellungen führen und so im Idealfall wissenschaftliches Neuland erschließen, während die regelmäßige Positionsüberprüfung einzelner Disziplinen hinsichtlich ihres Verhältnisses zu den Nachbardisziplinen dafür sorgt, dass die Grenzverläufe zwischen den Einzeldisziplinen flexibel bleiben und die Wissenschaftslandschaft insgesamt mittels trans– oder interdisziplinärer Fragestellungen angemessen auf neue Herausforderungen reagieren kann. Die entsprechende Auseinandersetzung der Geschichtswissenschaften mit sich selbst reicht zurück bis in das frühe 19. Jahrhundert, als sich das Fach um 1800 als eigenständige Disziplin etablieren konnte. Schon die ersten methodischen Überlegungen zur Historik, die Wachsmuth und Droysen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts veröffentlichten, blieben nicht unwidersprochen, sondern provozierten Alternativentwürfe. Freilich waren die entsprechenden Denkansätze im 19. Jahrhundert lange von einer gewissen Hermetik gekennzeichnet, die, in Deutschland noch begünstigt durch die Suche nach einer nationalen Identität, zu einer gewissen Überbetonung des Historischen führte, die sich im Historismus manifestierte, damit weit über die eigentlichen Disziplingrenzen hinausreichte und deutlich sichtbare Spuren im täglichen Leben hinterließ. Nietzsche hatte dies 1874 in seiner Streitschrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben zum Anlass für eine Art Generalabrechnung mit den Geschichtswissenschaften genommen, da sie zu einer „Krankheit“ des modernen Menschen geworden sei, die „das Lebendige“ zu untergrabe drohe. Insbesondere sah er ihren Anspruch auf Objektivität als unbegründbar an, zumal ihre ständige Befassung mit der Vergan-
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genheit den ungetrübten Blick in die Zukunft versperre. 1 Nietzsches Schrift steht bekanntlich am Anfang einer ersten großen Krise nicht nur der Geschichtswissenschaften, sondern des gesellschaftlichen Selbstverständnisses in Deutschland und Europa insgesamt, die Ernst Troeltsch 1922 als „Krise des Historismus“ bezeichnet hatte, da die Eindeutigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis und damit ein wesentliches Merkmal der Moderne insgesamt zur Disposition stand. Die Reichweite dieser Krise ging zudem deutlich über den geistes– bzw. kulturwissenschaftlichen Horizont hinaus 2, sie erschütterte auch die Naturwissenschaften, wo durch die Quantentheorie die „eindeutige Determination“ der naturwissenschaftlichen Ordnung und damit eine zentrale Kategorie des modernen Denkens, „die größte geistige Tatsache der letzten Jahrhunderte“ ins Wanken geraten war. 3 Aus der Distanz eines Jahrhunderts ist diese Krise der Moderne als ein wesentliches Merkmal des Zeitalters der Weltkriege deutlicher denn je erkennbar. Allerdings weigerten sich insbesondere die Hauptprotagonisten der deutschen Historiographie, die Konsequenzen aus diesem Dilemma zu ziehen, sondern beharrten durchaus erfolgreich auch weiterhin auf der Eindeutigkeit geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis. Damit wurden sie zu Hagiographen des deutschen Nationalstaats. Dessen Repräsentanten nahmen diese Unterstützung gerne an und nutzten sie zur Legitimation ihres politischen Handelns. Die deutsche Geschichtswissenschaft erstarrte so zu einer Legitimationswissenschaft, im Zeitalter des Imperialismus genauso wie im Weimarer Revisionismus und, ideologisch aufgeladen, auch im Nationalsozialismus. Als sich nach dem Zusammenbruch des NS-Staates dessen verbrecherischer Charakter in aller Deutlichkeit zeigte, reagierten die deutschen Geschichtswissenschaftler in ihrer großen Mehrheit zutiefst 1
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Otto Gerhard Oexle, Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne, in: ders. (Hg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, Göttingen 2007, 11–116, (13). Ich erinnere hier an die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geführte Diskussion über den Umgang mit den Resten des Hegelschen Geist-Topos und dessen Verhältnis zur Empirie. Diltheys lebensphilosophisch geprägte Objektivierung des Geistes in der Dreiheit von Leben, Ausdruck und Verstehen als Kennzeichen der Geisteswissenschaften hatte Georg Simmel seine Kulturphilosophie gegenübergestellt. Demzufolge geht es in den Kulturwissenschaften seither nicht nur um die Erforschung der Formen von Kultur, sondern zugleich um eine kritische Distanz dazu. Die Untersuchungsgegenstände und der Zugang zu ihnen verbindet also die Kulturwissenschaften miteinander, manche enger, andere lockerer. Im Idealfall stehen sie in einem interdisziplinären Diskurs miteinander. Dieser ermöglicht einen deutlich umfassenderen Zugriff als der monodisziplinäre. Gleichwohl besitzen die einzelnen Kulturwissenschaften in der Regel noch genügend eigenes Profil, um nicht zu einer neuen „Totalwissenschaft“ miteinander zu verschmelzen – auch wenn auf den ersten Blick die gegenwärtig hohe Wertschätzung der Interdisziplinarität in letzter Konsequenz die Verschmelzung einzelner Kulturwissenschaften zu größeren Einheiten nach sich ziehen könnte. Siehe: Jürgen Elvert, Einige einführende Überlegungen zum Projekt „Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus“, in: ders. / Jürgen Nielsen-Sikora (Hgg.), Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, 7–18, (11). Oexle, Krise des Historismus, 14; die Zitate hatte Oexle einem Aufsatz Kurt Riezlers, des damaligen Kanzlers der Frankfurter Universität entnommen (Kurt Riezler, Die Krise der „Wirklichkeit“, in: Die Naturwissenschaften 16/1928, 705–712).
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verunsichert. Viele hielten auch weiterhin am Anspruch der Eindeutigkeit fest, diesmal verbunden mit dem Anspruch, „zu zeigen, wie es eigentlich gewesen“ 4 war. Dieser Rückbezug auf Ranke und damit auf die Anfänge der wissenschaftlichen Geschichtsforschung einschließlich ihres Objektivitätsanspruchs suggerierte einen verlässlichen methodischen Rahmen in einer zutiefst verunsicherten Zeit – allerdings klammerte er den idealistisch-geschichtsphilosophisch geprägten Zeitgeist, aus dem heraus Ranke seinen Anspruch an geschichtswissenschaftliches Arbeiten formuliert hatte, ebenso aus wie die seither gewonnenen Einsichten in die Möglichkeiten und Grenzen geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis einschließlich an der in der „Krise des Historismus“ aufgekommenen Zweifel an der Eindeutigkeit geschichtswissenschaftlicher Postulate. Gelegentlich wird diese „Flucht in die Vergangenheit“ durch Selbstbeschränkung auf ereignisgeschichtliche Darstellungen als Ausdruck eines trivialpositivistischen Geschichtsideals angesehen 5, doch überschätzen die Kritiker die Möglichkeiten der deutschen Geschichtswissenschaften unter dem Eindruck der Zäsur von 1945. Vor 1945 hatten sich die deutschen Historiker weitgehend aus dem internationalen Fachdiskurs zurückgezogen, indem sie zunächst versuchten, dem jungen Nationalstaat einen historischen Sinn zu geben, um sich nach dem Ersten Weltkrieg dem Weimarer Revisionismus zu verschreiben und sich nach der nationalsozialistischen Machtübernahme entweder in den Dienst des Systems zu stellen oder sich zumindest in der einen oder anderen Form mit diesem zu arrangieren. An einen internationalen Gedankenaustausch über methodische Fragen oder auch nur Inhalte war unter solchen Vorzeichen kaum zu denken, auch wenn zumindest im Westen die Rückkehr der institutionalisierten deutschen Geschichtswissenschaft in die internationalen Organisationen anders als nach 1918 vergleichsweise schnell ging. Die Re-Integration der deutschen Geschichtswissenschaft vollzog sich gewissermaßen analog zur Einbettung der jungen Bundesrepublik in die internationalen politischen Strukturen: 1951 wurde der westdeutsche Verband der Historiker (VHD) wieder in das Comité international des sciences historiques (CISH) aufgenommen, aus dem er wenige Jahre zuvor ausgeschlossen worden war. Bald folgten mit den Historikertreffen in Speyer, den internationalen Schulbuchgesprächen sowie den Gründungen internationaler historischer Institute in Rom, Paris und Mainz weitere Initiativen. Die strukturelle Re-Integration bedeutete jedoch nicht, dass es auf deutscher Seite in größerem Umfang auch die Bereitschaft zur Übernahme methodischer Verfahrensweisen gegeben hätte, die sich zwischenzeitlich im internationalen Rahmen etabliert hatten. Im Gegenteil, es sollten noch etwa zwei Jahrzehnte vergehen, bis auf deutscher Seite die Bereitschaft bestand, sich in größerem Umfang beispielsweise mit dem französischen Methodendiskurs, also mit der von Marc Bloch oder Fernand Braudel wesentlich
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Leopold von Ranke, Sämtliche Werke Bd. 33/34, Leipzig 1885, 7. Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, 67f.
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inspirierten Annales-Schule zu beschäftigen. 6 „Europa“ wurde zwar als ein moderner und vermeintlich internationaler Forschungsgegenstand entdeckt, freilich allzu oft aus einer Perspektive betrachtet, die an einschlägige Forschungsarbeiten zur Mitteleuropafrage aus der Zwischenkriegszeit erinnerte. 7 Sicher: Es gab Ausnahmen. So trugen beispielsweise die in der NS-Zeit zur Emigration gezwungenen Kollegen dazu bei, der westdeutschen Geschichtswissenschaft neue Impulse zu geben. Hier sei beispielsweise an Hans Rothfels erinnert, der die Contemporary History bzw. die Histoire Contemporaine in Westdeutschland einführte und den deutschen Geschichtswissenschaften damit einen methodischen Zugang vermittelte 8, der neue Erkenntnisse zur Erforschung des Nationalsozialismus erhoffen ließ. 9 Und auch wenn die französischen Geschichtsphilosophen und –theoretiker in größerem Umfang erst in den 1970er Jahren von der deutschen Geschichtswissenschaft „entdeckt“ wurden: Schon die methodische Vorgehensweise des 1957 gegründeten Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte um Otto Brunner und Werner Conze war erkennbar auch von den strukturgeschichtlichen Ansätzen der Annales-Schule geprägt, die sich bereits seit den 1920er Jahren, unter dem Eindruck der Krise des Historismus, um neue Zugänge zu geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis bemüht hatte. Kulturwissenschaftliche Hakenschläge Für unser Thema bleibt festzuhalten, dass die Zeitgeschichtsforschung ebenso wie die Struktur– und Sozialhistoriker oder die Neo-Rankeaner der Nachkriegsjahre trotz aller Unterschiedlichkeit in der Methodik in einem Punkt miteinander verbunden waren: Sie hielten alle ausdrücklich oder wenigstens implizit auch weiterhin am Anspruch auf Eindeutigkeit der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis und Aussage fest – und tun dies gelegentlich immer noch. Dabei hatte anderswo, besonders in Frankreich und den USA, längst die Suche nach einer Anpassung des Denkens an die neuen Herausforderungen der Zeit längst begonnen. In Frankreich hinterfragten Philosophen wie Derrida oder Foucault lieb gewonnene Strukturen und Formen unter Heranziehung von Erkenntnissen aus der Sprachwissenschaft und anderer Disziplinen. Damit erschütterten sie nicht nur die gängigen Denkmuster ihrer Zeit, sondern verwiesen zugleich auf die Notwendigkeit interdisziplinärer Forschungsansätze in den Kulturwissenschaften, da nur so die Leistungen der einzelnen Disziplinen in Beziehung zueinander gesetzt und weiterführende Erkennt6 7 8 9
Siehe dazu die Rezension im Deutschland-Archiv von: Steffen Kaudelka, Die Ökumene der Historiker? http://www.deutschlandarchiv.info/download/article/453 (12.3.2013). Zur Mitteleuropadiskussion der Zwischenkriegszeit vgl.: Jürgen Elvert, Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918–1945), Stuttgart 1999 Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: VfZG 1/1953, 1–8. Gleichzeitig gab allerdings es unter westdeutschen Historikern erhebliche Bedenken gegen die Berufung von Emigranten auf vakante Lehrstühle in der Bundesrepublik, wie beispielsweise Golo Mann Anfang der 1950er Jahre erfahren musste. Vgl. dazu: Tilmann Lahme, Golo Mann. Biographie, Frankfurt a. M. 2009, 210–219.
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nisse gewonnen werden könnten. Etwa zeitgleich fragten US-amerikanische Historiker wie Hayden White oder James Clifford in den USA, wie Historiker Geschichte konstruierten, indem sie sie schriftlich fixierten. White zufolge nutzten auch Historiker bestimmte Regeln der Literaturwissenschaft, indem sie versuchen, „einer Ereignisfolge eine Plotstruktur zu verleihen, so dass sich ihr Charakter als verstehbarer Prozess durch ihre Anordnung als Geschichte von ganz bestimmter Art (…) offenbart.“ 10
Eine solche Plotstruktur könne sich an der Tragödie, der Komödie, dem Epos, der Romanze oder der Satire orientieren. 11 White zufolge modellieren Historiker ihre Texte, indem sie sie in bestimmte, auch in der Literatur gebräuchliche Schemata einpassen, sie schüfen so jedoch bloß eine Fiktion des Faktischen. Mit durchaus nachvollziehbaren Gründen hat White in den Geschichtswissenschaften also den „Linguistic Turn“ vollzogen und damit vertraute Denkstrukturen, insbesondere den Glauben an die Eindeutigkeit geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis ins Wanken gebracht, allerdings keineswegs widerspruchslos. In Deutschland zählt beispielsweise Jörn Rüsen zu den heftigsten Kritikern des White’schen Ansatzes. Ausgangspunkt seiner Kritik bildet der Begriff „Historik“.12 Rüsen zufolge geht es in der Historik darum, wie der menschliche Geist mit der Vergangenheit umgeht. Insofern genügt es ihm nicht, sie als Teil des Fach Geschichte im Sinne einer akademische Disziplin zu sehen, sondern es geht ihm darum, das historische Denken als anthropologisches Spezifikum zu begreifen – als Ausdruck der Geschichtskultur einer Gesellschaft also, innerhalb derer die Geschichtswissenschaft einen Teilbereich abdeckt, indem sie die Geschichtskultur prägt, von ihr aber zugleich auch beeinflusst wird. Rüsen hat den Begriff „Geschichtskultur“ als Kategorie der Didaktik der Geschichte maßgeblich mitgeprägt, insofern kann er es sich leisten, den Begriff zu nutzen, ohne sich konkret im einschlägigen akademischen Diskurs positionieren zu müssen. Über das Verhältnis der Historik zur Geschichtswissenschaft im engeren und zur Geschichtskultur im weiteren Sinn lasse sich die Frage nach dem Sinn im spezifisch historischen Umgang mit der menschlichen Vergangenheit herausarbeiten. Die Suche nach dem Sinn sieht Rüsen als anthropologisch konstitutiv, die Sinnbildung als ein Kernelement menschlicher Geschichtskultur. Damit beharrt Rüsen aber weiterhin auf der anthropologischen Verankerung der Geschichtskultur. Dem von Émile Durkheim maßgeblich geprägten Begriff des „kollektiven Bewusstseins“ 13, das indivi10 Zitiert nach: Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 42010, 162. 11 Ebd. 12 Jörn Rüsen, Grundzüge einer Historik, 3 Bde., Bd. 1: Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983; Bd. 2: Rekonstruktion der Vergangenheit, Göttingen 1986, Bd. 3: Lebendige Geschichte. Formen und Funktionen des historischen Wissens, Göttingen 1989. Zu Rüsens Theorie der Historik siehe auch: Jörn Rüsen, Historik: Umriss einer Theorie der Geschichtswissenschaft, in: EWE 4/2011, 477–490. 13 Siehe dazu zum Beispiel die Ausführungen zum kollektiven Gedächtnis in: Émile Durkheim, Les règles de la méthode sociologique, Paris 1895 (Die Regeln der soziologischen Methode. Dt. von René König, Neuwied/Berlin 1961, 106 und öfter).
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duelles Handeln als von der überindividuellen sozialen Wirklichkeit abhängig sieht, schenkt er hingegen keine Beachtung. Insofern kann es auch nicht überraschen, wenn Rüsen beispielsweise den von Maurice Halbwachs ausgehenden Überlegungen zum „kulturellen Gedächtnis“ keine Aufmerksamkeit schenkt, obwohl es Jan Assmann zufolge als Sammelbegriff für alles Wissen dient, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft menschliches Handeln und Erleben steuert. 14 In Anlehnung an Droysen versteht Rüsen unter „Historik“ eine bestimmte Art, über historisches Denken nachzudenken. Im Englischen habe sich dieser Begriff als Fachbegriff nicht durchgesetzt, hier werde stattdessen die Bezeichnung „MetaHistory“ benutzt und damit ein Fachterminus, dem Hayden Whites Buch eine geradezu kanonische Bedeutung verliehen habe. Die Gleichsetzung von Historik und metahistory unter gleichzeitiger Ausblendung des Begriffs historiology als möglicher Begriffsalternative zu metahistory zeigt, dass Rüsens Überlegungen als direkter Gegenentwurf zu White gelesen werden sollten. 15 Gleichwohl kann auch Rüsen nicht bestreiten, dass es offensichtliche Parallelen zwischen geschichtswissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Methodik gibt. Von rein textimmanenten Werken einmal abgesehen geht es auch in der Literatur darum, unterschiedliche Typen narrativer Sinnbildung herauszuarbeiten, um eine Konvergenz von Interpretation und Repräsentation zu erreichen. Die Unterschiede liegen zunächst in dem Material, das be– und verarbeitet wird. In der Historiographie geht es ausschließlich um die menschliche Vergangenheit und darum, diese so zu ordnen, dass sich für die Gegenwart daraus ein Sinn ergibt. Die Historik unternimmt den Versuch, dafür geltenden Regeln aufzustellen und Verfahrensweisen zu entwickeln, um so die Triftigkeit der gewonnen Erkenntnisse zu sichern. Die Literatur kann, aber muss sich nicht zwangsläufig an der menschlichen Vergangenheit orientieren. Sie besitzt bei der Auswahl des Stoffes einen deutlich größeren Spielraum als die Historiographie. Gleichwohl muss sie sich, wenn sie sinnbildend für die Gegenwart wirken will, wie die Historiographie um explanatorische Rationalität bemühen. Historiographie und Literatur unterscheiden sich also nicht vom Anspruch, sondern vom Ausgangspunkt her, ebenso von der Erwartungshaltung der Betrachter bzw. Rezipienten. Demzufolge wären es neben dem Material die unterschiedlichen Ausgangspunkte und Erwartungshaltungen, die das Ergebnis historiographischen bzw. literarischen Schaffens bestimmen, um Sinnbildung geht es hingegen beiden. 16 Am Beispiel der unterschiedlichen Ansatzpunkte Whites und Rüsens lässt sich die Entwicklung zeigen, die der Methodendiskurs in Geschichtswissenschaften seit den 1970er Jahren durchlaufen hat. Er zeigt ebenfalls, dass zur Untermauerung der jeweils eigenen Standpunkte seither in vergleichsweise gro14 Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders. / Tonio Hölscher (Hgg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, 9–19, (9 und 15). 15 Vgl.: Jürgen Elvert, Zehn Anmerkungen zu Jörn Rüsens „Historik“, in: EWE 4/2011, 514– 516. 16 Ebd., 515.
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ßem Umfang Erkenntnisse genutzt werden, die aus anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen stammen. Die Kulturwissenschaften haben sich in Folge des „Cultural Turns“ also zu einer Art Diskursgemeinschaft entwickelt, in der lebhaft über neue Wege und neue Erkenntnispotentiale gestritten wird. Dieser Diskurs stößt auch in den Geschichtswissenschaften auf ein deutlich hörbares Echo, gleichwohl scheint es so, als ob diese, jedenfalls in Deutschland, den neuen Ansätzen lange Zeit skeptischer als anderswo begegneten. Andererseits wuchs die Zahl der einschlägigen Arbeiten in den letzten Jahren beachtlich an, was auch mit der Anzahl der so genannten „Turns“ zusammenhängt, die die Kulturwissenschaften in den letzten Jahren verzeichnete. Die Literatur– und Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick hat in ihrer vielbeachteten und mehrfach aufgelegten Studie über Cultural Turns sieben verschiedene Richtungen und sogar einen Meta-Turn ausgemacht, die sich in den Kulturwissenschaften etablieren konnten: den Linguistic Turn als Meta-Turn, weil mit ihm gleichsam alles begann, dann den Interpretive Turn, den Performative Turn, den Reflexive bzw. Literary Turn, den Postcolonial Turn, den Spatial Turn sowie den Iconic Turn. 17 Auch wenn damit erstmals ein zuverlässiger Weg durch den zwischenzeitlich wildverwucherten Dschungel einschlägiger kulturwissenschaftlicher Ansätze geschlagen wurde, lässt auch ihre Übersicht zahlreiche Fragen offen. Die erste Hürde, die nach der Übersetzung des Begriffs „Turn“ ins Deutsche, umgeht sie zunächst geschickt, da sie kein geeignetes deutsches Wort kennt, das dem Englischen turn entsprechen würde. 18 Das eigentlich naheliegende Wort „Wende“ scheint ihr zu gravierend und final zu sein, als dass es sich angemessen nutzen ließe. Insofern plädiert sie für die Beibehaltung des englischen Begriffs auch im einschlägigen deutschen Methodendiskurs. Da sie jedoch an anderer Stelle konstatiert, dass es im französischen Diskurs zwar auch eine „kulturwissenschaftliche Wende“ gegeben habe, diese aber aufgrund der für Frankreich typischen engen Verzahnung der Kulturwissenschaften mit den Sozialwissenschaften in den sciences humaines eine Art französischen Eigenweg darstelle 19, wird der Universalitätsanspruch, den sie für die verschiedenen Turns zumindest implizit erhebt, fraglich und könnte sich mit White ebenfalls als eine Fiktion des Faktischen herausstellen. Denn das Fehlen einer angemessen deutschen Übersetzungsmöglichkeit für das Wort „turn“ als Ausdruck eines kulturwissenschaftlichen Methodenparadigmas könnte auch als Indiz dafür herangezogen werden, dass es hierzulande gleichfalls das Potential für einen Eigenweg gibt. Aus der Perspektive der Geschichtswissenschaften erscheinen zwei Ansätze von besonderem Interesse: der „Postcolonial Turn“ und der „Spatial Turn“. Seit Edward Saids provokativer Orientalismus-Studie 20 aus dem Jahre 1978 konnten Arbeiten aus dem Bereich der „Postcolonial Studies“ viele neue Erkenntnisse zutage fördern und mit den Subaltern oder Regional Studies neue Forschungsbiete 17 18 19 20
Vgl. Anmerkung 10. Bachmann-Medick, Cultural Turns, 32. Ebd., 33. Edward Said, Orientalism, New York 1979.
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eröffnen, neue Perspektiven aufzeigen und insgesamt zumindest in den daran beteiligten Wissenschaften eine größere Aufgeschlossenheit für globale Zusammenhänge wecken. Aber trotz des veritablen „Hype“ um Said oder auch Dipesh Chakrabarty, der, von den Subaltern Studies kommend, sich wohl als derzeit wichtigster kritischer Vertreter des Postkolonialismus etabliert hat 21, haben kritische Analysen gezeigt, dass die argumentative „Unterfütterung“ sowohl der „Orientalismus–“ als auch der „Provinzialisierungs“-Thesen eher schwach waren. Said hatte einige ausgewählte französische und britische Orientalisten als „Kronzeugen“ angeführt, um zu zeigen, dass „der Westen“ (also Europa und die USA) Orientalismus-Forschung primär als Instrument zur Etablierung westlicher politischer Macht im Orient genutzt hätten, Chakrabarty nutzte eine regionale Studie aus Bengalen, um Differenzen zwischen europäischem Denken und außereuropäischer Erfahrung mit diesem Denken aufzuzeigen und das als Grundlage für seine These von der Relativierung des europäischen Einflusses im globalen Rahmen zu nehmen. 22 Am Beispiel der Said-Rezeption und ihrer Folgen lässt sich recht gut ein Mechanismus erkennen, der für die Entstehung von „turns“ typisch sein könnte: Die Unzufriedenheit mit einer herrschenden Lehrmeinung, also der scheinbaren Eindeutigkeit, in einem bestimmten Gebiet provoziert Widerspruch, der sich in bestimmten Thesen manifestiert, die in der Regel quer zur Lehrmeinung stehen, aber gerade deshalb auf eine vergleichsweise große Resonanz stoßen, wobei davon auszugehen ist, dass die Provokanz der These in einem direkten Verhältnis zur Resonanz steht – je provokanter die These, desto größer die Resonanz. In der Folge wird die neue These geprüft, sie wird teils akzeptiert, teils zurückgewiesen. Wenn die These genügend Anhänger findet, wird sie zum Auslöser eines „Turns“, also einer bestimmten kulturwissenschaftlichen Fragestellung, unter der weitere einschlägige Arbeiten verfasst werden, sie setzt also einen Trend. Das Problem eines solchen Trends liegt wiederum in der Anzahl der sich darauf beziehenden Arbeiten. Je zahlreicher die Arbeiten sind, desto komplexer wird das Set an Fragestellungen, die wiederum eine Ausdifferenzierung des „Turns“ in verschiedene Untergruppen erfordert – man denke an die verschiedenen Richtungen, die sich unter dem Rubrum „Postcolonial Studies“ entwickelt haben. Aus der ursprünglichen Eindeutigkeit, suggeriert von der ehemaligen Lehrmeinung, wird so eine teilweise nur noch schwer zu überschauende Vieldeutigkeit, die per se nach Orientierungshilfe verlangt. Doris Bachmann-Medicks Buch kann übrigens auch als eine solche Orientierungshilfe gelesen werden. Ein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichte des „Spatial Turn“ scheint zunächst die oben skizzierten Voraussetzungen für die Implementierung von 21 Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000. 22 Zur Kritik an Said siehe: Birgit Schäbler, Edward Saids Buch Orientalism als Erfolgsgeschichte, in: Burkhard Schnepel / Gunnar Brands / Hanne Schönig (Hgg.), Orient – Orientalistik – Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte, Bielefeld 2011, 279–302, (bes. 287–294).
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„Turns“ zu widerlegen, taucht der Begriff doch erstmals im Jahre 1989 eher zufällig und vergleichsweise unspezifisch in einem Buch des nordamerikanischen Humangeographen Edward Soja auf. 23 Aber auch wenn gerade in der Geographie auch weiterhin heftig die Nutzung des Spatial Turn als Forschungsparadigma kritisiert wird – schließlich handelt es sich bei der Geographie um die Raumwissenschaft par excellence – erlebte der Begriff seither eine veritable Erfolgsgeschichte in den Kulturwissenschaften und hat zwischenzeitlich sogar die Theologie und Organisationslehre erreicht. 24 Aus der Sicht der Geschichtswissenschaften kann diese Erfolgsgeschichte freilich nicht überraschen, schließlich stellt der Raum doch neben der Zeit eine der zentralen Kategorien geschichtswissenschaftlicher Forschung dar, die allerdings infolge der Bedeutung der Geopolitik für die nationalsozialistische Raumplanung lange Zeit tabuisiert war. Das änderte jedoch nichts daran, dass die Geschichtswissenschaften den Raum benötigen, um aussagekräftige Ergebnisse zu präsentieren. Als ein besonders schönes Beispiel für die Bedeutung des Raumes für die Historiographie sei hier Karl Schlögels Im Raum lesen wir die Zeit angeführt. 25 In diesem und anderen Werken hat Schlögel das Raumparadigma für die deutsche Geschichtswissenschaft wieder hoffähig gemacht, indem er es vom Ballast des nationalsozialistischen Missbrauchs befreite und ihm eine gänzlich andere Bedeutung verlieh. Umso verblüffender ist es, dass er dem größten Raum der Erde, dem Meer, der immerhin mehr als zwei Drittel der Erdoberfläche bedeckt, bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Zwar beginnt Schlögels Im Raum lesen wir die Zeit mit Reflexionen über Alexander von Humboldts Schiff und Navigation, allerdings beziehen sich seine Ausführungen hauptsächlich auf die Schiffsausrüstung, die Ausstattung von Humboldts Kabine und die Schwierigkeiten, wissenschaftliches Neuland zu erschließen. 26 Von der geopolitischen Relevanz des maritimen Raumes Etwa 70% der Erde sind von Wasser bedeckt, 80% der Weltbevölkerung lebt an oder in der Nähe von Meeren (bei steigender Tendenz) und ca. 90% des Welthandels wird über See transportiert – diese 70-80-90-Faustregel dient dem Pentagon als Begründung für die globale Präsenz der US-Navy, jenem Schlüsselwerkzeug, das seit etwa einem Jahrhundert wesentlich zur Sicherung der globalen Macht der USA beiträgt. 27 Sie ist Ausdruck einer ausgeprägten maritimen domain awareness 23 Dazu: Jörg Döring / Tristan Thielmann, Einleitung: Was lesen wir im Raum? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen, in: dies. (Hgg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 22009, 7–48 24 Ebd., 8–10. 25 Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München / Wien 2003. 26 Schlögel, Im Raum, 19–26. 27 Siehe: http://www.navy.mil/navco/maritime-strategy/cooperative_Strategy_in_Plain_English. doc (13.3.2013).
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zumindest der amerikanischen politischen, militärischen und wissenschaftlichen Elite im Sinne eines hochentwickelten Verständnisses für das Meer, dessen Spezifika und dessen Bedeutung in geopolitischer, strategischer und ökonomischer Hinsicht für die USA. Dieses ausgeprägte Meereswissen ist fest im amerikanischen kollektiven Gedächtnis verankert, war es doch zunächst der Atlantik, über den seit der Entdeckung des Kontinents Millionen von Menschen mehr oder weniger freiwillig von Europa und Afrika fuhren, um dort seit dem 16. Jahrhundert die heutige US-amerikanische Gesellschaft zu formen. Und spätestens seit dem 19. Jahrhundert war es dann der Pazifik, den es, zunächst als „frontier“, zu erreichen und anschließend, im Zeitalter des Hochimperialismus, zu beherrschen galt. Ein vergleichbar weit verbreitetes Wissen um die Bedeutung des Meeres für Europa insgesamt sucht man in der „Alten Welt“ bis heute vergebens. Die nationalstaatliche Ordnung des Kontinents bestimmt auch weiterhin die kollektive Selbstwahrnehmung der Europäerinnen und Europäer als Angehörige einer bestimmten Nation mit einer jeweils eigenen Geschichte und Kultur. Dabei wären die geographischen Voraussetzungen für eine dezidiert europäische maritime domain awareness durchaus günstig, denn mit einer Küstenlänge von über 110.000 km bei einer Grundfläche von rund 10,5 Mio qkm ist Europa der maritime Kontinent schlechthin. Diese simple geographische Tatsache steht freilich in einem erstaunlichen Missverhältnis zu einer ausgeprägten sea blindness vieler Europäerinnen und Europäer im Sinne einer Indifferenz in Bezug auf die Bedeutung des Meeres für sie, für die Geschichte, die Gegenwart und auch die Zukunft des Kontinents, unabhängig davon, ob es um die nationale oder eine europäische Wahrnehmung der See geht. Diese sea blindness spiegelt sich auch in den Kultur– und Gesellschaftswissenschaften. Hier dominiert bis heute, dem „spatial turn“ zum Trotz, die Sichtweise vom Land her. Es scheint so, als ob gerade die Kultur– und Gesellschaftswissenschaften nach wie vor „festen Boden unter den Füßen“ brauchen, um belastbare Erkenntnisse gewinnen zu können. Diese Feststellung ist umso erstaunlicher, als die Natur–, Geo– und Wirtschaftswissenschaften schon seit Längerem die Bedeutung des Maritimen für die menschliche, also auch für die europäische Zukunft erkannt haben. Ob als Rohstoff-Vorratslager, als Hort schier unerschöpflicher regenerativer Energie, als Nahrungsmittelreservoir einer weiter wachsenden Weltbevölkerung, als Haupttransportwegenetz des Welthandels: Die Bedeutung des Meeres erscheint in einschlägigen Spezialuntersuchungen beinahe ebenso grenzenlos wie das Meer selber. Freilich sind Spezialuntersuchungen meist etwas für Spezialisten, sie werden von einer breiteren Öffentlichkeit daher kaum zur Kenntnis genommen. Auch ist in diesem Zusammenhang der Begriff „grenzenlos“ nur noch unter Vorbehalt zu verwenden, da er die von Hugo Grotius im 17. Jahrhundert geprägte Auffassung vom „Mare liberum“ spiegelt und daher heute schon fast als Anachronismus betrachtet werden muss, weil weltweit Staaten versuchen, ihren Einfluss auf Meeresräume jenseits der 12– oder 200-Meilenzonen auszudehnen. Sea blindness als Gegenteil maritimer domain awareness scheint heutzutage freilich ein primär auf Europa begrenztes Phänomen zu sein. Seit etwa 10 Jahren hat beispielsweise die Volksrepublik China im Hinblick auf die Beurteilung der
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strategischen Bedeutung des Meeres einen bemerkenswerten Paradigmenwechsel durchlaufen. Noch Anfang des 21. Jahrhunderts beschränkten sich die entsprechenden strategischen Konzepte Pekings auf reine Küstenverteidigungsanstrengungen. Seit etwa 2004 jedoch hat sich die chinesische Selbstwahrnehmung als Landmacht grundlegend geändert. Dies spiegelte sich 2008 in einem Weißbuch der Regierung, in dem festgestellt wurde, dass sich die Auseinandersetzungen um Ressourcen, um Schlüsselpositionen und strategische Dominanz weltweit verschärft hätten. Daraus leitete das Weißbuch die Notwendigkeit einer Veränderung der chinesischen Sicherheitspolitik ab, anstelle des seit den 1940er Jahren geltenden Primats primär landgestützter regionaler Verteidigung müsse es künftig um trans– und überregionale Mobilität gehen. Die chinesischen Streitkräfte und hier insbesondere die Marine werden seither konsequent um– und aufgerüstet. Damit soll die chinesische Marine in die Lage versetzt werden, künftig ein Seegebiet zu kontrollieren, das von Japan im Norden bis Indonesien im Süden reicht und ein Gebiet von ca. 10 Millionen qkm umfasst, also etwa so groß wie Europa ist. 28 Ebenfalls vor knapp zehn Jahren konstatierte die indische Marineführung in einer vertraulichen Studie, dass das Seegebiet vom Persischen Golf bis zur Straße von Malakka als legitimes Interessen– und Einflussgebiet Indiens betrachtet werden müsse. Damit wurde der Anspruch auf ein Gebiet erhoben, das, je nach Definition der Grenzen, zwischen einem Viertel und einem Drittel des Indischen Ozeans umfasst. Um diesen Anspruch durchsetzen zu können, wird die indische Marine derzeit kräftig aufgerüstet. Sie soll noch bis Ende dieses Jahrzehnts neben einer deutlich gewachsenen Zahl kleinerer und mittlerer Einheiten auch über drei Flugzeugträger und mehrere strategische U-Boote verfügen können. Da das von Indien beanspruchte Seegebiet an der Straße von Malakka direkt an das von China für sich beanspruchte Gebiet grenzt, sind Konflikte zwischen den beiden aufstrebenden Mächten vorprogrammiert, ebenso übrigens mit Europa, da die für die Versorgung Europas zentral wichtigen Hauptschifffahrtslinien von und nach Fernost direkt durch dieses Gebiet laufen. 29 Dass der Wettlauf um maritimen Einfluss auch anderswo, beispielsweise im Südatlantik geführt wird, mag ein weiteres Beispiel zeigen. So veröffentlichte die brasilianische Marineführung im Jahre 2009 einen Beschaffungsplan, demzufolge die Zahl der schwimmenden Einheiten bis 2030 nahezu verdoppelt werden soll. Unter anderem wird angestrebt, in fünfzehn Jahren 15 konventionell und sechs nuklear angetriebene U-Boote in Dienst zu stellen. Darüber hinaus soll ein älterer Flugzeugträger in Kürze wieder einsatzfähig sein. Wenn es in offiziellen Kommentaren heißt, dass die Verstärkung der brasilianischen Flotte ausschließlich zum Zweck der Abschreckung und des Schutzes der Ölquellen des brasilianischen Festlandsockels dient, so ist das im Hinblick gerade auf die Verstärkung der U28 Vgl. dazu: An-Hao Huang, The Maritime Strategy of China in the Asia-Pacific Region. Origins, Development and Impact, PhD thesis, The University of Melbourne 2009. 29 Sureesh Mehta (Admiral, Chief of the Naval Staff), Freedom to use the seas. India’s maritime military strategy, New Dehli 2007.
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Bootwaffe und der Wieder-in-Dienst-Stellung des Flugzeugträgers wenig plausibel. 30 Die Liste der Beispiele für ein weltweiten Anwachsens maritimer domain awareness ließe sich problemlos deutlich erweitern, jeder genannte Einzelfall wäre von unmittelbarer Relevanz für Europa. Darunter finden sich auch solche, die auf den ersten Blick eher aus dem Kuriositätenkabinett zu stammen scheinen, wie beispielsweise das „Hissen“ der russischen Flagge am Nordpol, 4000 m unter dem Meeresspiegel, im Jahre 2007. Doch verfolgt Russland mit dieser Aktion handfeste geopolitische Interessen. Schon 2001 hatte Moskau mit dem Hinweis darauf, dass sich der russische Kontinentalschelf sich bis zum Nordpol fortsetze, Anspruch auf mehr als einer Million qkm des arktischen Seegebiets erhoben und die staatliche Souveränität über das Gebiet reklamiert, einschließlich der dort vermuteten Öl– und Gasvorkommen. Damit jedoch ist auch ein innereuropäischer Konflikt vorprogrammiert, denn das zu Dänemark gehörende Grönland liegt näher am Nordpol und am Lomonossow-Rücken als das russische Festland. Und mit ähnlichen Argumenten wie Rußland könnte auch Norwegen unter Hinweis auf die Svalbard-Inseln Ansprüche anmelden. Angesichts solcher und anderer bereits existierender oder potentieller Konfliktfelder wird die Notwendigkeit einer neuen internationalen Verständigung in maritimen Fragen deutlich, die UN-Seerechtskonvention von 1982 bedarf dringend einer Anpassung an die gegebenen Verhältnisse. Die Europäische Union will dem ebenso wie der gestiegenen Bedeutung des Maritimen unter anderem auch dadurch Rechnung tragen, dass sie in ihrem 8. Forschungsrahmenprogramm marinen und maritimen Fragestellungen ab 2014 besondere Aufmerksamkeit zu schenken beabsichtigt. Und auch hierzulande scheint sich in der Politik ein Umdenken abzuzeichnen, so ist für das Jahr 2014 erstmals ein „Tag des Meeres“ geplant. Europa und das Meer – neue Forschungsperspektiven für die Geschichtswissenschaften? Im Gegensatz zur Politik begegnen die Kultur– und Gesellschaftswissenschaften maritimen Dingen bis heute mit einer bemerkenswerten Indifferenz. Insofern sei an dieser Stelle nicht unbedingt für einen weiteren, einen „Maritime Turn“ also, plädiert 31, jedoch die unmissverständliche Forderung formuliert, dass sich auch die Kulturwissenschaften im Allgemeinen und die Geschichtswissenschaften im Besonderen stärker mit maritimen Fragestellungen befassen sollte – und zwar von vorneherein aus einer dezidiert europäischen Perspektive. Nur so, denke ich, lässt sich auf Dauer das allgemeine gesellschaftliche Wissen um die Bedeutung des Meeres erweitern und vertiefen und, damit einhergehend, eine größere gesamt30 Dazu: Sascha Albrecht, Seemacht Brasilien? Maritime Ambitionen einer aufstrebenden Macht im Südatlantik, Berlin 2011. 31 Höchstens in Form eines Törns!
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gesellschaftliche Aufgeschlossenheit gegenüber entsprechenden Fragestellungen erreichen. Für die Geschichtswissenschaften bietet die Nutzung der maritimen Perspektive eine Vielzahl neuer Perspektiven. Dabei kann und darf es nicht nur um bereits heute zumindest von Spezialisten bearbeitete Themenfelder wie Schifffahrts– oder Werftengeschichte gehen. Auf diesem Gebiet sind schon in der Vergangenheit durchaus respektable Arbeiten vorgelegt worden. Hier wären insofern lediglich neuere Forschungsansätze zu berücksichtigen, die, im räumlichen Sinne, komparatistisch angelegt sind, oder, im methodischer Hinsicht, verstärkt trans– und interdisziplinäre Aspekte berücksichtigen. Schon damit wäre eine „Europäisierung“ entsprechender geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis gewährleistet. Schließlich nimmt „das Meer“ gleichsam die Rolle eines Bindeglieds zwischen Europa und der Welt ein, denn von Europa aus wurde die Welt von See her erschlossen, zum anderen wurden die in Übersee gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen über See nach Europa transportiert, um hier wiederum wirksam zu werden und die „alte Welt“ und ihre Bewohner selber zu verändern. So gesehen, begann die „Amerikanisierung“ Deutschlands in der Tat nicht 1945, sondern schon im 18. Jahrhundert mit der Verbreitung der Kartoffel, die ja bekanntlich über See nach Europa transportiert wurde. 32 Darüber hinaus gilt es, neue Perspektiven aufzuzeigen und daraus neue Fragestellungen zu entwickeln. In diesem Zusammenhang sei beispielsweise auf die Bedeutung von Hafenstädten und Häfen aus geschichtswissenschaftlicher Sicht verwiesen, und zwar im europäischen Vergleich. Hafenstädte müssen als „Knoten“ in einem globalen Netzwerk verstanden werden, in dem es um Handel, um Kommunikation, um Wissenstransfer, um Kulturaustausch, aber auch um politische und ökonomische Macht geht. Am Beispiel von Hafenstädten lassen sich so kurz–, mittel– und langfristige Entwicklungsprozesse und räumliche wie sachliche Zusammenhänge herausarbeiten, die zugleich der Bedeutung des Maritimen angemessen Rechnung tragen. In Bezug auf die Geschichte Europas wird dies unser entsprechendes Wissen zwar nicht revolutionieren, freilich in einer bislang so nicht gekannten Weise neu ordnen und damit neue Sichtweisen eröffnen, neue Zusammenhänge aufzeigen und so zugleich einen Beitrag leisten für eine größere Aufgeschlossenheit gegenüber der Bedeutung des Meeres in der und für die europäische Geschichte. Freilich wird es dabei keine eindeutige Antwort geben, die Geschichtswissenschaften sollten jedoch vor der Vieldeutigkeit der zu erwartenden Erkenntnisse nicht zurückschrecken.
32 Jürgen Osterhammel / Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 42007.
HISTORISCHES ERZÄHLEN BEI FRIEDRICH SCHILLER Eine Analyse mit Hayden White Luise Güth, Greifswald
„Jeder große Mensch hat eine rückwirkende Kraft: alle Geschichte wird um seinetwillen wieder auf die Wage gestellt, und tausend Geheimnisse der Vergangenheit kriechen aus ihren Schlupfwinkeln – hinein in seine Sonne. Es ist gar nicht abzusehen, was Alles einmal noch Geschichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer noch wesentlich unentdeckt! Es bedarf noch so vieler rückwirkender Kräfte!“ 1
Friedrich Nietzsche bemüht in seinem Aphorismus die Sonne, das bildhafte Symbol der Aufklärung, als Metapher für die Perspektive seiner „großen Menschen“: Dabei meint Nietzsche nicht jene, die ihre Gegenwart und Zukunft als Staatsmänner, Krieger oder Wissenschaftler prägen. Sondern er spricht über jene, die neue Perspektiven auf vermeintlich Bekanntes eröffnen, an Vergessenes erinnern, neue Maßstäbe setzen und Licht und Schatten auf Personen, Ereignisse oder Zusammenhänge neu verteilen: die Historiker. Ihre „rückwirkende Kraft“ besteht darin, Zeugnisse der Vergangenheit mit dem Wissen um ihre bereits geschehene Zukunft für ihre Gegenwart sinnstiftend zu deuten. 2 Dass Friedrich Schiller ein bedeutender Geist war, der sich auch auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung betätigt hat, steht außer Frage, wenngleich seine Arbeiten auch unterschiedlich bewertet worden sind. 3 Ausgehend von seiner Gegenwart, dem Heiligen Römischen Reich am Vorabend der Französischen Revolution, sucht der junge Schiller in seiner Darstellung der niederländischen Revolution die Wiege einer antizipierten freiheitlichen europäischen Neuordnung. Vor diesem Telos ordnet er die Ereignisse in den niederländischen Provinzen der Spanischen Krone in der Mitte des 16. Jahrhunderts als natürlichen und vorbestimmten Ausgangspunkt für die Neugestaltung Europas an. Dabei tritt Schiller in seiner Darstellung nicht als ein aus der Metaperspektive analysierender und erklärender Historiker in Erscheinung, sondern er inszeniert sein geschichtsphilosophisches 1
2 3
Friedrich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 34, zitiert nach: Tilman Borsche, Die Fakten der Geschichte. Geschichtsphilosophische Überlegungen im Anschluß an Friedrich Nietzsche, in: Jürgen Trabant (Hg.), Sprache der Geschichte (Schriften des Historischen Kollegs, 62), München 2005, 43–54, hier 46. Vgl. Borsche, Fakten, 43–54. Eine prägnante Zusammenfassung der Schillerrezeption findet sich bei Stephan Jaeger, Performative Geschichtsschreibung: Forster, Herder, Archenholz und die Brüder Schlegel (Germanistische Forschungen, 125), Berlin 2011, 184–194.
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Programm textuell. Wie genau es ihm gelingt, die Ideen der Aufklärungsphilosophie in seine Darstellung hineinzuschreiben, wird im Folgenden untersucht. Dazu wird die Theorie der narrativen Erklärungsstrategien von Hayden White, einem der Väter des linguistic turn, oder besser: textual turn, bemüht. Nach einigen einführenden Anmerkungen zur Aufklärungsgeschichtsschreibung werden sowohl Hayden Whites historiographisches Analysemodell als auch Schillers Abfall der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung in aller Kürze vorgestellt, bevor sich der empirische Teil dieses Beitrags mit der Anwendung des Whiteschen Modells auf die Strukturen der Schiller´schen Sinnbildung beschäftigt. 1. Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert Die Aufklärungsphilosophie hat die Entwicklung der Geschichtswissenschaft nachhaltig beeinflusst. Als ein äußerlich wahrnehmbares Zeichen dieses Einflusses hat sich die Benutzung des Kollektivsingulars Geschichte im Sinne einer ganzheitlichen und zusammenhängenden geschichtlichen Entwicklung im 18. Jahrhundert etabliert und verdrängte damit die ereignisorientierte Historie. Die aufklärerische Einordnung von Einzelbegebenheiten in einen übergeordneten Sinn– und Entwicklungszusammenhang brachte die aristotelische Unterscheidung zwischen der auf das Allgemeine verweisenden Dichtung und der das Besondere rekonstruierenden Geschichte ins Wanken. Diese neue sinngebende Geschichtsphilosophie stellte auch die etablierten Formen der Geschichtsschreibung vor sprachlich-textuelle und darstellerische Herausforderungen, derer sie aber erst gegen Ende des Jahrhunderts gerecht werden konnte. Für die Aufklärungshistoriker Schlözer und Gatterer war noch die „kausal-analytische Systemabbildung“ 4 das erklärte Ziel von Geschichtsschreibung. Die Detailgenauigkeit, der nüchterne Berichtcharakter und die kompendienartige Faktenorientierung ließen aber entweder den Blick für die Gesamtheit der Entwicklung vermissen oder lieferten Kausalmodelle, die das Besondere im Allgemeinen nicht mehr darstellen konnten, da ihnen die erklärenden narrativen Strukturen fehlten. 5 Erst den Autoren am Übergang zum Historismus wie Schiller, Möser und Spittler gelang es durch ihre Erzählmittel und narrativen Strategien, die Kontingenzen der Geschichte her– und deren Gesetzmäßigkeiten darzustellen. Dabei erzeugten sie einerseits narrative innertextuelle Geschichtswelten und referierten gleichzeitig auf die nach den Methoden der sich entwickelnden Geschichtswissenschaft rekonstruierten außertextuellen Vergangenheit. Durch dieses Aufbrechen der Dichotomie von Dichtung und Geschichte gelang – wenn auch etwas verspätet – die darstellerische Umsetzung des geschichtsphilosophischen Programms der Aufklärung. 6
4 5 6
Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860, Berlin / New York 1996, 62. Vgl. Jaeger, Performative Geschichtsschreibung, 29f. Vgl. ebd., 55–65.
Historisches Erzählen bei Friedrich Schiller
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2. Schiller als Beginn der modernen Geschichtsschreibung Als Beginn der modernen Geschichtserzählung werden häufig die Arbeiten von Friedrich Schiller gesehen 7, die auch in diesem Beitrag trotz ihrer nicht unumstrittenen Bedeutung für die Geschichtswissenschaft exemplarisch betrachtet werden. Dabei soll es nicht das Ziel dieses Aufsatzes sein, Schillers Arbeitsmethode und seinen Umgang mit historischen Quellen zu untersuchen, um anschließend bewerten zu können, ob Schiller denn nun ein dichtender Historiker oder ein sich mit historischen Stoffen beschäftigender Dichter war. Stattdessen soll gefragt werden, wie Schiller geschichtliche Sachverhalte erzählt und ihnen Sinn unterlegt. Bis auf wenige Ausnahmen wie die Arbeiten von Osterkamp und Süßmann ist die Frage nach der Darstellungsweise bei der Auseinandersetzung mit der Schillerschen Geschichtsschreibung bisher kaum im Fokus gewesen. 8 Es ist unschwer zu erahnen, dass seit der Begründung des linguistic turn in den siebziger Jahren eine rege Beschäftigung und Neubewertung der für ihren wegweisenden Stil gelobten Geschichtserzählung und der Geschichtsästhetik Schillers stattgefunden hat. Das stärkere Fokussieren auf die Sprache, die zwischen den historischen Realitäten und ihrer textuellen Abbildung durch den Historiker liegt 9, blieb im Falle Schillers aber überraschenderweise auf der Ebene der Deutung und seines Geschichtsdenkens verhaftet und untersuchte nicht die konkreten Darstellungsverfahren. 10 Dem wird hier in Ansätzen Abhilfe geschaffen: Mit Hayden White werden die Strukturen aufgezeigt, anhand derer Schiller Allgemeingültigkeit aus den Puzzleteilen seiner Quellen ableitet und den von ihm gefundenen Stoff zu einem in sich geschlossenen Ganzen überformt. Bevor wir uns mit der Anwendung der Whiteschen Metahistory auf Schiller befassen, sollen in aller Kürze einige einführende Erläuterungen zu seinem historiographischen Analysemodell gemacht werden, die dann in der konkreten Anwendung genauer ausgeführt werden.
7
So auch Thomas Prüfer, Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft (Beiträge zur Geschichtskultur, 24), Köln / Weimar / Wien 2002 oder auch Jaeger, Performative Geschichtsschreibung, 29. 8 Vgl. Jaeger, Performative Geschichtsschreibung, 183–195. Weitere Untersuchungen der Darstellungsformen sind beispielsweise: Johannes Süßmann, Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824), Stuttgart 2000; ders.. Denken in Darstellungen – Schiller und die Geschichte, in: Michael Hofmann u. a. (Hgg.), Schiller und die Geschichte, München 2006, 44–67; Ernst Osterkamp, Die Seele des historischen Subjekts. Historische Portraitkunst in Friedrich Schillers Geschichte des „Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung“, in: Otto Dann u. a. (Hgg.), Schiller als Historiker, Stuttgart / Weimar 1995, 157–178. 9 Zum Problem der Sprachlichkeit von Geschichtswissenschaft siehe beispielsweise: Stephan Otto, Können Tatsachen sprechen? Überlegungen zur Darstellbarkeit historischer Fakten, in: Trabant, Sprache, 65–74; Konrad Ehlich, Kursorische Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Geschichte, in: Trabant, Sprache, 27–40. 10 Jaeger, Performative Geschichtsschreibung, 194.
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3. Whites Metahistory Die Frage, warum Historiker, die gleich begabt sind und gleich umsichtig und reflektiert mit ihren Quellen arbeiten, dennoch unterschiedliche Verfabelungen aus dem gleichen historischen Stoff bilden können, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit in gleicher Qualität auf die vergangene Wirklichkeit referieren, führte White dazu, die Sinnbildungs– und Erklärungsmechanismen, die jeder Verfabelung unterliegen, zu analysieren. Als Antwort darauf machte White drei Erklärungsstrategien aus, die den sinnbildenden Abstraktionsprozess des Historikers beeinflussen und der produzierten Darstellung von Zusammenhängen unterliegen. Er fasste sie in drei übergeordnete methodologische Kategorien zusammen, die jeweils in vier verschiedenen Formen ausgeprägt sein können: die formale Schlussfolgerung, die narrative Modellierung und die ideologische Implikation. Die Abbildung der durch den Historiker gedeuteten Vergangenheit lässt sich bei White also auf eine einfache Gleichung bringen: Aus den Quellen entnommene Informationen 11 + Erklärung durch formale Schlussfolgerung + narrative Struktur + ideologische Implikation = Darstellung der gedeuteten Vergangenheit. Auf der ersten Ebene der formalen Schlussfolgerung wird eine nomologischdeduktive Kette von Einzelelementen zur Sinnbildung innerhalb der Darstellung erstellt. White erkennt hier vier mögliche Denkweisen: den Formalismus, den Mechanismus, den Organizismus und den Kontextualismus, von denen aber nur Formalismus und Kontextualismus zur akademisch üblichen Praxis gehören. Auf der zweiten Ebene der narrativen Modellierung bleibt White bei den vier archetypischen Handlungsstrukturen Romanze, Tragödie, Komödie und Satire, die den erzählerischen Rahmen der Geschichtsdarstellung bilden können. Das letzte Element der Erklärungsstrategie ist die ideologische Implikation 12, die den Historiker zu einer bestimmten Anordnung seines Stoffes veranlasst und die die Einschätzung der Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart bestimmt. Mit Karl Mannheim unterscheidet White hier Anarchismus, Radikalismus, Konservativismus und Liberalismus, die einen jeweiligen Wertekanon und Verhaltensregeln vorgeben, mit denen bestimmte gesellschaftlich-soziale Wirkungen erzielt werden sollen. Whites Bewertung der Methoden der Geschichtsschreibung hat einen heftigen Streit über die Stellung der Geschichtswissenschaft zwischen Faktizität und Fiktionalität – und damit der Wissenschaftlichkeit von Geschichtswissenschaft überhaupt – ausgelöst. Abgesehen davon, dass es White bei seinen Untersuchungen aber nicht um den heuristischen Teil der geschichtswissenschaftlichen Arbeit, sondern nur um die Verfabelung und die Darstellungsformen ging, konnte die 11 Für die Erläuterung seines Modells setzt White voraus, dass der durch den Historiker vorgefundene Stoff nach den methodologischen Regeln der Geschichtswissenschaft ermittelt wurde und blendet diesen Teil der Arbeit eines Historikers daher aus. 12 White weist mit Recht darauf hin, dass die ideologische Implikation der Darstellung nicht zwangsläufig auch mit der politischen Position des Verfassers übereinstimmen muss. Siehe: Hayden White, Metahistory: Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1994, 38–47.
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Philologin Ann Rigney zeigen, dass Whites Fiktionalitätsbegriff unscharf und daher missverständlich ist und er den viel zitierten Ausdruck der „verbal fiction“ benutzt, um auf den Konstruktionscharakter und den Perspektivismus von Geschichtsdarstellungen hinzuweisen. 13 Statt jedoch auf dieser Grundlage den Erkenntnisgewinn der Geschichtswissenschaft in Frage zu stellen, führt das Wissen um die eigene Subjektivität des Historikers und die Einsicht, dass alle Darstellungen von Vergangenheit stets nur Annährungen an die vergangene Wirklichkeit und damit selbstverständlich (Re–)Konstruktionen sind, zu einem reflektierteren Umgang mit Geschichtsdarstellungen. Es fördert so die Rücksichten zutage, die man sowohl bei der Produktion als auch bei der Rezeption von historiographischen Texten mitdenken muss, die aber die besondere Qualität ihres Bezugs auf vergangene Wirklichkeit nicht maßgeblich einschränkt. Stattdessen erhöhen sie die Sensibilität und damit die Kompetenz aller Rezipienten und Produzenten im Umgang mit Geschichte. Der Vorwurf, White spreche der Geschichtswissenschaft ihre Wirklichkeitsreferenz ab 14, ist also so undifferenziert nicht zutreffend. 4. Schillers Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Krone Die Lektüre von Watsons Geschichte der niederländischen Revolution 15 regte Schiller dazu an, eine eigene Darstellung des Ringens des niederländischen Volkes um seine Freiheit zu schreiben, was er insbesondere auf seine durch den Stoff geweckte Vorstellungskraft zu erklären suchte. „Diese Wirkung bleibend zu machen, zu vervielfältigen, zu verstärken; diese erhebenden Empfindungen wünschte ich weiter zu verbreiten und auch andere Anteil daran nehmen zu lassen.“ 16
Nach genauerer Beschäftigung mit dem Thema entdeckte Schiller jedoch, dass „Blößen darin gewahr werden, die ich nicht vorausgesehen hatte, weite leere Strecken, die ich ausfüllen, anscheinende Widersprüche, die ich heben, isolierte Fakten, die ich an die übrigen anknüpfen musste. Weniger, um meine Geschichte mit vielen neuen Begebenheiten anzufüllen, als um zu denen, die ich bereits hatte, einen Schlüssel aufzusuchen, machte ich mich an die Quellen 17 selbst, und so erweiterte sich zu einer ausgeführten Geschichte, was anfangs nur bestimmt war, ein allgemeiner Umriss zu werden.“ 18
13 Ann Rigney, Imperfect Histories. The Elusive Part and the Legacy of Romantic Historicism, Ithaca 2001, 6 (zitiert nach: Jaeger, Performative Geschichtsschreibung, 55). 14 Etwa Trabant, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Sprache, X. 15 Robert Watson, The History of the reign of Philipp the Second, king of Spain, London 1785. 16 Da die Vorrede in der von mir benutzten Ausgabe leider nicht mit abgedruckt ist, verweise ich an dieser Stelle auf die private, aber quellengetreue Literaturdatenbank von Jürgen Kühnle im Internet: http://www.kuehnle-online.de/literatur/schiller/werke/histor/nl/1.htm. (Erster Absatz, 22.8.2012). 17 Über den Umgang mit seinen Quellen reflektiert er in der Vorrede zur ersten Ausgabe und benennt die Arbeiten von de Thou, Strada, Reyd, Grotius, Meteren, Burgundius, Meursius,
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In den Monatsheften des von Wieland herausgegebenen Teutschen Merkur wurde Schillers Abfall der Niederlande im Jahr 1788 veröffentlicht, in dem der Aufstieg und der Niedergang der niederländischen Revolution im Zentrum steht. Schiller schildert die Jahre zwischen der Herrschaftsübernahme durch Karls Sohn Philipp II. von Spanien im Jahr 1556, die Einschränkung der Freiheit der Provinzen, die Verschwörung der Geusen und den Bildersturm bis zur Niederschlagung der Revolution und endet mit der Übertragung der Statthalterschaft von Margarete von Parma an den dritten Herzog von Alba im Jahr 1567. 4.1. Schillers Erklärung durch formale Schlussfolgerung Mit der Operation der formalen Schlussfolgerung erschließt der Historiker den Sinnzusammenhang zwischen verschiedenen Ereignissen und ordnet sie in einen Gesamtzusammenhang ein. Ausgehend von einer nicht zwangsläufig bewussten Vorstellung einer allgemeinen Ordnung oder Gesetzmäßigkeit wird die Bestätigung derer deduktiv in den Aussagen der Quellen gelesen. Dabei ist die Frage, ob sich überhaupt Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Entwicklungen ableiten lassen und wenn ja, welche das sind. Ebenso umstritten ist die Frage, wie eine „gute“ geschichtswissenschaftliche Erklärung auszusehen hat. 19 Von den vier paradigmatischen Gestaltungsarten der diskursiven Schlussfolgerung nach White benutzt Schillers in seinem Abfall der Niederlande die organizistische Erklärungsweise. Der Organizismus zeichnet sich durch eine erhöhte Integrationsfähigkeit und eine vereinfachende Darstellung aus. Einzelne Elemente werden im Entwicklungsprozess dargestellt und ergeben im Moment ihres Zusammenwirkens mehr als die Summe der einzelnen Teile. Dabei bewegt sich das vorgefundene historische Feld gemäß Prinzipien oder Idealen auf ein präfiguriertes Ziel zu. 20 Die organizistische Erklärungsweise Schillers kann hier nur kurz diskutiert werden. Exemplarisch wird die Umsetzung der teleologischen Geschichtsvorstellung Schillers durch die Funktion des Zufalls der Geschichte und die Gestaltung der integrativen Charakters der Darstellungsform besprochen.
Bentivoglio sowie die Mémoires des Staatsrats Hopperus, das Leben und der Briefwechsel seines Freundes Viglius, die Prozessakten der Grafen von Hoorne und von Egmont, die Apologie des Prinzen von Oranien, Werke von Bor, Hooft, Brandt, le Clerc als Grundlagen seiner Darstellung. Siehe: http://www.kuehnle-online.de/literatur/schiller/werke/histor/nl/1.htm (Vierter Absatz). 18 http://www.kuehnle-online.de/literatur/schiller/werke/histor/nl/1.htm. (Zweiter Absatz). 19 Siehe dazu: White, Metahistory, 25–28. 20 Weitere Erläuterungen ebd., 30–31.
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4.1.1. Die Bedeutung des Zufalls Bereits in der Einleitung zur ersten Ausgabe bezeichnet Schiller das ideelle Programm seiner Darstellung: Nicht das Heroische der niederländischen Revolution reizt ihn, sondern die Einschätzung, dass in diesem Fall nur die „Not das Genie [die Größe und Kraft des niederländischen Volkes, Anm. d. Verf.] erschuf und die Zufälle Helden machten.“ 21 Das Ringen der niederländischen Provinzen um ihre Freiheit und die Wahrung ihrer Rechte inszeniert Schiller als natürlichen, vorbestimmten und dennoch vom Zufall maßgeblich beeinflussten Verlauf der menschlichen Entwicklung. Dabei löst Schiller den scheinbaren Widerspruch zwischen Zufälligkeit und Vorbestimmtheit auf, indem er den Zufall zu einem entscheidenden Element erklärt, das die Richtung der Geschichte zwar nicht vorgibt, aber begleitet. 22 Es benötigt jedoch erst eine „vollendende Hand“ die „Geburt des Zufalls zum Plan der Weisheit“ 23 zu erziehen vermag. Diesen formenden Geist verkörpern aber nicht allein die handelnden Individuen, sondern ebenso ist es der Historiker, der den „Plan der Weisheit“ zwischen den Zufälligkeiten anhand der überlieferten Quellen rekonstruiert und erkennt. 24 Schiller versteht es als ästhetische Kompetenz des Historikers und damit als Stil, diese innere Kohärenz zu entdecken und ihr in der Darstellung die Gestalt eines harmonischen Ganzen zu geben: Je reiner und gradliniger die Geschichtserzählung ist, desto gereifter ist der Historiker. 25 Schillers Zufallskonzept kennt keine metaphysische Absicherung, wodurch die Außerordentlichkeit der Begebenheit betont wird. Zufälle passieren einfach und können dennoch das Notwendige, das zur Weiterentwicklung der Menschheit passieren muss, nicht grundlegend verändern: Bei Schiller widerstehen höhere Ziele und Ideale den Zufällen, so kann er auch das Scheitern des Geusenbundes erklären: „Wären seine Zwecke so rein gewesen, als er sie angab, oder auch nur so rein geblieben, als sie bei seiner Gründung wirklich waren, so hätte er den Zufällen getrotzt, die ihn frühzeitig untergruben, und, auch unglücklich, würde er ein ruhmvolles Andenken in der Geschichte verdienen.“ 26
Der Prinz Wilhelm von Oranien wird zum Helden der Darstellung, indem er das Prinzip, das die Freiheit der Niederlande ermöglicht, verkörpert: In seinem Genie kann er den Zufall mit einkalkulieren: „So langsam sein Geist gebahr, so vollendet waren seine Früchte (…). Den Plan, dem er einmal als dem ersten gehuldigt hatte, konnte kein Widerstand ermüden, keine Zufälle zerstöhren, denn alle hatten, noch ehe sie wirklich eintraten, vor seiner Seele gestanden.“ 27 21 22 23 24 25 26 27
Schiller, Abfall, 60. Jaeger, Performative Geschichtsschreibung, 211. Schiller, Abfall, 62. Siehe dazu: Jaeger, Performative Geschichtsschreibung, 210–214. Prüfer, Die Bildung der Geschichte, 312f. Schiller, Abfall, 389. Ebd., 141.
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Der Zufall nimmt eine zentrale Rolle in Schillers Darstellung ein und ist auch Urheber der Bilderstürmerei. Die Konsequenzen der zufälligen Ereignisse für die Entwicklung der Menschen zur Freiheit lassen sich bei dem Historiker Schiller aber nicht gänzlich in das historisch Notwendig überführen. Der Dichter Schiller hingegen erreicht es durch die ästhetische textuelle Inszenierung, Zufall und Notwendigkeit in der für ihn notwendigen Entwicklung der Geschichte zu harmonisieren. 28 4.1.2. Schillers integrative Darstellungsform Die Zufälligkeit des Bildersturms wird in Schillers Darstellung auch dadurch hervorgehoben, dass er von einer anonymen Menschenmasse, einer scheinbar unbeherrschbaren Gewalt, begangen wird: „Eine rasende Rotte von Handwerkern, Schiffern, und Bauern, mit öffentlichen Dirnen, Bettlern und Raubgesindel untermischt, etwa 300 an der Zahl, mit Käulen, Aexten, Hämmern, Leitern und Strängen versehen, (…), werfen sich, von fanatischer Wuth begeistert in die Flecken und Dörfer bei S. Omer, sprengen die Pforten der Kirchen und Klöster, die sie verschlossen finden, mit Gewalt, stürzen die Altäre, zerbrechen die Bilder der Heiligen und treten sie mit Füßen.“ 29
Sofort fällt auf, dass Schiller im Präsens schreibt und damit das historische Ereignis nicht aus der übergeordneten und retrospektiven Perspektive des Historikers geschildert wird, sondern aus der eines Beteiligten. Die Vergegenwärtigung des Geschehenen lässt den Leser miterleben und die Ereignisse vor dessen innerem Auge neu entstehen. Der parataktische Satzbau unterstreicht die Natürlichkeit dieses inszenatorischen Eindrucks: „Unaufgehalten dringen sie in die Hauptkirche ein, die Wände werden mit Leitern erstiegen, die Gemälde mit Hämmern zerschlagen, Kanzeln und Kirchenstühle mit Äxten zerhauen, die Altäre ihrer Zieraten entkleidet und die heiligen Gefäße gestohlen. (…) Kaum hält die Gegenwart des Prinzen von Oranien die ausgelassene Bande noch im Zügel (…), aber ein Befehl des Hofs, der ihn eilfertig nach Brüssel ruft (…) gibt Antwerpen dem Mutwillen dieser Bande preis.“ 30
Ein Ereignis ergibt sich zwangsläufig aus dem vorhergehenden, der Historiker als erklärende und analysierende Instanz tritt völlig zurück, dafür wird die Erklärung auf der Ebene der präsentischen Inszenierung geliefert. Der Verlauf der Geschichte in Schillers Darstellung erscheint durch die Wahl der Darstellungsformen vorbestimmt und naturgegeben. Das Ziel dieser Entwicklung ist die Freiheit des Menschen. Dabei beschreibt er auch den Kampf um die jeweiligen Landesfreiheiten und Privilegien der einzelnen Provinzen ausführlich, in denen er aber die „in-
28 Jaeger, Performative Geschichtsschreibung, 214. 29 Schiller, Abfall, 306. 30 Ebd., 306f.
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tegrierende Kraft eines gemeinsamen, nationalen Prinzips walten sieht.“ 31 Die Darstellung der Niederländer als Nation erscheint dabei aus der Perspektive des späten 18. Jahrhunderts zu didaktischen Zwecken nationalstaatlich überhöht zu sein. 4.2. Schillers Erklärung durch narrative Modellierung Die narrative Strukturierung bezeichnet das Verfahren, das einem Plot durch die Art und Weise der Anordnung der Ereignisse eine bestimmte Bedeutung zuschreibt. Nach Northrop Frye existieren vier archetypischen Grundformen: Komödie, Tragödie, Satire und Romanze, die unterschiedliche Konstellationen ihrer handelnden Figuren zu den Bedingungen in der Welt gestalten und dementsprechend unterschiedliche Erklärungsstrukturen anbieten. 32 Mit White lässt sich bei Schillers Abfall der Niederlande die Erzählstruktur einer Komödie erkennen. Die Komödie glaubt an die Möglichkeit einer Versöhnung des Menschen mit seiner Umwelt, auch wenn diese nur als befristeter Triumph gelingt. Die Hoffnung auf eine Versöhnung der in der Natur und der Gesellschaft wirkenden Kräfte wird dabei häufig durch Feste oder feierliche Anlässe, auf denen Veränderungen vorankündigen oder ausklingen lassen. Als Ergebnis des Konflikts zwischen scheinbar nicht miteinander zu vereinbarenden Kräften erscheint die Gesellschaft reiner und vernünftiger. Das Auftreten neuer Bedingungen oder Kräfte, die die etablierte Ordnung nachhaltig ins Wanken bringen können, ist ein typischer Bestandteil von Komödien. Im Falle von Schillers Darstellung der niederländischen Revolution entstehen durch die Regentschaftsübernahme Philipps und die Durchsetzung seines strengen Regiments in den freiheitsverwöhnten niederländischen Provinzen sowohl der Geusenbund als Bündnis des Adels als auch die spontanen Zusammenrottungen der unterbürgerlichen Massen der Bilderstürmer als neue Kräfte. Die Geburtsstunde des Bundes wird feierlich begangen: „Gastmähler gaben dem Bund seinen Ursprung, und ein Gastmahl gab ihm Form und Vollendung. (…) So trank man einander unter diesem Namen zu, und: Es leben die Geusen! wurde mit allgemeinem Geschrei des Beifalls gerufen. (…) Alle riefen mit gleicher Stimme ein gleiches, der Becher ging in der Runde herum, und ein jedweder sprach, indem er ihn an den Mund setzte, dasselbe Gelübde nach.“ 33
Die Hoffnung auf Erfolg bei ihrem Einsatz für größere religiöse Freiheiten scheint in Schillers Darstellung an diesem Abend berechtigt. Die Abberufung des verhassten Kardinals Granvella lässt den Triumph bereits greifbar nah erscheinen, bevor der Geusenbund sich unter dem Druck Philipps auflöst und die beginnende Revolution in den Niederlanden durch Herzog von Alba unter tausenden Todesop31 Dieter Borchmeyer, Goethes und Schillers Sicht der niederländischen „Revolution“, in: Dann, Schiller, 149–155, hier 153. 32 Siehe dazu: White, Metahistory, 21–25. 33 Schiller, Abfall, 269–270.
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fern vorerst niedergeschlagen wird. An dieser Stelle endet Schillers Darstellung der Geburtsstunde der Revolution, von der sowohl Schiller wusste als auch wir wissen, dass sie schließlich mit der Gründung der niederländischen Republik im Gefolge des Westfälischen Friedens tatsächlich erfolgreich war. 4.3. Schillers ideologische Implikation Als ideologische Implikation bezeichnet White das ethische Element in den Ausführungen des Historikers und den Schlüssen, die auf der Grundlage seiner Analyse vergangener Ereignisse aus der Vergangenheit für die Gegenwart oder Zukunft gezogen werden sollen. Sie meint also ein Bündel von sozialen Verhaltensregeln, „die mit einer bestimmten Position gegenüber der Gesellschaft und im Hinblick auf soziales, an Veränderungen oder Aufrechterhaltung des Status quo orientiertem, Handeln verbunden sind.“ 34
Wie bereits oben ausgeführt, unterscheidet White in Anlehnung an Karl Mannheim vier ideologische Grundpositionen, die die Darstellung von geschichtlichen Abläufen im wissenschaftlich-epistemologischen Diskurs prägen können: Anarchismus, Radikalismus, Liberalismus und Konservativismus haben jeweils unterschiedliche Geschichtsbilder und Zeitorientierungen, die die durch den Historiker verliehene Erzählstruktur beeinflussen und dabei eher als ideologische Präferenzen denn als Ausweis politischer Parteiungen zu verstehen sind. 35 Allen Grundtypen ist bewusst, dass sozialer Wandel unvermeidlich ist, jedoch unterscheiden sie sich in der Frage nach dessen Wünschbarkeit, Richtung und Tempo. Der Radikalismus, dem Schillers Abfall zuzuordnen ist, steht für einen raschen, grundlegenden und notfalls auch gewaltsamen Wandel der sozialen Ordnung, der unmittelbar bevorsteht und auf den es sich vorzubereiten gilt. Bereits in den ersten Sätzen der Einleitung lässt Schiller keinen Zweifel an seiner Sympathie mit den Aufständischen und der Rechtmäßigkeit ihres Anliegens: „Eine der merkwürdigsten Staatsbegebenheiten, die das sechzehnte Jahrhundert zum glänzendsten der Welt gemacht haben, dünkt mir die Gründung der niederländischen Freiheit. Wenn die schimmernden Taten der Ruhmessucht und einer verderblichen Herrschbegierde auf unsere Bewunderung Anspruch machen, wieviel mehr eine Begebenheit, wo die bedrängte Menschheit um ihre edelsten Rechte ringt, wo mit der guten Sache ungewöhnliche Kräfte sich paaren und die Hülfsmittel entschlossener Verzweiflung über die furchtbaren Künste der Tyrannei in ungleichem Wettkampf siegen.“ 36
34 White, Metahistory, 38. 35 Siehe dazu: Ebd., 38–47. 36 Schiller, Abfall, 59. Auffällig ist, dass Schiller das 16. Jahrhundert als die Gründung der Freiheit bezeichnet, also den Zeitraum, den er in seiner Geschichtsdarstellung behandelt, und nicht auf die staatsrechtliche Anerkennung der Niederländischen Republik knapp 100 Jahre nach der Gründung des Geusenbundes und dem Bildersturm verweist. Die Keimzelle des Freiheitskampfes erscheint ihm bedeutender als das rechtliche Resultat.
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Wie bereits in den kurzen Ausführungen zur narrativen Modellierung und zu Schillers organizistischer Sinnbildung gezeigt haben, stellt er den Beginn der niederländischen Revolution als den natürlichen Verlauf der Geschichte dar. Dass er die grundlegende Veränderung der sozialen und politischen Ordnung, also der (Fremd–)Herrschaft Philipps und der Allgegenwart des Inquisitionsgerichts als Ausdruck der unterdrückten Glaubensfreiheit generell befürwortet und für notwendig ansieht, steht daher außer Frage. Seine Position gegenüber den Bilderstürmern hingegen muss etwas differenzierter betrachtet werden. Wenn er auch die Natürlichkeit des Ikonoklasmus als historische Notwendigkeit inszeniert, so bleibt angesichts der Zerstörungswut zwar eine kleine Spur des Bedauerns, er lässt aber keinen Zweifel daran, dass die Freiheit dieses Opfer wert ist: „Die schöne Orgel der Kirche, ein Meisterstück damaliger Kunst, wird zertrümmert, alle Gemälde ausgelöscht, alle Statuen zerschmettert. (…). Hostien streut man auf den Boden und tritt sie mit Füßen; (…). Gräber selbst werden durchwühlt, die halbverwesten Leichen hervorgerissen und mit Füßen getreten. Alles dies geschah in so wunderbarer Ordnung, als hätte man einander die Rollen vorher zugeteilt; jeder arbeitete seinem Nachbar dabei in die Hände.“ 37
Das von Schiller erkannte Telos der Geschichte wird konsequenterweise auch auf der Ebene der radikalen ideologischen Implikation umgesetzt. Die Niederländer werden bei seiner Geschichtsphilosophie von der spanischen Krone in die Rolle der europäischen Avantgarde gepresst, deren Sieg ein Fanal für ganz Europa darstellen wird: „Die neue Wahrheit, deren erfreuender Morgen jetzt über Europa hervorbricht, wirft einen befruchtenden Strahl in diese günstige Zone, und freudig empfängt der freie Bürger das Licht. (…) Ein fröhlicher Mutwille, der gerne den Überfluss und die Freiheit begleitet, reizt es an, das Ansehen verjährter Meinungen zu prüfen und eine schimpfliche Kette zu brechen.“ 38
Dabei darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass sich der semantische Gehalt des Revolutionsbegriffs durch den Ausbruch der Französischen Revolution verändert hat. Bei Schiller meint er nicht die Umwälzung der bestehenden Verhältnisse zugunsten von etwas Neuem, sondern die Wiederherstellung eines den Akteuren zustehenden Rechts, wie Borchmeyer gezeigt hat. 39 5. Fazit Die Untersuchung der drei Erklärungsebenen nach White hat ergeben, dass der Schreib– und Erklärungsstil von Schillers Abfall der Niederlande einer organizistischen, radikalen Komödie entspricht. Auf allen drei Ebenen ist Schillers Darstellung der textimmanente Ausdruck seiner Geschichtsphilosophie. Er erklärt nicht aus der Meta-Ebene des Historikers, sondern generiert eine Erzählstruktur, in der 37 Schiller, Abfall, 308. 38 Ebd., 61. 39 Borchmeyer, Goethes und Schillers Sicht, 149–155.
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er seine Erklärung selbst innerhalb der textuellen Welt inszeniert. Dabei lässt er historisches Geschehen präsentisch ablaufen. In der Vermittlung der Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart entwickelt Schiller eine performative Geschichtsschreibung, die sich im Augenblick des Lesens vollzieht. Die Untersuchung hat gezeigt, dass Schillers Geschichtsschreibung sich nicht nur narrativer Mittel bedient, um Geschichte darzustellen, sondern auch, um Bedeutungszusammenhänge aus geschichtlichem Wissen herzustellen. 40 Das aufklärerische Element in Schillers Abfall der Niederlande besteht in der performativen Inszenierung des Kampfes gegen autoritäre, Verfassungen und bürgerliche Freiheiten missachtende, unrechtmäßige Herrschaft als eine naturgesetzmäßige Notwendigkeit auf dem Weg zu einer tatsächlich freien europäischen Ordnung. Desillusioniert von dem Verlauf der Französischen Revolution, die dies nicht zu leisten im Stande war, konzentrierte sich Schiller nach dem Abfall auf das Erreichen ästhetischer Freiheit in der historischen Dichtung und wandte sich von der Geschichtsschreibung ab. 41 Ein wenig Fiktionalisierung hängt jeder Vergegenwärtigung von Vergangenheit nach, jedoch muss das Ziel eine vernunftgeleitete, planmäßig betriebene und wissenschaftlich reflektierte Interpretation der Vergangenheit sein, um nicht zum verklärenden oder verleumdenden Unhold zu werden: „Habt ihr kein Mitleiden mit der Vergangenheit?“, fragt Nietzsche. „Sehr ihr nicht, wie sie preisgegeben ist und von der Gnade dem Geiste der Billigkeit jedes Geschlechts wie ein armes Weibchen abhängt? Könnte nicht jeden Augenblick irgend ein großer Unhold kommen, der uns zwänge sie ganz zu verkennen der unsre Ohren taub gegen sie machte oder gar uns eine Peitsche in die Hand gäbe, sie zu mißhandeln?“ 42
Mitleid braucht die alte Dame nicht, aber unseren ganzen wissenschaftlichen Respekt.
40 Volker C. Dörr, Wie dichtet Klio? Zum Zusammenhang von Mythologie, Historiographie und Narrativität, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 123/2004, 25–41, hier 25f. 41 Helmut Koopmann, Schiller und die Überwindung der aufgeklärten Geschichtsphilosophie, in: Dann, Schiller, 59–76, hier 69f. 42 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, zitiert nach: Borsche, Fakten, 50.
DIE HEIMTÜCKE DER MODERNE Warum Foucault ein Aufklärer ist Hedwig Richter, Greifswald Über die Aufklärung weiß er nichts Gutes zu sagen, und die Geschichte der Moderne 1 erzählt er als Alptraum von Unfreiheit und Repression. Humanismus und Demokratie gelten ihm als heimtückische Diskurs-Masken einer entfremdeten Welt, die uns entglitten ist und der wir schutzlos ausgeliefert sind. Foucault, der anti-moderne Konservative, so Jürgen Habermas, 2 der „Rattenfänger für die Postmoderne“, wie Hans-Ulrich Wehler ihn nennt; 3 Foucault, so die Diagnose von Suzanne Marchand: ein rückwärtsgewandter Romantiker, der die vormoderne Vergangenheit verklärt. 4 Einer von denen, die Thomas Stamm-Kuhlmann aufgrund ihrer Ablehnung von Rationalität und Empirie 5 zu den Feinden der Aufklärung rechnen würde. 6 Ist es nicht bemerkenswert, dass dieser schwarze Kritiker der Moderne und dunkel raunende Philosoph so glänzend in der intellektuellen Öffentlichkeit steht, ja einen „Klassikerstatus“ 7 errungen hat und die FAZ lakonisch seine „Arriviert-
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Vgl. zum Begriff Moderne Thomas Mergel, Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: Thomas Mergel / Thomas Welskopp (Hgg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, 203–232. Zum Zusammenhang von Aufklärung und Moderne: Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1988. Vgl. dazu die Kritik von Nancy Fraser, Michel Foucault: A „Young Conservative“? In: Ethics 96/1985, Heft 1, 165–184. Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998, 91. Suzanne Marchand, Foucault, die moderne Individualität und die Geschichte der humanistischen Bildung, in: Mergel / Welskopp (Hgg.), Geschichte zwischen Kultur, 323–348, hier 345. Charles-Olivier Carbonell, French Section, in: Lucian Boia (Hg.), Great Historians of the Modern Age, New York u. a. 1991, 219–268, hier 238f. Vgl. zur Historisierung der Theoriedebatten um die Empirie und die diversen „Turns“ die Beiträge von Judith Surkis, Gary Wilder und James W. Cook in American Historical Review 117 (2012). Thomas Stamm-Kuhlmann, Wo bleibt die Aufklärung? Unser entspannter Umgang mit der Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 56/2004, Heft 2, 97–109. Klaus Große Kracht, „Gouvernementalität“ – Michel Foucault und die Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, 3/2006, Heft 2, http:// www.zeithistorische-forschungen.de/site/40208651/default.aspx, 1 und weitere Aufsätze über
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heit“ konstatiert? 8 Ein Blick auf Youtube zeigt ihn als Helden einer koketten Pop– und Protestkultur. Sein Werk Überwachen und Strafen wird in Frankreich den Anwärtern in der Gefängnisverwaltung als Pflichtlektüre vorgelegt. Foucault ist in der Mitte der modernen Gesellschaft angekommen – und das ganz offensichtlich nicht trotz, sondern wegen seiner Moderne-Kritik. Wie lässt sich diese positive Anverwandlung Foucaults erklären, und zwar nicht erst des späten Foucaults, der angeblich einen Ausweg gezeigt hat, sondern schon des Foucaults der früheren Werke? Meine These ist: Foucault ist ein Kryptoaufklärer und bedient mit seiner gegenaufklärerischen Erzählung eben das, was die aufgeklärte Gesellschaft von einem modernen Philosophen erwartet: Selbstkritik. Foucaults kritischer Entlarvungsgestus unserer Gesellschaft ist durch und durch modern. Dabei definiere ich Aufklärung herkömmlich als Glaube an Vernunft und Erkenntnisgewinn und an die Möglichkeit, die Verhältnisse jenseits traditioneller Beschränkungen zu bessern; und Moderne bezeichne ich ganz konventionell als den Umbruch von traditionellen Ordnungsvorstellungen der – im Verbund mit den aufklärerischen Werten – Individualisierung, Industrialisierung sowie Tendenzen zur Rechtsstaatlichkeit hervorbrachte. 9 Wobei ich in meiner Argumentation nicht schärfer zwischen Moderne und Aufklärung trennen kann als Foucault, sondern beides als einen Komplex betrachte. 10 Besonderes Kennzeichen der aufgeklärten Moderne ist die Vernunft getragene Selbstkritik. Kants Aufruf zur Mündigkeit beginnt eben damit, dass der Mensch sich selbst hinterfragt und seine Unmündigkeit als „selbstverschuldet“ erkennt. 11 Meine These will ich anhand eines besonders aufklärungskritischen und antimodernen Textes von Foucault diskutieren, eines Textes, der als „Diagnose eines ausweglosen Verhängnisses“ (Philipp Sarasin) gilt, und zudem besonders beliebt ist: 12 anhand des 1975 erschienen Surveiller et punir (ein Jahr später bei Suhrkamp im Deutschen als Überwachen und Strafen erschienen; im Folgenden mit ÜuS abgekürzt). Der Text verdeutlich, dass Foucault nicht erst in seinen letzten Foucault in diesem Heft; vgl. auch Dietmar Kammerer, Bilder der Überwachung, Frankfurt 2008. 8 Thomas Thiel, Der Archäologe im Land der Ideen, in: FAZ vom 21.11.12. 9 Vgl. dazu Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Bd. 1, Köln 1970, 66. Die Definition des Begriffes Aufklärung macht ihn nicht zum „thing“, wie Sebastian Conrad feststellt, sondern ermöglicht seine wissenschaftliche Analyse. Die von Conrad verweigerte Definition wiederum gestattet es, Aufklärung beliebigen Interpretationen anheimzugeben und ihr mühelos jede gewünschte Provenienz zu verschaffen, Sebastian Conrad, Enlightenment in Global History: A Historiographical Critique, in: American Historical Review 117 (2012), 999–1027, hier 1001. Vgl. zum Begriff Moderne Anmerkung Nr. 1. 10 Vgl. dazu Michel Foucault, Was ist Aufklärung? in: Eva Erdmann (Hg.), Ethos der Moderne, Frankfurt a.M. 1990, 35–54. 11 Foucault betont diesen Umstand und verweist auf den Doppelcharakter der Aufklärung bei Kant einerseits als Prozess, „an dem Menschen kollektiv teilnehmen“, andererseits als „ein Akt des Mutes, der persönlich erbracht werden muss.“ Foucault, Was ist Aufklärung? 38. 12 Philipp Sarasin, Michel Foucault zur Einführung, Hamburg 2005, 133.
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Lebensjahren die Möglichkeiten eines Ausweges aufgezeigt hat, sondern dem listigen Diskurs der Aufklärung schon in den siebziger Jahren nicht entkommen konnte. Überwachen und Strafen: die Entlarvung moderner Herrschaft In ÜuS nimmt Foucault die Geschichte des Gefängnisses als Exempel für die Genese moderner Herrschaftspraktiken und Herrschaftsdiskurse. Auch wenn Foucault in dem Buch historisch arbeitet und intensiv Quellenmaterial auswertet, geht es ihm also nicht um die Untersuchung der Vergangenheit. „Wohl aber ist es meine Absicht“, erklärt er, „die Geschichte der Gegenwart zu schreiben.“ (ÜuS 43) Und das ist die Geschichte der Disziplinierung, Normierung und totalen Nutzbarmachung des Menschen in der aufgeklärten Moderne. In zahlreichen Wiederholungen, die uns den Text leicht zugänglich machen, variiert Foucault dieses Leitmotiv. Foucault quält die Frage, wie Herrschaft in der Moderne trotz der Abnahme von Gewalt und einem Zugewinn an Freiheiten so reibungslos und wesentlich effizienter als in früheren Zeiten funktionieren konnte. 13 Quälend erschien ihm die Frage wohl auch deshalb, weil sich die Mehrheit seiner Zeitgenossen mit dieser Gewaltlosigkeit und diesen Freiheiten offenbar wohl fühlte und die moderne Staatsentwicklung als Erfolgsgeschichte verbuchte, Foucault selbst jedoch die Gesellschaft als bedrückend und falsch empfand, als einen „‚Krieg aller gegen alle‘“ (ÜuS 396). Um diesen Krieg zu verdeutlichen, stellte Foucault die gängigen Erzählungen von Aufklärung und Moderne auf den Kopf. „Die ‚Aufklärung‘, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden“ (ÜuS 285), lautet das Leitmotiv von Überwachen und Strafen. 14 Foucault erzählte die Moderne als eine Negativgeschichte. Dabei will er mit Hilfe seiner genalogischen Methode hinter die Diskurse schauen und somit wertneutral die Geschichte der Gegenwart beschreiben. Der Auftakt von Überwachen und Strafen, das Foucaults Biograph Didier Eribon als „eines der schönsten Bücher Foucaults, vielleicht sogar das schönste“ bezeichnet 15, setzt mit einem furiosen Hinrichtungsszenario ein, in dem bis ins Detail die Marter eines Schwerverbrechers beschrieben wird. Foucault definiert dieses vormoderne Schauspiel jedoch nicht als sinnlosen Akt der Unmenschlichkeit, sondern als „Fest der Marter“, als eine in sich stimmige und einer eigenen Ästhetik gehorchenden „Strafliturgie“ (ÜuS 47). Mit der Neuinterpretation der vormodernen Folter gelingt Foucault nicht nur ein erzählerischer Coup, sondern auch eine originelle Kampfansage an das gängige Modernenarrativ. Das Spektakel 13 Sarasin, Foucault, 137. 14 Vgl. dazu Gerhard Sauder, Gegen Aufklärung?, in: Lenz-Jahrbuch. Sturm und Drang Studien, Bd. 13/14, Darmstadt 2008, 7–28, hier 16. 15 Didier Eribon, Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt 1999, 335.
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der Hinrichtung ist kostspielig und unökonomisch. Es soll nicht nur das Recht wiederherstellen, sondern auch die Macht glanzvoll demonstrieren und dafür das Leben des Frevlers gewaltig zerstören. Doch der Verbrecher behält seine Würde. Als Teilnehmer im Bestrafungsspiel kann er darauf hoffen, zum Helden zu avancieren; wenn alles gut abläuft, stirbt er gar „wie ein Heiliger“ (ÜuS 87).16 Foucault spürt in den Quellen dem „Ruhm des volkstümlichen Übeltäters“ nach und seiner „düstere[n] Heroisierung durch die öffentliche Hinrichtung“ (ÜuS 90). Strafe und Hinrichtung sind ein Kollektivakt, eine ausgefeilte, prächtige Kommunikation zwischen Souverän und Volk. Im Volk aber sieht Foucault die „Hauptperson bei den Marterzeremonien“ (ÜuS 75). „In der Marter waren die schrankenlose Macht des Souveräns und die ständig drohende Gesetzwidrigkeit des Volkes sichtbar vereinigt“ (ÜuS 113). Unordnung und Anarchie liegen in der Luft. Bei der Hinrichtung, diesem „Moment der Wahrheit“ (ÜuS 58), kann es zur chaotischen Selbstermächtigung der Massen kommen: „Es gibt in diesen Hinrichtungen, welche die Schreckensgewalt des Fürsten kundtun sollten, etwas Karnevaleskes, das die Rollen vertauscht, die Gewalten verhöhnt und die Verbrecher heroisiert.“ (ÜuS 79)
Wenn es des Volkes Wille ist, schlägt die Marter um in Volkszorn. Die „Solidarität einer ganzen Bevölkerungsschicht“ kann dem Missetäter zufallen (ÜuS 82). Das Volk vermag den Plot der Marter zu kippen, es kann die Anarchie ausrufen, den Helden befreien und die Henker bestrafen. Wie entehrt und entmachtet ist dagegen der Verbrecher heute mitsamt dem Volk. Die Massen bleiben außen vor, und der Gefangene wird verschämt im Dunkeln bestraft. Wie konnte es zu diesem Umschwung kommen? Entscheidend sind nach Foucaults Analyse die Zielrichtlinien in der Moderne: Ökonomie und Effizienz. Es gelte, „die Gesellschaftskräfte zu steigern – die Produktion zu erhöhen, die Wirtschaft zu entwickeln, die Bildung auszudehnen, das Niveau der öffentlichen Moral zu heben; zu Wachstum und Mehrung beizutragen.“ (ÜuS 267)
Das erfordert totale Disziplin. Um diese angemessen zu ermöglichen und den präzisen Zugriff auf jeden einzelnen zu gewährleisten, bedarf es der Parzellierung und Individualisierung (ÜuS 126). Der Aufstieg des Subjekts bei Kant in Abgrenzung zum Objekt bedeutet in dieser Erzählung keine philosophische Errungenschaft, die der Erkenntnis dienlich ist und es uns erlaubt, jedem Individuum seinen Wert zuzusprechen. Die Erkenntnis des Subjektes als Voraussetzung für Menschenrechte und Humanität hält Foucault für eine der heimtückischen Machtdiskurse. Die Aufklärung bringt vielmehr das Subjekt hervor, um darauf – über die Humanitäts– und Humanitätswissenschaftsdiskurse – unerbittlichen, gerade auch wissenschaftlichen Zugriff zu gewinnen, um es zu unterwerfen, nützlich zu ma16 „Es gab Verurteilte, die nach ihrem Tod so etwas wie Heilige wurden, deren Andenken und Grab man ehrte.“ (ÜuS 87) Auf S. 12 finden sich Hinweise auf den Tod, wie er in zahlreichen Heiligenlegenden beschrieben wird.
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chen und um es Teil des unentrinnbaren Machtapparates werden zu lassen. Subjektwerdung ist bei Foucault immer auch als Unterwerfung, als „subjugation“ gedacht. Die Historikerin Laura Engelstein erklärt die Bedeutung von Subjekt bei Foucault: The „fundamental social category central to the bourgeois polity—that of the autonomous individual—has not in fact operated as the precondition for liberty and happiness but as a mechanism of domination.“ 17
Die „Individuen“ werden „als Macht– und Wissenselemente wirklich hergestellt“, so Foucault – und weiter: „Das Individuum ist zweifellos das fiktive Atom einer ‚ideologischen‘ Vorstellung der Gesellschaft; es ist aber auch eine Realität, die von der spezifischen Machttechnologie der Disziplin produziert worden ist.“ (ÜuS 249 f.)
Hier klingt freilich schon ein Grundproblem von Foucaults an: Wie ist eine Machtanalyse möglich, wenn das (erkennende) Subjekt doch nur Teil des Machtdiskurses ist? Für den disziplinierenden Zugriff auf das Individuum aber – so Foucaults Analyse weiter – ergibt die rohe und spektakuläre Gewalt keinen Sinn mehr (ÜuS 229). Vielmehr handelt es sich bei der neuen Macht „nicht um eine triumphierende Gewalt, die aufgrund ihres Überschwanges an ihre Überlegenheit glaubt, sondern um eine bescheidene und misstrauische Gewalt, die als eine sparsam kalkulierte, aber beständige Ökonomie funktioniert.“ (ÜuS 220)
Das „ist ja gerade die Eleganz der Disziplin, dass sie auf ein so kostspieliges und gewaltsames Verhältnis verzichtet und dabei mindestens ebenso beachtliche Nützlichkeitseffekte erzielt.“ (ÜuS 176)
Das neue System ist so effektiv, dass es „das automatische Funktionieren der Macht sicherstell[en]“ (ÜuS 258) kann. Dazu eignet sich vorzüglich das Gefängnis, das den Verbrecher zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft transformieren soll. Er lernt hier zu arbeiten und zu beten, hier wird er unterrichtet, gepflegt, normiert und diszipliniert und sein Körper in den Griff genommen. Es geht nicht mehr um die Herrlichkeit der Macht, sondern um ihre Totalität und Effizienz. Foucault nennt diese Macht in seiner Analyse „Panoptismus“. „Das lückenlose Strafsystem (...) wirkt normend, normierend, normalisierend.“ (ÜuS 236) Ziel ist es, „dass aus der Bestrafung und Unterdrückung der Ungesetzlichkeiten eine regelmäßige und die gesamte Gesellschaft erfassende Funktion wird; dass nicht weniger, sondern besser gestraft wird; dass (...) mit größerer Universalität und Notwendigkeit gestraft wird; dass die Strafgewalt tiefer im Gesellschaftskörper verankert wird.“ (ÜuS 104)
17 Laura Engelstein, Combined Underdevelopment: Discipline and the Law in Imperial and Soviet Russia, in: American Historical Review 98/1993, Heft 2, 338–353, hier 338.
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Die Macht durchdringt alles, sie dringt bis in die Kapillaren der Menschen ein, sie lässt sich von den Subjekten, die ohnehin nur Konstruktionen der Machtdiskurse sind, nicht trennen. Neben dem Gefängnis entstehen andere totale Institutionen wie das Krankenhaus, die vielerlei Heilanstalten, Manufakturen, Schulen oder Hospitäler. Sie alle dienen der Disziplinierung und Normierung des Menschen. Und hier setzt ein weiterer, entscheidender antiaufklärerischer Foucault-Diskurs ein: Die aufgeklärten Diskurse um Humanität, Gesundheit oder Erziehung erst legitimieren und ermöglichen das Disziplinierungsprojekt der Moderne. Sie sind als Wissenschaften vom Menschen, als Humanwissenschaften, autorisiert. „Diese Wissenschaften“, so Foucault, „an denen sich unsere ‚Menschlichkeit‘ seit über einem Jahrhundert begeistert, haben ihren Mutterboden und ihr Muster in der kleinlichen und boshaften Gründlichkeit der Disziplinen und ihrer Nachforschungen“ (ÜuS 290); „anstatt prunkvolle Zeichen von Souveränität zu entfalten, formieren sie ein Wissen von den unterworfenen Subjekten.“ (ÜuS 283)
Hier wird deutlich, warum Macht und Wissen in Foucaults Denkuniversum unzertrennlich zusammengehören. In den Heil– und Strafanstalten verfolgt die Macht im Namen der Vernunft und Wissenschaft ein „Modell der Heilung und der Normalisierung“ (ÜuS 318). Während in der Vormoderne das Abweichende, der Wahnsinn und das Chaos lediglich exkludiert wurden, kann sich die Moderne mit dieser ineffektiven Laxheit nicht zufrieden geben: Nun wird das Anormale nicht mehr segregiert, sondern mit einem ausgefeilten wissenschaftlichen Apparat einer Transformation unterzogen und mit einer „Technik der Verbesserung“ (ÜuS 17) diszipliniert und normiert. Als unauffällig und effektiv erweist sich die Macht und birgt ihren terroristischen und totalitären Gehalt gerade darin, sauber, elegant und humanitär zu sein. „Strafbar ist alles, was nicht konform ist.“ (ÜuS 231) Das Anregende und Originelle dieser Machttheorie liegt wohl weniger in der Diagnose der totalen Überwachung und der Feststellung, dass die Menschen über den Zugriff auf die Körper dressiert und normalisiert werden, sondern in einer (sehr unmarxistischen) Herrschaftsidee, die keineswegs erst mit dem Konzept der Gouvernementalität auftaucht; Foucault bringt sie bereits in Der Wille zum Wissen (La volonté de savoir, 1976) auf den Punkt: „Die Macht kommt von unten.“ Und weiter heißt es dort: Die Macht „beruht nicht auf der allgemeinen Matrix einer globalen Zweiteilung, die Beherrscher und Beherrschte einander entgegensetzt und von oben nach unten (...) ausstrahlt. (…) Suchen wir nicht nach dem Generalstab.“ 18
18 Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt 1977, 115. Vgl. dazu Jürgen Martschukat, Feste Banden lose schnüren. Gouvernementalität als analytische Perspektive auf Geschichte, in: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, 3/2006, Heft 2, http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/40208651/default.aspx; 1. Große Kracht, „Gouvernementalität”, 2; Habermas, Diskurs der Moderne, 340.
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Habermas spricht von der „faszinierenden Entlarvung kapillarischer Machtwirkungen.“ 19 Doch hier zeigt sich das oben angesprochene erkenntnistheoretische Problem in aller Deutlichkeit: Wie ist diese Machtanalyse möglich, wie soll eine Untersuchung funktionieren, wenn doch das Subjekt Teil des Machtdiskurses ist und seine Welt nicht transzendieren kann? „Foucault kann die hartnäckigen Probleme, die im Zusammenhang mit dem sinnverstehenden Zugang zum Objektbereich, der selbstreferentiellen Leugnung universaler Geltungsansprüche und der normativen Rechtfertigung von Kritik auftreten, nicht zufriedenstellend behandeln“,
so Habermas. 20 Wie kann Foucault Gültigkeit beanspruchen, obwohl er die Unmöglichkeit subjektiven Erkennens und jeder Hermeneutik postuliert? 21 Die Aufklärung verneinend – wie kann Foucault da die Welt aufklären? Foucaults Normativität Dem Problem der „normativen Rechtfertigung von Kritik“, wie Habermas es nennt, begegnet Foucault damit, dass er explizite Normativität (größtenteils) vermeidet und er sich daher nicht offen als Moralist outen muss. Dies gelingt ihm mit Hilfe eines erzählerischen Kunstgriffs: Foucault führt eine Kontrastfolie ein, die er so positiv beschreibt, dass das Gegenteil – die Moderne – implizit dunkel erscheint. Als Kontrast dient die Vormoderne, das klassischen Zeitalter, das vom 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts datiert. Durch die bloße Differenz zur Vergangenheit wird die Problematik des Heute erkennbar. 22 Kritiker haben immer wieder auf die romantisierende Komponente aufmerksam gemacht, die Foucaults Bild der Vormoderne prägt. 23 Tatsächlich offenbart sich in dieser Romantisierung eine glühende Wertehaltung. Im oben beschriebenen „Fest der Marter“ wird Foucaults Freude an der kreativen und anarchischen Teilnahme des Volkes ganz anschaulich. Sie sticht von der modernen, ökonomisierten Macht der Disziplinen scharf ab. Bezeichnend ist etwa die Sympathie, mit der Foucault gegen Ende des Buches die „Kette“, also den in der Vormoderne stattfindenden Auszug der Strafgefangenen, beschreibt und darin die euphorische Erzählung der Marterzeremonie zu Beginn des Textes weiterspinnt. Es ist hier von einem „Fest des Aufbruchs“ die Rede, vom „Fest der Wahnsinnigen“ (ÜuS 332), von der „Wandermesse des Verbrechens“ (ÜuS 334). Foucault erzählt von „Kostümen“, von „Ausschweifung“
19 Habermas, Diskurs der Moderne, 340. 20 Habermas, Diskurs der Moderne, 336, vgl. auch 296; vgl. zu dem Problem zwischen kritischem und kritisiertem Subjekt in der Frankfurter Schule Sauder, Gegen Aufklärung, 12. 21 Judith Buthler, Kritk der ethischen Gewalt. Erweitere Ausgabe, Frankfurt 2007; Marchand, Foucault, 345. 22 Vgl. zu dem Kontrast auch Engelstein, Combined Underdevelopment, 339f. 23 Habermas, Diskurs der Moderne, 281.
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und „glänzende Gestalten“ mit „Tätowierungen“ und dem „Schmuck von Halsringen und Eisen“ (ÜuS 333–335). „Es waren Saturnalien (...). Die Kette ist Reigen und Tanz. Sie ist auch Paarung – die erzwungene Vermählung in verbotener Liebe. Hochzeit, Fest und Weihe unter den Ketten.“ (ÜuS 335)
In einer direkten Gegenüberstellung kontrastiert Foucault die Bestrafung in der Vormoderne mit ihrer modernen Form: vormoderne „Gewalt des Souveräns“ – moderner „Verwaltungsapparat“; vormoderne „Zeremonie“ – moderne „Übung“; vormoderner „besiegter Feind“ – modernes „unmittelbarem Zwang unterworfenes Individuum“; vormoderner „gemarterter Körper“ – moderner „dressierter Körper“ (ÜuS 170). Und an anderer Stelle wird „Altehrwürdiges“ im Klassischen Zeitalter zum modernen „Normalen“, das präzis normierende „Maß“ ersetzt die kaum definierten „Stände“, und „die Individualität des berechenbaren Menschen [verdrängte] die Individualität des denkwürdigen Menschen.“ (ÜuS 249) Wohin führt dieser Wertekanon, der Foucaults Gegenerzählung zur Moderne und Humanität ein moralisches Korsett gibt? Zwar benutzt Foucault im Großen und Ganzen einen Machtbegriff, der dem marxistischen diametral entgegen steht und Macht nicht „denen da oben“ zuordnet, sondern als heimtückische Potenz interpretiert, die bis in die Kapillaren eines jeden eindringt. Im Widerspruch dazu aber leuchtet immer wieder eine andere Herrschaftskonzeption auf, die durchaus Anklänge an den historischen Materialismus aufweist: Als Ziel der neuen Ordnung sieht Foucault – der sich auch als „Nietzscheschen Kommunisten“ bezeichnete 24 – die Sicherung des Eigentums (ÜuS 108 f.); und in diesem Zusammenhang ist dann auch überraschenderweise nicht länger eine diffuse Macht am Werk, sondern ein klar zu nennender Akteur: „die Bourgeoisie“ (ÜuS 108). Sie sorgt für die „‚Moralisierung‘ der armen Klassen, die sowohl vom ökonomischen wie vom politischen Standpunkt aus so wichtig war“ und hat dafür „verschiedene Verfahren eingesetzt: das Eintrichtern einer ‚Grundgesetzlichkeit‘, die unverzichtbar war, sobald das System des Strafgesetzbuches an die Stelle der Gewohnheitsrechte trat; das Beibringen der Grundregeln des Eigentums und des Sparens; das Abrichten zum Arbeitsgehorsam, zur Sesshaftigkeit usw.“ (ÜuS 368)
Während also die Bourgeoisie ihre eigenen Sünden („Betrug, Steuerhinterziehung, unregelmäßige Geschäftstätigkeiten“) mit größter Nachsicht behandelt, werden nach Foucaults Analyse alle Gesetzwidrigkeiten gegen den Geist des Kapitalismus unnachsichtig bestraft (ÜuS 110 f.). Wobei die Gesetzwidrigkeiten wider den Kapitalismus in dieser erstaunlich simplen, bipolaren Interpretation dem einfachen Volke zugeschrieben werden. Als einen der besonders heimtückischen Diskurse gilt Foucault daher die Behauptung, „dass das Gesetz für alle und im Namen aller geschaffen ist“; doch tatsächlich sei „es von einigen gemacht (…) und auf andere anzuwenden“ (ÜuS 355). Und zwar aus dem einen Grund, „weil
24 Eribon, Foucault, 100.
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das Gesetz oder seine Anwendung den Interessen einer Klasse dient“ (ÜuS 351). Wie nun die Historikerin Laura Engelstein ganz richtig bemerkt, legt Foucault in seinem Werk keinen Schwerpunkt auf die Unterscheidung zwischen sogenannten totalitären und liberalen Staaten. 25 So erklärt Foucault in Überwachen und Strafen, die panoptische Macht sei „nicht direkt von den großen rechtlich-politischen Strukturen einer Gesellschaft abhängig.“ (ÜuS 284) Engelstein weist jedoch darauf hin: „In fact, Fcouault’s theoretical interest was captured (...) by the origins of liberalism itself, and his condemnation of certain kinds of state systems (…) did not fit comfortably with his insistence that constitutional forms and legal structures do not determine the workings of power in the modern world.“ 26
Foucaults Zielscheibe ist die Heimtücke der westlichen Welt, er will die Freiheitsdiskurse und den naiven Glauben an die Kraft von Verfassung und Gesetz entlarven, seine Kritik richtet sich gegen das eigene Gesellschaftssystem, das, in dem er lebte. Sein ideologischer Standpunkt ist dabei unzweideutig. Wie eine Endmoräne türmt sich in Überwachen und Strafen immer wieder – und inhaltlich zuweilen nicht gut eingepasst – das ganze ideologische Vokabular der westeuropäischen Intellektuellen seiner Zeit: Kapitalakkumulation, Produktionsverhältnisse, Unterdrückung, Aneignung von Arbeitsmitteln und –produkten, kapitalistische Gesellschaft, Gegensatz der Klassen, entfremdet… Habermas erlaubt sich den Hinweis auf den biographischen Kontext. Foucault habe „damals den Chor der enttäuschten Maoisten von 1968“ verstärkt. 27 Er sieht in Foucaults Ideen „Syndrome des linken Renegatentums“, wie sie sich auch nach 1789 und 1917 gezeigt hätten. Enttäuscht habe Foucault zum Topos der Gegenaufklärung gegriffen. 28 Foucault wäre demnach nicht der Philosoph, der dank seiner Distanz hinter die Diskurse zu schauen vermag. Er ist der politische Intellektuelle. Auch wenn der biographische Kontext selbstverständlich keine feste Interpretation bieten kann, so gibt er doch Fingerzeige für die Lektüre des Textes.29 Der Autor, der Anfang der siebziger Jahre Überwachen und Strafen verfasst, trägt alle Insignien der hochpolitisierten Intellektuellen seiner Zeit, welche die Nachgeborenen nicht ohne Rührung betrachten können: Verfassen von Manifesten gegen die Staatsherrschaft, Engagement für Gefangene und gegen Rassismus, für Migranten und gegen Kolonialismus, nächtliche Diskussionen, Verhaftungen und Misshandlungen durch die Bullen, hocherhobener Kopf und Megaphon bei Demonstrationen; noch nicht einmal dem Rollkragenpulli entkommt Foucault. Warum auch? Er ist Teil des Machtdiskurses. Er steht nicht außerhalb. Er kann es nicht. Freilich leistete er sich auch gegen diese Moden intellektuelle Unabhängigkeit: Schon früh erkennt er die Untiefen marxistischer Orthodoxie, er hält die 25 26 27 28 29
Engelstein, Combined Underdevelopment, 338 und 343. Engelstein, Combined Underdevelopment, 338. Habermas, Diskurs der Moderne, 302. Habermas, Diskurs der Moderne, 302, vgl. auch 292. Vgl. zum Problem der Biographie bei Foucault Eribion, Foucault, 11–13.
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Mitglieder der deutschen RAF für Terroristen und widersetzt sich dem israelfeindlichen Chor vieler seiner Gesinnungsgenossen. 30 Foucaults Interesse für die Mechanismen der Macht sind „keineswegs theoretischer Art gewesen“, wie sein Biograph konstatiert. „Er hat sich zunächst in die Aktion gestürzt, in den von einem Tag zum anderen geführten Kampf.“ 31 Das Buch Überwachen und Strafen entstand im Kontext von Foucaults Engagement für die von ihm mitgegründete GIP, Groupe d’information sur les prisons. In einem der von Foucault mitverfassten Texte der GIP heißt es: „Die Gerichte, die Gefängnisse, die Krankenhäuser, die psychiatrischen Spitäler, die Arbeitsmedizin, die Universitäten, die Presse– und Nachrichtenorgane: durch alle diese Institutionen und unter den verschiedensten Masken bringt sich eine Unterdrückung zum Ausdruck, die an ihrer Wurzel politische Unterdrückung ist. Diese Unterdrückung hat die ausgebeutete Klasse immer erkennen können; sie hat nicht aufgehört, ihr Widerstand entgegenzusetzen.“ 32
Und dann kommt mit aufklärerischem Pathos ein „Jetzt aber“, der feste Wille, die Dinge nicht nur zu erklären, sondern auch zu verurteilen und zu verändern. Auch wenn Foucaults Theorie anders aussieht und er erklärt: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.“ 33 So bleibt seine Praxis von dieser Relativierung doch unberührt. Mit Gegenuntersuchungen zu den Verfahren der offiziellen Staatsjustiz wollen Michel Foucault und prominente Freunde wie Gilles Deleuze die Wahrheit ans Licht bringen. 34 Zuweilen kämpft Foucault gar an der Seite Sartres, der bei einer politischen Protestaktion vom „Beginn des Kampfes gegen das repressive System“ kündet, „das uns alle in einem Universum von Konzentrationslagern gefangen hält.“ 35 Foucault erklärt 1972 in einem Gespräch mit Pierre Victor: „Deshalb muss die Revolution den Justizapparat und alles, was an das Strafsystem erinnert, seine Ideologie mit einbegriffen, radikal ausrotten.“ 36 Foucault entkommt dem Normativismus nicht, den er den Humanwissenschaften unterstellt; diese gäben sich wissenschaftlich objektiv und verfolgten damit doch nur ihr Machtprogramm. Foucaults Kritik, sein hoch engagiertes Werk, insbesondere sein entlarvender Gestus zeigen seine strenge Moralität. 37 Gewiss hätte Foucault das nicht gerne gehört: Aber wir schätzen ihn als modernen Moralisten. Als aufgeklärte Menschen der Moderne schätzen wir ihn besonders, weil er uns verurteilt.
30 31 32 33 34 35 36 37
Eribon, Foucault, 93–100, 342, 349, 371f. und 380f. Eribon, Foucault, 320. Intolérable, Nr. 1, 1971, zitiert nach Eribon, Foucault, 323. Foucault, Wille zum Wissen, 116. Eribon, Foucault, 327. Zitiert nach Eribon, Foucault, 330. Zitiert nach Eribon, Foucault, 350. Vgl. Habermas, Diskurs der Moderne, 283.
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Foucaults Kritik Nancy Fraser stellt hier die Frage: „Why is struggle preferable to submission? Why ought domination to be resisted? Only with the introduction of normative notions of some kind could Foucault begin to answer this question. Only with the introduction of normative notions could he begin to tell us what is wrong with the modern power/knowledge regime and why we ought to oppose is.“ 38
Wissenschaftler, die für Foucault eine Lanze brechen und ihn nicht als Konservativen und Anti-Modernen verurteilt wissen wollen, behaupten zuweilen, Foucault habe nicht die Aufklärung, sondern lediglich die universalistischen Tendenzen derselben abgelehnt. „Foucault regards Enlightment reason as only one of many rationalities“, meint etwa Nancy S. Love. 39 Doch das ergibt wenig Sinn. Die Ideen der Aufklärung – Humanismus, Toleranz, Menschenrechte oder Demokratie – eignen sich nicht zur Relativierung und zur Beschränkung auf einige Auserwählte. 40 Logischer ist es, wenn Habermas bei Foucault mit der Ablehnung der universellen Werte eine Ablehnung der Aufklärung konstatiert. 41 Foucault wies zwar in seinem Essay Was ist Aufklärung? diesen Anspruch als „‚Erpressung‘ der Aufklärung“ zurück, schließlich könne man nicht verlangen, „dass man ‚für‘ oder ‚gegen‘ die Aufklärung sein muss.“ 42 Doch seine Skizze eines „philosophischen Ethos“, in der er vor „global[en] oder radikal[en]“ Projekten warnt, bleibt mit der Aufforderung zur „Arbeit an unseren Grenzen“ im allzu Vagen. 43 Und tatsächlich: Foucault ist nicht deswegen ein Aufklärer, weil er Werte zwar vertritt, deren Universalismus jedoch verneint, sondern deswegen, weil er Kritik an unserer Welt übt. Aber Kritik bedeutet Hoffnung und Verheißung. 44 Es ist schwerlich möglich, Kritik an der Gegenwart zu üben und ihre Pathologien aufzuzeigen, ohne damit vor dem Gedankenhorizont der Verbesserung zu agieren.
38 Nancy Fraser, Foucault on Modern Power: Empirical Insights and Normative Confusions, in: Praxis International 1/1981, 283; vgl. dazu auch die Kritik von Axel Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 1989. 39 Nancy Love, Foucault & Habermas on Discourse & Democracy, in: Polity 22/1989, Heft 2, 269–293, hier 273; vgl. auch 275; auch Nancy Fraser, Unruly Practices. Power, Discourse and Gender in Contemporary Social Theory, Cambridge, UK, 1989; Tanja Prokic, Einführung in Michel Foucaults Methodologie. Archäologie – Genealogie – Kritik, Hamburg 2009. 40 Die Feststellung, dass die Aufklärer des 19. Jahrhunderts teilweise abweichende Begriff von den heute üblichen hatte, erscheint etwas ahistorisch; an dem logischen Universalitätsanspruch der zentralen aufklärerischen Prinzipien ändert das nichts, wie auch die Geschichte dieser Prinzipien gezeigt hat; vgl. dazu die Kritik von Charles Mills. Kant’s Untermenschen, in: Andrew Valls (Hg.), Race and racism in modern philosophy, Ithaka, NY, 2005, 169–193. 41 Jürgen Habermas, The Dialectics of Rationalization. Interview with Axel Honneth, Eberhard Knodler-Bunte, and Arno Widman, in: Telos 49/1981, 15. 42 Foucault, Was ist Aufklärung? 45f. 43 Foucault, Was ist Aufklärung? 48–53. 44 Vgl. Habermas, Diskurs der Moderne, 283.
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Foucault entkommt also theoretisch nicht dem Problem, dass er selbst in den von ihm analysierten Diskursen und Machttechniken gefangen bleibt. 45 Praktisch aber gelingt ihm das durchaus. Er präsentiert sich (wie auch sein Biograph Didier Eribon mit einer gewissen Sentimentalität und Sympathie feststellt) als stürmischer Intellektuellen, der hinter die Dinge schaut und unsere Geschichten neu erzählt, als Entlarver des Unrechts, Kämpfer für Freiheit und Schwulenrechte, als enttäuschten Revoluzzer, aufrechter Intellektueller, der sich von Solschenizyns Archipel Gulag beeindrucken und korrigieren lässt, wir sehen den sich allen bürgerlichen Normen entziehenden Sadomasochisten, den von innerer Empörung gegen alle Ungerechtigkeit und gegen allen Normierungsterror getriebenen Denker. Was bleibt, ist nicht das Selbstdementi, was bleibt, ist der furiose Aufklärer. Es ist dies die Uneinholbarkeit der Aufklärung, die immer schon da ist, wo Selbstkritik und Kritik im Namen der Vernunft geübt wird. Darin liegt die eigentliche Heimtücke der aufgeklärten Moderne: dass sie die Gegenaufklärung, die Kritik an der Aufklärung umarmt und geläutert als sich selbst verbesserndes Ideal entlässt. Für Kritiker der Moderne sind dieser flexible Umgang mit Kritik und die Verbesserungsfähigkeit eine schwere Herausforderung. Sie sehen darin oftmals ein besonders heimtückisches Manöver. 46 Doch Foucaults Kritik ist gerade deswegen so attraktiv, weil sie unsere liberalen Staaten und damit unsere Moderne ins Visier nimmt. Die Kritik etwa an patriarchalischen Diktaturen in Zentralafrika oder an intoleranten fundamentalistischen Weltbildern würde uns nicht gleichermaßen fesseln. Die Moderne aber lebt von Selbstkritik. Kritik ist ihr Lebenselixier, ihre Dynamik. Die Fähigkeit moderner Gesellschaften, Kritik nicht nur zuzulassen oder zu neutralisieren, sondern sie zu institutionalisieren, in Machtdiskurse zu transformieren und damit auch als Triebkraft für immer neue Veränderungen und Verbesserungen zu akzeptieren – das ist gewiss eine ihrer größten Stärken. Foucaults Modernekonzept, das Macht und Verantwortung nicht einfach „denen da oben“ zuordnet, sondern von uns einen komplexeren Zugriff verlangt, verweist auf einen zentralen Aspekt der Aufklärung: auf die Selbstermächtigung.
45 Habermas, Diskurs der Moderne, 330. 46 Luc Boltanski / Eve Chiapello, Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel, in: Berliner Journal für Soziologie, 11/2001, Heft 4, 459–477, hier 459.
ZUFALL UND STAATSKRISE Überlegungen zu Problemen der Thronfolge im 19. Jahrhundert Torben Kiel, Greifswald Aufklärung meint für den Historiker zweierlei. Zunächst ist es eine geistesgeschichtliche Epochenbezeichnung für die Zeit des 17./18. Jahrhunderts, die einige maßgebliche Umbrüche der europäischen Geschichte markiert: Das Zurückdrängen traditioneller religiöser Deutungsmuster, der Aufstieg einer rationalistischnaturwissenschaftlicher Weltanschauung. Im Bereich des Politischen finden wir das Idealbild des „aufgeklärten Monarchen“, das typische Produkt dieser Epoche ist die Rechtskodifikation, oft mit ebenso umfassendem Anspruch wie die Enzyklopädie, das Lexikon, die als charakteristische Produkte des geistigen Lebens jener Epoche gelten können. Ordnung, Systematisierung, die Bevorzugung der Vernunft als Modus der Welterkenntnis stehen dabei in enger Beziehung zu der Forderung nach Anwendung der Erkenntnis und, als notwendiger Voraussetzung dafür, der Vermittlung von Wissen. Der jetzt auch bürgerliche Salon ist der Ort des gleichermaßen gesellschaftlichen wie intellektuellen Austausches. Die Aufklärung ist der Vorbote der Französischen Revolution, in der überkommene Gesellschaftsentwürfe nicht mehr nur in Frage gestellt wurden, sondern durch neue, dem Prinzip einer durch die Bevölkerung selbst sanktionierten Ordnung ersetzt wurden. 1 Darüber hinaus ist Aufklärung für den Historiker aber auch Selbstverpflichtung. Geschichtswissenschaftliche Forschung vollzieht sich nicht im luftleeren Raum, sondern ist an persönliche, gesellschaftliche und erkenntnistheoretische Voraussetzungen gebunden. Über diese gilt es – zumindest von Zeit zu Zeit – zu reflektieren und sich selbst, den Fachgenossen und der Öffentlichkeit Rechenschaft abzulegen über seine Arbeitsweisen, Methoden und Grundannahmen. Dies ist nicht nur ein Gebot praktischer Vernunft, denn nur wenn man bereit ist etablierte Perspektiven und selbstverständlich gewordene Sichtweisen zu überdenken, tuen sich neue, vielleicht um so spannendere, Aspekte auch in wohlvertrauten Feldern der Geschichte auf. 1
Diese Definition von „Aufklärung“ folgt weitgehend der von Barbara Stolberg-Rilinger formulierten: Dies., Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000, 11–20; diese legt implizit auch Horst Stuke in den Geschichtlichen Grundbegriffen zu Grunde: Artikel Aufklärung, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), GG, Bd. 1, Stuttgart 1972, 243–342, bes. 246. Jüngst ganz anders: Sebastian Conrad, Enlightenment in Global History: A Historiographical Critique, in: American Historical Review 117/2012, 998–1027.
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Darum soll im Folgenden ein Blick auf das 19. Jahrhundert geworfen werden, der jenseits der üblichen Perspektiven sucht und einerseits nach der Bedeutung der klassischen historischen Hilfswissenschaften fragt und dabei andererseits die Rolle des Zufalls als Faktor historischer Entwicklung ins Auge fasst. Forscher, die sich dem 19. oder gar 20. Jahrhundert widmen, schenken dem Kanon der historischen Hilfswissenschaften, wie sie im Studium gelehrt werden 2, meist wenig Beachtung, sind sie doch ihrer Genese und praktischen Anwendung nach ein Kind der Mediävistik. Diplomatik und Heraldik sind für die Analyse des fast uferlosen Quellenbestandes keine Notwenigkeit; die Dichte der Überlieferung sichert weitgehend die Authentizität der Quellen und die Gewissheit über den Ablauf der Ereignisse. Aufgabe des Historikers ist es, zu erklären zu liefern, wie die historischen Ereignisse sich aufeinander beziehen, warum es so und nicht anders gekommen ist. Der Zufall hat da kaum Platz, ist er doch in gewisser Weise die Verneinung eines rational erklärbaren Zusammenhangs. Modern wird statt von Zufall meist von Kontingenz in der Geschichtswissenschaft gesprochen, betrachten wir jedoch die Forschungspraxis, so wollen wir stets Erklärungen für das Geschehen geben und uns nicht mit einem „Es ist halt so gekommen!“ zufriedengeben. 3 Als Zufall soll daher im Folgenden das verstanden werden, was sich aus der gewählten Perspektive des Historikers nicht erklären lässt, wo das Instrumentarium versagt, weil die Ursachen für ein Ereignis auf einer dem Geschichtswissenschaftler nicht zugänglichen Ebene liegen bzw. die Ursachen außerhalb des vom Forschers gewählten Erklärungszusammenhangs liegen. Wo nun der Zufall eine besondere Rolle spielt, das ist der menschliche Generationenwechsel, also die Frage nach der Nachkommenschaft. Weder der Historiker noch die Zeitgenossen können bzw. konnten eine Aussage darüber treffen, ob aus einer Beziehung Kinder hervorgehen und ob es sich Jungen oder Mädchen handelt. 4 Für Fürstenhäuser konnte dies ein existentielles Problemfeld sein, dass das Schicksal einer ganzen Dynastie und im Gefolge von Verstaatlichungsprozessen auch von politischen Herrschaftsgebilden betraf. 5 Der Generationenwechsel hält ein Maß an Unberechenbarkeit bereit, das im Falle fürstlicher Familien auch noch im 19. Jahrhunderts das Potenzial von Staatskrisen hatte. Hatte ein regierender Monarch dieser Zeit keinen legitimen Sohn, so stellte dies zwar kein unmittelbares Problem dar, da in irgendeiner Form in allen Ländern die Thronfolge gesetzlich geregelt war, so dass sich die Unsicherheit des Zufalls nicht auf die Frage
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Ahasver von Brandt, Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, 15. Aufl. Stuttgart 1998. Zu Zufall und Kontingenz vgl. Arndt Hoffmann, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 184), Frankfurt a. M. 2005, bes. 3ff. und Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a. M. 2001, 419–429. Selbstverständlich kann der Historiker ex post die Tatsachen konstatieren, eine Erklärung warum ein Junge oder Mädchen geboren wurde, kann er selbstverständlich nicht liefern. Dazu: Andreas Hansert, Welcher Prinz wird König? Die Habsburger und das universelle Problem des Generationenwechsels, Petersberg 1998, 32.
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erstreckte, wer dem Regierenden nachfolgen werde 6, sondern nur auf die Frage, wem aus der Zahl der potentiellen Anwärter die Krone zufiel. Eine Thronfolge von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die europäische Geschichte war die Sukzession Viktorias in Großbritannien im Jahre 1837, mit der die seit 1714 bestehende Personalunion mit dem Königreich Hannover (dem früheren Kurfürstentum) endete, was für das Vereinigte Königreich eine größere Unabhängigkeit von den Entwicklungen in Deutschland und für Hannover das Ende der Existenz eines Nebenlandes bedeutete. Die Relevanz dieses Ereignisses wird zwar stets erwähnt, aber auch Biographien der Königin und Darstellungen zur britischen Geschichte liefern oft keine Erklärung dafür, warum Viktoria ihrem Onkel Wilhelm auf dem Thron folgte. Mit einem Hinweis auf die unterschiedlichen Thronfolgeordnungen begnügt sich etwa auch die aktuelle „New Oxford History of England“ 7, wobei diese nur die Trennung der Kronen begründen, nicht aber warum Wilhelm den Thron nicht seinem jüngerem Bruder übergab, sondern seiner Nichte. Um zu verstehen, warum Viktoria den britischen Thron bestieg, ist es am besten, sich das Geschehen seit Georg III. zu vergegenwärtigen. Georg selbst hatte insgesamt fünfzehn Kinder, davon sieben männliche. Erster in der Thronfolge war der älteste Sohn, der spätere Georg IV., der seine Kusine Caroline von Braunschweig heiratete. Die weiteren Söhne waren Frederick, William (Wilhelm), Edward, Ernest, Augustus, Adolphus, so dass zunächst nicht zu erwarten stand, dass die Thronfolge gefährdet erscheinen konnte. Die Ehe zwischen Georg und Caroline war allerdings nicht glücklich: Aus ihr ging nur eine Tochter hervor und Georg erklärte ausdrücklich, dass er auch im Falle des Todes seines Kindes nicht bereit sei, sich um einen Thronfolger zu bemühen. Zunächst blieb dies ein hypothetischer Fall; Charlotte, die Tochter, heiratete 1816 den deutschen Fürsten Leopold von Sachsen-Coburg-Saalfeld. Ein Jahr nach Hochzeit war sie schwanger, unglücklicherweise wurde das Kind tot geboren und die Mutter starb an den Folgen der Geburt. 8 1817 ergab sich daher eine ausgesprochen schwierige Situation für die königliche Familie, denn es gab keinen legitimen Nachkommen des regierenden Monarchen in der Generation seiner Enkel. Tatsächlich hatte Georg III. zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen Enkel, der irgendwann seine Nachfolge hätte antreten können. Die jüngeren Brüder des Prince of Wales waren, abgesehen von Fre6
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Gemeint ist, dass die jeweiligen (familien-)gesetzlichen Regelungen zu jeder Zeit eine genaue Bestimmung derjenigen Person erlaubten, die jeweils als nächste zur Thronfolge berufen war. Dass eine „einfache“ Thronfolge von Vater zu Sohn nicht möglich war, sondern u. U. weiter entfernte Verwandte zur Thronfolge berufen waren und auf welchem Platz sie in der Reihe der Anwärter standen, war dagegen ein Faktor der „unberechenbaren“ Biologie. Boyd Hilton, A bad, mad and dangerous people? England 1783–1846, Oxford 2006. Dies und das folgende folgt der Darstellung bei Ronald D. Gerste, Queen Victoria. Die Frau hinter dem Mythos, Regensburg 2000, der verhältnismäßig ausführlich auf die Thronfolge eingeht. Die jüngste Biographie von Karina Urbach, Queen Victoria. Eine Biographie, München 2011. Zu biographischen Details aller behandelten Personen wurde jeweils auch die deutsche und englische Version der Wikipedia herangezogen.
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derick und Ernest, unverheiratet und auch die Töchter hatten keine überlebenden Nachkommen und hatten darüber hinaus auch das gebärfähige Alter längst verlassen, so dass von ihnen auch nicht zu erwarten war, dass sie zur Lösung des Problems hätten beitragen können. Ein genauerer Blick auf die Söhne Georgs zeigt ein Bild von zum Teil höchst schwierigen Persönlichkeiten. Der zweitälteste Sohn Georgs III., Frederick, war mit einer preußischen Prinzessin verheiratet, die Verbindung war allerdings kinderlos geblieben. William lebte in einer festen, allerdings unstandesgemäßen Beziehung. Edward war in Brüssel, wo er mit einer Bürgerlichen eine Beziehung unterhielt. Er hatte eine militärische Karriere hinter sich, wo er durch besondere Strenge hervorgetreten war. Ernst hatte erst wenige Jahre zuvor geheiratet, die Vorgeschichte seiner Frau Frederica von Solms-Braunfels gab dagegen Anlass zu Gerüchten, war sie doch bereits verheiratet gewesen und ihr erster Mann unter unklarem Umständen gestorben. August lebte in einer festen Beziehung, hatte Lady Augusta Murray auch geheiratet, da diese Heirat jedoch ohne königliche Zustimmung erfolgt war, galt die Ehe nach britischem Recht als nichtig. Adolph fungierte zu dieser Zeit als Vizekönig in Hannover, allerdings war auch er unverheiratet. 1818 hatte sich damit die Frage der Thronfolge in Großbritannien von einer familiären Frage zu einer ausgesprochen politischen ausgeweitet. Das Parlament sah sich veranlasst in dieser Frage Maßnahmen zu ergreifen und erhöhte die Apanage für verheiratete Prinzen, in der Hoffnung, damit die Söhne Georgs dazu zu bewegen, eine standesgemäße Verbindung einzugehen und einen Thronfolger hervorzubringen. Die Prinzen reagierten. Adolph wurde auf Brautschau an die deutschen Höfe geschickt, um sich nach geeigneten Hochzeitskandidatinnen umzusehen. Er selbst heiratete Augusta von Hessen-Kassel, seine Brüder William und Edward trennten sich von ihren unstandesgemäßen Partnerinnen und feierten eine Doppelhochzeit, William mit Adelheid von Sachsen-Meiningen, Edward mit Victoire von SachsenCoburg-Saalfeld, verwitwete Fürstin von Leiningen. Immerhin schien damit die Sorge um die Thronfolge sich erledigt zu haben, denn innerhalb eines Jahres konnte der Hof die Schwangerschaft der Gattinnen von William, Edward, Ernst und Adolph vermelden. 1819 wurde dann Adolph ein Sohn (George), Ernst ebenfalls ein Sohn (Georg), Edward eine Tochter (Victoria) geboren. William wurde in diesem und im folgenden Jahr jeweils eine Tochter geboren, beide Kinder starben allerdings bereits nach wenigen Monaten. 1820 starb Georg III. und auch sein Sohn Edward. Georg IV. bestieg als ältester Sohn den Thron. Weitere Geburten von königlichen Prinzen waren in der Familie von da an allerdings auch nicht mehr zu vermelden, so dass auf der Ebene der Enkel Georgs III. lediglich drei Anwärter vorhanden waren. Wie sah die Sukzessionsreihenfolge bei Regierungsantritt Georgs IV. genau aus? Zunächst zur Thronfolge berufen waren die Nachkommen Georgs IV. selbst, d. h. Charlotte, die zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits tot war. Es folgte dann der nächstjüngere Bruder Frederick mit seinen Nachkommen, dessen Ehe aber kinderlos war. Dann kam William, dessen beide Töchter jung verstarben. Als nächster wäre Edward in
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der Thronfolge an der Reihe gewesen, jedoch war er selbst bereits tot, allerdings lebte seine Tochter Victoria. Danach folgte Ernst mit seinem Sohn, dann Augustus, schließlich Adolph und sein Sohn George. 9 Nachdem 1830 Georg IV. gestorben war, folgte ihm sein Bruder William, da Frederick zu diesem Zeitpunkt bereits drei Jahre tot war. Da Williams eigene Kinder da ebenfalls schon tot waren, ging die Krone sieben Jahre später auf das einzige Kind Edwards (Victoria) über, während in Hannover Williams jüngerer Bruder Ernst die Thronfolge antrat. 10 Um noch einmal den Aspekt des Zufalls, der in Nachfolge Victorias lag, hervorzuheben, mag man sich vergegenwärtigen, dass zunächst sieben Anwärter auf den Thron sterben mussten, die in der Reihenfolge vor Victoria standen. 11 Mit der Thronbesteigung Victorias war die unmittelbare Sukzessionsfrage geklärt, der Fortbestand der Monarchie aber noch keineswegs gesichert. Die eben erst volljährig gewordene Königin verspürte kein Interesse, ihre gerade gewonnene Freiheit wieder aufzugeben und sich den Pflichten einer Ehefrau und Mutter zu stellen. Dass sich dies relativ schnell änderte, war das Verdienst ihres Onkels Leopold 12, mittlerweile König der Belgier, der den Kontakt zu seinen Neffen vermittelte und erfolgreich die Hochzeit der britischen Königin mit dem deutschen Prinzen aus dem Thüringischen beförderte. Aus der bekanntlich sehr glücklichen Beziehung mit Albert von Sachsen-Coburg-Gotha gingen neun Kinder hervor, so dass der weitere Fortbestand der Dynastie gesichert war. Allerdings „erbte“ die britische Königsfamilie durch die Verbindung mit dem Herzogtum Sachsen-Coburg-Gotha einige Schwierigkeiten, die sich dort in der Frage der Thronfolge ergaben. Der Vater Alberts und seines älteren Bruders Ernst war der erste Regent des nach einem Erbfall innerhalb der sachsen-ernestinischen Linien neu konstituierten Herzogtums gewesen. Als Albert nach Großbritannien ging, musste er auf seine Ansprüche auf das Land verzichten, Ernst trat dementsprechend 1844 nach dem Tode des Vaters die Erbfolge in Sachsen-Coburg-Gotha an. Allerdings blieb seine Ehe mit Alexandrine von Baden kinderlos, so dass sich die Sukzessionsfrage nun für dieses Herzogtum stellte. Grundlegend blieb dabei das Ziel, die Eigenständigkeit dieses Staates zu erhalten und etwa eine Personalunion zu vermeiden. Zu bedenken ist ebenso, dass eine weibliche Erbfolge für diesen deutschen Staat nach Salischem Recht weitgehend ausgeschlossen war. Da Ernst und Albert keine weiteren Geschwister hatten, ging damit der Thron auf die 9
Ausführlich äußert sich zur Sukzessionsfrage im Vereinigten Königreich: Alfred Bailey, The Succession to the English Crown. A Historical Sketch, London 1879; für den betreffenden Zeitraum 258–274. 10 Für Hannover maßgeblich war in dieser Hinsicht das Salische Recht (bzw. die aus dem Salischen Recht herrührende Tradition), das Frauen weitgehend von jeglicher Erbfolge ausschloss; Adalbert Erler, Artikel Salische Erbfolge, in: HRG 4, 1277–1280. Hätte also Charlotte, die Tochter von Georg IV., überlebt und wäre ihrem Vater auf dem Thron gefolgt, wäre auch dann die Trennung von Hannover eingetreten. 11 Es handelt sich um Georg IV., Charlotte, Frederick, William, dessen Töchter und Edward. 12 Es handelt sich um den Gatten der 1817 verstorbenen Tochter Georgs IV., der also eine Kusine Victorias geheiratet hatte. Gleichzeitig war er der Bruder von Victorias Mutter.
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durch Albert in Großbritannien neu geschaffene Familienlinie über. Dies war auch in der sachsen-coburger Verfassung von 1852 ausdrücklich geregelt worden: Der König selbst und der Prince of Wales seien von der Erbfolge ausgeschlossen, der nächst berechtigte Prinz solle dann die Regierung antreten. 13 Dementsprechend folgte 1893 nach dem Tode Ernst II. sein Neffe Alfred, der zweitälteste Sohn von Victoria und Albert, auf dem Thron. Unglücklicherweise blieb auch Alfred ohne eigenen Sohn. Eine eigene sachsen-coburger Familienlinie konnte auch er nicht begründen, so dass erneut die Thronfolge auf die englische Königsfamilie überwechselte. Zunächst wären jetzt die jüngeren Brüder Alfreds berufen gewesen. Da jedoch relativ früh absehbar war, dass auch Alfred keinen sukzessionsfähigen Nachkommen haben würde, kam es 1899 zu einer gesetzlichen Regelung der Nachfolge, ein Jahr vor dem Tode Alfreds. Dessen Bruder verzichtete auf seine Ansprüche, stattdessen wurde der zu diesem Zeitpunkt noch minderjährige Sohn des bereits verstorbenen Prinzen Leopold zum Thronfolger in Sachsen-Coburg-Gotha bestimmt. 14 Carl Eduard erhielt in Vorbereitung seiner späteren Aufgabe seine weitere Ausbildung in Deutschland und trat 1900 die Erbfolge an, zunächst noch unter einer Vormundschaftsregierung. Er war der letzte regierende Herzog von Sachsen-CoburgGotha. 15 Werfen wir im Folgenden einen Blick auf das weitere familiäre Schicksal des zweiten regierenden Monarchen unter den Enkeln Georgs III. 1837 trat Ernst als König Ernst August II. die Regierung in Hannover an. Bei seinem Tode 1851 gab es nur eine einziges überlebendes Kind, den 1819 geborenen Kronprinzen, der als Georg V. den Thron bestieg. Mit ihm endete bekanntermaßen die Geschichte des Königreichs Hannover, da 1866 der Staat von Preußen annektiert wurde und Georg ins Exil ging. Aus der Ehe Georgs V. mit Marie von Sachsen-Altenburg gingen drei Kinder hervor, zwei Töchter, die beide kinderlos blieben, und ein Sohn, der Ernst August getauft wurde. Wie auch sein Vater erkannte er den Verlust des Königreiches nie an. Als Herzog von Cumberland (der Titel war seinem Großvater als königlichem Prinz verliehen worden und als englischer Titel nicht von der preußischen Annexion betroffen) residierte er bis zu seinem Tode 1923 im österreichischen Gmunden. Von seinen insgesamt drei Söhnen überlebte ihn nur ein einziger: Georg Wilhelm, der unverheiratete älteste, kam 1912 bei einem Autounfall um, Christian starb sechzehnjährig 1901 an einer Krankheit, lediglich der 1887 geborene Ernst August konnte die Familie im Mannesstamm fortführen. Dies war von einiger 13 Daniel Graf zu Rantzau, Der „bedingte“ Erbverzicht des Prinzen von Wales auf die Thronfolge im Herzogtum Sachsen-Coburg-Gotha, Diss. jur. Greifswald 1903, 7. In der Arbeit auch das weitere zur Frage. 14 Ebd. 11–13. 15 Bekannt geworden ist er vor allem als Anhänger Hitlers, der im Dritten Reich Präsident des Deutschen Roten Kreuzes war. Über ihn gibt es eine ältere apologetische Biographie von Rudolf Priesner, Herzog Carl Eduard zwischen Deutschland und England, Gerabronn 1977 und eine aktuelle von Harald Sandner, Hitlers Herzog. Carl Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha. Die Biographie, Aachen 2010.
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Bedeutung, denn auf einer anderen Seite ergaben sich neue Perspektiven für die Familie. Neben dem Königreich Hannover existierte noch ein weiteres welfisches Land in Deutschland, das Herzogtum Braunschweig. Der Staat war auf dem Wiener Kongress restituiert worden, allerdings war der letzte Herzog 1815 in der Schlacht gefallen, so dass damals als einzige Anwärter auf den Thron die beiden Söhne Karl und Wilhelm vorhanden waren. Weitere männliche Familienmitglieder existierten nicht mehr, so dass die beiden unter die Vormundschaft des Ehemannes ihrer Tante gestellt wurden, der bis zum Regierungsantritt in dieser Eigenschaft die Verantwortung für das Herzogtum übernahm. Dieser Vormund war der älteste Sohn König Georgs III. von Großbritannien, der spätere Georg IV. 16 Karl, der ältere der beiden Brüder, übernahm nach seiner Volljährigkeit 1823 die Regierung in Braunschweig, während sein jüngerer Bruder eine militärische Laufbahn in preußischen Diensten einschlug. 1831 wurde Karl wegen Unzufriedenheit mit seiner Regierungsführung aus dem Herzogtum vertrieben. Die Zustände unter seiner Herrschaft waren allerdings so schlimm, dass auch der Deutsche Bund diese Maßnahme akzeptierte, und Wilhelm wurde als neuer Herzog eingesetzt. Beide Brüder sind unverheiratet geblieben, so dass mit dem Tode Wilhelms 1884 (Karl war 1873 gestorben) auch die jüngere BraunschweigWolfenbütteler Linie des Braunschweig-Lüneburger Gesamthauses erloschen war. Wer war in dieser Situation zur Erbfolge berufen? Nach den Bestimmungen der Familiengesetze des Braunschweig-Lüneburgischen Gesamthauses, die auch Teil der Braunschweiger Verfassung von 1832 waren, war im Falle des Aussterbens der regierenden Linie die in Hannover herrschende Nachfolger. 17 1866 war jedoch das Königreich erloschen, was zwar die grundsätzliche Befähigung der nunmehr depossedierten Hannoveraner zur Thronfolge in Braunschweig nicht in Frage stellte, aber die praktische Frage aufwarf, wie man sich einen Fürsten im Deutschen Kaiserreich vorstellen sollte, der die preußische Annexion seines früheren Besitzes nicht anerkannte. Sowohl Georg V. als auch sein Sohn Ernst August hielten bekanntlich an ihren Ansprüchen auf den welfischen Besitz fest, so dass sich auch aus der Perspektive des Landes die Frage stellte, wie weiterhin zu verfahren sei, da absehbar war, dass Herzog Wilhelm kinderlos sterben würde. Eine Thronbesteigung durch die Hannoveraner war aufgrund der politischen Umstände praktisch unmöglich. Bereits 1873 verabschiedete die braunschweigische Landesversammlung ein Gesetz, das den entsprechenden Fall regeln sollte: Wenn nach übereinstimmender Ansicht des Staatsministeriums und des Landtages festgestellt würde, dass der Sukzessionsberechtigte gehindert sei, die Regierung unmittelbar zu übernehmen, werde eine Regentschaft einge-
16 Heinrich Albert Zachariae, Das Successionsrecht im Gesammthause Braunschweig-Lüneburg und der ausschließliche Anspruch Hannovers auf das zur Erledigung kommende Herzogthum Braunschweig, Leipzig 1862, 172–174. 17 Paul Schneider, Entstehung und Lösung der Braunschweigischen Thronfolgefrage in staatsrechtlicher und geschichtlicher Entwicklung, Diss. Jur. Greifswald 1919, 1–2.
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setzt. 18 Die gewählte Lösung sah also so aus, dass man die Ansprüche der Hannoveraner nicht zurückwies, aber auch keine Thronfolge zulassen wollte, sondern stattdessen einen Regenten mit der eigenständigen Wahrnehmung der Regierungsgeschäfte betrauen wollte. Dies Gesetz scheiterte zwar, da man auch eine Garantie des Kaisers für diese Konstruktion erlangen wollte, was dieser ablehnte, es wies aber den Weg, der dann tatsächlich gegangen wurde, und 1879 in einem neuen Regentschaftsgesetz festgelegt wurde. Als Wilhelm starb, war auch bereits sein Vetter Georg tot, so dass Anwärter auf den Thron Ernst August war. In Braunschweig konstituierte sich den Bestimmungen des Regentschaftsgesetzes von 1879 gemäß daraufhin ein vorläufiger Regentschaftsrat. Flankiert wurde dieses Vorgehen von einem Antrag Preußens im Bundesrat, festzustellen, dass eine Regierung des Herzogs von Cumberland mit dem inneren Frieden und der Sicherheit des Reiches nicht verträglich sei. Dort kam es im Juli 1885 zu einem entsprechenden Beschluss. 19 Im November des Jahres wählte die Landesversammlung Prinz Albrecht von Preußen zum Regenten, der von da an bis zu seinem Tode 1906 die Regierungshandlungen des Monarchen vornahm. Versuche, anlässlich des Todes des Regenten die Differenzen zwischen Ernst August und dem preußischen König auszuräumen, um eine Thronfolge zumindest des ältesten Sohnes Georg Wilhelm bei dieser Gelegenheit zu ermöglichen, blieben erfolglos, so dass ein neuer Regent bestimmt werden musste. Die Wahl fiel diesmal auf Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg. 20 Erst kurz vor dem Ende der Monarchie in Deutschland gelang es, einen Ausgleich zwischen dem Herzog von Cumberland und dem preußischen Königshaus herbeizuführen und die Thronfolge in Braunschweig wieder der regulären Familie zu übertragen. Prinz Max von Baden war es, der hinter den Kulissen die Annäherung der beiden Familien beförderte, die in der Hochzeit des letzten welfischen Thronfolgers mit der einzigen Tochter Kaiser Wilhems II. mündete. 21 Ernst August (der Herzog von Cumberland) verzichtete auf seine eigenen Ansprüche und übertrug sie seinem Sohn, der nun seinerseits erklärte, nichts tun zu wollen, was den Besitzstand Preußens verändere. Mit dieser Erklärung war das Hindernis, das der Thronbesteigung entgegengestanden hatte, aus dem Weg geräumt. Der Herzog brauchte persönlich nicht ausdrücklich die Annexion Hannovers anerkennen, und auch für seinen Sohn beschränkte sich das Anerkenntnis auf die genannte Formulierung. Preußen stellte im Bundesrat den Antrag, die oben erwähnten Beschlüsse aufzuheben, so dass Ernst August am 1. November 1913 die Regierung in Braunschweig antreten konnte. 22 Dieser spezifische Blick auf die Familiengeschichte einer Dynastie zeigt die fortdauernde Bedeutung genealogischer Fragen auch für das 19. Jahrhundert auf. 18 19 20 21
Ebd., 3 Ebd., 36–40. Ebd., 55–63. Ein Jahr vorher war der älteste Sohn Ernst Augusts gestorben, so dass nur noch der jüngere Ernst August als männlicher Prätendent dieser Linie blieb. 22 Schneider, Entstehung, 64–74
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Gleichzeitig werden die Grenzen des Prinzips dynastischer Herrschaft unter den Bedingungen des Nationalstaates deutlich. Aus der Perspektive des Nationalstaates betrachtet, erscheinen Fragen der Thronfolge meist als Episode, als momentane Problematik, die aus dem Blickfeld verschwindet, sobald ein neuer Monarch installiert ist. Die hier skizzierte Geschichte eines monarchischen Familienverbandes macht dagegen deutlich, dass der fehlende Thronfolger ein Dauerthema sein konnte. In Sachsen-Coburg-Gotha kam es nach dem Tod Ernst II. zu keiner einzigen regulären Sukzession, in der ein Sohn seinem Vater nachfolgte. Ernst August war, als er die Regierung in Braunschweig antrat, der einzige legitime Anwärter seiner Generation. Der intergenerationelle Zufall, sei es das Überleben eines Babys, sei es der Tod durch Autounfall, blieb auch im 19. Jahrhundert für regierende Familien ein maßgeblicher Faktor. Damit korrespondiert, was Fragen der Thronfolge für den Staat bedeuteten. Ein fehlender Thronfolger ist nicht ein dynastisches, sondern auch ein politisches Problem, denn Erbfolgeregeln mögen unerwünschte Implikationen haben und unwillkommene Herrscher auf den Thron hieven. Deshalb finden sich allenthalben Bemühungen, Personalunionen zu verhindern, wie das Beispiel Sachsen-Coburg-Gotha wiederum zeigt, denn der Monarch soll einem einzigen Staatswesen verpflichtet sein. In gewisser Weise emanzipiert sich der Staat vom Monarchen, der quasi reiner Amtsträger wird und nur sekundär Vertreter einer Dynastie. 23 Das Beispiel Braunschweig zeigt die Grenzen monarchischer Herrschaft unter den Bedingungen des Nationalstaates auf: Trotz eindeutiger Rechtslage in der Frage der Thronfolge wird der Anwärter nicht zugelassen, stattdessen praktiziert man eine „Monarchie ohne Monarchen.“ Damit wird aber ein Prinzip der Monarchie, durch das die Staatsspitze vermittels dynastischer Festlegung regelmäßiger politischer Kontroverse entzogen sein soll, ad absurdum geführt. Wäre die Regentschaftsregierung zu einer Dauerlösung geworden, hätte man sich praktisch auf dem Weg in eine Wahlmonarchie befunden. Der Herrscher ist unter solchen Bedingungen tatsächlich nur noch Amtsträger und kann entsprechend nach Notwendigkeit substituiert werden.
23 Ein Indikator dafür ist, dass im Laufe des Jahrhunderts in fast allen monarchischen Staaten die Erbfolge durch Parlamentsgesetz geregelt und die Frage nicht ausschließlich familiengesetzlichen Bestimmungen, wie beispielsweise Erbvereinigungen oder testamentarischen Klauseln, überlassen wird.
VON SCHARLATANEN UND GESCHICHTSREVISIONISTEN Dirk Mellies, Hamburg Wenige Wochen nach dem Beginn des Wintersemesters 2005/06 lagen im Treppenhaus des Historischen Instituts der Universität Greifswald Flyer aus, auf denen die Burschenschaft Rugia zu einem Vortrag über die Entstehungsgeschichte des Zweiten Weltkriegs einlud. Als Referent der Veranstaltung Der Krieg, der viele Väter hatte war der Generalmajor a. D. Gerd Schultze-Rhonhof vorgesehen. Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass an Hochschulen Flyer ausgelegt werden. Und anders als an westdeutschen Universitäten sind es in Greifswald bis heute auch die zahlreichen örtlichen Corps, Turnerschaften und Burschenschaften, die mit Flyern für ihre Aktivitäten werben. Abgesehen vom Titel ließ jedoch aufmerken, dass die einladende Burschenschaft Rugia in diesen Jahren deutlich aus dem Durchschnittsprofil der Greifswalder Verbindungslandschaft herausfiel. Neben dem rechtsextremen Publizisten Rigolf Henning zählten etwa 2005 die beiden NPDPolitiker Mathias (2004–2007: Bundesgeschäftsführer der Jungen Nationaldemokraten) und Stefan Rochow (2002–2007: Bundesvorsitzender der Jungen Nationaldemokraten) zu den Mitgliedern der Rugia 1. Bereits 2004 hatte die Burschenschaft mit der Einladung des selbsterklärten „Nationalmarxisten“ Reinhold Oberlerchner deutlich gemacht, dass man den Kontakt mit Extremisten nicht scheute. Weiterhin ließ der Vortragsort aufhorchen: Sollte die Veranstaltung doch in einem Hörsaal des Audimax-Gebäudes stattfinden, dem gleichen Universitätsgebäude, in dem Thomas Stamm-Kuhlmann in diesem Semester seine Überblicksvorlesung zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs hielt. Der geplante Vortrag des Generalmajors a. D. Gerd Schultze-Rhonhof konnte (und wollte?) somit als Konkurrenzveranstaltung zur Vorlesung des Universitätsprofessors verstanden werden. Tatsächlich zählt Gerd Schultze-Rhonhof neben dem Historiker Stefan Scheil zu den beiden wichtigsten Publizisten, die sich derzeit im deutschsprachigen Raum darum bemühen, ein konkurrierendes revisionistisches Geschichtsbild zur vorwiegenden Forschungsmeinung zum Zweiten Weltkrieg zu installieren. Zwar überzeugt die Argumentation der beiden Autoren fachlich nicht, allerdings scheinen Schultze-Rhonhof und Scheil auch weniger in der Fachwelt, als in der breiteren Öffentlichkeit Anhänger für ihre Thesen finden zu wollen. Im Folgenden sollen deshalb die beiden Publizisten kurz als exemplarische Vertreter eines neuen 1
Vgl. Gabriele Nandlinger, Ehre, Freiheit, Vaterland! Burschenschaften als Refugium für intellektuelle Rechtsextremisten, http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus /41765/burschenschaften-nandlinger?p=all (29.11.2012).
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Revisionismus vorgestellt werden. Am Ende werden außerdem einige Eckpunkte dargestellt, wie der Umgang mit Geschichtsrevisionisten seitens der seriösen Geschichtswissenschaft aussehen könnte. 2 1. Gerd Schultze-Rhonhof (Jg. 1939) übte bis 1996 mehrere wichtige Funktionen in der Bundeswehr aus. Bis 1994 kommandierte er die 3. Panzerdivision in Buxtehude im Rang eines Generalmajors. Zugleich war er Territorialer Befehlshaber für die Bundesländer Bremen und Niedersachsen. Spätestens seit 1995 politisierte sich Schultze-Rhonhof im Rahmen des „Soldaten sind Mörder“-Urteils des Bundesverfassungsgerichts sowie in der Affäre um den früheren CDUBundestagsabgeordneten Martin Hohmann. 1996 wurde er vorzeitig aus dem Dienst der Bundeswehr entlassen, so dass er sich seinen Privatforschungen zur Entstehung des Zweiten Weltkriegs widmen konnte. 2003 veröffentlichte er im Olzog-Verlag das mehrere hundert Seiten starke Buch Der Krieg, der viele Väter hatte. Im Vorwort legt Schultze-Rhonhof zwar offen, dass er als Laienhistoriker das Buch explizit nicht als wissenschaftlichen Beitrag verstanden wissen wolle. Gleichzeitig geht er im Vorwort zu einem Frontalangriff auf die deutsche Geschichtswissenschaft über: Diese arbeite mit „einem Tunnelblick“, nehme die Ergebnisse ausländischer Wissenschaftler nicht zur Kenntnis und sei letztendlich durch den Überleitungsvertrag von 1954 und den Zwei-Plus-Vier-Vertrag dazu gezwungen, die Geschichte aus der Sicht der Siegermächte zu schreiben. 3 Eindimensional, polemisch und bisweilen skurril geht es auch auf den nächsten Seiten weiter: Die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs beginnt bei Schultze-Rhonhof mit einer ausführlichen Schilderung der deutsch-britischen Flottenrivalität und dem Bau der Bagdadbahn. Die umfangreiche deutsche Kriegszieldiskussion nach 1914 fasst er damit zusammen, dass das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg „keine eigenen Kriegsziele“ verfolgt habe. 4 Darauf illustrieren mehrere Buchseiten die Härten des Versailler Vertrags, bis er seine These ausbreitet, dass Hitler
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Der Beitrag greift in Teilen meinen 2010 veröffentlichten Tagungsbeitrag „Geschichtsrevisionismus in Deutschland – insbesondere dargestellt am Beispiel der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs und des deutschen Überfalls auf Polen“, in: Akademia Europejska Kulice (Hg.), Deficyt demokracji czy zaklócenia w reprezentacji? – Przyczynki politologiczne do analizy prawicowego ekstremizmu w Meklemburgii-Pomorza Przedniego i Pomorzu Zachodnim, Kulice 2010, 43–65, auf. Vgl. Gerd Schultze-Rhonhof, 1939 – Der Krieg, der viele Väter hatte. Der lange Anlauf zum Zweiten Weltkrieg, München 2003, 11–13. Zu Gerd Schultze-Rhonhof vgl. außerdem Knut Langewand / Dirk Mellies, Feldzug gegen die Fakten. Wie der Ex-Militär Gerd SchultzeRhonhof versucht, Adolf Hitler als Friedensaktivisten darzustellen, in: Blick nach Rechts 24/2007, Nr. 16, 8f. Ebd., 62.
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(„Mann des Friedens“ 5) bis zum Einmarsch in die „Rest-Tschechei“ ausschließlich eine Revision des Friedensvertrags betrieben habe. Seinen eigenen Ausführungen entgegenstehende Dokumente werden hierbei entweder gar nicht erwähnt oder wie etwa die Hoßbach-Niederschrift als mögliche Fälschung in Zweifel gezogen. 6 Letztendlich endet das Buch damit, dass vor allem Polen und England ein erheblicher Anteil am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zugesprochen wird. Zwar sei Polen auch Opfer der Kriegstreiberei Frankreichs, Englands, Russlands und der USA gewesen. Die „Qualen“, die der polnische Staat den nicht-polnischen Minderheiten zugefügt habe, seien jedoch „Brandbeschleuniger zum Ausbruch des Krieges“ gewesen. 7 In öffentlichen Vorträgen über sein Buch vergleicht Schultze-Rhonhof deshalb auch die Verhältnisse Vorkriegspolens mit der „humanitären Katastrophe in Jugoslawien unter Milosevic“ 8, womit er im Übrigen implizit den deutschen Überfall als humanitäre Intervention verteidigt. In der ersten Auflage des Buches erfindet er außerdem die Zahl von 557.000 polnischen Juden, die nach 1933 vor polnischen Verfolgungen im nationalsozialistischen Deutschland Zuflucht gesucht hätten. 9 Dass sich stattdessen seit der Machtübertragung die Zahl der nach den rasseideologischen Kriterien der Nürnberger Gesetze bestimmten Zahl von überhaupt nur 566.000 Juden in Deutschland durch Emigration stetig vermindert hatte, findet keine Erwähnung. Die Zahlen Schultze-Rhonhofs entbehren jeder Grundlage und legen genauso wie die Aussage, dass der Novemberpogrom von 1938 durch Volkes Zorn („Feuer der Entrüstung“) entfesselt wurde 10, eine antipolnische sowie auch eine antisemitische Tendenz offen. Die Thesen und die dazugehörigen Argumente Schultze-Rhonhofs sind dabei eigentlich nichts Neues, greifen sie doch nur ältere revisionistische Arbeiten, wie etwa David Hoggans im rechtsextremen Grabert-Verlag bereits seit den sechziger Jahren verlegtes Buch Der erzwungene Krieg auf. 11 Während seriöse Vertreter der Geschichtswissenschaft im Fußnotenapparat Schultze-Rhonhofs weitestgehend fehlen, finden sich im Literaturverzeichnis neben dem Geschichtsfälscher Hog-
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Ebd., 562. Ebd., 324f. Vgl. zum aktuellen Forschungsstand Bradley F. Smith, Die Überlieferung der Hoßbach-Niederschrift im Lichte neuer Quellen, in: VfZ 38/1990, 329–336. 7 Vgl. Schultze-Rhonhof, Der Krieg der viele Väter hatte, 552. 8 Vgl. Gerd Schultze-Rhonhof, Ein unvermeidlicher Krieg? Http://video.google.de/videoplay ?docid=319478826869706304&q=schultze-rhonhof&total=1&start=0&num=10&so=0&type =search&plindex=0 (6.10.2007). 9 Vgl. Schultze-Rhonhof, Der Krieg, der viele Väter hatte, 189. Schultze-Rhonhof verweist hier auf eine Angabe bei Jacques Benoist-Méchin. 10 Ebd, 189. Die Schilderung des Novemberpogroms legt im Übrigen nahe, dass SchultzeRhonhof hier direkt oder indirekt bei der indizierten Rechtsextremistin Ingrid Weckert Anleihen nimmt. Beide Autoren sprechen beispielsweise davon dass lediglich „177 oder 267“ der „etwa 1420“ in Deutschland vorhandenen Synagogen zerstört worden seien. Vgl. Ingrid Weckert, Feuerzeichen. Die „Reichskristallnacht“. Anstifter und Brandstifter – Opfer und Nutznießer, Tübingen 31989, 127ff. 11 Vgl. David L. Hoggan, Der erzwungene Krieg, Tübingen 1961.
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gan 12 auch andere einschlägige Autoren zweifelhaften Rufs wie der LandserheftAutor Erich Kern, der Holocaustleugner Paul Rassinier sowie etwa Joachim von Ribbentrop, Jacques Benoist-Méchin, Heinz Magenheimer und Dirk Bavendamm. Die Vorgehensweise der Argumentation von Schultze-Rhonhofs entlarvt sich somit bereits nach einer rein formalen Prüfung: Seriöse Vertreter der Geschichtswissenschaft werden im Vorfeld als parteiisch diskreditiert, Originalquellen weitestgehend ausgeblendet (schließlich seien auch die Akten zur deutschen auswärtigen Politik möglicherweise von den Siegermächten manipuliert worden!) 13 und an Sekundärliteratur werden vor allem Autoren des überschaubaren revisionistischen Zitiernetzwerks verwendet. In der Fachwelt fand die Arbeit von Schultze-Rhonhof deshalb keinerlei Würdigung. Lediglich die FAZ druckte eine Rezension ab, die freilich die Abstrusitäten des Buches hervorhob. 14 Nichtsdestotrotz ist Schultze-Rhonhof mit seinem Pamphlet bis heute überraschend erfolgreich. Allein in den ersten vier Jahren verkaufte sich das Buch nach eigenen Angaben mehr als 27.000 Mal 15 – und damit wohl häufiger als jedes andere Buch zur Geschichte des Kriegsausbruchs. Neben einer siebten Auflage des Olzog-Verlags gibt es den Krieg, der viele Väter hatte inzwischen sogar als Hörbuch. Dazu finden sich seine Vorträge in diversen Videodateien im Internet. Jüngstes Video ist ein Mitschnitt seines Auftritts bei der Anti-Zensur-Konferenz des Schweizer Laienpredigers und Verschwörungstheoretikers Ivo Sasek im Jahr 2011. 16 Zuletzt hat der Generalmajor a. D. außerdem die Internetseite Vorkriegsgeschichte.de online gestellt, welche die wesentlichen Kapitel des Buches frei zugänglich macht. 17 Sowohl auf der Internetseite als auch in einem 2007 veröffentlichten Interview mit der rechtskonservativen Zeitschrift Sezession legt Schultze-Rhonhof die Strategie seiner breit angelegten Medienoffensive offen. In der Adaption der Strategie der Neuen Rechten, eine „Kulturrevolution von rechts“ durchzuführen,18 12 Bereits frühzeitig haben seriöse Historiker auf Quellenfälschungen bei Hoggan hingewiesen. Vgl. Hermann Graml, David L. Hoggan und die Dokumente, in: GWU 14/1963, 492–514 und Gotthard Jasper, Über die Ursachen des Zweiten Weltkriegs. Zu den Büchern von A. J. P. Taylor und David L. Hoggan, in: VfZ 10/1962, 311–340. 13 Vgl. Schultze-Rhonhof, Der Krieg, der viele Väter hatte, 12. 14 Vgl. Christian Hartmann, Im Generalsblick. Abstruses zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs, in: FAZ vom 26.11.2003. 15 Vgl. Interview mit Gerd Schultze-Rhonhof, in: Sezession 5/2007, Nr. 17, 16. 16 Vgl. Mitschnitt des Vortrags „Der Krieg, der viele Väter hatte“ am 29. Oktober 2011 auf der sogenannten Antizensurkonferenz, http://anti-zensur.info/index.php?page=azk7# (23.12. 2012). Neben anderen Geschichtsrevisionisten wie Bernhard Schaub, Michael Vogt und der Rechtsanwältin des Holocaustleugners Ernst Zündel, Sylvia Stolz, kamen bei der jährlich ausgerichteten Konferenz bisher u. a. Impf-, Mobilfunkstrahlen- und Gentechnikgegner, Klimawandel- und Mondlandeskeptiker, Vertreter der „neuen Germanischen Medizin“ und der Vorsitzende der Schweizer Scientology-Kirche zu Wort. 17 Vgl. die Internetseite www.vorkriegsgeschichte.de (12.01.2013). 18 Vgl. zur Strategie einer „Kulturrevolution von rechts“, die vor allem aus der Übernahme entsprechender Theorien des marxistischen Theoretikers Antonio Gramsci durch den franzö-
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zielt er nämlich darauf ab, über das Herantreten an Schüler, Studenten und Lehrer den „Gymnasial- und Universitätsbetrieb eines Tages in der Geschichtslehre von unten her“ neu zu gestalten. Dafür bedürfe es „der heute Zehn- bis Zwanzigjährigen.“ 19 Es verwundert deshalb nicht, dass im Onlineforum des neurechten ThinkTanks Institut für Staatspolitik 20 Wortbausteine der Internetseite wie Schüler, Student, Lehrer, Referat, Schularbeiten, Hausaufgaben, Seminar- und Magisterarbeiten als taktisch geschickt gelobt werden. 21 Dass Schultze-Rhonhof mit seiner Strategie bedingt erfolgreich ist, legen nicht nur die Verkaufszahlen des Kriegs, der viele Väter hatte sowie vereinzelte positive Rezensionen in Lokalzeitungen 22 nahe, sondern auch die Tatsache, dass er 2008 ein weiteres Buch herausgab. Das deutsch-tschechische Drama: Errichtung und Zusammenbruch eines Vielvölkerstaats als Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg, das ebenfalls vom Olzog-Verlag verlegt wird, 23 folgt dem gleichen Muster: Das einleitende Zitat von Jan Hus „Wahrheit siegt, aber sie kann nur siegen, wenn sie gesagt wird“ gibt die Stoßrichtung vor. Seriöse Autoren im Fußnotenapparat sind wieder Mangelware, stattdessen orientiert sich Schultze-Rhonhof erneut an Autoren zweifelhaften Rufs wie Dirk Bavendamm, Paul Rassinier und Annelies von Ribbentrop. Ein erheblicher Teil seiner Fußnoten verweist wie bei Der Krieg, der viele Väter hatte auf den französischen Publizisten und Vichy-Kollaborateur Jacques Benoist-Méchin. 24 Quellenbelege werden zwar häufiger angegeben, allerdings dominieren Quellensammlungen aus der NS-Zeit. 25 Auch die Argumentation ist weitestgehend apologetisch: So wird darauf verwiesen, dass ein Großteil der
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sischen Vordenker der Neuen Rechten, Alain de Benoist, formuliert wurde, Armin PfahlTraughber, Die Umwertung der Werte als Bestandteil einer Strategie der Kulturrevolution, in: Wolfgang Gessenharter / Thomas Pfeiffer (Hgg.), Die Neue Rechte – eine Gefahr für die Demokratie? Wiesbaden 2004, 73–94, hier 75–81. Vgl. Interview mit Gerd Schultze-Rhonhof, in: Sezession 5/2007, Nr. 17, 17. Vgl. zum Institut für Staatspolitik und dessen Zeitschrift Sezession Anton Maegerle, Blätter gegen Zeitgeist und Dekadenz. Profile und Beziehungen neurechter Periodika an Beispielen, in: Gessenharter / Pfeiffer (Hgg.), Die Neue Rechte, 199–209, hier 202f. Vgl. den entsprechenden Eintrag des Nutzers „Kiepenkerl“ vom 22.2.2007 im Forum der Homepage des Instituts für Staatspolitik, http://www.staatspolitik.org/?p=126 (6.10.2007) bzw. die Startseite von www.vorkriegsgeschichte.de (13.01.2013). Vgl. beispielsweise die positive Rezension von Hans Krump zu Der Krieg, der viele Väter hatte in der Märkischen Oderzeitung vom 1./2.11.2003. Vgl. Gerd Schultze-Rhonhof, Das deutsch-tschechische Drama: Errichtung und Zusammenbruch eines Vielvölkerstaats als Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg, München 2008. Vgl. etwa ebd. die Fußnoten 145, 147, 179, 180, 181, 182, 192, 219, 224, 238, 240, 251, 253, 266, 271, 273, 286, 294, 321, 325, 334, 336, 341, 342, 350 und 351, die sich alle auf Jacques Benoist-Méchin, Auf dem Weg zur Macht 1925–1939, Die Sudetenkrise, Oldenburg 1967 beziehen. Vgl. etwa ebd. die Quellenvereise in den Fußnoten 35, 45, 60, 61, 62, 63, 65, 81, 85, 119, 131, 160, 202 und 212, die sich auf Rudolf Jung, Die Tschechen: Tausend Jahre deutschtschechischer Kampf, Berlin 21937 sowie in den Fußnoten 184, 185, 188, 242, 258, 259, 261, 262, 265, 282, 283, 284, 290, 301, 303, 304 und 308, die sich auf Friedrich Berber, Europäische Politik 1933–1938 im Spiegel der Prager Akten, Bd. VIII, Essen 31942 beziehen.
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Denunziationen in der deutschen Besatzungszeit von tschechischen Bürgern erfolgte, die Wirtschaft zwischen 1938 und 1945 wuchs, während die Arbeitslosigkeit sank 26 und Angriffskriege ja völkerrechtlich generell erlaubt gewesen seien. 27 Auch versucht Schultze-Rhonhof wieder an einigen Stellen seiner Argumentation entgegenstehende Dokumente als nachträgliche Fälschungen der Siegermächte zu entlarven. Schließlich hätten sich die Akten der Nürnberger Prozesse in „amerikanischem und danach bis 1956 in englischem Gewahrsam“ befunden. Passagen, welche die NS-Führung belasten, hätten somit auch nach 1945 eingefügt werden können. 28 Schließlich finden sich erneut antisemitisch zu wertende Tendenzen: Etwa in der Aussage, dass die Juden zwar nicht direkt zum Zerfall des tschechischen Staates beigetragen hätten, doch als freilich „Juden in der Presse der Tschechei ihre Verbitterung über das Dritte Reich zum Ausdruck [brachten], dies politisch das deutsch-tschechische Verhältnis [belastete].“ 29
Im Großen und Ganzen bemüht sich Schultze-Rhonhof den deutschen Einmarsch von 1938 zu relativieren. So habe Hitler nichts anderes gemacht, als die Engländer in Ägypten und die Siegermächte von 1918 mit den Danzigern, Memelländern und Südtirolern. 30 Zwar fand auch dieses Buch keinen Eingang in den fachwissenschaftlichen Diskurs. 31 Dass der Strategie mit solchen Publikationen, den „Gymnasial- und Universitätsbetrieb eines Tages in der Geschichtslehre von unten her“ neu zu gestalten, durchaus Teilerfolge beschieden sind, zeigt sich nicht nur darin, dass die Landsmannschaft Ostpreußen 2012 Gerd Schultze-Rhonhof den Kulturpreis im Bereich Wissenschaft verliehen hat, sondern auch, dass der Landesvorsitzende des Bayerischen Geschichtslehrerverbands den Titel auf der Internetseite des Verbands mit dem Prädikaten „lesenswert“ und „anregend“ empfiehlt. 32 2. Weniger plump als Schultze-Rhonhof, jedoch mit ähnlicher Zielsetzung, geht der Historiker Stefan Scheil (Jg. 1963) seit einigen Jahren vor. Scheil, dessen Bücher ebenfalls im Fußnotenapparat von Schultze-Rhonhof auftauchen, fand bereits
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Vgl. Schultze-Rhonhof, Das deutsch-tschechische Drama, 344. Ebd., 199. Vgl. z.B. ebd., 188–190 und 323f. Ebd., 24. Ebd., 351. Lediglich in der FAZ erschien wieder eine Rezension, die klarstellte, dass Gerd SchultzeRhonhofs Argumentation Klischees bediene, „die von rechtsradikaler Seite hochgehalten werden“. Vgl. Rainer F. Schmidt, Adolf der Vertragstreue, in: FAZ vom 6.5.2009. 32 Vgl.http://www.bayerischergeschichtslehrerverband.de/bglv/index.php?pid=12&sub=1&id=4 2&ret_url=http%3A%2F%2Fwww.bayerischergeschichtslehrerverband.de%2Fbglv%2Findex .php%3Fpid%3D5%26sub%3D1%26items%3D200 (22.12.2012).
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2003 in der rechtskonservativen Zeitung Junge Freiheit wohlwollende Worte für den Krieg, der viele Väter hatte 33 und trat im Folgenden auch gemeinsam mit Gerd Schultze-Rhonhof auf Vorträgen auf. So etwa 2006 auf der Veranstaltung Wollte Adolf Hitler den Krieg? der beiden rechtsextremen Verleger Wigbert Grabert und Gert Sudholt. Videos der Vorträge sind u. a. bei Youtube abrufbar und können als DVD erworben werden. 34 Anders als Gerd Schultze-Rhonhof ist Stefan Scheil vom Fach. 1996 promovierte er mit einer wahlgeschichtlichen Studie über die Antisemitenparteien im Kaiserreich. 35 Seit 1999 legte er jedoch mehrere revisionistische Schriften vor, die sich mit der Entstehungsgeschichte des Zweiten Weltkriegs, der Präventivkriegsthese, Winston Churchill, der Wehrmachtsausstellung und allgemein dem Thema Revisionismus auseinandersetzen. 36 Bemerkenswert ist, dass seine Bücher u. a. im seriösen Wissenschaftsverlag Duncker & Humblot verlegt worden sind und er bis heute neben seiner Mitarbeit bei der Jungen Freiheit einzelne Artikel in der FAZ veröffentlicht. Im Kern unterstellen seine Arbeiten zum Zweiten Weltkrieg, dass Hitler bis ins Jahr 1940 lediglich an einer Revision der Versailler Vertragsbestimmungen interessiert gewesen sei und dessen Außenpolitik somit rational interpretiert werden müsse. Der deutsche Überfall auf Polen wird deshalb vor allem mit der Ablehnung der als moderat charakterisierten deutschen Forderungen und einem das Deutsche Reich bedrohenden Großmachtstreben Polens relativiert. Weiterhin äußert Scheil Unverständnis darüber, dass sich England im Jahr 1940 nicht mit Hitler arrangierte. Deshalb sei es vor allem Churchill, der wie die Vertreter der anderen Westmächte aus „imperiale[m] Selbstverständnis“ und „verletzter Eitelkeit“ heraus Europa in Brand gesteckt habe 37, wobei letztendlich die beiden an europäi-
33 Vgl. Stefan Scheil, Differenzierte Betrachtungen, in: Junge Freiheit vom 22.8.2003. 34 Vgl. z. B. das Angebot des Internetversanddienstes Lesen und Schenken des rechtsextremen Verlegers Dietmar Munier unter http://www.lesenundschenken.de/Filme/DVD/Wollte-Hitlerden-Krieg?xaf26a=4a3937d60bfa58fa 558c9be0aa53338c (eingesehen am 13.01.2013). Auch in der 2009 erschienenen Sondernummer 1939: Der Krieg beginnt der rechtsextremen Zeitschrift Deutsche Geschichte treten Scheil und Schultze-Rhonhof u. a. mit Walter Post und Dirk Bavendamm als Autoren auf. Vgl. Deutsche Geschichte, Sonderheft 1/2009. 35 Vgl. Stefan Scheil, Die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Deutschland zwischen 1881 und 1912. Eine wahlgeschichtliche Untersuchung, Berlin 1999. 36 Vgl. ders., Logik der Mächte. Europas Problem mit der Globalisierung der Politik. Überlegungen zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs, Berlin 1999; ders., Fünf plus Zwei. Die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkriegs, Berlin 2003; ders., 1940/41. Die Eskalation des Zweiten Weltkriegs, München 2005; ders,. Legenden, Gerüchte, Fehlurteile. Ein Kommentar zur 2. Auflage der Wehrmachtsausstellung, Graz 2003; ders., Revisionismus und Demokratie, Schnellroda 2008; ders., Churchill, Hitler und der Antisemitismus. Die deutsche Diktatur, ihre politischen Gegner und die europäische Krise der Jahre 1938/39, Berlin 2008; ders., Präventivkrieg Barbarossa. Fragen, Fakten, Antworten, Schnellroda 2011. 37 Scheil spricht in Logik der Mächte, 500 von der verletzten Eitelkeit der Westmächte, die nicht zuließen, „den Krieg beizeiten zu beenden.“ Das Kapitel II von 1940/41. Die Eskalation des
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scher Hegemonie interessierten Führer der USA und der UdSSR, Roosevelt und Stalin, die lachenden Dritten gewesen seien. Deutschland sei somit auf keinen Fall der einzige Schuldige. Die Verantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs müsse indes auf alle beteiligten Staaten gleichermaßen verteilt werden. Abgesehen von der bemerkenswerten stetigen Radikalisierung dieses Kerngedankens, der im letzten Teil der Trilogie in der altbekannten Präventivkriegsthese mündet, ist Scheils Methodik von Interesse. Die Fachrezensionen von Jost Dülffer, Hans Adolf Jacobsen, Heinz Hürten, Rolf-Dieter Müller und Manfred Zeidler kritisieren insbesondere die dünne Quellen- und Literaturlage, die Scheil für sein Szenario als „Beleg“ anführt. 38 Tatsächlich betreibt dieser kaum eigene Forschung an Archivquellen, dagegen bauen viele der Belege auf der selektiven Angabe altbekannter revisionistischer Autoren und zweifelhafter Zeitzeugen auf. Hauptkritikpunkt ist jedoch, dass Scheil ganz offen jegliche ideologische Erklärungsmuster der Hitlerschen Außenpolitik beiseiteschiebt und somit auch die verbrecherische Natur der nationalsozialistischen Herrschaft vernachlässigt. Abgesehen davon, dass es ein von der Forschung erarbeiteter Standard ist, dass Hitlers Politik wesentlich von ideologischen Motiven geprägt war 39, unterschätzt eine solche mechanische Sichtweise der Außenpolitik die vollkommen gerechtfertigten zeitgenössischen Befürchtungen der anderen europäischen Staaten. Diese nahmen den aggressiven Charakter der nationalsozialistischen Herrschaft durchaus wahr und konnten ihn spätestens mit dem Bruch des Münchner Abkommens im März 1939 auch nicht weiter ignorieren. Während Jost Dülffer noch im Jahr 2000 über den verhältnismäßig zurückhaltenden Band Logik der Mächte das Resümee traf, dass die revisionistische Argumentation nicht überzeuge, wies Hans-Adolf Jacobsen drei Jahre später in seiner Rezension zu Fünf plus Zwei darauf hin, dass Scheil entweder ein nachträgliches Opfer der pseudo-verständigungsorientierten Rhetorik Hitlers sei, oder eben zur Gruppe „jener schwer Belehrbaren [zähle], die vor allem Hitler und seine Helfershelfer exkulpieren […] wollen.“ Dass Scheil mit seinen Arbeiten vor allem eine Apologie der deutschen Politik unter nationalsozialistischer Herrschaft betreibt, wird an mehreren Stellen deutlich. Während beispielsweise in Deutschland immer
Zweiten Weltkriegs, 31–55 ist mit der Überschrift „Europa in Brand stecken – Winston Churchills Strategie“ betitelt. 38 Vgl. die Rezensionen zu Logik der Mächte von Jost Dülffer in der HZ 271/2000 Heft 1, 258– 260, zu Fünf plus Zwei von Heinz Hürten, in: MGZ 63/2004 Heft 1, 231–233 und von HansAdolf Jacobsen, in: FAZ vom 8.8.2003 sowie zu 1940/41. Die Eskalation des Zweiten Weltkriegs von Rolf-Dieter Müller, in: FAZ vom 22.6.2006 und von Manfred Zeidler, in: Totalitarismus und Demokratie 3/2006 Heft 2, 392–402. 39 Vgl. hierzu zusammenfassend Andreas Hillgruber, Der Zweite Weltkrieg 1939–1945. Kriegsziele und Strategie der großen Mächte, Stuttgart 61996; ders.: Deutschlands Rolle in der Vorgeschichte der beiden Weltkriege, Göttingen 31986; Wilhelm Deist et al. (Hgg.), Ursachen und Voraussetzungen des Zweiten Weltkrieges, Stuttgart 1994; Klaus Hildebrand (Hg.), 1939: Die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs und das internationale System, Berlin 1990; ders.: Deutsche Außenpolitik 1933–1945: Kalkül oder Dogma, Stuttgart 51990.
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„Nationalsozialisten“ oder das „NS-Regime“ als negativ zu bewertende Akteure auftreten, wird in punkto Polen kaum differenziert. Militärische Offensivplanungen und expansionistische Überlegungen einzelner Personen und Gruppen wie der Nationaldemokraten gelten dann grundsätzlich als „polnisch“. Während die offizielle, spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Germanisierungspolitik gegenüber Polen keine Erwähnung findet, stilisiert Scheil den „polnischen Westgedanken“ zum „bis dahin einzigartige[n] radikal (...) nationalistisch-völkische[n] Expansionsprogramm.“ 40 Auch an anderen Stellen wird die kriminelle deutsche Politik nach 1933 mit Verweis auf Polen relativiert. Die Konferenz von Evian, die 1938 auf Ansinnen Roosevelts über das Schicksal der jüdischen Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich beriet, erscheint so bei Scheil als eine Tagung, die zur Verhandlung der Vertreibung der 3,3 Millionen Juden aus Polen angesetzt wurde. 41 Für den Novemberpogrom von 1938 seien schließlich auch nicht Goebbels und Hitler verantwortlich zu machen, sondern die polnische Regierung. Diese habe ja den in Deutschland lebenden polnischen Juden die Staatsbürgerschaft entzogen, was wiederum zum Attentat Herschel Grynspans auf Ernst vom Rath führte und damit „den Anlaß für die Reichskristallnacht lieferte.“ 42 Um dem hier implizierten Popanz, dass Scheil in diesem Zusammenhang irgendetwas Neues verkünden würde, gleich entgegenzuwirken, sei neben anderen etwa auf den Beitrag von Trude Maurer im Sammelband Der Judenpogrom 1938. Von der Reichskristallnacht zum Völkermord zu verweisen, in dem detailliert die Vorgeschichte dieser Abschiebung geschildert wird. Somit ist auch festzustellen, dass Scheil in seiner Darstellung eine unangemessene Verkürzung vornimmt. Die betroffenen Juden polnischer Staatsbürgerschaft lebten zumeist seit spätestens 1918 in Deutschland, mehr als 40% waren bereits im Reich geboren und einige hatten sogar schon die deutsche Staatsbürgerschaft besessen, waren aber nach 1933 wieder ausgebürgert worden. 43 Die Verweigerung der polnischen Regierung, diese Personengruppe einreisen zu lassen, ist selbstverständlich als antijüdische Politik zu bewerten, die mehrheitlich antijüdische Grundhaltung im Polen der dreißiger bis in die sechziger Jahre ist allerdings schon in dutzenden von Veröffentlichungen vertiefender behandelt worden. 44 Den Antisemitismus in Polen mit dem in Deutschland zu
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Vgl. Scheil, Fünf plus Zwei, 89. Ebd., 58f. Ebd., 60. Vgl. Trude Maurer, Abschiebung und Attentat. Die Ausweisung der polnischen Juden und der Vorwand für die Kristallnacht, in: Walter H. Pehle (Hg.), Der Judenpogrom 1938. Von der Reichskristallnacht zum Völkermord, Frankfurt am Main 1988, 52–73. 44 Vgl. beispielsweise den Sammelband von Robert Blobaum (Hg.), Antisemitism and its opponents in modern Poland, Ithaca, NY 2005; den Aufsatz von Emanuel Melzer, Antisemitism in the last Years of the Second Polish Republic, in: Yisrael Gutman u. a. (Hgg.), The Jews of Poland between two World Wars, Hanover und London 1989, 128–137; die bemerkenswerte Mikrostudie von Beate Kosmala, Juden und Deutsche im polnischen Haus. Tomaszów Mazowiecki 1914–1939, Berlin 2001; vgl. auch die in der deutschen und polnischen Öffentlichkeit
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„verrechnen“, ist somit für die Erklärung des Novemberpogroms und der damit einhergehenden Radikalisierung der Entrechtung der deutschen Juden wenig ertragreich. Die Ausweisung als „Anlaß“ zu bezeichnen, stellt zudem eine Verbiegung der Faktenlage dar, die Bezeichnung „Vorwand“ käme den Ereignissen sehr viel näher. Bei der Bewertung des Kriegsbeginns tappt Scheil schließlich vollends in die Falle der zeitgenössischen deutschen Propaganda. Konkreter Auslöser für den Überfall auf Polen seien nämlich die wiederholten Grenzübergriffe polnischer Truppen gewesen, wobei er immerhin geschickt genug ist, hierbei den fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz auszusparen bzw. nicht Hitler, sondern der SS anzulasten. 45 Natürlich wird ebenso die Gewalt gegenüber der deutschen Minderheit verzerrt dargestellt. Antideutsche Ausschreitungen stellen demnach nicht Racheakte in Reaktion auf den deutschen Überfall selbst dar, sondern seien stattdessen Folge einer ethnischen Säuberungspolitik, die offensichtlich auch ohne den Krieg durch einen nicht weiter erläuterten Automatismus in Gang gesetzt worden wäre. 46 Dass bis zum Kriegsende rund 5,5 bis 6 Millionen Polen (darunter ca. die Hälfte Juden) durch Kampfhandlungen und systematische Vernichtungsaktionen von deutscher Seite ums Leben kamen, findet dagegen an keiner Stelle Erwähnung. Überhaupt suggeriert Scheil, dass die Totalisierung des Krieges von alliierter Seite in Gang gebracht worden sei. Im dritten Band seiner Trilogie versteigt er sich zu der implizierten Behauptung, dass der Euthanasieerlass Hitlers als Reaktion auf alliierte Hungerplanungen zu verstehen sei. 47 In der geschickten Verzahnung von Zitaten aus dem Pamphlet des New Yorker Kartenverkäufers Theodore Kaufmann, „Germany must perish“, mit den Aussagen alliierter Politiker, legt er zudem nahe, dass Kaufmann möglicherweise doch kein isolierter Außenseiter gewesen sei und man die Radikalisierung der Judenvernichtung auch als Reaktion auf derartige Schriften verstehen könne. 48 Interessant ist, dass Scheil nicht nur mittels seiner Bücher versucht, seine Thesen stärker in der Öffentlichkeit zu verankern. Hierbei bedient er sich ähnlich wie Schultze-Rhonhof dem Medium des Internets. Auf seiner eigenen Homepage Symposium.org bewirbt er nicht nur seine Bücher, sondern reagiert auch etwa zeitnah auf Kritik. Hierbei hat er sich insbesondere auf die Verfasser seines Wikipedia-Eintrags, auf den Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller und den leitenden Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte in der Tageszeitung Die Welt, Sven Felix Kellerhoff, eingeschossen. 49 Nach mehreren kritischen Artikeln über Stefan
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breit diskutierte Studie über den Pogrom in Jedwabne von Jan Tomasz Gross, Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001. Vgl. Scheil, Fünf plus Zwei, 101–104. Ebd., 60f. Vgl. Scheil, Eskalation, 338. Ebd., 341–353, hier vor allem 345. Vgl. das Editorial seiner Homepage, http://www.symposion.org/Editorial.htm (23.12.2012).
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Scheil in der Welt 50 unterstellte dieser Kellerhoff nicht nur Inkompetenz, sondern diffamierte ihn u. a. als „Stalins Mann.“ 51 Neben seiner Homepage betreibt Scheil mit Vernichtungskrieg.de, laut Eigenwerbung „dem Online-Portal zur Zeitgeschichte“, eine weitere Internetseite. Hier finden sich neben kleineren lexikalischen Beiträgen zu Stichwörtern wie „Alleinschuld“, „Kommissarbefehl“ und „Wehrmachtsausstellung“ ebenfalls Auszüge seiner Schriften sowie einige Buchbesprechungen. 52 Wie bei Schultze-Rhonhof wird also auch bei Scheil die Strategie erkennbar, außerhalb der Fachöffentlichkeit, in der er mit Ausnahme der äußerst kritischen Rezensionen keinerlei Rezeption erfährt, mittels einer breit angelegten Medienoffensive wahrgenommen zu werden. 3. Wie soll die Geschichtswissenschaft mit revisionistischen Autoren vom Schlage eines Gerd Schultze-Rhonhof oder eines Stefan Scheil umgehen? 53 Im eingangs erwähnten Fall in Greifswald hatte 2005 das Rektorat kurzfristig entschieden, der Burschenschaft die Universitätsräumlichkeiten wieder zu entziehen. Der Vortrag von Schultze-Rhonhof musste deshalb ins Verbindungshaus der Rugia verlegt werden. 54 Allerdings hatten hierauf mehrere Stimmen aus der Universitätsverwaltung sowie auch einige Studenten mit Unverständnis reagiert. Dabei war die Entscheidung des Rektorats folgerichtig. Schließlich kommt eine intensivere Beschäftigung mit den Schriften Gerd Schultze-Rhonhofs entweder zum Ergebnis, dass dieser nach fachlichen Kriterien äußerst mangelhaft gearbeitet hat oder sein Erkenntnisinteresse eben kein wissenschaftliches ist. Hätte man Schultze-Rhonhof allerdings den Hörsaal überlassen oder ihn gar – wie es damals mancher gefordert hat – mit einer Diskussion auf Augenhöhe zusätzlich aufgewertet – dann müsste man in gleicher Argumentation Wünschelrutengänger, Hohlweltenthusiasten, Kreationisten und andere Scharlatane in und an die Universitäten lassen. In solchen Fällen muss Wissenschaft jedoch klare Grenzen ziehen, um nicht eigene Standards zu unterminieren. Etwas schwieriger erscheint freilich der Umgang mit jemandem wie dem Historiker Stefan Scheil. Anders als Schultze-Rhonhof imitiert dieser nicht nur wissenschaftliches Arbeiten. Stattdessen bewegt er sich fortlaufend an der Grenze
50 Vgl. z.B. Sven Felix Kellerhoff, Was gibt es Neues vom Weltkrieg? In: Die Welt vom 18.5.2011 und ders., Allein Hitler war am Zweiten Weltkrieg schuld, in: Die Welt vom 1.9.2011. 51 Vgl. Stefan Scheil, Stalins Mann in der Welt, http://www.sezession.de/25165/stalins-mannin-der-welt.html (23.12.2012). 52 Vgl. die Internetseite www.vernichtungskrieg.de (23.12.2012). 53 Vgl. hierzu auch ausführlich den folgenden Beitrag von Knut Langewand. 54 Vgl. Staatsschützer werfen Schatten auf Rugia, in: OZ vom 25.11.2005.
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dessen, was noch wissenschaftlichen Standards entspricht. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass Fachwissenschaftler wie Jost Dülffer, Hans Adolf Jacobsen, Heinz Hürten, Rolf-Dieter Müller und Manfred Zeidler die Publikationen von Stefan Scheil entsprechend einordnen und deutlich machen, dass hier Außenseiterpositionen vertreten werden, die aus fachwissenschaftlicher Sicht kaum mehr nachvollziehbar sind. Manfred Zeidler hat vollkommen zu Recht in seiner Rezension zu 1940/41. Die Eskalation des Zweiten Weltkriegs darauf hingewiesen, dass der aktuelle Stand der historischen Forschung immer wieder einer Revision „mit gegebenenfalls neuen Interpretationsmustern“ unterzogen werden muss. Um überzeugen zu können, muss ein revisionistischer Ansatz freilich auf einem „empirisch überzeugenden Fundament, logischer Stimmigkeit und einer sauberen Methodik im Umgang mit den Quellen beruhen.“ 55 Aufgrund diesbezüglicher Mängel hat Scheils Argumentation die Fachrezensenten nicht überzeugen können. Sorgen entsprechende Fachrezensionen dafür, dass die Thesen eines Stefan Scheil keine Rezeption in der Fachwelt erfahren, muss konstatiert werden, dass in der breiteren Öffentlichkeit Fachstimmen nur wenig Gehör finden. Deshalb tragen Fachleute durchaus die Verantwortung, in Maßen auch außerhalb des engen Resonanzraums der Fachöffentlichkeit Stellung zu beziehen. Dies kann und muss nicht unbedingt so spektakulär wie 2000 im Fall des Prozesses Irving versus Lipstadt geschehen, bei dem die Expertise von Richard Evans, Christopher Browning, Peter Longerich, John Keegan, Yehuda Bauer und anderen mit aller Deutlichkeit David Irving der Geschichtsfälschung überführte 56 und ihn selbst bei seinen Anhängern und Lesern zu einer Witzfigur machte. Da angesichts der zunehmenden Bedeutung des Internets die Gefahr wächst, dass sich der fachwissenschaftliche Diskurs mehr und mehr von dem der breiteren Öffentlichkeit entfremdet, erscheint es umso wichtiger, dass sich eine ihrer aufklärerischen Funktion bewusste Zeitgeschichtsschreibung der Herausforderung stellt, auch den Raum des Internets für sich zu nutzen. Dies kann beispielsweise bedeuten, dass die Zeitgeschichtsschreibung das Internet stärker als bisher zur Veröffentlichung von Fachaufsätzen nutzt. Dies kann aber auch heißen, selber in kalkulierten Dosen auf randständige revisionistische Argumentationen einzugehen, um hierüber etwa den tagtäglich, dutzendfach in diversen Internetforen geführten geschichtspolitischen Diskussionen etwas Schützenhilfe zu geben. Dies muss nicht im Übermaß geschehen und sollte auf gar keinem Fall im Mittelpunkt fachwissenschaftlicher Arbeit stehen. Zudem ist es vollkommen ausreichend, in solchen Fällen ausschließlich auf fachliche Standards der Methoden der Quellenkritik, die empirischen Faktenlage und die Schlüssigkeit der Argumentation zu verweisen.
55 Vgl. Zeidler, 393. 56 Vgl. zum Prozess Eva Menasse, Der Holocaust vor Gericht. Der Prozess um David Irving, Berlin 2000; Richard Evans, Der Geschichtsfälscher. Holocaust und historische Wahrheit im David-Irving-Prozess, Frankfurt am Main und New York 2001; Deborah Lipstadt, History on Trial: My Day in Court with a Holocaust denier, New York 2006. Unter http://www.hdot. org/trial sind sämtliche Prozessunterlagen einsehbar (24.12.2012).
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Dass das durchaus erfolgreich ist, zeigt sich gerade etwa an Autoren wie Stefan Scheil und Gerd Schultze-Rhonhof. Stellten deren Wikipedia-Artikel bis etwa 2006 weitestgehend unkritische Werbeplattformen dar, bauten in den letzten Jahren diverse Wikipedia-Beiträger mithilfe online zu findender Fachrezensionen diese Artikel so um, dass ein Leser nun schnell eine fachliche Einordnung beider Autoren vornehmen kann. 57 Trotz heftigster Wortgefechte auf den Diskussionsseiten vermag es Wikipedia, hier und bei anderen Beiträgen ein überraschend hohes und vor allem sachgerechtes Niveau zu halten. Gleichzeitig sind es vor allem die Wikipedia-Beiträge sowie die dort verlinkten Fachrezensionen (und eben nicht die gedruckten Monographien etwa Andreas Hillgrubers oder Klaus Hildebrands!), die wiederum in den diversen Internetgeschichtsforen bei der Diskussion um Kriegsschuld, Präventivkriegsthese, vermeintlichen Reparationszahlungen usw. als argumentative Stütze eingesetzt werden und häufig diese Diskussionen auch zum Abschluss bringen. Dass Autoren wie Stefan Scheil und Gerd Schultze-Rhonhof mehr und mehr dazu übergehen, ihre Thesen auf eigenen Internetplattformen wie Vernichtungskrieg.de, Symposium.org oder Vorkriegsgeschichte.de zu veröffentlichen, stellt somit nicht nur eine scharfsinnige Strategie dar, den „Gymnasial- und Universitätsbetrieb eines Tages in der Geschichtslehre von unten her“ neu zu gestalten. Stattdessen kann man solche Bemühungen auch als erneutes Scheitern werten. Denn diese Autoren haben es eben nicht geschafft, auf einer Internetseite wie Wikipedia als Fachleute ernstgenommen zu werden. 58
57 Vgl. die beiden Artikel unter http://de.wikipedia.org/wiki/Stefan_Scheil und http://de.wiki pedia.orgwiki/Gerd_Schultze-Rhonhof (24.12.2012). Über die dazu gehörige Diskussionsseite und die „Versionsgeschichte“-Funktion ist die laufende Fortentwicklung der Beiträge nachvollziehbar. Auch Artikel über andere revisionistische Autoren sind inzwischen von recht guter Qualität. Zwar sind diese Beiträge immer wieder von Artikelvandalismus betroffen, es erfolgt jedoch gewöhnlich innerhalb weniger Minuten eine Korrektur. Wikipedia hat diesbezüglich einen bemerkenswerten Qualitätssicherungsstandard erreicht. 58 Dass revisionistische und rechtsextreme Positionen sich auf Wikipedia nicht durchsetzen konnten, hat u. a. dazu geführt, dass bereits 2006 in Schweden das rechtsextreme Gegenportal Metapedia online gestellt wurde. Seit 2007 gibt es eine deutschsprachige Version mit inzwischen über 37.000 Artikeln, die eine rechtsextreme Gegenöffentlichkeit suggeriert. Vgl. die Startseite unter http://de.metapedia.org (12.01.2013).
‚KEEPING THE LUNATICS OUT‘ Geschichtswissenschaftliche Praxis zwischen Postmoderne und Rechtsrevisionismus Knut Langewand, Warwick Anlässlich einer Greifswalder Tagung zur Verantwortung des Historikers gegenüber Wissenschaft und Gesellschaft 1 trat der britische Historiker und Geschichtsphilosoph Keith Jenkins in einem Referat über den „unwiederbringlichen Zusammenbruch von Geschichte und Ethik“ für das Projekt einer postmodernen Geschichte ein. 2 Dem Postmodernismus gehe es ausdrücklich um „Tode“: etwa den der Epistemologie, der Ethik und nicht zuletzt der Historie. Geschichte könne „absolut alles sein, was von ihr verlangt werde“, die Vergangenheit auf jede beliebige Art historisiert werden. 3 Für die Anhänger der etablierten Geschichtswissenschaft und mögliche Probleme mit seinem postmodernen Ansatz hat Jenkins nicht viel übrig: „Concerns about a paralyzing nihilism, a licence-to-do-anything relativism and an individualism-gone-mad-solipsism (…) are rehearsed endlessly. What about truth, objectivity, the facts (…), honesty, disinterestedness, neutrality and the study of the past for its own sake; what of our ethical obligations to the dead? (…) I think all these concerns and ‚solutions‘ are just unnecessary.“ 4
Auch einer potentiellen Vermittlung zwischen ‚traditioneller‘ und postmoderner Geschichte erteilte er eine Absage: „What all (…) attempts that try – in the end – to sustain modernity’s old empirical/epistemological concerns against the ‚excesses‘ and ‚extremism‘ of a fully-fledged postmodernism just don’t get, just don’t understand, is that postmodernism just is its excesses;
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Tagungsbericht Wahre Geschichte - Geschichte als Ware. Die Verantwortung des Historikers gegenüber Wissenschaft und Gesellschaft. 12.01.2006–14.01.2006, Greifswald, in: H-Soz-uKult, 01.02.2006, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1046. Keith Jenkins, The End of the Affair: On the Irretrievable Breakdown of History and Ethics, in: Christian Lübke u. a. (Hgg.): Wahre Geschichte - Geschichte als Ware. Die Verantwortung der historischen Forschung für Wissenschaft und Gesellschaft (Beiträge einer internationalen Tagung vom 12. bis 14. Januar 2006 im Alfried-Krupp-Wissenschaftskolleg Greifswald), Rahden 2007, 27–36 (erneut in: Keith Jenkins, At the Limits of History. Essays on Theory and Practice, London 2009, 245–254). Ebd., 27f. Ebd., 30f.
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Knut Langewand just is its extremes; postmodern is everything that modernity cannot ever be. (…) There is no need for nostalgia here, we can all be thoroughly postmodern.“ 5
In der sich an Jenkins’ Vortrag anschließenden, turbulenten Diskussion stellte Thomas Stamm-Kuhlmann diesem ohne Umschweife die Frage „But how do you keep the lunatics out?“ Stamm-Kuhlmanns Frage, die dahinterstehenden Überlegungen und – so steht zu vermuten – Befürchtungen hatten einen tagesaktuellen Bezug: Erst kurz zuvor, im November 2005, hatte ein geplanter Vortrag des Autors und Ex-Generals Gerd Schultze-Rhonhof für Schlagzeilen an der Greifswalder Universität gesorgt: Schultze-Rhonhof sollte im Auditorium Maximum über sein Buch 1939 – Der Krieg der viele Väter hatte und die angeblich neuen, grundstürzenden Erkenntnisse zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sprechen (siehe dazu Dirk Mellies’ Beitrag in diesem Band). Erst in letzter Minute und auf inneruniversitären und öffentlichen Druck hatte die Universitätsleitung entgegen der zuvor ausgesprochenen Zusage die von einer Burschenschaft organisierte Veranstaltung abgesagt. 6 Was hat nun die Beschäftigung der akademischen Geschichtswissenschaft mit postmodernen, d. h. radikal relativistischen Konzepten einerseits mit der Auseinandersetzung zwischen seriöser Geschichtsforschung und rechtsrevisionistischer Pseudohistorie andererseits zu tun? Erstens hat Stamm-Kuhlmann selbst in einer Erörterung von Wirklichkeit, Aufklärung und Relativismus hervorgehoben, dass die „Möglichkeit, an Gerechtigkeit zu appellieren, an die Existenz von Wahrheit gebunden“ 7 ist, und sich gegen relativistische Positionen eines „extreme[n] Pantextualismus“8 gewandt. Aus der Betonung von Wahrheit und Aufklärung heraus erklärt sich zudem StammKuhlmanns Gegnerschaft zu esoterischen 9 und – nicht zuletzt – rechtsrevisionistischen Strömungen. Zweitens haben gerade solche Historiker, die sich intensiv mit Positionen des Rechtsrevisionismus bzw. dessen radikalster Ausprägung, der Holocaustleugnung, auseinandergesetzt haben, darauf hingewiesen, dass die Wiederbelebung solcher Positionen und ihr „Erfolg (...) sich zum Teil auf ein intellektuelles Klima zurückführen läßt, das der akademischen Welt während der vergangenen Jahrzehnte seinen Stempel aufgedrückt hat. Die Holo5
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Ebd., 31. Eine Problematisierung der Begriffe „postmodern“, „dekonstruktionistisch“ oder „poststrukturalistisch“ muss hier unterbleiben; zur Diskussion der wesentlichen Inhalte und Debatten vgl. Callum G. Brown, Postmodernism for Historians, Harlow 2005. Es bleibt nur festzuhalten, dass sowohl Gegner (Richard Evans, Keith Windschuttle) als auch Verteidiger bzw. Vertreter (Jenkins, Alun Munslow, Beverley Southgate) einer „postmodernen Geschichtsschreibung“ diese auch selbst so bezeichnen. Martin Behrens, Staatsschützer werfen Schatten auf Rugia, in: Ostseezeitung v. 25.11.2005. Thomas Stamm-Kuhlmann, Wo bleibt die Aufklärung? Unser entspannter Umgang mit der Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Religions– und Geistesgeschichte 56/2004, Heft 2, 109. Ebd., 105. Vgl. zur strukturellen Ähnlichkeit kreationistischen und revisionistischen Denkens Michael Shermer / Alex Grobman, Denying History. Who says the Holocaust never happened and why do they say it? Los Angeles / London 2002, 32f.
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caust-Leugner betreiben ihr Gewerbe zu einem Zeitpunkt, da weite Domänen der Geschichtsschreibung anscheinend frei disponibel geworden sind und Angriffe auf die Tradition der Aufklärung (...) zur Tagesordnung gehören.“ 10
Während Deborah Lipstadt die postmodernen Strömungen noch als gewisse, wenngleich unbeabsichtigte, intellektuell fahrlässige „Ermöglichung“ von Rechtsrevisionismus ansieht und betont, dass es keine gedankliche Nähe zwischen Relativisten und Revisionisten gebe 11, so ficht Richard Evans lieber mit dem Säbel als dem Florett: Der Relativismus verfüge „über kein objektives Kriterium, mit dessen Hilfe sich faschistische oder rassistische Sichtweisen von Geschichte falsifizieren ließen.“ 12 Postmoderne Theorie sei in ihrer radikalen Ausprägung daher „demeaning the dead who are subject of our investigations. (…) It is a challenge to which it is time historians issued a reasoned response“ 13 Ähnlich sehen auch Michael Shermer und Alex Grobman im historischen Dekonstruktionismus „a seedbed for pseudohistory and Holocaust denial.“ 14 Solche Invektiven sind von relativistischer Seite freilich nicht unbeantwortet geblieben. Meistens wurde auf den emanzipatorischen Gestus und die linken oder linksliberalen Ursprünge postmodernen Denkens und die daraus folgende, größtmögliche Distanz zu antidemokratischem und illiberalem Geist verwiesen, nicht zuletzt, da der Postmodernismus Wahrheit an sich schließlich nicht leugnen würde. 15 Doch es gab auch schrillere Zurückweisungen, etwa die Unterstellung, dass „defenders of traditional understandings (...) are certainly prone to deploy the Holocaust as a kind of trump card, arguing that relativism must be rejected.“ 16 Die Überspitztheit des Tones jener Debatte, sich gegenseitig entweder eine Beleidigung der Opfer oder den Missbrauch des Holocaust für geschichtspolitische Zwecke vorzuwerfen, mag für deutsche Leser befremdlich wirken. Gemäßigtere Stimmen in beiden Lagern legen Wert darauf, dass postmoderne Autoren mit den Zielen und Methoden der Rechtsrevisionisten nichts gemein haben. Die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen soll nun am Beispiel des eingangs erwähnten Gerd Schultze-Rhonhof kurz rekapituliert werden.
10 Deborah Lipstadt, Leugnen des Holocaust. Rechtsextremismus mit Methode, Hamburg 1996, 57. 11 Ebd., 69. Ähnlich der sonst scharf antirelativistisch formulierende Keith Windschuttle, The Killing of History. How Literary Critics and Social Theorists are murdering our past, San Francisco 2000, 320: „By abandoning truth (…) they unwittingly provide equal legitimacy to (…) neo-Nazis, neo-Stalinists, (…) Holocaust deniers or any other variety of political depravity.“ 12 Richard Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt 1998, 227. 13 Richard Evans, Truth lost in vain views, Times Higher Education Supplement, 12.9.1997, 18. 14 Shermer / Grobman, Denying History, 27. 15 Vgl. Robert Eaglestone, The Holocaust and the Postmodern, Oxford 2004, 227. „The questions that postmodernism does ask of history and historians are very strong weapons in the fight against Holocaust denial.“ 16 Patrick Finney, Ethics, Historical Relativism and Holocaust Denial, in: Rethinking History 2/1998, Heft 3, 359.
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Rechtsrevisionismus und Geschichtswissenschaft Ein kurzer Einblick in die Gedankenwelt Gerd Schultze-Rhonhofs genügt, um ihn als Vertreter eines Rechtsrevisionismus im weiteren Sinne auszuweisen: als jemanden, der bestrebt ist, die „falsch dargestellte Geschichte der Zweiten Weltkrieges und des Dritten Reiches zu Gunsten des Nationalsozialismus zu korrigieren.“ 17 Im Gegensatz zur radikaleren Variante der in Deutschland strafbewährten Leugnung des Holocaust sind diese Formen der Argumentation eher dafür geeignet, Brücken zu konservativen Einstellungen oder historisch wenig Vorgebildeten zu schlagen. 18 Schultze-Rhonhofs – horribile dictu – Relevanz besteht quantitativ in der weiten Verbreitung seiner dezidiert auf Schüler und Studenten ausgerichteten Schriften und Youtube-Videos und qualitativ in dem gegen die akademische Geschichtswissenschaft gerichteten Ressentiment: diese sei immer noch juristisch verpflichtet, eine alliierte Geschichtsversion zu vertreten und ihr Konsens (etwa im Zusammenhang mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs) nurmehr eine Fiktion in Form von „Hypothesen einer Mehrheitsmeinung.“ 19 Die weiterhin zu findenden, üblichen Geschichtsklitterungen 20 sollen hier nicht weiter von Interesse sein, festzuhalten bleibt Schultze-Rhonhofs Diktum: „Zwei Zwecke hatte ich im Auge. Erstens die Wahrheit zu verbreiten und zweitens junge Leser zu erreichen.“ 21 Es ist das missbrauchte Wahrheitskriterium und die wiederholte Berufung auf ausgiebiges Quellenstudium, das die Historiker auf den Plan rufen sollte und „in gewisser Hinsicht eine heimtückischere Gefahr darstellt als die direkte Holocaust-Leugnung.“ 22 Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich wie im Falle Schultze-Rhonhofs um einen schreibenden Amateur oder wie bei Hellmut Diwald oder aktueller Stefan Scheil 23 um ausgebildete Historiker handelt. Obwohl in der deutschen Geschichtswissenschaft ein weitgehendes innerfachliches Einvernehmen sowohl über die Absurdität rechtsrevisionistischer Hypothesen als auch über die moralische Abneigung und unbedingt wünschenswerte pädagogische Widerlegung und Bekämpfung besteht, ist die Beschäftigung mit revi17 Regierungsamtliche Formulierung der Bundesregierung auf die Anfrage der Bundestagsabgeordneten Jelpke (PDS) vom 27.4.1992, zit. n. Wolfgang Benz, ‚Revisionismus‘ in Deutschland, in: Brigitte Bailer-Galanda / Wolfgang Benz / Wolfgang Neugebauer (Hgg.), Die Auschwitzleugner. ‚Revisionistische‘ Geschichtslüge und historische Wahrheit, Berlin 1996, 42 u. 50. 18 Vgl. Micha Brumlik, Das rechtskonservative Projekt, in: Lipstadt, Leugnen, 16–22. 19 Gerd Schultze-Rhonhof, Hitlers Kriegs-Absichten 1939. Kein Hitler-„Master-Plan“; www.vorkriegsgeschichte.de/content/view/36/53. Vgl. dazu auch den kurzen Beitrag von Dirk Mellies / Knut Langewand, Feldzug gegen die Fakten. Wie der Ex-Militär Gerd Schultze-Rhonhof versucht, Adolf Hitler als Friedensaktivisten darzustellen, in: Blick nach Rechts 16/2007, Nr. 6, 8f. 20 Vgl. die Typologie bei Gustav Spann, Methoden rechtsextremer Tendenzgeschichtsschreibung und Propaganda, in: Bailer-Galanda u. a., Auschwitzleugner, 73–97. 21 So Schutze-Rhonhof in einem Interview; http://www.sezession.de/4906/ wwwvorkriegsgeschichtede.html/5. 22 Lipstadt, Leugnen, 336. 23 Siehe wiederum Dirk Mellies’ Beitrag in diesem Buch.
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sionistischen Geschichtsfälschern eine Ausnahme bzw. Randerscheinung. Es sind nur einige wenige Historiker wie etwa Hermann Graml oder Wolfgang Benz gewesen, die sich im Einzelnen mit den Geschichtsrevisionisten auseinandergesetzt haben (und übrigens ist meines Wissens unter diesen Wenigen auch außerhalb Deutschlands bisher kein selbsterklärter oder als Postmodernist bekannter Autor). Auch in der universitären Lehre spielt das Thema kaum eine Rolle, obgleich wohl nicht wenige Geschichtsdozenten in Seminaren immer wieder auf krude, von rechten Verschwörungstheorien beeinflusste Meinungsäußerungen von studentischer Seite stoßen. Das Internet und die leider teilweise ungeprüfte Übernahme fragwürdiger Thesen hat diese Entwicklung sicher gefördert. Mir scheint, als ob eine Beschäftigung damit aus folgenden Gründen oft ausbleibt: Erstens erfordert die Widerlegung der revisionistischen Autoren gerade wegen ihrer Versessenheit, mithilfe eines minutiösen Quellenstudiums der akademischen Historie das Gegenteil ihres Konsenses zu beweisen, einen Aufwand an empirischer Kleinstarbeit, die dem eigentlichen Prozess historischer Forschung zuwiderläuft; innerhalb des Fachs mögen theoretische Unterschiede zwar durchaus herausgestellt werden, „doch auf der Ebene der alltäglichen Praxis herrschen Friede und Harmonie.“ 24 Hingegen dezidiert nach Fehlern und Verzerrungen zu suchen und Behauptungen en detail zu falsifizieren ist nicht die Kernaufgabe des Historikers – „wir haben nicht studiert und geforscht, um Wachfrauen und -männern gleich am Rhein zu stehen.“ 25 Zweitens gibt es die weitverbreitete Auffassung, dass eine Beschäftigung mit rechten Geschichtsfälschern diesen eine unverdiente Aufmerksamkeit einbringen, ihre Thesen sogar noch aufwerten würde. Dies unterschätzt ihre Resonanz im außeruniversitären Raum – Schultze-Rhonhofs Weltkriegs-Buch ist 27.000 Mal verkauft worden, eine Zahl, von der die meisten Historiker nur träumen können. Drittens herrscht vielfach die damit verwandte Haltung, dass die Revisionisten als intellektuelle Schmuddelkinder aufgrund ihrer mangelnden Satisfaktionsfähigkeit schlichtweg ignoriert werden sollten. Dem ist entgegenzuhalten, dass damit das Problem nicht verschwindet. Lipstadt stellt klärend fest: „Mit ihnen zu reden wäre so, als wollte man Wackelpudding an die Wand nageln, [sie aber] nicht zu ignorieren bedeutet nicht, sie in ein Gespräch oder einen Disput zu verwickeln.“ 26
Es geht also nicht darum, mit ihnen zu sprechen als vielmehr über sie aufzuklären – und im öffentlichen Raum die Position der Geschichtswissenschaft und ihrer Praxis zu verteidigen. Doch vor dieser Aufgabe scheuen viertens viele Historiker zurück, da eine solche Beschäftigung oft in dem zweifelhaften Ruf ästhetisch und stilistisch wenig ansprechender „Volkspädagogik“ steht. Last not least ist fünftens zu konstatieren, dass die berechtigte Furcht vor hasserfüllten Reaktionen gerade im Internet Fachleute vor einer robusten Beschäftigung mit rechtsrevisionistischen 24 Lorraine Daston, Die unerschütterliche Praxis, in: Rainer Maria Kiesow / Dieter Simon (Hgg.), Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit, Frankfurt 2000, 20. 25 Lipstadt, Leugnen, 346. 26 Ebd., 345. Vgl. auch Shermer / Grobman, Denying History, 2.
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Thesen abhält. Dies mag – wenngleich unbefriedigend – die Scheu vieler Historiker erklären, sich trotz des fachlichen Konsenses überhaupt mit Rechtsrevisionismus zu befassen. 27 Es bliebe der Vorwurf von ‚traditionalistischer‘ Seite, dass ein allgemeines intellektuelles Klima im Zeichen der Postmoderne zu einer Beliebigkeit geführt habe: „Where anyone can speak for the past, no one can. Where everyone’s opinion is equal to everyone else’s opinion, no one’s opinion matters.“ 28 Postmoderne und andere Theoretiker haben darauf zurecht geantwortet, dass ausnahmslos alle Rechtsrevisionisten die ‚Wahrheit‘ und Faktenbasiertheit ihrer Äußerungen betonen und keine der Prämissen der Postmodernisten teilen. Auch wenn Lüge ihr wesentliches Instrument ist, berufen sie sich auf einen traditionellen, d. h. wahrheits– und repräsentationsbasierten Geschichtsbegriff und nicht auf ein postmodernes anything goes, nicht zuletzt, weil sie vom „great deal of esteem“, den Geschichte im westlichen Kulturkreis genieße, profitieren wollen. 29 Auch haben postmoderne Historiker immer wieder unterstrichen, dass sie historische Ereignisse als solche durchaus anerkennen und es daher auch für sie möglich sei, Geschichtsfälschung auf dieser Basis zurückzuweisen. „Epistemic relativism (...) should not be confused with judgmental relativism.“ 30 Ist mit dieser Widerlegung der Verantwortlichkeit oder Fahrlässigkeit postmoderner Geschichtsauffassungen und der Entgegnung, dass Positivisten und Relativisten dieselben epistemologischen Annahmen teilen, im Hinblick auf das „How to keep the lunatics out?“, also die geschichtstheoretische Fundierung einer Zurückweisung des pseudohistorischen Revisionismus bereits etwas gewonnen? Oder sagt sie nurmehr etwas über die Atmosphäre aus, in der geschichtstheoretische Gefechte stattfinden? Geschichtstheorie im ‚Attack Mode‘ 31 Es ist vermutlich aus der verspäteten Rezeption postmoderner Theoreme in deutschen akademischen Diskursen und erst recht in der deutschen Geschichtswissenschaft zu erklären, dass die schärfsten Angriffe auf die universitär etablierte Geschichtsschreibung vornehmlich im anglo-amerikanischen Raum stattgefunden haben. Zwar haben die Ideen Hayden Whites auch in Deutschland eine weite Ver27 Vgl. Dirk Mellies, Geschichtsrevisionismus in Deutschland, Külzer Hefte/Zeszyty Kulickie 7/2010, 43–65. 28 Shermer / Grobman, Denying History, 3. 29 Eaglestone, Holocaust and the Postmodern, 245. Vgl. zum theoretischen Traditionalismus der Revisionisten: Keith Jenkins / Alun Munslow, Introduction, in: Dies. (Hgg.), The Nature of History Reader, 14; Kevin Passmore, Poststructuralism and history, in: Stefan Berger / Heiko Feldner / Kevin Passmore (Hgg.), Writing History, Theory and Practice, London / New York 2003, 134. 30 Finney, Ethics, 361. 31 Vgl. Joyce Appleby / Lynn Hunt / Margaret Jacob, Telling the Truth about History, New York / London 1994, 202.
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breitung gefunden und werden seit längerer Zeit in historischen Proseminaren unterrichtet, doch hat sich eine genuin postmoderne Geschichtstheorie nicht entwickelt – grosso modo scheint Konsens über die Historik Jörn Rüsens oder die geschichtstheoretischen Elemente im Werk Reinhart Kosellecks zu herrschen. Im Gegensatz dazu erscheinen in Großbritannien die Publikationen der Postmodernisten Keith Jenkins, Alun Munslow oder Beverley Southgate in hohen Auflagen, teilweise als textbooks, und gehören zur Grundlektüre in Einführungskursen historischer Institute. Wie im Falle Evans’ bereits angedeutet sind deren Thesen nicht unwidersprochen geblieben, sondern haben außerordentlich scharfe, teilweise persönliche Reaktionen hervorgerufen. Nun ist das unsachliche argumentum ad hominem keinesfalls das Vorrecht britischer Historiker, und man braucht in der deutschen Historiographiegeschichte dafür keineswegs etwa bis zur LamprechtKontroverse zurückzugehen – es sei nur an Hans-Ulrich Wehlers vielzitierte Schmähung Michel Foucaults erinnert, als er diesen mit Verweis auf dessen sadomasochistische Sexualpraktiken als „intellektuell unredliche[n], krypto-normativistische[n] ‚Rattenfänger‘ für die Postmoderne“ 32 bezeichnete. In einem solchen Klima sind nüchterne Theoriedebatten erschwert. So fand auch in der britischen Geschichtstheorie die bereits vorgestellte Auseinandersetzung zwischen Keith Jenkins und Richard Evans vor allem auf einer persönlichen Ebene statt. Jenkins’ Ideologie-Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung britischer Historiker beantwortete Evans damit, dass Jenkins schlichtweg neidisch sei, weil „er selbst nur Lehrer an einer Fachhochschule 33 ist und sich von den Universitätshistorikern, die er so aggressiv kritisiert, ausgeschlossen fühlt.“ 34 Jenkins stand Evans in nichts nach und charakterisierte dessen intellektuellen Horizont als „world of the flat-earth variety“ 35, seine Theoriekenntnisse als zweifelhaft und überschrieb ein Buchkapitel mit „Ending Evans.“ 36 Abgesehen von diesen Verbalinjurien ist jedoch ein tiefer Dissens nicht nur über theoretische Prämissen und Glaubenssätze, sondern auch ein über die Art und Weise des Argumentierens festzustellen. Häufig findet sich die Unterstellung, die Gegenseite würde bewusst simplifizieren und missverstehen, um auf einen so geschaffenen Popanz umso leichter schießen zu können. Ein solcher „assault on a straw man“ 37 offenbart sich in der postmodernen Kritik an einem traditionalistischen absoluten Wahrheitsbegriff, den es so nie gegeben hat, oder der Reproduzierbarkeit der Vergangenheit als Ganzem, die von Historikern aber nie behauptet worden ist. Umgekehrt haben Postmodernisten es als Karikatur bezeichnet, dass die relativistische Position als unkritische Akzeptanz aller Interpretation als gleichwertig beschrieben 38 oder ihr die Leugnung jeglicher Art von Wahrheit un32 Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998, 91. 33 Im englischen Original „institute of higher education“; die Einrichtung, an der Jenkins bis 2008 wirkte, wurde erst im Jahre 1999 zur Universität Chichester erhoben. 34 Evans, Fakten und Fiktionen, 195. 35 Keith Jenkins, Why History? Ethics and Postmodernity, London / New York 1999, 95. 36 Ebd., 111. 37 Windschuttle, Killing of History, 327. 38 Finney, Ethics, 361.
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terstellt wurde 39; Evans Angriff auf die Postmoderne wurde als „improvising vulgarised rebuttals of vulgarised ideas“ 40 missbilligt. Dem gegenseitigen Vorwurf der Vulgarisierung kann häufiger begegnet werden, wobei sich dieser vor allem gegen postmoderne „Popularisierer“ wie etwa Jenkins richtet; Evans bezeichnet dessen Werk als „vulgarisierte Fassung (...) postmodernen Denkens“ 41, andere ihn als „Autor des zweiten Gliedes“, der dementsprechend leicht „mit einem Fangstoß versehen“ 42 werden könne. Auch wurde festgestellt, dass das „Schlimmste in solchen Fällen (...) nicht die Urheber einer Theorie, sondern ihre Epigonen“ 43 seien. Es sei dahingestellt, ob diese Unterscheidung in komplexe und vulgäre Postmodernismen inhaltlich weiterführt. Sie zeugt jedoch davon, dass die in ihren Anfängen so vielfältige Debatte um den postmodernen Beitrag zur Krise der Vernunft schon vor Langem vergiftet und unproduktiv geworden ist. Diese seltsam verzerrt ausgetragene, von Missverständnissen geprägte Konfrontation hat Matthias Pohlig für den deutschen Diskurs geschildert. Zwar verzeichnet auch er den „leicht hysterische[n], oft auch prophetische[n] Ton der postmodernen Theorie“, doch sei diese, wie bereits erwähnt, in der deutschen Geschichtswissenschaft ja kaum zur Kenntnis genommen worden. „Umso überraschender sind die Geschosse, die zuweilen aufgefahren werden, um angebliche gegnerische Positionen zu diskreditieren bzw. auf Pappkameraden zu feuern. So zeichnen sich etwa die Gegner eines postmodernen Theoriegebrauchs öfter durch eine emphatische, aber in der Stoßrichtung seltsam nebulöse Polemik aus.“ 44
Recht offen sind hingegen die Polemiken Keith Jenkins’, wie er mitunter selbst zugibt. 45 Diese richten sich nicht allein auf theoretische Annahmen einer ‚(re)konstruktivistischen‘ Geschichtsauffassung, sondern häufig auch auf Geschichte als akademische Disziplin. Für ihn geht es nicht darum, ob Postmodernisten der etablierten Geschichtswissenschaft etwas zu bieten hätten, also gewissermaßen assimiliert werden könnten, sondern, genau umgekehrt, ob letztere angesichts der Verlusts alter Gewissheiten in einer postmodernen Welt potentiell endloser Interpretationen und Imaginationen überhaupt noch zukunftstauglich sei.46 Geschichte sei, wie schon erwähnt, für alle da und daher Kontrollinstanzen unnötig. Die Vergangenheit habe keine „legitimate gatekeepers who can tell us what 39 Vgl. Eaglestone, Holocaust and the Postmodern, 227; „Stratified opposition between straw figures“ 40 Stefan Collini, The Truth Vandals [Rezension von Evans, Fakten und Fiktionen], Times Higher Education Supplement, 18.12.1997, T015. 41 Evans, Fakten und Fiktionen, 195. 42 Bernd Roeck, Rächer der Verderbten [Rezension von Evans, Fakten und Fiktionen], Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.11.1998, L19. 43 Stamm-Kuhlmann, Aufklärung, 105. 44 Matthias Pohlig, Geschmack und Urteilskraft. Historiker und die Theorie, in: Jens Hacke / Matthias Pohlig (Hgg.), Theorie in der Geschichtswissenschaft. Einblicke in die Praxis historischen Forschens, Frankfurt / New York 2008, 29. 45 Etwa Jenkins, At the Limits of History, 245, Einleitung. 46 Vgl. Jenkins, Why History?, 98.
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we can and cannot do with it – least of all academic historians.“ 47 Und auch die Methoden dieser machtlos gewordenen Wächter betrachtet Jenkins mit Geringschätzung: „There is (…) more at stake in life than the hegemonic continuation of an ideologically positioned set of guild practices reified by their beneficiaries into tablets of stone.“ 48
Hier kommen Momente von Ideologie und Macht ins Spiel, und Jenkins zeigt sich hier als echter Postmoderner, wenn er sich auf Foucault berufend ‚Wahrheit‘ als Begriff in der Geschichte vornehmlich als Instrument sieht: „History is a discourse, a language game; within it ‚truth‘ and similar expressions are devices to open, regulate and shut down interpretations. Truth acts as a censor – it draws the line. We know that truths are really ‚useful fictions‘ (…) and power uses the term ‚truth‘ to exercise control: regimes of truth.“ 49
Damit scheint auch die letzte Bastion traditionellen Geschichtsdenkens geschleift. Wie sich eine solche Annäherung an den Begriff der ‚Wahrheit‘ zu Prämissen der historischen Forschung als auch zum Rechtsrevisionismus verhält, wird im Folgenden im Zuge einer kurzen Beschäftigung mit Jenkins’ „intellectual hero“ 50, Hayden White, zu zeigen sein. Postmoderne und Holocaust-Geschichtsschreibung Die Problematisierung postmoderner Geschichtstheorie im Zusammenhang mit der Geschichtsschreibung des Holocaust zeigte sich 1989/90 in der weithin bekannt gewordenen Debatte zwischen Hayden White einerseits und Saul Friedländer, Carlo Ginzburg et al. andererseits. 51 White galt seit der Veröffentlichung des Buches Metahistory (1973) als Stichwortgeber einer entstehenden postmodernen Geschichtstheorie. Die von White in Metahistory und Tropics of Dicourse angestoßene, hinreichend bekannte Diskussion über die Rolle von Narrativen und Plots in der Geschichtsschreibung („auch Klio dichtet“), die in der Folge auch den Wahrheitsdiskurs in der Geschichtswissenschaft wesentlich beeinflusst haben, erfuhr hier eine Zäsur. Auf die Einzelheiten der facettenreichen und keineswegs abgeschlossenen Debatte, die erst jüngst Gegenstand einer Jenaer Tagung unter
47 Vgl. Jenkins, ‚Nobody does it better.‘ Radical history and Hayden White, in: Jenkins, At the limits, 265. 48 Keith Jenkins, Re-Thinking History, London / New York ²2003, XIX. 49 Ebd., 39. 50 Vgl. Jenkins, Nobody does it better, 255. 51 Es begann mit einem Gespräch zwischen Hayden White und Carlo Ginzburg zu ‚Geschichte, Ereignis und Diskurs‘ im Jahre 1989, das schließlich 1990 zu einer Konferenz führte, deren Beiträge versammelt sind bei: Saul Friedlander (Hg.), Probing the Limits of Representation. Nazism and the Final Solution, Cambridge/Mass. 1992.
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Teilnahme sowohl Whites als auch Friedländers gewesen ist 52, soll hier nicht weiter eingegangen werden, doch hervorzuheben ist Whites (wenigstens zumeist so interpretierte) Zurücknahme seiner radikalsten Positionen im Angesicht der akademischen Grenzerfahrung der Geschichte des Holocaust: „In the case of an emplotment of the events of the Third Reich in a ‚comic‘ or ‚pastoral‘ mode, we would be eminently justified in appealing to ‚the facts‘ in order to dismiss it from the list of ‚competing narratives‘ of the Third Reich. (…) It seems to be a matter of (…) applying the kind of rule which stipulates that a serious theme – such as mass murder or genocide – demands a noble genre – such as epic or tragedy – for its proper representation.“ 53
Friedländer sah, dass White angesichts des außerordentlichen Charakters der Shoah in ein „Dilemma, das auf seinen extremen Relativismus zurückzuführen ist“54, geriet und er daher in seinem Beitrag zu Probing the Limits eine gemäßigtere Position einnahm: „How, indeed, can one not wish to ascertain the distinction between fiction and history when extreme events such as the Shoah are concerned?“ 55
Einen weiteren Grund für Whites gedankliche Rolle rückwärts 56 sah Martin Jay in einer Abgrenzung gegen rechtsrevisionistische Positionen: „In his [= Whites] anxiety to avoid inclusion in the ranks of those who argue for a kind of relativistic ‚anything goes‘, which might provide ammunition for revisionist skeptics about the existence of the Holocaust, he undercuts what is most powerful in his celebrated critique of naïve historical realism.“ 57
Bei Jay begegnet man einem sowohl moralischen als auch fachbezogenen Argument: Der Holocaust ist insofern Kristallisationspunkt von Debatten um Wahrheit und Postmoderne, als auch nur in die gedankliche Nähe von Leugnern oder Relativierern der nationalsozialistischen Verbrechen zu geraten zum einen unmoralisch ist – anders als etwa bei weiter zurückliegenden historischen Kontexten; das Leid der Karthager nach der Eroberung durch Rom als Komödie zu schreiben würde aufgrund des Fehlens von überlebenden Opfern wohl nicht dieselbe öffentliche Wirkung haben und eine solche Erzählung wohl nur für unangebracht oder unsinnig erklärt werden. Zum anderen kann sie auch professionell vernichtend sein. So wirkt sich die Präsenz der Leugner im öffentlichen Diskurs auf das Sprechen im professionellen Kontext aus; allein schon aus diesem Grund kann eine 52 Vgl. Thomas Köhler, Tagungsbericht Den Holocaust erzählen? Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität. 09.06.2011–11.06.2011, Jena, in: HSoz-u-Kult, 16.12.2011, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3961. 53 Vgl. Hayden White, Historical Emplotment and the Problem of Truth, in: Friedlander, Probing the Limits, 40f. 54 Saul Friedlander, Introduction, in: Friedlander, Probing the Limits, 7 [Meine Übersetzung]. 55 Ebd., 20. 56 So sehen es jedenfalls Evans, Truth lost („conceded“), Passmore, Poststructuralism, 134 („abandon“), und Chris Lorenz, Kann Geschichte wahr sein? Zu den narrativen Geschichtsphilosophien von Hayden White und Frank Ankersmit, in: Jens Schröter (Hg.), Konstruktion von Wirklichkeit, Berlin 2004, 60 („Grundthese des Narrativismus fallengelassen“). 57 Martin Jay, Of Plots, Witnesses, and Judgements, in: Friedlander, Probing the Limits, 96.
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solche Debatte nicht rein fachlich geführt werden. Auch für Friedländer liegt der Grund für Whites Zurücknahme in der Verknüpfung theoretischer und methodischer Fragen mit moralischen Gesichtspunkten, der „unausweichliche[n] Verbindung zwischen ethischen und epistemologischen Dimensionen der Debatte, (...) der ‚irreduzible‘ Kern der Diskussionen.“ 58 Patrick Finney hat von einer relativistischen Position aus bemerkt, dass jene Debatte überhaupt nur auf politischem Gebiet auszufechten sei. „Political engagement with denial is of prime importance, and it is facilitated by relativism just as much as by any other philosophical position.“ 59 Doch gibt es jenseits moralischer und politischer Stellungnahmen einen weiteren Komplex, dem in den erwähnten Auseinandersetzungen lange Zeit keine Berücksichtigung geschenkt worden ist: die geschichtliche Praxis. Der niederländische Geschichtsphilosoph Chris Lorenz hat sich mit einer der Grundannahmen von Whites „metaphorischem Narrativismus“ auseinandergesetzt, „daß aufgrund der narrativen Form der Geschichte der Korrespondenzbegriff der Wahrheit auf historische Erzählungen, anders als auf die individuellen Aussagen, aus denen sie sich zusammensetzen, nicht angewandt werden kann; historische Erzählungen werden daher (...) als ‚fiktional‘ und/oder ‚metaphorisch‘ beschrieben.“ 60
Whites Fehlannahme liege laut Lorenz in einer doppelten Umkehrung des naturwissenschaftlich beeinflussten Positivismus des 19. Jahrhunderts, d. h. in seiner oppositionellen Fixierung auf die empiristischen und nach Gesetzmäßigkeiten suchenden Elemente des Positivismus. Aus dieser falsch verstandenen Gegnerschaft zu in der Geschichtsschreibung längst überwundenen (und bereits im 19. Jahrhundert umstrittenen 61) Theoremen erkläre sich Whites „Hang zum Fiktionalismus und zu einer falschen Parallelisierung von Geschichte und Literatur.“ 62 Mit Verweis auf Karl Popper und einen relativen, d. h. mittelbaren und damit „trivialen“ 63 Wahrheitsbegriff, der auf Falsifikation und Intersubjektivität denn auf Wahrheitsbeweise abzielt, kann Lorenz der von White angestrengten Umkehrung des auf der Abbildtheorie ruhenden Wahrheitsbegriffs die Spitze nehmen. Nicht nur die Richtigkeit (und Falschheit) einzelner Aussagen, von deren ‚Wahrheit‘, d. h. der Möglichkeit ihrer Klärung und Referenzialität auf eine irgendwie geartete Wirklichkeit 64 ja auch White ausgeht, werde intersubjektiv ausgehandelt, sondern auch diejenige von Erzählungen – „der Unterschied zwischen Einzelaussagen und 58 59 60 61
Friedlander, Introduction, 8f [Meine Übersetzung]. Finney, Ethics, 366. Lorenz, Kann Geschichte wahr sein, 35. Der klassische Historismus, wie ihn Droysen und Bernheim kanonisiert haben, hat sich immer scharf gegen Gesetze in der Geschichte gewandt; vgl. Knut Langewand, Historik im Historismus. Geschichtsphilosophie und historische Methode bei Ernst Bernheim, Frankfurt 2009, 48f. 62 Lorenz, Kann Geschichte wahr sein, 54. 63 Ebd., 56. 64 Vgl. zur Diskussion des Wirklichkeitsbegriffs in der Geschichtswissenschaft: Hans-Jürgen Goertz, Abschied von „historischer Wirklichkeit“. Das Realismusproblem in der Geschichtswissenschaft, in: Schröter, Konstruktion, 1-18.
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ganzen Erzählungen ist ein gradueller und kein prinzipieller.“ 65 Ausgehend von der Aufrechterhaltung dieses mittelbaren Wahrheitsanspruches historischer Erzählungen – überhaupt der „Treibstoff“ geschichtlicher Forschung – und der Möglichkeit auch metaphorischen Sprechens, sich an Wahrheit zu orientieren, verdeutlicht Lorenz den grundsätzlichen Unterschied zwischen Geschichte und Literatur: „Die Bedeutung des intersubjektiven Charakters der Regeln der historischen Praxis (doing history) im Gegensatz zur literarischen (doing literature) kann gar nicht hoch genug angesetzt werden, denn er ist es, der die Geschichte als empirische Disziplin auszeichnet. Anders als die Autoren von fiktionalen Texten haben es Historiker mit einem Gegenstand zu tun, dessen Definition öffentlich diskutiert werden kann.“ 66
Diesen Unterschied hat auch Rüdiger Graf aufgegriffen, jedoch eher in einem sozusagen kumulativen Verständnis: Die Qualität von historischen Erzählungen hänge neben Kriterien wie Kohärenz oder ästhetischem Gehalt nicht zuletzt von der Anzahl richtiger bzw. falscher Aussagen ab, während letztere für die Qualität eines Romans unerheblich sei. 67 Überdies hat Kevin Passmore in die Diskussion den Begriff der Wahrscheinlichkeit eingebracht, die der historischen Methode viel angemessener und auch in der Auseinandersetzung mit Rechtsrevisionisten hilfreich sei. 68 In der Referenzialität historischen Schreibens, der Notwendigkeit, fortwährend Nachweise (z. B. durch Fußnoten) für Argumente vorbringen zu müssen, die wiederum in toto auf empirische und methodische Stichhaltigkeit geprüft werden, bestehe seine Besonderheit. Die größte Schwäche des Narrativismus, und das sei auch das ausschlaggebende Moment für Whites „Schritt zurück“ in der Debatte mit Ginzburg und Jay gewesen, kann für Lorenz auf die „Unfähigkeit des metaphorischen Narrativismus zurückgeführt werden, das historische Schreiben mit der historischen Forschung zu verbinden. (...) Das Verschwinden des Verhältnisses von Forschung und Erzählung (...) in einem philosophischen schwarzen Loch (...) ist fatal für jede Philosophie der Geschichte, denn die Dynamik der Geschichte liegt nur in diesem Verhältnis. Warum sollten sich Historiker sonst überhaupt mit Forschung abgeben?“ 69
Dies führt uns nun schließlich zum Komplex geschichtswissenschaftlicher Praxis. Die Bedeutung der Praxis Zu den oben erwähnten, im „Angriffsmodus“ ausgetragenen Debatten gehört auch das gegenseitige Misstrauen und Missverstehen von Geschichtstheoretikern und geschichtswissenschaftlichen „Praktikern“. Dabei unterläuft Theoretikern gelegentlich auch eine gewisse Überheblichkeit: 65 Lorenz, Kann Geschichte wahr sein, 55 [Hervorhebung im Original]. 66 Ebd., 57 [Hervorhebg. im Orig.]. 67 Rüdiger Graf, Interpretation, Truth and Past Reality. Donald Davidson meets history, in: Rethinking History 7/2003, Heft 3, 397. 68 Vgl. Passmore, Poststructualism and History, 132 u. 135. 69 Lorenz, Kann Geschichte wahr sein, 58f. [Hervorhebg. im Orig.].
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„Any fruitful critical engagement with these theories needs to be undertaken at the appropriate level of abstraction, and it is not obvious, to put it mildly, that historians are those best equipped for this work.“ 70
Aus dieser einseitig negativen Haltung spricht die Unfähigkeit, sich empirisch arbeitende, aber theoretisch informierte Historiker vorzustellen. Umgekehrt herrscht gerade unter denjenigen, die auf den empirischen Charakter ihrer Forschung besonderen Schwerpunkt legen, eine ebenso negative Einstellung gegenüber den „exzentrischen und beargwöhnten“ Kollegen, die sich vornehmlich mit Theorie befassen – und angesichts der real existierenden Situation der deutschen Geschichtswissenschaft ist es leider immer noch so „dass die Spezialisierung auf Geschichtstheorie nicht gerade dazu angetan ist, sich Bewunderer und Nachahmer in den Historischen Seminaren des Landes zu machen.“ 71 Nun könnte man sich auf einen Mittelweg im Geiste des über hundert Jahre alten Bernheim‘schen Diktums „Geist ohne Methode schädigt die Wissenschaft nicht minder als Methode ohne Geist“ 72 verständigen. Doch geht es nicht um ein Äquilibrium von Theorie und Praxis, sondern um einen wechselseitigen Gewinn. Die Bedeutung und Notwendigkeit theoriegeleiteter Forschung ist nicht hoch genug zu veranschlagen, speisen sich doch aus von außerhalb der Geschichtswissenschaft kommenden theoretischen Konzepten häufig die innovativsten Ansätze, zudem ist „der theoriebewusste Historiker meist klüger.“ 73 Doch haben sowohl die „Sterilität“ 74 ausschließlich theoretischer Debatten als auch die Überfrachtung historischer Einzelstudien mit einem theoretischen Überbau, der jedoch zur Integration immer größerer Wissensbestände der Geschichtswissenschaft tendiert, den Ruf nach einer stärkeren Berücksichtigung der historischen Praxis und einer Rückbesinnung auf eine „methodisch reflektierte Anwendung des ‚gesunden Menschenverstandes‘“ 75 lauter werden lassen. Angesichts dieses Befunds einer Vernachlässigung der historiographischen Praxis 76 sollen im Folgenden Eigenart und Eigenwert der Praxis (und der ihr zugrundeliegenden Methode) betrachtet werden. Dabei scheinen mir vor allem Quellen, Regeln und schließlich Forschungspraktiken bedeutsam. Den Historiker unterscheidet – einen wie oben skizzierten mittelbaren Wahrheitsanspruch vorausgesetzt – vom Literaturwissenschaftler, dass er sich mit einer besonderen Art von Texten und auf besondere Weise mit diesen auseinandersetzt. 70 Collini, Truth Vandals. 71 Pohlig, Geschmack und Urteilskraft, 26. 72 Ernst Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, Leipzig 31908, 183. Vgl. dazu Langewand, Historik, 90–96. 73 Pohlig, Geschmack und Urteilskraft, 39. 74 Ebd., 26. 75 Vgl. Rüdiger Graf, Was macht die Theorie in der Geschichte, in: Hacke / Pohlig, Theorie, 125f. 76 Den „Eindruck der Praxisferne“ hat auch der Geschichtstheoretiker Rüsen konstatiert; vgl. Jörn Rüsen, Vorwort, in: Chris Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln / Weimar / Wien 1997, VI. Ähnlich Pohlig, Geschmack und Urteilskraft, 31.
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„Er bedient sich grundsätzlich der Texte nur als Zeugnisse, um aus ihnen eine Wirklichkeit zu eruieren, die hinter den Texten liegt.“ 77 Diese Texte werden gemeinhin als Quellen bezeichnet. Auch wenn die Textualität von Quellen keineswegs infrage gestellt wird – es ist diese Tiefenebene, die das Distinktionsmerkmal historischer Forschung ausmacht. „Der Historiker, der nur etwas darüber wissen möchte, wie eine Quelle gemacht ist, wäre kein guter.“ 78 Entgegen der unter Historikern (und Laien ohnehin) immer noch vielfach anzutreffenden Auffassung, die Quellen sprächen aus bzw. für sich selbst, hat Volker Depkat herausgestellt, dass Quellen erst durch die Befragung durch den Historiker zu ebensolchen würden. „Historiker verwandeln ihr Material (...) in Quellen, um es im Durchgriff auf eine dahinterstehende Realität lesen zu können, und sie müssen doch zugleich immer voraussetzen, daß die Quellen tatsächlich von einer äußeren historischen Realität und vergangenem Geschehen berichten. Dieses Paradox setzt den unhintergehbaren Rahmen für jede historische Erkenntnis.“ 79
Die im Historismus unternommenen Versuche einer Quellenkunde und -systematik zeugen von dem Bemühen, dieses Paradox erträglicher zu machen und den Anspruch akademischer Geschichte auf Wissenschaftlichkeit aufrechterhalten zu können. Wenn die Quellen also immer abhängig von der Fragestellung des Historikers sind, sogar erst durch diese aus Texten Quellen werden, ist aus den Quellen selbst auch keine bestimmte Erzählung notwendig abzuleiten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass beliebige Erzählungen daraus hervorgehen können. Der bekannte, wohl von Koselleck gemünzte Ausdruck des Vetorechts der Quellen 80 gibt dem Historiker vielmehr vor, was er nicht sagen kann, als was er sagen soll. Dies gilt es im Hinblick auf die schlechte Praxis von Rechtsrevisionisten und anderen Verschwörungstheoretikern zu unterstreichen. Die Pluralität potentiell unendlicher und unendlich falsifizierbarer Erzählungen bedeutet nicht Beliebigkeit; und aufgrund des Gebots, nicht nur der Möglichkeit, der Falsifizierung und fachlichen Korrektur kann Geschichte Wissenschaft sein. Gegen gewisse Narrative sperren sich die Quellenlagen. Diese Annäherung ex negativo an das, „was ungewollt durch die Texte hindurchspricht“ 81, ist freilich als Grundlage von Geschichtsschreibung einigermaßen schwach. Schon Droysen war sich dieser Schwierigkeit bewusst, als er poetisch formulierte
77 Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt 2003, 116. 78 Pohlig, Geschmack und Urteilskraft, 29. 79 Volker Depkat, Nicht die Materialien sind das Problem, sondern die Fragen, die man stellt. Zum Quellenwert der Autobiographien für die historische Forschung, in: Thomas Rathmann / Nikolaus Wegmann (Hgg.), Quelle. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion, Berlin 2004, 103. 80 Vgl. ausführlich Stefan Jordan, Vetorecht der Quellen, Version: 1.0, in: DocupediaZeitgeschichte, 11.2.2010, http://docupedia.de/zg/Vetorecht_der_Quellen. 81 Koselleck, Zeitschichten, 117.
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„Es liegen uns mehr oder minder zerstörte oder verwischte Formgebungen aus den Vergangenheiten vor. (...) Es ist ein Sprechen der vergangenen Zeiten, oft ein halb unverständlich gewordenes, oft ein kaum mehr hörbares, das wir zu verstehen suchen.“ 82
Die hieraus sprechende Selbstreflexion, Behutsamkeit und gleichsam Zuversicht kann als Erwiderung sowohl an postmoderne Trugbilder von Geschichte als auch an positivistische und pomophobische 83 Exzesse sowie vermeintliche Gewissheiten gelesen werden. Mit Bescheidenheit ist die Gemeinschaft der Historiker gut beraten. 84 Denn „Historiker wissen (...) um die unauflösbare Spannung zwischen den Quellen und der Wirklichkeit, von der sie berichten, und deshalb verwenden sie ja einen Großteil ihrer Arbeit eben darauf, diese Spannung möglichst genau zu bestimmen und auszumessen.“ 85
Diese kontinuierliche Vermessung und Aushandlung ist explizite Aufgabe der historischen Methode, wie sie kleinteilig und lehrbuchhaft etwa durch Bernheim zugrundegelegt wurde 86, und ferner implizite in den Praktiken des Historikers versammelt: „In Jahrhunderten entwickelt, weltweit in Seminaren gelehrt, eingewoben in fast jedes (...) geschriebene Werk, (...) definiert die Beherrschung dieser Praktiken, wer als professioneller Historiker gilt und wer nicht. Die Unterscheidung zwischen Quellen und Literatur, der Kult des Archivs, das Handwerk der Fußnoten, die sorgfältig erstellte Bibliographie, das intensive und kritische Lesen von Texten, die riesengroße Angst vor Anachronismen.“ 87
Es ist eigentlich erst die Beherrschung und Einhaltung solcher „rules of genre“, die einen „reasonable historian“ 88 ausmachen. Zu der Gesamtheit von Techniken und Praktiken treten idealerweise zudem Phantasie 89, Stilgefühl und das Korrektiv der forschenden Gemeinschaft, „neben die Theorie und Praxis (...) common-sense-förmige Klugheit, theoretisch nicht restlos auflösbare Urteilskraft, Erfahrung, auch Problembewusstsein und Geschmack. (...) Was Historiker können, können nur Historiker.“ 90
82 Johann Gustav Droysen, Historik, hg. von Peter Leyh, Bd. 1, Stuttgart / Bad Cannstatt 1977, 27. 83 Den Ausdruck ‚Pomophobia‘ (pomo= postmodernism) hat Beverley Southgate geprägt. 84 Diese Forderungen an die Historiker stellt Stefan Jordan, Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Paderborn u. a. 2009, 215. 85 Depkat, Nicht die Materialien, 103. 86 Vgl. Bernheim, Lehrbuch, passim. Interessanterweise hat jüngst Hayden White beklagt, dass Regeln historischen Schreibens in der Geschichtswissenschaft fehlten; vgl. Köhler, Tagungsbericht. 87 Daston, Unerschütterliche Praxis, 19f. 88 So Eaglestone, Holocaust and the Postmodern, 236–240. 89 Vgl. Bernheim, Lehrbuch, 152–156, 625–633. 90 Pohlig, Geschmack und Urteilskraft, 36f.
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Schluss Im Rückblick auf die eingangs skizzierte Konstellation ist diese Feststellung allerdings kein Grund zur Selbstzufriedenheit der Zunft. Stamm-Kuhlmanns an die Adresse postmoderner Theorie gerichtete Frage, wie man die ‚lunatics‘ fernhält, erfordert zunächst – das habe ich zu zeigen versucht – eine Selbstvergewisserung über die Grundlagen von Geschichtsschreibung (Theorie und Praxis gleichermaßen). Die Unterstellungen und methodischen Unarten der Revisionisten zielen direkt auf den Wert des innerfachlichen Konsenses und die gute Praxis der Historiker, und letztere muss daher gerade auf ebenjenem Felde und schon um ihrer selbst willen verteidigt werden. Was nur Historiker können, können Revisionisten niemals. Dies sollten auch diejenigen radikalen Relativisten bedenken, die Geschichte als akademische Institution für schlichtweg ideologisch, philosophisch erledigt und daher verzichtbar halten, auf deren intellektuelle Mithilfe und strukturelle Stärke sie in der Abwehr der zu decouvrierenden Scharlatanerie der Revisionisten, ginge es nach ihnen, dann aber auch verzichten müssten. Würde hier nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet? Auf die Frage nach dem warum liegt allein schon ein ethisch hinreichender Grund vor: Die Empörung über die Beleidigung der Opfer des Nationalsozialismus verlangt danach. Daneben gibt es einen eminent politischen und gewissermaßen eigennützigen Grund: „Die Gelehrtenrepublik (nicht nur in der Geschichtswissenschaft) braucht demokratische Strukturen“ 91 – ungeachtet innerer Unterschiede oder sogar Gegnerschaften. Umgekehrt kann und sollte Geschichtswissenschaft, ohne gleich „Volkspädagogik“ zu werden, etwas für den Erhalt dieser Strukturen tun und sich daher nicht vor der Auseinandersetzung mit rechtsrevisionistischen, im Kern antidemokratischen und illiberalen Thesen drücken. Nicht trotz, sondern eingedenk der Dialektik der Aufklärung sowie postmoderner Einwände ließe sich so ein aufklärerisches Ideal bewahren. Da Geschichtsschreibung, wie Thomas Stamm-Kuhlmann mit Recht betont hat, „im gesellschaftlichen Behauptungskampf der Menschen ein Faktor ist“ 92, hat sie den Auftrag, die ‚lunatics‘ aller Couleur fernzuhalten; da sie sich vielfältig auf vergangene Wirklichkeit bezieht, besitzt sie dafür als Geschichtswissenschaft auch die geistige Grundlage. Auch im Zeichen der Postmoderne liegt, positiv gewendet, hier der aufklärerische Ort der Geschichte.
91 „Warum Geschichtswissenschaft Demokratie benötigt und bedingt“; Jordan, Theorien, 216. 92 Stamm-Kuhlmann, Aufklärung, 109.
AUFKLÄRUNG UND DIE WELT
AUTHENTIZITÄT UND AURA Überlegungen zu einer Theorie des Zeitzeugen im historischen Dokumentarfilm Frank Möller, Greifswald In der ARD-Dokumentation Mythos Tannenberg wird an einer Stelle beschrieben, wie nach den Niederlagen in Ostpreußen 1914 das Oberkommando der dortigen 8. Armee an die Generäle Ludendorff und Hindenburg übergeben wird. 1 Nach einem Bild von Hindenburg erscheint ein freundlicher, älterer Herr im dunklen Anzug und berichtet, wie Hindenburg im August 1914 in Hannover darauf gewartet habe, einen neuen militärischen Auftrag zu übernehmen. Die Bildunterschrift im Film macht deutlich, warum die eine halbe Minute dauernde, eigentlich recht belanglose Aussage dieses Herren für Wert erachtet wird, in dieser Dokumentation aufzutauchen: „Hubertus von Hindenburg. Enkel Hindenburgs.“ Die Intention der Filmmacher ist eindeutig: Die Präsentation einer berichtenden Person in Brusthöhe vor einem neutralen Hintergrund, in diesem Fall einem Fenster mit Blick auf einen herbstlichen Baum, und die Bildunterschrift, die die Nähe des Berichtenden zum geschilderten Ereignis hervorhebt, signalisiert dem Zuschauer, dass hier ein Zeitzeuge aussagt. Der Einwand des Historikers ist selbstverständlich. Was kann Hubertus von Hindenburg, geboren 1928, also 14 Jahre nach den berichteten Ereignissen, mitteilen, was er nicht selbst aus Büchern weiß? Worin unterscheidet sich sein Wissen von dem einer anderen Person, die sich mit Hindenburg beschäftigt hat? Ein Historiker würde die verwandtschaftliche Nähe zu Hindenburg sogar als ein Manko betrachten, beeinträchtigt sie doch den kritischen Blick. Schon diese Einwände machen deutlich, dass der Enkel hier offensichtlich nicht aus inhaltlichen Gründen präsentiert wird, sondern dass die Wirkungsabsicht im Mittelpunkt steht. Wie für zeithistorische Dokumentationen üblich, soll ein Zeitzeuge präsentiert werden, obwohl es diese für den Ersten Weltkrieg inzwischen gar nicht mehr gibt. Der Historiker Markus Pöhlmann hat diesen Einsatz von Zeitzeugen ironisch als „Erblichkeit des Zeitzeugenstandes“ bezeichnet. 2 Historische Dokumentarfilme, insbesondere im Fernsehen, sind in der Gegenwart wahrscheinlich das führende Medium der historischen Aufklärung. Ins1 2
Der Erste Weltkrieg. Folge 1: Mythos Tannenberg – Der Krieg im Osten (Deutschland 2004, ARD, R: Susanne Stenner), 11:49. Markus Pöhlmann, Die Experten der dritten Generation, in: Die Zeit 22.7.2004, Nr. 31. http://www.zeit.de/2004/31/I__Weltkrieg (10.1.2013).
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besondere die Fernsehdokumentationen erheben dabei den Anspruch „primetimefähig“ 3 zu sein. Für diese Filme, wenn sie die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts thematisieren, ist der Einsatz von Zeitzeugen inzwischen geradezu ein Muss geworden. Wie das Beispiel zeigt, scheinen Zeitzeugen für Dokumentarfilme inzwischen so wichtig zu sein, dass sie selbst dann präsentiert werden, wenn es sich gar nicht um Zeugen der dokumentierten Zeit handelt, sondern ihr Zeitzeugenstatus nur durch die Darstellungsform vorgetäuscht wird. Der Zeitzeuge ist offensichtlich für den zeithistorischen Dokumentarfilm wichtig, selbst wenn keine inhaltliche Notwendigkeit für seinen Einsatz besteht und seine Aussagen keinen sachlichen Gewinn bringen. Unter dem Gesichtspunkt historischer Aufklärung ist dieses Selbstverständnis äußerst problematisch. Was also ist die Funktion des Zeitzeugen im zeithistorischen Dokumentarfilm? Dieser Frage will sich der folgende Beitrag theoretisch nähern, indem die filmwissenschaftliche Theorie des Dokumentarfilms mit dem Blickwinkel des Historikers betrachtet werden soll. In diesem Modell kann dann die Rolle des Zeitzeugen verortet werden. An zwei konkreten Beispielen werden diese Überlegungen dann angewandt werden. Ziel des Beitrags ist es eine theoretische Basis zu liefern, die es ermöglicht, Besonderheiten des Zeitzeugeneinsatzes zu analysieren. 1. Seit langem wird diskutiert, was überhaupt ein Dokumentarfilm ist. 4 Ursprüngliche Definitionen von John Grierson, der zuerst den Begriff „documentary“ verwendete, und Bill Nichols verweisen dabei auf die Abbildung einer „aktuellen Wirklichkeit“ oder einer „historischen Welt“ im Unterschied zur Darstellung einer „fiktiven Welt.“5 Grundlage dieser Überlegungen ist der technische Vorgang des Filmens. In ihm wird quasi unbeeinflusst, das, was vor der Kamera ist, auf Filmmaterial abgebildet. Damit wird jedoch gleichzeitig die vorfilmische Welt in audiovisuelle Zeichen verwandelt, die diese Welt nur repräsentieren. Jedoch wäre es ein Fehler, deswegen jeden Film als fiktional zu bezeichnen, „weil der Film derealisiert, was immer er auch darstellt.“ 6 Handelt es sich bei dieser Feststellung doch um eine Banalität, die für jede Wahrnehmung gilt und zudem den Unterschied 3 4
5 6
Guido Knopp, Zeitgeschichte im ZDF, in: Jürgen Wilke (Hg.), Massenmedien und Zeitgeschichte, Konstanz 1999, S. 309–316, hier 311. Bester Überblick mit weiterführender Literatur Dirk Eitzen, Wann ist ein Dokumentarfilm? Der Dokumentarfilm als Rezeptionsmodus, in: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 7/2/1998, 13–44. http://www.montage-av.de/pdf/ 072_1998/07_2_Dirk_Eitzen_Wann_ist_ein_Dokumentarfilm.pdf (26.1.2013). Zahlreiche „klassische“ Texte der Dokumentarfilmtheorie versammelt Eva Hohenberger (Hg.), Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin 1998, 32006. So Christian Metz, zit. nach Francois Jost, Der Dokumentarfilm: Narratologische Ansätze, in: Hohenberger, Bilder des Wirklichen, 195–208, hier 195.
Authentizität und Aura
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von Fiktionalem und Dokumentarischem verwischt. Dieser Unterschied besteht jedoch darin, dass die vorfilmische Welt im Dokumentarfilm als „wahr“ oder „real“ wahrgenommen wird, d. h. ihr eine Existenz außerhalb des Films zugestanden wird. Der Dokumentarfilm ist damit von einer besonderen Beziehung zwischen der vorfilmischen Welt und der im Film erzählten Welt, der Diegese, geprägt. Gegen die konstruktivistische Kritik muss also festgehalten werden, dass Dokumentarfilme eben keine Fiktionen sind, die ihre Fiktionalität leugnen. Sondern sie sind erfundene Repräsentationen einer tatsächlichen Realität. Die Wahrnehmung des Dokumentationscharakters findet dabei im Akt der Rezeption statt. Manfred Hattendorf hat dafür das Modell des Kaufvertrags vorgeschlagen. Aufgrund eines Authentizitätsversprechens lassen sich die Zuschauer darauf ein, einen Film als dokumentarisch wahrzunehmen. Sofern sie die im Film gesendeten Authentizitätssignale 7 akzeptieren, werden sie die ihnen präsentierte Filmwelt als „authentisch“, also als wahr, annehmen und gewissermaßen den Vertrag unterzeichnen. Authentizität8 ist somit zwar ein „Ergebnis der filmischen Bearbeitung“, bleibt jedoch „abhängig von der Wirkung filmischer Strategien im Augenblick der Rezeption.“ 9 Diese Authentizitätssignale sind selbstverständlich nicht festgelegt, sondern unterliegen dem konkreten Kontext des Filmes und können sich daher auch historisch wandeln. Grundlage des Dokumentarfilms sind also seine Authentifizierungsstrategien als ein System von Verweisen an den Rezipienten, dass das Präsentierte der Realität entspricht. Es muss hier klar gestellt werden, dass diese Strategien der Arbeit von Historikern nicht fremd sind. Geschichtswissenschaftliche Darstellungen wollen als dokumentarisch wahrgenommen werden. Und selbstverständlich – auch wenn es in der Geschichtstheorie kaum beachtet wird – verwenden auch Historiker hierfür Authentizitätssignale, um ein eigenes Genre, nämlich die wissenschaftliche Darstellung, abzugrenzen. 10 Das ermöglicht einem Historiker, etwa historische Romane, populäre Sachbücher oder geschichtswissenschaftliche Werke voneinander zu unterscheiden, ohne dabei überhaupt den Inhalt zur Kenntnis nehmen
7 8
Teilweise wird in der Literatur auch von Realitätsindikatoren gesprochen. Dabei sind die Begriffe „Authentizität“ und „authentisch“ mehrdeutig, insofern sie sowohl auf Dokumentarfilme als auch auf Spielfilme, die eine besonders realistische Anmutung haben, angewandt werden können. Bei einem historischen Spielfilm wie Der Untergang (Deutschland 2004, R: Oliver Hirschbiegel), der durch Quellenrecherche und Detailtreue den Anspruch auf Authentizität erhebt, verschwimmt der Unterschied zum sogenannten DokuDrama. Zu diesem Anspruch auf Authentizität bei modernen historischen Spielfilmen vgl. Thomas Fischer / Rainer Wirtz (Hgg.), Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz 2008. 9 Manfred Hattendorf, Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung, Konstanz 1994, 67. 10 Die konstruktivistische Geschichtstheorie, die sich seit Hayden White auf die Narration der Geschichtsschreibung konzentriert, ist diesem Aspekt bisher nicht nachgegangen.
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zu müssen. 11 Zu nennen wären etwa die Beschreibung des Autors mit Titel und Universität im Klappentext, bestimmte, als wissenschaftlich bekannte Verlage, ein neutral und zurückhaltend formulierter Buchtitel, eine spezifische argumentierende Wissenschaftssprache, eine Beschränkung des Inhalts bzw. der Narration unter Weglassen von Spekulationen und nicht zuletzt die oft kritisierten Fußnoten. Gerade Zitate und Fußnoten, die in der von den meisten Historikern geteilten Vorstellung einer Beleg– und Konsens-Objektivität dem Nachprüfen der Argumentation dienen, treten tatsächlich zumeist als Authentifizierungsstrategie auf. Schon aus pragmatischen Gründen müssen wir Historiker darauf vertrauen, dass eine wissenschaftliche Quellenedition oder das von einem namhaften Historiker verfasste Handbuch zuverlässig ist – und verzichten auf die Überprüfung. 12 Das grundlegende Problem für den historischen Dokumentarfilm entspricht dabei erkenntnistheoretisch dem Problem vor dem auch Historiker stehen: Die von ihm zu beschreibende Welt existiert zum Zeitpunkt der Beschreibung nicht mehr, da sie vergangen ist. Sie muss erst in der filmischen, genauso wie in der wissenschaftlichen Beschreibung vergegenwärtigt werden. Der Dokumentarist kann also nicht einfach eine Welt vor seiner Kamera dokumentieren, wie es bei Tierdokumentationen oder Milieustudien möglich ist, sondern er muss diese im Film rekonstruieren. Indem im Film die Vergangenheit rekonstruiert wird, wird sie damit gleichzeitig Teil der gegenwärtigen Geschichtserinnerung. Der historische Dokumentarfilm muss also auf die Vergangenheit verweisen und dazu gibt es zwei Möglichkeiten: Zum einen kann der Dokumentarfilm Überlieferungen, also in der Gegenwart vorhandene Artefakte zeigen, die Informationen über die Vergangenheit transportieren. Diese Artefakte sind aus Sicht des Historikers Quellen, ihre Präsentation im Dokumentarfilm entspricht dem Zitieren der Quellen. Selbstverständlich müssen sie auch wie Quellen zum Sprechen gebracht werden – die Quellen reden nicht von selbst. Diese als Repräsentanten genutzten Artefakte finden sich etwa beim Abfilmen von Schrift– und Bildquellen, der Montage von Originalfilmmaterial, welches ursprünglich in einem anderen Zusammenhang stand – etwa einer Wochenschau oder einem Propagandafilm – oder dem Zeigen von Gebäuden oder Landschaften – wie den heutigen Baracken von Birkenau –, die Orte von Geschichte waren. Zum anderen kann die Repräsentation der Vergangenheit symbolisch erfolgen. Die Vergangenheit wird mit gegenwärtigen Mitteln beschrieben, diese Beschreibung wird abgefilmt bzw. aufgenommen. Der Verweis auf die Vergangenheit bleibt also rein symbolisch. Das entspricht dann der Darstellung und Argumentation der Geschichtswissenschaft. Für den historischen Dokumentarfilm ge-
11 Gerade Erstsemester sind immer wieder überrascht, wenn man ihre bibliographischen Versuche bewertet, ohne die Titel gesehen zu haben. 12 Auch Anhänger eines radikalen Konstruktivismus, die die Realität der Vergangenheit als Objekt der Geschichtswissenschaft bezweifeln, können selbstverständlich nicht leugnen, dass wissenschaftliche Darstellungen den Anspruch erheben, auf diese vergangene Realität zu verweisen.
Authentizität und Aura
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hören dazu etwa der Kommentar, der eine eigene Darstellung der Ereignisse gibt, die Präsentation von Experten, die die Geschichte kommentieren, aber auch nachgestellte Szenen, die ebenfalls eine Interpretation der Ereignisse darstellen. Diese verschiedenen Formen der Vergangenheitsrepräsentation werden nun selbst zu Authentifizierungsstrategien. Dabei bedürfen symbolische Repräsentationen des äußeren Belegs und sei es durch die Autorität des Experten. Die Repräsentation durch Artefakte dagegen wird vom Zuschauer als authentischer wahrgenommen, da diese ja offensichtlich aus der Vergangenheit kommen. Das funktioniert jedoch nur deswegen, weil die Interpretation der Artefakte zumeist nicht offengelegt und damit ihre Mehrdeutigkeit für den Zuschauer nicht erkennbar wird. Welche Rolle nehmen nun Zeitzeugeninterviews in diesem Ensemble von Vergangenheitsrepräsentationen und Authentifizierungsstrategien ein? 2. Seit dem Ende der 1970er Jahre sind Zeitzeugen in den zeithistorischen Dokumentationen zu einem wesentlichen Bestandteil geworden. 13 Dokumentationen wie Endlösung, Lagerstraße Auschwitz, der Prozeß von Eberhard Fechner oder Shoah von Claude Lanzmann 14 verhalfen den Zeitzeugen zu einer dominanten Stellung im Dokumentarfilm. Der Filmmacher wurde zum investigativen Journalisten, der die Wahrheit ans Licht brachte. Täter und Opfer wurden gesucht, das Gespräch mit ihnen fand wenn möglich an historischen Orten statt, die Recherche rückte in den Mittelpunkt. Der Fragestil der Interviewer verzichtete auf explizite Vorwürfe, sondern arbeitete fast psychologisch eine Selbstentblößung der Zeitzeugen heraus. Seit den 1990er Jahren hat sich im deutschen Fernsehen dann eine Verwendung des Zeitzeugen etabliert, die Frank Bösch polemisch als „Zeitzeugen im MTV-Format“ bezeichnet hat. 15 Wegweisend war hierbei in Deutschland die ZDF-Redaktion Zeitgeschichte unter Guido Knopp. Sie entwickelte in jährlichen Dokumentationen, zu Beginn noch suchend, dann seit Ende der 1990er Jahre ausgereift, einen eigenen Typ Kompilationsdokumentation, für die Zeitzeugen zu einem zentralen Bestandteil wurden. Deren Aussagen werden nun auf kleine Ausschnitte verkürzt und durch einen neutralen Hintergrund und fehlende Angaben 13 Einen hervorragenden Überblick gibt Frank Bösch, Geschichte mit Gesicht. Zur Genese des Zeitzeugen in Holocaust-Dokumentationen seit den 1950er Jahren, in: Fischer / Wirtz, Alles authentisch, 51–72; aus medienwissenschaftlicher Sicht mit Schwerpunkt auf das Medium Fernsehen Judith Keilbach, Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Darstellung des Nationalsozialismus im bundesdeutschen Fernsehen, Münster 2008. 14 Endlösung (Deutschland/Österreich 1979, ZDF/ORF, R: Paul Karalus, Erhard Klöss, Peter Huemer, Paul Schulmeister); Lagerstraße Auschwitz (Deutschland 1979, SWF, R: Ebbo Demant); Der Prozeß. Eine Darstellung des Majdanek-Verfahrens in Düsseldorf (Deutschland 1984, NDR, R: Eberhard Fechner); Shoah (Frankreich 1985, R: Claude Lanzmann). 15 Bösch, Geschichte mit Gesicht, 67.
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geschichts– und ortlos gemacht. Das große Projekt des Jahrhundertbusses, mit dem das ZDF tausende von Interviews sammelt, dient hier als unendliches Archiv immer neuer Interview-Schnipsel. 16 Die unterschiedlichen Perspektiven werden dabei zumeist nicht aufgelöst und verschwimmen zu einem vielstimmigen Aussagenbrei, in dem apologetische Tendenzen ebenfalls ihren Platz finden. Besondere Bedeutung haben dabei emotionale Zeitzeugen-Aussagen. Oft entsteht der Eindruck die Dramaturgie der Dokumentationen laufe geradezu auf den tränenreichen emotionalen Ausbruch hinaus. 17 Diese Art der Dokumentation entspricht dabei internationalen Tendenzen, wie sie sich besonders in den Produktionen des Discovery Channel und des History Channels zeigen, die inzwischen aber auch große Dokumentationen wie etwa Auschwitz 18 von der BBC prägen. Zeitzeugen wurden zuerst in Dokumentarfilmen über die Judenvernichtung eingesetzt. Schon der Begriff zeigt dabei seine Nähe zur juristischen Aufarbeitung des Holocaust. Der Zeitzeuge bezeugt die Tat, er ist oft Opfer oder Täter. Die industrialisierte Massenvernichtung konnte durch die Zeitzeugen um die Darstellung der Opfer und des Leides erweitert werden. Dabei sollten die interviewten Überlebenden stellvertretend für die Getöteten sprechen. Gleichzeitig war aber auch von Beginn an klar, dass die dokumentierten Interviews nicht das Geschehene oder gar die Fakten darstellen, sondern die Zeugenaussage. Das Interview im Dokumentarfilm „dokumentiert vielmehr den Zeugen, wie er das Zeugnis ablegt, und es dokumentiert das Verständnis und die Bedeutung, die bei der Tätigkeit des Zeugnisablegens selbst erzeugt werden.“ 19
Das ergibt sich – wie oben beschrieben – zwingend daraus, dass der Film nur die Realität vor der Kamera repräsentieren, nicht jedoch den direkten Blick in die Vergangenheit liefern kann. Indem das Interview als Zeugnis wahrgenommen wird, erscheint es als Überlieferung aus der Vergangenheit. Es ist nach dieser Lesart eine Quelle, seine ausschnittweise Verwendung im Film ein Zitat. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Zeitzeugenbefragungen, die oral history, hat sich allerdings inzwischen von 16 Das Zeitzeugenprojekt Gedächtnis der Nation ist ein digitales Videoarchiv, welches auch durch ein durch Deutschland fahrendes Aufnahmestudio gefüllt wird. Vgl. die Website des Projektes: http://www.gedaechtnis-der-nation.de/mitmachen/gdn-bus.html. 17 Die Kritik an Guido Knopps Arbeitsweise wird seit Jahren sogar im Feuilleton der großen Tageszeitungen artikuliert. Die wichtigsten Texte von Seiten der Geschichtswissenschaft sind Wulf Kansteiner, Die Radikalisierung des deutschen Gedächtnisses im Zeitalter seiner kommerziellen Reproduktion: Hitler und das „Dritte Reich“ in der Fernsehdokumentationen von Guido Knopp, in: ZfG 51/2003, 626–648; Oliver Näpel, Historisches Lernen durch ‚Dokutainment‘? Ein geschichtsdidaktischer Aufriss. Chancen und Grenzen einer neuen Ästhetik populärer Geschichtsdokumentation, analysiert am Beispiel der Sendereihen Guido Knopps, in: ZGD 2/2003, 213–244. 18 Auschwitz. Die Täter – Die Opfer – Die Hintergründe (Großbritannien 2005, BBC, R: Laurence Rees). 19 James E. Young, Beschreiben des Holocaust, Frankfurt am Main 1997, 245f.
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der Vorstellung entfernt, Interviews würden quasi als neugeschaffene Quellen Aufklärung über vergangene Ereignisse liefern. Stattdessen rückt sie die Erkenntnis in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit, wie Menschen ihre Erfahrungen im Laufe ihres Lebens verarbeitet haben und wie die Erinnerungen von Zeitzeugen sich entwickelt haben. 20 Diese Erkenntnis wird jedoch im Dokumentarfilm nicht reflektiert. Die Zeugenaussage wird selten hinterfragt, höchstens werden gegensätzliche Aussagen gegenübergestellt. Nur in wenigen Filmen wird der Umgang mit der Vergangenheit in der Gegenwart selbst zum Thema. 21 Für den Zuschauer erweist sich daher der Zeitzeuge, genau genommen: seine Erinnerung, als Überlieferung aus der Vergangenheit. Er vergegenwärtigt im Interview die Vergangenheit. Damit ist er gleichzeitig ein Authentifizierungszeichen des Dokumentarfilms, er bestätigt mit seiner Herkunft aus der Vergangenheit die Wahrheit seiner Aussage und damit letztlich auch des ganzen Films. Die erzählte Erinnerung im Film wird dabei sowohl als Überlieferungsartefakt als auch als symbolische Repräsentanz wahrgenommen. Der Zuschauer sieht eine Person, die damals dabei war, der die Unmittelbarkeit, die Wahrhaftigkeit des Zeugen zugesprochen wird. Gleichzeitig jedoch erzählt diese Person. In ihrer Narration wird die Vergangenheit abgebildet. Es spricht vieles dafür, dass es diese doppelte Qualität des Zeitzeugeninterviews ist, die seine Stärke für den Dokumentarfilm ausmacht. Walter Benjamin hat 1936 für die Kunst die besondere „Aura“ des echten Originals hervorgehoben. Es werde durch den Betrachter mit einem einmaligen Dasein wahrgenommen, an dem die Geschichte sichtbar werde. Diese Aura gehe der Reproduktion verloren und daher habe diese keine historische Zeugenschaft und auch keine Autorität. Benjamin begreift die Aura als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“ 22 Wahrscheinlich ist es sinnvoll diesen Begriff auch auf den Zeitzeugen im historischen Dokumentarfilm anzuwenden. Er tritt als einmalige Quelle aus der Vergangenheit auf, der diese im Interview für den Film und damit den Zuschauer vergegenwärtigt. Die Vorstellung des Zuschauers, dass der Zeuge ein historisches Ereignis wirklich erlebt habe, verleiht ihm seine Wirkung.
20 Als Einführung in die oral history Alexander von Plato, Zeitzeugen und die historische Zunft. Erinnerung, kommunikative Traditierung und kollektives Gedächtnis in der qualitativen Geschichtswissenschaft – ein Problemaufriss, in: BIOS 13/2000, 5–29. 21 Beispiele hierfür sind etwa Mein Krieg (Deutschland 1990, R: Harriet Eder/Thomas Kufus), in dem Wehrmachtssoldaten auch nach ihrem heutigen Selbstverständnis zum Zweiten Weltkrieg befragt werden, oder Meine Familie, die Nazis und Ich (Israel/Deutschland 2011, R: Chanoch Ze’evi), der direkt die Bewältigung der Vergangenheit durch Nachgeborene thematisiert. 22 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1977, 136–169, hier 142.
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3. Wie deutlich wurde, repräsentiert der Zeitzeuge im Dokumentarfilm die Vergangenheit. Einerseits, indem er selbst aus der Vergangenheit kommt, andererseits, indem er darüber berichtet. Dieser Vorgang ist nun durch den Film gesteuert. Wenn Vergangenheit im Interview vor laufender Kamera repräsentiert wird, stellt sich besonders die Frage nach dem Einfluss des Dokumentaristen auf das Zeitzeugeninterview. Hierzu sollen im Folgenden zwei Beispiele genauer betrachtet werden: ein Zeitzeugeninterview in der berühmten Dokumentation Shoah von Claude Lanzmann und der Einsatz von Zeitzeugen in der dreiteiligen Fernsehdokumentation Stalingrad von Guido Knopp. Wie der Dokumentarist auf das Zeitzeugeninterview einwirkt, wird vielleicht am deutlichsten an einem Beispiel aus Shoah. Es handelt sich um das Interview mit dem jüdischen Friseur Abraham Bomba, der in Auschwitz den Frauen die Haare schnitt, bevor sie in den Gaskammern ermordet wurden. In seiner Autobiographie beschreibt Lanzmann den Hintergrund des Interviews. Nach langer Suche hatte er Bomba in New York gefunden und verbrachte mit ihm ein Wochenende im Gespräch. Hier wurde ihm klar, so beschreibt er es, wie sehr er einen subjektiven Zugang zu den Zeitzeugen benötigte: „Um ihn und die anderen filmen zu können, musste ich schon vorher alles über sie wissen (…) um zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Fragen zu stellen.“ 23
Für die Dreharbeiten, die erst zwei Jahre später stattfanden, musste Lanzmann Bomba erneut suchen, da dieser inzwischen nach Israel ausgewandert war. Bomba wurde dann in einem Friseurladen interviewt, während er einem Mann die Haare schnitt. Bomba beschreibt im Interview seine Aufgabe, den Frauen vor ihrem Tod die Haare zu schneiden, weil diese Haare von den Nazis verwertet wurden, vor allem aber, um die Frauen zu täuschen und glauben zu machen, es handele sich nur um eine Hygienemaßnahme. Der Höhepunkt des Interviews entsteht, als Lanzmann nach den damaligen Gefühlen von Bomba fragt. Dieser setzt an, die Geschichte eines mitgefangenen Friseurs zu erzählen – und es bleibt in der Situation unklar, ob es nicht eigentlich seine eigene Geschichte ist –, der seiner Frau und seiner Schwester vor der Ermordung die Haare schneiden musste, bricht dann jedoch die Erzählung ab. Er könne es nicht erzählen, da es zu furchtbar sei. Lanzmann insistiert mehrfach, dass Bomba die Geschichte erzählen müsse: „Ich bitte Sie. Wir müssen das machen. Sie wissen das.“ 24 Tatsächlich beschreibt Bomba schließlich unter Tränen, wie es unmöglich gewesen sei, selbst seine nächsten Verwandten zu warnen. Diese Stelle des Zeitzeugeninterviews führt bei Zuschauern zur Irritation, da Lanzmanns mehrfaches Drängen als Nötigung wahrgenommen wird. Die Irritati-
23 Claude Lanzmann, Der patagonische Hase. Erinnerungen, Hamburg 2012, 551. 24 Das Interview mit Bomba ist abgedruckt bei Claude Lanzmann, Shoah, Reinbek bei Hamburg 2011, 157–164, hier 163.
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on verstärkt sich noch, wenn die Zuschauer erfahren, dass die ganze Aufnahmesituation gestellt ist. 25 Tatsächlich arbeitete Bomba in Israel nicht mehr als Friseur. Der Salon wurde als Kulisse gesucht und der „Kunde“ war ein Freund, an dem das Haareschneiden nur simuliert wurde. Lanzmann verteidigt die Inszenierung: „Ohne die Schere wäre die Szene hundertmal weniger stark gewesen. Aber vielleicht hätte sie nicht einmal stattfinden können: Die Schere macht es möglich, dass er seinen Bericht veranschaulichen und zugleich fortsetzen, wieder Atem und Kraft schöpfen kann, so unmöglich und verzehrend es ist, was er zu sagen hat.“ 26
Der Inszenierung wird also eine doppelte Aufgabe zugewiesen: Zum einen verstärke sie die Wirkung der Darstellung auf den Zuschauer, zum anderen öffne sie erst den Zeitzeugen für seine Aussagen. Die Unterschiede werden deutlich, wenn man zum Vergleich eine Dokumentation des ZDF von Guido Knopp betrachtet. Der zum 60jährigen Jubiläum der Schlacht von Stalingrad gesendete Dreiteiler Stalingrad 27 verwendet insgesamt 57 Zeitzeugen, die in kurzen, höchstens eine halbe Minute langen Ausschnitten gezeigt werden. Verwendet wird der übliche dunkle Hintergrund, vor dem die Zeitzeugen nur mit einem Spot erleuchtet sitzen. Sie werden zumeist in Nah– und in Großaufnahme gezeigt. Auffallend sind dabei die beiden wichtigsten Zeitzeugen. Der Stalingrad-Kämpfer Hans-Erdmann Schönbeck 28, ehemaliges Aufsichtsratsmitglied von BMW, kommt in der Dokumentation am häufigsten zu Wort, insgesamt elfmal, zudem sind seine Beiträge auffallend lang. Schönbeck gibt einen nüchternen Bericht, der eher belehrt als Persönliches berichtet. So spricht er fast durchgängig in der ersten Person Plural, womit er für alle Soldaten in Stalingrad steht. Erkennbar versucht er das Handeln der Soldaten zu verteidigen: „Wir sind nicht so böse, wie Ihr berechtigterweise glaubt, dass wir sind.“ 29 Jedes Schuldeingeständnis relativiert er sofort wieder. 30 Historiker haben zumeist darauf hingewiesen, wie sehr Guido Knopp in seinen Dokumentationen eine Rekontextualisierung der Geschichte vornimmt, indem relativierende Positionen verbreitet werden. 31 Für die Betrachtung hier erscheint wichtiger, wie sehr dieser Zeitzeuge als Experte der Vergangenheit eingesetzt wird. Seine Aussage bestätigt die Darstellung. Ergänzt wird diese pseudo-objektive Darstellung jedoch von den für Knopps Dokumentationen typischen emotionalen Aussagen. Im Fall von Stalin25 So meine eigene Erfahrung in zwei Lehrveranstaltungen im Wintersemester 2011/12 in Greifswald und im Sommersemester 2012 in Kiel. 26 Lanzmann, Hase, 555. 27 Stalingrad – Die Dokumentation (Deutschland 2003; R: Guido Knopp). Der folgende Abschnitt stützt sich auch auf eine Hausarbeit zu diesem Film von Stefanie Gaul, die im Wintersemester 2011/12 eingereicht wurde. 28 Vgl. auch Lena Schipper, Seine Rettung war auch das Erzählen, in: FAZ 28.12.2012. http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/stalingrad-seine-rettung-war-auch-das-erza ehlen-12007229.html (27.1.2013). 29 Stalingrad, Tl. 2, 32:04–32:09. 30 Z. B. Stalingrad, Tl. 2, 31:20–32:12 31 Näpel, Dokutainment.
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grad ist das besonders die Schilderung von Hildegart Tomisch, der Ehefrau eines Soldaten. Sie erzählt frei und offen. Persönlichkeit und Individualität werden im Unterschied zu Schönbeck noch dadurch herausgestellt, dass für die letzte Einstellung die Groß– und nicht die Nahaufnahme verwendet wurde. 32 Frau Tomisch wird beim Erzählen immer wieder von ihren Emotionen übermannt und bricht am Ende dann auch in Tränen aus. Die Tatsache, dass ihr Mann im Krieg war, rückt bei ihrem Bericht in den Hintergrund, der private Kontext führt beim Zuschauer fast unweigerlich zu Mitgefühl. „Und de’ Dankbarkeit ist bei uns immer geblieb’n, in unserer Ehe.“ 33 Klar erkennbar wird hier, dass die gezeigten Emotionen, die vom Zuschauer miterlebt werden sollen, dabei als historische Emotionen verstanden werden. Frau Tomin wird als emotionales Artefakt präsentiert, die uns heute zeigt, welche Emotionen sie schon „immer“, also schon in der Vergangenheit bei der Rückkehr ihres Mannes hatte. Christian Iseli hat Strategien der dokumentarischen Filmarbeit als entgegengesetzte Pole dargestellt, zwischen denen der Dokumentarfilmer sich entscheiden kann. Dieses Raster ist auch hilfreich zur Analyse der beiden hier vorgestellten Varianten des Zeitzeugeneinsatzes. Einen grundlegenden Unterschied sieht Iseli bereits darin, ob bei den Dreharbeiten ein Ereignis unabhängig vom Dreh oder gerade zum Zweck des Gefilmtwerdens stattfindet. Dieser Unterschied zwischen beobachtend und interaktiv entspricht aus seiner Sicht dabei zwei wichtigen Richtungen des Dokumentarfilms: Im cinema direct solle nur beobachtet werden, im cinema vérité dagegen sei es das Ziel eine Situation herbeizuführen, in der die Wahrheit offengelegt wird. Es ist offensichtlich, dass ein Zeitzeugeninterview inszeniert werden muss, um überhaupt stattzufinden. Der Dokumentarfilmer muss aktiv in das Geschehen eingreifen, indem er Fragen stellt und einen Anreiz zum Reden gibt. Beim interaktiven Dreh unterscheidet Iseli dann weiter das Ausmaß der Kontrolle auf die Filmsituation. Hierbei müsse zwischen der Kontrolle der konkreten Situation und der Kontrolle der bildgestalterischen Mittel unterschieden werden.34 Bei den oben betrachteten Beispielen wird erkennbar, wie sehr auch Dokumentarfilme inszeniert werden. Bei der Befragung von Abraham Bomba in Shoah ist die Situation, das Interview im Friseursalon, künstlich geschaffen. Was Bomba zu erzählen hat, war – zumindest weitgehend – Lanzmann vorher bekannt. Das Interview selbst verläuft frei, als Bomba jedoch nicht mehr weiter kann, interveniert Lanzmann, in dem er zum Durchhalten auffordert. Die filmischen Mittel sind relativ wenig kontrolliert: Es wird kein künstliches Licht verwendet, auch die Kame-
32 Es ist wahrscheinlich, dass bei der Aufnahme des ZDF einheitlich die Nahaufnahme verwendet wird, dann aber Zoom-Bewegungen in der Nachbearbeitung je nach Bedarf erfolgen. 33 Stalingrad, Tl. 3, 16:30–17:16; 36:34–37:28; 41:03–41:12. Das Zitat findet sich letzten Ausschnitt. 34 Christian Iseli, Strategien der filmischen Umsetzung. Grundlegende Entscheidungen bei der dokumentarischen Filmarbeit, in: Lucie Bader Egloff / Stefan Schöbi / Anton Rey (Hgg.), Wirklich? Strategien der Authentizität, Zürich 2009, 20–61, hier 27f.
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raführung wirkt eher situationsbedingt als geplant. Der Zeitzeugeneinsatz bei Knopp findet dagegen offensichtlich in einer stark gesteuerten Umgebung statt. Allerdings gibt es auch hier keine Hinweise, dass die Interviewpartner nicht autonom in ihrer Aussage sind. Die Studioaufnahme mit neutralem Hintergrund, gerichtetem Licht und festgelegter Kameraeinstellung zeigt eine strikte Bildgestaltung. Vor allem aber setzt sich die Inszenierung in Form des Schnittes durch. Indem bei Knopp nur kurze Ausschnitte gezeigt werden, wird die Aussage für verschiedene Zwecke einsetzbar. Als letztes Grundelement der dokumentarischen Repräsentation von Wirklichkeit verweist Iseli dann noch auf die Reflexivität. 35 Er versteht darunter, wie weit der Prozess des Filmemachens selbst in der Dokumentation offen gelegt wird. Bei Shoah, wie auch den anderen Zeitzeugen-Filmen der späten 1970er, bzw. frühen 1980er Jahre, ist das der Fall, da hier die investigative Suche und Befragung der Zeitzeugen selbst zum Thema der Dokumentation gemacht werden. Der Interviewer, nämlich Claude Lanzmann selbst, wird im Bild gezeigt, seine Fragen und Einwürfe werden präsentiert, ja sogar die Übersetzung durch einen Dolmetscher wird gezeigt. Der mehrstufige Schritt der Formulierung der Frage, ihrer Übersetzung ins Polnische oder Hebräische, der Antwort und deren Rückübersetzung und schließlich der Übertragung durch Untertitel in die Sprache der Zuschauer machen dabei den Kampf um die Erinnerung begreifbar. Bei Knopp dagegen bleibt die Entstehung des Interviews völlig im Dunkeln, da nur noch die Antworten gezeigt werden und die Fragen weg gelassen werden. Die Aufnahmen sind sogar „zeitlos“, wie Bösch betont hat, da sie durch den gewählten Bildausschnitt weder Ort noch Kleidung des Interviewten erkennbar machen und damit noch nicht einmal eine zeitliche Verortung der Aufnahme ermöglichen. Erkennbar wird, dass alle Zeitzeugen-Befragungen inszeniert werden. Denn die Zeitzeugenbefragung konstruiert erst ihre Quelle und zeichnet sie gleichzeitig für den Film und damit die Nachwelt auf. Ob es eine Grenze für diese Inszenierung gibt, ist die Frage. Ab wann schlägt die Inszenierung in Manipulation um? Die Dokumentarfilmerin Ilona Ziok hat die entscheidende Grenze darin gesehen, ob der Inhalt einer Aussage des Zeitzeugen durch die Interaktion des Dokumentaristen verfälscht werde oder nicht. Einen Zeitzeugen etwa zu provozieren, damit er seine Aussagen mit mehr Emotion und damit auch medial wirksamer vorträgt, hält sie für legitim. 36 Ein historischer Dokumentarfilm „lügt“ 37 also erst dann, wenn er durch Schnitt und Montage Aussagen verfälscht. *
35 Iseli, Strategien, 31f. 36 In einer Diskussionsrunde mit Greifswalder Studenten am 30.1.2012. 37 Eitzen, Wann ist ein Dokumentarfilm, hat das „lügen können“ zu einem wesentlichen Prinzip des Dokumentarfilms gegenüber dem fiktionalen Film erklärt.
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Die Übernahme des Zeitzeugen in den historischen Dokumentarfilm und der Wandel zum modernen Kompilationsfilm Knoppscher Prägung wird oft mit Tendenzen der modernen Geschichtskultur erklärt: Hier werde das Bedürfnis nach Personalisierung, Emotionalisierung und Intimisierung in der Geschichtsdarstellung umgesetzt. 38 Der Siegeszug des Zeitzeugen als filmisches Mittel kann jedoch nicht völlig aus den Bedürfnissen der historischen Erinnerung erklärt werden. Es spricht einiges dafür, dass inhaltliche Gründe nicht den Erfolg der Zeitzeugen als filmisches Mittel erklären, sondern dass seine Funktion im historischen Dokumentarfilm eine wichtige Rolle spielt. Der Zeitzeuge löst eine grundsätzliche Problematik des historischen Dokumentarfilms, nämlich eine Vergangenheit abzubilden, obwohl die Kamera nur die Gegenwart vor ihrer Linse erfassen kann. Und das gelingt ihm besonders effektiv, da er auf doppelte Weise Vergangenheit repräsentiert: Er selbst tritt als Überbleibsel der Vergangenheit auf und vergegenwärtigt diese Vergangenheit in seiner Erzählung. Im Zeitzeugenbericht wird eine historische Quelle im Stadium ihrer Entstehung vorgeführt. Der Zuschauer, der sich diesen Bericht aneignet, als ob er aus der Vergangenheit käme, versieht ihn dabei mit einer Aura der Ferne. Es geht daher letztlich nicht um den aufklärerischen Inhalt des Zeitzeugenberichts, sondern der Zeitzeuge wird im modernen Dokumentarfilm zu einem Authentizitätssignal, dass die „Wahrheit“ des Dokumentarfilms bestätigen soll.
38 Christina Naber, Dokumentarfilm und Emotion. Grundlagen – Konzepte – Analysen, Saarbrücken 2009.
EROBERN UND ERKUNDEN Anmerkungen zur literarischen und kartographischen Alexander-Geographie im Mittelalter Monika Unzeitig, Greifswald 1. Literatur und Kartographie: Alexander und die Welt Die drei herausragenden Herrscher, die die mittelalterliche Literatur prägen, sind Karl der Große, König Artus und Alexander der Große. Ihre Herrschaftsräume sind festgelegt: Karl dem Großen ist das Frankenreich in seiner Ausdehnung von Sachsen bis Italien zuzuordnen, Artus die insulare Bretagne wie auch die Bretagne auf dem französischen Festland, Alexander die ganze Welt. Alle drei werden als expandierende Eroberer imaginiert und idealisiert: Karl ist der von Gott eingesetzte christliche Kaiser, der im Kampf gegen die Heiden die Christenheit verteidigt. Artus ist der ideale höfische König, der für eine gerechte Herrschaft über die besiegten und unterworfenen Länder steht, als Friedenskönig im Anschluss an seine Expansionspolitik stilisiert wird und dessen Herrschaftsprinzip des primus inter pares in der Tafelrunde versinnbildlicht ist. Alexander ist der antike Held und Herrscher, der sich in das christliche Geschichtsmodell des Mittelalters der vier Weltreiche in den Übergang von der persischen zur griechischen Herrschaft als „Vollstrecker von Gottes heilsgeschichtlichem Weltplan“ 1 einordnen lässt und zum Weltherrscher wird, der bis an die Grenzen der bekannten Welt vorstößt. Ganz gleich ob er als Welteroberer idealisiert oder durchaus kritisch bewertet wird, ein „einheitliches Alexander-Bild kennt das Mittelalter, wie schon die Antike nicht“ 2, präsentiert er die „Utopie der einen, allumfassenden, ungeteilten Welt, in der es unzugängliche und andersartige Orte im Prinzip nicht geben kann.“ 3 Die literarischen Bearbeitungen des Karlsstoffs, des Artusstoffs und des Alexanderstoffs sind im mittelalterlichen Europa in Latein und Volkssprache präsent, ausgesprochen zahlreich und bieten vielfältige Variationen durch immer wieder 1
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Jan Cölln, Der Heide als Vorbild für christliche Weltherrschaft. Zur geistlichen Funktionalisierung Alexanders in Lambrechts Dichtung, in: Udo Schöning (Hg.), Internationalität nationaler Literaturen. Beiträge zum ersten Symposion des Göttinger Sonderforschungsbereichs 529, Göttingen 2000, 86–101, hier 86. Zu weiteren Deutungsmodellen wie z. B. Alexander als typologische Personifikation des Antichrist, siehe ebd. Elisabeth Lienert, Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001, 28. Hartmut Kugler, Der Alexanderroman und die literarische Universalgeographie, in: Schöning, Internationalität, 102–119, hier 103.
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neu erzählende und neu interpretierende Versionen der großen Herrscherfiguren. Doch der gleichgewichtigen Überlieferung dichterischer Zeugnisse zu den drei großen Herrschern entspricht nicht eine gleichwertige Präsenz in den kartographischen Medien. Wenn auch Herrschaft und Expansion, damit der Herrschaftsraum, für die drei genannten, Karl, Artus und Alexander, und ihre Herrschervita in herausragender Weise konstitutiv sind, gibt es keine Herrscherdarstellungen von Karl dem Großen oder von König Artus, keine Markierung ihrer Herrschaftsräume auf den mittelalterlichen Weltkarten; dort finden sich gleichwohl die Spuren von Alexanders Vita. Ausgewählte Stationen aus seiner Biographie bilden eine etablierte Tradition in der Kartenikonographie, und die großformatige Ebstorfer Weltkarte markiert über 40 Orte aus Alexanders Leben. 4 Von Alexander wird also nicht nur im Medium der Dichtung, sondern ebenso auf dem Medium Karte erzählt. Gleichzeitig entwirft die Alexander-Dichtung selbst eine mental map von Alexanders Bewegung im Raum, erzählt von Alexanders Leben anhand einer Vorstellung von der Welt, wie sie die Weltkarten des Mittelalters präsentieren. Diese Vorstellung von der Welt in den Texten ist jedoch nicht allein ein Erzählen mit einer kognitiven Karte; im Erzählen von Alexander und seiner Welteroberung wird die Weltbeschreibung eine kartographische, das heißt, die Weltkarte selbst wird zum erzählten Gegenstand. So sind die inhaltlichen wie auch die medialen Bezüge und Verschränkungen zur Präsentation von Alexander und seiner Weltherrschaft in Dichtung und Kartographie vielfältig und komplex. Wie Alexanders Aktionsraum und Herrschaftsraum über Erzählverfahren in der Literatur und über Signaturen und Narrative auf der Karte konstituiert wird, soll exemplarisch vorgestellt werden. 2. Kartographie in der Literatur: Weltbeschreibung als Weltkarte im Kontext der Alexanderdichtung Im 12. Jahrhundert, wahrscheinlich zwischen 1178 bis 1182, verfasst Walter von Châtillon seine Alexandreis 5 in lateinischer Sprache; der gelehrte Autor erzählt von Alexanders Welteroberung und von seinem Scheitern, bis zu seinem Tod. 6 Im Kontext von Alexanders Welteroberung sind zwei Weltbeschreibungen inseriert, die dem Modell der mittelalterlichen mappa mundi folgen, die sich explizit durch ein T-O-Schema definiert. 7 4 5
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Siehe zur Ebstorfer Weltkarte und den Alexander-Stationen, Kugler, Alexanderroman, 111. Textausgabe: Walter von Châtillon, Alexandreis. Das Lied von Alexander dem Großen. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Streckenbach unter Mitwirkung von Otto Klinger, mit einer Einführung von Walter Berschin, Heidelberg 1990. Lateinische Zitate nach: Galteri de Castellione Alexandreis. Hg. v. Marvin L. Colker, Patavii 1978. Vorlage für Walters Alexandreis sind die Historiae Alexandri Magni des Curtius Rufus. Die mappa mundi bildet nicht die gesamte Erde, sondern nur die bekannte bewohnbare Welt mit den drei Kontinenten ab. Diese drei Erdteile werden entsprechend der Ostausrichtung dieses Kartentyps nach einem T-Schema geordnet: Asien im Osten, über dem T-Balken, doppelt
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Die erste kartographische Weltbeschreibung (Buch I, 396–426) ist im Handlungsverlauf an der Stelle platziert, als Alexander Europa hinter sich lässt und zum ersten Mal den Boden Asiens betritt. Die Weltbeschreibung markiert das Transitorische und Visionäre in Alexanders Vorhaben, Darius zu bezwingen und die Welt zu erobern; der Eroberungsstrategie korrespondiert die Erzählstrategie, denn der deskriptive Einschub steht im Handlungsverlauf zwischen der Ankunft Alexanders am Abend in Asien und dem morgendlichen Erwachen und Aufbruch zur Eroberung Asiens, so als überbrücke die Beschreibung der (zu erobernden) Welt die Nacht, die Ruhepause im Nachtlager vor dem Feldzug. Die descriptio ist ausdrücklich vom Autor selbst formuliert – wer sonst sollte es tun, da alle schlafen. „I, 394–406 Endlich ist Muße fürs Mahl, und während sie festliche Becher Leeren, schmausen sie weiter bis tief in das nächtliche Dunkel. – Als vor Zeiten, so geht die Sage, ein König den dritten Erdteil bezwang, erhielt auch von ihm das Land seinen Namen: Asien, welches gen Osten vom tiefen Weltmeer begrenzt wird Und von Süden her weit in nördlicher Richtung sich ausdehnt. Fest verriegeln den Norden Maeotis und Tanaisfluten. Während unsere See 8 Europa von Asien scheidet. Diesem allein gebührt es, die Erde im Gleichmaß zu teilen: Zwar von dreien nur eins, halbiert – so melden die Forscher – Asien dennoch das Ganze; auch gönnt der Erdkreis den andren Beiden die Hälfte, die je mit weniger Raum sich begnügen. – So die Lage des Erdteils.“ 9
Das, was die Forscher („Topographi“) melden, ist die Dreiteilung der bekannten Welt mit ihrer proportionalen Verteilung der Kontinente, genau so, wie sie in den enzyklopädischen imago mundi-Texten tradiert und visualisiert im T-O-Schema der mappa mundi ist. Der Text bezieht sich somit auf die geometrische Einteilung der bekannten Welt und ist zugleich Kartenbeschreibung, descriptio. Die folgende ausführliche Beschreibung beschränkt sich auf den Erdteil Asien, reicht von Indien über Mesopotamien bis hin zu Jerusalem. Reihenfolge und Angaben zu Bergen und Flüssen, Tieren, Völkern, Reichtümern korrespondieren
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so groß wie Europa bzw. Afrika, die links und rechts vom Längsstrich angeordnet werden. Die drei Kontinente werden durch Wassergrenzen unterschieden: Mittelmeer, Don und Nil. Umschlossen ist die Ökumene vom Wendelmeer, d.h. dem Weltenmeer. Die Flüsse bilden das T, das Weltenmeer bildet den Kreis, so sind Wasser und Land dem T-O-Schema entsprechend in ein geographisches Ordnungsmuster übersetzt. Gemeint ist das Mittelmeer. „Deinde uacant epulis, ac dum sollempnia tractant / Pocula, continuant serae conuiuia nocti. / Tercia pars orbis, cuius ditione teneri / Olim dicta fuit, eius quoque nomen adepta est. / Hec Asia est, uasto quam gurgite solis ab ortu / Terminat Oceanus, et ab Austro extendit in Arton. / A Borea Tanais simul et Meotidos unda / Claudit, ab Europa nostrum disterminat equor. / Huic soli ex equo cessit partitio mundi, / Cumque sit una trium, solam hanc discindere mundum / Topographi perhibent: igitur breuiore duabus / Contentis spacio medium non inuidet orbis. / Hic situs est Asiae.“ Die Kursivierungen dienen der Hervorhebung durch die Verfasserin.
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mit bekannten Beschreibungen aus der enzyklopädischen Literatur des Mittelalters, wie zum Beispiel den Etymologiae des Isidor von Sevilla. Reihenfolge und Angaben indizieren ebenso eine Kartenlektüre des Erdteils Asien von oben nach unten, bis zur Kartenmitte. Wie auf den Karten mit T-O-Schema ist der Kartenmittelpunkt christlich auf Jerusalem zentriert. Die Beschreibung schließt mit dem Hinweis des Autors: „I, 425f. Zahllos sind Asiens Länder; wenn alle mein Griffel beschriebe, Sprengte er wohl der Dichtung Verlauf und schüfe nur Unlust.“ 10
Indem der Autor auf die weitere Ausführung zu Asien und damit auf den weiteren Ausweis seiner Autorität als Gelehrter verzichtet, der eben das auch könnte, nämlich alle diese Länder auflisten, erweist sich die Fähigkeit des Autors als guter Erzähler. Er leitet unmittelbar zum Morgenanbruch und damit zu Alexanders Eroberungszug über. „I, 427f. / 431f. Schon beginnen am Morgen die Stimmen der Vögel zu plaudern Und mit zartem Gesang das Licht vor der Zeit zu begrüßen (...) da löst Alexander aus leichtem Schlafe die Glieder (...).“ 11
Die zweite kartographische Weltbeschreibung (Buch VII, 389–425) schließt den Handlungsbogen, denn sie ist Teil von Darius’ Grabstätte, die Alexander nach dem Tod des persischen Königs errichten lässt. 12 Das Besondere der Grabstätte des Darius liegt in der architektonischen und inhaltlichen Ausgestaltung der Kuppel 13: „VII, 396–403 (...) die Kuppel des Daches. Herrlich zeigt uns ihr Rund die Welt in dreifacher Teilung: Hier, in endloser Weite, erstrecken sich Asiens Fluren, Dort den engeren Raum bewohnen die kleineren Schwestern. Deutlich geschieden erkennt man im Bild das Land und die Flüsse, Völker, Städte und Wälder, Gebiete mit Orten und Bergen,
10 „Totque Asiae partes, quas si meus exaret omnes / Aut seriem scindet stilus aut fastidia gignet.“ 11 „Iamque sub auroram uolucrum garrire parabat / Et lucem tenui precedere lingua susurro (...) / facili cum membra sopore / Soluit Alexander (...).“ 12 Das Erbauen einer bedeutenden Grabstätte durch einen bekannten Künstler (Apelles) sowie die ausführliche Beschreibung der Architektur der Grabstätte ist in der Handlung der Alexander-Geschichte ein herausragendes Ereignis, allerdings dahingehend zu relativieren, dass das Motiv der prunkvollen Grabstätte und damit verbunden die Ekphrasis des Kunstwerkes über die Antike durchgehend im Repertoire der mittelalterlichen Literatur bekannt und zahlreich belegt sind (beispielsweise das Grabmal der Camilla im Eneasroman). 13 Für das Grab von Darius Ehefrau schafft ebenfalls Apelles die Grabstätte, IV, ab 174; bis 274 schildert der Erzähler, was die Grabgestaltung erzählt (ohne dass die Architektur beschrieben wäre): Von der Entstehung der Welt (Genesis) mit der Schöpfungsgeschichte werden die Anfänge der Menschheitsgeschichte, also Bibelgeschichte zum Gegenstand.
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Auch die Inseln, die allseits das Meer, das wogende, einschließt, Gegenden endlich, die arm sind, und unerschöpfliche andre.“ 14
Die architektonische Kuppelrundung ist ausgefüllt mit einer mappa mundi. Der Leser folgt durch das deiktische hier und dort gleichsam mit dem Auge eines Betrachters der Kartenbeschreibung, liest dabei die Karte in der durch den linearen Text vorgegebenen Reihenfolge. Diese beginnt mit Asien, dem oberen Teil der Karte und setzt sich fort mit den kleineren Kontinenten Afrika und Europa. Im Anschluss an die Vorstellung des Kartendiagramms mit seiner Dreiteilung beschreiben im zweiten Teil der Ekphrasis konkrete Angaben die drei Erdteile mit ihren Signaturen und signifikanten Orten und Personen. Auf den Gang durch die drei Kontinente in der Reihenfolge Asien, Afrika und Europa folgt abschließend die hydrographische, durch Flüsse und Meere strukturierte, Einteilung und Begrenzung der bekannten Welt. „VII, 415–420 Unstet flutet am Rand der Ozean rings um die Kuppel; Asien dort aber scheidet von beider Schwestern Gestade Jenes mittlere Meer, dem Felsenriffe die Stirne Bieten, – Meer, in das sich mit vielfach gewundenen Ufern Weit alle Flüsse ergießen: indem es sie anlockt, Gleiten sie, immer aufs neue gekrümmt, ins große Gewässer.“ 15
So endet die Ekphrasis – wie auch der Blick des lesenden Betrachters – mit dem Blick auf das alles umschließende Weltmeer. An die Ekphrasis des Kuppelgewölbes schließt sich im Text das Zitat der vom Künstler gestalteten Inschrift an, das so auch der vorgestellten Kartenlektüre seine Bedeutung und Funktion gibt: „Hier begrub man den Widder, den Trefflichen, dem Alexander, Hammer der ganzen Welt, die beiden Hörner zerbrochen.“ 16 (VII, 423f.) Die Weltbeschreibung ist triumphale Inbesitznahme, Inszenierung von Alexanders Weltherrschaft. Auf diese Weise knüpft der literarische Text an eine im Mittelalter praktizierte Zurschaustellung von Herrschaft an: das Visualisieren von herrschaftlichen Ansprüchen durch Karten. 17 So wie in der Lebenswirklichkeit die kartographische Darstellung von Herrschaftsraum, von Vorherrschaft über den 14 „Concaua testudo librati ponderis, in qua / Forma tripertiti pulchre describitur orbis. / Hic Asiae sedes late diffunditur, illic / Subsidunt geminae spacio breuiore sorores. / Hic certis distincta notis loca flumina gentes / Vrbes et siluae regiones oppida montes / Et quecumque uago concluditur insula ponto, / Indigeat que terra, quibus que rebus habundet.“ In der deutschen Übersetzung nicht zu erkennen, steht im lateinischen Text noch ein weiteres deiktisches „hic“ vor der Aufzählung der abgebildeten ikonographischen Kategorien, hier gekennzeichnet durch Kursivierung. 15 „Lubricus extremas tantae testudinis oras / Circuit Oceanus. Asiam tractusque duarum / Opposito medius discriminat obice pontus, / Pontus, distortis in quem uaga flumina ripis / Omnia descendunt, et eo ducente recuruos / Flexa per anfractus magnum labuntur in equor.“ 16 „Hic situs est typicus aries, duo cornua cuius / Fregit Alexander, totius malleus orbis.“ 17 Ausführlich dazu Martina Stercken, Repräsentieren mit Karten als mediales Modell, in: Modelle des Medialen im Mittelalter (Zeitschrift des Mediävistenverbandes) 15/2010, Heft 2, 96– 113.
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Erdkreis „erlebbare[s] Instrumentarium herrschaftlicher Inszenierung“ 18 ist, so wird über die Ekphrasis im Text diese lesbar und für den Rezipienten sichtbar erfahrbar. Wenn hier das Medium Karte über die Wissensvermittlung hinaus eine politisch repräsentative Funktion bekommt, ist auch zu berücksichtigen, dass die wissensarchivierende Kartenfunktion mit Bezug auf die Herrscherfigur Alexander vorgestellt ist. 19 Die vorgestellte Weltkarte zeichnet Alexander, den Initiator und Auftraggeber für die Gestaltung der Grabstätte, als gelehrten Herrscher aus, der über das enzyklopädische Wissen seiner Zeit verfügt. Sie weist Alexander den Welteroberer als ‚Weltkundigen‘ aus. Während die erste Weltbeschreibung nach dem Modell der T-O-Karte explizit dem Verfasser, dem gelehrten Autor und seinem Griffel zugewiesen ist, ist die zweite Weltbeschreibung zwar auch Ausweis der Rhetorik und Erzählkunst eines Walter von Châtillon, aber die Funktion der Ekphrasis ist die Beschreibung des Kunstwerks, von einem Künstler geschaffen und von Alexander in Auftrag gegeben 20, das die Kenntnis und Gelehrtheit des Herrschers bezeugt. Alexander genügt indes nicht, „einziger Herrscher der Welt“ 21 zu sein, zu eng ist ihm der Erdkreis (IX, 559–565). Gegen diese Anmaßung beschließt Göttin Natur, verbündet in der Rache an Alexanders Hybris mit Styx, den Tod des Sterblichen. Konsequent schließt die Erzählung mit dem Ende von Alexanders Leben und seinem eigenen Grab. Es ist kein sepulkares Monument, errichtet zur Memoria oder zur Darstellung von Herrschaftsgebiet, sondern Relativierung und Reduzierung seines Machtanspruchs über die Vorstellung der Raumrelation. Die Enge des orbis, beklagt vom lebenden Alexander, kontrastiert mit der Enge des letzten Raumes, den der tote Alexander ‚beansprucht‘: Das einfache Grab macht mit fünf Fuß Länge nur einen Bruchteil des gesamten Erdkreises aus: „X, 448–450 Das bezeugt Alexander: dem sonst nicht der Erdkreis genügt hat, Ihm genügt jetzt ein Haus mit ausgeworfenem Boden, Fünf Fuß lang, aus Marmor ausgehöhlt.“ 22
18 Stercken, Repräsentieren, 100. 19 Vgl. dazu auch Stercken, Repräsentieren, 101f., dort mit dem Hinweis auf ein Gedicht von Baudri von Bourgueil zu Ehren der Gräfin Adela von Blois, das das Schlafgemach der Gräfin und die kostbare Ausstattung mit einer mappa mundi auf dem Fußboden beschreibt. Dort auch weiterführend zur Funktion der Ekphrasis. 20 Vgl. zur historischen Praxis und „Herrschaftsträger[n] als Auftraggeber von kartographischen Darstellungen“ Stercken, Repräsentieren, 101. 21 „mundi rex unus“. 22 „Magnus in exemplo est. cui non suffecerat orbis, / Sufficit exciso defossa marmore terra / Quinque pedum fabricata domus.“
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3. Realhistorie und Dichtung im Spiegel der Weltkarten und Alexanders Lebensstationen Auf den mappae mundi vom Typ der T-O-Karte finden sich ausgewählte Stationen aus Alexanders historischer und literarisierter Biographie; Grundlagen für die Kartengestaltung sind auf der einen Seite die kartographische Tradition, die diesen Kartentyp prägt, auf der anderen Seite sind die entscheidenden Quellen für die Kartengestaltung sowohl historische, enzyklopädische wie auch literarische Texte. Der Bezug von Karte und Text zeigt sich bei den kleinformatigen Karten bereits durch den Kontext, in dem sie überliefert sind, also durch ihren Platz im Text in der Handschrift, im Codex. Die großformatigen Karten wiederum integrieren durch die Textlegenden das Buchwissen in das Medium Karte. Die Kartensignaturen sind dabei keine figürlichen Darstellungen Alexanders, sondern Markierungen, die durch Bild (pictura) und Textlegende (scriptura) den Bezug zu Alexander herstellen. 23 Als ein frühes Beispiel einer mappa mundi mit Bezug zu Alexander lässt sich die Isidor-Karte aus dem 12. Jahrhundert anführen. Es ist auch ein frühes Beispiel für eine ausgestaltete T-O-Karte. Sie findet sich in einer Handschrift, die Isidors Etymologiae enthält, und dort vor dem Textabschnitt zum orbis („De orbe“ in roter Schrift; Clm 10058 fol. 154v) und zur Dreiteilung der Erde mit ihren Kontinenten eingefügt ist. Wie die Forschung herausgearbeitet hat, präsentiert sie „drei idealtypisch hervorgehobene Alexanderpositionen“ 24: die „Castra Alexandri“, die „Arae Alexandri“, die „Columne Alexandri“. Die Alexanderpositionen sind als Grenzmarkierungen zu lesen, die über die drei Himmelsrichtungen Süd, Nord, Ost verteilt sind. Nach Hartmut Kugler 25 sind diese Orte zwar der romanhaften Gestaltung der Alexandervita geschuldet, aber gleichsam realhistorisch rezipiert, so dass keine Unterscheidung erfolgt. Orosius nutzt in seiner Anfang des 5. Jahrhunderts n. Chr. entstandenen descriptio orbis bereits die arae Alexandri im Norden und auch das castrum Alexandri im afrikanischen Süden als Markierungspunkte bei der Beschreibung der Lage der Kontinente und ihrer Ausdehnung. 26
23 Anders bei den Portolankarten, die im Paradigmenwechsel von Navigationskarten zu repräsentativen Weltkarten ausgemalt werden und auch Herrschaftsbereiche durch Abbildungen von Herrschern anzeigen. Dort findet sich Alexander als Figur abgebildet, und zwar im Katalanischen Atlas (1374–1376), siehe dazu Margriet Hoogvliet, Pictura et Scriptura. Textes, images et herméneutique des Mappae mundi (XIIIe–XVIe siècle), Turnhout 2007, 224. Eine weitere Ausnahme für das 15. Jh. führt Hoogvliet mit der T-O-Karte aus der Handschrift Bruxelles, Bibl. royale de Belgique, 9260 Jean Mansel La Fleur des histoires an, die Alexander vor dem irdischen Paradies zeigt, 225. 24 Kugler, Alexanderroman, 106. 25 Kugler, Alexanderroman, 106. 26 Siehe Paulus Orosius, Die antike Weltgeschichte in christlicher Sicht. Buch I–IV, übersetzt und erläutert von Adolf Lippold, eingeleitet von Carl Andresen, Zürich / München 1985, Buch I, Kap. 2, Abschnitte 5 und 9; vgl. auch Hoogvliet, Pictura, 220.
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Abb. 1: Isidor-Karte.
Auffällig ist, dass diese Positionen sich am Rand des orbis befinden, also Außenpositionen abstecken. Dabei dürften diese Markierungen von Außenpositionen verschiedene Funktionen haben. Sie bezeugen die geographische Kenntnis der äußersten Punkte des orbis, in diesem Sinne sind die Altäre und Säulen Zeugnisse davon, wie weit der Erdkreis erkundet worden ist. Systematisch sind für alle
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Himmelsrichtungen die Markierungspunkte eingezeichnet: Den Columne Alexandri im äußersten Osten entsprechen die Säulen des Hercules im äußersten Westen; im äußersten Norden finden sich die Arae Alexandri und gegenüber im Süden die Castra. Indem diese Zeugnisse Alexander zugewiesen sind, ist es auch seine Autorität als Erkunder und Eroberer, die ihnen Gewicht verleiht. Die Grenzmarken visualisieren gleichzeitig die Ausdehnung der bekannten Welt und die Ausdehnung seines (einstigen) Herrschaftsraums. Dabei könnte man weiterführend argumentieren, dass Alexanders Name auch deswegen Autorität besitzt, da die auf der Karte eingetragenen Außenpositionen das Bild von Alexander bestätigen, wie es bereits im Alten Testament formuliert ist: „Bis zu den Grenzen der Erde drang er vor.“ 27 In diesem Sinne bildet die Weltkarte – wie jede mappa mundi vom Typ der T-O-Karte – auch Weltgeschichte ab. Die Weltkarte ist zugleich Weltchronik vom Beginn der Menschheitsgeschichte, dem Paradies im Osten Asiens, bis hin zur Gegenwart, Europa im Westen. Der Zeitverlauf ist in den Raum eingebunden und der geographische Raum wiederum in ein christlich bedeutsames Raum-Zeit-Konzept. Andere kleinformatige mappae mundi wählen andere Alexandertopoi. Auf der hemisphärischen Weltkarte aus dem Liber floridus des Lambert von St. Omer, auch in das 12. Jahrhundert zu datieren, ist in der Nähe des Paradieses das Baumorakel bezeichnet: arbores solis et lune. Am nordwestlichen Rand steht: „Hic inclusit Alexander regna XXXII“; dies kann durchaus mit dem Einschließen der apokalyptischen Völker Gog und Magog in Verbindung gebracht werden. Damit sind auf der Karte zwei Orte in Asien platziert und der Alexander-Vita zugeschrieben, die weniger als Grenzmarken fungieren wie auf der Isidor-Karte, sondern als bedeutungstragende Orte zu verstehen sind. Der durch die Flüsse und Befestigungen abgetrennte Raum im Norden Asiens, in den Alexander die 32 Völker eingeschlossen hat, könnte Alexander als christlichen Herrscher ausweisen; während das Baumorakel ihn als Welterkunder und Welteroberer mit der Endlichkeit seines eigenen Lebens konfrontiert. 28 Auffallend prominent und exponiert in der Paradiesnähe bleibt nach meiner Sichtung der mappae mundi das Baumorakel oraculum solis et lune bis ins 15. Jahrhundert. Es findet sich ebenso auf der handgezeichneten Weltkarte des Andreas Walsperger 1448 wie auch auf Karten der Inkunabelzeit. Zu nennen sind die Weltkarte aus dem Rudimentum Novitiorum, eine Weltchronik von 1475, in Lübeck von Brandis gedruckt und die Weltkarte des Hanns Rüst in deutscher Sprache, ein Holztafeldruck auf Papier und handbemalt, um 1480/1500 entstanden. Das Baumorakel verknüpft für Alexander einen räumlichen wie auch einen zeitlichen Endpunkt. Das Orakel affirmiert ihn als dominus des orbis terrarum, als 27 1. Makkabäer 1,3. 28 Auf der Londoner Psalterkarte aus dem 13. Jahrhundert findet sich ebenfalls das Baumorakel; die eingeschlossenen Völker sind – ohne beschriftende Zusätze – zu vermuten hinter dem eingezeichneten Bergwall mit Tor, der als Kaspische Pforte gelten kann. Eingetragen sind die Altäre Alexanders (unter den Amazonen).
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Herrscher über den Erdkreis, kündigt aber auch sein Lebensende an: „Herr wirst du des Erdenrunds sein, wirst aber Makedonien nie wieder sehen – so ist es dir vom Schicksal bestimmt.“ 29 Für die genannten Karten fällt auf, dass sie gleichermaßen das Baumorakel in der Nähe des Paradieses und im äußeren östlichen Rand von Asien abbilden, auch die Säulen Alexanders ersetzend. An die Stelle des von Alexander selbst errichteten Monuments zur Grenzmarkierung tritt der mythische, ferne Ort der sprechenden Orakelbäume. Das könnte möglicherweise zum einen den erzählenden Quellen geschuldet sein, die von Alexanders Baumorakel (auch) nach der Paradiesfahrt berichten. 30 Die kartographische Lokalisierung kann aber auch der aus der Dichtung generierten Vorstellung entsprechen, dass das Sonnen– und MondbaumOrakel sich am Rand der bekannten Welt befindet: Alexander darf von dort aus nicht mehr weiterziehen, sondern soll umkehren: „Alexander, kehre zurück, denn Weiterziehen ist keinem verstattet.“ 31 4. Alexander in der Kartographie der großformatigen Weltkarten Die großformatigen Weltkarten können das Wissen über die Welt in viel größerem Umfang verräumlichen, sind weniger Ergänzung zu einem Wissenstext, sondern vielmehr Integration von Wissenstexten durch Innen– und Außenlegenden. Dass das Interesse an Alexander ein an kartographische Tradition gebundenes ist, sich aber auch eigenständiger Ausgestaltung verdankt, zeigt der Vergleich der Hereford-Karte und der Ebstorfer Karte. Die Hereford-Karte (Ende 13. Jh.; Größe: 1,62 mal 1,32m) weist ausdrücklich nur neun Orte Alexander zu, wie z. B. die Altäre Alexanders, die „Castra alexandri magni“, Herrschaftsgebiete, die er erobert hat und die eingeschlossenen Völker. 32 Wie Naomi Kline betont, stammen die eingetragenen Positionen aus frühen historischen und enzyklopädischen Quellen, Plinius, Solinus und Orosius und die den Orten beigegebenen Textlegenden beschreiben weder negativ wertend noch moralisierend Alexander. 33 Diese historisch-geographische Ausrichtung der Alexanderpositionen dient so wiederum – in deutlicher Parallele zur Isidor-Karte – 29 Historie von Alexander dem Großen, hg. v. Wolfgang Kirsch, Leipzig 1981, 107. Das Zitat stammt aus der Rezension J1 der Historia de preliis Alexandri Magni: „dominus eris orbis terrarum; sed Macedoniam nullomodo videbis eo quod fata tua sic definierunt.“ Historia de preliis Alexandri Magni. Rezension J1. Hg. v. Alfons Hilka u. Karl Steffens, Meisenheim 1979, 214. 30 So z. B. Ulrichs von Etzenbach Alexander und der Basler Alexander. 31 Historie, 107. Das Zitat stammt aus der Rezension J3: „Alexander, post terga revertere, quia ulterius procedere nemini concessum est.“ Historia de preliis Alexandri Magni. Rezension J3. Hg. v. Karl Steffens, Meisenheim 1975, 158. 32 Naomi Reed Kline, Maps of Medieval Thought. The Hereford Paradigm, Woodbridge 2001, 166f. Insgesamt finden sich 69 Eintragungen, die in Bezug zu Alexander in Geschichte und Dichtung stehen, siehe 175. 33 Kline, Maps, 175.
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der Sichtbarmachung des abgesteckten Herrschaftsraums in seiner geographischen Ausdehnung. So verwundert es nicht, dass das Baumorakel nicht abgebildet ist. Die Alexander-Signaturen auf der Hereford-Karte sind nicht in einen narrativen Zusammenhang gebunden, erzählen nicht Geschichte als Geschichte. 34 Das fällt als wesentlicher Unterschied zur Verräumlichung des Aktionsraums Alexanders auf der Ebstorfer Karte auf, bereits mit einem ersten Blick im Kartenvergleich, wenn man die markierten Alexanderpositionen betrachtet. Auf der Hereford-Karte sind es Außenpositionen, einzelne Grenzpositionen, die auf Alexander verweisen, verteilt an den Rändern von Asien und nur mit einer Markierung in Afrika. Hingegen führen die eingetragenen Markierungen zu Alexander auf der Ebstorfer Karte den Raum als Weltenraum aus, sind nicht beschränkt auf einen Erdteil. Die um 1300 entstandene Ebstorfer Karte hat ein Format von 3,58m in der Höhe und 3,56m in der Breite, also insgesamt eine Fläche von fast 13 qm. 35 Sie bietet die umfangreichste kartographische Umsetzung zu Alexander dem Großen. Folgt man der Analyse von Hartmut Kugler, so hat die Ebstorfer Karte den Alexanderroman nicht nur als literarischen Referenztext benutzt, sondern über einen Stationenweg nachvollziehbar erzählt. Die Historia de preliis Alexandri Magni und die kartographische Wiedergabe auf der Ebstorfer Karte korrespondieren in hohem Maße: Unmittelbar einsichtig ist dies anhand der Übersicht von Kugler, in der über 40 Stationen mit dem Roman abgleichbar sind. Aufgelistet sind die Orte, die Schauplätze im Alexanderroman sind, entweder explizit Alexander zugewiesen oder aber im Roman erwähnt. „ Das Netz der Alexanderpositionen auf der Karte und das im Roman überlagern sich zum guten Teil, das Kartenbild wirkt fast wie ein visualisierter Subtext des Romans.“ 36
Dabei indizieren die von Hartmut Kugler gezogenen Linien zwischen den Orten einen inneren und äußeren Ring 37: Der innere Ring führt von der Jugendgeschichte bis zum endgültigen Sieg über Darius. Alle Stationen nach dem Tod des Darius liegen jenseits des Indus, im äußeren Ring. Während die Stationen im inneren Ring der Aktionsraum der biblischen Geschichte sind, weist er dem äußeren Ring eine utopische Topographie zu. Vielleicht könnte man dies auch modifizieren und den inneren Bereich, als den der ‚historischen‘ Taten, als Raum des Eroberns begreifen und den äußeren Bereich unter die Wunder des Orients subsumieren, als Raum des Erkundens.
34 Vgl. dazu auch Kline, Maps, 188 und 190. 35 Die Ebstorfer Weltkarte, hg. v. Hartmut Kugler, Bd. I: Atlas, Bd. II: Untersuchungen und Kommentar, Berlin 2007. Zur Datierung siehe Bd. II, 69. 36 Kugler, Alexanderroman, 113. 37 Siehe Kugler, Alexanderroman, 113.
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Der Vorstellung, die Alexander-Stationen auf der Ebstorfer Karte gleichsam als kartographisches Pendant zum literarischen Alexanderroman lesen zu können, ist grundsätzlich als möglicher Lektüreoption nicht zu widersprechen, sie bedarf aber mit Blick auf die einzelnen Stationen einer Korrektur. Die (hier stellvertretend ausgewählten) Einzelbetrachtungen zeigen, wie komplex die kompilatorische Quellenverarbeitung für die Kartenherstellung ist und dass die kartographisch markierten Alexander-Stationen nicht in einem einfachen Bezugsverhältnis zum literarischen Text stehen. 38
Abb. 2: Pons Alexandri.
Auf der Karte führt die von Alexander errichtete Brücke, ausdrücklich als „Pons Alexandri“ bezeichnet, über den Araxes; die mittelalterlichen Alexanderromane setzen die Brücke über den Euphrat. 39 In der Textlegende wird das Scheitern der Flussüberquerung erzählt. Die Alexanderdichtung hingegen schildert ausführlich den strategisch geplanten und erfolgreich ausgeführten Brückenbau, den Alexander allerdings selbst demonstrativ zur Warnung für die aus Angst umkehrwilligen Soldaten zerstört.
38 Meine Frage zielt dabei auf die jeweilige Kontextualiserung der Alexanderstationen und die Quellenbezüge, also nicht auf mögliche Widersprüche in der Raumgeographie von Karte und Roman wie Kugler, Alexanderroman, 113 andeutet. 39 Historie, 48. Kugler, Alexanderroman, 111, übergeht diese Differenz zugunsten seiner Interpretation des Kartenbildes als begleitende Romanlektüre und unterstellt auf seiner Stationenliste, dass es sich um den ‚Eufrates‘ handelt.
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„Der Araxes, ein Fluß in Armenien, entspringt auf demselben Berg wie Euphrat und Tigris; er ist wegen seiner Wildheit so genannt. Als Alexander den Fluß überqueren wollte, baute er eine Brücke, doch der Fluß riß sie mit seiner gewaltigen Strömung weg.“ 40
Hier folgt der Kartentext wörtlich Isidor von Sevilla und seinen Etymologiae XIII, 21,16. Damit ist eine enzyklopädische Quelle zitiert, und auch ein sicher gewusster Unterschied zur bekannten Überquerung des Euphrat aus der Literatur gesetzt. Gerade die eindeutig markierte Alexander-Position auf der Karte „Pons Alexandri“ ist also nicht dem literarischen Text zuzuweisen. Vergleichbar sind enzyklopädische und literarische Quelle dahingehend, dass mit Brückenbau und Flussüberschreitung eine Bewegung im Raum indiziert ist.41
Abb. 3: Gog und Magog.
Über den im Nordosten mit Mauern und Gebirge eingeschlossenen und Menschenteile essenden Personen beschreibt die Textlegende der Ebstorfer Karte, was zu sehen ist und folgt dabei einer weiteren Hauptquelle der enzyklopädischen imago mundi Literatur, nämlich Honorius Augustodunensis: „Hier hat Alexander
40 „Oraxis fluvius Armenie uno cum Eufrate et Tygri monte oritur, a rapacitate dictus, unde et cum Alexander transgredi vellet, pontem fabricavit, sed flumen tanta vi inundavit, ut pontem dirueret.”, Kugler, Ebstorfer Weltkarte, Bd. I, 76. 41 So sind zum Beispiel im deutschsprachigen Straßburger Alexander die Flüsse Euphrat und Strage Grenzflüsse zum Reich des Darius, und die Handlung strukturiert sich wesentlich durch die Flussüberquerungen, also die Grenzüberschreitungen. Vgl. dazu Peter Strohschneider, Herfried Vögel, Flussübergänge. Zur Konzeption des Straßburger Alexander, in: ZfdA 118/1989, 85–109.
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die beiden grausigen Völker Gog und Magog eingeschlossen, die der Antichrist im Gefolge haben wird. Sie essen Menschenfleisch und trinken Blut.“ 42 An diesem Beispiel lässt sich gut die Quellentradition der Karten und der Umgang mit den Quellen verfolgen; die Ebstorfer Karte zitiert Honorius’ Imago mundi (I,10) und setzt die Aussage entsprechend ikonographisch um; die Hereford-Karte markiert an dieser Stelle eine Mauer mit vier Befestigungstürmen, und der ummauerte Raum ist mit Text ausgefüllt, in dem ohne weitere bildliche Ausführung wörtlich aus der Expositio totius mundi et gentium zitiert und außerdem auf die Hauptautorität Solinus verwiesen wird: Alexander habe im Auftrag Gottes die kannibalischen Nachfahren von Kain eingesperrt. 43 Für die Textlegenden werden in diesen beiden Fällen die Wissensautoritäten zitiert. Sucht man nach einer Korrespondenz zur literarischen Quelle Historia de preliis Alexandri Magni und der entsprechenden Stelle im Text: „Drauf zog Alexander weiter und schloß mit Zauberkraft zweiundzwanzig Könige ein mit ihren Heeren, die Tataren genannt wurden, und zwar die folgenden: Gog, Magog, Agetani, Mageen (...).“ 44
so wäre auf die Beschriftung in der schon vorgestellten Karte im Liber floridus zu verweisen. 45
Abb. 4: Grabmal des Darius.
42 „Hic inclusit Alexander duas gentes immundas Gog et Magog, quas comites habebit Antichrist. Hii humanis carnibus vescuntur et sanguinem bibunt.“, Kugler, Ebstorfer Weltkarte, Bd. I, 38. 43 Siehe Kugler, Ebstorfer Weltkarte, Bd. II, 89 und Kline, Maps, 167, 184–187. 44 Historie, 116. „Post hec abiit et per artem inclusit XXII reges cum eorum exercitibus, qui et Tartari dicebantur, id est et Gog et Magog, Agetani, Mageen (...)“ Historia (J3), 174. 45 Die Isidor-Karte wie auch die Londoner Psalterkarte haben nur die Kaspische Pforte eingezeichnet – ohne dass ein Bezug zu Gog und Magog und zu Alexander deutlich gemacht würde.
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Besondere Aufmerksamkeit, angekündigt mit einem deiktischen hier im Legendentext, verdient das Grab des Darius auf der Ebstorfer Karte: „Hier ist das von Alexander dem Großen gestiftete Grabmal des Partherkönigs Darius.“ 46 Nur für die Gräber der Apostel sind die Gräber mit Gewölbe und Lampe ebenso aufwendig auf der Karte gestaltet. Diese Parallele und auch der Vergleich mit der Hereford-Karte, auf der sich keine Grabstätte findet, dürften darauf hinweisen, wie wichtig den Kartenmachern die Gestaltung dieser Episode war. Das Grab des Darius ist in vielen Alexanderdichtungen als herausragendes architektonisches Gebäude beschrieben; neben der Alexandreis des Walter von Châtillon findet sich auch in anderen deutschen Alexanderdichtungen eine von Alexander aufwendig gestaltete Grabstätte – aber ohne Gewölbe mit Weltkarte –, so zum Beispiel bei Rudolf von Ems und bei Ulrich von Etzenbach. In der Historia de preliis Alexandri Magni wird von Alexander jedoch weder eine besondere Grabstätte errichtet noch eine solche beschrieben (64–67). An dieser Stelle ist nun schwer zu entscheiden, ob es sich nur um eine kartographische Umsetzung im Kontext der Ikonographie für prominente Grabstätten auf der Karte handelt, oder ob an dieser Stelle auch die Kenntnis anderer literarischer Quellen für die kartographische Gestaltung Impuls waren.
Abb. 5: Baumorakel.
Als letztes Beispiel wähle ich das Baumorakel. Zu sehen sind zwei Bäume, mit Mond und Sonne darüber; eine männliche Person steht neben einem Altar zwischen den Bäumen. Die Beschriftung beschränkt sich auf den Hinweis: „Ora46 „Hic est sepulchrum Darii, regis Parthorum a Magno Alexandro conditum.“ Kugler, Ebstorfer Weltkarte, Bd. I, 64.
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culum solis et lune.“ Die Forschung hat die männliche Person bislang als Alexander identifizieren wollen 47; es wäre so eine Ausnahme zur sonst nicht figürlichen Darstellung Alexanders auf den mappae mundi und es wäre zu fragen, warum er ohne Krone firmiert. Auf vergleichbaren Baumorakel-Szenen in den Handschriftenillustrationen ist Alexander stets mit Krone dargestellt, und vergleichbare kartographische Illustrationen beschränken sich auf die Darstellung von Sonnen– und Mondbaum. Die Ebstorfer Karte kennt im Übrigen die traditionelle Ikonographie zur Herrschaftsdarstellung mit Thron und Insignien, wie beispielsweise die Darstellung des König Gangares zeigt. Plausibel wäre, die zwischen den Bäumen platzierte Figur als den Alexander begleitenden senex zu sehen, der über prophetische Gaben verfügt und Alexander Auskunft gewährt. 48 Dazu würde auch die zeigende Handgeste passen. Auffälliger Weise fehlt auf der Karte zum Baumorakel eine Texterläuterung, die explizit auf eine literarische Quelle zurückgreifen müsste, um den Bildinhalt zu kommentieren. 49 Gegenüber dem von Kugler herausgearbeiteten kohärenten Gesamtkonzept der Ebstorfer Karte, die Vita Alexanders als Bewegung im Raum itinerarisch zu visualisieren, und ebenso gegenüber einer daraus abgeleiteten literarischuniversalgeographisch konzipierten Kartenlektüre zeigen die Einzelbetrachtungen einen interferierenden wie auch einen differierenden Umgang mit Bild– und Textquellen, zeigen auch die Vielzahl von Quellen, die in das kartographische Konzept eingearbeitet sind. Sowohl literarische als auch enzyklopädische Quellen sind ausgewertet, um Alexanders Aktionsraum in der Weltgeschichte anzuzeigen. Die über den ganzen Erdkreis verteilten Stationen weisen ihm eine weltgeschichtliche Bedeutung zu, zugleich verbindet sich mit der wissensarchivierenden Funktion der Markierungen in Bild und Text nicht Wertung oder Moralisierung, wie dies in den Alexanderdichtungen der Fall ist. Eine kohärente Ausdeutung der Kartengestaltung erschweren wiederum die beschriebenen Alexander-Signaturen in ihrer je spezifischen Kontextualisierung: Nicht alles ist aus der Karte herauszulesen, der Betrachter wird auch – mit zusätzlichen eigenen Vor-Kenntnissen – in die Karte hineinlesen müssen.
47 Vgl. Jörg-Geerd Arentzen, Imago mundi cartographica. Studien zur Bildlichkeit mittelalterlicher Welt– und Ökumenekarten unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenwirkens von Bild und Text, München 1984, 178. 48 Für den Hinweis danke ich Helge Perplies (Greifswald). 49 Deutlich korrespondieren Paradiesszene und Baumorakelszene miteinander. Sie sind gleichermaßen neben dem Christuskopf platziert, so dass schon ihre Anordnung sichtbare Bezüge herstellt. Während die beiden Bäume im Paradies als Baum der Erkenntnis und Baum des Lebens zu identifizieren sind, sind es der Mond– und der Sonnenbaum auf der anderen Seite des Orakels. Gemeinsam dürfte beiden der Gedanke von Leben in Ewigkeit und Leben in Zeitlichkeit sein, einmal christlich-biblisch einmal heidnisch-antik thematisiert, siehe Arentzen, Imago, 180.
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5. Fazit Kein anderer Herrscher ist mit seinen Grenzüberschreitungen bis an den Rand des Erdkreises in der Dichtung und in der Kartographie so präsent, kein anderer ist in diesem Maße der Inbegriff als Welteroberer und Welterkunder. Die Karten visualisieren deutlich seinen Aktionsraum, seinen Herrschaftsraum: sei es durch Grenzmarkierungen am äußeren Rand des orbis, sei es durch bedeutungstragende Orte oder sei es durch regelrechte Stationenwege zu Demonstration und Zurschaustellung seiner Vorherrschaft über den Erdkreis. Auffällig neutral sind die Beschriftungen und Erläuterungen zu den bildlichen Signaturen auf den Karten; sie moralisieren nicht, sie demonstrieren die historische und politische Größe Alexanders. Das ist in den stets wertenden und interpretierenden historischen und literarischen Texten zu Alexander anders. Der universelle Herrschaftsanspruch Alexanders passt in idealer Weise zum Kartographiekonzept des Mittelalters; mittelalterliche Kartographie ist Universalkartographie, die Karten sind stets Weltkarten. Besonders deutlich wird diese Entsprechung in der Alexanderdichtung durch die dort beschriebenen Weltkarten, denn sie spiegeln die vorhandene mentale Karte als Grundlage für die Eroberungsvision und die Inszenierung von Herrschaft im Medium Karte. Das kartographische Interesse an Alexander selektiert aber auch, denn es konzentriert sich auf die historisch-politischen Aspekte der Alexanderfigur; gegenüber der wissensarchivierenden Funktion der Karten entwickelt die Literatur ihr Potential für die Deutung der Alexanderfigur, auch im Spiel mit der Fiktionalität. So finden bezeichnenderweise die Wunderepisoden wie die Greifenfahrt Alexanders keinen Platz auf den Karten – dafür wiederum sind sie in den Illustrationen der Handschriften der literarischen Werke die beliebten Motive. 50
50 Bildnachweise: Abb. 1: Bayerische Staatsbibliothek; Abb. 2–5: http://www.2.leuphana.de/ ebskart/ (11.2.2013).
AUFKLÄRUNG, WAHRHEIT UND DIE PSYCHIATRIEHISTORISCHE FORSCHUNG Heinz-Peter Schmiedebach, Hamburg Im Jahr 2004 publizierte Thomas Stamm-Kuhlmann einen Aufsatz, in dem er die Fragen der historischen Echtheit, der Wirklichkeit und der Wahrheit im Kontext der historischen Forschung thematisiert hat. Eine zentrale These in diesem Aufsatz besagt, dass die Folge des Zweifelns an einer objektiven Wirklichkeit einen Relativismus sowohl erkenntismäßiger als auch moralischer Art installiere. Erkenntnistheoretische und praktische, also moralische Gesichtspunkte, stehen, so Stamm-Kuhlmann, miteinander in Beziehung. Er weist bei der Suche nach den Ursachen des von ihm konstatierten doppelten Relativismus auch darauf hin, dass die historische Erkenntnissuche deswegen als Problem erscheint, weil Geschichtsschreibung im gesellschaftlichen Behauptungskampf der Menschen ein Faktor, und deswegen, so könnte man ergänzen, die Suche nach der Wahrheit in diesem Fall der Gefahr einer zweckgerichteten Instrumentalisierung ausgesetzt ist. Gegen einen kulturologisch begründeten Relativismus plädiert er für eine Beibehaltung der Frage von wahr und falsch und weist darauf hin, dass die Annahme einer über die Gruppengrenzen hinweg geltenden objektiven Wirklichkeit den Vorteil biete, eine Instanz zu besitzen, auf die sich die Gruppen im Verkehr untereinander berufen können. Am Ende seines Beitrags propagiert er eine Lösung pragmatischer, d. h. handlungsbezogener Natur. Unter dem Rückgriff auf die Gerechtigkeit und die Möglichkeit, an Gerechtigkeit zu appellieren, betont er, dass dies nur gehe, wenn man die Existenz von Wahrheit akzeptiert. „Opfern wir also die Wahrheit deswegen nicht kurzsichtigen Zweck-Mittel-Relationen (…). Unterwerfen wir uns, im Wissen um die Subjektivität unserer Ausgangsposition, der regulativen Idee einer möglichen Annäherung an die Wahrheit. Wir werden alle den Gewinn davon haben.“ 1
Stamm-Kuhlmann verortet seine Argumentation in der Tradition der Aufklärung, wie sich das auch im Titel seines Beitrags ausdrückt. Die Aufklärung hat die Vernunft zur universellen Instanz erhoben und programmatisch die Überwindung der Unvernunft auf ihre Fahnen geschrieben. Im historischen wie auch aktuellen Umgang mit der Unvernunft lag und liegt eine der größten Herausforderungen für aufgeklärtes Denken. Ist die Unvernunft gewissermaßen noch nicht entwickelt, obwohl das Potenzial zum Gebrauch der Vernunft gegeben ist, wie z. B. beim 1
Thomas Stamm-Kuhlmann, Wo bleibt die Aufklärung? Unser entspannter Umgang mit der Wirklichkeit, in: ZRGG 56/2004, Heft 2, 109.
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Kinde, so kann man die Vernunft über pädagogische Programme kontinuierlich stärken und ihr zur Entfaltung verhelfen, das Kind gewissermaßen zur Räson bringen. Die absolute Hilflosigkeit des Kleinkindes macht es dabei leicht, den neugeborenen Menschen in erster Linie als ein schutzbedürftiges Wesen zu begreifen, für das andere die Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu fällen haben. Die Schutzbedürftigkeit, die Fürsorge und damit auch die ersatzweise Interessenvertretung des noch nicht den Gebrauch der Vernunft beherrschenden kleinen Menschen sind im Grundsatz in unserer Kultur und in unserem Recht nicht in Frage gestellt. Ist die Unvernunft aber Ausdruck eines bestimmten Seinszustandes eines Menschen, wie es im Irresein oder beim Wahnsinn der Fall ist, so ergeben sich andere Herausforderungen. In diesem Stadium der Unvernunft, einer vorübergehenden oder gar bleibenden, wurden dem Kranken in Namen der Aufklärung Einschränkungen auferlegt, seine persönliche Handlungsfreiheit beschnitten und Menschenrechte relativiert. Dies alles war und ist nicht Ausdruck einer obrigkeitlichen Willkür, sondern legitimiert durch eine wissenschaftlich-medizinische Vernunft, in der die sich im 19. Jahrhundert entfaltende Psychiatrie ihre akademische anerkannte und gesellschaftlich gewünschte disziplinäre Heimstatt fand. Für die aufgeklärten psychiatrisch tätigen Ärzte in der zweiten Hälfte des 18. und in der ersten des 19. Jahrhunderts wie auch für die sich im Entfalten befindliche bürgerliche Gesellschaft mit ihren sozialen und rechtlichen Systemen ergaben sich im Umgang mit den Irren Sichtweisen und eine Handlungspraxis, die als Resultate des aufgeklärten Denkens und Handelns schon seit Jahrzehnten Gegenstand von Kritik sind. Hier tritt eine grundsätzliche Problematik des aufgeklärten Denkens zutage, die auch im Kontext der Debatte um die historische Wahrheit nicht unberücksichtigt bleiben sollte, weil sie manche Begrenztheiten, aber auch Fragwürdigkeiten dieses Denkens erkennen lässt. Doch soll nicht nur das aus der Aufklärung abgeleitete psychiatrische Konzept historisch kritisch hinterfragt werden, um uns die Schattenseiten der aufgeklärten Medizin im Umgang mit der personalisierten Unvernunft in einem bestimmten Zeitraum klar vor Augen zu führen. Es geht auch um die zentrale von Thomas Stamm-Kuhlmann aufgeworfene Frage der historischen Wahrheit. Hierzu soll – wiederum anhand eines Beispiels aus der Psychiatriegeschichte – eine schriftliche Quelle aus dem Jahre 1919 betrachtet werden. Es handelt sich dabei um eine Krankenakte, in der sich zu verschiedenen Alltagsereignissen auf einer psychiatrischen Station der Charité sowohl die Aufzeichnungen des Klinikpersonals befinden als auch Ausführungen des betroffenen Kranken. Anhand dieser in der Quelle überlieferten doppelten Perspektive sollen die sich aus den Inhalten der Quelle ergebenden Probleme bei der Annäherung an die historische Wahrheit dargelegt werden. Unter Berücksichtigung der beiden skizzierten Aspekte argumentiere ich, dass 1) im historischen Umgang mit der Unvernunft die der Aufklärung verpflichtete Medizin in ihrer zeitgenössischen Praxis fragwürdige Effekte offenbart, die es notwendig machen, diese kritisch zu hinterfragen, und dass 2) auch bei der Suche nach der historischen Wahrheit die Berufung auf die Aufklärung als methodisch Leitlinie nicht immer ausreichend ist, um die erwünschte Eindeutigkeit der Interpretation zu gewährleisten.
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1. Die Begegnung mit der Unvernunft am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war von einer beeindruckenden Vielstimmigkeit gekennzeichnet. In diesem Chor waren nicht nur die Stimmen der Kirchen, der Theologen, Juristen, Staatsbeamte oder der Philosophen zu vernehmen, sondern auch die der Ärzte, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert deutlich lauter wurden. 2 Schließlich erfuhr die Kompetenz der Ärzte für alle mit dem Phänomen Geisteskrankheit verknüpften sozialen Fragen eine gesellschaftliche und institutionelle Anerkennung, die in mindestens drei verschiedenen Gegebenheiten gründete. 1) Die wachsenden Orientierung der Medizin und damit auch des sich herausbildenden psychiatrischen Zweiges dieser Disziplin an den Methoden und Inhalten der modernen Naturforschung ergab die Möglichkeit, mit anerkannten Evidenzen zu argumentieren und sich vom Ruch spekulativen Räsonierens zu emanzipieren, was als ein bedeutsames Resultat der Aufklärung angesehen werden kann. 2) Die sich z. B. auch im Reichsdeputationshauptschluss vom 1803 niederschlagende Säkularisierung drängte auch die geistlich-religiöse Sichtweise auf das Irresein zurück und hatte zudem noch den Effekt, einige der säkularisierten Klöster für die Einrichtung von Irrenanstalten zu nutzen. 3) Erstmals anerkannten einige Staaten den Wahnsinn als heilbar, womit der Krankheitscharakter dieser Alteration unterstrichen und die Hinwendung zum medizinischen Umgang mit diesem Phänomen stark gefördert wurde. Dennoch existierten innerhalb der nunmehr als kompetent geltenden professionellen Gruppe zahlreiche Ansätze, die es keineswegs erlauben, von so etwas wie einer schulmedizinischen Annäherung an das Irresein zu sprechen. Viele Ärzte betrachteten auf einer naturwissenschaftlichen Basis die Geisteszerrüttung nicht als Folge eines sündhaften Verhaltens, sondern – in allerdings durchaus unterschiedlicher Weise – als Produkt einer materiellen Veränderung von körperlichen Gegebenheiten eines Individuums. Diese materiellen Veränderungen mussten keineswegs im Gehirn lokalisiert sein – diese Zuordnung setzte sich erst ab den 1830er Jahren mehr und mehr durch – , sondern konnten alle möglichen Organe betreffen, deren Störungen auf sekundärem Weg nunmehr auch das Denken und Empfinden affizierten, wie es z. B. im Fieberdelir anschaulich zum Ausdruck kam: Geisteskrankheit war also gewissermaßen ein Epiphänomen einer somatischen Alteration. Dementsprechend war zumindest ein Bestandteil der Therapie auf den Körper gerichtet. Der institutionelle Umgang mit einer größeren Anzahl von Irren in den Anstalten oder besonderen eigenen Abteilungen an den Krankenhäusern, die nunmehr als ärztlich geleitete Einrichtungen den Ort der Alltagspraxis ausmachten, brachte allerdings neue Herausforderungen mit sich, da die Konzentration verschiedenartigster Kranker beiderlei Geschlechts an einem speziellen Ort ein besonderes Regime mit neuen Regeln und Ordnungsprinzipien provozierte. 2
Vgl. Klaus Dörner, Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie, Frankfurt a. M. 1975, 202–281.
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Das therapeutische Regime, das Ernst Horn (1774–1848) zu Beginn des 19. Jahrhunderts an der Charité in Berlin zur Behandlung der psychischen Kranken etablierte, war ein solches im Geiste der Aufklärung entwickeltes Konzept, das sowohl den Umgang mit den Irren veränderte als auch die Produktion von neuer Erkenntnis über die Geisteskrankheiten intendierte. 3 Man kann dieses Vorgehen unter dem reichhaltig konnotierten Begriff der Disziplinierung fassen. 4 Geisteskrankheit bzw. das Irresein war für Horn ein Phänomen von körperlichen Vorgängen. Zwar brachte er das Irresein nicht ausschließlich mit pathologischen Vorgängen im Gehirn in Verbindung, jedoch bedeutete die materielle Verankerung der psychischen Andersartigkeit eine Überwindung von Konzepten, die psychische Krankheit als Produkt von Sünde oder sonstigen Verfehlungen auffasste. Trotz dieser Überwindung der moralisch abwertenden Perspektive gegenüber den Geisteskranken galten an dem besonderen Ort der Irrenabteilung der Charité strenge Regeln, die letztlich über ein radikales Ordnungsregime und ein mit Bestrafung der Insassen verbundenes Konzept bei den Kranken Vernunft und Besonnenheit erzwingen sollten, um sie zu gesunden und funktionierenden Bürgern zu machen. Die Implementierung einer ordnenden Vernunft in den von Unordnung und Disziplinlosigkeit beherrschten Kranken war nicht ohne psychische und körperliche Gewalt umzusetzen. Diese Gewalt kulminierte in der Autorität des Anstaltsleiters und betraf keineswegs nur die Kranken, sondern auch die den Kranken prügelnden Wärter, die auf unbotsames Verhalten der Kranken mit spontanen Misshandlungen oder Züchtigungen reagierten. Horn verbot dieses selbstständige und eigensinnige Prügeln der Wärter und setzte an diese Stelle die gezielte, durch den Arzt verordnete Bestrafung des Kranken, die nun nicht mehr im Austeilen von Schlägen ihren Ausdruck fand, sondern z. B. in Form des Zwangsstehens, das über 24 Stunden aufrechterhalten werden musste; andere Mittel waren z. B. der Drehstuhl und das Übergießen mit 200 Eimern kalten Wassers. Auch die Herleitung dieser konkreten Bestrafungsmaßnahmen erfolgte durch vernunftgesteuerte Überlegungen, welche die Auswirkungen dieser Strafmaßnahmen auf körperliche Regionen, Organe und auch die psychische Verfasstheit der Patienten erörterten und so durchaus eine zeitgenössisch akzeptierte Legitimierung anboten. Eingebettet waren diese Maßnahmen, die auf die Überwindung der inneren im Kranken vorhandenen Unordnung und Unvernunft zielten, in eine bis auf die Minute genau geplante Anstaltsordnung, die einen täglich zu reproduzierten Anstaltsrhythmus mit Phasen der Arbeit, des Lernens, der Erbauung wie auch der Zerstreuung durch Kegeln, Brett– und Kartenspiel vorgab. Damit war ein äußerer Orientierungs– und Ordnungsrahmen geschaffen, den Horn als eine notwendige
3
4
Siehe Hans Schneider, Ernst Horn (1744–1848) – Leben und Werk. Ein ärztlicher Direktor an der Berliner Charité an der Wende zur naturwissenschaftlichen Medizin, Diss. med. FU Berlin 1986. Heinz-Peter Schmiedebach, Die Psychiatrie an der Charité auf dem Weg zur Disziplin – zwischen Erziehung und Therapie, in: Peter Schneck / Hans-Uwe Lammel (Hgg.), Die Medizin an der Berliner Universität und an der Charité zwischen 1810 und 1850, Husum 1995, 111– 123.
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zusätzliche Stabilisierung für die auf das Innere des Kranken gerichteten Maßnahmen auffasste. Diese allumfassende auf vernunftgesteuerte Disziplinierung und Ordnung gerichtete Praxis sollte auch das medizinische Personal erfassen und war zudem von verwaltungstechnischen Anforderungen mitbestimmt. 5 Horn ließ von den Subchirurgen für jeden Kranken ein besonderes Journal führen, in dem die Tatsachen ermittelt werden sollten, die für den Krankheitszustand charakteristisch seien. Ein sorgfältiges Aufzeichnen der Reden, Gebärden und Handlungen der Kranken, wie auch die Registrierung der angewandten Heilmittel einschließlich des erzielten oder ausgebliebenen Erfolges 6 sollte auch im ärztlichen Bereich dazu beitragen, sich auf die faktischen Umstände zu konzentrieren und eine Erkenntnisgenerierung über das Irresein systematisch zu gestalten. Die von der Vernunft bestimmten Ordnungsbemühungen Horns, die sich in dem Heterotopos Irrenabteilung der Charité voll entfalten konnten, brachten Verhaltensnormen und –formen hervor, die wir heute keineswegs mit Gerechtigkeit in Verbindung bringen können. Dennoch ist festzuhalten, dass sie auf dem aufgeklärten Bemühen basierten, Geisteskrankheit 1) nicht mehr moralisch zu bewerten und 2) die Phänomene des Wahnsinns mit der objektiven Grundlage der körperlichen Alterationen zu erklären. Diese beiden Basissätze bestimmen nach wie vor – mehr oder weniger – unser heutiges Verständnis von psychischer Alterität. Wir befinden uns also trotz eines Zeithorizonts von rund 200 Jahren im gleichen Verständnisraum wie Horn und sollten uns eigentlich mit Hilfe dieser uns beiden eigenen aufgeklärten Referenz hinsichtlich des Verständnisses von Geisteskrankheit leicht mit ihm über einen gerechten Umgang mit den Kranken verständigen können. Dennoch ist mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zu vermuten, dass dies kaum gelingen würde. Dies hängt nicht nur mit einem unterschiedlichen Therapie– und Heilungsverständnis oder mit dem anderen Entwicklungsstand der Medizin von vor zweihundert Jahren zusammen, sondern auch mit einer grundsätzlichen der Aufklärung innewohnenden Tendenz zur Verabsolutierung des einmal als richtig Erkannten, was in einem dialektischen Umschlag zu paradoxen Effekten führen kann, die, einmal in ihrer ganzen Zuspitzung deutlich geworden, zu polarisierenden Kontroversen Anlass geben. Eine, wenngleich unter den schrecklichen Ereignissen des 20. Jahrhunderts, entstandenen Auseinandersetzung mit der Aufklärung, präsentierten Horkheimer und Adorno in ihrem Buch über die Dialektik der Aufklärung. Die darin an vielen Stellen zu findende radikale Kritik an der Aufklärung ist den Auswirkungen der schlimmen historischen Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuzuschreiben. Diese werden als Spätfolgen der Aufklärung verstanden und in ihren vielfachen Erscheinungsformen dargelegt, wie 5
6
Volker Hess, Disziplin und Disziplinierung: Die Geburt der Berliner Psychiatrie aus dem Geist der Verwaltung – Ernst Horn und Karl Wilhelm Ideler, in: Hanfried Helmchen (Hg.), Psychiater und Zeitgeist. Zur Geschichte der Psychiatrie in Berlin, Lengerich 2008, 163–178. Ernst Horn, Oeffentliche Rechenschaft über meine zwölfjährige Dienstführung als zweiter Arzt des Königl. Charité-Krankenhauses zu Berlin, nebst Erfahrungen über Krankenhäuser und Irrenanstalten, Berlin 1818, 211–213.
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z. B. die Vernunft, die zum Instrument und durch Apparate verwaltete Ideologie wird oder die Zivilisation, die umschlägt in die Barbarei des Faschismus. Die Verfasser weisen auf eine in sich problematische Struktur des Aufklärungsdenkens hin, die es zumindest diskussionswürdig erscheinen lässt, ob ein alleiniger Rekurs auf die Aufklärung eine Lösung des erkenntnistheoretischen und moralischen Dilemmas des Historikers, von dem Thomas Stamm-Kuhlmann spricht, leisten kann. Horkheimer und Adorno sprechen von einer Selbstzerstörung der Aufklärung. Die Freiheit in einer Gesellschaft sei vom aufklärenden Denken unabtrennbar, jedoch sei genauso deutlich, dass der „Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet.“ 7
Zwei, insbesondere mit dem oben beschriebenen professionellen Umgang mit der Unvernunft der Irren bedeutsame Aspekte dieser Tendenz sind 1) das Bestreben der Aufklärung, alle Erscheinungen dem positivistischen Denken zu unterwerfen oder unterzuordnen, und 2) die Affinität zum sozialen Zwang. So heißt es in der Dialektik der Aufklärung: „Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst. Die reine Immanenz des Positivismus, ihr letztes Produkt, ist nichts anderes als ein gleichsam universales Tabu. Es darf überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist.“ 8
Mit dieser Angst vor dem Draußen oder dem Anderen, dem Fremden ist auch die Tendenz zum sozialen Zwang verknüpft: „Den Menschen wurde ihr Selbst als ein je eigenes, von allen anderen verschiedenes geschenkt, damit es desto sicher zum gleichen werde. Weil es aber nie ganz aufging, hat auch über die liberalistische Periode hin Aufklärung stets mit dem sozialen Zwang sympathisiert. Die Einheit des manipulierten Kollektives besteht in der Negation jedes Einzelnen (…).“ 9
Im Falle der aufgeklärten Psychiatrie ist es nicht das manipulierte Kollektiv, das den Einzelnen der Vernunft zu unterwerfen sucht und damit das verschiedene Selbst dem Zwang zu unterwerfen trachtete, sondern das moderne wissenschaftliche Denken, das sich in dem von der abgeschlossenen Immanenz des Positivismus aufgebauten Tabu bewegt. Wenn diese Tendenzen aber dem aufgeklärten Denken von damals wie auch heute innewohnen, wird jeder Diskurs um Gerechtigkeit nicht allein mit dem Hinweis auf die Aufklärung und auf aus ihr abgeleitete gemeinsame Grundsätze der Erkenntnis und Moral auf eine gemeinsame Basis zu stellen sein. Die kritische Betrachtung der Möglichkeiten des dialektischen Umschlags im aufgeklärten Denken sollte zum Bestandteil des Diskurses werden.
7 8 9
Max Horkheimer / Theodor Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1987, 3. Ebd., 18. Ebd., 15.
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2. Das Problem der Annäherung an die historische Wahrheit soll im Folgenden anhand eines Beispiels, wiederum aus der Geschichte der Psychiatrie, beleuchtet werden. Die im Mittelpunkt stehende Quelle ist eine Krankenakte, also ein Textdokument, in dem zwei Arten von Texten betrachtet werden sollen: 1) Aufzeichnungen des Personals der Klinik und 2) ein Bericht eines Patienten, also ein Egodokument. Die von unterschiedlichen Autoren stammenden Texte beschreiben in unserem Beispiel konkrete Ereignisse im Alltag einer psychiatrischen Station an der Berliner Charité. Die Krankenakte eines 35jährigen ausländischen Patienten, von Beruf Arzt, dokumentiert einen Zeitraum von 26. Mai 1919 bis zum 23. August 1919. In der Akte befindet sich ein elfeinhalb Seiten langer mit Schreibmaschine einzeilig geschriebener Bericht des Patienten, der – wie es am Beginn des Berichtes zu lesen ist – im September 1919, also nach der Entlassung aus der Charité, verfasst wurde. Die Überschrift „Ein T(!)ypischer Fall von Märtyrertum.“10 deutet an, dass der Patient sich ungerecht behandelt fühlte und dieses Protokoll verfasste, um auf diese Ungerechtigkeit hinzuweisen. Es ist kein einzelner Adressat angegeben, in der Kopfzeile wird der allgemeine Appellcharakter durch folgende Passage unterstrichen: „Jedermann wird freundlichst eingeladen, den folgenden Bericht durchzulesen um der Wahrheit, Gerechtigkeit und Humanität willen (...).“ 11 In der Akte befinden sich noch weitere Beschwerdeschreiben, z. B. an den Direktor der Klinik. Im Bericht des Patienten heißt es: „8. Ein anderer Mann namens M., ein typischer wahnsinniger Verbrecher mit kleptomanischen Tendenzen und stinkendem Atem, Kellner von Beruf, war über 4 Wochen lang mein Nachbar. Alle Arten von Provokationen habe ich auf Anstiften der Pfleger von ihm dulden müssen. Er schrie und kreischte fortdauernd. Einmal warf er auf mein Gesicht und Bett einen Teller voll kochenden Gemüses, das sein Mittag bildete. Ich beklagte mich bei dem Pfleger namens H., der meine Klage ganz und gar unbeachtet ließ. Im Gegenteil besorgte man ihm sofort eine andere Schüssel, die er wiederum auf mich warf. Schnell sprang ich aus meinem Bett und in energischem Ton bat ich den Pfleger um Schutz, worauf dieser meine Hände auf den Rücken band und denselben Verrückten mich mit Schlägen über Kopf und Gesicht überhäufen liess. Angesichts des anarchischen Zustandes und der traurigen Nachlässigkeit von seiten der Pfleger, nahm ich das Gesetz selbst in die Hand und war gezwungen, Vergeltung zu üben, indem ich dem Mann einen Schlag versetzte, der ihn sehr erschreckte und bewog ein anderes Bett am Ende des Zimmers zu suchen. 9. Ein anderer Patient namens E., ein gefährlicher Epileptiker, mit einem hässlichen, vorspringenden Kopf, war der Herr der Lage. Er schien nicht nur ein Patient, sondern tatsächlich der Oberarzt und Direktor zu sein. Er wurde von allen Kranken gefürchtet, denn er war ein typischer Rohling und ein richtiger Boxer, dessen Boxen fast kein Patient entrinnen konnte. Ich habe meinen Anteil von seinen Händen gehabt, was meine rechte Kinnbacke beinahe gelähmt hat. Einige Patienten kamen mir zu helfen, aber die Pfleger saßen gemütlich dabei und lachten und, da ich die Hoffnungslosigkeit der Lage sah, spielte ich lieber die Rolle eines Diplomaten, gehorchte den Befehlen des Mannes, sprach sehr nett zu ihm und stand nachher 10 Historisches Psychiatriearchiv der Charité, Krankenakte R., unpaginiert [Bericht, 1]. Ich danke Rainer Herrn, Berlin, herzlich für die Bereitstellung der Akte. 11 Ebd., [Bericht, 1].
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Heinz-Peter Schmiedebach mit ihm auf sehr freundschaftlichem Fuße. Er schlug mich nicht mehr, selbst auf Anstiftung der Pfleger.“ 12
Auch an anderen Stellen dieses Berichtes werden Gewaltszenen, die sowohl von anderen Patienten als auch vom Pflegepersonal zu verantworten waren, beschrieben. Der Bericht zeichnet das erschreckende Bild einer chaotischen und menschunwürdigen großstädtischen Universitätspsychiatrie im Jahre 1919. In den Aufzeichnungen wird über eine so unglaublich hohe Anzahl von äußerst kritikwürdigen Zuständen berichtet, dass es nahe liegt, in dieser Quelle unmöglich eine Einszu-eins-Wiederspieglung der wirklichen Welt eines modernen Krankenhauses zu erblicken. Wirft man zunächst einen kritischen Blick auf den Autor dieser Quelle, so ist zu konstatieren, dass es sich um einen Kranken handelte, der eben gerade deswegen, weil ihm der Zugang zur Wirklichkeit abhandengekommen und sein Verhalten im gesellschaftlichen Leben auffällig geworden war, von der Polizei in die Anstalt eingeliefert wurde. Müssen wir die Darlegung dieses Insassen einer Irrenklinik deshalb ausschließlich als ein von phantastischen, ja krankhaften Vorstellungen dominiertes Narrativ auffassen, das lediglich seine äußerst subjektiven Empfindungen, Verletzungen, Traumata etc. abbildet? Trotz aller bislang publizierten methodischen Beiträge zum Umgang mit Patientenakten 13 aus der Psychiatrie bleibt bei der Frage nach der Bewertung der Aussagen von psychisch Kranken mit Wirklichkeitsverlust und ihren eigenen Wahrnehmungs– und Denksystemen im Hinblick auf die Rekonstruktion einer historischen Wahrheit ein Rest von kaum aufzulösender Unsicherheit. In den Aufzeichnungen des Pflegepersonals erscheint der Autor als psychotisch dominierter Mensch, der recht häufig äußerte, dass man ihn vergiften wolle, der wegen des von ihm vermuteten Gifts im Essen die Nahrungsaufnahme verweigerte, sein Bett mit Kot beschmutzte und so manches Mal mit der Bettwäsche oder den Bettunterlagen auf das Pflegepersonal und auf andere Patienten losging, kurz es wird das Bild eines stark psychisch gestörten, aggressiven, unter Verfolgungswahn leidenden Patienten gezeichnet. Alle diese Eintragungen, die freilich immer unter der Prämisse erfolgten, möglichst viele Symptome und Auffälligkeiten zu dokumentieren, die letztlich den Aufenthalt des Patienten in der Irrenabteilung legitimieren konnten, lassen die Skepsis gegenüber den Schilderungen des Kranken in seinem Bericht wachsen. Der Autor des Berichts scheint als Zeuge zur Rekonstruktion des Alltags in der Irrenklinik der Berliner Charité nur von sehr eingeschränkter Bedeutung zu sein. Man kann jedoch die Aufzeichnungen des Pflegepersonals auch gegen den Strich lesen und diese Eintragungen als Referenz benutzen, um die Aussagen im Patientenbericht quellenkritisch zu überprüfen. Dabei wird deutlich, dass zwar nicht unbedingt alle konkreten Zeitangaben zur Deckung zu bringen sind, aber doch im Hinblick auf gewaltsame Auseinandersetzungen interessante Übereinst12 Ebd., [Bericht, 8–9] Namen sind abgekürzt. 13 Z. B. Kai Sammet, Paratext und Text. Über das Abheften und die Verwendung psychiatrischer Krankenakten. Beispiele aus den Jahren 1900–1930, in: W.J. Bock / B. Holdorff (Hgg.), Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 12/2006, 339– 367.
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immungen existieren. So heißt es z. B. in der Eintragung des Personals am 28.5.1919: „Pat. ist morgens sehr unruhig, schreit laut und spricht unverständliches Zeug vor sich, stürzt sich auf Pat. K., schlägt ihn mit der Faust ins Gesicht, kauert sich in eine Ecke am Fußboden, zieht die Decke über den Kopf und spukt sobald sich ihm jemand nähert. Um 8.30 erhielt er 1 ccm Hyoscin, schläft darauf bis Mittag, dann liegt er ruhig im Bett. Pat. wurde morgens von Pat. E. ins Gesicht geschlagen.“
Zwei Tage später findet man folgende Eintragung: „Pat. führt im Bett sitzend unverständliche Selbstgespräche die zeitweise zu lautem Lärm ausarten, spukt vorübergehende Personen an, schmiert sein Bett mit Kot. Pat. nimmt wenig Nahrung zu sich, das Brot zerbröckelt er und wirft es im Saal umher. Auf dem Abort wurde er von Pat. E. geschlagen.“
Und wiederum einige Tage später heißt es: „Pat. spricht und lärmt in fremder Sprache vor sich hin, spuckt vorbeigehende Personen an, zieht die Decke aus dem Bezug und wirft sie in Saal, wird für längere Zeit ins Dauerbad gelegt, auch hier lärmt und spuckt er weiter, trinkt das Wasser aus Wanne. Pat. wurde von Pat. E. ins Gesicht geschlagen.“ 14
An mindestens drei Stellen wird der im Patientenbericht als Rohling und Boxer bezeichnete Mitpatient E. auch in den Aufzeichnungen des Pflegepersonals erwähnt und von Schlägen berichtet, ohne dass ein direkter ursächlicher Zusammenhang in den Aufzeichnungen des Personals dargelegt wurde. Die beiden sehr unterschiedlichen Texte aus derselben Krankenakte zeigen also zumindest zwei Übereinstimmungen, die eine klare Sicht auf das historische „Ob“ erlauben. 1) Der Alltag des Patienten in der Berliner Irrenklinik war nicht selten von körperlicher Gewalt bestimmt, 2) ein namentlich genannter Patient, der wegen seines gewaltsamen Umgangs mit anderen Patienten im Bericht des Patienten herausgehoben wurde, taucht auch in den Aufzeichnungen des Personals genau in dieser brutalen Eigenschaft mehrmals auf. Insofern erhalten einzelne konkrete Schilderungen des Patienten durch die Eintragungen des Personals eine größere Glaubwürdigkeit, das historische Faktum Gewalt im Alltag der Versorgung psychisch Kranker ist damit historisch belegt. Verlässt man die enge Binnenperspektive der Krankenakte und betrachtet zeitgenössische Literatur über die sogenannte Wärterfrage in der Psychiatrie oder bezieht die moderne Forschungsliteratur zu dieser Frage ein, so ergeben sich noch weitere Belege dafür, dass die Frage der Gewalt zwischen den Patienten und seitens des Pflegepersonals im Alltag psychiatrischer Kliniken durchaus virulent war. 15 Auch die Erweiterung der Perspektive um z. B.
14 Ebd., unpaginiert. 15 Z. B. Kai Sammet, Controlling space, transforming visibility: Psychiatrists, nursing staff, violence, and the case of haematoma auris in German psychiatry c.1830 to 1870, in: Leslie Topp u. a. (Hgg), Madness, Architecture and the built Environment. Psychiatric Spaces in Historical Context, New York 2007, 287–304.
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soziologische Aspekte des Krankenhauses 16 hilft, den Kontext der Gewalt in Krankenhausstrukturen zu verorten. Doch sind die Frage des Obs und der Hinweis auf das historische Faktum allein für die Generierung historischen Wissens nicht ausreichend. Richard Evans, der sich in seinem Buch Fakten und Fiktionen sehr kritisch mit der postmodernen Relativierung historischer Fakten auseinandersetzt, konstatiert, dass historische Fakten zwar vollkommen unabhängig von den Historikern existieren, jedoch als solche sehr selten nur um ihrer selber willen interessant sind. Sie gewinnen ihre Bedeutung in der Unterstützung einer Argumentation, wodurch Theorie und Interpretation ins Spiel kommen. Das Faktum kann so trotz seiner Eigenständigkeit als Beleg verschiedene Bedeutung annehmen. 17 Dies hängt auch damit zusammen, dass Historiker in ihrer Gegenwart leben und auch aus dieser Gegenwart Fragen und Perspektiven generieren. „Wenn es also der Gegenwart der Historiker entstammende Theorien sind, die es ihnen ermöglichen, die Quellen in einer Weise zu lesen, die den Absichten ihrer Verfasser nicht entspricht oder gar zuwiderläuft, dann ergibt sich daraus, daß dieselbe Quelle in legitimer Weise von verschiedenen Historikern als Beleg für eine Vielzahl von Interpretationen verwendet werden kann. (…) Quellen können auf verschiedene Weise gelesen werden, die zumindest theoretisch alle gleichermaßen gültig sind.“ 18
Wenn wir anhand der oben dargelegten Quelle die Frage erörtern möchten, was die historisch erkennbaren Ursachen für die unzweifelhafte Gewalt im psychiatrischen Klinikalltag sein könnten, so ist eine historisch wahre Antwort nicht ohne weiteres aus den Quellen herzuleiten. Während in den Aufzeichnungen des Pflegepersonals immer nur die Gewalt der Patienten bezeugt und diese gewissermaßen als krankheitsimmanenter Teil aufgefasst wird, geht der Bericht des Patienten sehr viel weiter. Er spricht einen weiteren Aspekt an: es waren die Pfleger selbst, die Gewalt anwendeten oder auch Patienten zur Gewalt anstifteten. Hier zeigen die beiden auf das gleiche historische Faktum bezogenen Quellen bereits sehr differente Angaben. Ein Abgleich der beiden Quellentexte in der Krankenakte hilft uns bei der Suche nach der Wahrheit nicht weiter. In den Aufzeichnungen des Personals ist erwartungsgemäß kein Hinweis darauf zu finden, dass Pflegekräfte Gewalt angewendet haben oder gar Patienten zur Gewalt gegen Mitpatienten angestiftet hätten, selbst, wenn es so gewesen sein sollte. Es gibt Quellen, wie z. B. Personalakten, in denen vereinzelte Disziplinarverfahren gegen Pflegekräfte wegen Übergriffe auf die Patienten zu finden sind, verschiedentlich kam es auch seitens der Angehörigen oder der Patienten selbst zu Anzeigen gegen das Pflegepersonal. Doch kann man diese Belege als historische Evidenzen für die Übergriffe 16 Gunnar Stollberg, Soziologische Perspektiven auf das Krankenhaus, in Gunnar Stollberg / Christina Vanja / Ernst Kraas (Hgg.), Krankenhausgeschichte heute – Was heißt und zu welchem Ende studiert man Hospital– und Krankenhausgeschichte? (Historia Hospitalium, 27), Münster 2011, 115–123. 17 Richard Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt / New York 1998, 79. 18 Ebd., 86–87.
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Einzelner interpretieren, die eine Ausnahme waren und denen keine strukturelle Bedeutung zukommt. Letztlich sind auch diese Quellen für die Erörterung der Frage, ob es im oben konkret beschriebenen Fall, wie im Bericht des Patienten behauptet, tatsächlich eine Anstiftung zur Gewalt durch die Pfleger gegeben hat, nicht zu gebrauchen. Die Aussage im Patientenbericht lenkt unsere Aufmerksamkeit auf ein mögliches historisches Faktum, dessen Wahrheitsgehalt für uns aber auch bei intensiver und kritischer Betrachtung der vorhandenen Quellen nicht zu erbringen ist. Dennoch ist es möglich, auch diese Information aus der besagten Quelle mit einer gewissen Vorsicht zu benutzen, freilich ohne sie definitiv als historische Wahrheit zu qualifizieren. Evans hat darauf verwiesen, dass Historiker in ihrem Sprachgebrauch stets ausdrücklich auf die unterschiedlichen Grade von Gewissheit oder Wahrscheinlichkeit ihrer Aussagen hinweisen. Umsichtige Historiker bedienen sich einer breiten Palette von stilistischen Möglichkeiten, um die verhältnismäßige Stärke oder Schwäche ihrer Argumentation anzuzeigen und um sichtbar zu machen, inwieweit ihre Schlussfolgerungen vorläufigen Charakter tragen. 19 Unter Berufung auf Dominick LaCapra betont Evans, dass historisches Forschen und Schreiben ein Dialog zwischen zwei Trägern von Bedeutung ist, dem Historiker und der Quelle, wobei sich der Historiker in einen gesprächsähnlichen Austausch mit der Vergangenheit und mit anderen Forschern begibt, die diese zu verstehen suchen. So befinde sich in jedem historischen Werk eine Mehrzahl von Stimmen, und auch der Historiker mag sich verschiedener Stimmen bedienen. 20 Die Betonung dieses Dialogs mit seiner Mehrzahl von Stimmen ist keine Relativierung der historischen Wahrheit, sondern eine pragmatische Sichtweise auf das, was Historiker in ihrer forschenden Arbeit leisten können. Neue Quellen oder auch eine neuartige Interpretation alter Quellen auf neuer Grundlage sind in der Lage, eine bis dato geltende historische Wahrheit umzustoßen. Das bedeutet aber auch, dass sich die historische Wahrheit immer wieder von neuem darzustellen hat. Sie ist nur in einem dialogischen Feld – und dann auch möglicherweise nur für eine gewisse Zeit – zu fassen. Jörn Rüsen hat darauf verwiesen, dass sich dieser fachhistorische Diskurs nicht nur auf die Informationen aus den Quellen bezieht, sondern auch mit kognitiven Konstrukten arbeitet und auf dieser Grundlage die Frage nach der historischen Wahrheit angesprochen. 21 „Diese Wahrheit ist höchst komplex und beschränkt sich nicht auf die kognitive Dimension des historischen Denkens. Es wäre nämlich ein Irrtum, ihm nur diese eine Dimension zuzusprechen.“
Neben der ästhetischen oder poetischen gibt es noch weitere,
19 Evans, Fakten, 108. 20 Ebd., 106–107. 21 Jörn Rüsen, Topik und Methodik, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 36/2011, Heft 2, 123.
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Heinz-Peter Schmiedebach „(...) insbesondere die politische. Und jede hat ihre eigene Wahrheit (die politische z. B. die Legitimität von Herrschaft), und diese Wahrheiten müssen auch kompatibel sein.“ 22
Trotz dieses Gegeben-Seins von eigenen Wahrheiten plädiert Rüsen dafür, die Frage nach der historischen Wahrheit unter dem Hinweis auf die Ganzheit dieser historischen Wahrheit positiv zu beantworten. „Sie besteht in der Kohärenz und Kompatibilität der unterschiedlichen Plausibilitätskriterien des historischen Denkens und der historiographischen Darstellung historischer Erkenntnisse. Sie wird sichtbar, wenn man den narrativen Charakter der historischen Sinnbildung bedenkt. In ihm sind Rationalität und Repräsentativität verschmolzen. Argumentieren und Erzählen erscheinen als zwei Seiten der gleichen Sache.“ 23
Orientierungsfähigkeit der Deutungen muss gegeben sein, also die Fähigkeit, so Rüsen, das „gewonnene historische Wissen so zu formen, dass es rezeptionsfähig in der historischen Kultur seiner Zeit wird.“ 24 Die historische Wahrheit wird also von ihm unter anderem an eine ganz bestimme Kultur einer Zeit gebunden, und man muss kein Geschichtstheoretiker oder Philosoph sein, um zu erkennen, wie dadurch die Ganzheit der historischen Wahrheit selbst historisiert wird. Wahrheit und ihre Erkenntnis ist dadurch immer bestimmt vom Diskurs einer begrenzten Forscherkommunität und der von dieser in einer bestimmten Zeit geschaffenen historischen Kultur, eben vom Argumentieren und Erzählen. So bleibt als Resümee festzuhalten, dass das generierte historische Wissen abhängig von den besonderen methodischen und moralischen Standards der in einer bestimmten Zeit und Kultur aktiven Forschergemeinde ist. Neben den als Selbstverständlichkeiten zu nennenden methodischen Normen, historische Zeugnisse nicht zu erfinden, zu fälschen oder zu unterschlagen, weisen diese Standards an oberster Stelle aber auch den immer wieder zu aktivierenden kritischen Blick auf die Zeugnisse selbst wie auch auf die Grundthesen und Theorien aus, die eben von den Forschern formuliert werden und damit einer deutlichen Zeitbedingtheit verhaftet sind. Dieser aktivierte kritische Blick sollte auch die Aufklärung nicht ausnehmen, gerade in Anbetracht der bereits vorliegenden und eindrucksvollen kritischen Abhandlungen dazu. Die Kritik könnte mit dem Bewusstsein über die Komplexität der historischen Sinnbildung mit ihrem narrativen Charakter verknüpft werden und sich die Schwierigkeiten bei der Herstellung von Kohärenz und Kompatibilität der unterschiedlichen Plausibilitätskriterien des historischen Denkens und der historiographischen Darstellung vor Augen halten. Auf diesem Weg ist vielleicht eine Annäherung an das, was als historische Wahrheit von der Forschergemeinde generiert wird, möglich.
22 Ebd., 126. 23 Ebd. 24 Ebd., 127.
DIE NATION UND GESCHICHTSPOLITIK IM ÖFFENTLICHEN RAUM Das Beispiel Russlands im 19. und am Beginn des 21. Jahrhunderts Jan Kusber, Mainz 1. Im Sommer 2012 wurde in Moskau eine Ausstellung eröffnet, deren Zustandekommen den politischen Wünschen der russischen und der deutschen Regierung geschuldet war. Unter dem Titel Russen & Deutsche. 1000 Jahre Kunst, Geschichte und Kultur hatte man im so genannten Petersburger Dialog beschlossen, parallel zu dem deutsch-polnischen Ausstellungsvorhaben Tür an Tür Ähnliches folgen zu lassen. 1 Gezeigt wurde die Ausstellung prominent im Historischen Museum am Roten Platz in Moskau, ab Oktober 2012 dann im Neuen Museum in Berlin. 2 Beide Ausstellungen waren nota bene nicht identisch, obwohl in der Konzeption zwischen deutschen und russischen Ausstellungsmachern, Museologen wie Wissenschaftlern, hart gerungen worden war, und dies nicht nur über die Ausstellungsteile zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit. Verschiedene Punkte waren kritisch und konnten in den Ausstellungen auch nicht ausgeglichen werden. Zwei seien herausgegriffen: (1) Gibt es eine durchgängig zu erzählende Beziehungsgeschichte von Deutschen und Russen? Zweifel sind stark angebracht. Zwar hat das Anliegen, die longue duree der Beziehungen über die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion herauszuheben, durchaus seine Berechtigung. Doch unterlagen die geographischen Entitäten, die für die Erzählung der Beziehungsgeschichte herangezogen wurden, einem ebenso starken Wandel wie die mittelalterlichen Nationen nicht mit den modernen Nationen gleichzusetzen sind. Zugleich wird die Beziehungsgeschichte von heute her gedacht, ebenso wie die Vorstellung von der Nation von dem jeweils gegenwärtigen „Sehepunkt“ konstruiert wird. Natürlich sahen die russischen Ausstellungen die mittelalterliche 1
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Malgorzata Omilanowska (Hg.), Tür an Tür. Polen – Deutschland: 1000 Jahre Kunst und Geschichte, Köln 22011. Zur Einordnung: Werner Benecke, 1000 Jahre Geschichte, 1000 Jahre deutsch-polnische Nachbarschaft? In: Deutsch-Polnisches Magazin Dialog 96/2011, 21– 23. Matthias Wemhoff / Alexander Lewykin (Hgg.), Russen und Deutsche. 1000 Jahre Kunst, Geschichte und Kultur. 2 Bände (Essayband und Katalog), Petersberg 2012. Die russische Ausgabe ist nicht deckungsgleich.
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Rus mit Kiew als Zentrum als historischen Vorläufer des Moskauer Reichs und des dem petrinischen Imperiums der Frühen Neuzeit. 3 Teils offen, teils versteckt wurde somit ein imperialer Anspruch auf die heutige Ukraine formuliert. Eine Vorstellung von der Größe Russlands sollte in der Ausstellung Russen und Deutsche vermittelt werden und wurde es auch. (2) Die deutsche „Seite“ setzte in der Konzeption auf die exemplarische Darstellung von „Beziehungsknoten“, die sich an den geschichtswissenschaftlich derzeit aktuellen Forschungsansätzen zu Verflechtung und Transfer orientierte. Diese bargen forschungsstrategisch wie in der Ausstellung die Gefahr, das alte Lied vom „Anteil der Deutschen“ bei der Entwicklung Russlands zu singen. Es handelt sich um historische Tatbestände: Deutschsprachige Wissenschaftler partizipierten, teils leiteten sie, die großen Expeditionen der 1725 gegründeten Akademie der Wissenschaften des Russländischen Reiches. Sie stellten Experten in der Verwaltung des Imperiums, sie engagierten sich in Militär, Handel und Wirtschaft. Während in der internationalen Forschung diese Lebenswege als imperiale Biographien verhandelt werden, existiert in der deutschen wie in der russischen Forschung noch immer die Tendenz, den „deutschen Anteil“ unter Ausblendung von Wechselseitigkeiten bestimmen zu wollen. Eine Überbetonung des „deutschen Anteils“ wurde daher von den beteiligten russischen Wissenschaftlern und Museologen nicht zu Unrecht als Angriff auf die „Eigenzeit“ Russlands 4 und damit auf die eigene Geschichte empfunden und führt auch heute noch zu Diskussionen, die ähnlich laufen wie der „Normannenstreit“ zwischen Michail Lomonossov und Gerhard Friedrich Müller im 18. Jahrhundert: Wie war es um die Staatsgründungskraft der Ostslaven bestellt in Anbetracht der Warägerzüge ihrer Herrschaftsbildung um das Jahr 900? 5 Solche Diskussionen sind, nicht nur im Kontext der Ausstellung, die vor allem ein mediales Ereignis sein sollte, nachgerade vermintes Terrain. Die beiden Beobachtungen anlässlich der Ausstellung Russen und Deutsche, an der der Verfasser beteiligt war, sollen zum Ausgangspunkt genommen werden, um ein Problemfeld zu erörtern, das in beiden aufscheint: Der russische Nationalismus, von dem Geoffrey Hosking im Jahr 2000 meinte, er sei vor 1917 im Vergleich zu anderen im Russischen Imperium, etwa bei Polen, Ukrainern, aber auch
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Peter Nitsche, Die Ukraine: Von „Kleinrußland“ zum souveränen Staat, in: Ders., Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, Frankfurt/M. 1994, 43–58. Christoph Schmidt, Russische Geschichte 1547–1917, München 2003, 2. Peter Nitsche, Die Waräger und die Gründung des ältesten ostslavischen Staates. Eine wissenschaftliche Kontroverse unter politischen Vorzeichen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 52/2001, Heft 9, 507–520. Zu den Auseinandersetzungen in der Akademie: Lothar Maier, Deutsche Gelehrte an der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, in: Friedhelm B. Kaiser u. a. (Hgg.), Deutscher Einfluß auf Bildung und Wissenschaft im östlichen Europa (Studien zum Deutschtum im Osten, 18), Köln u. a. 1984, 27–52. Ders., Die Krise der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften nach der Thronbesteigung Elisabeth Petrovnas und die „Affäre Gmelin“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 27/1979, 353–373.
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Finnen, nur schwach ausgeprägt gewesen. 6 Ehemalige Ethnien des zarischen und des Sowjetimperiums empfinden den russischen Nationalismus am Beginn des 21. Jahrhunderts (erneut) als aggressiv. Die eingangs genannte Ausstellung vermittelt davon freilich nur wenig. Die Verständigung von Katharina II., Friedrich II. und Maria Theresia über die erste Teilung Polens und auch die folgenden waren kein Thema der Ausstellung. Russlands derzeitige Nachbarn und auch die Nationen innerhalb Russlands, die durch die sowjetische Nationalitätspolitik teils auch geschaffen wurden, fordern die Dekonstruktion nationaler Argumentationsmuster und Mythen ein und arbeiten zugleich an ihren eigenen. Dabei ist die Dekonstruktion von Mythen im Sinne historischer Aufklärung, immer auch ein Anliegen von Thomas Stamm-Kuhlmann 7, eine bleibende wesentliche Aufgabe der Geschichtswissenschaft, auch wenn unsere Wissenschaftsdisziplin gerade in diesem Feld Schwierigkeiten hat, ihre Ergebnisse in die Öffentlichkeit zu transportieren. Die Medien, ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorchend, bedienen nur allzu oft Stereotype, die dem vermuteten Publikumsgeschmack entsprechen, nicht aber aufklärend wirken. Das gilt auch für die Bildung von Mythen und die Dekonstruktion von historischen Argumentationslinien, die diese bedienen. 8 In den folgenden Betrachtungen wird an ausgewählten Beispielen der Transport von Nation und Nationalismus im öffentlichen Raum in zwei nur scheinbar auseinanderliegenden Epochen russischer Geschichte diskutiert. Es geht zum einen um Manifestationen des russischen Nationalismus in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter den Bedingungen des imperialen Zarenreiches, zu dessen Charakteristika Multiethnizität und Multireligiösität zählten, wie zum zweiten um das postsowjetische Russland, welches als Vergleichs– und Bezugspunkt dienen soll. Zwischen den beiden Vergleichsfällen gibt es einen Ideen– und Argumentationstransfer, der auch in der sowjetischen Zeit Russlands teilweise zwar verdeckt, nicht aber abgebrochen wurde. Nicht zuletzt die Hinwendung Stalins zum Großrussischen Patriotismus, zur vollen Entfaltung kommend während des „Großen Vaterländischen Krieges“ 9, trug zur Perpetuierung mancher historischer Argumente und Mythen bei. Zunächst sollen Elemente der Nation und des Nationalismus für das 19. und 20. Jahrhundert mit Blick auf ihre öffentliche Wirkung parataktisch betrachtet und in einem zweiten Schritt in Beziehung zueinander gesetzt werden. Dabei geht es nicht um eine umfassende Erzählung der Entstehung der russischen Nation; solche Versuche sind bereits unternommen worden, wenn auch gerade in Bezug auf Za-
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Geoffrey Hosking, Empire and Nation-Building in Late Imperial Russia, in: Ders. / Robert, Service (Hgg.), Russian Nationalism in Past and Present, Houndmills 1998, 19–34. Thomas Stamm-Kuhlmann, Wo bleibt die Aufklärung? Unser entspannter Umgang mit der Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Religions– und Geistesgeschichte 56/2004, Heft 2, 97–109. Für das russische Beispiel kompakt: Gerhard Simon, Russland: Historische Selbstvergewisserung und historische Mythen, in: Anneli Ute Gabanyi / Peter März (Hgg.), Geschichtsdeutungen im internationalen Vergleich, München 2003, 61–74. Noch immer instruktiv: Erwin Oberländer, Sowjetpatriotismus und Geschichte, Köln 1967.
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renreich, Sowjetunion und postsowjetisches Russland nicht im Zusammenhang. 10 Vielmehr geht es um die Frage, an welcher Stelle eine Komplexitätsreduktion der Geschichte und historischer Kontexte in geschichtspolitischer Absicht erfolgte, um Identität anzubieten. 2. Die Formierung der modernen russischen Nation begann in der Sattelzeit, in der Aufklärung und Romantik gleichermaßen zur Entdeckung des Volkes durch die Eliten beitrugen. Wenn Michail Lomonossov um die Mitte des 18. Jahrhunderts die russische Sprache prinzipiell für geeignet hielt, alle Bereiche des Lebens, ob Alltag, Wissenschaft oder Politik, auszudrücken, war es Katharina II., die in Auseinandersetzung mit der adeligen Elite des Reiches eine Abkehr von der Frankophilie und eine Hinwendung zur russischen Sprache, Kultur und Geschichte propagierte. Auch für sie war die Geschichte ein Argument. Sie schrieb Werke, in denen sie die mittelalterliche Rus’ verherrlichte, ließ im Zusammenhang mit den Teilungen Polens Medaillen mit der Aufschrift „Entrissenes habe ich zurückgebracht“ prägen und rekurrierte damit auf die Zugehörigkeit weiter Teile Litauens und Weißrusslands zu einer Herrschaftsbildung, die auch die Ukraine umfasste. 11 Russland und seine Nation beinhalteten für die Eliten des Zarenreiches an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert alle ostslavischen Ethnien, die Ukraine – „Kleinrussland“ in der Diktion der Zeit – galt dem Adel als ein Arkadien der Ursprünglichkeit. Nicht wenige ließen ihre Landsitze entsprechend gestalten. 12 Nicht von ungefähr hat Alexander Martin für die Herrschaft Alexander I. von einem entstehenden romantischen Nationalismus gesprochen, der eine wesentliche Katalyse durch den „Krieg von 1812“ erhielt. 13 Die Generation dieses Krieges erlebte die Entdeckung des Eigenen und die Erfahrung der Differenz in Auseinandersetzung mit dem Westen und Europa als elementar und legte die Grundlage für die variationsreiche Debatte zwischen Westlern und Slavopilen, die die „intellectual 10 Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Berlin 1998. Marcus Osterrieder, Von der Sakralgemeinschaft zur modernen Nation. Die Entstehung eines Nationalbewußtseins unter Russen, Ukrainern und Weißruthenen im Lichte der Thesen Benedict Andersons, in: Eva Schmidt-Hartmann (Hg.), Formen des nationalen Bewußtseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, 20), München 1994, 197–232. Geoffrey Hosking, Russland. Nation und Imperium 1552–1917, Berlin 2000. Insbesondere aber die Studien von Vera Tolz: Dies., Russia: Inventing the Nation, London 2001; Dies., Russia: Empire or a Nation-State-inMaking? In: What is a Nation? Europe 1789–1914, Oxford 2006, 293–311. 11 Hans Rogger, National Consciousness in Eighteenth Century Russia, Cambridge 21969. 12 Hierzu umfassend: David Saunders, The Ukrainian Impact on Russian Culture 1750–1850, Edmonton 1985. 13 Alexander M. Martin, Romantics, Reformers, Reactionaries. Russian Conservative Thought in the Reign of Alexander I., DeKalb/Illinios 1997. Siehe auch: Edward Thaden, The Beginnings of Romantic Nationalism in Russia, in: Ders., Interpreting History. Collective Essays on Russia’s Relations with Europe, New York 1990, 180–201.
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history“ in zunehmender Radikalisierung und auch unter Einbeziehung des religiösen Moments bis zum Untergang des Zarenreiches prägte. 14 Man kann dies als ein paradigmatisches Durchlaufen des alten, aber immer noch brauchbaren Hrochschen Phasenmodells sehen. 15 Zu einer Ideologie des Staates wurde die Hervorhebung der Nation in der Zeit Nikolaus I. (1825–1855). 16 Die Konstruktion einer „brauchbaren Vergangenheit“ wurde nun auf eine griffige Formel gebracht. 17 Bei Nikolaus und anderen war in Verlautbarungen vom „Volk“, von der „Rechtgläubigkeit“ und von den Erfordernissen des Staates die Rede, die in der Erziehung der Untertanen zur Anwendung kommen müsste. Diese Versatzstücke bot Sergej Uvarov, Bildungsminister von 1833 bis 1849, dem Zaren 1833 zu seinem Amtsantritt in einer griffigen Formel gleichsam als Staatsideologie an, die er zunächst auf die Bildungsinstitutionen bezog: „Es ist unsere gemeinsame Pflicht zu gewährleisten, dass die Erziehung des Volkes entsprechend dem Höchsten Willen unseres erlauchten Monarchen im gemeinsamen Geist von 5HFKWJOlXELJNHLW >SUDYRVODYLH@ $XWRNUDWLH >VDPRGHUåDYLH@ XQG 9RONVYHUEXQGHnheit [narodnost’] erfolgt. Ich bin überzeugt, dass jeder Professor und Lehrer, durchdrungen vorn gleichen Gefühl der Hingabe für Thron und Vaterland, all seine Kräfte aufbieten wird, um ein würdiges Werkzeug der Regierung zu werden und ihr vollständiges Vertrauen zu erwerben.“ 18
Sergej Uvarov lieferte Nikolaus schließlich das begriffliche Instrumentarium, das seinem Staat eine „Idee“ verleihen sollte. War für Peter I. das Wohl des Staates Rechtfertigung genug gewesen, hatte Katharina dieses Staatswohl mit Konzepten der Aufklärung verknüpft, Alexander die Prinzipien der Heiligen Allianz zu Leitlinien der russischen Politik werden lassen, so ging Uvarov nun daran, die ideologischen Grundlagen staatlichen Handelns neu zu definieren. An die Seite der Autokratie trat die Orthodoxie und damit die Mehrheitsreligion des Vielvölkerimperiums. Um die zahlreichen anderen Ethnien jedoch nicht ganz auszugrenzen, konnte aus diesen beiden Pfeilern nicht allein ein Leitbild abgeleitet werden. Die nationale Idee, verkörpert durch das Volk (narod), vervollständigte das Uvarov14 Zusammenfassend: Jan Kusber, Zwischen Europa und Asien: Russische Eliten des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach einer eigenen Identität, in: Stephan Conermann (Hg.), Geschicht(en), Mythen, Identitäten. Der Kampf um die Vergangenheit (Asien und Afrika, 2), Hamburg 1999, 91–117. 15 Miroslav Hroch, Ethnonationalismus – eine ostmitteleuropäische Erfindung? Leipzig 2004. Ders., Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich, Göttingen 2005. 16 Noch immer anregend: Nicholas V. Riasanovsky, Nicholas I. and Official Nationality in Russia, 1825–1855, Berkeley u. a. 1961. 17 Raphael Utz hat für das Zarenreich die These aufgestellt, es habe sich in der Kontinuität um eine letztlich „unbrauchbare“ Vergangenheit gehandelt: Raphael Utz, Russlands unbrauchbare Vergangenheit. Nationalismus und Außenpolitik im Zarenreich (Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte, 73), Wiesbaden 2008. 18 Zitiert nach: Jan Kusber, Eliten– und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 65), Stuttgart 2004, 363.
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sche Gedankengebäude der Trinität. Die narodnost’, ideengeschichtlich verwurzelt bei Johann Gottfried Herder und der deutschen idealistischen Philosophie eines Schelling, appellierte an das Vaterlandsgefühl, die Verbundenheit mit dem Herrscher und den Dienst für den Staat. 19 Die Trinität markierte damit das zukünftig im öffentlichen Diskurs offiziell Erlaubte, konnte allerdings auch das Gegenteil erzielen. Diese Ideologeme blieben in der Diskussion bis zur Revolution von 1917, wobei in Anbetracht der Herausforderung des gesellschaftlichen Wandels und der Modernisierung des Zarenreiches die einzelnen Elemente übersteigert wurden, so dass Russlands Existenz als Imperium prekär wurde. Der sich steigernde russische Nationalismus, der von kolonialen Diskursen, antisemitischen Aufladungen und übersteigerten Vorstellungen der geopolitischen Sendung lebte – und damit in der verwandelten Welt des 19. Jahrhunderts (Jürgen Osterhammel) keineswegs alleine stand – konkurrierte mit anderen entstehenden Nationalismen und mit (sozial)revolutionären Ideologemen im Imperium. 3. Wie wurde dieser verknappt skizzierte, staatlich initiierte Diskurs nun in Denkmalsetzungen zum Ausdruck gebracht? Drei prominente Beispiele seien diskutiert: 'DVHUVWHLVWGDV'HQNPDOIU0LQLQXQG3RåDUVNLMMHQH7RQQHQVFKZHUH Bronzeplastik des Bildhauers Ivan Martos, die vor der Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz in Moskau steht. 20 Das Denkmal wurde am 20. Februar 1818 eingeweiht und erinnert an, wie es Z|UWOLFKLQGHU,QVFKULIWKHLWÄGHQ%UJHU0LQLQXQGGHQ)UVWHQ3RåDUVNL³GLH Anführer des Volksaufstandes gegen die polnische Intervention 1611 und ihren Sieg über die Polen 1612 gegen Ende der so genannten Zeit der Wirren. 21 Ursprünglich sollte GDV 'HQNPDO LQ 1LåQLM 1RYJRURG DXIJHVWHOOW ZHUGHQ ZR GHU Volksaufstand seinen Anfang genommen hatte. Das Sammeln der Gelder für die Errichtung des Denkmals begann 1803, auf Initiative der Mitglieder der Freien Gesellschaft der Liebhaber der Sprache, der Wissenschaft und der Kunst. Diese Gesellschaft schlug vor, den Volkshelden Kuzma Minin ins Zentrum der Komposition zu stellen. Bis 1808 nahm allerdings die allgemeine Begeisterung für das Denkmal allPlKOLFKDE'DUDXIKLQHUJULIIHQGLH(LQZRKQHU1LåQLM1RYJorods selbst die Initiative. Am 2. Mai 1808 wurde auf Anordnung des Präsidenten der Akademie der 19 Cynthia H. Whittaker, The Ideology of Sergei Uvarov: An Interpretive Essay, in: Russian Review 37/1978, 158–176. Aleksandr L. Zorin, Ideologija „Pravoslavija – 6DPRGHUåDYLMD – 1DURGQRVWµ LHH QHPHFNLHLVWRþQLNLLQ(OHQD / 5XG\QVNDMD+J V razdum’jach o Rossii (XIX v.), Moskau 1996, 105–128. 20 8QG ]XP )ROJHQGHQ GLH DXVIKUOLFKH %HVFKUHLEXQJ ,VWRULþHVNLH RSLVDQLH PRQXPHQWD YRVGYLJQXWRJRJUDåGDQLQX0LQLQXLNQMD]MX3RåDUVNRPXYVWROLþQRPJRURGH0RVNYHSankt Peterburg 1818. Digitalisiert auf: http://dlib.rsl.ru/viewer/01002988228#?page=1 (2.8.2012). 21 K. G. Sokol, Monumenty Imperii. Opisanie dvuchsot naibolee interesnych pamjatnikov imperatorskoj Rossii, Moskau 1999, 31–33.
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Bildenden Künste ein Wettbewerb für das Denkmal ausgeschrieben. Im November 1808 ging Martos als Sieger aus dem Wettbewerb hervor. 22 Daraufhin erging ein Erlass des Zaren zum Sammeln der Gelder. Am 1. Januar 1809 wurden russlandweit Kupferstiche des Siegerentwurfs versandt, um das Vorhaben zu popularisieren.
Abb. 0LQLQXQG3RåDUVNLM(Foto: Julia Röttjer).
Bis 1811 wurden genug Gelder gesammelt, um die Arbeit am Denkmal zu beginQHQ*OHLFK]HLWLJZXUGHHQWVFKLHGHQGDV'HQNPDOQLFKWLQ1LåQL1RYJRURGVRQ dern auf dem Roten Platz in Moskau aufzustellen. Mit der Arbeit am ersten, kleineren Modell wurde 1812 begonnen – zur Zeit des Russlandfeldzugs Napoleons. Wegen des ausgebrochenen Krieges, der bekanntermaßen auch Moskau nicht verschonte, ging die Arbeit nur mühsam voran. Das große allgemeine Interesse am Denkmal erreichte nach dem Sieg über Napoleon ungeahnte Ausmaße: Die Russen sahen die Skulptur als Symbol des Sieges. Die Tagespresse erstattete regelmäßig Bericht über den Fortgang der Arbeiten. Fertiggestellt wurde das Denkmal LQ6DQNW3HWHUVEXUJXQGYRQGRUWEHU1LåQLM1RYJRURGQDFK0RVNDXYHUVFKLIIW Die Überführung fand vom 21. Mai bis 6. September 1817 statt. Die Aufstellungsarbeiten dauerten bis in den Februar 1818 an. Am 20. Februar 1818 wurde das Denkmal schließlich in einer feierlichen Zeremonie enthüllt. Es hat seither seine Position auf dem Roten Platz in Moskau gewechselt, seine Wirkung hatte aber gerade durch die dargestellten Personen auch in der Sowjetzeit bestand. Das Denkmal war nota bene das erste Personendenkmal, das keinen der russischen Herrscher zeigte, aber womöglich mehr zum Transport eines nationalen Gefühls 22 Zu seiner Person nicht ganz zuverlässig: N. N. Kovalevskaja, I. N. Martos (1752– äL]Q’ LWYRUþHVWYRUXVVNRJRVNXO¶SWRUD, Moskau 1938.
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beitrug, als die Reiterstandbilder Peters I. in Sankt Petersburg von Bartolomeo Rastrelli und Etienne Maurice Falconet. Von umfassenderem Anspruch ist das zweite Beispiel „Russlands Jahrtausend“ in der russischen Provinz, in Novgorod. 23
Abb. 2: Russlands Jahrtausend, um 1862 (Foto: Library of Congress).
Der Autor des Projekts war Michail O. Mikešin. An der 1859 erfolgten Ausschreibung nahmen zunächst 40 Bildhauer und Architekten teil. Die Wahl fiel auf den 24-jährigen und damals noch wenig bekannten Zeichner Michail Mikešin, der erst ein Jahr zuvor das Studium an der Kunstakademie abgeschlossen hatte. Sein eingereichtes Projekt bestand aus einer Vielzahl von Teilzeichnungen der einzelnen Fragmente des künftigen Denkmals. Der von dem unerwarteten Zuschlag und dem verantwortungsvollen Auftrag inspirierte Mikešin zog viele weitere bekannte Bildhauer seiner Zeit heran. Bei der Erstellung des Denkmals mussten seine Erschaffer sowohl der Geschichte Russlands als auch der Rolle des herrschenden Hauses Romanow Tribut zollen. Darüber hinaus spiegelt das Projekt den zeitgenössischen Übergang vom Klassizismus zum Realismus wider. Während der obere Teil mit dem Engel und der allegorischen Personifizierung Russlands noch dem klassizistischen Stil folgt, ist der untere Teil von realistisch dargestellten Personen geprägt. Die Eröffnung des Denkmals fand am 8. September 1862 statt. Die Vorbereitungen für die Feiern liefen seit dem Frühjahr. Häuser, Straßen und Plätze wurden repariert. Eine Restaurierung erfuhr auch der Novgoroder Kreml. Alexander II. selbst sollte das Monument enthüllen. 10.000 Soldaten sorgten für die notwendige 23 Und zum Folgenden: V. G. Smirnov, Rossija v Bronze. Pamjatnik Tysjaeletiju Rossii i ego geroj, Novgorod 1992.
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Sicherheit. Den Beginn der Feierlichkeiten markierten fünf Artilleriesalven aus 62 Kanonen. Die eingeladenen Gäste saßen auf speziell errichteten Tribünen. Dem Zaren wurde ein kunstvolles Album mit den Abbildungen der Novgoroder Geschichte überreicht. Nach einer Kreuzprozession und einer Liturgie in der Sophienkathedrale wurde auf dem Kremlplatz eine Militärparade abgehalten und das Monument feierlich enthüllt. Gegen Abend wurde die mit Fahnen verzierte Stadt festlich beleuchtet, es gab ein Feuerwerk. Für das Volk gab es ein Straßenfest mit Musik und Unterhaltung. Die Festlichkeiten dauerten insgesamt drei Tage. 24 Nach der Oktoberrevolution 1925 kam aus Moskau im Jahr 1925 die Anordnung, das „Denkmal für Orthodoxie und Zarentum“ abzureißen. Die lokalen Behörden entschieden sich jedoch dafür, das Monument zu „verstecken“. Es wurde eine Verkleidung aus Holzbrettern errichtet, auf der verschiedene revolutionäre Plakate und Transparente hingen. 25 Am 15. August 1941 wurde Novgorod von der deutschen Wehrmacht besetzt, die plante, das Monument zu zerstören, was jedoch nicht vollständig gelang. Als am 20. Januar 1944 Novgorod von der Roten Armee befreit wurde, war das Postament des Denkmals bis auf die unteren Reste des Reichsapfels absolut leer, die beschädigten großen Figuren der mittleren Ebene lagen auf dem ganzen Kremlplatz verstreut im Schnee. Das drei Meter hohe Kreuz lag verbogen auf dem Boden. Viele Details wie Schwerter, Zepter oder Schilder waren spurlos verschwunden. Gleich nach der Befreiung der Stadt wurde im Rahmen des großrussischen Patriotismus ein rascher Wiederaufbau des Monuments beschlossen, mit dem man das Leningrader Archtitekturkommittee beauftragte. Im Verlauf der Restaurierung mussten 1500 fehlende Details neu gefertigt werden. Das Denkmal wurde bereits zum 2. November 1944 fertig, als seine zweite feierliche Eröffnung stattfand. 26 Das Monument ist von einer Vielzahl ineinander verketteter Symbolismen gekennzeichnet. Es ist wie ein gigantischer Reichsapfel aufgebaut, der sich auf einem glockenähnlichen Postament befindet. Von seinen Umrissen her verbindet das Monument die Mütze des Monomachs, das Symbol der autokratischen ZaUHQPDFKWPLWGHU1RYJRURGHU9HþH-Glocke, dem Symbol der städtischen Selbstverwaltung – ein Ausdruck der seit 1861 einsetzenden liberalen Reformen. Von oben nach unten ist das Monument in drei Segmente oder Ebenen aufgeteilt, die den im Russländischen Reich verbreiteten Nationalspruch reflektieren: Orthodoxie, Autokratie, Volkstum. Die Uvarovsche Trinität wurde so gleichsam in Bronze gegossen. Auf dem Reichsapfel bzw. der oberen Ebene befinden sich die Figuren eines Engels, der ein christliches Kreuz hält und eine kniende Frau, die Russland verkörpert (der Landesname Rossija ist weiblich) und vom Engel gesegnet wird. 24 =X GHQ )HLHUOLFKNHLWHQ 2O¶JD 0DMRURYD %HVVPHUWQ\M 5MXULN 3UD]GQRYDQLH 7\VMDþHOHWLMD Rossija v 1862 g, in: NLO 2000/43 (http://magazines.russ.ru/nlo/2000/43/s6.html; 22.7.12). 25 Valentin L. Janin, Velikij Novogorod. Istorija i kultura IX–XVII vekov. ƠQFLNORSHGLþHVNLM slovar’, Sankt Petersburg 2007, 376. 26 Die Geschichte der Restaurationsarbeiten ist dokumentiert auf: http://1000.home. nov.ru/history_restoration.htm (4.8.2012).
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Rund um den Reichsapfel sind in der mittleren Ebene sechs thematischen Skulpturengruppen mit größeren Figuren aufgestellt, die sechs wichtige Etappen in der russischen Geschichte darstellen. Der Reichsapfel, der die Macht des Zaren symbolisiert, ist mit einem Ornament aus Kreuzen überzogen, was die Einheit der Kirche und der Selbstherrschaft zum Ausdruck bringt. Zusätzlich ziert ihn ein altslawisch stilisierter Schriftzug „Dem vollendeten Jahrtausend des russischen Staates im Jahr 1862.“ In der unteren Ebene des Monuments befindet sich ein Fries, in dem die Reliefs von 109 historischen Persönlichkeiten Russlands zu finden sind. Sie repräsentieren die russische Gesellschaft, welche die autokratische Macht des Zaren stützt. Insgesamt beinhaltet das Monument 128 menschliche Figuren. Interessanterweise fand Ivan IV. keinen Platz im Denkmal, verheerte seine Terrorherrschaft der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Region Novgorod doch ganz besonders. 27 Die russische Nation hatte ihren Ort also auch in der Provinz, die zum Kern Russlands gehörte, auch wenn Novgorod im Mittelalter an dessen westlicher Peripherie lag. Es war ein bewusster Akt gewesen, dieses Monument nicht im erst 1703 gegründeten St. Petersburg zu errichten. Seinen Platz in der Hauptstadt fand hingegen im Jahre 1873 auf dem so genannten Theaterplatz ein Denkmal Katharinas II., das nota bene alle sozialistischen Bilderstürme überstanden hat. 28
Abb. 3: Denkmal für Katharina die Große (Foto: Julia Röttjer).
27 Isabel de Madariaga, Ivan the Terrible. First Tsar of Russia, New Haven 2005, 255f., 270f., 278f. 28 Zur Geschichte des Denkmals knapp: John T. Alexander, Catherine the Great. Life and Legend, New York u. a. 1989, 341.
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Entworfen wiederum von Michail Mikešin und umrahmt von einem klassizistischen Architekturensemble bestehend aus dem Alexandrinka-Theater, dem $QLþNRY-Palast und der Nationalbibliothek 29, steht die Herrscherin den Staatsportraits von Dmitrij Levickij oder Fedor Rokotov nachempfunden auf einem Sockel, um den sich acht ihrer Mitstreiter versammeln, die alle in ihrer Zeit einflussreiche Mitglieder der Petersburger Hofgesellschaft waren. Sie repräsentieren die unterschiedlichen Dimensionen, mit denen Katharinas 34-jährige Herrschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbunden werden sollte, benennen aber zugleich die Zusammensetzung der imperialen Hofgesellschaft ihrer Zeit: Da finden sich ihr Großkanzler Aleksandr Bezborodko, die Feldmarschälle Petr Rumjancev XQG $OHNVDQGU 6XYRURY VRZLH $GPLUDO 9DVLOLM ýLFDJRY GHU 'LFKWHU XQG 6WDDWV PDQQ*DYULLO'HUåDYLQGHU3KLODQWKURSXQG$XINOlUHU,YDQ%HFNRMGLH3UlVLGHQ tin der Akademie der Wissenschaften Fürsten Ekaterina Daškova 30 sowie der Fürst von Taurien, Grigorij Potemkin. Die Zeitgenossen mochten in diesem Denkmal eine adäquate Verkörperung der katharinäischen Herrschaftszeit als eine der militärischen Erfolge und eine der von der Aufklärung regierten Reformgesetzgebung gesehen haben. Sie galt, kurzum, als ein goldenes Zeitalter in der Geschichte des Zarenreiches. Dieser Bewertung der Herrschaft Katharinas im Kontext der Geschichte des Zarenreiches haben sich Historikerinnen und Historiker in der sowjetischen Zeit nicht umstandslos angeschlossen 31; die Kontroverse um Bedeutung und Wesen der katharinäischen Epoche dauert an. 32 Interessant ist das durch das Denkmal transportierte Geschichtsbild im Kontext dieses Beitrages wegen der Personen, die um die Kaiserin versammelt sind und die jeweils für verschiedene Gruppen der russischen Nation stehen, wie man sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begriff: Die Träger militärischer und ziviler Ränge, so wie sie sich seit der Einführung der Rangtabelle in den Tagen Peters des Großen herausgebildet hatten, die Inhaber von Hofrängen, Aufklä-
29 Jan Kusber, Kleine Geschichte St. Petersburgs, Regensburg 2009, 71. 30 Zu ihrer Tätigkeit jetzt ausführlich: G. I. Smagina, 6SRGYLåLFD 9HOLNRM (NDWHULQ\. 2þHUNL R åL]QL L GHMDWHO¶QRVWL GLUHNWRUD 3HWHUEXUJVNRM $NDGHPLL QDXN NQMDJLQL (NDWULQ\ 5RPDQovy Daškovoj, Sankt Petersburg 2006. 31 So wurde in der Zeit nach 1917 bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein keine größere Biographie der Kaiserin in der Sowjetunion vorgelegt – ganz im Gegensatz zur Ivan IV. oder Peter I. Zur Einordnung der sowjetischen Forschung und ihrer Neubewertung: A. B. Kamenskij, Ekaterina II., in: Voprosy Istorii 3/1989, 62–88. Ders., Ot Petra I do Pavla I: Reformy v Rossii XVIII veka. Opyt’ celostnogo analiza, Moskau 1999. 32 Siehe die internationalen Bestandsaufnahmen: Eckhard Hübner / Jan Kusber / Peter Nitsche (Hgg.), Rußland zur Zeit Katharinas II. Aufklärung, Absolutismus, Pragmatismus (Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 26), Köln / Wien 1998. Claus Scharf (Hg.), Katharina II., Russland und Europa. Beiträge zur internationalen Forschung (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Beiheft 45), Mainz 2001. Mit reicher Literatur jetzt ders., Aufklärung „von oben“: Das Russische Reich, in: Geschichte und Gesellschaft 1/2010, 169–202 sowie Olga Eliseeva, Ekaterina Velikaja, Moskau 2010.
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rer und Dichter, schließlich in der Person Potemkins auch die Gruppe der Favoriten. 33 Sie alle konstituierten die Spitzen der Hofgesellschaft und sie alle waren zugleich ostslavischer Herkunft: Nicht alle waren 5XVVHQ'HUåDYLQXQG%H]ERURGNR waren „Kleinrussen“, also Ukrainer, aber es waren doch alle Ostslaven. Die einzige Ausnahme bildet die Kaiserin selbst. Sie war bekanntermaßen deutscher Herkunft, wechselte jedoch mit ihrer Hochzeit mit dem Thronfolger vom Protestantismus zur Orthodoxie. Im Gegensatz zu ihrem Gatten, dem späteren Peter III., hat man ihre Konversion nie angezweifelt. Dennoch: der Wettbewerb um die die Gestaltung des Denkmals zeigte, dass Katharina als Ikone einer nationalen Herrscherin nicht taugte. Sie musste von wahrhaft russischen Mitstreitern umgeben werden, um einen prominenten Platz im Stadtraum zu finden. 34 Nikolaus I. hingegen erhielt schon vier Jahre nach seinem Tod, im Jahre 1859, als russischer Herrscher sein Denkmal durch den gleichen Bildhauer – trotz seiner verheerenden Niederlage im Krimkrieg. Diese Beispiele sind keineswegs die einzigen. Man könnte etwa die Alexander-Nevskij-Kathedralen nennen, die am Beginn des 10. Jahrhunderts an der westlichen Peripherie dieses Zarenreiches errichtet, gebauter Anspruch der russischen Nation und ihrer Kirche auf die baltischen Provinzen waren. 35 Und natürlich könnte man auch jede Formen zarischer Festinszenierungen nennen, die vor dem Ersten Weltkrieg das zunehmend brüchige Band zwischen Herrscher und Volk zu kaschieren suchten. Man denke nur an die Feierlichkeiten zum 300. Thronjubiläum der Romanovs. 36 4. Betritt man das ehemalige Revolutionsmuseum in Moskau, das heutige Museum für zeitgenössische Geschichte, wird man mit Fanfarenklang und Salutschüssen empfangen. Auf Monitoren ist im ersten Ausstellungssaal die Inauguration des derzeit noch amtierenden russischen Präsidenten Medvedev zu sehen, der 2008 33 Zugleich steht Potemkin natürlich für Feldherrentum und die erfolgreiche Südexpansion des Zarenreiches in der Zeit Katharinas. 34 Galina I. Smagina, Pamjatnik Ekaterine II v Sankt Peterburge, in: Ekaterina Velikaja, ƠSRFKL Rossijskoj istorii v pamjat’ 200 letija so dnja smerti Ekateriny k 275 –letiju Akademii nauk. Tezisy dokladov, Sankt Petersburg 1996, 271–274. 35 Karsten Brüggemann, Wie der Revaler Domberg zum Moskauer Kreml wurde: Zur lokalen Repräsentation imperialer Herrschaft im späten Zarenreich, in: Jörg Baberowski / David Feest / Christoph Gumb (Hgg.), Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich (Eigene und Fremde Welten, 11), Frankfurt/M. 2008, 172–195. 36 Konstantin Tsimbaev, Die Orthodoxe Kirche im Einsatz für das Imperium. Kirche, Staat und Volk in den Jubiläumsfeiern des ausgehenden Zarenreiches, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 52/2004, 353–369. Ders., „Jubiläumsfieber“. Kriegserfahrung in den Erinnerungsfeiern in Russland Ende des 19. – Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Gert Melville / KarlSiegbert Rehberg (Hgg.), Gründungsmythen, Genealogien, Memorialzeichen: Beiträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität, Köln 2004, 75–107.
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mit einer Kombination aus sowjetischen und zarischen Repräsentationselementen im Georgsaal des großen Kremlpalastes ins Amt eingeführt wurde. 37 Der gesamte Raum ist der Tradition russischer oder besser russländischer Staatssymbolik gewidmet. Wappen werden nebeneinander gruppiert. Doppeladler und Sowjetstern werden zu einander in Beziehung gesetzt. Verfassungen liegen einträchtig in einer Vitrine beieinander: Der erste Band der vollständigen Sammlung der russischen Gesetze aus dem Jahre 1834, das Staatsgrundgesetz von 1906, welches dem autokratischen Zarenreich erstmals ein Parlament, die Duma bescherte, die Stalinverfassung von 1936 mit ihrem gewaltigen Katalog individueller Freiheiten, die Breschnew-Verfassung aus dem Jahre 1977, die vom Erreichen des Sozialismus sprach, die postsowjetische Konstitution aus dem Jahre 1993, mit ihrer Formulierung einer so genannten asymmetrischen Föderation, in der die Föderationssubjekte, also die Republiken und autonomen Gebiete, mit je ganz unterschiedlichen Eigenrechten ausgestattet wurden. Und während der Betrachter oder die Betrachterin über die amalgamierte Kontinuität staunt und im Hintergrund Vladimir Putins Reden auf seinen Nachfolger hört, wird der Kontinuität der Geschichte die imperiale Dimension hinzugefügt. Es werden Fotos von Treffen Putins oder Medvedevs mit dem Präsidenten Baschkortostans, Tatarstans oder Kalmückiens gezeigt, die kein Zweifel daran lassen, dass die Macht von der Zentrale in Moskau ausgeht. Die auf den Fotos gezeigten Unterordnungsverhältnisse bilden imperiale Hierarchien ab, die nationalem oder ethnisch-religiösen Eigensinn entgegenwirken sollen. Lokale Symbolträger werden auf den ausgestellten Staatsgeschenken mit russländischen Staatsymbolen kombiniert. Die Strategie der Inkorporation, die man in den Wappen der Sowjetrepubliken fand, wird damit fortgesetzt. Hier wird Kontinuität über Epochenbrüche hinweg behauptet – also vom zarischen Russland hin zur Sowjetunion und zum postkommunistischen Russland. Zugleich wird auch die imperiale Dimension bis in die Gegenwart perpetuiert. Die Ausstellungen dieses Museums sind in den Jahren 2007–2009 neu konzipiert worden, als nach der Unübersichtlichkeit der Jelzin-Jahre der Staat als geschichtspolitischer Akteur wieder dominant wurde. Auch die ständigen Ausstellungen des Russländischen Historischen Museums sind neu konzipiert 2006 der Öffentlichkeit übergeben worden. Hier wird nun die offizielle Lesart der russischen Geschichte präsentiert, beginnend mit der Stein– und Eisenzeit bis in die Zeit um das Jahr 1900. Betrachtet man beide Museen zusammen, so ist die Überwältigungsstrategie, mit der die Größe des Vaterlandes und der Heimat dem Betrachter nahegebracht ZHUGHQVROODXJHQIlOOLJ9DWHUODQGRWHþHVWYR XQG+HLPDWURGLQD VLQG6FKOV selbegriffe, über die Geschichte zusammengebunden wird und die von Vladimir Putin nach seinem Sieg bei der Präsidentenwahl auf dem Manegeplatz in seiner Dankesrede zusammengebunden wurden. Putin operierte in seiner Rede am 4. März 2012 wie die Macher der ständigen Ausstellung: Die Vielzahl der wertvollen Objekte, die geringe Angst vor der Herauslösung aus Zeitkontexten, eine Ori37 Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich auf Beobachtungen während einer einmonatigen Gastprofessur an der Höheren Schule für Ökonomie in Moskau im März 2012.
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entierung an historistischen Verfahren, ein Setzen auf Emotionalität und Affekte, vor allem aber das Ausblenden jedes Elements von Zusammenbruch, Ende, Verlust und Terror leiten das geschichtspolitische Konzept. 38 Die Dynastien der Rjurikiden, der Romanovs, selbst der Godunovs, die das Moskauer Reich an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert in eine schwere Erschütterung führten, werden positiv dargestellt. Die Revolution von 1917 ist ein Auftauchen neuer Helden und der Bürgerkrieg ein Ringen um die Größe Russlands von allen Seiten. Im Museum für zeitgenössische Geschichte kommen Terror und Hunger durch Kollektivierung und Industrialisierung ebenso wenig vor wie Schauprozesse und Säuberungen. Dafür steht in beiden Museum der Triumph der russischen Waffen in verschiedenen Kriegen im Mittelpunkt: Katharinas und Alexanders Siege gegen das osmanische Reich, selbst der Krimkrieg, RussischJapanischer Krieg, Erster Weltkrieg, und natürlich ganz zentral die Siege im Vaterländischen Krieg von 1812 und im Großen Vaterländischen Krieg von 1941– 1945. 39 Eine solche offiziöse Sicht auf die Geschichte, bei der die wissenschaftlichen Teams beider Museen der staatlichen Geschichtsinterpretation entgegenarbeiteten, soll homogenisieren und keine Brüche zeigen. Sie verdeckt allerdings den Blick darauf, dass es sich bei der angenommenen historischen Kontinuität zwar einerseits um Staatlichkeiten handelte, die jeweils „imperial trajectories“ aufweisen 40, die aber von unterschiedlichen politischen Systemen geprägt und auch von unterschiedlicher geographischer Ausdehnung gekennzeichnet waren. Die Sowjetunion entsprach als Ergebnis des Hitler-Stalin-Paktes ab 1945 in ihrem Umfang in etwa dem alten zarischen Russland, abzüglich des heutigen Nordostpolens, aber mit der ostpreußischen Enklave Königsberg/Kaliningrad. In dieser sowjetischen Konstruktion war die RSFSR zwar die größte und die zentrale Sowjetrepublik, aber sie war viel kleiner als das zarische Russland – auch wenn diese geographischen Entitäten innerhalb der Sowjetunion noch nichts über Nationalismus, Dominanz und imperiale Praktiken aussagten. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus war Russland auf eine historische Größe reduziert, die eher in die Zeit vor Peter I. ins 17. Jahrhundert zurückreichte. Solche Veränderungen spielen in der musealen Darstellung wie in der (geschichts–) politischen Rede Vladimir Putins keine Rolle. Der Anspruch geht über das territorial reduzierte Russland der Gegenwart deutlich hinaus. Vielmehr wird der Eindruck vermittelt, dass man sich zumindest in der Machtzentrale als Imperium sieht, welches Weltgeltung behaupten muss, um Erwartungshaltungen zu be38 Hierzu auch: Jutta Scherrer, Erinnern und Vergessen: Russlands Umgang mit (seiner) Geschichte in einer europäischen Perspektive, in: Lars Karl / Igor J. Polianski (Hgg.), Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in neuen Russland (Formen der Erinnerung, 40), Göttingen 2009, 23–40, hier 31. 39 Werner Benecke, Der 9. Mai – ein sowjetischer Feiertag zwischen mehreren Kalendern, in: Rudolf Jaworski / Jan Kusber (Hgg.), Erinnern mit Hindernissen. Osteuropäische Gedenktage und Jubiläen im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Münster 2011, 65–78. 40 Jane Burbank / Frederick Cooper, Empires in World History: Power and the Politics of Difference, Princeton 2010, 1.
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dienen, die sie selbst hervorgerufen hat. Hier gibt es einen Schulterschluss zwischen den Machteliten und weiten Teilen der Bevölkerung. Auch diejenigen, die sich gegen seine manipulierte Wiederwahl als Präsident der Russländischen Föderation wandten, wie der Blogger und Aktivist Alexei Naval’nyj, sind in ihrer Einstellung als nationalistisch zu begreifen. 41 Die Aufstellung von neuen Personendenkmälern in der Formensprache des 19. Jahrhunderts und durch aus anknüpfend an Michael Mikešins Kolossalstatuen ist allgemein akzeptiert, regionale Identität wird hier mit gesamtnationalen Narrativen verbunden. 6RZDUHVQXUNRQVHTXHQWDP1RYHPEHULQ1LåQLM Novgorod eine um nur fünf Zentimeter kleinere Kopie des Minin-und-3RåDUVNLMDenkmals aufzustellen. Dieses „Schwesterdenkmal“ steht vor dem Kreml, neben der Kirche Johannes des Täufers, von deren Aufgang aus Kusma Minin 1611 das Volk zur Verteidigung Moskaus gegen die Polen aufrief. 42 Die Aufschrift auf dem Schwesterdenkmal ist identisch mit der des Originals, allerdings ohne Angabe der Jahreszahl. Die Kopie wurde von dem georgisch-russischen Bildhauer Surab Zereteli erstellt, der in den Neunzigern und am Beginn des neuen Jahrtausends Moskau mit Denkmälern unter anderem für Peter I. überziehen durfte. 43 Die Aussagen dieser Denkmäler verweisen teils auf Russlands Größe, teils sind sie dezidiert antiwestlich (und im speziellen antipolnisch). Der Tag der Befreiung, 2005 eingeführt als Ablösung für den Revolutionsfeiertag, am 5.11.2005, zu MHQHP 7DJ DOV GDV +HHU YRQ 0LQLQ XQG 3RåDUVNLM LQ GHU Ä=HLW GHU :LUUHQ³ GLH polnische Besatzung aus dem Kreml vertrieb, besitzt eine antiwestliche Spitze und führt Russland auf seine eigene Stärke zurück. Eine gewaltige Dimension erreichte der Transport eines nationalen Geschichtsbildes im Rahmen der Feierlichkeiten zum 200. Jubiläum des Sieges Russlands über Napoleon im Jahre 1812. Dieser „vaterländische Krieg“ wird stets in Beziehung zum „Großen Vaterländischen Krieg“ 1941–1945 gesetzt, auch im staatlichen Gedenken. Die geplanten Feierlichkeiten überstiegen vielleicht sogar die Feiern zum hundertjährigen Jubiläum 1912. 44 Der Plan der staatlichen Jubiläumsaktivitäten im Jahre 2012 war umfangreich. Er verzeichnete zahlreiche Projekte und ihre Ausführungsorte, das dafür veranschlagte Budget sowie die zuständige Behörden oder Organisationen. 45 Er war unterteilt in zehn Bereiche: 1. Die zentralen Jubiläumsmaßnahmen, 2. Gedenkstät41 Siehe seinen Blog: http://navalny.ru/ (4.8.2012). 42 Siehe hierzu den Artikel der Zeitschrift Monarchist vom 4.11.2005 (http://monarhistspb.narod.ru/Archives_news/2005/10-2005/31-10-2005-3.htm; 2.8.2012). 43 Jan Kusber, „Heiliges Rußland“ und „Sowjetmacht“. Moskau als Ensemble von Gedächtnisorten, in: Rudolf Jaworski / Jan Kusber / Ludwig Steindorff (Hgg.), Gedächtnisorte in Osteuropa. Vergangenheiten auf dem Prüfstand (Kieler Werkstücke, Reihe F, 6), Frankfurt u. a. 2003, 97–115, hier 114. 44 Kurt Schneider, 100 Jahre nach Napoleon. Rußlands gefeierte Kriegserfahrung., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 49/2001, 45–66. 45 Plan für die Feiern für das Jahr 1812 vom 28.12.2007 und seine Fortschreibung vom 2.11.09 auf http://document.kremlin.ru/doc.asp?ID=043545 (22.7.2012) sowie http:// news.kremlin.ru /acts?date=2.11.2009 (22.8.2012).
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tenarbeit an Erinnerungsorten, 3. Rekonstruktion und kompletter Nachbau von verlorenen historischen und kulturellen Denkmälern, 4. Museumsaktivitäten, 5. Veröffentlichung von Dokumenten und Material, Herausgabe von wissenschaftlicher und belletristischer Literatur, Restauration archivierter Dokumente und deren Ausstellung, 6. Wissenschaftliche, pädagogische und kulturelle Bildungsaktivitäten, 7. Informationelle Unterstützung und Zusammenarbeit mit den Medien, 8. Festliche Aktivitäten, 9. Festivals, Wettbewerbe, Paraden, Zusammenkünfte und Wiederaufbau sowie 10. Aktivitäten im Ausland. Das staatliche Gesamtbudget des Plans für die Jahre von 2009 bis 2012 betrug umgerechnet etwas mehr als 57 Millionen Euro. Die größten Investitionen entfielen auf die Arbeit an Gedenkstätten und Erinnerungsorten sowie auf die zentralen Jubiläumsmaßnahmen. Eine zentrale Rolle innerhalb der staatlichen Maßnahmen kam also der Restauration von historischen und kulturellen Erinnerungsorten zu, die oftmals mit einer Projektdokumentation verbunden wurde. Dazu gehörten beispielweise Denkmäler, auch für Regimenter, Gedenkstätten für die Soldaten von 1812, Kriegsgräber sowie zivile und militärische Bauten, die für den Krieg 1812 eine wichtige Rolle spielten. So werden neben Bauten in Borodino auch das von Bauern errichtete Denkmal in Tarutino oder die Kremlmauer in Smolensk restauriert. Zu den zentralen Jubiläumsmaßnahmen gehört der Bau eines AusstellungsPavillons am Staatlichen Historischen Museum in Moskau für Ausstellungsobjekte aus dem Vaterländischen Krieg, die Herausgabe einer dreibändigen Enzyklopädie unter dem Titel Der Krieg von 1812 und die Befreiungskampagne der russischen Armee von 1813 bis 1814, die Organisation der zentralen Feier des 200. Jahrestags, eine Parade von militärhistorischen Vereinen sowie die Produktion eines Spielfilms über 1812. Bei all diesen Aktivitäten ist die orthodoxe Kirche omnipräsent. Priester weihen die restaurierten Bauten und segnen die Paraden. Dies scheint über die Instrumentalisierung des Religiösen im ausgehenden Zarenreich hinauszugehen. Was bei alledem auffällt, ist der machtvolle Auftritt der orthodoxen Kirche als Identitätsstifter und als politscher Akteur in ihrem Schulterschluss mit Vladimir Putin als Repräsentanten der Nation. So rief der im März 2012 wiedergewählte Präsident dezidiert zur Benutzung des Terminus einer „russischen Welt“ auf. Mit dem seit 2007 von beiden machtvoll vorgetragenen, ebenso unscharfem wie wirkmächtigen Konzept der russischen Welt (Russkij Mir), welches vor allem, aber nicht nur das westliche Vorfeld umschreibt und als Anspruch formuliert, gelingt die Instrumentalisierung der Kirche, die ihrerseits fürstlich alimentiert, das geopolitische Vorfeld zu besetzen sucht: Zur Russischen Welt gehören die Ukraine, Belarus und die baltischen Staaten, eben all jene Gebiete, in denen russischorthodoxe Menschen, auch in der Diaspora leben. Papstbesuche in der Ukraine führen zu politischen Konflikten von ebensolcher Dimension wie Planungen für einen Raketenschutzschild der Nato, dass man gegen sich gerichtet sieht und nicht gegen Staaten im Nahen Osten. Bezeichnend ist, dass es sich bei der „Russischen Welt“ um ein Elitenkonzept handelt, das direkte Verbindungen zu seinen slavo-
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philen Wurzeln und der Ideologie der Eurasier aufweist. 46 Nation und Nationalismus des 19. und des 21. Jahrhunderts stehen also in einer unmittelbaren Verbindung, die antimoderne Züge mit einer modernen Mediennutzung kombiniert. 5. Das geschichtsmächtig begründete Selbstbild als Imperium und einer russischen Nation, die ein solches Imperium trägt, führen Politik und Gesellschaft in Russland in Zwänge, die durchaus gesehen und teilweise als Hypothek diskutiert werden. Unter den Beobachtern aus Publizistik und Wissenschaft sind die Meinungen vielfältig. Einmal mehr sehen viele Russland, um ein berühmtes Historiengemälde von V. Vasnecov aufzugreifen, als „Vitjaz’ na rasput’e“ als „Recke am Scheideweg.“ Dmitrij Furman sieht die Überwindung des imperialen Modells und die Schaffung eines russischen Nationalstaats als Ausweg aus der autoritären Sackgasse. 47 Wenig Hoffnung macht der Soziologe Lev Gudkov: Er sieht Russland in einem epochalen Niedergang, dem die Gesellschaft aufgrund einer epidemischen Apathie nichts entgegenzusetzen hat. 48 Denis Volkov und Jens Siegert haben dem widersprochen: Trotz aller staatlichen Restriktionen, allem Zynismus und aller Stagnation gebe es Anzeichen, dass ein gesellschaftlicher Aufbruch unter anderen politischen Bedingungen möglich ist. 49 Aber wie und zu welchen Bedingungen wird sich der Aufbruch vollziehen? „Das Bedürfnis nach dem symbolischen Schutzraum einer nationalen Identität“ 50 ist stark und nicht nur eine Integrationsstrategie der Regierung. Gleichzeitig birgt der aggressive Nationalismus die Gefahr einer Auseinanderentwicklung zwischen Russland und dem, was viele Russen in aller Unschärfe als Europa bezeichnen. Dies führt zu autoritären Tendenzen und historischen Mythologisierungen, deren Grund spätestens im 19. Jahrhundert gelegt wurde, und an denen am Beginn des 21. Jahrhunderts kräftig weiter gestrickt wurde. Die Jelzin-Jahre, in denen man noch händeringend nach einer „Idee 46 Eine erste prägnante wissenschaftliche Einordnung: Zaur Gasimov, Idee und Institution. Russkij Mir zwischen kultureller Mission und Geopolitik, in: Osteuropa 62/2012, Heft 5, 69– 80. Zur Ideologie der Eurasier zusammenfassend: Peter Nitsche, „Auszug nach Osten". Die Eurasier und die Geschichte Rußlands, in: Jan Kusber / Stephan Conermann (Hgg.), Studia Eurasiatica. Kieler Festschrift für Hermann Kulke zum 65. Geburtstag, Hamburg 2003, 287– 316. 47 Dmitrij Furman, Russlands Entwicklungspfad. Vom Imperium zum Nationalstaat, in: Osteuropa 61/2011, Heft 10, 3–20. 48 Lev Gudkov, Russland in der Sackgasse. Stagnation, Apathie, Niedergang, in: Osteuropa 61/2011, Heft 10, 21–46. 49 Denis Volkov, Im Stau. Russlands Zivilgesellschaft, in: Osteuropa 61/2011, Heft 10, 47–60; Jens Siegert, An der Weggabelung. Zivilgesellschaft und Politik in Russland, in: Osteuropa 61/2011, Heft 10, 61–76. 50 Isabelle de Keghel, Der Wiederaufbau der Moskauer Erlöserkathedrale. Überlegungen zur Konstruktion und Repräsentation nationaler Identität in Rußland. In: Beate Binder (Hg.), Inszenierung des Nationalen: Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts, Köln 2001, 211–232, hier 211.
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für Russland“ suchte 51, scheinen vergessen. Mit Volldampf geht es zurück in eine mythische Vergangenheit, die kontextabhängig genutzt wird. Die Dekonstruktion dieser Mythen gehört zu den Kernaufgaben der internationalen RusslandHistoriker, auch im wissenschaftlichen Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen in Russland.
51 Gerhard Simon, Auf der Suche nach der „Idee für Russland“, in: Osteuropa 47/1997, Heft 12, 1169–1190.
„IN FREUNDSCHAFT EURE MAGDA“ Der Unternehmer Günther Quandt und sein Vetter Kurt Schneider Diana Schulle, Berlin Ein Freund von mir besaß eines dieser „vergessenen Zimmer“, in dem sich unter Spinnenweben und Staubschichten so mancher Schatz zu verbergen schien, der nur darauf wartete, gehoben zu werden. Betreten durfte ich dieses Zimmer nie. Doch dann musste es ausgeräumt werden. Eines Tages empfing er mich mit dem Satz: „Ich habe da einen Brief von Magda Quandt.“ 1 Mein Interesse hielt sich zunächst in Grenzen, weil mir nur Joseph Goebbels einfiel, über den schon Etliches geschrieben worden ist. Dann ließ er mich selbst in den alten Familienunterlagen stöbern – und schon bald überkam mich dieses unruhige Gefühl des Dringend-Weitersuchen-Müssens. Obwohl die deutsche Industriellenfamilie Quandt nach wie vor geräuschlos ihren Geschäften nachgeht und die Öffentlichkeit scheut, wissen heute mehr Menschen als zuvor, dass sie „irgendwie“ mit BMW (Bayerische Motorenwerke AG) zusammenhängt. BMW und VARTA sind weltweit bekannte Namen. Dass sich dahinter weitaus mehr verbirgt, sei nur nebenbei erwähnt. Unternehmerisch und politisch geschickt errichteten vier Generationen ein Firmenimperium: Günther Quandt stieg in die Wirtschaftselite auf, seine Söhne Harald und Herbert führten sein Werk weiter und weiteten es aus, und auch heute steht der Name für deutsche Wirtschaftskraft. Über „die Quandts“ ist in den vergangenen Jahren Manches geschrieben, berichtet und mehr oder weniger öffentlichkeitswirksam diskutiert und leise korrigiert worden. 2 Etwa zu der Zeit, als wir staubigen Kistchen, Schächtelchen und Schuhkartons durchwühlten, erschien Joachim Scholtysecks Der Aufstieg der Quandts 3. Dadurch ergab sich die Möglichkeit, die vorliegende biografische Skizze in den Kontext einzuordnen und so versteht sich dieser Beitrag als Ergänzung zu einer Person, die auf den mehr als eintausend Seiten bei Scholtyseck achtmal 1
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Ich danke Peter Schneider ganz herzlich für den Zugang zu den Papieren und die vielen Erinnerungen, an denen ich während unserer gemeinsamen Gespräche teilhaben und die ich hier verwenden durfte. Hier seien nur erwähnt: Rüdiger Jungbluth, Die Quandts. Ihr leiser Aufstieg zur mächtigsten Wirtschaftsdynastie Deutschlands, Frankfurt a. M. / New York 2002; Das Schweigen der Quandts. Eine Dokumentation des NDR, Erstsendung 30. September 2007; Ralf Stremmel, Zeitgeschichte im Fernsehen. Die preisgekrönte Dokumentation Das Schweigen der Quandts als fragwürdiges Paradigma, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 58/2010, 455–481. Joachim Scholtyseck, Der Aufstieg der Quandts, München 2011.
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namentlich erwähnt wird. Es handelt sich um den Vetter Günther Quandts, den acht Jahre jüngeren promovierten Juristen Kurt Schneider, Regierungsrat, Rechtsanwalt und Notar. Er spielte bei Günther Quandts wirtschaftlichem Aufstieg eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ob er Vertragswerke entwarf, mit denen er ihm den Rücken stärkte und so manchen Weg gangbar machte, ließ sich nicht ermitteln. Doch er nahm wichtige Sitze in Aufsichtsräten und Gremien sowie Positionen in zentralen Holdings ein. Die beiden Vettern standen sich ihr Leben lang sehr nahe, auch wenn die Papiere aus der Zeit nach 1945 einen anderen Eindruck vermitteln wollen. Um die wenigen überlieferten Dokumente zu Kurt Schneider in die Geschehnisse einzuordnen, war es unvermeidlich, ausgesucht und bruchstückhaft auf Günther Quandts wirtschaftlichen Ein– und Aufstieg und manchmal auch auf sein Privatleben einzugehen. Obwohl die Unterlagen – vermutlich noch vor Kriegsende 1945 – „gesäubert“ worden sind, wird schnell deutlich, wie eng beider Leben miteinander verflochten waren. Neben vielem anderen arbeitete Joachim Scholtyseck heraus, dass der Reichtum der Familie Quandt nicht allein auf Geschäften während der Zeit des Nationalsozialismus und auf der Ausbeutung von Zwangsarbeitern beruht, sondern dass der Aufstieg der seit drei Generationen erfolgreichen Familie schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts begann. Den Grundstein legte Emil Quandt (1849–1925), der sich vom Lehrling zum Handlungsgehilfen in der 1860 gegründeten Tuchfabrik der Gebrüder August und Ludwig Draeger in Pritzwalk hochgearbeitet hatte. Zu den Kunden dieser auf Uniformtuche spezialisierten Fabrik gehörten vor allem Behörden wie Eisenbahn, Feuerwehr, Marine, Post und Armee. Durch letztere erhielt der Betrieb besonders durch den Krieg von 1870/71 umfangreiche Aufträge, die ihn unempfindlich gegenüber der schwankenden Konjunktur machten. Die Tuchfabrik der Gebrüder Draeger brannte 1871 bis auf die Grundmauern nieder. Der Schaden wurde durch die Versicherungssumme schnell beglichen und ermöglichte einen moderneren Wiederaufbau. August Draeger ließ sich ausbezahlen und zog sich aus dem Geschäft zurück, Ludwig Draeger führte es als Alleineigentümer weiter. Emil Quandt, der beim Neuaufbau half, erhielt die Prokura. 4 Als 1879 Ludwig Draeger starb, zeigte sein Sohn Paul kein Interesse an der Tuchfabrikation. Gemeinsam mit dem Sohn Max Draeger leitete Emil Quandt, inzwischen Geschäftsführer der Firma, den Betrieb weiter. 5 Ein Jahr später heiratete er die älteste Tochter Ludwig Draegers, die am 12. Mai 1855 geborene Hedwig. Am 28. Juli 1881 kam der Sohn Günther auf die Welt. Jüngste Tochter Ludwig Draegers und Schwester Hedwig Draegers war die am 12. Juni 1863 in Pritzwalk geborene Emmy Louise. Sie heiratete am 3. Mai 1887 Hermann Carl Schneider, Sohn eines Pritzwalker Tuchscherermeisters. Der zehn Jahre ältere Hermann war seit geraumer Zeit in Berlin Kaiserlicher Ober-Postdirektionssekretär. Das Ehepaar zog nach Schöneberg bei Berlin. Bald darauf wurde Her4 5
Ebd., 23. Ebd.
„In Freundschaft Eure Magda“
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mann Schneider zum Kaiserlichen und Geheimen Oberpostinspektor befördert. Am 10. März 1888 kam die Tochter Käthe zur Welt, am 21. Februar 1889 der Sohn Kurt, und am 17. Juni 1890 die Zwillingsmädchen Lucie und Ella. Letztere verstarb einjährig, am 1. Juli 1891, an „Kopfgrippe“ (Enzephalitis). Kurt Schneider besuchte zunächst die Vorschule des traditionsreichen Königlichen Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in der Berliner Friedrichstadt 6, seit Ostern 1896 das Gymnasium selbst, das er Ostern 1907 mit dem Reifezeugnis verließ. Im anschließenden Sommersemester begann er an der Universität Freiburg im Breisgau das Studium der Rechts– und Staatswissenschaft. Nach sechs Semestern wechselte er an die Juristische Fakultät der Berliner Universität. Während des Studiums lernte er Erich Bandekow kennen, mit dem er lebenslang verbunden blieb. Beide organisierten sich als Aktive und später als Alte Herren im Akademischen Turnverein Berlin, einer nicht schlagenden Studentenverbindung. Beide schrieben eine juristische Dissertation, beide waren im Staatsdienst und wurden fast zeitgleich zum Regierungsrat ernannt, beide verließen, diesmal nicht zeitgleich, die Beamtenlaufbahn und arbeiteten später für Günther Quandt. Der Freundeskreis nannte sie „die siamesischen Zwillinge.“ 7 Die Freundschaft hielt bis an ihr Lebensende. Am 20. Januar 1911 bestand Kurt Schneider die erste juristische Staatsprüfung. Auf sein Gesuch um Einstellung in den Justizdienst hin wurde er am 3. Februar 1911 zum Referendar im Bezirk des Kammergerichts ernannt und dem Amtsgericht Wittstock (Dosse) zugewiesen. Hier hatte Günther Quandt 1901, noch nicht zwanzig Jahre alt, die Tuchfabrik Friedrich Wilhelm Wegener durch Kauf bzw. Übernahme erworben. Eine zweite große Tuchfabrik in Wittstock, ein Konkurrenzunternehmen, ging 1911 durch Heirat ebenfalls in die Hände der Familie Quandt über. Gut möglich, dass der Jurist Kurt Schneider als Beobachter von den Erfahrungen profitierte, die er im Zuge des Erarbeitens eines Gesellschaftervertrages gewinnen konnte. Vielleicht war er sogar aktiv an dem handelsrechtlich komplexen Vorgang beteiligt. Das Thema seiner Dissertation, die er während des Referendariats verfasste, legt diese Vermutung nahe. Am 24. Mai 1912 wurde er an der Universität Rostock promoviert. 8 Zwischen 1912 und 1913 kam er seiner Militärpflicht als einjährig Freiwilliger beim 1814 gestifteten Kaiser-Franz-Garde Grenadier-Regiment 2 in Berlin nach. Nach Ablauf des Dienstjahres und zweier Militärübungen wurde Schneider als Unteroffizier der Reserve entlassen. Anfang 1914 absolvierte er beim gleichen Regiment eine weitere Übung und war somit bei Kriegsausbruch 1914 Vizefeldwebel und Offiziersaspirant. Dies führte dazu, dass er bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, gleich am zweiten Mobilmachungstag, mit dem aktiven 3. Garde6 7 8
Gegründet 1797 bestand es bis Ende des Zweiten Weltkrieges und lag südlich der heutigen Kochstraße im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Tischrede zum 75. Geburtstag von Dr. Kurt Schneider. Alle zitierten Dokumente ohne nähere Herkunftsangaben befinden sich in Privatbesitz. Mit dem Thema: Die Rechtslage des Mieters gegenüber dem Ersteher eines Grundstücks vor Rechtskraft des Zuschlagbeschlusses, Archiv der Universität Rostock, Promotionsakte.
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Regiment zu Fuß als Offiziersstellvertreter ins Feld einrückte. 9 Ziel war die Westfront. Nach drei unbeschadet überstandenen Schlachten auf französischem Terrain wurde er am 8. September 1914, dem dritten Tag der Marneschlacht, während der Kämpfe im Tal des Flusses Petit-Morin 10 durch Schussverletzungen schwer an beiden Füßen verwundet. Der Feldarzt des etwa 50 Kilometer nordöstlich gelegenen Lazaretts bei Epernay wollte beide Füße mit den zertrümmerten Fersenbeinen amputieren, kam aber nicht mehr dazu, weil das Lazarett kurz darauf durch den Vormarsch der französischen Truppen eingenommen wurde. Verwundete, die wie Kurt Schneider nicht laufen konnten, gerieten in französische Kriegsgefangenschaft. Der französische Arzt, der ihn fortan behandelte, hielt nichts von Amputationen und stellte seine Füße in einer mehr als zwei Jahre andauernden und aufwendigen Behandlung soweit wieder her, dass diese Kriegsverletzung ihn im späteren Leben nicht behinderte. Noch im Lazarett wurde Kurt Schneider am 2. November 1914 zum Offizier befördert. Am 14. Dezember 1914 übersandte Oberstleutnant Walther v. Schulzendorff vom 3. Garde-Regiment zu Fuß den Eltern Carl und Emmy Schneider das Eiserne Kreuz II. Klasse mit der Bitte, es dem Sohn mitteilen zu wollen, „(…) wenn dadurch keine Unannehmlichkeiten für ihn zu befürchten sind. Das Kreuz selbst bitte ich aber bis zu seiner Rückkehr aufbewahren zu wollen.“ 11 Aus der Gefangenschaft heraus bemühte sich Kurt Schneider seit 1917, seine durch Militärzeit und Weltkriegsteilnahme unterbrochene Referendarzeit zu beenden. Erhalten geblieben ist ein Antwortschreiben des Kammergerichtspräsidenten, der darum ersuchte, ihm mitteilen zu wollen, an welchem Amtsgericht er später seinen Vorbereitungsdienst fortzusetzen wünschte. 12 Bis Juli 1918, etwa drei Jahre und zehn Monate, befand sich Kurt Schneider in französischer Kriegsgefangenschaft. Das Bemühen, seine Ausbildung nach fast vier verlorenen Jahren beenden zu können, hatte er nicht aufgegeben. Im Juni 1918 überwies ihn der Kammergerichtspräsident Berlin per Schreiben für fünf Monate ans Amtsgericht Schöneberg. Antrittstermin: „Demnächst.“ 13 Wann dieses „Demnächst“ jedoch beginnen würde, wusste zu dieser Zeit niemand. Zunächst wurde Kurt Schneider – nach entsprechenden Vereinbarungen zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich im Jahr 1918 14 – angesichts mehr als
9 Lebenslauf des Leutnants d. R. a. D. Dr. Kurt Schneider, undatiert [vermutlich 1939]. 10 Jürgen Kraus, Handbuch der Verbände und Truppen des deutschen Heeres 1914–1918, Teil VI: Infanterie, Band 1: Infanterie-Regimenter, Wien 2007. 11 W[alther] von Schulzendorff an die Eltern, 14.12.1914. 12 Schreiben des Kammergerichtspräsidenten an Herrn Referendar Dr. Kurt Schneider z. Hd. des Geheimen Rechnungsrates Carl Schneider, 29. November 1917. 13 Schreiben des Kammergerichtspräsidenten an den Oberpostinspektor und Geheimen Rechnungsrat Carl Schneider, 10. Juni 1918. 14 Auf der Basis der Haager Landkriegsordnung. Sie ist das neben den Genfer Konventionen ein wesentlicher Teil des humanitären Völkerrechts. Zum Umgang mit verletzten und erkrankten Soldaten verweist die Haager Landkriegsordnung auf die erste Genfer Konvention von 1864
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achtzehnmonatiger Kriegsgefangenschaft am 13. Juli 1918 in die Schweiz ausgetauscht und zunächst in Weggis am Vierwaldstättersee interniert. Das Königliche Kammergericht in Berlin, seine vorgesetzte Behörde, wies ihn auf seine Nachfrage hin an, ein Gesuch an die Kaiserliche Gesandtschaft, Abteilung für Gefangenenfragen, in Bern um eine Beschäftigung einzureichen, die dann auf seine Ausbildung angerechnet werden könnte. Auf eigenen Wunsch und mit Genehmigung der Schweizer Behörden erklärte er bereits am 3. August seine grundsätzliche Bereitschaft, „eine Beschäftigung beim Kaiserlich Deutschen Generalkonsulat Zürich anzunehmen“, falls er dort die Gelegenheit habe, „juristische Kenntnisse zu verwerten, volkswirtschaftliche Fragen kennen zu lernen und zu bearbeiten oder praktische Verwaltungstätigkeit auszuüben.“ 15 Am 1. Oktober 1918 begann seine Tätigkeit als Hilfsarbeiter beim deutschen Generalkonsulat in Zürich, die bis zum 10. Dezember andauerte. Dann wurde er zur Gruppe der Juristen nach Heinrichsbad, Kreis Appenzell, versetzt. 16 Es muss offen bleiben, was er hier in den folgenden sieben Monaten tat. Im August 1919 durfte er nach Deutschland zurückkehren. Vorerst lebte der nun Dreißigjährige bei seinen Eltern in der Steglitzer Johanna-Stegen-Straße 19 und setzte seinen Bildungsweg fort. Die Hoffnung, dass die Zeit beim deutschen Konsulat in Zürich auf den Vorbereitungsdienst angerechnet würde, erfüllte sich nicht, weil das Konsulat keine Gerichtsbarkeit ausübte. 17 Nach verschiedenen, vom Kammergerichtspräsidenten zugewiesenen Vertretungen zur amtsgerichtlichen Ausbildung wurde Kurt Schneider im Januar 1920 an das Kammergericht übernommen und dem II. Zivilsenat zugewiesen. Am 23. Juni 1920 erhielt er sein Patent zum Gerichtsassessor. 18 Zum 15. September 1920 schied er aus dem Justizdienst aus, weil er in die Reichsfinanzverwaltung übernommen worden war. Diese bestellte ihn zum 10. Januar 1921 zum Regierungsrat beim Finanzamt II in Berlin-Charlottenburg. 19 Anders als Kurt Schneider blieb der Vetter Günther Quandt 1914 von der Einberufung verschont. Nach Ausbruch des Weltkrieges war er in der Bewirtschaftung kriegswichtiger Rohstoffe tätig und wurde Leiter der Kriegswollbedarf AG. Zweck war die Beschaffung, Verteilung und Verwertung von Wollen, soweit sie für die Sicherung des industriellen Bedarfs für Heer und Marine erforderlich waren. 20 Seine Firmengruppe war Hauptlieferant der Armee. Aufgrund dieser Stellung verlegte er seinen Wohnsitz nach Berlin.
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bzw. 1906. Hans-Peter Gasser, Humanitäres Völkerrecht. Eine Einführung, Baden-Baden 2007. Archiv des Auswärtigen Amtes, RAV Zürich, 119, Personalunterlagen Kurt Schneider, Abschrift des Schreibens mit der Bestätigung der Beschäftigungsbereitschaft, 3. August 1918. Ebd., Schreiben des Deutschen Generalkonsulats an die Kriegsgefangeneninternierung, Abt. Zentralmächte, vom 6. Dezember 1918. Schreiben des Kammergerichtspräsidenten an Dr. Kurt Schneider, 24. Dezember 1918. Mit dem Dienstalter vom 2. Juni 1915. Schreiben des Preußischen Justizministers [Hugo] Am Zehnhoff, 23. Juni 1920. Schreiben des Reichsminister der Finanzen [Joseph] Wirth, 10. Januar 1921. Scholtyseck, Der Aufstieg, 43–55, hier 46.
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Schneiders eigenen Worten zufolge kam es nach dem Krieg wieder zu einer engeren Verbindung zu seinem Vetter Günther, als beide in Berlin lebten. Ihre regelmäßigen Kontakte waren zweifelsohne von intensivem Gedankenaustausch geprägt. Gewiss war er auch unter den Gästen der Hochzeit zwischen Günther Quandt und der neunzehnjährigen Magda Ritschel am 4. Januar 1921. Zwischen diesen dreien bestand ein sehr warmes und überaus herzliches Verhältnis, welches sich bald auf den am 1. November 1921 geborenen Sohn Harald erstreckte. Ebenso wie zum Sohn Herbert aus der ersten Ehe Günther Quandts mit Antonie Ewald blieben die engen Verbindungen zwischen „Onkel Kurt“ und Harald ein Leben lang bestehen. Der Jurist Kurt Schneider hatte, zusätzlich erschwert durch den vier Jahre dauernden Krieg, lange darauf hingearbeitet, den Weg in den Staatsdienst zu vollenden. Jetzt hatte er sein Ziel erreicht, doch inzwischen war sein Blick in eine andere Richtung gelenkt worden. Er selbst sah den Grund dafür in seiner Tätigkeit beim Konsulat, „die für [m]eine weitere Entwicklung nicht ohne Bedeutung war.“ 21 Zum 31. März 1921 schied er ohne Ruhegehalt aus dem Reichsdienst aus, um freiberuflich als Rechtsanwalt tätig zu sein. Politisch inzwischen uninteressiert ergab sich ihm eine faszinierende Alternative: Mit Vertrag vom 4. Februar 1921 stellte er „seine gesamte Arbeitskraft in den Dienst des Herrn Günther Quandt und derjenigen Gesellschaften, denen Herr Quandt nahesteht oder die er als ihm nahestehend bezeichnet.“ 22 Schneider wurde Quandts „Rechtsberater und Verwalter seines aus Grundbesitz und Wertpapieren bestehenden Vermögens.“ 23 Im Jahr darauf gab auch Günther Quandt seine Position als Referent im Reichswirtschaftsministerium auf. Obwohl sich für Kurt Schneider nicht mehr alles rekonstruieren lässt, scheint gesichert, dass beide Vettern anfänglich gemeinsam viele gewagte, spekulative und auch kostenintensive Unternehmungen durchdachten und Manche vollzogen – mag sein, der eine hatte die Ideen, der andere sorgte für Rechtssicherheit. Beide waren risikofreudig, sogar Hasardeure und wie sich bald herausstellte, offenbar keine Bedenkenträger. Während die Reparationen die deutsche Wirtschaft belasteten, verlegte sich Günther Quandt auf Börsenspekulationen und Übernahmegeschäfte. 1920 hatte er die in Berlin eingetragene „Tarnorganisation“ Companhia Perfuradora Brasileira GmbH gegründet, um einen maßgeblichen Einfluss auf Aktiengesellschaften zu erhalten, ohne diesen nach außen erkennbar werden zu lassen. Die Verwaltung übernahm zeitweilig sein Vetter Kurt Schneider. 24 Um Mehrfachbesteuerungen zu vermeiden, wurde der Quandtsche Familienbesitz seit den zwanziger Jahren geschickt verschachtelt und in Holdinggesellschaften angelegt und deren erwirtschaftetes Kapital immer wieder für Unternehmensübernahmen eingesetzt. Die wichtigsten dieser Gesellschaften, die keine ope21 22 23 24
Entwurf eines Lebenslaufes, undatiert [verm. nach 1945]. Ebd. Lebenslauf, undatiert. Scholtyseck, Der Aufstieg, 85.
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rativen Funktionen inne hatten und mit wenig materiellem und personellem Aufwand für die Kapitalbeschaffung und die Anlage von Kapital tätig werden konnten, waren die Draeger-Werke GmbH und die Aktiengesellschaft für Industriebeteiligungen (Agfi), die in den fünfziger Jahren unter dem gleichen Kürzel als Allgemeine Gesellschaft für Industriebeteiligungen als GmbH geführt wurde. Die Anfänge einiger Holdings lagen teilweise in der Grundstücksbewirtschaftung. Die 1905 gegründete Berliner Terrain-Centrale GmbH mit einem Gesellschaftskapital von 4 Millionen Mark besaß Grundstücke, Geschäftshäuser und Wirtschaftsgebäude in Berlin-Frohnau und Heiligensee, darunter das Casino Frohnau. Seit den dreißiger Jahren wurde diese Holding unter dem Namen Terrain-Centrale Gartenstadt Frohnau GmbH geführt. Auch die Agfi ging aus einer am 14. August 1922 in Berlin gegründeten Verkaufsstelle Mecklenburgischer Landerzeugnisse hervor, „deren wesentlicher Zweck es war, die landwirtschaftlichen Produkte des Quandt gehörenden Gutes Severin zu vertreiben.“ Der Gründungszweck ging im Laufe der Jahre verloren. Die Bilanz von 1931 zeigte Aktiva in Höhe von 23,4 Millionen Reichsmark, die überwiegend aus Effekten und Beteiligungen bestanden. 25 Gesichert ist, dass Kurt Schneider sowohl an der Tätigkeit der Aktiengesellschaft für Industriebeteiligungen als auch an der Terrain-Centrale Gartenstadt Frohnau GmbH beteiligt war und deren Interessen wahrnahm. 26 Worin genau dieses allerdings bestand, darüber lässt sich mangels Unterlagen leider nur spekulieren. Syndikus Schneider fiel, neben dem Bankier Jakob Goldschmidt und dessen Teilhaber Julius Schwarz, der vorübergehende Erwerb einer Beteiligung an der Deutschen Wollwarenmanufaktur AG im schlesischen Grünberg zu 27, nachdem der Generaldirektor zunächst einer Aktienbeteiligung Quandts zugestimmt, dann aber ins Zweifeln kam und wieder abgesagt hatte. Als Strohmann wirkte in diesem Falle Schneiders alter Studienfreund Oberregierungsrat Dr. Erich Bandekow. 28 Quandt und Schneider wurden vorübergehend in den Aufsichtsrat gewählt. Rückblickend erwies sich dieses Geschäft als ein weniger gutes. Es trug jedoch dazu bei, künftig die Vorgänge der kommenden Unternehmensübernahmen zu berichtigen und zu verfeinern. Die vollständige und damit erfolgreiche Übernahme des schlesischen Unternehmens gelang erst in einem zweiten Anlauf in den dreißiger Jahren. Günther Quandt hatte 1922 damit begonnen, über Banken für sich selbst und über Strohmänner Aktien der Accumulatoren-Fabrik (AFA) mit Sitz in Berlin und Hagen zu erwerben. 29 Die AFA (seit 1962 VARTA AG) produzierte und vertrieb elektrische Akkumulatoren sowie hierfür erforderliche Halbfabrikate und elektrische Zubehörteile. Im Laufe der Zeit entstanden mehrere Filialen im In– und 25 26 27 28 29
Ebd., 159–166, hier 162. Vereinbarung vom 31. Mai 1938. Lebenslauf, undatiert. Scholtyseck, Der Aufstieg, 83–85. Ausführlich dazu Scholtyseck, Der Aufstieg, 115–125.
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Ausland. 30 Nachdem Quandt die Aktienmehrheit erworben hatte, erhielt er vier Sitze im Aufsichtsrat – einen für sich selbst, zwei für seine Brüder Werner und Gerhard und einen für seinen Vetter Kurt Schneider. 31 Im Jahr darauf wurde Günther Quandt zum Aufsichtsratsvorsitzenden gewählt, 1938 wurde er Vorstandsvorsitzender. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde die AFA zu einem bedeutenden Teil Quandts wirtschaftlicher Aktivitäten und Industriebeteiligungen. 1926 erfolgte die Übernahme der Pertrix Chemische Fabrik AG. Im neuen Werk Berlin-Niederschöneweide wurden Taschenlampen und Trockenbatterien hergestellt. 1927 wurde die Grubenlampenfabrik Dominit Werke AG (Dortmund) hinzu gekauft, und in Hannover-Stöcken ein neues Werk errichtet, das ausschließlich für die Kriegsmarine Akkumulatoren herstellte. Die stetig wachsende QuandtGruppe umfasste bald bedeutende Unternehmen der elektrotechnischen, metallverarbeitenden, chemischen und Textilindustrie sowie des schweren und leichten Maschinenbaus. Ob Kurt Schneider zu dieser Zeit mit juristischem Rat oder vertraglichen Vor– und Zuarbeiten seinem Vetter bei diesen Erweiterungen zur Seite stand, darüber geben die wenigen Unterlagen keine Auskunft. Als Aufsichtsratsmitglied jedenfalls profitierte er davon. War Günther Quandt zwar wirtschaftlich überaus erfolgreich, so galt dies jedoch nicht für sein Privatleben. Seine Ehefrau Antonie Ewald war 1918 nach zwölfjähriger Ehe mit nur vierunddreißig Jahren an der Spanischen Grippe verstorben. Später hatte er seinen älteren Sohn Helmuth darauf vorbereitet, in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Dazu kam es jedoch nicht mehr: Am 15. Juli 1927 starb der Neuzehnjährige in Paris an einer unfachmännisch behandelten Blinddarmentzündung. 32 Dies war ein schwerer Schlag für Günther Quandt. Am Ende des Jahres reiste er, diesmal mit Magda, wieder einmal durch die USA, um die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung dieses Landes zu beobachten und Schlüsse für sein eigenes Handeln daraus zu ziehen. 33 Am 3. Dezember 1927 schrieb er an seinen Vetter Kurt aus dem William Penn Hotel in Pittsburgh: „Wenn wir dieses Jahr verlassen, so dürfte es wohl das härteste gewesen sein, das je in meinem Leben vorkommen konnte. Du hast von der Hochzeit an das Werden und Wachsen von Helmuth miterlebt und Du weißt, mit welchem Vaterstolz ich immer an ihm gehangen habe (…) So sind nun die Hoffnungen, ihm bald einmal die Fortsetzung meiner Arbeit übertragen zu können, in ein Nichts zerschmolzen. So ganz anders wandere ich dieses Mal durch die Betriebe, die immer größer wachsend immer mehr Menschen beschäftigen. So ganz anders sehe ich auch das ganze Land.“ 34
Im neuen Jahr fasste Quandt im Rüstungsgeschäft Fuß. Er begann 1928, die Mauserwerke AG zu reorganisieren. Daneben erwarb die AFA AG im Tausch gegen 30 So in Breslau, Dortmund, Dresden, Frankfurt am Main, Freiburg, Hamburg, Hannover, Köln, Königsberg, Leipzig, Magdeburg, Mannheim, München, Nürnberg und Stuttgart sowie in Buenos Aires, Rio de Janeiro, Kalkutta, Johannesburg, Kairo und Konstantinopel. 31 Scholtyseck, Der Aufstieg, 121. 32 Ebd., 213. 33 Kurt Schneider war ebenfalls einige Male mit seinem Vetter durch die USA gereist. 34 Privatbesitz.
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nominell 2 Millionen Reichsmark ein in Berlin-Oberspree gelegenes Werk der Berlin-Karlsruher Industriewerke 35, die zuvor und ab 1936 wieder Deutsche Waffen– und Munitionsfabrik (DWM) hießen. Die inszenierten Übernahmehintergründe blieben selbst für eingeweihte Börsenspezialisten undurchschaubar. Anders als im Falle der AFA wurden zunächst nicht mehrere Familienmitglieder in den Aufsichtsrat berufen, sondern vorerst nur Quandts Vetter Kurt Schneider. 36 Erst im Zuge der in den dreißiger und vierziger Jahren erfolgten DWMAktienkäufe gewann Quandt hier an Macht und Einfluss. Über das private Leben Kurt Schneiders in den zwanziger Jahren ist nicht viel bekannt. Wenn es die Umstände zuließen, reisten oder ruderten er und sein Freund Erich Bandekow durch Deutschland, später auch durch Italien, Spanien und Portugal und genossen das ungebundene Junggesellenleben. Günther Quandts zweite Ehe mit der zwanzig Jahre jüngeren Magda konnte auch nicht gerade als Vorbild dienen, sich zu binden. Die Bedürfnisse der jungen Frau nach kulturellem und gesellschaftlichem Leben mit rauschenden Festen entsprachen nicht der Lebensführung des älteren, nüchternen und für die Arbeit lebenden Quandt. Als er im Mai 1928 erfuhr, dass Magda ihn mit einem Studenten betrog, warf er sie kurzerhand aus dem Haus. Im Sommer 1929 wurde die Ehe geschieden. Am 19. Dezember 1931 heiratete sie den späteren Propagandaminister und Gauleiter Berlins Joseph Goebbels. 37 Die Anfänge der Beziehung zwischen dem inzwischen vierzigjährigen Kurt Schneider und der sechzehn Jahre jüngeren Schauspielerin Anneliese Schneidereit (1905–1984) aus Hamburg liegen im Dunkeln. 38 Im Juni 1930 jedenfalls wurde beider Sohn Peter unehelich geboren. Schon drei Wochen nach der Geburt des Sohnes stellte Kurt Schneider den Antrag auf Ehelichkeitserklärung. Dadurch erhielt das Kind die Rechtsstellung eines ehelichen Kindes und auch den Familiennamen des Vaters. Es erwarb dadurch volle Erbansprüche gegen den Vater (und dessen Familie) und der Vater wurde Inhaber des alleinigen Sorgerechts. Die Mutter verlor im Gegenzug das Sorgerecht und war auch nicht mehr unterhaltspflichtig. Es handelte sich gewissermaßen um eine Integration des Kindes in die väterliche Familie bei gleichzei-
35 Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften 1936, Bd. 3, 3841–3848, hier 3842. 36 Entwurf eines Lebenslaufes, undatiert; Scholtyseck, Der Aufstieg, 149. 37 Ralf Georg Reuth, Goebbels, Gütersloh 1990; Scholtyseck, Der Aufstieg, 239–252 u. a. Bemerkenswert ist nebenbei, dass sowohl die Vornamen der Söhne Quandts (Helmuth, Herbert, Harald) als auch die der Goebbels-Kinder (Helga, Hilde, Helmuth Holde, Hedda, Heide) alle mit einem H anfingen. 38 Künstlername: Annelies Schneidereyt. Ihre Filmkarriere begann 1935 mit Lady Windermeres Fächer. 1937 folgten Die Nichte aus USA, Die wirkliche Liebe, Heiratsinstitut Ida & Co.; 1938 Fracht von Baltimore, Klimbusch macht Wochenende und Skandal um den Hahn. Ihren letzten Filmauftritt hatte sie 1939 in Hochzeit mit Hindernissen. Nach 1945 spielte sie Rollen an verschiedenen Theatern; zuletzt war sie Rezitatorin und pflegte Briefwechsel mit bekannten und berühmten Zeitgenossen, darunter Thomas Mann.
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tigem Ausschluss der Mutter. 39 Kurt Schneider wollte, wie er Jahre später äußerte, dass sein Sohn in „anständigen“ Verhältnissen und nicht in dem Vagabundenleben einer Schauspielerin heranwächst. Anneliese Schneidereit wehrte sich, gab aber schließlich nach. Vermutlich konnte sie dem Juristen Schneider und dessen persönlichen Verhältnissen, Möglichkeiten und Beziehungen nichts entgegensetzen. Im Juni 1931, zehn Tage vor dem ersten Geburtstag des Kindes, trat die Ehelichkeitserklärung in Kraft. Von diesem Tage an lebte der Sohn Peter im Haushalt der Eltern. Die Mutter hat dies bis an ihr Lebensende nicht verkraftet. Das Jahr 1930 brachte weitere Veränderungen. Am 28. Oktober 1930 waren Kurt Schneider und Luise Johanne Schneidereit 40 die Ehe eingegangen. Lydia, wie sie genannt wurde, war bis dahin eine enge Mitarbeiterin Günther Quandts. Nach der Hochzeit schied sie aus dem Arbeitsleben aus. Sowohl die Beziehung zwischen beiden als auch die Eheschließung waren offenbar geheim gehalten worden, wie die Bemerkungen Magda Quandts in ihrem Glückwunschschreiben vom 15. November 1930 vermuten lässt: „Mein lieber Kurt! Mit großer Freude habe ich die Nachricht von Deiner Vermählung erhalten und gratuliere Dir von ganzem Herzen zu Deiner Wahl. – Dass Ihr beide grosse Gauner seid und uns alle mustergültig an der Nase herumgeführt habt, sei Euch in Anbetracht der ‚guten Sache‘ verziehen!! Besonders Dein langes unerklärliches Schweigen wäre ja an und für sich unentschuldbar! Nun macht es bald alles wieder gut und lasst Euch oft und lange bei mir sehen. Ich würde mich freuen, wenn Ihr häufige und herzliche Gäste bei mir werden würdet. Nun nehmt beide von mir meine allerherzlichsten Glückwünsche entgegen und seid überzeugt [,] dass ich mich von Herzen mit Euch freue und von Herzen für Euch erhoffe glückliche, frohe und gesunde Jahre. Heute sollt Ihr ja zurückkehren von Eurer wunderbaren Reise, darum sende ich Euch auch erst heute mein kleines Geschenk mit den besten und schönsten Grüsse[n] Dir und meiner lieben neuen Cousine. In Freundschaft Eure Magda“
Im Juni 1931 war Sohn Peter in den Haushalt aufgenommen worden, Anfang November wurde die Tochter Ursula geboren, im Mai 1934 Sohn Klaus. Es hat den Anschein, als seien Günther Quandt und Kurt Schneider am gleichen Tag, dem 1. Mai 1933, der NSDAP beigetreten. Auch wenn Schneider später erklärte, er sei zu Beginn des Jahres fest entschlossen gewesen, diesen Schritt nicht zu gehen und außerdem wäre er ohne sein Wissen Mitglied der NSDAP geworden, denn er habe keinen Antrag unterschrieben, bezeugen die Dokumente das Gegenteil: Schneiders Karte aus der NSDAP-Zentralkartei mit dem Datumsstempel vom 1. Mai 1933 und einer Mitgliedsnummer, die auf das Jahr 1933 hinweist,
39 Diese Erklärung existierte in der Bundesrepublik Deutschland bis 1998; erst dann wurde die Unterscheidung von nichtehelichen und ehelichen Kindern im deutschen Kindschaftsrecht abgeschafft. 40 Anneliese und Lydia Schneidereit waren nicht verwandt.
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trägt seine eigene Handschrift. 41 1936 wurde sie durch ein Foto ergänzt. Doch er hat sich „bewusst als nicht zugehörig betrachtet.“ 42 Später wird man ihm bescheinigen, dass er „das Muster eines Parteigenossen (gewesen sei), wie er nicht sein sollte.“ 43 Im August 1933 trat Schneider, hier noch als Regierungsrat a. D., dem Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen bei (ab 1936 Nationalsozialistischer Rechtswahrerbund). „Aus fachlichen Gründen“ fand er das wichtig. 44 Trotz allem blieb er offenbar seiner individualistischen und liberalen Haltung treu. So unterstützte er beispielsweise den 1928 der KPD beigetretenen Emil Orlik-Schüler Oskar Nerlinger. Nerlinger, Lehrer an einem städtischen Gymnasium, war 1933 Ausstellungsverbot erteilt worden, er selbst wurde verhaftet und ins Polizeipräsidium Alexanderplatz gebracht. Kurt Schneider gelang es durch Beibringung von Unterlagen, die Staatsanwaltschaft von Nerlingers Unschuld zu überzeugen, so dass das Verfahren gegen ihn eingestellt werden konnte. Später geriet ein Bild Nerlingers in die Ausstellung Entartete Kunst. Nerlinger wandte sich wieder an Kurt Schneider, der Rehabilitierung erwirken konnte und dafür sorgte, dass das Bild noch vor Ende der Ausstellung entfernt wurde. 45 Auch für Oskar Nerlingers Frau Alice, ebenfalls Künstlerin, wurde er tätig. Sie war im Gestapogefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße inhaftiert worden wegen einiger Plakatzeichnungen, die sie vor 1933 angefertigt hatte. Deswegen sollte gegen sie ein Verfahren wegen Hochverrats eröffnet werden. Nach mehreren Vorsprachen gelang es Rechtsanwalt Schneider, zunächst ihre Freilassung und später die Einstellung des Verfahrens zu erwirken. In den dreißiger Jahren nahm Kurt Schneider seine Aufgaben als Mitglied verschiedener Aufsichtsräte und Ausschüsse wahr und ging auch seiner Aufgabe „als Rechtsberater Günther Quandts und Verwalter seines aus Grundbesitz und Wertpapieren bestehenden Vermögens“ nach. Das heißt, er amtierte weiterhin für die Aktiengesellschaft für Industriebeteiligungen (Agfi) als auch für die TerrainCentrale Gartenstadt Frohnau GmbH. Doch wir wissen nicht, worin seine Tätigkeit im Einzelnen tatsächlich bestand. Selbst seine Frau Lydia schien nicht über alles informiert gewesen zu sein. Als ehemalige Mitarbeiterin Quandts hatte sie bis 1930 Einblicke gehabt und Kenntnisse darüber gewinnen können, wie risiko41 BArch, ehem. BDC, NSDAP-Zentralkartei. Zwischen beiden Mitgliedsnummern besteht allerdings eine Differenz von etwa 800.000, was Schneiders Argument des „Nichtwissens“ unterstützt. 42 LAB, C Rep. 031–01–03, Nr. 274, Protokoll der Hauptverhandlung von Freitag, dem 13. Mai 1949, in Sachen des Rechtsanwalts Dr. Kurt Schneider, 3. 43 Ebd., Eidesstattliche Erklärung von Gustav Lindhorst, Bürovorsteher der Rechtsabteilung der AFA, 21. Mai 1946. 44 Am 29. Mai 1936 erhielt er das Ehrenkreuz für Frontkämpfer, 1941 zusätzlich das Verwundetenabzeichen für Heeresangehörige in Schwarz (für ein– und zweimalige Verwundung). 45 Oskar Nerlinger (1893–1969), auch unter dem Pseudonym Nilgreen tätig, war von 1945 bis 1951 Professor an der Hochschule für Bildende Kunst in Berlin-Charlottenburg. Mit Karl Hofer brachte er 1947 bis 1949 die Zeitschrift Bildende Kunst heraus; 1955 bis 1958 war er Professor an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee.
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reiche und damit nervlich und finanziell aufreibende Transaktionen vorbereitet und ausgeführt wurden — und was dabei alles schief gehen konnte. Sie befürchtete ständig den privaten Ruin. Zum 1. Mai 1938 beendete Kurt Schneider das Angestelltenverhältnis bei Günther Quandt, um als freiberuflicher Anwalt dessen Beratung und die der ihm nahestehenden Gesellschaften „bezüglich der Effektenbörse, Literatur und Rechtslage“ zu übernehmen. Die zwischen beiden auf vier Jahre angelegte Vereinbarung sollte sich jeweils um ein weiteres Jahr verlängern, wenn keine Seite kündigte. Daneben nahm er weiterhin die Interessen der „Aktiengesellschaft für Industriebeteiligungen bezw. Herrn Dr. Quandt nahestehenden Gesellschaften (…) durch Verbleiben bezw. durch Eintritt in den Aufsichtsrat dieser Gesellschaften und ihrer Ausschüsse wahr.“ 46
Er behielt seine Vergütungen bei der Akkumulatoren-Fabrik AG und bei allen weiteren Gesellschaften, an denen er beteiligt war, darunter die BerlinKarlsruher Industriewerke. 47 Hier war übrigens Kurt Schneiders Freund Erich Bandekow tätig. Dieser Vertrag wurde erst 1953 durch einen neuen abgelöst, der im Großen und Ganzen Punkte des Vertrages von 1938 bestätigte, indem er wieder auf die „Wahrnehmung der Interessen der der Aktiengesellschaft für Industriebeteiligungen bzw. Herrn Dr. Quandt nahestehenden Gesellschaften, soweit diese es wünschen, durch Verbleiben bzw. Eintritt in den Aufsichtsrat dieser Gesellschaften und ihrer Ausschüsse“
abhob. 48 Gemeinsam mit dem Notar Paul Zobel gründete Kurt Schneider 1938 eine eigene Sozietät. Beide Anwälte – Zobel war ebenfalls häufig für Günther Quandt tätig – waren seit etwa 1930 befreundet. Worin Zobels Tätigkeit für Quandt bestanden haben könnte, mag ein Beispiel verdeutlichen. Durch eine willkürliche Verhaftungsaktion, eine Begleiterscheinung der Machtusurpation durch die Nationalsozialisten, war am 3. Mai 1933 die Führungsspitze der AFA verhaftet worden. Unter dem Vorwand der Korruption wurde Günther Quandt ins Gefängnis Moabit überführt. Diesen Moment nutzte auch die Vorstandsebene, um ein NSDAP-Mitglied als Kommissar einzusetzen, während SA die Firmenzentrale besetzte. Nach sechs Wochen Einzelhaft wurde der Haftbefehl gegen Quandt aufgehoben — gegen Zahlung einer Kaution von 4 Millionen Reichsmark. In diese Zeit fallen „freiwillige Spenden zur Förderung der nationalen Arbeit.“ Das dazugehörige Gesetz sollte Unternehmer ermutigen, sich an der Verringerung der Arbeitslosigkeit zu beteiligen. Durch Paul Zobel ließ
46 Vereinbarung vom 31. Mai 1938. 47 Insgesamt 47 Jahre, bis 1969, nahm Kurt Schneider diese Funktion wahr. Schriftwechsel zwischen Herbert Quandt und Kurt Schneider 1969. 48 Abkommen zwischen Günther Quandt, Bad Homburg v. d. H. und Regierungsrat a. D. Dr. Kurt Schneider, Berlin, 28.10.1953.
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Quandt in mehreren Stückelungen etwa 45.000 Reichsmark als Spenden überweisen. 49 Fünf Jahre nach diesem Vorkommnis eröffneten Zobel und Schneider ihre gemeinsame Kanzlei mit Sitz in Berlin-Tiergarten, Potsdamer Straße 41. Im Jahr darauf wurde Kurt Schneider zum Notar bestellt. 50 Das Haus, in dem die Bürogemeinschaft Schneider/Zobel ihren Sitz hatte, fiel im Januar 1944 alliierten Bomben zum Opfer. Nur wenig konnte gerettet werden. Ein neu bezogenes Büro erlitt im April 1945 das gleiche Schicksal. Im Jahre 1938 hatte Kurt Schneider vorübergehend für einige Monate die Leitung der Rechtsabteilung der Akkumulatoren-Fabrik AG Berlin–Hagen übernommen. Die Entfernung zwischen seinem eigenen und dem AFA-Büro am Askanischen Platz 3 unweit des Anhalter Bahnhofs war in kurzer Zeit zu überbrücken.
Abb. 1: Kurt Schneider, 1939.
49 Siehe dazu ausführlich Scholtyseck, Der Aufstieg, 253–261, hier 259. 50 Zu seinem Arbeitsgebiet gehörte auch die Hausverwaltung. So betreute er z. B. das Haus in Berlin-Kreuzberg, Kottbusser Ufer 32 (seit 1956 Paul-Lincke-Ufer).
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Ab Juli 1940 bis zum Ende des Krieges 1945 leitete er die Rechtsabteilung der AFA schließlich vollständig. Als Justitiar umfasste sein Arbeitsgebiet die Beobachtung und Anwendung des Handels–, Wettbewerbs–, Steuer–, Vertrags– und des Finanzrechts und alle weiteren auftretenden Rechtsangelegenheiten, darunter das Erarbeiten und Überwachen von Dienst– und Arbeitsanweisungen. Für jeden Rechtsbereich gab es eine eigene Abteilung mit einem Leiter und mehreren Angestellten. Bei der AFA war wegen der ausgeprägten Forschungs– und Entwicklungstätigkeit auch der Bereich des Patentrechts stark vertreten. Der Patentabteilung stand der Direktor der AFA selbst vor. Auch wenn die Aufrüstung die Geschäfte ankurbelte, war unter anderem bei der AFA die Produktion ziviler Güter nicht eingestellt worden. Die nach dem Ersten Weltkrieg erlittenen Verluste waren eine deutliche Warnung für die Zukunft, denn sie hatten demonstriert, wohin eine nur eingleisige Produktion führen konnte. Im Falle einer Unterbrechung der militärischen Aufgaben, hieß es, könnte der Betrieb durch den Ausbau der „Friedensabteilungen“, wenn auch in beschränktem Maße, weitergeführt werden. Diese Doppelstrategie war bei der AFA stark ausgeprägt und darauf zurückzuführen, „dass Quandt weder auf einen Waffengang spekulierte noch ihn wünschte.“ Er habe die Wiederaufrüstung immer für eine Defensivmaßnahme gehalten, „um nicht wieder einem Angriff wie 1914 ausgesetzt zu sein.“ 51 Als im April 1933 die Kraftfahrzeugsteuer abgeschafft worden war, verhalf dies der AFA zu einem Produktionsanstieg bei Starterbatterien. 1934 wurde der allgemeine Aufschwung auf allen Geschäftsgebieten spürbar, nur noch nicht im Bereich des Außenhandels. Im Jahr darauf wurde eine erfreuliche Zunahme der Umsätze und des Exports verzeichnet, und 1936 sprach man von glänzenden Zahlen, denn Akkumulatoren und Batterien wurden in großer Stückzahl für Bergbau–, Bau– und Landwirtschaft und für die „Motorisierung des deutschen Verkehrs“ angefordert. Auch der internationale Preisdruck hatte nachgelassen. Die Zahl der unerledigten Aufträge der AFA erreichte im Mai 1938 eine Rekordziffer. 52 Da Batterien nur über eine gewisse und daher absehbare Lebensdauer verfügen, war mit einem Abbruch der Konjunktur nicht zu rechnen. Das Unternehmen hatte die Grenze seiner Leistungsfähigkeit erreicht, trotzdem stiegen Umsatz und Export weiter. Das Jahr 1939 war „ein Jahr voller Höchstleistungen auf allen Gebieten.“ 53 Bis zum Ende der dreißiger Jahre blieb die Produktion bei der AFA auf zivile Produkte ausgerichtet. Rund 79% entfielen auf die Posten Erstausrüstung von Fahrzeugen der Reichsbahn, Reichspost und andere Behörden mit Starterbatterien – hier hatte die AFA einen Marktanteil von 72%. Rund 7% gingen ans Heer, etwas mehr als 1% an die Marine und knapp 8% an die Luftwaffe. Nach Ausbruch des Krieges im September 1939 wurde die AFA auf Kriegsproduktion umgestellt. Zwar vergrößerte sich der Absatz, doch nicht der Erlös. Außerdem ging das Auslandsgeschäft kriegsbedingt zurück. 51 Scholtyseck, Der Aufstieg, 365. 52 Ebd., 384. 53 Ebd.
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Noch während der Friedensjahre hatte sich der AFA-Schwerpunkt von Hagen nach Berlin verlagert. Die durch die logistisch umständlichen Wege produzierten Kosten waren Gegenstand häufiger Überlegungen, die Abteilungen zusammenzulegen und zu konzentrieren. Zudem stießen die Produktionsstandorte immer wieder an ihre Kapazitätsgrenzen, die nicht ausgebaut werden konnten. Es begannen Neubauplanungen in Hannover und die Errichtung eines Werkes in Posen. Hannover nahm im Oktober 1940 die Produktion von U-Boot- und Torpedobatterien auf. 54 Vermutlich seit 1937 war die AFA mit der Batterieversorgung von ballistischen Fernraketen betraut. Die Planungen für die Serienherstellung dieser Art „Vergeltungswaffe“, die zunächst als A 4 (V 2) bezeichnet und in der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde konstruiert wurde, begannen im Winter 1942/1943. Dieses Projekt galt als „kriegswichtige“ Fertigung von besonderer Dringlichkeit. In Peenemünde kam es immer wieder zu Verzögerungen und aus dem Werk Hagen konnten erst ab Anfang 1944 größere Stückzahlen der Bordbatterien geliefert werden – unter Heranziehung gesondert angeforderte Zwangsarbeiter. 55 Nach dem „Westfeldzug“ mit der Eroberung der Niederlande, Belgiens, Luxemburgs und Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht 1940 zögerte die AFA keinen Augenblick und griff auf die belgische und französische Akkumulatorenindustrie zu. Wie andere deutsche Unternehmen wollte auch sie nicht hinter den sich nun bietenden neuen ökonomischen Möglichkeiten zurückstehen. Im Juli 1940 fuhren die ersten AFA-Experten auf Erkundungstour durch die besetzten Gebiete. Im Zusammenhang damit wurden die ersten „Verlagerungsaufträge“ vergeben, um die Werke in Deutschland zu entlasten und die ständig steigenden Wehrmachtsanforderungen zu befriedigen. Schwierigkeiten entstanden nicht nur durch das nicht vorhandene oder bald nachlassende Interesse der Firmen in den besetzten Gebieten, sondern auch durch die Politik des „Arbeitseinsatzes“ durch die Reichsbehörden. 56 Die Liste der Ambitionen lässt sich leicht verlängern: Es gab Expansionspläne der AFA für den „Warthegau“ – der Verlust der Region um Posen im Jahr 1918 war niemals verschmerzt worden – mit der versuchten Übernahme der Philipp Holtzmann AG; die AFA erhielt eine Drittelbeteiligung an der Prager Akkumulatoren-Fabrik (PAFA); das AFA-Tochterunternehmen Concordia expandierte in den „Reichsgau Sudetenland“ und ins „Protektorat Böhmen und Mähren“; in Ungarn produzierte die AFA sowieso seit Ende des 19. Jahrhunderts in einem eigenem Werk und die Tochtergesellschaft Tudor Accumlatoren-Fabrik AG beherrschte den Markt; nach der Annexion Österreichs rundete Günther Quandt sein Imperium ab, nachdem er 1940 in den Vorstand der kroatischen Munja berufen worden war. Die Munja war auf dem Balkan unter anderem Hauptvertreter für die 54 Ebd., 389. 55 Ebd., 445. Zu dieser Zeit machten die Zwangsarbeiter 40% der gesamten Werksbelegschaft von bis zu 5.800 Arbeitskräften aus. Siehe dazu: http://www1.historisches-centrum.de/ zwangsarbeit/accu.htm. 56 Scholtyseck, Der Aufstieg, 503.
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Produkte der AFA und ihrer Tochtergesellschaften. Auch im Ostseeraum und in den baltischen Staaten ging es um die Sicherung der Wehrmachtsaufträge. Alle diese Vorgänge waren durch Verträge und Finanzen abzusichern, steuerrechtlich sowie personaltechnisch zu bedenken, handelsrechtlich zu klären. Kaum vorstellbar, dass der Justitiar der AFA, Dr. Kurt Schneider, in der Zentrale des Unternehmens am Askanischen Platz 3 in Berlin hierin nicht irgendwie involviert gewesen sein soll. Als Leiter der Rechtsabteilung war er vermutlich einer der Hauptansprechpartner der Firmenleitung, mit dem das weitere Vorgehen, zumindest in einigen Bereichen, abgesprochen worden ist. Leider geben die wenigen Unterlagen auch hier über Näheres keine Auskunft. Der von Parteidienststellen betriebene Rechtsmissbrauch und die willkürliche Handhabung der Gesetzgebung hatten besonders seit dem „Röhm-Putsch“ 1934 bei Kurt Schneider dazu geführt, dass seine Auffassungen mit den Richtlinien der NSDAP und den Prinzipien des Rechtswahrerbundes, sollten sie jemals konform gegangen sein, nun ganz und gar nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen waren. Statt Rechtssicherheit gab es Machtkampf und politischen Zwang. Weder der Rechtswahrerbund noch die Richter und Anwälte setzten dem etwas entgegen. Infolge der willkürlichen Handhabung der Gesetze schwand das Vertrauen der Menschen in die Justiz. Auch Kurt Schneider hat sich im Rechtswahrerbund nicht exponiert, doch folgt man den schriftlichen Aussagen aus der Nachkriegszeit, scheint er seine Meinung bei sich bietenden Gelegenheiten nicht zurückgehalten zu haben. Mögen Eidesstattliche Erklärungen, die im Zusammenhang mit Entnazifizierungsverfahren entstanden sind, immer eine gewisse Absicht verfolgt haben, so enthalten sie doch auch einen Teil Wahrheit. Der Direktor der AFA, Dr. Werner Germershausen 57, hatte demnach „wiederholt Gelegenheit, bei dem gemeinschaftlichen Mittagstisch politische Fragen mit Herrn Dr. Schneider zu erörtern.“ Dabei habe Schneider sich derart freimütig geäußert, „dass ich mich wiederholt veranlasst sah, ihn zur Vorsicht zu mahnen, da in der Nähe unseres Mittagstisches mitunter auch uniformierte Angehörige der SS und SA Platz genommen hatten.“ 58
Inzwischen hatte Schneider auch viele jüdische Geschäftsleute, und damit Freunde und Bekannte verloren, die aufgrund der rassistischen Gesetzgebung der Nationalsozialisten aus dem Wirtschaftsleben ausgeschieden waren und Deutschland verlassen hatten. Hinzu kamen die täglichen Auseinandersetzungen mit der extrem bürokratischen Gängelei durch die Rüstungsbehörden, die seinen Alltag bestimmten. Er war nach wie vor liberal eingestellt und Individualist und ging auf seine Weise mit den Widersprüchen um. So stellte Paul Zobel 1941 in Absprache mit 57 Werner Germershausen war seit dem 14. Dezember 1915 Direktor der AFA. 1930 übernahm er die Leitung der Patentabteilung. Seine Tätigkeit hat dazu beigetragen, der AFA und ihren Tochtergesellschaften VARTA, DEAC und PERTRIX stets die führende Stellung auf ihren Gebieten zu erhalten und auszubauen. 58 LAB, C Rep. 031–01–03, Nr. 274, Dr. Werner Germershause[n], Direktor der Accumulatoren-Fabrik AG, 3. Januar 1949.
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Kurt Schneider Joachim Schwelien als Bürovorsteher ein. Dieser hatte wegen Vorbereitung zum Hochverrat bereits eine Haftstrafe verbüßt. 59 Außerdem beschäftigte Schneider 1939 eine Aushilfe, die, weil sie „Mischling 1. Grades“ war, ihre Tätigkeit als Anwaltssekretärin nicht mehr wahrnehmen konnte. Anwälten, die noch dazu Mitglied der NSDAP waren, war es untersagt, „Nichtarier“ zu beschäftigen. Beide Anwälte ignorierten dies. Margot Winiarz blieb bis Kriegsende für die Sozietät tätig und bescheinigte Kurt Schneider später, dass sie dadurch in der Lage war, sich selbst und ihre Kindermit dem Nötigsten zu versorgen. Außerdem sei die Zusammenarbeit mit ihm angenehm gewesen, „da er gegen den Nazismus eingestellt war und dies auch oft zum Ausdruck brachte.“ 60 Als weitere Büroangestellte war Elisabeth Skowronski für die Sozietät Schneider/Zobel tätig. Sie hatte zuvor für einen „Nichtarier“ polnischer Herkunft Häuser in Berlin verwaltet. Nach Ausbruch des Krieges wurde er als polnischer Jude in ein Konzentrationslager gebracht und kam hier ums Leben. Frau Skowronski erbte testamentarisch zwei Häuser. Erst nach dem Erbfall erging die Verordnung, durch die das Vermögen polnischer Staatsangehöriger beschlagnahmt werden konnte. Obwohl der Besitz von Frau Skowronski nicht darunter fiel, wurden auch ihre Häuser konfisziert und die Gestapo nötigte sie zum Verzicht mit der Behauptung, sie hätte unerlaubte Beziehungen mit einem „Nichtarier“ unterhalten. Trotz Kenntnis dieses Vorganges wurde Frau Skowronski bis Kriegsende weiter beschäftigt und sie erhielt seitens der beiden Anwälte Hilfe und Unterstützung in dem Bemühen um ihr Recht. Am 27. Mai 1943 erhielt Kurt Schneider seinen Wehrpass „Heer“, am 22. Oktober 1944, inzwischen 55 Jahre alt, wurde er als Leutnant der Reserve zum Volkssturm gemustert. Zum Einsatz kam er jedoch nicht mehr. Am 1. April 1945, als die 1. und 9. US-amerikanische Armee die Einkesselung des Ruhrgebietes beendeten und die Rote Armee schon längst die Oder überschritten hatte, erteilte Kurt Schneider seiner Frau Lydia eine Generalvollmacht, ihn in allen seinen Vermögensangelegenheiten zu vertreten. Er war in seinen Überlegungen anscheinend zu dem Schluss gekommen, dass er als Jurist, der das verbrecherische nationalsozialistische System gestützt oder wenigstens geduldet hatte, von den Befreiern, welchen auch immer, keine Rücksicht zu erwarten hatte. Als russische Soldaten Anfang Mai sein Haus in Berlin-Lichterfelde besetzten, wurde ihm allerdings fast die Zündplättchenpistole seiner Kinder zum Verhängnis, die die Soldaten beim Durchwühlen seines Schreibtisches gefunden hatten. Sie hielten sie für eine richtige Pistole und wegen der Sprachschwierigkeiten dauerte es lange, bis der von Maschinengewehren Bedrohte ihnen verständlich machen konnte, worum es sich hierbei tatsächlich handelte. Nach den russischen kamen die amerikanischen Soldaten, die die Familie zum Auszug zwangen und das Haus den Mennoniten, die sich im Gefolge der US59 Ebd., Abschrift einer Erklärung von Joachim Schwelien, 8. August 1945. Schwelien war später Abteilungsleiter im Bezirksamt Berlin-Zehlendorf. 60 Ebd., Eidesstattliche Erklärung von Margot Winiarz, undatiert. Sie arbeitete später in der Passabteilung des Alliierten Kontrollrats.
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Armee befanden, überließen. Schneiders kamen bei der Witwe Zobel unter. Paul Zobel war noch vor Kriegsende in Berlin verstorben. Von Juli 1945 bis Ende 1948 musste Kurt Schneider an der 14. Volksschule im Tietzenweg in Berlin-Lichterfelde „Arbeitseinsatz“ als einfacher Arbeiter leisten. Er war verpflichtet, durch Erd–, Holz– und Transportarbeiten den Aufbau der Schule zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass die Unterhaltung derselben gesichert wurde. Diese Arbeit mag ihm, dem körperliche Arbeit fern lag, bestimmt nicht leicht gefallen sein, aber er hat sie nach besten Kräften ausgeführt, „obwohl teilweise auch erhebliche Anforderungen an ihn gestellt werden mussten.“ 61 Mag sein, dass seine Frau Lydia wusste, was er täglich zu leisten hatte, seine drei Kinder jedenfalls, jetzt zwischen 14 und 18 Jahre alt, wussten es nicht. Es wurde nicht darüber gesprochen. Am 7. Januar 1949 beantragte er seine Entnazifizierung; seine Rehabilitierung erfolgte am 26. August 1949. Ende März 1950 wurde er wieder zum Notar bestellt. Günther Quandt dagegen verbrachte eineinhalb Jahre in amerikanischer Lagerhaft, kam aber glimpflich davon. In seinem Entnazifizierungsverfahren wurde er mangels Unterlagen als Mitläufer eingestuft. 62 Das Ende des Zweiten Weltkrieges brachte für die Quandt-Gruppe große Umbrüche, die wesentlich auf die Teilung Deutschlands zurückzuführen waren. Allerdings waren in den westlichen Besatzungszonen zahlreiche Werke erhalten geblieben. Auch die persönlichen Beziehungen stellten sich schnell wieder ein. Sowohl die Führungsebenen im Quandt-Unternehmen als auch die Kontrollebenen unterschieden sich personell kaum von denen der zwanziger und dreißiger Jahre. Wie vor 1945 befanden sich viele der bekannten Männer wieder im Aufsichtsrat der Akkumulatoren-Fabrik AG zusammen. Die in der sowjetischen Besatzungszone enteigneten Familienmitglieder blieben weiterhin durch Aufsichtsratsmandate versorgt. 63 Kurt Schneider war einer von ihnen. Rückwirkend zum 1. Juli 1948 erhielt er 1953 wieder Zahlungen sowohl von der Aktiengesellschaft für Industriebeteiligungen und von den Industriewerken Karlsruhe als auch von der AFA. Daneben ging er seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt und Notar nach, diesmal im häuslichen Büro. In der ersten Zeit nach der Entnazifizierung versuchte er, sich auf dem Gebiet der Entschädigungen zu etablieren. Er nahm Aufträge von Rückwanderern aus den ehemals deutsch besetzten Ostgebieten an, die ihre bei der „Rückführung ins Reich“ erlittenen Verluste einforderten. Doch bald bemerkte der inzwischen über Sechzigjährige, dass der dafür notwendige Aufwand nicht durch eine Person allein bewältigt werden konnte. Daher wandte er sich dem Notariat zu und konzentrierte sich auf Grundstücksgeschäfte. Nach und nach ließ er seine notariellen Aufgaben auslaufen. Ende 1970, da war er bereits über achtzig Jahre alt, legte er auch diese Tätigkeit nieder und übergab noch laufende Fälle jüngeren, befreundeten Kollegen. 61 Ebd., Der Direktor der 14. Volksschule, 24. Januar 1949. 62 Scholtyseck, Der Aufstieg, 843. 63 Ebd., 827.
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In den Nachkriegsjahren waren die familiären Bindungen eng wie eh und je. Günther Quandt, sonst ohne weibliche Begleitung, flog zum Jahreswechsel 1954/55 mit Kurt Schneiders dreiundzwanzigjähriger Tochter Ursula zur Erholung nach Ägypten. Am 30. Dezember 1954, wenige Tage nach der Ankunft, starb er in Kairo. Die Verbindung zu Harald Quandt, dem Sohn aus der Ehe Günther Quandts mit Magda Ritschel, blieb weiterhin eng und herzlich, schon deswegen, weil Harald 1950 die bei Günther Quandt als Sekretärin arbeitende Inge Bandekow, Tochter des Freundes Erich Bandekow, geheiratet hatte. Nach dem Tod Harald Quandts, der am 22. September 1967 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, lockerten sich die Beziehungen zur Quandt-Familie. Noch 1972, da ist er bereits selbst 62 Jahre alt, schickte Herbert Quandt Geburtstagsgrüße an den „lieben Onkel Kurt.“ Kurt Schneider starb am 25. Dezember 1973. Kurt Schneider gehörte nicht zu denjenigen, die selbstreflektierend ihre innersten Gedanken niederschrieben, sie jemandem anvertrauten oder gar der Familie erzählten. Darin ähnelt er seinem Vetter Günther ebenso wie den heutigen Mitgliedern der Familie Quandt. Kurt Schneiders Beitrag am Beginn des Weges des Quandtschen Aufstiegs, der in unserer Zeit in der mächtigsten Unternehmerdynastie Deutschlands gipfelt, ist nicht gering zu schätzen. Sicher, Günther Quandt hatte später andere Berater mit wesentlich mehr Einfluss und Finesse, doch die hochspekulativen Käufe der zwanziger Jahre beispielsweise wurden juristisch zunächst vom Vetter Kurt vorbereitet und begleitet. Gleichzeitig nahm er in verschiedenen Unternehmen die Interessen Günther Quandt nahestehender Gesellschaften durch Verbleiben bzw. durch Eintritt in den Aufsichtsrat dieser Gesellschaften und ihrer Ausschüsse wahr. Die Vettern konnten sich bedingungslos aufeinander verlassen. So hängt Kurt Schneiders berufliches Leben in prägender Weise mit unserer Gegenwart zusammen, denn er leistete einen Beitrag für den Aufstieg des „Familienunternehmens Quandt“, dessen Einflüsse aus der Vergangenheit bis weit in die Gegenwart reichen, deren Produktpalette heute umfangreicher ist als damals und deren Erzeugnisse andere Namen als den des Gründers tragen.
GROSSBRITANNIEN UND POLEN IN DER ZEIT DER ENTSCHEIDUNGEN DER FRIEDENSKONFERENZ, 1919–1923 Lutz Oberdörfer, Greifswald Wie die anderen Siegermächte des Ersten Weltkrieges begrüßte Großbritannien uneingeschränkt die Wiederherstellung polnischer Staatlichkeit, jedenfalls seit dem Erfolg der Bolschewisten und dem Ausscheiden Russlands aus dem Krieg. Bis dahin hatten die Westmächte mit Rücksicht auf das verbündete Zarenreich polnische Fragen und Angelegenheiten als dessen Domäne betrachtet. Gleichzeitig zeigten sie nur ein relativ geringes Interesse an jener bislang von den europäischen Kaiserreichen dominierten Region. 1 Die enormen Schwierigkeiten der ihnen völkerrechtlich obliegenden Neuordnung dieses Raumes unterschätzten sie zunächst. Noch bevor Wilson, Lloyd George, Clemenceau und Orlando sich an der Seine trafen, sahen sie sich besonders im östlichen Europa 2 mit einem Fait accompli konfrontiert: „Selbstbestimmung“ war dort bereits „zur Realität geworden.“ 3 Dieser Umstand an sich stellte noch keine unüberwindliche Hürde für die grundsätzlich von allen Siegermächten angestrebte stabile Ordnung in diesem Teil Europas dar. Das bald als ungemein vertrackt bewertete Problem lag in dem Umstand begründet, dass es keine klaren Siedlungsgrenzen gab, von allen anerkannte Statistiken fehlten, die Zugehörigkeit verschiedener Bevölkerungen von interessierter Seite – durchaus kreativ, liest man die vielen Positionspapiere, mit denen die Friedensmacher bombardiert wurden – unterschiedlich bestimmt wurde. Hinzu traten lange verdeckte, aber schnell wieder aufbrechende, oft weit in die Geschichte reichende Gegensätze und Animositäten; all das verbunden mit einer Rigorosität in den Forderungen, die jede Kompromisslösung erschweren musste und die die Schaffung gedeihlicher Beziehungen zwischen den Staaten der Region ernsthaft in Frage stellte. Gerechtigkeit für den einen konnte schnell als schwere Ungerechtigkeit gegen den anderen bewertet werden. 4 Rasch wurde offensichtlich, dass Präsident Wilsons hehre Absicht, einen für alle Völker und Nationalitäten auf dem Selbstbestimmungsrecht basierenden gerechten Frieden zu schaffen, den Praxistest günstigstenfalls eingeschränkt bestehen könne. Die besonders von London so gefürchtete Balkanisierung Mittelosteuropas wurde ebenso zur realen 1 2 3 4
Dieser Befund gilt auch für die Behandlung mittelosteuropäischer Fragen in den Medien. Genaue räumliche Definitionen gab es nicht. Der gern verwandte Begriff „Eastern Europe“ konnte enger und weiter gefasst sein. Anthony Adamthwaite, The Lost Peace, London 1980, 2. Philip Longworth, The Making of Eastern Europe, London 1992, 68.
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Möglichkeit wie die Entstehung potenziell konfliktträchtiger Krisenherde des „Elsass-Lothringen-Typs“. Letztere gar nicht erst entstehen zu lassen bzw. hinreichend zu entschärfen oder wenigstens einzudämmen, sah die britische Diplomatie als vorrangige Aufgabe. Mochten die Lande zwischen Ostsee und Schwarzem Meer als solche im Kanon direkter britischer Interessen auch nicht sonderlich wichtig sein, ein neues Sarajewo bzw. hochexplosive Krisenherde, aus denen der Funke für einen Regionalkrieg unter Einbeziehung Deutschlands und/oder Russlands (Sowjetunion) schlagen konnte, sollte es nicht geben. Denn dieser könnte allzu leicht in einen zweiten Großen Krieg eskalieren. Grundsätzlich bestand im alliierten Lager Konsens in der Wünschbarkeit und Notwendigkeit eines starken Polens als unverzichtbarer Hauptpfeiler 5 der aus den Nachfolgestaaten zu schaffenden dritten Kraft im östlichen Europa neben Deutschland und (Sowjet-) Russland, wobei die westlichen Mächte ihre Strategie vorrangig aus der Perspektive ihrer jeweiligen Deutschland– und Russlandpolitik formulierten und umzusetzen suchten. Dabei traten früh zum Teil sehr erhebliche Meinungsunterschiede auf, welche hier aus Raumgründen nicht weiter erläutert werden können, auch wenn diese ihre Beziehungen untereinander, ganz besonders aber zu Polen und dessen Entwicklung stark beeinflussten. Schnell tat sich auch ein Dilemma auf, das gerade das Verhältnis zwischen Großbritannien und Polen nachhaltig prägen sollte. Im Kern ergab sich dieses aus der sehr unterschiedlichen Bewertung über Polens Rolle, dessen territoriale Ausdehnung und reale Möglichkeiten unter den gegebenen und für die Zukunft erwarteten Mächtegegebenheiten im östlichen Europa. Letztere überschätzten nach britischer (und amerikanischer) Überzeugung die Polen bei weitem. 6 Für London gab es keine ernsthaften Zweifel, dass Deutschland und Russland ihre zeitweise Schwächung überwinden und früher oder später wieder die dominierenden Mächte im östlichen Europa sein würden. Polen, weitgehend auf sich allein gestellt und vielleicht noch mit verschiedenen Nachbarn verfeindet, war schon vom Potenzial her beiden nicht gewachsen. Anders gesagt, die von Warschau offensichtlich angestrebte Großmachtrolle hielten die Fachleute im Foreign Office für eine gefährliche Illusion. Zwar sahen auch französische Politiker die damit verbundenen Risiken. Da der angestrebte „Cordon Sanitaire“ aber ohne ein starkes Polen nicht funktionieren und en passant die angestrebte französische Machtstellung nicht gesichert werden konn-
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In einem britischen Strategiepapier hieß es beispielsweise: „In any policy in Eastern Europe Poland is the main foundation on which we must build.“ – The National Archives London (TNA), Foreign Office (FO) 371/10977, N 675. Der in osteuropäischen Fragen einflussreiche Rex Leeper bezeichnete Polen (territorial auf das eindeutig ethnografische Polen begrenzt) als den unverzichtbaren Dreh– und Angelpunkt des osteuropäischen Bogens des Versailler Vertragswerkes. – TNA, FO 371/3261, No. 212095. Die französische Idee eines Bündnissystems zur Abwehr deutscher und/oder sowjetrussischer Revisionspolitik, als Gegengewicht zu Deutschland und Sowjetrussland sowie zur Sicherung französischer Dominanz, eines „Cordon Sanitaire“, maß neben Polen der Tschechoslowakei die Schlüsselrolle zu. Dazu z. B. zwei direkt engagierte Politiker – John Gregory, On the Edge of Diplomacy, London 1929, 169–79, Frederick Palmer Bliss, Peacemaker, New York 1934, 361–62, 389–90.
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te 7, unterstützte Paris nachdrücklich die weit reichenden Territorialvorstellungen der polnischen Führung 8 und sah die Gestaltung der Verhältnisse im südlichen Ostseeraum zumeist durch die polnische Brille. 9 Um nur ein, allerdings sehr wichtiges Beispiel anzuführen: Heftige Auseinandersetzungen zwischen den Siegermächten entspannen sich um das Wie des Polen von allen zugesagten ungehinderten Zugangs zur Ostsee. 10 Die Vertreter Polens verlangten, auch um die Schaffung eines als sehr gefährlich eingestuften und im Konfliktfall kaum zu verteidigenden Korridors durch deutsches Gebiet zu verhindern, einen weiten Seezugang, am besten zwischen den Flüssen Stolpe und Düna. Großbritannien befürwortete hingegen mit amerikanischer Unterstützung ohne vorherige Gebietsabtretungen lediglich einen freien Zugang über die Weichsel und Danzig unter der Garantie des Völkerbundes. Nur so konnte das Aufreißen einer „unheilbaren“ Wunde zwischen Deutschen und Polen verhindert werden. 11 In einer Reihe weiterer umstrittener Problemfelder, u. a. Besetzung Posens schon vor der Pariser Konferenz, Ukraine, Weißrussland, Teschen, Wilna, Oberschlesien bis zur von Warschau intensiv angestrebten gemeinsamen Grenze mit Ungarn erlebte Polen speziell die Briten als Bremser bei der Durchsetzung von als völlig legitim und zumeist als Wiedergutmachung erlittenen Unrechts erachteter Forderungen. Kurzum, Großbritannien und die USA 12 wirkten gegen die Umsetzung der an die polnische Großmachtzeit vor den Teilungen angelehnten Greater Poland Konzeption. Nun, die englische Weltmacht ließ sich in ihrer Ostmitteleuropapolitik nicht von Sympathien für diese oder jene nationale Vorstellung leiten, sondern von einem breiten Spektrum von Interessen einschließlich einer Güterabwägung global und kontinental zu setzender Prioritäten, in deren Mittelpunkt die Erreichung eines Höchstmaßes an Stabilität und Berechenbarkeit stand. Deshalb sollte sich Polen im internationalen wie im wohlverstandenen eigenen Sicherheits– und Entwicklungsinteresse im Wesentlichen auf jene Territorien be-
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David Stevenson, French War Aims against Germany 1914–1919, Oxford 1982, 112. Die von Paris „kategorisch“ unterstützten Forderungen nahmen als Verhandlungsbasis den Territorialbestand der polnisch-litauischen Union von 1772 und gingen im Westen noch darüber hinaus. Schon im Herbst 1918 hatte der Chef des Polnischen Nationalkomitees Roman Dmowski den Westmächten bedeutet, dass die polnische Frage „vor allem ein Problem des Staatsterritoriums sei.“ – Kay Lundgren-Nielsen, The Polish Problem at the Paris Peace Conference of 1919, Odense 1979, 38. 9 Suzanne Champonnois, The Baltic States as an Aspect of Franco-Soviet Relations 1919– 1934, in: John Hiden / Aleksander Loit (Hgg.), Contact or Isolation? Soviet-Western Relations in the Interwar Period, Stockholm 1991, 405–414. 10 Lutz Oberdörfer, The Danzig Question in British Foreign Policy, 1918–1920, in: Diplomacy and Statecraft 15/2004, 573–92 sowie Ders, Die Entstehung der Freien Stadt Danzig im internationalen Kontext, in: Acta Cassubiana XI/2009, 178–233. 11 Z. B. TNA, FO 608/141. 12 Teile der republikanischen Partei um Cabot Lodge sprachen wegen der Position Wilsons in der Danzig-Korridorfrage vom Verrat an Polen. Gleichzeitig wandten sie sich scharf gegen die Übernahme irgendwelcher Verpflichtungen und bewerteten die Völkerbundsidee als eine von Traumtänzern. – Dazu z. B. der Boston Daily Globe vom 27. und 29.4.1919.
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grenzen, deren klare Bevölkerungsmehrheit das wünschte. 13 Vor allem aber fürchtete London, dass große polnische Gebietsgewinne über das ethnografische Polen hinaus das Land regional isolieren sowie die unvermeidlich irgendwann wieder erstarkten Deutschland und Russland im Wunsch nach Revision einigen würden und dies im gemeinsamen Bestreben enden könne, die gesamte Versailler Ordnung aus den Angeln zu heben. Um aus einer Fülle von Papieren und Äußerungen nur zwei Beispiele zu nennen. Für den Wilson-Intimus Walter Lippmann war das ganze Cordon-Sanitaire Projekt bei Einbindung eines seine ethnografischen Grenzen deutlich überschreitenden polnischen Staates „a dangerous bit of foolery“ 14, ein polnischer Vielvölkerstaat eine Quelle dauernder Instabilität. Schon am 9. Dezember 1918 argumentierte das Foreign Office in einem Memorandum zur Vorbereitung der Friedenskonferenz: „If, at the Peace Conference, any large stretches of genuinely Russian or German land, or any territory whose inhabitants desire union with Russia or Germany, were conceded to Poland, we should run the risk of recreating conditions, which in the 18th century led to the partition of Poland.“ 15
Während heftiger Kontroversen im Obersten Rat über die Frage einer polnischen Ostseeküste mit Danzig verwies der britische Premierminister auf ein wichtiges Problem jeder Friedensordnung, nämlich die nötige Bereitschaft der Signatarmächte, diese gegebenenfalls auch später mit militärischer Macht zu sichern. Auf seine in den Raum gestellte Frage, ob jemand bereit wäre auch später noch wegen des Status einer deutschen Stadt wie Danzig Krieg zu führen, schwiegen die Anwesenden. Als er an Clemenceau gewandt fragte, ob er es wünschen könne, dass die Deutschen so wie es die Franzosen nach 1871 mit Straßburg getan hatten, überall im Lande Statuen mit Danzig in Trauer aufstellten, antwortete dieser: „Nor do I want that.“ 16 Wilson verwies am 19. März im Rat der Vier auf die Wahrscheinlichkeit, dass bei den Deutschen später der Wunsch groß sein könnte, Ihre Landsleute wieder von polnischer Herrschaft zu befreien und fügte hinzu, „that this desire would be hard to resist.“ 17
13 Londoner Diplomaten betonten die Notwendigkeit, dass alle Gebietsveränderungen auch noch in der Normalität des Friedens allgemein als gerecht angesehen würden. Der in die Grenzfrage stark involvierte Headlam-Morley riet dringend dazu, die notwendigerweise großen Gebietsforderungen an Deutschland nicht über ein Maß hinausgehen zu lassen „at which a strong justification can be put forward which will appeal to the German liberal and socialist opinion.“ – Agnes Headlam-Morley (Hg.), Sir James Headlam-Morley. A Memoir of the Peace Conference 1919, London 1982, 12. 14 Mieczyslaw B. Biskupski, The „Free City of Danzig“ and the League of Nations in American Strategic Conception, 1917–1918, in: Marek Andrzejewski (Hg.), Gdansk-Gdynia-Europa, Gdansk 2000, 260. 15 TNA, Cabinet Papers (CAB) 29/2, No 71, Polen schlug alle Warnungen vor einseitigem Vorgehen in den Wind. – TNA, FO 608/82; 608/68; 608/153. 18 Arthur Link (Hg.), Paul Mantoux, The Deliberations of the Council of Four, Vol. 1, Princeton 1992, 109, Ders, The Papers of Woodrow Wilson (WWP), Vol. 56, Princeton 1987, 332. 17 WWP, 56, 94.
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Bei ihren Bemühungen um Einflussnahme auf Polen wurden britische Diplomaten nicht müde ihren polnischen Gesprächspartnern nahe zu bringen, dass es im ureigenen Interesse Polens sei „to incorporate as few people as possible of other nationalities (…) Alsace Lorraine and Ireland were sufficient evidence of the inevitable danger to Poland of large blocks of irredentist Germans, Russians etc.“ 18
Wiederholt warnten Großbritannien und die USA die polnische Führung, auch unter Androhung von „worst possible“ Konsequenzen, vor der Schaffung vollendeter Tatsachen vor Ort. Nachdrücklich forderten sie Warschau auf, umgehend die Kampfhandlungen einzustellen „which are now taking place between the Poles and the neighboring peoples.“ 19 Allerdings fehlten den Alliierten die nötigen Machtmittel zur Durchsetzung ihrer Forderungen und sie scheuten eine zu scharfe Konfrontation mit Polen, das sie als wichtigsten Schutzwall gegen ein Vordringen des Bolschewismus ansahen. 20 In Ersterem wird ein Dilemma der Siegermächte bei der Durchsetzung ihrer Vorstellungen im östlichen Mitteleuropa deutlich, nämlich die fehlende bzw. unzureichende Bereitschaft, ihren Forderungen nötigenfalls auch militärischen Nachdruck zu verleihen; und sei es nur, um durch die Entsendung hinreichend starker Truppen mit robustem Mandat die Kämpfenden durch die Schaffung einer Pufferzone auseinander zu halten und an den Verhandlungstisch zu zwingen. Dabei war klar, solche Aktionen bargen erhebliche Risiken, waren innenpolitisch kaum oder eher überhaupt nicht zu vermitteln, in der Praxis schwer umsetzbar und sie würden enorme Kapazitäten auf unbestimmte Zeit binden. Wenig hilfreich im oben genannten Sinn war die unmissverständlich erklärte Entschlossenheit Londons und der USA, im östlichen Europa (anders als Frankreich 21) keinerlei bindende Verpflichtungen über den Rahmen des Völkerbundes hinaus eingehen zu wollen. Die Militärs ließen keinen Zweifel an Ihrer Auffassung, dass Großbritannien im Kontext seiner globalen Interessen die Mittel für eine Polizistenrolle im östlichen Mitteleuropa fehlten. 22 Das Schatzamt sah sich außerstande, die zeitweilig in den südlichen Ostseeraum zur Eindämmung des Bolschewismus fließenden Mittel weiter aufzubringen. Die angespannte Finanzlage bestimmte auch die 1919 in Whitehall getroffene Grundsatzentscheidung, nach der das Vereinigte Königreich kein Geld für die Reorganisation Polens
18 TNA, FO 608/59. 19 WWP, 54, 334, TNA, FO 608/153. 20 Papers Relating to the Foreign Relations of the United States 1919 (FRUS), The Paris Peace Conference, Vol. III, Washington 1943, 672–73. 21 Die von London diagnostizierten französischen Hegemonialbestrebungen (in Kooperation mit dem polnischen Juniorpartner) führten dazu, dass die britische Führung zeitweise nicht das ohnehin vorerst matt gesetzte Deutschland oder Sowjetrussland, sondern den Weltkriegsverbündeten Frankreich als unmittelbare Hauptbedrohung für die Stabilität im baltischen Raum ansah. – Patrick Salmon, Scandinavia and the Great Powers 1890–1940, Cambridge 1997, 223. 22 Jeremy Bennett, British Foreign Policy during the Curzon Period, 1919–23, New York 1995, 44 u. 206.
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oder anderer Länder der Region erübrigen könne. 23 Es blieb der Verweis auf private Geldgeber, „die Märkte“ zur Befriedigung des immensen Kreditbedarfs Polens für den Wiederaufbau und eine moderne Entwicklung des durch den Krieg gezeichneten Landes. Aber auch in den Kreisen potenzieller Investoren teilten viele die Auffassung, dass ein polnischer Nationalstaat unter Einbeziehung vieler Deutscher, Ukrainer und anderer Nationalitäten gegen deren Willen unter den gegebenen Mächterelationen eine „Geisel des Glücks“ werden müsste. Vor diesem Hintergrund musste die Investitionsneigung privater Anleger gering bleiben. 24 In Versailles gelang es nach teilweise schwierigen wie kontrovers geführten Verhandlungen zwischen den Siegermächten im Rahmen einer Paketlösung, wenigstens die Westgrenzen des polnischen Staates einschließlich der Regelungen des polnischen Seezugangs vertraglich festzulegen. Der in der Danzig/Korridorfrage nach hartem Ringen mit Frankreich erreichte Kompromiss wurde in London aber lediglich als das geringere von zwei Übeln 25 angesehen. 26 Abzuwarten blieben die Ergebnisse der vor allem auf britischen Druck hin beschlossenen Volksabstimmungen in Oberschlesien und Teilen von Ost– und Westpreußen. Die Regelung über die polnischen Ostgrenzen, um die weiter gekämpft wurde, musste hingegen vertagt werden. Völkerrechtlich unterlag ihre Ziehung fortan der Pariser Botschafterkonferenz. 27 Trotz beiderseitiger Absichtserklärungen für gedeihliche polnisch-britische Beziehungen blieb das Verhältnis zwischen beiden Staaten so vertrackt wie schwierig. Im Foreign Office dominierte die Auffassung, dass die „adventures in which the Poles were indulging“ das größte Hindernis für den noch immer nicht erreichten allgemeinen Frieden darstellten. 28 Beispielsweise kritisierte die London Times am 14. Mai 1921 (erneut) scharf das polnische Vorgehen in Mittelost– und Osteuropa. Das Blatt beklagte eigenmächtiges Handeln, bewertete das Vorgehen unter Korfanty in Oberschlesien wie den Handstreich Zeligowskis gegen Wilna als aggressiven Akt, den Frankreich auch noch begünstigt habe. Nur vier Tage zuvor hatte The Times Warschau vorgehalten, durch seine Politik der starken Hand ohne Rücksicht auf die Regelungen des Friedensvertrages dessen „gesamte Basis“ zu unterminieren. Am 22.September 1921 druckte die Zeitung die Forderung des britischen Delegationsleiters beim Völkerbund Lord Balfour, dass Polen im eigenen wie im europäischen Interesse sein Verhalten ändern und sich endlich den Regeln der in Paris bestimmten neuen Ordnung unterwerfen müsse. 23 British Documents on Foreign Affairs (BDFA), Part II, Series I, Vol. 9, University Publications of America 1991, 46, 65–66 und 148–50. 24 Laird Kleine-Ahlbrand, The Burden of Victory, New York 1995, 45. 25 Offenes Zerwürfnis mit Frankreich oder Anerkennung der auf ein Minimum reduzierten Forderungen des Weltkriegsverbündeten, obgleich Großbritannien die Danzig-Korridorlösung als Quelle ständiger Instabilität und wohl kaum als dauerhaft bewertete. 26 TNA, FO 371/23018, C 918. 27 Dazu und einschließlich der Frage der polnischen Ostgrenzen Jürgen Heideking, Areopag der Diplomaten, Husum 1979. 28 TNA, FO 371/6803, N 9175.
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In Polen hingegen wurde Großbritannien als indifferent und zunehmend als vitalen und berechtigten polnischen Forderungen gegenüber feindlich gesonnen angesehen. Diese Stimmung erreichte einen mit Erwartung auf Veränderungen verknüpften Höhepunkt im Oktober 1922, als Lloyd George, dem vielfach eine prodeutsche Politik, ein Handeln im Interesse der „big international and influential financiers, Masonic and Jewish“ vorgeworfen wurde, sein Amt aufgeben musste. 29 An den Grundsätzen britischer Osteuropapolitik hielten, im Grunde erwartungsgemäß, auch die Nachfolgeregierungen fest. Auf die komplizierte wie mehrschichtige Problematik der fortdauernden Auseinandersetzungen um die polnischen Ostgrenzen kann hier aus Platzgründen nicht umfassend bzw. in Gänze eingegangen werden. Etwas näher beleuchtet werden soll aber ein Problemkreis, 30 dessen nicht entschärftes Spannungspotenzial ihn nach der Danzig/Korridorfrage zum akut wie potenziell gefährlichsten Brandherd der Nachweltkriegszeit machen sollte: Das mit Dynamit geladene litauischpolnische Problem und damit eng verzahnt die Fragen der Kontrolle über Wilna und Memel. 31 Zunächst erschien den zuständigen britischen Politikern wie ihren amerikanischen und französischen Kollegen eine Lösung auf der Basis einer Wiederbelebung der polnisch-litauischen Union nicht nur relativ leicht zu erreichen, sondern auch „the only practicable scheme that holds the field.“ 32 Nur so ließ sich ein Sperrgürtel zwischen Deutschland und Russland33 legen und die Basis für die von Warschau angestrebte Föderation oder Allianz von Finnland bis an das Schwarze Meer schaffen. 34 Ein unabhängiges Litauen wurde von Warschau abgelehnt, weil es einen offenen Korridor zwischen Polens „greatest enemies“ Deutschland und Russland bilden würde. 35 Nach vorherrschender Auffassung der Siegermächte konnte ein auf sich allein gestellter litauischer Staat auf Dauer nicht bestehen. Entweder würde er wie höchst wahrscheinlich Estland und Lettland sowieso in ein 29 TNA, FO 688/12/14. 30 Auf die ursprünglich beabsichtigte Behandlung der erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Polen und der Tschechoslowakei um das Teschener Schlesien, Arwa und Gebiete der Zips sowie deren Folgewirkungen muss aus Platzgründen verzichtet werden. Hier soll nur Vansittart zitiert werden, der 1936 notierte: „The true unsatisfactory aspects of Polish foreign relations are Danzig, Lithuania and Czechoslovakia.“ – TNA, FO 800/394. 31 Anders als die Danzigfrage war die polnisch-litauische als primär französischer Interessensbereich bestimmt worden. – Adrian Carton de Wiart, Happy Odyssey, London 1950, 93. 32 TNA, FO 371/6799, N 5371. 33 Moskau und Berlin lehnten die Union entschieden ab und bemühten sich, deren Zustandekommen durch Einflussnahme auf die litauische Führung möglichst zu verhindern. Im Auswärtigen Amt genoss dieses Ziel höhere Priorität als die Behauptung des Memellandes. Befürchtet wurde, dass das im Osten als Hauptfeind bewertete Polen zur stärksten Macht „im Nahen Osten“ aufsteigen würde, dessen Sogwirkung sich dann auch andere Nachbarstaaten nicht entziehen könnten. – TNA, German Foreign Ministry (GFM) 33/2072, E 214568–72. 34 Lutz Oberdörfer, Die Großmächte und die Zukunft des Memellandes 1919–1924/25, in: Bernhart Jähnig (Hg.), Memel als Brücke zu den baltischen Ländern, Osnabrück 2011, 187. 35 Documents on British Foreign Policy (DBFP), 1. series, Vol. XI, London 1961, 200–201 u. 216, TNA, FO 371/5374, N 794.
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wieder erstarktes Russland eingegliedert werden, oder er entschiede sich mit guter Aussicht auf Erhaltung eines zumindest hohen Maßes an Eigenständigkeit für eine föderative Anbindung an Polen. Die Klärung der Modalitäten, der Grenzziehungen zwischen Polen und Litauen und die Entscheidung über die Zukunft Memels sollten im Gesamtpaket behandelt werden. 36 Schnell zeigte sich, dass die Verbündeten den Widerstand der gerade von zaristischer Herrschaft befreiten Litauer gegen ihre Pläne weit unterschätzt hatten. Tief saß das Misstrauen gegen das weit stärkere Polen und litauische Repräsentanten zeigten sich überzeugt, dass eine Föderation nur Polonisierung und Vasallentum bedeuten würde. Während eine irgendwie geartete Verbindung mit Polen abgelehnt wurde, präsentierten litauische Abgesandte der Pariser Friedenskonferenz eigene Territorialforderungen, die weit über das bestehende ethnische Litauen hinausreichten. 37 Sie schlossen nicht nur das Wilna-Gebiet (Vilnius bzw. polnisch Wilno) ein, sondern auch das noch zu Deutschland gehörende Memelland, das nach alliierter Vorabsprache aber nur für den Fall einer Föderation mit Polen an Litauen fallen sollte. Im Klartext, Polen und Litauen stritten nicht nur um das für beide extrem symbolträchtige Wilna und ostpreußische Territorien, sondern auch um umfängliche weißrussische Gebiete und Teile von Kurland mit dem bedeutenden Hafen von Libau. 38 Beiden Kontrahenten mangelte es aus britischer Perspektive aber am nötigen Kompromisswillen, um die für die europäische Stabilität vorteilhafte Unionslösung zustande zu bringen. Vergeblich drängten Briten und Amerikaner, anders als das klar pro-polnische Frankreich, um eine Balance annähernd gleichen Abstandes zwischen beiden Seiten bemüht, Polen und Litauer zum Entgegenkommen und verwiesen darauf, dass ihr zunehmend heftiger ausgetragener Konflikt ihrem jeweiligen Grundinteresse zuwider liefe und allein deutscher und russischer Revisionspolitik in die Hände spiele. 39 Obwohl beide politische Hauptlager (Nationaldemokraten mit Dmowski und Paderewski sowie Sozialisten mit Pilsudski) nichts mehr als enge deutsch-russische Beziehungen fürchteten und britische Diplomaten darauf aufbauend auf die immensen Gefahren eines aus gemeinsamer Feindschaft zu Polen resultierenden Abgleitens Litauens in den deutsch-russischen Orbit warnten, selbst damit gelang es nicht, Warschau zu einigem Entgegenkommen zu bewegen. 40 Geradezu zum Symbol der erbittert ausgetragenen Auseinandersetzung wurde die Frage des Besitzes der Stadt Wilna. 41 36 TNA, FO 371/8063, N 7245. In der Hafenfrage machten polnische Diplomaten deutlich, dass Polen über Danzig und Memel hinaus auch die „unimpeded use“ von Libau benötige. – BDFA, II, A, 1, 346. 37 TNA, FO 608/198; FO 371/3939, N 3939, 3937, N 9266. 38 FRUS, 1919, 4, 452, New York Times vom 11.5.1919, TNA, FO 371/2939, N 9266, FO 608/198. 39 TNA, FO 371/5406, N 1478, 3261, No 213 40 Dazu u. a. der Jahresbericht für 1919 der britischen Botschaft in Warschau, in: BDFA, II, I, 9, 80–126. 41 Allseits akzeptierte Zahlen über Präferenzen der national gemischten Bevölkerung des WilnaGebietes gab es nicht. In Wilna-Stadt dominierten nach dem Ersten Weltkrieg klar Polen und Juden.
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Kompromisslos reklamierten die Litauer Vilnius als ihre historische Hauptstadt und einen ganz entscheidenden Teil ihrer nationalen Identität. Genauso entschieden bestanden die Polen auf Wilno, neben Warschau, Posen, Krakau und Lemberg eines ihrer fünf kulturellen und historischen Zentren, über die Wechselfälle einer langen Geschichte stets Marksteine der eigenen Tradition. 42 Auch die Zurückhaltung der de jure-Anerkennung des litauischen Staates und die Entscheidung der Friedenskonferenz, Memel und das umgebende Gebiet bis zu einer Einigung in der Unionsfrage unter französische Verwaltung zu stellen, brachte keine greifbaren Ergebnisse, während sich der Konflikt zwischen Litauen und Polen zu einer Mischung zwischen kaltem und heißem Krieg hochschaukelte und Wilna einige Male den Besitzer wechseln ließ. Um eine komplizierte und vielschichtige Problematik abzukürzen. Im Gefolge des Vormarsches der Roten Armee während des polnisch-sowjetischen Krieges von 1920 übergab Sowjetrussland Wilna an Litauen, akzeptierte Premier Grabski am 10. Juli unter erheblichem Druck in Spa ausdrücklich das alleinige Recht der Alliierten, die Zugehörigkeit Wilnas zu bestimmen und anerkannte Polen am 7. Oktober 1920 die Wilna-Klausel des litauischsowjetrussischen Friedensvertrages in der vom Völkerbund vermittelten Konvention von Suwalki. 43 Eindringlich vorgetragenen britischen Warnungen vor Gewaltanwendung44 im Wilnagebiet beantwortete die polnische Führung mit Versicherungen, keinerlei entsprechende Absichten zu verfolgen. Angesichts negativer Erfahren mit polnischen Zusagen wandte sich die britische Führung an Frankreich, um ein gemeinsames Vorgehen, die Ausübung von Druck „greater than has yet been employed“ zu erreichen, weil nur auf diese Weise Polen kurz vor 12 noch dazu gebracht werden könne „to stop making a coup at Vilna.“ 45 Dennoch besetzten polnische Verbände unter General Zeligowski schon am 9. Oktober Wilna und das angrenzende Territorium. Während Paris sich zu dem in Polen große Begeisterung auslösenden Zelegowski – Coup zumindest nach außen zurückhielt, reagierte London mit größter Empörung auf das Fait accompli, welches gleichzeitig als schwerer Vertrauensbruch empfunden wurde. Britische Diplomaten verwandten „strong words“ gegenüber ihren polnischen Gesprächspartnern, verlangten den sofortigen Rückzug Zelegowskis und drohten mit ernsten Konsequenzen, falls Polen weiterhin die Beschlüsse und Regeln des Völkerbundes missachten sollte. 46 Dem in das Foreign Office einbestellten Botschafter Ciechanowski erklärte der Chef der Nordabteilung Gregory, dass Polen die Konsequenzen „seiner selbstherrlichen Politik der Annexionen in alle Richtungen“ allein tragen müsse. Natürlich wolle Großbritannien ein starkes und lebensfähiges Polen, doch offensichtlich vermochte man in 42 TNA, FO 371/39404, C 7778. 43 Zum Problemfeld aus britischer Perspektive ein spezielles Memorandum zur Wilnafrage, in: TNA, FO 371/12542, N 7792. Litauer wie Polen übergaben eine Fülle von Denkschriften u. ä. Papieren zur Bekräftigung ihrer jeweiligen Auffassung. 44 Z. B. TNA, FO 371/3621, No 212904 u. 213291; DBFP, 1, XI, 572, 583–585. 45 DBFP, 1, XI, 583–85. 46 TNA, FO 371/5402, N 1212.
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Warschau die Gefahren der eigenen Politik nicht zu erkennen. „Russia and Germany are antagonised all the time, and in the long run history would repeat itself.“ Falls irgendwann „disaster overtook Poland as a result of her rejecting our advice“ könnte Großbritannien nicht nur machtlos, sondern auch unwillig sein, Polen zur Hilfe zu kommen. Der Tag wird kommen, wenn Polen erkennen wird „that we had been their best friends“, doch dann könne es zu spät sein und „the sooner Poland woke up to her follies the better.“ Außenminister Lord Curzon lobte zwar ausdrücklich die Wortwahl Gregorys, bemerkte aber gleichzeitig, dass Großbritannien nicht die leiseste Chance besitze, die Polen gegen ihren Willen wieder aus Wilna herauszubekommen. In einer unverblümten Bewertung der aus britischer Perspektive bestehenden Mächterealitäten in Mittelosteuropa fügte er hinzu, dass „we are merely beating the air & attempting to hide our impotence.“ 47 Für London unerfreuliche Informationen kamen aus Paris. Balfour berichtete von genügend Anzeichen dafür, dass Frankreich „as far as it decently or indecently can“ die polnische Haltung in der Wilnafrage unterstütze, obwohl sich Paris durchaus bewusst sei, damit dem zuständigen Völkerbund größten Schaden zuzufügen. Ein Erfolg des polnischen Fait accompli drohe dessen Position „for ever“ zu untergraben. Weil alle Völker das alliierte Reagieren genau verfolgten, stehe mehr auf dem Spiel „than the question of the ownership of Vilna.“ 48 Bei möglichen Nachahmern des schlechten Beispiels dachte Balfour zuerst an Deutschland und Sowjetrussland. Auf den Brief seines Vorgängers konnte der frustrierte Curzon nur mit dem bezeichnenden Satz reagieren: „French Government and ourselves have been rather at cross purposes over Vilna matter.“ 49 Dass Frankreich auch noch oft die „tollkühne“ Politik Polens unterstütze sei „töricht“ und könne „only leave Germany as the tertius gaudens.“ 50 Die jüngsten Entwicklungen im fernen und im Kanon direkter britischer Interessen bestenfalls zweitrangige Bedeutung beigemessenem östlichen Europa, zunehmend als schwer kalkulierbares und kaum beherrschbares Pulverfass mit unberechenbaren „Spielern“ angesehen, verstärkten die ohnehin schon vorhandenen Tendenzen, die Region sich selbst und dem freien Spiel der regionalen Kräfte zu überlassen 51 und damit eine Rückkehr zur traditionellen Bündnisfreiheit mit einer Konzentration auf das Empire und die Royal Navy. Freilich, auch in diesem Fall blieb ein gravierendes Problem bestehen, nämlich die mit Misstrauen beäugten Bündnisverpflichtungen Frankreichs mit mittleren und kleineren Mächten vor Ort. Über diese bestand immer die reale Gefahr, dass Großbritannien über lokale Krisen und Kriege unter Beteiligung Deutschlands und/oder Russlands in einen erneuten großen Waffengang hineingezogen würde. Im schlimmsten Fall stünde London vor der Wahl zwischen zwei gleichermaßen unwillkommenen Entschei47 48 49 50
DBFP, 1, XI, 593–94. TNA, FO 371/5402, N 1988. TNA, FO 371/6803, N 9157. Diese weit verbreitete Meinung äußerte z. B. Austen Chamberlain am 17.8.1920 in einem Brief an seine Schwester Ida. – Robert C. Self (Hg.), The Austen Chamberlain Diary Letters, Cambridge 1995, 140. 51 Richard J. Crampton, Eastern Europe in the Twentieth Century, London 1984, 39.
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dungen. Die Regierung Ihrer Majestät könnte entweder Paris dazu überreden die eingegangen Verpflichtungen zu ignorieren, oder aber Frankreich in einem Krieg zur Bewahrung des osteuropäischen Status quo folgen. 52 Vor diesem Hintergrund entschied sich London eher widerwillig für eine Fortsetzung seiner bis dato fruchtlosen Bemühungen zur Herbeiführung eines Kompromisses. In einem Brief vom 20. Oktober 1920 an die britischen Vertreter in Paris, Warschau, Brüssel53 und beim Völkerbund nannte der Außenminister diese Hauptgründe: Der Streit um Wilna sei vor allem wegen seiner Brisanz für die Sicherheitsarchitektur im östlichen Europa wirklich bedeutsam. Fundamental sei deshalb die definitive Klärung der zukünftigen litauisch-polnischen Beziehungen. Allein vor diesem Hintergrund müsse die Wilnafrage behandelt werden. Litauen allein könne als Staat nicht dauerhaft überleben und habe nur die Alternative vom einem „wieder hergestellten großen Russland aufgesogen zu werden“, oder, „als vorzuziehende Alternative“, sich „auf natürlichem Wege“ mit Polen zu verbinden. Nur wenn sich Litauen zur Partnerschaft mit Polen entscheide, verdiene das Argument, Wilna sei die historische Hauptstadt Litauens, Berücksichtigung zu finden. Unter diesen Prämissen könne wohl mit allgemeiner polnischer Zustimmung gerechnet werden. Danach bliebe aber noch die schwierige Frage nach der genauen Form und Ausgestaltung einer polnisch-litauischen Föderation. Es sei aber nicht die Aufgabe Londons, sondern des Völkerbundes, einen stabilen und umfassenden Kompromiss zwischen „extremen Forderungen beider Parteien“ zu arrangieren. 54 Am Ende scheiterten, ohne dass irgendeine Annäherung erreicht wurde, alle Versuche zur Herbeiführung eines Kompromisses zwischen Warschau und Kowno „aiming at the stabilisation of the East European equilibrium.“ 55 Nach dem inzwischen schon üblichen Katz– und Mausspiel und nachdem sich Polen im Ergebnis des erfolgreichen Krieges gegen Sowjetrussland im Frieden von Riga56 eine Ostgrenze weit östlich der vom Obersten Alliierten Rat präferierten Linie gesichert hatte, beschloss der Sejm ungeachtet aller britischer Warnungen und begleitet von heftigen sowjetischen und litauischen Protesten 1922 die formale Eingliederung des Wilnagebietes in den polnischen Staatsverband. London reagierte mit heftiger Entrüstung und sprach von einem erneuten schweren Schlag gegen den Völkerbund. Die offensichtliche Hilflosigkeit bei der Durchsetzung von Lösungen in Mittelosteuropa wurde auch der pro-polnischen Haltung Frankreichs und dem nach dem republikanischen Wahlsieg vom November 1920 erklärten völligen Desinteresse der USA daran angelastet. 57 Wiederum sah London keine gangbare Alternative, als die Inkorporation Wilnas als „fait accompli“ zu be52 Norman Graebner, The Versailles Treaty and Its Legacy, Cambridge/Mass. u. a. 2011, 80. 53 Der Belgier Paul Hymans war Völkerbundsbeauftragter zur Moderierung eines Kompromisses zwischen den Regierungen in Warschau und Kowno. 54 TNA, FO 371/5402, N 1403. 55 TNA, FO 371/5797, N 5526. 56 Unterzeichnet am 18. März 1921. Im Unterschied zu Großbritannien sah Polen die durchgesetzten Forderungen als sehr maßvoll an. Weite Teile jener Gebiete, die zur polnischlitauischen Union gehört hatten blieben bei Sowjetrussland. 57 TNA, FO 371/8125, N 2102, FRUS, 1922, II, 874–75.
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werten, das Großbritannien „felt helpless to undo.“ 58 Allerdings zeigte sich London zur De-jure-Anerkennung nicht willens. Angesichts der schier unüberbrückbaren Spannungen zwischen Polen und Litauen sowie des „Impasse“ in der noch immer unerledigten Memelfrage entschieden die Alliierten unter französischer (und polnischer) Federführung Ende 1922, aus dem Memelgebiet nach Danziger Vorbild einen Freistaat unter französischem Protektorat zu machen. Damit wäre die von Warschau immer wieder mit Nachdruck betonte volle Berücksichtigung der ökonomischen Interessen Polens 59 garantiert. Durch die auch Litauen in Aussicht zu stellende freie Nutzung des Memeler Hafens bestand die Erwartung, dass Kowno im Gegenzug die Sperrung des Njemen aufheben würde. Noch vor der amtlichen Proklamation des Freistaates Memel handelte Litauen. Offensichtlich für Briten, Franzosen und Polen völlig überraschend 60 drangen litauische Soldaten und Freiwillige im Januar 1923 mit Billigung aus Moskau und Berlin 61 in das französische Mandatsgebiet ein und stießen auf Memel vor. Das litauische Fait accompli katapultierte Memel in das Schlaglicht der internationalen Presse und löste zahlreiche Spekulationen aus. Die Autorität des Völkerbundes und seiner beiden Vormächte war herausgefordert und deshalb die Auffassung dominant, dass Genf den litauischen Rechtsbruch nicht hinnehmen könnte. 62 Die Lage eskalierte zusätzlich, weil sich Kowno weigerte zum Status quo ante zurück zu kehren und der französische Widerstand vor Ort rasch zusammenbrach. Dadurch geriet besonders Paris in eine prekäre Lage, hatte man doch dort wie in Warschau besonders heftig auf den Einmarsch und den Angriff auf französische Soldaten reagiert, die umgehende Bestrafung Litauens gefordert und bei litauischer Verweigerung militärischen Gegenmaßnahmen angedroht. Dem Lackmustest militärischer Entschlossenheit wich die französische Führung dennoch aus. Angesichts der krisenhaften Entwicklungen im Westen fehlten vor allem die erforderlichen „beträchtlichen Kräfte“ wie die nötige Logistik, um das ferne Memelgebiet zurückzuerobern und erfolgreich gegen die litauische Armee zu halten. Polen signalisierte deshalb Bereitschaft, französische Anregungen aufgreifend, die nötigen Streitkräfte unter französischem Oberkommando zu Verfügung zu stellen. Offensichtlich unter breiter öffentlicher Rückendeckung machte die Warschauer 58 TNA, FO 371/8251, N 2019 u. 2102. 59 Memel sollte als Haupthafen für Ostpolen dienen. 60 Einige Indizien und Gerüchte wurden nicht ernst genommen, auch weil es unvorstellbar schien, dass Litauen einen solchen Affront gegen die Siegermächte plus Polen überhaupt wagen könnte. – TNA, FO 371/9255. 61 Auf litauische Quellen gestützt hat Joachim Tauber mehrfach auf Vorabsprachen verwiesen; z. B. in den Annaberger Annalen 3/1995. Angesichts der realen Umstände betrachte Berlin den Anschluss Memels an Litauen als das „kleinere Übel“ – TNA, German Foreign Ministry (GFM), 33/4247, K 668659. Nur so konnte eine direkte Verbindung in die UdSSR gesichert und die völlige Umklammerung Ostpreußens verhindert werden. In Geheimabsprachen hatte Deutschland von Litauen Zusagen über eine weit reichende Autonomie des Memelgebietes im Anschlussfall bekommen. Ebenda, K 668742, 668659–62 u. 668585. 62 U. a. dazu New York Times vom 13.1.1923 und London Times vom 23.1.1923.
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Regierung deutlich, dass nur ein bedingungsloser Rückzug der Invasoren infrage käme und Polen zur Sicherung und Durchsetzung seiner Interessen bereit sei, auch Krieg mit der Sowjetunion zu führen, falls Moskau Litauen zu Hilfe käme. 63 Ohne hier darauf detaillierter eingehen zu können, die als sehr reale bewertete Möglichkeit eines offensichtlich kaum zu lokalisierenden litauisch-polnischen Krieges, noch dazu in der Zeit der Ruhrkrise mit all ihren Risiken und Unkalkulierbarkeiten, war schnell zur alles überwölbenden Frage geworden. Viele Beobachter hatten nur eine Erklärung dafür, warum das weitaus schwächere Litauen über die Brüskierung der Alliierten hinaus riskierte, gerade das weitaus mächtigere Polen mit seinen dreißig, auch dank französischer Unterstützung viel besser und moderner ausgerüsteten Divisionen derart herauszufordern; nämlich Beistandszusagen der UdSSR. 64 Für letztere sprachen sowjetische Erklärungen, nach denen die UdSSR im Falle polnischen Eingreifens im Memelgebiet vorbereitet und bereit sei, Litauen militärisch umfassend zu unterstützen. Weitere Informationen, einschließlich solcher aus verlässlichen Quellen, berichteten von sowjetischlitauischen Vorabsprachen, einige wollten auch von einer Einbeziehung Deutschlands wissen. 65 Aus Warschau informierte Botschafter Muller über eine zunehmend gereizte Stimmung ob der alliierten Unfähigkeit, die Litauer wieder aus Memel heraus zu werfen. Der öffentliche Druck würde wohl so groß werden, dass der Regierung wahrscheinlich nur Rücktritt oder militärisches Eingreifen bliebe. Muller, eigentlich Befürworter eines harten Kurses gegen Kowno in der Memelfrage, erhielt am 21. Januar Weisung, der polnischen Führung unzweideutig klar zu machen, dass Memel allein Sache der Siegermächte wäre und sich Polen heraushalten müsse. 66 Britische Diplomaten mahnten aber nicht nur Polen, sondern auch Litauen eindringlich zur Zurückhaltung und damit auch zur Mäßigung ihrer gegen den jeweils anderen gerichteten scharfen und nicht selten kriegerischen Propagandakampagne, weil schon ein Funke reichen könnte, dass Pulverfass mit unkalkulierbaren Folgen zur Explosion zu bringen. 67 Aus der Analyse der Lage und ihres Gefahrenpotenzials zog London den Schluss, dass allein eine zügige Anerkennung der Fakten einen Ausweg aus der Sackgasse ermögliche. Curzon brachte die Sache auf den Punkt, wenn er notierte, weil „not all the King’s horses or the King’s men“ ausreichten um die Lage in Wilna und Memel zu ändern, bliebe gar nichts anderes übrig, als beide „Freveltaten“ anzuerkennen. 68 Dem massiven Druck aus London konnte sich die zunächst handlungswillige französische Führung aus Mangel an verfügbaren Truppen und logistischer Abhängigkeit von Großbritannien nicht entziehen. Um auch Polen mit ins Boot zu bekommen, gab die britische Führung innerhalb von Tagen ihren zähen Widerstand gegen die Einbeziehung des Wilnagebietes und Ostgaliziens in 63 TNA, FO 371/9259, N 973, FO 688/14/11, FO 371/9255–8. 64 Im Foreign Office war man sich sicher, dass Litauen bei seinem extrem riskanten Agieren auf sowjetische Unterstützung für den Kriegsfall mit Polen setzte. – TNA, FO 371/9318, N 3218. 65 Z. B. London Times vom 15. und 31.1.1923. 66 TNA, FO 371/9255 u. 9257. 67 TNA, FO 371/9315, N 1457, 1495, 1510, 1537. 68 TNA, FO 371/9258, N 948.
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den polnischen Staatsverband auf. Schon am 16. März 1923 anerkannte die Botschafterkonferenz die aktuellen Grenzen des Landes. Die Regierungen in Kowno und Moskau lehnten die formelle Übertragung des Wilnagebietes an Polen hingegen scharf ab. Die UdSSR beklagte erneut ihren Ausschluss von der Entscheidungsfindung und drohte mit negativen Konsequenzen. Über die Grundlagen und Inhalte des Memelvertrages einschließlich der vertrackten Frage polnischer Nutzungsrechte musste zwischen den Westmächten und Litauen noch verhandelt werden. 69 Litauen blieb gleichwohl bei seiner Haltung, keine diplomatischen Beziehungen zu Polen aufzunehmen, so lange Wilna nicht an Litauen zurückgegen wäre und betrachtete sich weiterhin als im Krieg mit Polen befindlich. Trotz allen westlichen Drängens, abgelehnt wurde auch jede wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Polen. Zwischen beiden Staaten herrschte so etwas wie ein kalter Krieg, der schon 1927 durch Pilsudskis scharfes Vorgehen fast in einen heißen eskalierte und damit Sorgen in Paris und London verstärkte, dass der mühsam erreichte Status quo in Osteuropa „might unravel“ und damit die Tür für eine schließlich unkontrollierbare deutsche Revisionspolitik und vielleicht gar eine kombinierte deutsch-russische Expansionspolitik aufgestoßen würde. 70 Die Entwicklung der Lage vor Ort ließ auch wenig Gutes ahnen. Beobachter bezeichneten die gemeinsame Grenze bzw. Demarkationslinie zwischen Polen und Litauen als spannungsgeladene Todeszone. 71 Für die britische Führung war diese Situation alles andere als erfreulich, ohne dass sie die Kraft zu ihrer Veränderung besaß. Als der britische Gesandte für die baltischen Staaten Vaughan Außenminister Balutis für die Gründe der litauischen Regierung für ihren „hazardous“ Kurs fragte, der nicht nur eine permanente Gefahr für die regionale Stabilität bedeutete, sondern auch den „true“ Interessen des kleinen Landes völlig zuwider liefe, erhielt er am 27. November 1923 zur Antwort, dass es früher oder später ganz unvermeidlich zum Krieg zwischen der UdSSR und Polen kommen werde. „In that case Vilnius might be restored to Lithuania if the latter had not renounced her claim to it.“ 72 Alles in allem, 1923/24 waren mit der Anerkennung der polnischen Ostgrenzen und der Memelkonvention die letzten noch völkerrechtlich offenen osteuropäischen Territorialfragen entschieden, darunter gerade im polnischen Fall nicht 69 TNA, FO 371/9255–61, FO 371/9315–17. Die Aufzeichnungen über die schwierigen Memelverhandlungen der Botschafterkonferenz und die über die polnischen Ostgrenzen finden sich in TNA, FO 893/19–21. Mit der Memelkonvention vom 8. Mai 1924 wurde das Territorium, dessen Bewohnern darin weiteichende Autonomierechte garantiert wurden, völkerrechtsgültig Teil Litauens. Unter massivem britischen Druck und trotz heftiger polnischer Proteste verzichtete Frankreich auf die Aufnahme einer Klausel, die Polen eine unbeschränkte Nutzung des Hafens von Memel und des gleichnamigen Flusses garantierte. Litauen hatte sich mit seiner „unverhandelbaren“ Position durchgesetzt, beide solange für Polen zu sperren, bis Wilna wieder Hauptstadt eines unabhängigen litauischen Staates sein würde. Auch der polnische Besitz von Grodno wurde von der Kownoer Regierung weiterhin nicht akzeptiert. 70 Patrick O. Cohrs, The Unfinished Peace after World War I, New York u. a. 2006, 416. 71 Eine ausführliche Beschreibung der Situation bei Jürgen Pagel, Polen und die Sowjetunion 1938–1939, Stuttgart 1992, 29–30. 72 TNA, FO 371/9317, N 2831, 9318, 4758.
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wenige, über die nicht die Siegermächte am grünen Tisch, sondern die stärkeren Waffen vor Ort entschieden hatten. Am Maßstab der ursprünglichen Zielstellung, der Schaffung eines funktionsfähigen und sich weitgehend selbst tragenden und von allen Beteiligten als hinreichend gerecht und dauerhaft bewerteten Gleichgewichts der Mächte südlich der Ostsee ohne Fortdauer gefährlicher Spannungsherde, konnte die britische Politik nicht zufrieden sein. Vor diesem Hintergrund kam ein Foreign Office-Memorandum Ende 1923 zu dem ernüchternden Schluss, dass, „the state of affairs (…) is so uncertain and unstable (…) that no useful purpose would be served by attempting to forecast what might happen in certain hypothetical cases.“ 73
Die um sich greifende Ernüchterung mit dem Erreichten „was indubitable a key precondition“ für die Entwicklung der britischen Politik hin zu „a definite policy of peaceful change“ zur Erreichung eines „general settlement.“ 74 Dabei blieb London aber aus den schon genannten Beweggründen entschlossen, keine bindenden Verpflichtungen im östlichen Europa über den Völkerbund hinaus zu übernehmen. Im Rahmen der angestrebten Beruhigung und Befriedung Europas richteten sich die Hoffnungen auf langsame Entspannung zwischen den Kontrahenten sowie einen durch wechselseitiges Entgegenkommen begünstigten schrittweisen Abbau ihres oft tief sitzenden gegenseitigen Misstrauens, auf die Durchsetzung demokratischer Verhältnisse verbunden mit allgemeiner ökonomischer Prosperität. So könnten schließlich Bedingungen entstehen, die allen mehr Vorteile als Nachteile brächten und die Überzeugung beförderten, dass grundsätzlich ihre Wahrung und friedliche Weiterentwicklung ungleich vorteilhafter wäre, als jeder Versuch, diese mit militärischen Mitteln zu verändern. Um ihre auf Stabilität und Berechenbarkeit abzielende Politik friedlichen Wandels zum Erfolg führen zu können, hielt London und langsam zunehmend auch Paris gemäßigte Grenzrevisionen, am besten über Verhandlungen zwischen den direkt betroffenen Staaten und im Rahmen der durch den Völkerbund gesetzten Regeln, für unausweichlich. Diese bald vorherrschende Einschätzung galt vor allem Mittelost-Europa und hier in erster Linie dem offensichtlich explosivsten Streitfall, der Danzig/Korridorfrage. 75 Dabei sollte auch eine, wenn nicht die Grundvoraussetzung für eine Versöhnung zwischen Deutschland und Polen geschaffen werden, den „restless elements in Europe north of the Balkans.“ 76 London strebte ein Abkommen an, das die wichtigsten deutschen Beschwerdepunkte ausräumen und gleichzeitig den polnischen Interessen so weit wie möglich Rechnung tragen würde. 77 73 74 75 76
TNA, FO 371/9237, N 8031. Cohrs, Unfinished Peace (wie Anm. 70), 70 u. 398. TNA, FO 371/10996, N 1040, 1305, 1408. So Austen Chamberlain am 22.9.1925 in einem Brief an seine Schwester Hilda. – Self, Austen Chamberlain (wie Anm. 50), 279. Die in Anlehnung an Bismarcks pommersche Grenadiere vom amtierenden Außenminister gegenüber dem Botschafter in Frankreich Crewe vom Februar 1925 geäußerte Überzeugung, dass der polnische Korridor nicht die gesunden Knochen eines britischen Grenadiers wert sei (ebd., 270) entsprach der klaren Mehrheitsmeinung im Königreich. 77 Z. B. DBFP, 1, XXVII, no. 205, Cohrs, Unfinished Peace (wie Anm. 70), 335.
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Fortan geisterte eine gar nicht so neue Idee 78 durch Presse und Diplomatenpapiere; ein deutsch-polnischer Deal, bei dem die Freie Stadt Danzig und der polnische Korridor in den deutschen Staat zurückkehrten und Polen im Gegenzug Memel mit oder ohne das litauische Kernland erhalten sollte.
78 Schon zur Zeit der Pariser Friedenskonferenz ventiliert. – TNA, FO 371/6798, N 4471.
VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN Birgit Aschmann, Dr. phil., Professorin für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin. Publikationen u. a.: „Treue Freunde…“? Westdeutschland und Spanien 1945–1963, Stuttgart 1999; (Hg.), Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2005; Preußens Ruhm und Deutschlands Ehre. Zum nationalen Ehrbegriff im Vorfeld der preußisch-französischen Kriege des 19. Jahrhunderts, München 2013. Volk Depkat, Dr. phil., Professor für Amerikanistik an der Universität Regensburg. Zuletzt erschienen: Geschichte Nordamerikas. Eine Einführung, Köln 2008; Die Entscheidung für Europa. Das Epochenbewusstsein deutscher und italienischer Politiker und das Projekt der europäischen Integration / Decidere l’Europa. La via verso l’Europa. Esperienza, mentalità e sfide politiche agli albori dell’integrazione europea, hg. v. Volker Depkat u. Piero Graglia, Tübingen 2010; Visual Cultures – Transatlantic Perspectives, hg. v. Volker Depkat u. Meike Zwingenberger, Heidelberg 2012. Jürgen Elvert, Dr. phil., Professor für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Schwerpunkt: Geschichte der Europäischen Integration) und Didaktik der Geschichte am Historischen Institut der Universität zu Köln. Zuletzt erschienen: Die Europäische Integration, Darmstadt 22012; Maritime Wirtschaft in Deutschland. Schifffahrt – Werften – Handel – Seemacht im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2012; Ces chers voisins: L’Allemagne, la Belgique et la France en Europe du XIXe aux XXIe siècles, Stuttgart 2010. Philipp Erbentraut, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Publikationen u. a.: Volkssouveränität – ein obsoletes Konzept? Marburg 2009. Wolf D. Gruner, Dr. phil., Professor für Europäische Geschichte, verbunden mit dem Jean Monnet Lehrstuhl für Europäische Integrationsgeschichte und Europastudien an der Universität Rostock. Zuletzt erschienen: Der Deutsche Bund 1815– 1866, München 2012; Europa-Lexikon. Länder – Politik – Institutionen, München 2 2007; Der Wiener Kongress 1814/15 und Europa: Wandel und Neuordnung im Zeichen der Transformation 1750–1830, Stuttgart 2013. Luise Güth, Promotionsstudentin an der Universität Greifswald; Stipendiatin des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern. Publikation: Die Greifswalder
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Blockparteien in der Friedlichen Revolution, in: Gerbergasse 18. Thüringer Vierteljahrsschrift für Zeitgeschichte und Politik 4/2011, 8–12. Niels Hegewisch, Promotionsstudent an der Universität Greifswald; Stipendiat der Graduiertenförderung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Publikationen u. a.: Die Staatsphilosophie von Johann Peter Friedrich Ancillon, Marburg 2009; Politik und Verwaltung in der Gewaltenteilungslehre des Vormärz, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 18/2011, Heft 2, 75–90. Torben Kiel, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit an der Universität Greifswald. Letzte Veröffentlichung: The German Central Power in the Revolution of 1848. Some Legal Aspects, in: Studia Maritima XXV/2012, 227–238. Alexander König, Dr. phil., Gymnasiallehrer an der Helmholtzschule Frankfurt am Main. Publikation: Wie mächtig war der Kaiser? Kaiser Wilhelm II. zwischen Königsmechanismus und Polykratie von 1908 bis 1914, Stuttgart 2009. Jan Kusber, Dr. phil., Professor für Osteuropäische Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Buchveröffentlichungen: Kleine Geschichte St. Petersburgs, Regensburg 2009; Eliten– und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung, Stuttgart 2004. Knut Langewand, Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der University of Warwick, Coventry (Großbritannien). Publikationen u. a.: Historik im Historismus. Geschichtsphilosophie und historische Methode bei Ernst Bernheim, Frankfurt am Main 2009; The Chancellor’s Toothache. Crisis and Sickness – The Weimar Case, in: W. Jackson u. a. (Hgg.), Crisis, Rupture and Anxiety, Newcastle 2012, 73–87. Jenny Linek, Promotionsstudentin an der Universität Greifswald; Stipendiatin des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart. Ingo Löppenberg, Promotionsstudent an der Universität Greifswald; Stipendiat der Gerda-Henkel-Stiftung; Publikationen u. a.: Wider Raubstaat, Großkapital und Pickelhaube. Die katholische Militarismuskritik und Militärpolitik des Zentrums 1860 bis 1914, Frankfurt am Main u. a. 2009. Dirk Mellies, Dr. phil., Wissenschaftlicher Angestellter bei der Freien und Hansestadt Hamburg, 2004–2010 Assistent am Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit an der Universität Greifswald; Publikationen u. a.: Trojanische Pferde der DDR? Das neutralistisch-pazifistische Netzwerk der frühen Bundesrepublik und die Deutsche Volkszeitung, 1953–1973, Frankfurt am Main u. a. 2007;
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Modernisierung in der preußischen Provinz? Der Regierungsbezirk Stettin im 19. Jahrhundert, Göttingen 2012. Frank Möller, PD Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit an der Universität Greifswald. Zuletzt erschienen: Arbeit am akustischen Gedächtnis. Das Tondokument von Himmlers Posenrede im Geschichtsunterricht, in: Akustisches Gedächtnis und Zweiter Weltkrieg, Hrsg. v. Robert Mayer, Göttingen 2011, 195–214; Heinrich von Gagern (1799–1880) – Ein Revolutionär als Parlamentspräsident, in: Landauf – Landab. Fünf Abgeordnete und 200 Jahre Demokratie– und Parlamentsgeschichte, Mainz 2012, 40–79 [online auf http://www.landtag.rlp]. Lutz Oberdörfer, Dr. phil., Privatdozent am Historischen Institut der Universität Greifswald. Publikationen u. a.: The Danzig Question in British Foreign Policy, 1918–1920, in: Diplomacy and Statecraft 15/2004, 773–792. Jens E. Olesen, Dr.phil., Professor für Nordische Geschichte (Skandinavien, Finnland), Publikationen u. a. zur Kalmarer Union, Reformation, Der Kampf um das Dominium Maris Baltici, Pommern und Schweden. Zuletzt erschienen: Dänemark 1815–1847, in: Handbuch der Europäischen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Bonn 2012. Hedwig Richter, Dr. phil., Assistentin am Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit an der Universität Greifswald. Publikationen u. a.: zus. mit Ralph Jessen (Hgg.), Voting for Hitler and Stalin. Elections under 20th century dictatorships, Frankfurt am Main / New York / Chicago 2011; Die DDR, Paderborn 2009. Heinz-Peter Schmiedebach, Dr. med., Professor, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Hamburg, Medizinische Fakultät. Publikationen u. a.: zus. mit V. Hess (Hgg.), Am Rande des Wahnsinns. Schwellenräume einer urbanen Moderne, Wien / Köln / Weimar 2012. Diana Schulle, Dr. phil., freiberufliche Historikerin. Publikationen u. a.: „Die Sozialistische Front Hannover“, Internetauftritt, Berlin 2012 (www.sozialistischefront.de); „... und immer wieder bewundern wir Eure mit aufopfernder Liebe prima gepackten Pakete.“ Otto Weidts Hilfsaktion für Gefangene im Ghetto Theresienstadt 1943–1944, Berlin 2012; Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945, Wiesbaden 2005 (zus. mit Alfred Gottwaldt). Bernd Sösemann, Dr. phil., Professor (em.) für Geschichte der öffentlichen Kommunikation und Leiter der „Arbeitsstelle für Kommunikationsgeschichte und interkulturelle Publizistik“ an der Freien Universität Berlin. Zuletzt erschienen: Propaganda. Medien und Öffentlichkeit in der NS-Diktatur (2 Bde.), Stuttgart
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
2011; Friedrich der Große in Europa (3 Bde.), Stuttgart 2012; Theodor Wolff. Ein Leben für die Zeitung, Stuttgart 2012. Monika Unzeitig, Dr. phil., Professorin für Ältere deutsche Sprache und Literatur an der Universität Greifswald. Publikationen u. a.: Mauer und Pforte – Wege ins Paradies in mittelalterlicher Literatur und Kartographie, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 52/2011, 9–29. Barbara Vogel, Dr. phil., Professorin (em.) für deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Hamburg. Publikationen u. a. zur Außenpolitik des Kaiserreichs, zur Reformpolitik in Preußen, zur Sozialgeschichte der Parteien und des Antisemitismus im 19. Jahrhundert, zur Geschichte der Universität Hamburg, zur Geschichte von Frauen in Deutschland; Mitherausgeberin der Studien der Helmut und Loki Schmidt-Stiftung.
Wo bleibt die Aufklärung in Zeiten postmoderner Weite und fundamentalistischer Willkür? Die Autorinnen und Autoren widmen sich dem Thema aus drei Perspektiven: Zum einen untersuchen sie, was Aufklärung wissenschaftstheoretisch bedeuten kann. Zweitens ermitteln sie die Potenziale, die in der Beschäftigung mit der Epoche Aufklärung stecken. Schließlich analysieren die Beiträge aufklärerische Diskurse. So setzen sich die Texte in der Festschrift für Thomas Stamm-Kuhlmann mit dem aufklärerischen Impetus mittelalterlicher Karten, Hayden Whites oder Michel Foucaults auseinander; sie bieten einen Einblick in die Paradoxien der dänischen oder amerikanischen Aufklärung; und sie verweisen auf die aufklärerischen Wurzeln der europäischen Idee, von Volkssouveränität, Rechtsstaat und Gewaltenteilung, der hygienischen Volkserziehung in der DDR oder der Auseinandersetzung mit Geschichtsrevisionismus und Postmoderne.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10423-4