Wissenschaftstheorie und Theologie: Studien zu Pannenbergs Monografie von 1973 [1 ed.] 9783666500268, 9783525500262


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Wissenschaftstheorie und Theologie: Studien zu Pannenbergs Monografie von 1973 [1 ed.]
 9783666500268, 9783525500262

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Gunther Wenz (Hg.)

Wissenschaftstheorie und Theologie Studien zu Pannenbergs Monografie von 1973 Pannenberg-Studien

Band 10

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Pannenberg-Studien Band 10

Herausgegeben von Gunther Wenz

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Gunther Wenz (Hg.)

Wissenschaftstheorie und Theologie Studien zu Pannenbergs Monografie von 1973

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Wolfhart Pannenberg © Hilke Pannenberg Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: le-tex publishing services, Leipzig Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2367-4369 ISBN 978-3-666-50026-8

Vorwort

Arrangiert und moderiert hatten das Gespräch Sigurd Martin Daecke und Hans Norbert Janowski, Chefredakteure der „Evangelischen Kommentare“, einer Monatsschrift zum Zeitgeschehen in Kirche und Gesellschaft. Geführt wurde es Ende des Jahres 1972, um auf der Basis von Aufzeichnungen auszugsweise in Heft 1/1973 der genannten Zeitschrift und dann in seinem Gesamtverlauf 1974 unter dem Titel „Grundlagen der Theologie – ein Diskurs“ publiziert zu werden und zwar verbunden mit je einem Beitrag der beiden Interviewer und der zwei Gesprächspartner, der „prominentesten Vertreter eines aktuellen theologischen Sachgebiets, der Wissenschaftstheorie der Theologie“1 , wie es im Prolog heißt: Gerhard Sauter und Wolfhart Pannenberg. Sauter, der 1968 als Nachfolger Pannenbergs an die Johannes GutenbergUniversität Mainz gegangen2 und 1972 an die Rheinische Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn gewechselt war, wo er bis zu seiner Emeritierung lehrte, hatte 1970 in der Schriftenreihe „Theologische Existenz heute“ (Nr. 164) eine Studie zur Theorie und Organisation der Theologie als Wissenschaft vorgelegt. Darin bemühte er sich in Fortschreibung wissenschaftstheoretischer Ansätze in der sogenannten Dialektischen Theologie und im Kontext aktueller Eschatologiedebatten der damaligen theologischen Szene um eine Verhältnisbestimmung von historisch-kritischer Exegese einerseits sowie systematischer und praktischer Theologie andererseits, in der geschichtliche Erkenntnis und Gegenwartsperspektiven in einer innovationsoffenen und zukunftserschließenden Weise verbunden sind. Kombiniert ist Sauters Programm einer, wie er sagt, zugleich hermeneutisch-analytischen und empirisch-kritischen Methode mit einer scharfen Kritik dessen, was er die „Konzeption einer totalen Überlieferungsgeschichte“3 nennt: Diese erliege einer sachwidrigen erkenntnistheoretischen Täuschung, wenn sie „die Relevanz des 1 W. Pannenberg/G. Sauter/S. M. Daecke/H. N. Janowski, Grundlagen der Theologie – ein Diskurs, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1974, 6. Vorangestellt ist dem Sammelband ein Beitrag von S. M. Daecke: Soll die Theologie an der Universität bleiben? Zur Auseinandersetzung um eine Begründung der Theologie als Wissenschaft (7–28). Dann folgen die Gesprächspartner mit je einem eigenen Text: W. Pannenberg, Wie wahr ist das Reden von Gott? Die wissenschaftliche Problematik theologischer Aussagen (29–41); G. Sauter, Theologie als Beschreibung des Redens von Gott. Die verfängliche Frage nach dem Gegenstand der Theologie (42–57). Angeschlossen ist das Gespräch über „Theologie als Wissenschaft“ (58–120) und eine Nachbemerkung hierzu von H.N. Janowski: Wissenschaft von Gott und Religionskritik (121–127). 2 Seine Mainzer Antrittsvorlesung hatte den Titel „Die Aufgabe der Theorie in der Theologie“; veröffentlicht ist der Text in der Zeitschrift „Evangelische Theologie“ 30 (1970), 488–510. 3 G. Sauter, Vor einem neuen Methodenstreit in der Theologie?, München 1970, 37.

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Vorwort

Überlieferten aus der lückenlosen Genealogie erklärt, die ihre Dignität dem historischen Anfang entnimmt“4 . Pannenberg hat diesen von Sauter mehrfach variierten Satz5 , der offenkundig auf ihn und den Kreis um „Offenbarung als Geschichte“ gemünzt war, in seinem Handexemplar (Pannenberg-Bibliothek 03256) mit einem großen Fragezeichen versehen. In dem 1973 erschienenen Werk „Wissenschaftstheorie und Theologie“, das u. a. aus Anlass des bevorstehenden 50–jährigen Publikationsjubiläums Gegenstand des am 14./15. Oktober 2022 an der Münchner Hochschule für Philosophie veranstalteten 9. Pannenberg-Kolloquiums war, hat er hierfür eine ausführliche Begründung angegeben. Sauter irre, wenn er meine, Neues und Künftiges „im Gegenzug zur Geschichte wie zum gegenwärtig Gegebenen“6 zur Geltung bringen zu müssen. Geschichte sei, wenn sie traditionsgeschichtlich verstanden werde, nicht jene „kompakte und gleichsam als Ganzes vorhandene“ (293) Einheitsgröße, als die sie Sauter zu denken scheine, sondern „das Zusammenwachsen einer Pluralität von sich selbst auf eine offene Zukunft hin transzendierenden und miteinander um Einheit ringenden Prozessen im Zeichen jener Zukunft und der aus ihr eintretenden Kontingenzen“ (ebd.). Durch eine „einseitig wirkungsgeschichtliche Deutung“ (294) sei dieses Prozessgeschehen nicht angemessen zu fassen. Insoweit habe Sauter recht. Er übersehe aber, worauf das Programm von „Offenbarung als Geschichte“ angelegt sei, das nämlich „die als offener Prozeß gedachte Geschichte die Gegensätze des Künftigen zum Gegenwärtigen und schon Vorhandenen, wie auch die Gegensätze der verschiedenen Prozesse und Subjekte untereinander mit ihren unterschiedlichen Vorgriffen auf die noch offene Zukunft in sich selbst hat

4 A. a. O., 40. 5 Sauter spricht in Bezug auf die sogenannte „Konzeption einer totalen Überlieferungsgeschichte“ (a. a. O., 37) von einer erkenntnistheoretischen „Fiktion, weil hier das Problem des historischen Interesses durch die Herkunftsbestimmung des geschichtlichen Verlaufs weitgehend erledigt scheint“ (ebd.). Der Hegelianismusverdacht und das Verdikt einer drohenden ”Anbetung des Wirklichen als des Vernünftigen” und „Vergötzung des Erfolges“ bleibt unter Berufung auf Nietzsche erwartungsgemäß nicht aus (vgl. ebd.). 6 W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973, 292; die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Pannenbergs ausführliche Auseinandersetzung mit Sauter beschließt das 4. Kapitel von „Wissenschaftstheorie und Theologie“, in dem von der Auffassung der Theologie als Wissenschaft in der Theologiegeschichte gehandelt wird (226–298; zu Sauter vgl. 291–298). Es folgt der zentrale Abschnitt des II. Teils der Monographie über die Theologie als Wissenschaft von Gott (299–348), die ihre Wissenschaftlichkeit durch, wenn man so will, assertorische Hypothesenbildung unter Beweis zu stellen hat (vgl. 329–348). Beschlossen wird der Teil zur Theologie als Wissenschaft und die Abhandlung insgesamt sodann mit der historischen Genetisierung und systematischen Entwicklung der inneren Gliederung der Theologie im Gesamtzusammenhang ihrer Disziplinen (349–442). Auf der zuletzt genannten Thematik wird der Schwerpunkt des nächsten Pannenbergkolloquiums liegen, das im Wesentlichen nicht von etablierten, sondern von Nachwuchswissenschaftlern bestritten werden wird.

Vorwort

in der Weise, daß diese Gegensätze gerade im Prozeß der Geschichte ausgetragen werden“ (293). Mit der Auseinandersetzung um Stellenwert und Relevanz der „historischhermeneutischen oder überlieferungsgeschichtlichen Theorie in der Theologie“ (291) war dem von Daecke und Janowski arrangierten, im Jahr des Erscheinens von „Wissenschaftstheorie und Theologie“ publizierten Gespräch zwischen Sauter und Pannenberg über „Theologie als Wissenschaft“ ein zentrales Thema vorgegeben. Sachlich eng verbunden damit war (und ist) die sowohl hermeneutisch als auch geschichtstheologisch entscheidende Frage nach dem „Sinn des Ganzen“7 bzw. dem für alles Verstehen nötigen antizipatorischen Vorgriff auf ihn sowie die Beziehung des Hypothesenbegriffs auf die Problematik der Sinntotalität in ihrem Verhältnis zur geschichtlichen Erfahrung. Wie verträgt sich die Annahme eines hypothetischen Charakters theologischer Aussagen mit deren assertorischen Bestimmung und der Gewissheit, die den Glauben kennzeichnen soll? Pannenbergs Antwort ist klar und für sein Konzept der Theologie als Wissenschaft grundlegend. Die Theorie eines hypothetischen Charakters theologischer Aussagen steht nicht im Gegensatz zu festen Behauptungen, sondern hält an ihrem assertorischen Potential gerade durch die Einsicht fest, dass diese, nämlich die Behauptungen, gemäß ihrer logischen Form immer schon Hypothesen sind und nur auf hypothetische Weise argumentativ vertreten werden können. Dies gelte auch und gerade für die wissenschaftliche Rede von Gott als dem Grund und dem Inbegriff des Sinnganzen, auf die alle Theologie ihrem Wesen nach hingeordnet sei. Zu beachten ist, dass Pannenberg in diesem Zusammenhang eine Unterscheidung trifft, auf die er nach eigenem Bekunden „großen Wert“8 legt, nämlich „zwischen der vortheoretischen Mitgegebenheit eines Ganzheitshorizontes, der Bedeutungserfahrung im einzelnen überhaupt erst konstituiert, und der Weise, wie dieser Ganzheitshorizont thematisiert wird“9 . Wie diese Unterscheidung präzise zu fassen ist und was sie für die Wissenschaftstheorie und die Theologie als Wissenschaft genau bedeutet, ist eine der interessantesten Fragen im Sauter-Pannenberg-Disput und darüber hinaus. Bereits im Jahr vor dem Streitgespräch mit Pannenberg hatte Sauter im Sommersemester 1971 auf Einladung der jungen Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Ludwig-Maximilians-Universität München seine Position in einer Gastvorlesung über „Die Begründung theologischer Aussagen – wissenschaftstheoretisch

7 Vgl. dazu Sauters spätere Studie „Was heißt: nach Sinn fragen? Eine theologisch-philosophische Orientierung, München 1982; die entscheidende Sinnfrage, so heißt es dort, richtet sich auf „das tragende Ganze“ (17). 8 S. M. Daecke/H. N. Janowski/W. Pannenberg/G. Sauter, Theologie als Wissenschaft. Ein Gespräch, in: dies., a. a. O., 98. 9 Ebd.

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Vorwort

gesehen“ dargelegt. In dem Vortrag, der noch im selben Jahr in der „Zeitschrift für Evangelische Ethik“ veröffentlicht wurde, setzte er sich aus gegebenem Anlass nicht nur mit Pannenberg, sondern auch mit Trutz Rendtorffs Christentumstheorie kritisch auseinander, um zum Schluss seine Auffassung von den wissenschaftstheoretischen Aufgaben der Theologie und der Funktion theologischer Begriffe als „Regulatoren kirchlichen Redens“ 10 zu skizieren. Ausführlich begründet und entfaltet hat er sie in seinen beiden Beiträgen in dem von ihm herausgegebenen Sammelband „Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie“, in dem auf Pannenberg indes nur am Rande und unter der Rubrik Bezug genommen wird: „Versuche zur Neuformulierung einer Theorie der ‚Vernunft in der Geschichte‘, also des geschichtsphilosophischen Programms des DEUTSCHEN IDEALISMUS und seiner Erben.“11 Der Hegelianismusverdacht mit seinem vermeintlichen Vernichtungspotential steht im Raum. Auch im Streitgespräch äußerte Sauter die Befürchtung, Pannenbergs Programm einer universalgeschichtlichen Gotteswissenschaft könne in der Konsequenz nolens volens „auf eine Theorie des Absoluten hinauslaufen, die dann auch noch als absolute Theorie ausgegeben wird“12 . Pannenberg hat in seinem Handexemplar (Pannenberg-Bibliothek 03258) am Rande „Wagner“ notiert und ein Fragezeichen gesetzt. Gemeint ist nicht Fausts Wagner, sondern Falk Wagner. Diese Spur wird der Schlussbeitrag des Herausgebers dieser Monographie unter Bezug auf Hegels Logik, die als Wissenschaftstheorie Theologie im Sinne von Absolutheitsphilosophie zu sein beansprucht, in epischer Breite verfolgen. Im Sommersemester 1971 las Wolfhart Pannenberg an der LMU vierstündig über „Theologie als Wissenschaft. Encyklopädie der theologischen Disziplinen“13 ; im vorhergehenden Wintersemester 1970/71 hatte er ein zweistündiges Seminar zu Hegels Philosophie der Religion und des Christentums angeboten. Unter den Teilnehmern ist mir ein Kommilitone in Erinnerung, der uns andere nicht nur hinsichtlich seiner körperlichen Größe überragte: Jürgen Werbick. 1973 promovierte er bei Heinrich

10 G. Sauter, Die Begründung theologischer Aussagen – wissenschaftstheoretisch gesehen, in: ZEE 15 (1971), 299–308, hier: 305. 11 Ders., Ansätze zu einer wissenschaftstheoretischen Selbstreflexion der Theologie, in: ders. (Hg.), Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie. Die Theologie und die neuere wissenschaftstheoretische Diskussion. Materialien. Analysen. Entwürfe (1971), München 1973, 19–49, hier: 48. „Grundzüge einer Wissenschaftstheorie der Theologie“ hat Sauter in seinem Schlussbeitrag entfaltet (vgl. 211–332, bes. 323 ff.: Die Regulierung kirchlichen Redens durch Dialogregeln). 12 S. M. Daecke, H. N. Janowski, W. Pannenberg, G. Sauter, Theologie als Wissenschaft. Ein Gespräch, 105. 13 Vgl. Liste der Lehrveranstaltungen W. Pannenbergs von 1959–1994, in: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“ – Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung. Eröffnung der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Münchner Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ, Göttingen 2015, 251–262, hier: 255.

Vorwort

Fries, Pannenbergs ökumenischem Partner, mit einer Studie zur Fundamentaltheologie Gerhard Ebelings: „Die Aporetik des Ethischen und der christliche Glaube“ (München/Paderborn/Wien 1976). Danach war er noch einige Jahre in München tätig, bis er nach seiner Habilitation mit der Schrift „Glaube im Kontext. Prolegomena und Skizzen zu einer elementaren Theologie“ (Zürich/Einsiedeln/Köln 1983) Professor zunächst an der Universität-Gesamthochschule Siegen und dann Nachfolger von Johann Baptist Metz an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster wurde. Aus Werbicks Münchner Zeit stammt ein Aufsatz mit dem Titel „Theologie als Theorie? Zur Diskussion um die Wissenschaftlichkeit der Theologie“. Einer der Grundsätze des Textes lautet: „Theologische Wissenschaft argumentiert, sie erhebt für ihre Hypothesen den (widerlegbaren) Anspruch der Allgemeingültigkeit; sie stellt den Gesprächspartner vor die Alternative, entweder falsifizierende Gegenargumente geltend zu machen oder aber die angemeldeten Geltungsansprüche zu akzeptieren.“14 Im 9. Pannenberg-Kolloquium war Werbick mit einem Beitrag zu Problemverschiebungen in den fundamentaltheologischen Diskussionen der katholischen Theologie seit Erscheinen von „Wissenschaftstheorie und Theologie“ vertreten. Zuvor hatte Winfried Löffler, ehemaliger Habilitand der Münchner Hochschule für Philosophie und derzeit Professor am Institut für Christliche Philosophie der Universität Innsbruck, das Werk aus der Distanz von fast einem halben Jahrhundert in wissenschaftstheoretischer Perspektive in den Blick genommen. Daran schloss Christoph Poetsch, der 2019 mit einer Studie zu „Platons Philosophie des Bildes“ an die Öffentlichkeit getreten war, systematische Überlegungen zu Logos und Logizität im Ausgang von „Wissenschaftstheorie und Theologie“ an. Alvin Plantinga, der u. a. mit seinem Versuch Aufsehen erregt hat, das sogenannte ontologische Argument von Anselm von Canterbury durch einen Schluss von der Möglichkeit auf die Notwendigkeit Gottes zu reaktivieren, ist im deutschen Sprachbereich einem breiteren Publikum durch die Übersetzung (2015) seines Werkes „Warranted Christan Belief “ (2000) bekannt geworden, in dem er wie auch sonst für die Vernünftigkeit christlicher Glaubensüberzeugungen eintrat. Der Frage, wie sich sein Rationalitätskonzept zu demjenigen Pannenbergs verhält, ist der Beitrag von Paul Schroffner gewidmet, der an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main lehrt. Entsprechendes gilt für Dirk Ansorge, der an der Frankfurter PTH das Fach Dogmatik vertritt. Er hat Pannenbergs Überlegungen zur Überwindung des Gegensatzes von Natur- und Geisteswissenschaften im Anschluss an Ernst Troeltsch analysiert.

14 J. Werbick, Theologie als Theorie? Zur Diskussion um die Wissenschaftlichkeit der Theologie, in: KuD 24 (1978), 204–228, hier: 228; bei W. kursiv.

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Vorwort

Troeltsch wird der Dogmatiker der religionsgeschichtlichen Schule genannt. Sein Theologiebegriff ist an einem stark individualisierten Verständnis von Religion und Christentum orientiert, in der sich „die mittlerweile verfestigte bürgerliche Individualkultur“ spiegelt. So hat es Harald Matern in seiner voluminösen Einleitung (1–194, hier: 147) zu dem von ihm und dem Basler Theologieprofessor Georg Pfleiderer herausgegebenen Sammelband „Die Religion der Bürger. Der Religionsbegriff in der protestantischen Theologie vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg“ (Tübingen 2021) notiert. In einem Epilog zu „‚Religion‘ und ‚Säkularisierung‘ in der deutschsprachigen protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts“ (995–1002) kommt er – N. B. auf Seite 1000 – kurz auch auf Pannenbergs „‚religions‘-theologisches Programm“ zu sprechen, das, wie es heißt, „das zentrale Anliegen der Liberalen und der Dialektischen Theologie aufnimmt, diese aber dergestalt auf eine anthropologische und wissenschaftstheoretische Grundlage stellt, dass es sich anschlussfähig an empirisch arbeitende Wissenschaften gibt“. Materns Erwägungen, ob Theologie als Wissenschaft der „Religion“ zu fassen sei, schließen daran an wie auf seine Weise auch der Beitrag von Felix Körner, der Unterschiede in Christentum und Islam in Bezug auf die Frage „Religionswissenschaft oder Theologie?“ erörtert. Körner, dem auch an dieser Stelle für sein jahrelanges Wirken im Vorstand der Hilke und Wolfhart Pannenberg-Stiftung herzlich gedankt sei, hat seit 2021 den Nicolaus Cusanus-Lehrstuhl für Theologie der Religionen am Zentralinstitut für Katholische Theologie der Humboldt-Universität Berlin inne. Veritas est adaequatio intellectus et rei, lautet der Grundsatz der Korrespondenztheorie der Wahrheit, der zufolge als Wahrheitskriterium die Übereinstimmung des erkennenden Intellekts mit der Sache fungiert, auf die sich das Erkenntnisinteresse richtet. Was es mit dieser Theorie näherhin auf sich hat und wie sie sich zur Kohärenz-, Konsens- bzw. zu sonstigen Theorien der Wahrheit verhält, wurde in Philosophie und Theologie seit alters intensiv erörtert. Thorsten Leppek hat diese Thematik in seiner 2017 publizierten Dissertation „Wahrheit bei Pannenberg“ ausführlich behandelt. Auf sie kommt er in seinem Beitrag „Absenz der Gewissheit – Präsenz der Wissenschaftstheorie“ zurück, der beim Kolloquium nicht eigens diskutiert werden konnte, weil der Verfasser an der Teilnahme verhindert war. Ebenfalls undiskutiert blieb der Text von Matthias Ruf zur Kritik der „Hermeneutischen Theologie“ in der Wissenschaftstheorie Pannenbergs, der nachgereicht wurde. Dr. Ruf ist seit Juni 2022 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Hermeneutik und Dialog der Kulturen an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen und u. a. für ein Forschungsprojekt „Talking about Divine Action“ tätig. Die systematische Bedeutung rezeptionsgeschichtlicher Studien für Pannenbergs Werk ist durch zwei Kolloquiumsbeiträge besonders herausgestellt worden. Georg Sans, Lehrstuhlinhaber für Religions- und Subjektphilosophie an der Hochschule für Philosophie München, thematisierte einen Aspekt von Pannenbergs ambivalen-

Vorwort

tem Verhältnis zu Kant, Friederike Nüssel, Ordinaria für Systematische Theologie und Direktorin des Ökumenischen Instituts an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, die Pannenbergsche Dilthey-Rezeption. Auf beide wird sogleich noch einmal zurückzukommen sein. Zunächst jedoch Folgendes: Theologie um deren Wissenschaftlichkeit es „Wissenschaftstheorie und Theologie“ wesentlich zu tun ist, ist dem Begriff nach Wissenschaft von Gott und zwar in allen ihren Disziplinen. Die Dogmatik als die theologische Königsdisziplin hat den Vorzug, dies zu wissen und Gott und ihn allein bewusstermaßen zum Thema zu haben. Wie Pannenberg sagt: „Dogmatik als Darstellung der christlichen Lehre muss … systematische Theologie sein, nämlich systematische Lehre von Gott und sonst nichts.“15 Der Gottesgedanke und die Frage nach seiner Wahrheit sind mithin A und O der Dogmatik und mit ihr der gesamten Theologie. Es war deshalb sachgemäß, ein Kolloquium zur „Wissenschaftstheorie und Theologie“ mit zwei Beiträgen zur Gottesfrage zu beschließen. Josef Schmidt, emeritierter Professor für Philosophische Gotteslehre und Geschichte der Philosophie an der Münchner Hochschule für Philosophie, erörterte die Formel von Gott als der alles bestimmenden Wirklichkeit im Anschluss an das fünfte Kapitel von „Wissenschaftstheorie und Theologie“, Thomas Oehl, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der LMU und bewährter Pannenberg-Exeget, fragt nach der Bedeutung des Wortes „Gott“, von dem Pannenberg sagt, es sei „zum ‚Schlüsselwort‘ für das Bewußtsein von der Welt im ganzen und von der Ganzheit des menschlichen Lebens geworden“16 . Geht dieses Wort und das Bewusstsein seiner Bedeutung verloren, dann gerät zwangsläufig der Sinn des Ganzen in Zweifel, was für die Wissenschaft und ihre Vernünftigkeit nicht folgenlos bleibt. Eine Wissenschaft, die um sich weiß und ein entwickeltes Bewusstsein ihres Selbst hat, kann der Gottesthematik und in der Folge dessen auch der Theologie nicht entbehren. In dieser Annahme stimmen bei allen sonstigen Differenzen der Systematische Theologe Wolfhart Pannenberg und der philosophische Absolutheitstheoretiker Georg Wilhelm Friedrich Hegel überein. Der Schlussbeitrag des Herausgebers erinnert daran. Sein Umfang sei mit einem Satz von Georg Sans entschuldigt, welcher lautet: „Es zählt zu den unbestreitbaren Eigenheiten der Logik Hegels, dass man nicht ein einzelnes Kapitel herausgreifen und sich mit ihm beschäftigen kann, ohne auf das Ganze Bezug zu nehmen.“17 Diese hermeneutische

15 W. Pannenberg, Systematische Theologie. Band 1, Göttingen 1988, 70. 16 A. a. O., 82. 17 G. Sans, Die Realisierung des Begriffs. Eine Untersuchung zu Hegels Schlusslehre, Berlin 2004, 13. Und weiter: „Auf den Umgang mit Hegels Wissenschaft der Logik trifft die Forderung, den Blick für das Ganze nicht zu verlieren, in dem Maß besonders zu, wie unklar ist, worum es in dem Buch überhaupt geht.“ (Ebd.) Sans zeigt anhand der Schlusslehre der Logik (Die Definition des Schlusses;

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Vorwort

Regel könnte auch von Wilhelm Dilthey stammen, den Pannenberg, wie F. Nüssel zeigt, intensiv rezipiert hat, um früh schon zu dem Schluss zu kommen, lieber ein Diltheyaner als ein Hegelianer zu sein. Als ein Sachbeleg unter vielen für Pannenbergs Bescheid „I never became a Hegelian“18 sei ein Passus aus dem Schlussabschnitt des ersten Kapitels der Systematischen Theologie über „Die Wahrheit der christlichen Lehre als Thema der systematischen Theologie“ angeführt, in dem von der „Relativität aller Erfahrung auf den geschichtlichen Ort (gehandelt) wird, an dem sie gewonnen wird“19 . Dort heißt es: „Solche Relativität braucht nicht zu bedeuten, daß es nichts Absolutes gibt und darum auch keine Wahrheit, die als solche stets absolut ist. Die Relativität als solche ist relativ auf den Gedanken des Absoluten, so daß mit ihm auch sie verschwinden würde. Aber zumindest für uns ist die Absolutheit der Wahrheit nur in der Relativität unserer Erfahrung und Reflexion zugänglich. Das bedeutet im Hinblick auf die Geschichtlichkeit der Erfahrung, wie Dilthey gezeigt hat, daß wir die wahre Bedeutung der Dinge und Ereignisse unserer Welt nicht endgültig zu bestimmen vermögen, solange der Gang der Geschichte weitergeht. Dennoch bestimmen wir faktisch die Bedeutung von Dingen und Ereignissen, indem wir Behauptungen über sie aufstellen. Doch solche Bedeutungszuweisungen und Behauptungen beruhen auf Antizipation.“20 Herzlich gedankt sei Frau Hilke Pannenberg und dem Vorstand der von ihr initiierten Stiftung für die Förderung der Erforschung des Werkes von Wolfhart Pannenberg generell sowie insbesondere für die Finanzierung der alljährlichen Kolloquien und der Pannenberg-Studien, in denen die Kolloquiumsbeiträge dokumentiert werden. München, 16. März 2023

Gunther Wenz

Die drei Figuren des Schlusses; Die Entwicklung des Schlusses) überzeugend, dass Hegel primär „weder Erkenntnistheoretiker noch Sprachphilosoph, sondern Metaphysiker“ (19) ist. 18 W. Pannenberg, An Autobiographical Sketch, in: C. E. Braaten/Ph. Clayton (Ed.), The Theology of Wolfhart Pannenberg, Minneapolis 1988, 11–18, hier: 16. Vgl. G. Wenz, Im Werden begriffen. Zur Lehre vom Menschen bei Pannenberg und Hegel, Göttingen 2021, bes. 45–70. 19 W. Pannenberg, Systematische Theologie. Band 1, 64. 20 Ebd.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort................................................................................................

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Winfried Löffler Ein wissenschaftstheoretischer Blick auf Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie nach einem halben Jahrhundert ............. 15 Jürgen Werbick Ist die Theologie eine Wissenschaft? Problemverschiebungen in den Diskussionen der katholischen Theologie seit Pannenbergs „Wissenschaftstheorie und Theologie“....................................................... 35 Christoph Poetsch Logos und Logizität. Systematische Überlegungen im Anschluss an Wolfhart Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie........................... 57 Paul Schroffner Ist der Glaube vernünftig? Zum Rationalitätsverständnis bei Plantinga und Pannenberg ...................................................................... 87 Dirk Ansorge Wissenschaftstheorie und Metaphysik der Geschichte bei Ernst Troeltsch und Wolfhart Pannenberg ......................................................... 109 Harald Matern Theologie als Wissenschaft der „Religion“. Überlegungen im Anschluss an Pannenbergs „Wissenschaftstheorie und Theologie“ ................ 133 Felix Körner Religionswissenschaft oder Theologie? Unterschiede in Christentum und Islam........................................................................... 181 Thorsten A. Leppek Absenz der Gewissheit – Präsenz der Wissenschaftstheorie. Beobachtungen und Überlegungen zur Bedeutung der Gewissheit rund um Pannenbergs wissenschaftstheoretische Grundlegung der Theologie im Jahre 1973 ......................................................................... 201

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Inhaltsverzeichnis

Matthias Ruf Unverständliches Verstehen. Zur Kritik der „Hermeneutischen Theologie“ in der Wissenschaftstheorie Wolfhart Pannenbergs .................... 219 Georg Sans Immanuel Kant über Theologie als positive Wissenschaft. Zu einer Bemerkung Wolfhart Pannenbergs........................................................... 237 Friederike Nüssel Wie ist die Erfahrung von Sinn möglich? W. Pannenbergs Rezeption von W. Diltheys hermeneutischer Grundidee und ihre Bedeutung für die Dialogfähigkeit der Theologie ....................................... 255 Josef Schmidt Gott als die „alles bestimmende Wirklichkeit“. Zum Kapitel 5 aus Wolfhart Pannenbergs Buch „Wissenschaftstheorie und Theologie“ (1973) .... 271 Thomas Oehl Zur Bedeutung des Wortes „Gott“ ............................................................ 279 Gunther Wenz Wissenschaftstheorie als Theologie. Zu Hegels Logik .................................. 293 Autorinnen und Autoren ........................................................................ 349

Winfried Löffler

Ein wissenschaftstheoretischer Blick auf Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie nach einem halben Jahrhundert

1.

Einleitung: Die Versuchungen rückblickender Einordnungen

In diesem Beitrag soll ein wissenschaftstheoretischer Blick bzw. Rückblick auf Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie (1973) geworfen werden, d. h. ich werde meine Aufmerksamkeit auf den ersten Teil des Buchtitels (und auch des Buches) fokussieren und die Beurteilung der theologischen Anwendungen von Pannenbergs wissenschaftstheoretischen Überlegungen anderen überlassen. Ich werde also primär die Frage stellen, welche Konzeption und Themenauswahl von Wissenschaftstheorie in Pannenbergs Buch erkennbar ist, welche Quellen und Hintergründe ihn dabei beeinflusst haben mögen und wie sich sein Werk in die wissenschaftstheoretische Diskussion der damaligen Zeit einfügt. Derlei rückblickende Einordnungen sind allerdings immer auch mit ambivalenten Versuchungen verknüpft: Einerseits der Versuchung, aus dem heutigen Kenntnisstand (50 Jahre später!) zu urteilen und das besprochene Werk als lückenhaft, überholt und bestenfalls als zeitgebundenes Produkt seiner Zeit zu relativieren, andererseits der Versuchung, überall nach schon vorhandenen Ansatzpunkten für spätere Entwicklungen zu suchen und dem besprochenen Werk mehr an visionärem und zukunftsweisendem Charakter zuzuschreiben, als es vielleicht hat. Beiden Versuchungen strebe ich zu widerstehen (vor allem dadurch, dass ich eine möglichst deskriptive Methodik philosophiegeschichtlichen Vergleichs verfolge); insgesamt wird sich Wissenschaftstheorie und Theologie als bemerkenswerter, aber auch da und dort problematischer Brückenschlag erweisen, der die Theologie des 20. und 21. Jahrhunderts – auch in seiner Ambivalenz – wohl nachhaltig beeinflusst hat. Nach einer Einführung in die Großthemen der Wissenschaftstheorie des 20. und 21. Jahrhunderts (Abschnitt 2) werde ich in Abschnitt 3 skizzieren, was davon sich in Wissenschaftstheorie und Theologie widerspiegelt (und was nicht), und der Frage nachgehen, warum dies so sein dürfte. Der abschließende Abschnitt 4 leitet daraus einige Folgerungen ab, wie man das Werk heute, aus der Distanz von einem halben Jahrhundert, betrachten und lesen sollte.

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Winfried Löffler

2.

Großthemen der Wissenschaftstheorie im 20. und 21. Jahrhundert

Um Pannenbergs Rezeption von Fragestellungen der Wissenschaftstheorie für die Theologie sachlich und historisch einordnen und beurteilen zu können, ist es nützlich, zunächst die großen Themen zu identifizieren, die die Wissenschaftstheorie im 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart beschäftigt haben bzw. noch beschäftigen.1 In einer sehr großflächigen Betrachtung sind dies meines Erachtens die folgenden drei (die allerdings z. T. miteinander verklammert sind): Erstens verschiedene Facetten des Theorie-/Empirie-Problems, zweitens die Entdeckung des gesellschaftlichen Rahmens bzw. Kontextes der Wissenschaft und drittens (vielleicht als Fortentwicklung und Verschärfung des zweiten zu verstehen) die Frage nach dem Verhältnis von Konstruktion, Geltungsanspruch und Realität in den Wissenschaften, wie sie verschärft in radikalen Konstruktivismen und in verschiedenen Formen postmodernen Denkens gestellt wird. a.

Facetten des Empirie-/Theorieproblems

Die methodologischen Debatten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor allem um den Unterschied von Natur- und Geisteswissenschaften kann man bereits als eine Variante des Empirie-/Theorie-Problems sehen: Wie kann sich ein theoretischer Zugriff auf die Welt auf Erfahrungs-Inputs (im weiteren Sinne) stützen? Für die Geisteswissenschaften haben Wilhelm Dilthey u. a. auf die Fähigkeit des Verstehens von Einzelnem in seinem Kontext verwiesen, während für gesetzesaufsuchende Wissenschaften das Erklären des Einzelnen aus größeren regelhaften Zusammenhängen als Zielvorstellung im Vordergrund stand – in seiner reinsten Form ist es in physikalischen Erklärungen des einzelnen Vorgangs aus Gesetzen verwirklicht, die auch für vergleichbare Fälle prognosefähig sind. Einen markanten und puristischen Lösungsweg zu diesem Empirie-/Theorieproblem beschritt die Wissenschaftstheorie des logischen Positivismus des „Wiener Kreises“ (bzw. nach der Emigration der meisten Mitglieder ab 1936 in die USA des logischen Empirismus).2 Sie ist für fast die gesamte spätere Wissenschaftstheorie

1 Einführungen in die Wissenschaftstheorie mit einem Blick auf deren Geschichte liefern u. a. Stephan Kornmesser/Wilhelm Büttemeyer, Wissenschaftstheorie. Eine Einführung, Stuttgart: Metzler 2019; Harald Wiltsche, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2 2021; Alan F. Chalmers, Wege der Wissenschaft. Einführung in die Wissenschaftstheorie, Berlin/ Heidelberg: Springer 6 2007. 2 Für eine Übersicht siehe Friedrich Stadler, Der Wiener Kreis: Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext (Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis 20), Berlin u. a.: Springer 2015; Christian Damböck (Hg.), Der Wiener Kreis. Ausgewählte Texte (Universal-Bibliothek 19002), Stuttgart: Reclam 2013.

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insofern prägend geworden, als sie radikale Positionen bereitstellte, an denen sich die Nachfolgeströmungen abarbeiteten. Gekennzeichnet ist sie zumindest von ihrem Ansatz her von den Forderungen (1) der strengen empirischen Fundierung sämtlicher außerlogischer Behauptungen, und zwar nicht nur was ihre Begründung angeht, sondern bereits ihren Sinn: Gemäß dem empiristischen Verifikationsprinzip haben außerlogische Behauptungen nur dann einen angebbaren Sinn, wenn es für sie eine empirische Verifikationsmethode gibt; (2) der Suche nach größtmöglicher Gewissheit, Irrtumsresistenz und Öffentlichkeit der empirischen Basis; (3) des Verzichts auf jegliche metaphysische Voraussetzungen (die gar sprachlich gar nicht klar und sinnvoll explizierbar wären) sowie (4) des „induktivistischen“ Aufstiegs von der Empirie zur Theorie, deren Wahrscheinlichkeit im Idealfall abschätzbar sein sollte; sehr bald legte sich aber durch interne Diskussionen im Wiener Kreis und durch Einwände von außen nahe, dass dieses puristische Programm wohl nicht durchzuhalten war. Der vermutlich wirkmächtigste Gegenwind kam ab den 1930er Jahren von Karl Popper und seiner später „kritischer Rationalismus“ genannten Denkschule.3 Anhand der eben genannten vier Punkte lassen sich einige Hauptunterschiede zum Wiener Kreis herausarbeiten. Nach Popper besteht (1) die empirische Fundierung der Wissenschaft in sogenannten Basissätzen, deren Anerkennung aber selbst Gegenstand der vorläufigen Übereinkunft und damit auch der Revision ist, (2) ersetzt ein genereller Fallibilismus aller wissenschaftlichen Behauptungen den Certismus des Wiener Kreises, (3) gibt es nach Popper genuine metaphysische Probleme, die kritischer Erörterung durchaus zugänglich sind, und (4) ist der Induktivismus psychologisch wie logisch falsch: Denn wenn Menschen wissenschaftlich forschen, dann haben sie immer schon theoretische Vermutungen, auf denen aufbauend sie Experimente ersinnen. Es ist also nicht so, dass von Beobachtungen zu Theorien aufgestiegen wird, sondern dass wir unsere Vermutungen an der Erfahrung überprüfen. Und aus logischer Sicht können Beobachtungen auch niemals Theorien erhärten oder wahrscheinlicher machen (weil wir ja niemals wissen, „wieviel von der Gesamtwirklichkeit“ wir bereits überprüft haben); es ist vielmehr so, dass unerwartete Beobachtungen dazu führen können, dass falsche Vermutungen eliminiert und durch bessere ersetzt, also damit „falsifiziert“ werden können. Theorien, die den Test durch die Beobachtung lange „überleben“, kann man nur als bewährt, aber nicht „bestätigt“ betrachten, und langfristig – so Poppers Hoffnungspostulat – nähere sich die Wissenschaft durch diesen Prozess von Vermutungen und Widerlegungen einer wahrheitsnäheren Gesamtsicht der Wirklichkeit an. 3 Karl R. Popper, Logik der Forschung [1 1934], Tübingen: Mohr Siebeck 11 2005. Einen guten Überblick über Poppers Gedankenwelt bietet David Miller (Hg.), Karl Popper Lesebuch. Ausgewählte Texte zur Erkenntnistheorie, Philosophie der Naturwissenschaften, Metaphysik, Sozialphilosophie (UniTaschenbücher 2000), Tübingen: Mohr Siebeck 2 1997.

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Später, auch in Reaktion auf die (unter Punkt b. zu besprechende) Theoriendynamik Thomas S. Kuhns, hat Poppers zeitweiliger Assistent Imre Lakatos daraus einen „Sophisticated Fallibilism“ entwickelt:4 Nicht alle Behauptungen in der Wissenschaft haben gleichermaßen mit Falsifikation zu rechnen, so Lakatos. Wissenschaft sei vielmehr de facto organisiert in Form „wissenschaftlicher Forschungsprogramme“, die eine zweischichtige Struktur haben: Bildlich gesprochen, legt sich um einen harten Kern aus Überzeugungen, die man als unproblematisch gesichert betrachtet und nicht mehr zur Disposition stellt (sie ähneln Kuhns Paradigmen, dazu sogleich), ein Gürtel aus Hilfshypothesen, die Poppers falsifizierbaren Hypothesen ähneln. „Wissenschaftlicher Fortschritt“ besteht nun darin, dass dieser Gürtel von Hilfshypothesen erfolgreich erweitert wird: Durch neue Hypothesen, die einerseits alte irritierende Beobachtungen („Anomalien“) erklären, andererseits aber noch einige andere testbare empirische Konsequenzen haben (und diesen Test auch überleben). In weiterer Folge, einige Zeit nach dem Erscheinen von Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie, sollte dieses Empirie/Theorie-Problem in verschiedenen Richtungen aufgebrochen werden: So etwa schlug Bas van Fraassens pragmatistisches Modell des wissenschaftlichen Erklärens5 wieder eine Brücke von den Naturwissenschaften in Richtung der historischen Wissenschaften: Erklärungen, so van Fraassen, seien im Kern aufschlussreiche Antworten auf „warum“-Fragen, aber diese Fragen können sehr verschiedene Richtungen haben (man könnte darin sogar ein gewisses Revival der aristotelischen Vierursachenlehre erblicken6 ). Damit erscheint der Graben z. B. zwischen naturwissenschaftlichen und historischen Erklärungsmustern ebenso überbrückbar wie die oft hochgespielte Polarisierung zwischen Erklären und Verstehen als Zielen der Wissenschaften. Larry Laudan erhob die grundsätzlichere Anfrage, ob die bisherige Fokussierung der wissenschaftstheoretischen Aufmerksamkeit auf das Theorie/Empirie-Problem überhaupt angemessen ist: Beispielsweise ist es in den Grundlagenbereichen der Physik ja oft so, dass Fortschritte nicht nur durch die Anpassung von Theorien an neue Beobachtungen erzielt werden, sondern oft auch durch Neustrukturierungen und Optimierungen innerhalb des theoretischen Bereichs.7 4 Imre Lakatos, Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme (Philosophische Schriften Band 1). Hg. von John Worrall/Gregory Currie, Wiesbaden: Springer 1982. 5 Bas van Fraassen, The Scientific Image, Oxford: Clarendon Press 1980. Deutsche Teilübersetzung in Gerhard Schurz (Hg.), Erklären und Verstehen in der Wissenschaft, München: Oldenbourg 1988, 31–89. 6 Winfried Löffler, Integrative Erklärungen. Konvergierende Tendenzen zwischen Metaphysik und Wissenschaftstheorie? In: ders. (Hg.), Metaphysische Integration. Essays zur Philosophie von Otto Muck, Frankfurt u. a.: Ontos 2010, 91–111. 7 Larry Laudan, Progress and Its Problems: Towards a Theory of Scientific Growth, Berkeley u. a.: University of California Press 1978. Merkwürdigerweise ist Laudan in seiner potentiellen theologischen

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b.

Die Entdeckung des gesellschaftlichen und historischen Rahmens der Wissenschaft

In der öffentlichen Wahrnehmung sind diese letzteren Entwicklungen aber stark überlagert worden durch die Konjunktur des zweiten Großthemas der Wissenschaftstheorie, nämlich die zunehmende Bewusstwerdung der Tatsache, dass Wissenschaft immer auch eine gesellschaftliche Aktivität in einem bestimmten historischen Kontext ist. Trotz aller Unterschiede zwischen dem Logischen Positivismus/ Empirismus und dem Kritischen Rationalismus hatten die beiden doch eine grundsätzliche Sichtweise geteilt: nämlich den Blick auf die Wissenschaften als eines im Großen und Ganzen rationalen, planmäßigen, auf die Inhalte und logischerkenntnistheoretischen Strukturen fokussierten Vorgehens, das man unabhängig von seiner Geschichte und seinen sozialen Einbettungen untersuchen kann. Im angelsächsischen Raum wurde diese Betrachtungsweise durch Thomas S. Kuhn, sein bekanntes Buch The Structure of Scientific Revolutions (1962, deutsch 1967)8 und die darin skizzierte „Theoriendynamik“ erschüttert: (Natur-)Wissenschaften durchliefen, historisch gesehen, eine Art Karriere von (1) einer „vornormalen“ Entstehungsphase, in der ein Phänomenbereich durch eine Art unsystematisches Herumprobieren erschlossen wird, über (2) eine Phase der „normalen“ Wissenschaft, wo sich herrschende Auffassungen, Grundannahmen und Praktiken zu einem „Paradigma“ verfestigen und die WissenschaftlerInnen insgesamt das Gefühl haben, die Dinge in großen Zügen zu verstehen und sich auf bloße Lückenfüllungen, Ergänzungen und Abrundungen in ihrer Weltsicht (das sogenannte „puzzle solving“) beschränken zu können. Dennoch gibt es auch in dieser Periode sogenannte Anomalien, also Beobachtungen, die es eigentlich nicht geben dürfte, weil sie nicht zum Gesamtbild passen und mit den herrschenden Theorien nicht erklärbar sind. Diese mögen einige Zeit kleingeredet und beiseitegeschoben werden, irgendwann nehmen aber – besonders unter jüngeren WissenschaftlerInnen – die Zweifel am herrschenden Paradigma überhand und es wird versuchsweise eine neue Sichtweise ausprobiert: Damit ist (3) der Zustand einer wissenschaftlichen Revolution erreicht, die zu neuen Theoriebildungen führt, die mit den alten „inkommensurabel“ sind, also von ihrer Begrifflichkeit und Zugangsweise her so grundlegend anders, dass sie nicht einmal ineinander übersetzbar sind. Ob es plausible Beispiele solcher tiefgreifenden wissenschaftlichen Revolutionen bzw. solcher „Paradigmenwechsel“ in der Wissenschaftsgeschichte wirklich gibt, ist bald bestritten worden: Der Übergang

Relevanz bisher noch kaum entdeckt worden; eine Ausnahme ist Edwin El-Mahassni, Larry Laudan’s Research Traditions with Applications to Understanding the Development of Christian Doctrine, in: Philosophy and Theology 28 (2016), 331–349. 8 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt: Suhrkamp 13 1996.

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von der klassischen, Newtonschen Physik zur relativistischen oder zur Quantenphysik dürfte kaum z. B. in Frage kommen (bis heute bezieht sich ein Großteil eines Physikstudiums auf Theorien, die aus dem 19. Jahrhundert oder älteren Epochen stammen!), und auch die langsame Durchsetzung der Evolutionsbiologie führte keineswegs dazu, dass sämtliche Errungenschaften der Biologie vorher (vor allem nicht ihre Datenmengen, etwa aus der Taxonomie und funktionalen Anatomie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts) irrelevant geworden wären. Das vermutlich plausibelste Beispiel einer wissenschaftlichen Revolution Kuhnschen Zuschnitts dürfte der Übergang von der aristotelischen zur neuzeitlichen Physik mit ihren grundlegend unterschiedlichen Erklärungsinteressen und Beschreibungsweisen sein (eine Diskrepanz, die übrigens Kuhn selbst werkgeschichtlich zu seinen Forschungen anregte). Überhaupt hatten Kuhns Theorien ein merkwürdiges weiteres Schicksal: Obwohl von einem Physiker ersonnen und mit physikgeschichtlichen Beispielfällen arbeitend, fanden sie in den Naturwissenschaften sehr viel weniger Widerhall als in den Sozial- und politischen Wissenschaften, der Pädagogik, den Literaturwissenschaften etc., und die Rede vom „Paradigma“ und vom „Paradigmenwechsel“ ist ins gebildete Alltagsdeutsch ebenso tief eingegangen wie auch z. B. ins theologiegeschichtliche Vokabular. Kuhn selbst sah diese Übertragungen seiner Theorien in außerphysikalische und überhaupt nicht-empirische Wissensbereiche hinein übrigens sehr kritisch, wie sein (leider wenig gelesenes) Postskriptum zur zweiten Auflage 1969 zeigt. Die längerfristige Konjunktur des Gedankens einer generellen Geschichts- und Kontextrelativität sämtlicher Theorien und Faktenbehauptungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften hat dies nicht aufgehalten – zunächst in den USA und etwas zeitverschoben auch in Europa. Die deutschsprachigen, vor allem von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, J. Habermas u. a.) angestoßenen Diskussionen zum historischen und gesellschaftlichen Rahmen der Wissenschaften betrafen vor allem das Verhältnis von Wissenschaft, Gesellschaft und politischen Interessenlagen. Während ein traditionelles Wissenschaftsverständnis die jeweils herrschenden Interessen unhinterfragt gelassen und Wissenschaft als von ihnen unabhängig und gesellschaftspolitisch neutral angesehen habe, habe kritische Wissenschaft stets auch das Ziel gesellschaftlicher Veränderung hin zu möglichst vernünftigen Zuständen im Auge. Erkenntnis und Interesse hingen untrennbar zusammen, und auch in der scheinbar wertfreiesten empirischen Untersuchung werde bestimmten Interessen zu- und anderen entgegengearbeitet (allein vielleicht schon dadurch, welche Fragen thematisiert und welche gar nicht erst gestellt werden). Diese unterschiedlichen Erwartungen an die Wissenschaften kamen im sogenannten „Positivismusstreit“ der 1960er und 1970er Jahre zum Ausdruck, der teilweise den Werturteilsstreit der deutschsprachigen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften

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nach 1909 wieder auflegte.9 Anzumerken ist, dass der „Positivismus“ dabei zum Teil ein Konstrukt bzw. eine Projektion ist, während der zum Hauptgegner der Kritischen Theorie stilisierte Kritische Rationalismus Poppers und Hans Alberts im Grunde ähnliche gesellschaftspolitische Ideale verfolgte wie die Kritische Theorie: Auf beiden Seiten herrschten ja Zielvorstellungen wie die Maximierung der Freiheit des Individuums, die Durchsetzung der Menschenrechte und die Einhegung von Machtverhältnissen durch möglichst transparente, demokratische Entscheidungsprozesse in der Gesellschaft sowie die Rechenschaftspflichtigkeit von MachtträgerInnen. c.

Das Verhältnis von Konstruktion, Geltungsanspruch und Realität in den Wissenschaften

Eine Gemengelage verschiedener, aber miteinander verwandter Motive, die teils von Kuhn und der Frankfurter Schule, aber teils auch von anderswoher einflossen (zu nennen sind hier u. a. evolutionäre Erkenntnistheorien, aber auch einzelne Strömungen des Neukantianismus, der Phänomenologie und der Existenzphilosophie), führte seit den 1970er Jahren zur Entwicklung verschiedener radikaler Konstruktivismen (mit teils mehr biologistischen, teils mehr sozialphilosophischen Begründungen)10 und postmodernistischer11 Denkweisen. Im Vergleich zu den früher erörterten Richtungen stellen diese Positionen nochmals grundlegendere Anfragen an die erkenntnistheoretischen und ontologischen Voraussetzungen, die wir bei der wissenschaftlichen Tätigkeit machen: Eine „Wirklichkeit“ unabhängig von biologischen, besonders neurophysiologischen und/oder sozialen Konstruktionsprozessen, an die man sich wissenschaftlich immer mehr annähert, gäbe es nicht (bzw. sie wäre auf keinem Wege erkennbar), und was wir als „wissenschaftliche Tatsachen“ einordnen, sei in Wahrheit immer relativ zu den gesellschaftlich herrschenden Auffassungen zu betrachten. Kontext- und konstruktionsfreie Tatsachen gebe es nicht, und die Auffassung einer wissenschaftlichen Annäherung an die Wahrheit sei schon im Kern verfehlt. Was wir als „gesicherte Erkenntnis“ einstufen, 9 Hans-Joachim Dahms, Positivismusstreit: Die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus, Frankfurt: Suhrkamp 1994. 10 Siehe z. B. Siegfried J. Schmidt (Hg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt: Suhrkamp 1987 sowie den Tagungsband Theo Hug/Josef Mitterer/Michael Schorner (Hg.), Radikaler Konstruktivismus – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Ernst von Glasersfeld (1917–2010), Innsbruck: Innsbruck University Press 2019. 11 Angesichts der notorischen definitorischen Unsicherheiten um die Begriffe und der Uferlosigkeit des Schrifttums sind Literaturangaben hier prekär; Gary Aylesworths Lemma „Postmodernism“ in der Stanford Enyclopedia of Philosophy kann aber als grobe Hinführung dienen: https://plato. stanford.edu/entries/postmodernism/, abgerufen 12.3.2023.

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seien in Wahrheit eben nur härtere Segmente der biologisch und sozial konstruierten und akzeptierten Wirklichkeitskonstruktion. Eine einflussreiche sozialphilosophische Akzentuierung erfährt dieses Denken bei Michel Foucault, Bruno Latour u. a.: Wissenschaft wird hier auch stark in ihrer Funktion als „Machtdispositiv“, d. h. komplexes gesellschaftliches Herrschaftsinstrument zur Sicherstellung vorherrschender Denkweisen und zur Domestizierung und Delegitimierung Andersdenkender gesehen. Als Wissenschaftstheorie führen radikal-konstruktivistische und postmodernistische Auffassungen ein eigentümliches Dasein: Während sie in den Naturwissenschaften, technischen und Rechtswissenschaften kaum wahrgenommen und innerhalb der professionellen Philosophie aufgrund ihrer markanten Selbstwidersprüchlichkeit und ihrer de facto starken metaphysischen Voraussetzungen (es soll eine evidente und kontextfreie Grundtatsache von umfassender metaphysischer Tragweite sein, dass es keine kontextfreien Tatsachen gibt!)12 insgesamt wenig ernstgenommen werden, bilden sie in weiten Teilen der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, insbesondere in der Pädagogik und in den Medienwissenschaften, aber zunehmend auch in einzelnen theologischen Disziplinen, eine selbstverständliche Hintergrundphilosophie. d.

Der Sonderfall Deutschland und Österreich

Zur Einordnung des historischen Orts von Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie sollte auch auf den philosophiegeschichtlichen Sonderfall Deutschlands und Österreichs hingewiesen werden, was die Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 20. Jahrhundert betrifft: In beiden Ländern wurde der Großteil der wissenschaftstheoretischen Elite durch das heraufziehende Dritte Reich ins (meist amerikanische) Exil gezwungen. Dies nicht nur deshalb, weil die Arbeitsumstände nach 1933 an deutschen und nach 1938 an österreichischen Universitäten immer schwieriger wurden, sondern vor allem deshalb, weil viele Mitglieder der Frankfurter Schule und des Wiener Kreises politisch dem Marxismus nahestanden und – wie auch Karl Popper – meist einen jüdischen Familienhintergrund hatten. Im Unterschied zu Deutschland, wohin die Mitglieder der Frankfurter Schule in den Nachkriegsjahren wieder zurückkehrten und großen Einfluss entwickeln sollten, wurde in Österreich keine ernsthaften Initiativen unternommen, die Mitglieder des Wiener Kreises für eine Rückkehr nach Österreich oder auch nur eine stärkere universitäre Präsenz dort zu gewinnen; Karl Popper hatte u. a. wegen des weiter in Österreich schwelenden Antisemitismus kein Interesse an einer dauerhaften

12 Paul Boghossian, Angst vor der Wahrheit: Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus, Frankfurt: Suhrkamp 2013.

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Rückkehr. Dieser brain drain führte zu gewichtigen Neuakzentuierungen innerhalb der US-amerikanischen und britischen Philosophie, umgekehrt aber zu einer verspäteten und zaghaften Rezeption der analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie im deutschsprachigen Raum, obwohl sie dort ja eine wesentliche Wurzel gehabt hatte. Im Nachkriegsdeutschland lief diese Rezeption vor allem über kleinere Gruppen von Logikern, etwa den Kreis um Wilhelm Britzelmayr in München; in Österreich waren die Sommertagungen des Europäischen Forums im Tiroler Bergdorf Alpbach eine Gelegenheit, vor allem Karl Popper, aber auch anderen ausländischen Philosophen und Wissenschaftstheoretikern zu begegnen. e.

Die Rolle Wolfgang Stegmüllers

Eine überragende Rolle für die – wenn auch verspätete – breitere Rezeption der analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie im deutschsprachigen Raum spielte der österreichisch-deutsche Philosoph und Pannenbergs Münchner Kollege Wolfgang Stegmüller (1923–1991). Sein erfolgreichstes Werk, die Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie13 waren in 1. Auflage und einbändig 1952 erschienen, erfuhren in der Folge mehrere Neuauflagen und Erweiterungen bis zur vierbändigen letzten Auflage von 1989 und sollten jahrzehntelang (und bis heute) von zahllosen Studierenden gelesen werden. Die Entstehungsgeschichte dieses Werks ist komplex und teils etwas eigentümlich:14 Die erste Auflage fiel zwar in eine Zeit, in der auch Stegmüllers eigene Hinwendung zur Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie vor sich ging, enthält aber nur einen Beitrag über den Wiener Kreis. Dafür enthält das Buch Beiträge zu heute weitgehend vergessenen, aber damals en vogue gewesenen Philosophen (Robert Reininger, Paul Häberlin u. a.), die jedoch in alle späteren Auflagen mit übernommen wurden. Ab der zweiten, neubearbeiteten und erweiterten Auflage 1960 änderte sich dieses Bild grundlegend: Ab dort werden großflächig (wenngleich zum Teil auch durchaus zeitgebunden und nicht flächendeckend – etwa wurden dem Kritischen Rationalismus nur 5 Seiten gewidmet, und der Pragmatismus kommt gar nicht ins Bild) nur mehr Beiträge aus dem Umkreis der analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie in die Neuauflagen aufgenommen. Von Pannenberg wissen wir, dass er zumindest die 3.Auflage der Hauptströmungen von 1965 besaß, in der neben dem Wiener Kreis

13 Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Wien/Stuttgart: HumboldtVerlag 1 1952; ab der zweiten, neubearbeiteten und erweiterten Auflage 1960 Stuttgart: Kröner. 14 Christian Damböck, Wolfgang Stegmüller und die „kontinentale Tradition“: Zur Entstehung und Konzeption der „Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie“, in: Friedlich Stadler (Hg.): Vertreibung, Transformation und Rückkehr der Wissenschaftstheorie. Am Beispiel von Rudolf Carnap und Wolfgang Stegmüller, Wien/Berlin: Lit 2010, 253–270.

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ein neues allgemeineres Kapitel über analytische Philosophie (Wissenschaftstheorie der empirischen Wissenschaften, Universalienproblem, Leib-Seele-Problem, analytische Ethik) sowie ein neues Kapitel über Wittgenstein enthalten war.15 Wittgenstein sollte auch besonders im Hermeneutik-Kapitel von Wissenschaftstheorie und Theologie markant vorkommen. Parallel zu den späteren Auflagen seiner Hauptströmungen arbeitete Stegmüller, teils mit Mitarbeitern, auch an seinem mehrbändigen und vielhundertseitigen Opus Magnum Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, das ab 1969 in unregelmäßigen Abständen in Bänden und Teilbänden erschien.16 Auch dieses Werk hat starken Rezeptionscharakter, zeigt mitunter innere thematische Überlappungen und lässt Stegmüllers fortschreitendes Arbeiten an den besprochenen Themen deutlich erkennen; dass es schwer zu lesen ist, hat Stegmüller selbst erkannt und mit einer „Gebrauchsanweisung für den Leser“ im ersten Band sowie ausführlichen Vorworten und Einleitungen gegengesteuert. Pannenberg hat mit Teilen aus dem ersten Band („Wissenschaftliche Erklärung und Begründung“) erkennbar gearbeitet, besonders was das Verhältnis naturwissenschaftlicher und historischer Erklärungen angeht. Erwähnung verdient schließlich auch, dass Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie in einer Zeit entstand, in der die Wissenschaftstheorie im deutschen Sprachraum generell eine starke Konjunktur erlebte, die sich auch publikationsmäßig niederschlug: Zwischen 1969 und 1973 erschien eine ganze Reihe von größeren Übersichts- und Einführungsmonographien,17 die jedoch – mit der möglichen

15 Pannenberg schreibt an Stegmüller im Brief vom 6.2.79 (also sechs Jahre nach dem Erscheinen von Wissenschaftstheorie und Theologie): „Sehr verehrter, lieber Herr Kollege Stegmüller, mit bestem Dank erhielt ich die beiden Bände Ihrer ‚Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie‘, die Sie mir so freundlich gewidmet haben. Ich habe mich darüber sehr gefreut, zumal meine alte Ausgabe von 1965 die Kapitel des zweiten Bandes noch nicht enthielt. […]“ (Universität Innsbruck, Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachlass Wolfgang Stegmüller, Kassette 67). Das ist zwar genau genommen noch kein strikter Beweis, dass Pannenberg dieses Buch auch bereits zur Abfassungszeit von Wissenschaftstheorie und Theologie besaß und benutzte, die generelle starke Präsenz Stegmüllers (vor allem in Gestalt des 1. Bandes der Probleme und Resultate) in Pannenbergs Buch spricht aber dafür. – Ich danke Herrn Mag. Michael Schorner (Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck) für die Zugänglichmachung der Archivalien aus dem dort betreuten Nachlass von Wolfgang Stegmüller. 16 Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Berlin u. a.: Springer 1969ff. 17 Helmut Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bände 1–2, München: Beck 1969/1970 (ein 3. Band erschien 1985); Wilhelm K. Essler, Wissenschaftstheorie, Bände 1–3, Freiburg: Alber 1970/ 71/73; Paul Weingartner, Wissenschaftstheorie 1: Einführung in die Hauptprobleme; 2.1: Grundlagenprobleme der Logik und Mathematik, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1971/1976; Franz von Kutschera, Wissenschaftstheorie: Grundzüge der allgemeinen Methodologie der empirischen Wissenschaften (2 Bände), München: Fink 1972; Hans Lenk, Erklärung – Prognose – Planung. Skiz-

Ein wissenschaftstheoretischer Blick auf Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie

Ausnahme von Elisabeth Ströker, von der ein thematisch verwandter Aufsatz öfters verwendet wird – in Pannenbergs Buch keine Spuren hinterlassen haben. Erwähnenswert ist weiters, dass sich Wissenschaftstheorie und Theologie in Pannenbergs Bibliographie18 eigentümlich insular ausnimmt: Auch wenn das Thema der Wahrheit theologischer Sätze, der Struktur historischen Verstehens und der Relevanz historischer Ereignisse immer wieder einmal thematisiert wird, so finden sich weder vorher noch nachher derart tiefe Einlassungen auf Fragen der Wissenschaftstheorie wie eben in Wissenschaftstheorie und Theologie.19 f.

Zeittafel des Umkreises von Wissenschaftstheorie und Theologie

Im Folgenden wird der historische Kontext von Wissenschaftstheorie und Theologie nochmals in Form einer (keineswegs vollständigen) Zeittafel vor allem wichtiger Publikationen aus dem deutschsprachigen Raum zusammengefasst. Wichtig für das Folgende ist dabei, dass diese Zeittafel eben auch Werke und Entwicklungen mitumfasst, die Pannenberg nicht oder kaum in seinem Buch rezipiert hat – teils aus naheliegenden zeitlichen Gründen, teils aus irgendwelchen anderen Gründen. 1960 W. Stegmüller, 2. Auflage der Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie mit deutlichen Bezügen zur Wissenschaftstheorie; Pannenberg besitzt (zumindest) die ähnliche 3. Auflage 1965. 1961ff „Positivismusstreit“ innerhalb der deutschsprachigen Sozialwissenschaft 1962 (dt. 1967) T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 1965 W. Stegmüller, 3. Auflage der Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie mit neuen Kapiteln über analytische Philosophie und über Wittgenstein; Pannenberg besitzt (zumindest) diese Auflage. 1967 J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften 1968 J. Habermas, Erkenntnis und Interesse 1969 W. Stegmüller, Band I von Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung 1970 W. Stegmüller, Band II/1 von Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie: Theorie und Erfahrung 1973 W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie

ze zu Brennpunktproblemen der Wissenschaftstheorie, Freiburg: Rombach 1972; Elisabeth Ströker, Einführung in die Wissenschaftstheorie, München: Nymphenburger 1973. 18 https://www.hfph.de/forschung/wissenschaftliche-einrichtungen/religionsphilosophie/pannenbergforschungsstelle/bibliographie-pannenberg-1953–2008.pdf, abgerufen am 23.2.2023. 19 Am deutlichsten noch in Pannenbergs Beiträgen in W. Pannenberg/G. Sauter/S. M. Daecke, Grundlagen der Theologie. Ein Diskurs. Stuttgart: Kohlhammer 1974.

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1973 W. Stegmüller, Band II/1 von Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie: Theorie und Erfahrung (mit ausführlicher Darstellung Kuhns) 1973 W. Stegmüller, Band IV/1 von Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie: Personelle und statistische Wahrscheinlichkeit 1975 W. Stegmüller, (zweibändige) 5. Auflage der Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie mit neuen Kapiteln über analytische Philosophie, das naturwissenschaftliche Weltbild und Thomas Kuhn. Pannenberg erhält diese Auflage 1979 als Geschenk.

3.

Was davon in Wissenschaftstheorie und Theologie vorkommt, was nicht, und warum

Betrachten wir nach diesen Aufhellungen des historischen Kontexts näher, was sich an wissenschaftstheoretischen Fragestellungen und Inhalten in Wissenschaftstheorie und Theologie findet; wir gehen dazu zunächst den vermutlichen Hauptquellen Pannenbergs bei der Abfassung dieses Werks nach, fragen dann nach den vorkommenden Themen und Fragestellungen und stellen dann die Gegenfrage, was an Themen und Fragestellungen dort nicht vorkommt. a.

Vermutliche Hauptquellen Pannenbergs zur Wissenschaftstheorie

Ein Blick in den Text von Wissenschaftstheorie und Theologie, insbesondere die dortigen Verweise, lässt in Zusammenhalt mit den bisherigen Überlegungen etwa folgende fünf Hauptquellen Pannenbergs für seine Auffassungen von Wissenschaftstheorie vermuten: aa. Die Debatte der 1950er um die Bedeutung religiöse Sprache, die besonders von dem klassisch gewordenen Aufsatzkonvolut Theology and Falsification von A. Flew, R.M. Hare sowie (weniger bekannt) B. Mitchell und I.M. Crombie (1955) Impulse bekommt. Den wissenschaftstheoretischen Hintergrund dieser Diskussion bilden die Anfragen des logischen Empirismus und des kritischen Rationalismus: Da viele religiöse Aussagen weder als verifizierbar noch als falsifizierbar erscheinen, stellt sich die Frage nach ihrem Sinn und ihrer Begründung. bb. Die Hermeneutik-Tradition nach Wilhelm Dilthey, Hans Georg Gadamer und anderen sowie die dortigen Überlegungen zum historischen Erklären und Verstehen, wozu auch Arthur C. Dantos Analytische Philosophie der Geschichte (1965) als Ergänzung herangezogen wird. cc. Die großen Schriften der Hauptkontrahenten im Positivismusstreit (Karl Popper, Hans Albert und Jürgen Habermas), soweit sie bis ca. 1971 erschienen waren. dd. Wolfgang Stegmüllers Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie im Status der 3. Auflage 1965 sowie vor allem der Band I seiner Probleme und Resultate

Ein wissenschaftstheoretischer Blick auf Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie

der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung (1969) und Teile der dort erwähnten Literatur. Stegmüller dürfte Pannenbergs Hauptquelle u. a. zum logischen Empirismus sein, aber auch zur moderneren Diskussion um historisches Verstehen. ee. Und schließlich sind lokal, für einzelne wissenschaftstheoretisch relevante Teilkapitel, einige Aufsätze von Erhard Scheibe, Elisabeth Ströker, William H. Dray, J. Passmore, H. Albert, J. v. Kempski, Heinrich Scholz u. a. als leitend erkennbar. b.

Wissenschaftstheoretische Schwerpunktthemen

Die Themen und Anliegen, die Pannenberg als wissenschaftstheoretisch zentral und für die Theologie besonders relevant ausmacht, haben direkt oder indirekt meist mit der Klärung des Sinnes von Behauptungen und der Strukturaufklärung von Erklären bzw. Verstehen zu tun. Im Einzelnen sind dies: aa. Die Frage der Verifizierbarkeit und Falsifizierbarkeit von Behauptungen, besonders dann, wenn sie den weltanschaulich-religiösen Bereich berühren. Hier ging es Pannenberg, der mit Heinrich Scholz u. a. an einem unzweideutig satzartigen Kern der Theologie festhalten wollte, natürlich darum, gegen enge verifikationistische oder falsifikationistische Konzeptionen von Sprachbedeutung und Begründung einen Platz für bedeutungsvolle und rationale theologische Aussagen freizuhalten. bb. Die Struktur von Erklärungen in den Naturwissenschaften und in anderen Disziplinen, und hier insbesondere die Frage, ob historische und andere Erklärungen im Idealfall auf naturwissenschaftliche Erklärungen rückführbar sein sollten. Diese Radikalthese lehnt Pannenberg ab und bemüht sich um die Aufwertung geisteswissenschaftlicher Begründungsmuster. cc. Die Frage, ob sich die mitunter behauptete grundlegende Strukturdifferenz von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften und ihren gänzlich unterschiedlichen Zielen (Erklären versus Verstehen) wirklich gut begründen lässt. Auch dieser gegenläufigen Radikalthese tritt Pannenberg nicht bei; er vertritt und begründet hier die Auffassung, dass „Erklärungen“ immer in größere Sinnzusammenhänge eingebettet sind, die oft selbstverständlich und unreflektiert vorausgesetzt werden, aber Gegenstand der Reflexion werden können. Damit erscheint der Graben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften auch leichter überbrückbar aufgrund bestehender Ähnlichkeiten. dd. Die Frage nach dem Wesen sozialwissenschaftlicher Erklärungen, speziell ob sie im Kern wesentlich auf Sinnerleben (im Sinne von Niklas Luhmann) oder eher auf subjektive Handlungssinne (im Sinne von Jürgen Habermas) rekurrieren müssen. ee. Der Hinweis darauf, dass „Verstehen“ weder ein defizienter Modus noch eine Vorstufe des Erklärens ist, sondern eigentlich das übergeordnete Hauptziel der

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Wissenschaften; Pannenberg verteidigt die Unverzichtbarkeit der Hermeneutik u. a. gegen die Angriffe von Hans Albert, der in ihr ein Einbruchstor für unkontrollierbare Deutungen sah. c.

Grenzen und theologisch relevante thematische Leerstellen

Hinzuweisen ist auch auf einige Grenzen der Wissenschaftstheorie-Rezeption Pannenbergs sowie thematische Leerstellen in Wissenschaftstheorie und Theologie, die aber theologisch relevant wären. Sie erklären sich zum guten Teil aus der historischen Situierung des Buches: Es ist in einer Zeit entstanden, in der wissenschaftstheoretisch einiges in Bewegung gekommen war, sowohl im deutschsprachigen als auch im angelsächsischen Raum, wobei für die Rezeptionsprozesse immer einige Jahre zu veranschlagen sind. aa. Auch wenn Pannenberg (136–156) die Überschätzung dieses Denkmusters zwar im Endeffekt kritisiert, scheint er unter „naturwissenschaftlicher Erklärung“ vor allem noch sogenannte DN-Erklärungen (deduktiv-nomologische Erklärungen) zu verstehen oder sie – wie weite Teile der früheren Diskussion – als die ziemlich fraglose Standardform naturwissenschaftlichen Erklärens betrachten: Ein Sachverhalt ist nach dieser Auffassung erklärt genau dann, wenn er aus den Antezedensbedingungen und strikten Gesetzen deduktiv ableitbar ist. Erklärungen haben nach dieser Auffassung die logische Gestalt eines Arguments mit zwei Prämissen, deren eine ein allgemeines und striktes Gesetz (oder mehrere strikte Gesetze) sind und die andere den konkreten Einzelfall beschreibt; „erklärt“ ist ein Explanandum dann, wenn es aufgrund des Ausgangszustandes und der Naturgesetze eintreten musste. Verständlicherweise würde mit diesem engen Erklärungsbegriff ein schroffer Gegensatz zum Verstehen aufgebaut, denn eine Rückführung von Verstehensvorgängen auf DN-Erklärungen scheint wenig aussichtsreich. Allerdings passt dieser Erklärungsbegriff – wenn überhaupt – nur auf Teile der Physik und der Chemie; bereits in anderen Naturwissenschaften, man denke etwa an die Evolutionsbiologie oder Geologie, ist er nicht mehr plausibel anwendbar. Die historisch wichtige Debatte ab den mittleren 1960er-Jahren um vielfältigere Erklärungsbegriffe auch in den Naturwissenschaften, die den Brückenschlag in andere Wissensbereiche erleichtert hätte, kommt in Pannenbergs Buch noch kaum in den Blick. Die Existenz induktiv-statistischer (IS-)Erklärungen (die eine ähnliche Struktur haben wie DN-Erklärungen, aber mit statistischen statt strikten Gesetzen arbeiten und das Explanans nicht ableitbar, sondern nur hochwahrscheinlich machen) wird nur am Rande erwähnt; die kausal-statistische Erklärung (nach der ein Explanandum dann erklärt ist, wenn man die für sein Eintreten statistisch relevanten Faktoren kennt und eine plausible Kausalgeschichte über sie angeben kann) kommt überhaupt nicht vor. Das ist historisch nachvollziehbar: Es hängt einerseits damit zusammen, dass die dafür einschlägigen wichtigen Werke vor allem von Carl Gustav Hempel

Ein wissenschaftstheoretischer Blick auf Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie

und Wesley Salmon erst knapp vorher bzw. erst später erschienen,20 und andererseits damit, dass das Thema verschiedener Erklärungsformen daher auch bei Stegmüller, Pannenbergs vermutlichem Hauptgewährsmann in diesen Bereichen, erst auf den zweiten Blick greifbar wird. Im ersten Band von Stegmüllers Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie (1969) steht die DN-Erklärung noch deutlich im Vordergrund, Fragen der statistischen Erklärung und der Kausalität werden – auf sehr hohem technischen Niveau – getrennt davon und eher wie Spezialfälle behandelt.21 Erst recht kommt das pragmatistische Erklärungsmodell (wie es später etwa Bas van Fraassen in The Scientific Image (1980) exponiert hat), in dem „Erklärungen“ als in bestimmten Hinsichten aufschlussreiche Antworten auf Warum-Fragen definiert werden, bei Pannenberg noch nicht vor, ebenso wenig wie übrigens auch evolutionäre Erklärungen (die gerade im theologischen Kontext ja ein gewisse Relevanz hätten). Andererseits ist bemerkenswert, dass Pannenberg die Vorformen des pragmatistischen Erklärungsmodells, die auch bei Stegmüller diskutiert werden (dort allerdings noch mehr als psychologisch und soziologisch relevantes Phänomen, etwa: Eine Erklärung ist dann gut, wenn sie von jemandem in einem bestimmten Kontext als aufschlussreich empfunden wird), affirmativ aufgreift. In Anlehnung an die auch bei Stegmüller in Kapitel VI referierten antipositivistisch orientierten Geschichtsphilosophen John Passmore und William H. Dray weist Pannenberg darauf hin, dass Erklärungen immer – nicht nur im Falle historischer Erklärungen – im Zusammenhang von meist unausgesprochenen Kontextvoraussetzungen zu verstehen sind und das „Erklärte“ in größere Verstehenszusammenhänge einbetten (143–156). Das erleichtert nicht nur eine positivere Bewertung der Geisteswissenschaften, sondern erlaubt auch einen Brückenschlag zu theologischen Erklärungen. bb. Später wichtige wissenschaftstheoretische Themenstellungen wie das Wesen der Wahrscheinlichkeit, die Frage der Kriterien der Theorienbestätigung (warum halten wir bestimmte Theorien für durch die Erfahrung bestätigt, oder ist dieses Denkmuster vielleicht schon im Grunde verfehlt?) und die Rolle theoretischer Begriffe kommen in Wissenschaftstheorie und Theologie noch gar nicht in den Blick. Eine mögliche Ursache dafür ist, dass die betreffenden Bände und Halbbände von

20 Carl Gustav Hempel, Aspects of Scientific Explanation and Other Essays in the Philosophy of Science, New York: Free Press 1965; dt. Aspekte wissenschaftlicher Erklärung, Berlin: de Gruyter 1977; Wesley Salmon, Statistical Explanation and Statistical Relevance, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press 1971; derselbe, Scientific Explanation and the Causal Structure of the World, Princeton u. a.: Princeton University Press 1984; derselbe, Causality and Explanation, New York: Oxford University Press 1998. 21 Pannenberg (142) greift aber Stegmüllers etwas überraschendes Dafürhalten gegen Schluss des ersten Bandes (702, 760f., 783) auf, dass nicht nur IS-„Erklärungen“ in Wahrheit bloß IS-Begründungen seien, sondern dass dasselbe im Grunde auch für DN-„Erklärungen“ gelte; diese Relativierung des Stellenwerts von DN-Erklärungen kommt Pannenberg für seine Zwecke zupass.

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Stegmüllers Probleme und Resultate ebenfalls erst 1973 erschienen, also im selben Jahr wie Pannenbergs Buch. Diese Fragen wären aber potentiell theologisch relevant gewesen: So zieht sich von John Henry Newman her eine Tradition von Wahrscheinlichkeitsargumenten durch die Theologie und Religionsphilosophie, und Richard Swinburne hat sie wenig später deutlicher bestätigungstheoretisch ausformuliert.22 Theoretische Begriffe wären insofern theologisch relevant, als auch die Rede von „Gott“ nach einem prominenten Vorschlag aus der Tradition so ähnlich eingeführt wird, wie in der Wissenschaft theoretische Begriffe eingeführt werden: Die Argument-Endstücke der thomasischen „Fünf Wege“ (Summa Theologica I, 2, 3) lauten z. B. ziemlich uniform „… und das nennen alle ‚Gott‘“. Wenn „Gott“ z. B. im ersten Weg identifiziert wird mit dem „ersten Bewegenden, das seinerseits nicht mehr von etwas anderem bewegt wird“, dann gleicht das der Einführung eines theoretischen Begriffes zum Ansprechen eines Gegenstandes, der nicht direkt in der Erfahrung gegeben ist, der aber Relevanz für die Erklärung der Erfahrung hat.23 cc. Überhaupt kann an dieser Stelle notiert werden, dass ein wissenschaftstheoretisch interessanter alternativer Themenzugang weitgehend brach liegen bleibt: Es scheint, dass natürliche Theologie für Pannenberg fraglos unmöglich ist. Gerade die Rolle metaphysischer Rahmenüberzeugungen und „Weltbildsätze“ sowie die Weisen der Bestätigung oder Bewährung solcher Überzeugungen in der Wissenschaft wären ein naheliegendes und theologisch relevantes wissenschaftstheoretisches Thema, da es potentiell anschlussfähig in Richtung auf eine natürliche Theologie wäre. Das Thema der Weltbilder kommt allerdings nur in wenig anspruchsvollen Spuren im Buch vor, obwohl Pannenbergs Position insgesamt auf die bessere Bewährung eines Weltbildes, das auch einen Gottesbegriff enthält, hinausläuft. dd. Interessant ist, dass die Theoriendynamik Thomas S. Kuhns, obwohl sie weder in Stegmüllers erstem Band von Probleme und Resultate (1969) noch in den älteren Auflagen (vor 1975) seiner Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie vorkommt, von Pannenberg bereits rezipiert wird, wenngleich nur ganz am Rande und in der Funktion des Aufbrechens zu enger Falsifikationsvorstellungen (56, 58f., 68, 338).24 Für Stegmüller selbst hat Kuhns Theoriendynamik zu einer vorüberge-

22 Richard Swinburne, The Existence of God, Oxford: Oxford University Press 1979; dt. Die Existenz Gottes, Stuttgart: Reclam 1987. 23 Joseph M. Bochenskis The Logic of Religion/Logik der Religion (englisch 1965/deutsch 1968), die für solche Fragen und überhaupt die Theoriestruktur der Theologie Ansatzpunkte geboten hätte, wird in Wissenschaftstheorie der Theologie nicht rezipiert. 24 Erst recht konnte Imre Lakatos’ Wissenschaftstheorie, deren wesentliche (und nicht nur auf die Mathematik bezogene) Arbeiten erst Mitte der 1970er Jahre erschienen, bei Pannenberg noch nicht vorkommen; für die Theologie böte die Grundidee eines harten Kerns von Grundüberzeugungen und eines Gürtels von (in irgendeiner passenden Weise „testbaren“) theologischen Hypothesen ja

Ein wissenschaftstheoretischer Blick auf Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie

henden tiefen philosophischen Verunsicherung geführt, die Spuren in den späteren Bänden beider Werke hinterlassen hat;25 seine eigene Auseinandersetzung mit Kuhn ist am ausführlichsten in dem 1973 (also im selben Jahr wie Wissenschaftstheorie und Theologie!) erschienenen Teilband II/2 der Probleme und Resultate dokumentiert. Stegmüller teilt nicht die später bald grassierenden überschießenden Kuhn-Deutungen (als „Pauschalangriff auf die Rationalität der Wissenschaft“, „Auflösung der Wissenschaftstheorie in Soziologie“ etc.)26 und beteiligt sich auch nicht an der Übertragung von Kuhns Denken in möglicherweise unpassende Wissenschaftsbereiche. Wenn Pannenbergs Kuhn-Rezeption im Grunde ähnlich vorsichtig – und damit wohl in Kuhns Sinne! – ausfällt, ohne dass es bei Stegmüller eine publizierte Vorlage gibt, so ist das also durchaus bemerkenswert. Ob Pannenberg hier eigenständig gearbeitet hat, oder ob es doch Informationsflüsse und Einflusswege im Umkreis dieser beiden in räumlicher Nähe arbeitenden Münchner Denker zur Zeit der Entstehung ihrer beiden 1973 publizierten Bücher gegeben haben mag, oder aber ob es dafür eine andere Erklärung gibt, wäre einer Detailstudie wert. ee. Was soeben für Pannenbergs Kuhn-Rezeption gezeigt wurde, kann in Verallgemeinerung überhaupt für das zweite oben in Abschnitt 2. genannte Großthema „Wissenschaft und Gesellschaft“ gesagt werden: Es kommt in Pannenbergs Buch so gut wie noch nicht vor. Wissenschaft erscheint als von gesellschaftlichen Fragen weitgehend abtrennbares, ausschließlich an Fragen der Wahrheit und Begründbarkeit orientiertes Geschäft. Beispielsweise wird Jürgen Habermas zwar ausführlich, aber im Wesentlichen als Subjektivitäts- und Hermeneutik-Theoretiker rezipiert, ebenso wie „Gesellschaft“ primär als hermeneutische, die Konstituierung von Sinn beeinflussende Größe erscheint. Die bald virulenter werdenden Fragen von Macht, Machtgefällen und Autoritätskritik im Zusammenhang der Wissenschaft tauchen dagegen bei Pannenberg noch nicht auf. Erst recht kommen die später populär und einflussreich gewordenen Überlegungen zum dritten Großthema, dem Verhältnis von Konstruktion, Geltungsanspruch

durchaus Potenziale, wie etwa die Lakatos-Rezeptionen von Philip Clayton, Nancey Murphy und anderen gezeigt haben. 25 Man beachte dazu besonders die Vorworte und Einleitungen. Stegmüllers persönlicher Ausweg war die Kombination von Ideen Kuhns mit denen Joseph Sneeds (The Logical Structure of Mathematical Physics, 1971) und die darauf basierte Entwicklung seiner Version des wissenschaftstheoretischen Strukturalismus; sie ist jedoch – u. a. ob ihrer logisch-technischen Ansprüche – eher ein Minderheitenprogramm geblieben. Bei Pannenberg gibt es keine Spur dieser Überlegungen, wie überhaupt dieses Programm – anders als der damit nicht zu verwechselnde linguistische bzw. sprachphilosophische Strukturalismus – meines Wissens keine theologische Rezeption erfahren hat. 26 Zu Fehldeutungen in der Kuhn-Rezeption siehe u. a. die Göttinger Dissertation von Uwe Rose: Thomas S. Kuhn: Verständnis und Mißverständnis. Zur Geschichte seiner Rezeption. Göttingen: Phil. Diss. 2004, online unter http://dx.doi.org/10.53846/goediss-1278.

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und Realität in den Wissenschaften noch nicht vor, vor allem waren radikalkonstruktivistische und postmodernistische Denkfiguren mit ihren grundlegenden Infragestellungen des Geltungsanspruchs der Wissenschaft zur Zeit der Entstehung von Wissenschaftstheorie und Theologie noch nicht am Horizont; für Pannenberg hat Wissenschaft – auch die Theologie – einen klaren Wahrheitsanspruch und ihre Aussagen haben einen fixierbaren kognitiven Gehalt. Pannenberg huldigt also keinem „Panhermeneutizismus“, gemäß dem jedwede Aussage in anderer Kontextualisierung eine andere Bedeutung haben könnte, und auch der später unter TheologInnen einigen Kredit genießende Gedanke, dass Wissenschaft primär ein gesellschaftliches Konstrukt oder Narrativ sein könnte, dessen Geltungsansprüche in den Hintergrund treten können, liegt Pannenberg fern. Der Hinweis auf das Fehlen dieser Themen und Zugänge soll wohlgemerkt keine Parteinahme für diese und keine Kritik an Pannenbergs Buch sein. Es ist vielmehr umgekehrt: Da ihr Fehlen aus der historischen Stellung des Buches erklärbar ist, wäre eine darauf basierte Kritik anachronistisch und ginge ins Leere.

4.

Wie man Wissenschaftstheorie und Theologie heute lesen sollte

Wie ich gezeigt zu haben hoffe, entstand Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie mitten in einer wissenschaftstheoretisch überaus bewegten Zeit: U.a. vollzogen sich damals gerade der Umbruch vom bisher einflussreichen logischen Empirismus und kritischen Rationalismus hin zu stärker historisch und gesellschaftlichsoziologisch denkenden Formen der Wissenschaftstheorie und die Ablösung des lange Zeit vorherrschenden DN-Schemas der wissenschaftlichen Erklärung durch pluralere Formen. Diese Umbrüche wurden im deutschen Sprachraum überlagert und teils stimuliert durch Rezeptionsprozesse der früher vertriebenen Wissenschaftstheoretiker speziell aus dem angelsächsischen Raum. In dieser Epoche stellt Wissenschaftstheorie und Theologie eine Art Momentaufnahme von Pannenbergs Eindrücken dar und hält einen Zustand der Wissenschaftstheorie fest, der sich später deutlich verändert hat. Streckenweise hat das Buch selbst den Charakter eines Rezeptionswerks, was unter anderem an den Verweisformen erkennbar ist: Auffällig sind Serienzitationen über mehrere Seiten hinweg, und erkennbar ist die Rolle leitender Sekundärliteratur wie vor allem des ersten Bandes von Stegmüllers Probleme und Resultate. Das Buch ist also entstanden in einer Zeit erst teilweiser Rezeption der analytischen Wissenschaftstheorie, es übernimmt damit – vermutlich auch wieder maßgeblich von Stegmüller beeinflusst – ein etwas enges und puristisches Bild sowohl der Wissenschaftstheorie als auch der Naturwissenschaften. Das ändert nichts daran, dass Pannenbergs Darstellungen klar, materialreich und oft geradezu von exzellenter Eingängigkeit sind; ohne es im Detail belegen zu können, habe ich den Eindruck, dass das Buch starke Wirkung in der akademischen

Ein wissenschaftstheoretischer Blick auf Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie

Theologie bis heute entfaltet hat, sodass man Pannenberg vielleicht ironisch als einen „Meta-Stegmüller für TheologInnen“ etikettieren kann, der seine Auffassung von Wissenschaftstheorie für ein weiteres theologisches Publikum erschlossen hat. Man darf dabei aber eben nicht vergessen, dass Pannenberg damit (in wirkmächtiger Weise) ein Bild von Wissenschaft und Wissenschaftstheorie festschreibt, das aus einer Phase während und knapp vor starken Verschiebungen stammt; es wäre daher ein gefährliches Missverständnis, Pannenberg heute noch, nach 50 Jahren, unbefangen als Einführung in „die“ Wissenschaftstheorie speziell für die Bedürfnisse von TheologInnen zu lesen. Ein einigermaßen adäquates Bild der Wissenschaftstheorie vermittelt das Buch nämlich nur bis in die späten 60er Jahre. Pannenberg erkennt allerdings teilweise auch bemerkenswert klar die Grenzen des Bildes von „Wissenschaftstheorie“, das er in seiner Zeit rezipiert, wenn er etwa das Ungenügen des logischen Empirismus bereits zur Rekonstruktion physikalischer und anderer naturwissenschaftlicher Theorien konstatiert. Freilich bleibt auch Pannenbergs Ausweg (seine Betonung der Bedeutung des „Verstehens“ größerer Sinnzusammenhänge) teilweise unklar; Pannenberg scheint hier einem merkwürdigen Bedeutungsplatonismus zu weit nachzugeben, der hinter der Existenz eines bestimmten Wortes (hier: „Verstehen“) fraglos auch die Existenz einer einheitlichen Bedeutung vermutet. Damit unterschätzt er den Explikationsbedarf, der mit solchen „Terminus-Provisorien“ verbunden ist: Etwa dreht sich um die Bedeutung und Rolle des Verstehens in der Wissenschaft gegenwärtig wieder eine neue Debatte.27 Als ein kürzest-Fazit kann also gezogen werden, dass Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie trotz seiner punktuellen Grenzen und Zeitgebundenheiten nach wie vor ein monumentaler Klassiker ist, der die Lektüre nicht nur aus wirkungsgeschichtlicher Aufmerksamkeit lohnt – sofern man sich eben der zeitlichen Distanz und der seither eingetretenen Weiterentwicklungen und Verschiebungen in der Wissenschaftstheorie bewusst bleibt.

27 Siehe etwa Henk de Regt, Understanding Scientific Understanding (Oxford Studies in Philosophy of Science), Oxford: Oxford University Press 2017.

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Ist die Theologie eine Wissenschaft? Problemverschiebungen in den Diskussionen der katholischen Theologie seit Pannenbergs „Wissenschaftstheorie und Theologie“

1.

Pannenbergs Diskussionsanstoß

Wolfhart Pannenbergs Buch „Wissenschaftstheorie und Theologie“ markierte einen Neueinsatz der wissenschaftstheoretischen Selbstvergewisserung in der Theologie. Es griff auf die ganze Breite wissenschaftstheoretischer Diskussionen aus und wollte das wissenschaftliche Profil der Theologie im Blick auf den damaligen Stand dieser Diskussionen entwickeln. Das ist auch in der katholischen Theologie so gesehen worden.1 Bis in gegenwärtige, von der analytischen Philosophie inspirierte Projekte hinein gilt Pannenbergs Buch hier als wichtigste theologische Referenz.2 Dass gerade unter dem Label analytische Theologie firmierende Konzepte auf Pannenbergs Entwurf zurückgreifen, hat sicher damit zu tun, dass man in ihm einen Theologen sah, der die metaphysischen Verpflichtungen der Theologie einzulösen versuchte. Man bezieht sich auf Pannenbergs Theologie, weil sie begriffliche Konzepte bereitstelle, die es erlaubten, zentrale theologische Anliegen – etwa in Pneumatologie und Trinitätslehre – mit philosophisch-naturwissenschaftlichen Modellbildungen zu vernetzen.3 Bei anderen wissenschaftstheoretischen Positionierungen in der katholischen Theologie der letzten Jahrzehnte bleibt die Bezugnahme auf Pannenberg eher kursorisch. Sie verorten sich in der Tradition transzendental-pragmatischer Fragestellungen oder auf dem Feld hermeneutischer Theoriebildungen, freilich ohne aus den einschlägigen wissenschaftstheoretischen Diskussionszusammenhängen

1 Ich darf nur auf meine eigene, ausführliche Würdigung verweisen: Jürgen Werbick, Theologie als Wissenschaft? Zu Wolfhart Pannenbergs Buch „Wissenschaftstheorie und Theologie“, in: Stimmen der Zeit 99 (1974), 327–338. 2 Vgl. Benedikt Paul Göcke (Hg.), Die Wissenschaftlichkeit der Theologie, Bd.1: Historische und systematische Perspektiven, Münster 2018 (hier wird an neun Stellen auf Pannenberg Bezug genommen); Bd. 2: Katholische Disziplinen und ihre Wissenschaftstheorien, Münster 2019, Bd. 3: Theologie und Metaphysik, Münster 2019. 3 Vgl. Klaus Müller, Gott jenseits von Gott. Plädoyer für einen kritischen Panentheismus, hg. von Fana Schiefen, Münster 2021.

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auszuscheren.4 So verdanken auch sie Pannenbergs Vorstoß die Herausforderung, unabdingbare Merkmale eines rational-wissenschaftlichen Vorgehens im theologischen Arbeiten zur Geltung zu bringen und dieses im Arbeitszusammenhang wissenschaftlich verfahrender Universitätsdisziplinen zu verstehen. Die katholische Fundamentaltheologie wusste sich Pannenbergs Initiative besonders verbunden, da auch sie ein rational nachvollziehbares Procedere einhalten will. Aber die von Pannenberg gestellte Aufgabe war weit komplexer als die in herkömmlichen fundamentaltheologischen Verfahren bearbeitete. Die Theologie sollte sich im Ganzen als wissenschaftliche Disziplin darstellen können; dies nicht nur in dem Sinne, dass man den anderen wissenschaftlichen Disziplinen das Zugeständnis abnötigte, die Theologie nicht von vornherein als unwissenschaftlich diskreditieren zu können, sondern weit anspruchsvoller so, dass die Theologie in ihrem konkreten Vorgehen elementare Standards wissenschaftlichen Vorgehens einhielt. Pannenbergs Entwurf leistete in diesem Sinne zweierlei. Er wies nach, dass das Thema der Theologie keineswegs wissenschaftsfremd, sondern als Sinn-Horizont bzw. Implikat allen wissenschaftlichen Arbeitens thematisierbar ist. Und er legte ein Konzept theologischen Arbeitens vor, das sich den elementaren Kriterien wissenschaftlicher Verfahren verpflichtet sieht. Die erstgenannte Fragestellung ist katholischer Fundamentaltheologie geläufig. Sie urgiert das Einbezogen-Sein der Theologie in den Streit um die eine Wahrheit in allen wissenschaftlich bearbeiteten Einzelfragen und so auch in den Streit darum, mit welchen Verfahren die Wahrheitsorientierung der Wissenschaft eingelöst wird, den Streit also auch darum, was als wissenschaftliches Vorgehen gelten darf. Vorauszusetzen ist dabei die Verpflichtung auf die prinzipielle Kohärenz aller mit guten bzw. mit unabweisbaren Argumenten als wahr anzusehenden Einsichten. Damit ist der Theologie die Aufgabe zugewiesen, faktisch auftretende Widersprüche theologischer Behauptungen zu wohlbegründeten Wahrheitsansprüchen anderer Wissenschaften als nicht existent zu erweisen bzw. an der Klärung der aufgetretenen Dissonanzen mitzuarbeiten. Theologie kann sich nur als Wissenschaft verstehen und verstanden werden, wenn sie sich – so fordert es Pannenberg ein – in der Lage weiß, alle ihre „Einzeldaten“ in den Sinnzusammenhang alles Wahren zu integrieren und wenn sie zeigen kann, dass dieser Sinnzusammenhang durch das theologisch Eingebrachte aufschlussreich bestimmt wird. Die zweite der oben genannten Fragestellungen ist demgegenüber auch in der katholischen Theologie notorisch heikel. Sie verpflichtet auf wissenschaftskonfor-

4 Zur erstgenannten Profilierung: Helmut Peukert, Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung. Mit einem Vorwort zur Neuauflage und einem neuen Nachwort, Frankfurt a. M. 3 2009; für die als zweite genannte Ausrichtung vgl. meine Einführung in die theologische Wissenschaftslehre, Freiburg i. Br. 2010; Theologische Methodenlehre, Freiburg i. Br. 2015.

Ist die Theologie eine Wissenschaft?

me Verfahren und deren Implikationen, die in dem Sinne, wie sie in den anderen Wissenschaften umgesetzt bzw. verstanden werden, der Theologie nicht ohne Weiteres geläufig sind, mitunter als problematisch erscheinen werden. Diese haben im Wesentlichen damit zu tun, dass die Theologie – wie die anderen Wissenschaften – als ein argumentativ möglichst gut vernetzter, rational nachvollziehbarer Zusammenhang von Einzelbehauptungen verstanden werden müsste, die nur zugelassen sind, wenn sie als Hypothesen auf den Prüfstand gestellt und immer wieder neuen Prüfsituationen ausgesetzt werden dürfen, in denen ihre Vereinbarkeit mit jeweils neuen und weiteren Wissensbeständen und Wissenshorizonten auf dem Spiel steht. Wissenschaftliches Argumentieren versteht sich als ergebnisoffen und darauf angelegt, durch methodisch nachvollziehbare Überprüfung angreifbarer und verteidigbarer Hypothesen5 zu einem besseren Verständnis der in Frage stehenden Zusammenhänge zu kommen. Lassen sich die elementaren Glaubens-Gegebenheiten in diesem Sinne als Behauptungen verstehen, die als Hypothesen einer ergebnisoffenen Überprüfung ausgesetzt werden? Oder schließt ihr Charakter als Bekenntnissätze des Glaubens das von vornherein aus? Und selbst wenn man die prinzipielle Hypothetisierbarkeit von Glaubenssätzen einräumt: Wie können sie im Diskurs verteidigt oder widerlegt werden? Welches Procedere kann entwickelt werden, um hier anhand welcher Kriterien zu einer stringenten Entscheidung zu kommen? Wäre es hinreichend, nur Theologie-internen Prüfkriterien zu folgen, wenn man doch, wie es auch theologisch unerlässlich scheint, alle Wissenschaften mit ihren Wissensbeständen und Prüfverfahren folgenreich auf die Einheit der Wahrheit ausgerichtet sieht? Oder bezieht sich das Geglaubte und von der Theologie hypothetisch Behauptete gerade auf den (durch Gott) vollendeten, alle Wirklichkeit vollendenden Sinnzusammenhang, in dem alles Einzelne und das Wissen von ihm in seiner eschatologischen Wahrheit aufscheinen wird? Formuliert die Theologie eine Hypothese zu diesem eschatologischen Vollendungs-Zusammenhang, die erst „am Ende“ als verifiziert oder als falsifiziert gelten könnte? Pannenberg neigte diesem Konzept der eschatologischen Verifikation zu, die es freilich in der theologischen Arbeit an konkreten Sachzusammenhängen antizipativ zu bewähren gelte. Aber wie ist die hypothetisch angenommene eschatologische Vollendung des Wirklichen bzw. die Annahme eines dieser Vollendung fähigen Gottes als hier und jetzt erhellend für das eigene Leben zu bewähren?6 Wie wä-

5 Die verwickelten Diskussionen um Verifizierbarkeit oder Falsifizierbarkeit als ausschlaggebendes Kriterium einer wissenschaftsfähigen Behauptung lassen sich wohl zu diesem schiedlich-friedlichen Ende bringen. Vgl. Thomas Schärtl, Theologie – Weisheit – Wissenschaft. Ein Vorschlag, in: Benedikt Paul Göcke (Hg.), Die Wissenschaftlichkeit der Theologie, Bd. 1, 227–276, hier 229. Schärtl bezieht sich auf: Hans Kraml, Die Rede von Gott sprachkritisch rekonstruiert aus Sentenzenkommentaren, Innsbruck/Wien 1984, 165–167. 6 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, 347.

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re sie in dem Sinne angreifbar und verteidigbar, dass man zu der immer noch vorläufigen Entscheidung kommen könnte, es sei besser, sie anzunehmen als sie abzulehnen? Wie könnte man sich so auf dem Weg wissen, ihren Wahrheitsanspruch wissenschaftlich zu bewähren? Pannenbergs Opus setzte diese Fragen auf die Tagesordnung. In der katholischen Theologie wurden sie erst wieder in der analytischen Theologie vollumfänglich, wenn auch in anfechtbarer Konsequenz aufgegriffen. Andere Konzepte widmen sich ihnen eher ausschnitthaft mit je eigenem wissenschaftsmethodischem Profil. Exemplarisch zu beobachten ist das an Helmut Peukerts imponierendem Entwurf.

2.

Helmut Peukerts „fundamentale Theologie“

Peukerts These lautet: Theologie hat sich in ihrem Wahrheitsanspruch und in ihrem wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis handlungstheoretisch zu legitimieren. Sie kann diesem Anspruch genügen, wenn sie sich mit Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns auseinandersetzt und das Gespräch sucht über die unabdingbaren und transzendental auszuweisenden normativen Voraussetzungen kommunikativen Handelns. Mit Habermas versucht Peukert, die in kommunikativer Praxis implizit in Anspruch genommenen Voraussetzungen und damit verbundene Geltungsansprüche explizit zu machen und in ihrem Sinnzusammenhang zu begreifen.7 Das erinnert insofern an klassische transzendentale Fragestellungen, als hier im Blick auf wissenschaftstheoretisch wie ethisch normative Implikationen kommunikativen Handelns Bedingungen solchen Handelns zu formulieren sind, die von verantwortlichen Teilnehmern an solchen Interaktionszusammenhängen nur um den Preis eines „performativen Selbstwiderspruchs“ geleugnet werden könnten. Die Theorie kommunikativen Handelns will aufzeigen, dass im elementaren Vollzug kommunikativen Handelns solche „normative Unterstellungen gemacht und angenommen werden, auf die sich die Kommunikationspartner verpflichten, sobald sie nur in Kommunikation eintreten“8 . Und sie will diese Bedingungen im systematischen Zusammenhang als Konstitutiva einer idealen Sprechsituation aufweisen, in der Menschen sich gegenseitig und auch sich selbst als Interaktionspartner anerkennen und sich – wie es im wissenschaftlichen Diskurs unabdingbar geschieht – auf eine Begründung von Geltungsansprüchen allein durch Argumente festlegen. Die ideale Sprechsituation impliziert nun aber – so Peukert – „eine unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft. Prinzipiell ist damit in jedem kommunikativen Akt die Menschheit als letzter Horizont dieser

7 Vgl. Helmut Peukert, Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie, 276. 8 A. a. O., 280.

Ist die Theologie eine Wissenschaft?

Kommunikationsgemeinschaft gesetzt“, da jedem potentiellen Interaktionspartner die Möglichkeit der Mitsprache eingeräumt werden muss. Er muss in Interaktionszusammenhängen, die ihn einbeziehen, als er (bzw. sie) selbst vorkommen können; ihm (ihr) muss die Freiheit zur Selbst-Kommunikation durch den Erweis einer Solidarität zuerkannt werden, die ihn (sie) als ihn (sie) selbst unverlierbar bedeutsamen Interaktionspartner anerkennt. So scheint „Freiheit in universaler, geschichtlich zu realisierender Solidarität […] die äußerste Grenze des Denkbaren zu bezeichnen“9 , auf die das Denken unabdingbar verwiesen ist, will es die Bedingungen seiner kommunikativen Realisierung begreifen. Dann ist es mit einer „elementare[n] Aporie“ konfrontiert: Wie ist die universale, den Kommunikationspartnern die Freiheit zu sich selbst und zur Selbst-Kommunikation zusprechende Solidarität durchzuhalten angesichts der Bestreitung dieser Würde durch konkret widerfahrene Missachtung, auch noch angesichts der Auslöschung der Identität von Interaktionspartnern im Tod, dem endgültigen(?) Zum-Schweigen-gebrachtWerden, das sie in Interaktionszusammenhängen hinfort nicht mehr als sie selbst, sondern allenfalls mit dem von anderen angeeigneten „Erbe“ vorkommen lässt? Diese Frage schlägt auf die Erben zurück: Könnten sie ihre Identität behaupten, wenn sie die Identität der Gestorbenen verlorengeben und so die „anamnetische Solidarität“ ihnen gegenüber aufkündigen? Hier tritt „die äußerste Paradoxie eines geschichtlich kommunikativ handelnden Wesens [zutage]. Die eigene Existenz wird von der Solidarität her, der sie sich verdankt, zum Selbstwiderspruch. Die Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit wird zu ihrer Zerstörung. Die Idee der ‚vollkommenen Gerechtigkeit’ [die jedem und jeder Mitsprache um ihrer selbst willen einräumen müsste] kann nur noch zum Alptraum werden.“10 Auf diese Problemsituation hin formuliert Peukert zwei Thesen, die für sein Konzept elementare Bedeutung haben. Er behauptet „erstens […] dass es in der jüdisch-christlichen Tradition um die Wirklichkeit geht, die in den Grund- und Grenzerfahrungen kommunikativen Handelns erfahren wird, und um die Weise kommunikativen Handelns, die angesichts dieser Erfahrungen noch möglich ist“; und zweitens, „dass eine fundamentale Theologie als Theorie dieses kommunikativen, anamnetisch-solidarisch auf den Tod zugehenden Handelns und der in ihm erfahrenen Wirklichkeit entwickelt werden muss.“11 Beim Blick auf zentrale Überlieferungen der Bibel – die Exodus-Tradition, die Gestalt des leidenden Gerechten, dann aber gerade die des Gekreuzigten und Auferweckten – zeigt sich, wie diese Thesen sich in ihr verifizieren lassen. Die Rede von Gott kann also fundamentaltheologisch „eingeführt [werden] als die Rede von der Wirklichkeit, auf die ein auch

9 A. a. O., 280f. bzw. 300. 10 A. a. O., 309, mit Bezugnahme auf Max Horkheimer. 11 A. a. O., 316.

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mit den Toten solidarisches, kommunikatives Handeln so zugeht, dass es diese Wirklichkeit für die anderen und dadurch für den Handelnden selbst behauptet.“12 Der Glaube den Gott der Bibel erweist sich in diesem Sinne transzendental-pragmatisch als „Ermöglichung anamnetischer, universal-solidarischer Existenz“.13 Ist er damit als unerlässliche Bedingung eines sinnvollen Vollzugs kommunikativen Handelns im Horizont der unausweichlichen „Aporie anamnetischer Solidarität“ ausgewiesen oder eher als ein Sinnhorizont eingebracht, in dem es dieser Aporie standhalten kann? Der biblische Gottesglaube wird in einer gewissen Analogie zu Kants Argumentation in der Kritik der praktischen Vernunft als Postulat eingeführt: als Erfordernis eines nicht-widersprüchlichen Vollzugs bzw. der konsistenten Interpretation erforderlicher Bedingungen einer nicht vom regelmäßigen Scheitern durchkreuzten kommunikativen Identität. Wie stark sind die Argumente für die im transzendentalen Rekurs in Anspruch genommene Erforderlichkeit dieses Postulats? Und welche Möglichkeiten gäbe es, den hier postulierten Gottesgedanken gegen andere Auflösungen der zugrunde liegenden kommunikativen Aporie als argumentativ stärker auszuzeichnen? Transzendentale Erforderlichkeit oder Aufweis eines Sinnhorizonts, in dem kommunikatives Handeln sich seiner äußersten Voraussetzungen innewerden und sich auf sie einlassen kann? Mit dieser Alternative stellt sich wissenschaftstheoretisch die Frage, wie weit theologische Argumente nachvollziehbar reichen können und wieviel Gewissheit sie für sich in Anspruch nehmen können; aber auch die Frage, ob die hier in den Blick genommene Aufweichung des transzendentalen Arguments Angreifbarkeit und Verteidigbarkeit theologischer Behauptungen oder Sinnentwürfe nicht in der Grauzone der Unentscheidbarkeit verschwimmen lässt. Wie ist nachvollziehbar zu ermitteln, welcher Sinnentwurf gegenüber anderen den Vorzug verdient?

3.

Der Konflikt der Interpretationen

Wissenschaften scheinen auf strenge Unparteilichkeit und Unvoreingenomenheit verpflichtet. So streben gerade transzendental-theologische Konzepte eine Begründungs-Triftigkeit ihrer grundlegenden theologischen Behauptungen an, die von jedem und jeder prinzipiell in gleicher Weise nachvollzogen werden könnte, ganz gleich, ob mit der jeweiligen Behauptung eigene Interessen oder existentielle Investments verbunden sind. Die Hypothetisierung einer Behauptung nimmt diese in der desengagierten Beobachterperspektive wahr; die engagierte Teilnehmerperspektive muss – so scheint es – im Prüfprozess sistiert werden. Man hat dem wis-

12 A. a. O., 333. 13 Vgl. a. a. O., 331.

Ist die Theologie eine Wissenschaft?

senschaftstheoretischen Postulat der kritischen Distanzierung von selbst geteilten Überzeugungen Folge zu leisten. Das in Frage Stehende soll sich im Blick auf empirische Gegebenheiten oder gesicherte Sach- bzw. Argumentationszusammenhänge als objektiv-erforderliche Bedingung erweisen. In der wissenschaftstheoretischen Selbstreflexion der Theologie entsteht so aber der Eindruck einer argumentativen Überforderung: Kommt man jemals auch nur in die Nähe einer „objektiven“, desengagierten Entscheidbarkeit der vorgebrachten, aber auch vielfach angegriffenen und abgelehnten theologischen Behauptungen? Wird man der Theologie dann allenfalls die Möglichkeit einer internen Rationalisierung ihres Überzeugungssystems in der Teilnehmerperspektive zubilligen? Der käme in gegenwärtiger Wissenschaftspraxis kaum wissenschaftliches Renommée zu, da sie nur dazu dienen könne, vorausgesetzte Geltungen zu affirmieren, sie allenfalls gegen externe Problematisierungen recht und schlecht zu sichern. Die katholische Tradition der Apologetik hat immer an der Überzeugung festgehalten, dass sich die teilnehmerperspektivisch-interne Rationalität der Glaubensüberzeugungen in der Vernunft begründen lässt, die alles menschliche Wissen zum Wissen macht und umgreift. Aber setzt sie das nicht nur thetisch voraus? Hat sie sich ernsthaft der Aufgabe gestellt, die ins Feld geführten Gegenargumente genauer zu würdigen und eigene Überzeugungen ehrlich in Frage zu stellen? Hier setzt die wissenschaftstheoretische Kritik an der Theologie ein: Da die Theologie für die Grundannahmen des Glaubens erkennbar voreingenommen ist, kann von einer Ergebnisoffenheit ihres Forschens kaum die Rede sein. Forscher(innen) sollten, so fordert das Postulat der Ergebnisoffenheit, gewissermaßen interesselos zuzuschauen, wie die Pro- und Contra-Argumente ihr diskursives Spiel treiben und welche Position sich dabei als die stärkere oder relativ stärkste erweisen wird. Wissenschaft treiben hieße Frei-Sein von Interessen, die auf das Ergebnis der Forschungen durchschlagen könnten; Freiheit von Voreingenommenheiten, welche ein bestimmtes Ergebnis favorisieren: in diesem Sinne strenge Unparteilichkeit der Vernunft und eben deshalb Ergebnisoffenheit. Solche Unparteilichkeit mag aber eher die regulative Idee eines wissenschaftlichen Vernunftgebrauchs sein als die von Forscher(inn)en regelmäßig eingenommene Haltung. Nicht einmal als solche – als methodische Zustimmungs-Epoché – scheint sie in der Theologie jedoch Geltung zu haben. Theologie versteht sich ja offenkundig als Glaubenswissenschaft in dem Sinne, dass sie sich eine vernünftige und geistlich-menschlich fruchtbare Auslegung des Glaubens als Ziel vorgeben lässt. Scheidet sie mit diesem Interesse als wissenschaftliche Disziplin aus, da ihr Disziplin-konstitutives Interesse auf den Forschungsprozess durchschlägt? Auf die hier aufgeworfenen Fragen fokussieren meine eigenen Überlegungen zum Wissenschaftscharakter der Theologie. Sie wollen zunächst klarstellen, dass wissenschaftliche Vernunft sich nicht allein in der Freiheit der Kritik realisiert, die am besten zum Tragen käme, wenn man sich in der neutralen Position des

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Beobachters hält. Es kann vielmehr durchaus als rational gelten, vernünftige, die Menschen in den Untiefen ihres individuellen und gesellschaftlichen Daseins tragende Hoffnungen zu hegen, sie als solche zu hegen, die auch dann bejahenswert – hoffenswert – sind, wenn sie über sicher begründbares Wissen hinausgreifen. Es ist keine binnenperspektivisch fixierte, gegenüber Gegenargumenten abgeschirmte und jeder wissenschaftlichen Würdigung unzugängliche Hoffnungsperspektive, für die hier optiert wird. Wer sich mit ihr identifiziert, hegt die Überzeugung, dass seine Option sich allen argumentativen Infragestellungen gegenüber bewähren wird; und dies aufgrund der Leben aufschließenden Bedeutung dieser Hoffnung bzw. der Verheißung, der man sich hier anvertraut. Man dürfte diese vorgreifende Überzeugung als rational verstehen, wenn die theologisch ausgelegte Hoffnung bzw. Verheißung argumentativ valide soweit erschlossen und verteidigt werden kann, dass sich das Ja zu ihnen als die rebus sic stantibus und bis auf Weiteres vernünftigste bzw. anderen gegenüber vernünftigere Option empfiehlt.14 Wissenschaftliche Rationalität realisiert sich in unvoreingenommener Offenheit für relevante Gegenargumente, aber auch in der Bereitschaft, evaluative Argumente für die Bejahbarkeit einer Option in ihrem spezifischen Gewicht zu würdigen und sich so Ressourcen für die Bejahbarkeit einer als vernünftig in Frage kommenden Hoffnungsperspektive zugänglich zu erhalten. Wissenschaft ergreift Partei für die Vernunft. So ist es auch eine wissenschaftliche Herausforderung, die Vernünftigkeit tatsächlich zugänglicher, vielfach geteilter Glaubensoptionen zu prüfen und gegebenenfalls argumentativ zu sichern. Charles Taylor bringt die Rationalitätsdimension von Optionen ins Spiel, wenn er feststellt: „Neben dem Gefühl unserer Würde als desengagierten, freien, denkenden Subjekte […] verfügen wir außerdem über die Vorstellung von einer bejahenden Kraft, die dazu beitragen kann, das Gute durch dessen Anerkennung zu verwirklichen.“ 15 Es ist vernünftig, an solcher Bejahung leidenschaftlich interessiert zu sein, diese Leidenschaft aber einer rationalen Kontrolle zu unterwerfen, damit nicht haltlose oder inhumane Hoffnungen gehegt werden. Theologie hätte im Blick auf die ihr vorgegebenen Zeugnisse die ureigene Aufgabe, die Vernunft-Spannung aufzusuchen zwischen dem Logos desengagierter Kritik und dem der engagierten, gleichwohl rational verantworteten Zustimmung. Sie ist im Entscheidenden von der Frage in Anspruch genommen: Was verdient es, auch angesichts aller vernünftigen Einwände als letztes Worumwillen menschlichen Lebens und Handelns, so auch als Adressat menschlicher Verehrung, unbedingte Zustimmung zu finden und alle

14 Zum Options-Charakter theologischer Überzeugungen vgl. meinen Beitrag: Gott – nur eine Option?, in: Benedikt Paul Göcke – Markus Knapp (Hg.), Gotteserkenntnis und Gottesbeweis. Philosophische und theologische Zugänge, Freiburg i. Br. 2022 (Quaestiones disputatae 320), 19–42. 15 Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, dt. Frankfurt a. M. 1994, 788.

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menschlichen Hoffnungen auf ein Leben in Fülle auf sich zu ziehen, ihnen den jetzt und vermutlich auch in Zukunft erreichbaren besten Grund zu geben? Wer diese Frage stellt, bedenkt eine Option, die er vernünftigen Rückfragen aussetzt und die sich argumentativ dadurch zu bewähren hat, dass sie ihnen standhält. Theologie öffnet die Glaubensperspektive für unbegrenzbar viele Außenperspektiven. Sie lässt sich in sie hineinziehen, um die Vernünftigkeit der von ihr bedachten Option zu erproben und so auch genauer wahrzunehmen, was diese tatsächlich bedeutet. Das ist die Situation vieler Glaubender, auch die einer Theologie, die sich nicht in eine abgedichtete Binnenperspektive zurückzieht, sondern einer Glaubensengagierten Zustimmung mit der Elaborierung guter, weitreichend gültiger und in möglichst vielen Wissenszusammenhängen legitimierbarer Gründe dient. Das heißt nicht, dass man nur hypothetisch glaubt16 oder dass die Theologie sich mit ihrer Hypothetisierung religiöser Geltungsansprüche als neutrale, unparteilichdesengagierte Beobachterin der Hypothesen-Prüfung verstehen müsste. Rational Glaubende lassen sich von der Problematisierung von ihnen geteilter Geltungsansprüche herausfordern, die guten Gründe für oder gegen ihre Option möglichst unvoreingenommen abzuwägen, um so zu einem rational verantworteten Urteil über Fortgeltung, Revisionsbedürftigkeit oder Zurückweisung der jeweils betroffenen Geltungsansprüche zu kommen.17 Insoweit die problematisierten Geltungsansprüche sich im Austausch der Argumente pro et contra bewähren und der Kritik an ihnen standhalten, dürften sie als rational verantwortbare Option angesehen und weiterhin geteilt werden. Theologie methodisiert solche Prüfverfahren. Sie verhält sich zu gelebten Glaubensüberzeugungen also nicht, jedenfalls nicht nur, als unparteilich-desengagierte Beobachterin, ist vielmehr von der Frage in Anspruch genommen, wie man aus nicht nur psychologisch oder soziologisch erklärbaren, sondern vernünftig beurteilbaren Gründen dazu kommen kann, sie zu teilen, zu modifizieren oder sich kritisch zu ihnen zu verhalten. Funktionalistische oder historistische Theoretisierungen von Religion, alle vorgeblich bloß beobachtenden Beschreibungen von Religion, erreichen diese Frage-Ebene nicht. Ihnen wäre mit Hegel zu bedenken zu geben,

16 Wolfhart Pannenberg hat uns jungen Studierenden die Angst vor der „Hypothetisierung des Glaubens“ genommen, indem er das vollmundige „Man glaubt nicht hypothetisch!“ gelassen relativierte und uns so die Möglichkeit eröffnet, auch die (systematische) Theologie als Wahrheits-bewährende Methodik wissenschaftlich verfahrender Hypothesenprüfung zu verstehen; vgl. etwa: Wissenschaftstheorie und Theologie, 300–305). Für die heutige analytische Theologie ist das die selbstverständliche Voraussetzung dafür, Theologie als Wissenschaft betreiben zu können; vgl. Thomas Schärtl, Theologie – Weisheit – Wissenschaft, in: Benedikt Paul Göcke (Hg.), Die Wissenschaftlichkeit der Theologie, Bd. 1, 220. 17 Zu diesem Verfahren vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 2004, 230–270.

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dass sie Überzeugungen als solche thematisieren, „die anderen angehören“. Da ist es von Interesse, „wie es sich bei anderen verhält, bei anderen gemacht hat, – diese zufällige Entstehung und Erscheinung; [und] über die Frage, was man selbst für eine Überzeugung habe, wundert man sich.“ Man beschäftigt sich „mit Wahrheiten, die Wahrheiten waren, nämlich für andere“; mit systemrelativen Überzeugungen, deren Funktionalität man positiv oder negativ beurteilen mag; nicht aber mit Wahrheiten, „welche Eigentum wären derer, die sich damit beschäftigen.“18 Nicht also mit Geltungen, mit denen man sich „erstpersönlich“ und gleichwohl, gerade deshalb, rational auseinanderzusetzen hätte.19 Theologie bezieht sich als Theologie auf erstpersönlich in Anspruch nehmende „Wahrheiten“, auf Zeugnistraditionen. Sie gesteht ihnen zu, dass sie die eigene Arbeit in gewisser Hinsicht normieren, und untersucht die Verantwortbarkeit der Zustimmung zu dem darin Bezeugten. Sie untersucht Zeugnistraditionen historischkritisch, in religionsgeschichtlicher Einstellung. Aber sie würdigt sie insgesamt so, wie sie gewürdigt werden wollen: als Zeugnisse mit religiösem Geltungsanspruch, wie er in Bekenntnissen ausformuliert ist. Dies setzt eine Selbst-Bindung an die Bekenntnisse voraus, die kritischer Rückfrage zugänglich ist, aber weiter reicht als das hier und jetzt zweifelfrei Begründbare. Sie setzt auf den normativen Mehrwert des Glaubens-Gedächtnisses gegenüber dem aktuellen Stand des argumentativen Diskurses. Bedarf solche religiöse Selbst-Bindung nicht einer ihre Legitimität zunächst einmal anerkennenden und sie gleichwohl zu kritischer Rechenschaft herausfordernden wissenschaftlichen Disziplin? Was bliebe einer Gesellschaft, die das normative Gedächtnis religiös-kultureller Überlieferungen auf das reduziert hätte, was wissenschaftlich-argumentativen Prüfinstanzen in Gegenwart und Vergangenheit als rational anschlussfähig und in den Konkurrenzzwängen einer globalisierten Forschung als zukunftswissenschaftlich erfolgversprechend erscheint? Kulturelles Gedächtnis lebt von erstpersönlich geteilten, gleichwohl kritisierbaren und insofern hypothetisierbaren Verbindlichkeiten, in denen Zustimmung und kritische Infragestellung einander nicht ausschließen. Unter den Verständigungsbedingungen 18 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Theorie Werkausgabe Bd. 16, Frankfurt a. M. 1969, 47f. 19 Das theologische Ernstnehmen der Optionalität von (Glaubens-)Überzeugungen schließt es aus, erstpersönlich partikulare Erfahrungen und Überzeugungen als solche bzw. als in einer Glaubensüberzeugungs-Gemeinschaft unabdingbar zu teilende absolut zu setzen. Sie mögen als für diese Glaubensgemeinschaft konstitutiv gelten. Als wahr könnten sie aber nur angesehen werden, insoweit sie sich gegen alle relevanten Gegenargumente rational aufrechterhalten lassen. Ich teile selbstverständlich diese Kernvoraussetzung jeder Wissenschaftspraxis, wie sie etwa von Thomas Schärtl-Trendel zum Markenkern der analytischen Erkenntnistheorie erklärt wird (vgl. ders., Analytische Theologie und die Herausforderungen der Zeichen der Zeit, feinschwarz. Theologisches Feuilleton, 11. November 2022, S. 7).

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der Moderne kann es nur kommuniziert werden, wenn solche Verbindlichkeiten zugleich dekonstruiert und gewürdigt werden, sodass das Prekäre wie das Sinneröffnend-Aufschlussreiche der darin in Anspruch genommenen Geltungen hervortreten und auch miteinander in Konflikt geraten kann. Neuzeitlich haben sich Formen eines wissenschaftlich disziplinierten Miteinanders und Gegeneinanders von Interpretationen herausgebildet, die in der Lage sein sollen, den Konflikt zwischen reduktiver Kritik – der Dekonstruktion von Geltungsansprüchen anhand ihrer Interessebedingtheit oder ihrer Repressivität – und würdigender Anerkennung eines Anspruchs auf unbedingte Geltung argumentativ auszutragen. Paul Ricœur spricht von einem mehr oder weniger institutionalisierten Konflikt der Interpretationen, in dem sich „Hermeneutiken des Verdachts“ und „Hermeneutiken des Sinns“ gegenseitig herausfordern.20 Die Formalisierung und Methodisierung dieses Konflikts und der in ihm zur Anwendung kommenden argumentativen Verfahren mag schwierig und angesichts immer wieder neuer Anläufe zu einer Hermeneutik des Verdachts im Fluss sein. Aber es liegt auf der Hand, dass im Konflikt der Interpretationen je neu mit guten Gründen und entsprechenden Methoden, die solche Begründungen hervorbringen können, das kritisch zu Dekonstruierende, weil als bloß Interessen- oder Machtgeneriert Verdacht Erregende, von dem unterschieden werden muss, was einen gut begründeten Geltungsanspruch anmelden darf. Es liegt ebenfalls auf der Hand, dass geklärt werden muss, wie sich hier auf rationale Weise gute von eher schwachen Argumenten unterscheiden lassen. Vielleicht spricht es schon für die Unerlässlichkeit wie für die Leistungsfähigkeit solcher Verfahren, wenn man darauf aufmerksam wird, dass sie nur kritisch nachvollziehen, was in der intellektuellen Auseinandersetzung und der Arbeit an Lebens-tragenden Überzeugungen implizit, wohl auch mehr oder weniger explizit fortlaufend geschieht und die Zeugnisse, denen sie sich verdanken, immer wieder neu vernünftig zugänglich macht. Jesu eigenes Zeugnis ist von der Überzeugung getragen, Gottes Herrschaft sei zum Greifen nahe herbeigekommen und die Menschen müssten ihr Leben hier und jetzt als die Chance begreifen, in Gottes Herrschaft zu leben, zu ihr einen Zugang zu finden und den guten Willen Gottes, der in ihr herrscht, durch Wort und Tat zu bezeugen. Diese Überzeugung gewinnt in den unterschiedlichsten Lebens- und Überzeugungskontexten immer wieder neu Bedeutung, und sie ist immer wieder neuen Delegitimationen ausgesetzt – angefangen von den apokalyptischen Konzepten der verschiedenen neutestamentlichen Traditionen über religiöse oder entschieden irreligiöse Zwei-Reiche- oder Drei-Reiche-Konzepte, die Gottes Herrschaft als die jetzt zu erringende und zu

20 Vgl. etwa: Paul Ricœur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, dt. Frankfurt a. M. 1969, 33–49, 68–70.

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gestaltende geschichtliche Vollendungsphase in Anspruch nehmen, bis hin zu normalchristlichen Konzepten, die Reich Gottes ohne Weiteres mit der Vollendung der Glaubenden „im Himmel“ gleichsetzen. Übersetzungen und Inkulturationen wie bewusste Beerbungsversuche und der Ideologieverdacht, der sie jeweils getragen hat, die kritische Auseinandersetzung mit diesen Inkulturationen und den Verdachtsgründen, die für Delegitimation der Reich-Gottes-Botschaft in Anspruch genommen wurden, sind Ausgangspunkte und Gegenstand eines methodisch auszutragenden Konflikts der Interpretationen, in dem die heute geltend zu machende Bedeutung der Reich-Gottes-Botschaft Jesu gefunden, in gewisser Weise generiert und nach ihrer möglichen Bedeutung für eine rational verantwortliche Lebenspraxis gefragt wird. Das gilt auch für begrifflich klarer bestimmte Konzepte, mit denen theologische Lehre den Übersetzungsprozess elementarer Glaubensüberzeugungen kontrollieren und zu kirchlich-kommunitär verträglichen Sprachregelungen kommen will. Auch die mehr oder weniger strenge begriffliche Festlegung sagt ja nicht – gewissermaßen „originalgetreu“ – die Sache selbst, sondern verwendet begriffliche Modelle, deren Bedeutung in Interpretationsprozessen immer wieder neu elaboriert und auf den Prüfstand gestellt werden. Die Normativität des Ursprungs bleibt immer in Spannung zu der Bedeutung, in der das damals Gesagte heute und morgen Relevanz gewinnt, sich als katholisch in dem Sinne erweist, dass es auch in Gegenwart und Zukunft seine Glaubens- und Lebens-Relevanz entfalten kann, im Prozess des Konflikts der Interpretation seine Bedeutung also nicht verliert, sondern klärt, erweist und je neu hervorbringt. Theologinnen und Theologen werden den Konflikt der Interpretationen im eigenen Haus als ihr ureigenes Feld zu entdecken und in Freiheit zu gestalten haben. So werden sie ihre Wissenschaftsfreiheit im Sinne der Ergebnis-Offenheit in Anspruch nehmen. Im Voraus ist nicht zu entscheiden, wie dieser Konflikt im konkreten Fall und im Ganzen der theologischen Selbstprüfung des Glaubens ausgeht und was er für die Glaubensüberlieferungen bedeutet: wie die normativen Glaubenszeugnisse aus ihm „herauskommen“ und was sie den Menschen bedeuten werden. Die theologischen Disziplinen setzen sich je auf ihre Weise diesem Konflikt aus. Sie tun dies in der Zuversicht, dass der Konflikt nicht mit der Zurückweisung des Wahrheitsanspruchs der normativen Glaubenszeugnisse enden muss. Sie werden nicht genötigt sein, nur das herausbringen zu dürfen, was mit dem kirchlich überlieferten Sinn der normativen Glaubenszeugnisse übereinstimmt, müssten sich aber darüber Rechenschaft geben, ob die von ihnen erzielten Forschungsergebnisse innerhalb der christlichen Glaubensüberzeugungen als mögliche Auslegungen der überlieferten Zeugnisse Zustimmung finden können. Die Freiheit der Wissenschaft realisiert sich konkret in Verfahren, die alle sachfremden Einflussnahmen auf die Ergebnisse von Forschung, insbesondere alle Mechanismen der Immunisierung gegen Kritik und der Diskreditierung von „un-

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angenehmen“ Gegenargumenten ausschalten sollen. Sie beruht auf der „Bereitschaft, die Wahrheit so anzunehmen, wie sie sich am Ende der Forschungsarbeit darbietet, bei der kein Element Einfluss gewinnt, das den Erfordernissen einer dem Objekt entsprechenden Methode fremd ist“.21 Dazu gehört unabdingbar die Bereitschaft, sich der Zwiespältigkeit der Überlieferungsprozesse wie der in ihnen überlieferten Geltungsansprüche zu stellen und all das angemessen in Betracht zu ziehen, was gegen ihren kirchlich geteilten Wahrheitsanspruch ins Feld geführt wird.

4.

Der wissenschaftstheoretische Anspruch der analytischen Theologie

Wissenschaft methodisiert die Überprüfung von Hypothesen wie der Kriterien, anhand derer sich die Validität der in ihnen enthaltenen Behauptungen einigermaßen „objektiv“ beurteilen lässt. Gegen meine Überlegungen ist nicht ohne Grund eingewandt worden, sie entzögen sich der Verpflichtung, metaphysische BasisAnnahmen zu sichern, ohne deren Geltung die Überprüfbarkeit theologischer Hypothesen nicht sichergestellt werden könne. Wenn in diskursiven Verfahren prinzipiell alles als revisionsfähig angesehen wird, sei die Tür zu einem Relativismus aufgestoßen, der es letztlich nicht mehr erlaube, anhand klarer Kriterien Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden und die Validität einer Behauptung über die Beliebigkeit einer interessebedingt-perspektivischen Stellungnahme hinaus auszuweisen. Es reiche nicht, wenn sich die Theologie mit Argumenten für die rationale Begründbarkeit von Geltungsansprüchen zufriedengibt und dabei einkalkuliert, dass man sich immer wieder mit neuen Zweifeln an den Voraussetzungen der jetzt ausgeführten Begründungen auseinanderzusetzen haben wird. Das wäre – so Thomas Schärtl – „wie eine Eingabe ans Parlament, die sich mit der reinen Debatte zufrieden gäbe und auf eine endgültige Abstimmung und Beschlussfassung keinen Wert legte.“22 Es muss doch möglich sein, in den grundlegenden Alternativen zu einer „Beschlussfassung“ zu kommen, die nicht von vornherein unter Vorbehalt steht und sofort wieder – prinzipiell – in ihrer Legitimität bestritten werden kann. Man kann dieses Argument, wie Klaus Müller es mit Hansjürgen Verweyen getan hat, auch anders wenden: Wenn ich unterstelle, im Konflikt der Interpretationen müssten sich Christentums-kritische Argumente würdigen und wenn möglich ad hoc soweit entkräften lassen, dass sie zumindest als nicht durchschlagend angesehen werden müssen, frage man sich, ob dabei nicht auf vorher sichergestellte Wahrheiten zurückgegriffen werden muss, die der theologischen Verteidigung der

21 Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über die kirchliche Berufung des Theologen vom 24. Mai 1990, Ziffer 12. 22 Thomas Schärtl, Theologie – Weisheit – Wissenschaft, a. a. O., 233.

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eigenen Behauptungen bzw. der Zurückweisung der kritischen Argumente ihre Basis und Überzeugungskraft sichert.23 Es genüge nicht, auf die Ad hoc-Plausibilität der Argumente zu setzen, welche zentrale theologische Behauptungen rebus sic stantibus – in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit Argumenten, die sie widerlegen wollen – als rational behauptbar ausweisen. Vielmehr müsse es darum gehen, dem Geltungsanspruch des Christlichen im Kontext rationaler Welt- und Selbstverständigung einen Ort zu geben, an dem seine Unverzichtbarkeit eingesehen werden kann. Müller beansprucht in diesem Sinne eine Letztbegründbarkeit, die so einzulösen wäre, dass man „den in Frage stehenden Geltungsanspruch in den Rahmen einer Welt- und Selbstbeschreibung stellt“, in dem dieser Geltungsanspruch verständlich macht, „was es heißt, dass für mich etwas unbedingte Geltung hat“. Die Behauptung, es sei für ein bewusst vollzogenes Welt- und Selbstverständnis unerlässlich, sich mit den besten erreichbaren Gründen von einer unbedingten Geltung beanspruchen zu lassen, wäre allerdings zuvor als unerlässliche Basisbedingung menschlichen Vernunftgebrauchs auszuweisen. Damit würden die metaphysischen Verpflichtungen eingelöst, die man mit dem Anmelden von Wahrheitsansprüchen – auch mit theologischen Wahrheitsansprüchen – auf sich nimmt. Wer sich diesem Argumentationspensum entziehe, werde bei seinen Begründungen, mit denen er für die rationale Verantwortbarkeit der vom Christentum erhobenen Geltungsansprüche argumentiert, den „Dezisionismusverdacht“ nicht los.24 Mir erscheint zweifelhaft, ob Müllers eigene transzendentale UnerlässlichkeitsArgumentation zielführend ist. Aber es ist ihm darin Recht zu geben, dass er auf der Einlösung basaler metaphysischer Verpflichtungen besteht. Theologische Behauptungen müssen im Kontext aller anderen gut begründeten Behauptungen über die Wirklichkeit nicht nur rational möglich sein, sondern dadurch überzeugen können, dass zumindest sehr gute Gründe für ihre Annahme sprechen, bessere Gründe jedenfalls als für entgegengesetzte Behauptungen. Die „vernünftige Akzeptanz theistischer Überzeugungen“ im Sinne christlicher Glaubensüberzeugungen sollte sich „daran festmachen [lassen], ob sie sich dabei bewähren, wie sie uns die Welt und uns selbst auf eine angemessene Weise erfahren lassen“ und uns einen sinnvollen Umgang mit ihr erschließen.25 Angemessen und sinnvoll hieße – folgt man Holm 23 Müsse nicht – so Hansjürgen Verweyen – „eine systematisch kohärente Begründungsfähigkeit angenommen werden, die die durchgehende Konsistenz dieser sporadischen ‚Repliken‘ ermöglicht?“ (ders., Gottes letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie, Regensburg 3 2000, 65). Vgl. Klaus Müller, Vernunft und Glaube: Eine Zwischenbilanz zu laufenden Debatten, Münster 2005, 207. 24 Klaus Müller, Vernunft und Glaube, 76f. 25 Holm Tetens, Müssen Theologen methodische Atheisten sein? Überlegungen zu einem vermeintlichen Dilemma, den Wissenschaftsanspruch der Theologie einzulösen, in: Benedikt Paul Göcke (Hg.), Die Wissenschaftlichkeit der Theologie, Bd. 1, 189–201, hier 200. Damit ist natürlich die Frage aufgeworfen, was ein gutes Argument auszeichnet, wenn es sich nicht auf rebus sic stantibus unbestreitbare und sachlich einschlägige empirische Befunde stützen kann oder Erklärungen bereitstellt,

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Tetens – angemessener als andere metaphysische Rahmentheorien und für ein menschliches Umgehen mit der Welt und der Wirklichkeit des eigenen Daseins in ihr in höherem Maße aufschlussreich. Eine entsprechende ArgumentationsStrategie könnte – so immer noch Tetens – darauf abzielen, „Schwierigkeiten des Naturalismus […] in Stärken des Theismus umzumünzen“. Sie könnte deutlich machen, dass es dem Naturalismus nicht gelingt zu erläutern, „wie materielle Dinge und Prozesse und zugleich erlebnisfähige selbstreflexive Ich-Subjekte zusammen ein derselbe Welt bilden“26 – und dass eine christlich-theistische Weltanschauung deutlich bessere Möglichkeiten bereithält, diesen Zusammenhang zu begreifen. Aber bliebe nicht auch diese mit einem Besser sich zufriedengebende, in diesem Sinne „komparative“ Argumentation den Einwänden ausgesetzt, die Schärtl und Müller gegen meine Überlegungen vorgebracht haben? Wie lassen sich hier und jetzt wahre Urteile begründen, die nicht in der gleichen Weise fallibel wären wie bloß wahrscheinliche und bis auf Weiteres als zutreffend Anzunehmende? Mit Tetens könnte man immerhin Theologie-relevant festhalten: Es ist mit hoher Sicherheit auszuschließen, dass ein konsequenter Naturalismus eine theistisch-christliche Sicht der Wirklichkeit im Ganzen, wenn diese sich im Kontext heutiger Welt- und Selbsterfahrung interpretiert, zu widerlegen imstande ist. Aber wie gut sind die Gründe, die theistisch-christliche Sicht als wahr – im Sinne von Wirklichkeitsangemessen – anzunehmen? Lässt sich damit argumentieren, dass mit ihr die relevanten Aspekte menschlicher Erfahrung von Wirklichkeit am besten in eine umfassende Welt- und Lebensanschauung integriert werden können und sich so dem menschlichen Leben ein sinnvoller Umgang mit der Wirklichkeit im Ganzen erschließt? Und wie sähen die Argumente für diese Behauptung gegebenenfalls aus?27 Wären nicht auch sie prinzipiell überholbar, jedenfalls nicht von gleicher Güte wie logisch-notwendige Zusammenhänge und Ableitungen? Wie also käme theologisches Argumentieren auf einen sicheren Weg, der ihm ein wissenschaftliches Renommée einbringen könnte? Vertreter einer analytischen Theologie verpflichten die Theologie zunächst einmal auf wissenschaftlich basale Argumentationsstandards. Auch die Theologie

die jede denkbare andere Erklärung als offensichtlich inadäquat erweisen. Ich muss einräumen, dass mir die argumentationstheoretischen Unschärfen meines eigenen, auf Habermas zurückgreifenden, diskurstheoretischen Ansatzes als gravierend erscheinen. Aber mit solchen Defiziten stehe ich m. E. nicht allein da. „Evidenzbasierung“ ist das gern in Anspruch genommene Signalwort. Schnell wird in öffentlichen Diskursen dann aber ziemlich unklar, wo genau die Grenze zwischen persuasiven und begründenden Diskursfiguren verläuft. Man wird hier gerade theologisch weiterkommen müssen. Die Frage wird freilich sein, ob das in den Bahnen der analytischen Philosophie zu geschehen hat. 26 Holm Tetens, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 3 2015, 7 und 21. 27 Klaus Müllers Entwurf hat auf diese Fragen eine imponierende Antwort gegeben. Aber nimmt er nicht zu viel an argumentativer Sicherheit in Anspruch?

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müsse – so Benedikt Paul Göcke – darauf ausgerichtet sein, „ein System von deklarativen Sätzen zu entwickeln, die untereinander in klar definierten logischen, semantischen und explanatorischen Beziehungen stehen und durch einen klar umrissenen Gegenstandsbereich geeint sind“. Und dieses System zueinander in klaren, nachvollziehbaren Beziehungen stehender Behauptungen müsse sich daran bewähren, dass es den Gegenstandsbereich, auf den es sich bezieht, „in seinem Wesen transparent und verständlich macht und dadurch konkrete Sachverhalte in der Welt zu erklären in der Lage ist, deren Bestehen uns zunächst in philosophisches Erstaunen versetzt.“ Durch Klärung der verwendeten Begriffe und der jeweils in Anspruch genommenen Argumentationsstrukturen solle die Theologie in die Lage kommen, ihren Gegenstandsbereich – das Gesamt der Wirklichkeit in der Perspektive ihres Gegründet-Seins in Gott – so transparent und umfassend zu entwickeln, dass sie kein gut begründetes Wissen in anderen Wissenschaften ausschließen muss und in der Lage ist, substantielle Beiträge zu einem besseren Verständnis der Wirklichkeit zu leisten, will heißen: Wissen zu entwickeln, „um das Bestehen bestimmter ihrem Gegenstandsbereich zugeordneter Sachverhalte zu erklären und somit diese Sachverhalte unserem Verstehen näher zu bringen“28 , sie nicht mehr nur als erstaunlich, sondern als erklärbar anzusehen. Theologie ist nach Göcke die methodisch reflektierte Bemühung, ein erklärungsrelevantes, „das Gesamt der Wirklichkeit ein- und erschließendes und unter dem regulativen Ideal der Wahrheit stehendes philosophisch-theologisches Gesamtsystem zu entwerfen“, das sich „sowohl auf das theoretische Erkennen der Grundstrukturen der Wirklichkeit als auch auf normative Handlungsanweisungen [bezieht] und auf das Wohlergehen der Schöpfung“ wie „der menschlichen Gemeinschaft ausgerichtet“ ist. Als spezifischer, womöglich sogar ausschlaggebender Vorzug zunächst auf der kognitiven Ebene lässt sich – so Göcke – ins Feld führen, dass die theologische Annahme eines freien und vernünftigen Schöpfergottes die rationale Struktur der Wirklichkeit im Ganzen und somit auch ihre Erkennbarkeit erklären kann, was rebus sic stantibus keinem alternativen Erklärungsansatz gelinge.29 Für den analytical approach steht der kognitive Theorie-Aspekt im Vordergrund: Die Theologie erweist ihr wissenschaftliches Renommée dadurch, dass sie eine spezifische Erklärungs-Leistung erbringt, die zusätzlich an Überzeugungskraft gewinnt, wenn sie einen nachweisbar angemessenen Umgang mit der Wirklichkeit im Ganzen, so auch mit den elementaren Herausforderungen des menschlichen Miteinanders erschließt. In theoretischer Hinsicht muss die Theologie die christli-

28 Benedikt Paul Göcke, Theologie als Wissenschaft?! Erste Antworten auf die Herausforderungen von Wissenschaftstheorie und Naturalismus, in: Theologie und Glaube 107 (2017), 113–136, 120 und 122. 29 Vgl. ebd., 135f.

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che „Weltanschauung“ unter umfassenden Kohärenz-Anforderungen bewähren30 : Das Christliche soll alle Aspekte der Wirklichkeit besser in einem logischen Zusammenhang erläutern und erklären können als konkurrierende „Metaphysiken“. Kohärenz-verhindernde Annahmen müssen sich durch begriffliche Klärungen oder argumentativ-logische Klarstellungen beheben lassen. Es liegt unter dieser Voraussetzung nahe, auf die Schöpfungstheologie zu sprechen zu kommen. Das Theodizee-Problem würde sich dem hier erhobenen umfassenden und forcierten Kohärenzanspruch deutlich weniger fügen. Und weitere zentrale Aspekte der christlichen „Weltanschauung“ wie die Erlösungsthematik, so auch der Glaube an Auferstehung, scheinen zusätzliche erhebliche Kohärenzprobleme aufzuwerfen, insofern mit ihnen Aspekte der Wirklichkeit aufgerufen werden, die jedenfalls in anthropologisch-lebenswissenschaftlichen Diskursen kaum auf Plausibilität zählen können. So verschiebt sich kognitive Erklärungsanspruch schließlich doch auf die lebenspraktische Erschließung-Leistung, von der freilich angenommen werden müsste, dass sie eine kognitiv-metaphysisch gesicherte Basis hat. Man wird sich den Gedanken vielleicht so zurechtlegen: Die theologische Auslegung des Christlichen bietet eine Erklärung der Conditio humana, die konkurrierenden Erklärungsansätzen standhält, gar überlegen ist, und Perspektiven eröffnen kann, mit den Bedingungen des Menschseins nachweislich angemessen umzugehen. Aber man wird fragen, ob der hier unterstellte Primat der kognitiven Erklärung vor der lebenspraktischen Erschließung (von angemessenen Handlungsperspektiven) dem Selbstverständnis des Glaubens wirklich angemessen ist. Die kognitive Dimension des Glaubens, in der Behauptungen mit Wahrheitsanspruch über die Existenz und das Wesen Gottes formuliert werden, die dann die Basis für weitere Behauptungen mit Wahrheitsanspruch und lebenspraktischem Erschließungspotential zur Soteriologie, Gnadenlehre, schließlich Eschatologie abgeben, begründet im gelebten Glauben die metaphysische Möglichkeit dafür, dass diese „weiteren Behauptungen“, denen der christliche Glaube als Heilsglaube eigentlich gilt, überhaupt von einer göttlichen Wirklichkeit gemacht werden können. Die weiteren, meist biblisch begründeten Behauptungen treten nun aber oft auch in Spannung zur metaphysischen Bestimmung des Wesens Gottes als des vollkommensten Wesens. Sie assoziieren selbst ein Verständnis von Vollkommenheit, das die Bestimmungen des metaphysisch vollkommensten Daseins zumindest in einem anderen Licht erscheinen lassen, mitunter auch unter Aporie-Druck setzen; man denke an die Begriffe für die Seins- und Wesens-Vollkommenheiten Gottes, die, wie die Geschichte des Theodizee-Problems erkennen lässt, dieses Problem nachhaltig

30 Bemüht wird hier – wie ja auch programmatisch bei Thomas Schärtl – ein begründungstheoretischer Kohärentismus; vgl. Thomas Schärtl, Theologie – Weisheit – Wissenschaft, a. a. O., 271–274.

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und immer wieder hervorrufen. Es kann nicht in dem Sinne definitiv ausgeräumt werden, dass entsprechende Spannungen durch begriffliche Präzisierung aus der Welt geschafft werden. Begriffs-Klärung würde hier lediglich bedeuten können, Spannungen etwa im Allmachts-Gedanken nachzuvollziehen und sie soweit begrifflich zu stabilisieren, dass eingesehen werden kann, warum sie u. U. unvermeidlich auftreten und doch nicht dazu führen, dass der Gedanke unsinnig wird, warum sie vielmehr als rational fruchtbare und weiterführende Spannungen wahrgenommen werden können.31 Ein konsequenter begründungstheoretischer Kohärentismus gerät theologisch vollends in die Krise, wenn es darum geht, den christlichen Auferstehungsglauben mit Voraussetzungen und Ergebnissen neurowissenschaftlicher Forschung abzugleichen – oder auch nur darum, dem überlieferten Auferstehungsglauben im Kontext solcher Forschungen eine nachvollziehbare Bedeutung zu geben. Kognitive Kohärenz bleibt also mitunter eher Behauptung oder ProjektBeschreibung als ein überzeugend erreichtes Forschungsergebnis. Dass die Theologie elementare Zusammenhänge der Welt in einem neuen, inspirierenden Licht erscheinen lässt und den Umgang mit ihr produktiv verändert, scheint sich deutlicher im Kontext der praktischen Selbstvergewisserung und Handlungsorientierung des Menschen zu zeigen. Der christliche Glaube kann eine faszinierende Vorstellung davon geben, was Menschen als das Beste und Höchste, auch als das Schönste ansehen können, wonach sie sich ausstrecken und wovon sie wünschen könnten, dass es die „alles bestimmende Wirklichkeit“ wäre – an dessen Wirklich-Werden sie ihre höchsten Hoffnungen festmachen könnten. Glaube ist in diesem Sinne eine Option, das Sich-Festmachen im zuhöchst Wünschbaren und Bejahenswerten. Glaubende bleiben Glaubende. Sie können nicht wissen, dass das zuhöchst Bejahenswerte Wirklichkeit ist, dass es die zuletzt alles bestimmende Wirklichkeit ist. Aber es kann ihnen immer mehr aufgehen, was ihnen aus welchen guten Gründen als das zuhöchst Bejahenswerte einleuchtet und ihr Leben deshalb absolut in Anspruch nehmen darf. Die Theologie wird der Glaubens-Vergewisserung mit evaluativen Argumenten zu Hilfe kommen können, die die Güte und Schönheit des im Glauben Aufleuchtenden herausarbeiten und gegen argumentative Entwertungsversuche verteidigen. Evaluative Argumente werden etwa im anthropologischen Feld einen Horizont für die unbedingte Bedeutung der Menschenwürde entwerfen, der sie als für jeden Menschen unverlierbar gewahrt ansehen lässt, da Gott die

31 Der Open theism versucht, diesen Spannungen durch entsprechende Reformulierungen des Gottesgedankens Rechnung zu tragen. Die Frage ist, ob er sie ausräumen kann; vgl. den Überblick bei Manuel Schmid, Gott ist ein Abenteuer. Der offene Theismus und die Herausforderungen biblischer Gottesrede, Göttingen 2020.

Ist die Theologie eine Wissenschaft?

Menschen würdigt, sein Leben mit ihnen zu teilen. Evaluative Argumente können in einen Horizont der Liebe hineinführen, in dem Gott als der Retter und Vollender einer von Zwiespältigkeit, Endlichkeit und vom Missbrauch bedrohten menschlichen Liebe geglaubt und in der Liebe als selbst erfahrbar wahrgenommen wird. Der Glaube an das unbedingt Bejahenswerte und den, der sein Wirklich-Werden verbürgt, setzt dessen Wirklichkeit bzw. Wirklich-Werden nicht als vernünftig Sicherzustellendes. Er ist freilich darauf angewiesen, dass sich in metaphysischer Reflexion als immerhin möglich – als eschatologisch mögliche, weil in der Schöpfung angebahnte Wirklichkeit – aufweisen lässt, worauf die Glaubenden ihre Hoffnung setzen; und dass es möglich ist, dass der ist, der ihr Hoffen rechtfertigt und an den sie glaubend jetzt schon „ihr Herz hängen“. Diese kognitive Vergewisserung wird jedoch gleichsam überholt von der „Logik“ einer Hoffnung, die es als zutiefst vernünftig erscheinen lässt, auf das Sich-Erfüllen dieser Hoffnung zu setzen und sich unbedingt davon in Anspruch nehmen zu lassen, dass sich diese Hoffnung erfüllt. Der Streit um das unbedingt Bejahenswerte und Erhoffenswerte fordert die Theologie heraus, das Aufschlussreiche christlichen Glaubens anthropologisch zu bewähren.32 Wolfhart Pannenberg hat sich dieser Herausforderung in unnachahmlicher Elaboriertheit gestellt. Die analytische Theologie täte gut daran, das Ineinander von theoretisch-erklärender und praktischer, Lebenswelt erschließender und zugänglich machender Vernunft so genau wie er nachzuvollziehen. So würde sie die theologische Thematisierung und Vergewisserung des christlichen Glaubens näher an dessen eigener Selbstvergewisserung halten als mit der Stilisierung des Glaubens im Sinne eines stringentes Systems Wahrheit beanspruchender Behauptungen. Man wird diese Stilisierung wissenschaftstheoretisch für hilfreich halten können, aber dabei nicht vergessen dürfen, die „Gründe des Herzens“33 in ihrer eigenen Logik und Überzeugungskraft zu würdigen. Aber würde das nicht zuletzt (und zuerst) doch die Abkehr von der „klassische[n] neuzeitliche[n] Wissenschaftsmethodik“ erfordern, welche „Theoriebildung an Rechtfertigung, Indizien, Falsifikation oder Bewährung knüpft.“ Würde man, wenn man den wissenschaftstheoretischen Primat der theoretischen Modellbildung re-

32 Diese Herausforderung habe ich mich mit meinem Buch: Theologie anthropologisch gedacht, Freiburg i. Br. 2022 aufnehmen wollen. 33 Vgl. Blaise Pascals berühmte Formulierung: „Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt“ (dt. Über die Religion und einige andere Gegenstände, hg. von Ewald Wasmuth, Gerlingen 9 1994, 141 (Aphorismus 277). Darf man in aller Ehrfurcht hinzufügen: aber kennenlernen kann und dann auch prüfen darf ?

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Jürgen Werbick

lativiert, „das wissenschaftliche Ideal objektiver Erkenntnis“34 nicht zugunsten eines „situierten Wissens“ aufgeben und sich auf erstpersönliche BetroffenheitsWahrheiten zurückziehen, Erkenntnis also letztlich davon normiert sehen, ob „Betroffene“ etwas damit anfangen können? Was spräche theologisch gegen den Primat des „situierten Wissens“? Wissen ist doch meist, wenn nicht immer, im menschlichen Streben situiert, mit der Wirklichkeit besser zurechtzukommen. Theoretische, auch spielerische Modellbildungen mögen die Kreativität, die Integrativität und die Sensibilität dafür fördern, das bisher nicht Gesehene wahrzunehmen und womöglich schon Gesehenes neu einzuordnen. Insofern wird es, gerade auch in der Theologie, gut sein, sich den Freiraum des Theoretischen vom Verwendungsdruck nicht zu sehr einengen zu lassen. Aber das ändert doch nichts daran, dass es höchst sinnvoll ist, sich des Situiert-Seins des Wissens immer wieder neu bewusst zu werden. Und in der Theologie wird man nicht davon abstrahieren können, dass alles Glaubens-Wissen sich auf das Herausgefordert-Sein des Menschen – konkreter Menschen – von seinem bzw. ihrem In-der-Welt-Sein bezieht; und das heißt in theologischer Wahrnehmung: dass es sich als Glaubens-Wissens auf das Situiert-Sein vor und mit Gott, auf Gott hin, bezieht. Erklärt dieses Wissen auch etwas – etwas ohne dieses Wissen „Erstaunliches“ – im Sach-Zusammenhang des vorgläubigen Wissens der Menschen um sich und um ihr In-der-Welt-Sein? Was könnte ihm da den Status eines objektiven, theoretisch einigermaßen sichergestellten, jedenfalls unumgänglich gemachten Erklärungs-Wissens sichern? Der Primat der Theorie hängt hier offenkundig am Primat des Erklärungsbegriffs, an seiner wissenschaftstheoretisch als umfassend behaupteten Bedeutung.35 Wie steht es um diese Behauptung? Heißt: „Ich verstehe mein Dasein besser, wenn ich mich religiös-christlich verstehe und mir dieses Verständnis in der kritischen Auseinandersetzung mit anderen Welt- und Selbstverständnissen immer wieder neu erarbeite“ dasselbe wie: „Ich kann mir mein

34 Thomas Schärtl – Benedikt Paul Göcke, Zum Streit um die Analytische Theologie: Unter Verdacht, in: Herder Korrespondenz 76/10/2022), 47–50, hier 50. 35 Vgl. dazu Thomas Schärtl, Theologie – Weisheit – Wissenschaft, a. a. O., 233–237. Ich gestehe, dass mir Schärtls weiterer Erklärungsbegriff, der über die „Dialektik von Erklären und Verstehen“ hinauskommen will, nicht so klar erscheint, dass er mich von der Verzichtbarkeit des Verstehensbegriffs überzeugen könnte. Kann man etwa theologisch durchweg zu Erklärungen kommen wollen, „die im Wesentlichen darin bestehen, Theorien zu formulieren, die zu den ‚Phänomenen‘ passen“ (ebd. 237, mit Bezug auf Paul Weingartner, Wissenschaftstheorie I: Einführung in die Hauptprobleme, Stuttgart – Bad Cannstatt 1971), selbst wenn man zu den Phänomenen hier die Menge der (theologischen) Basissätze rechnet? Geht es theologisch wirklich nur oder vorrangig darum, Theorien zu formulieren, die zu den Dogmen oder als unverzichtbar angesehenen Glaubensüberzeugungen (oder wozu sonst?) „passen“? Oder mitunter, wenn nicht gerade darum, eine neue Sicht der „Phänomene“ zu provozieren, die einen neuen (passenden?) Umgang mit ihnen ermöglicht?

Ist die Theologie eine Wissenschaft?

Dasein und die Welt, in der ich da bin, religiös und theologisch besser als mithilfe anderer Theorien erklären und erarbeite mir diese Erklärung, indem ich mir den adäquaten Zusammenhang der religiösen Grundüberzeugungen und dieser Grundüberzeugungen mit unabweisbaren sonstigen Phänomenen erkläre“? Und hängt an der zweiten Fassung der Behauptung, mit der – so verstehe ich die analytische Theologie – allein ein objektiv-beurteilbares Wissen beansprucht wäre, das wissenschaftstheoretische Renommée der Theologie? Ich will nicht in Abrede stellen, dass es theologisch auch ums Erklären-Können gehen muss; Holm Tetens hat dazu vielleicht schon gesagt, was zu sagen ist. Aber erfasst man das Geschäft der Theologie einigermaßen umfassend, wenn man sie vor allem und im Kern dazu berufen sieht? Ich denke, es wäre an der Zeit, im Anschluss an Wolfhart Pannenbergs wissenschaftstheoretischen Entwurf dieser Frage Aufmerksamkeit zuzuwenden und sich weniger in großflächigen theologisch-theologiepolitischen Schlachtfeld-Beschreibungen auszubreiten oder aber demonstrativ zu bedauern, dass man keine satisfaktionsfähigen Gegner hat.

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Christoph Poetsch

Logos und Logizität Systematische Überlegungen im Anschluss an Wolfhart Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie Angenommen, die Theologie müsste ihren Platz an der Universität räumen. Dies hätte, so Wolfhart Pannenberg, nicht nur entscheidende Folgen „für das christliche Wahrheitsbewußtsein“ (WuTh, 17), das sich plötzlich außerhalb der Universität und damit des Ortes objektiver Wahrheitssuche gesetzt sähe. Es hätte vor allem auch gravierende Konsequenzen für die Einheit, die universitas der Wissenschaften insgesamt: Denn „auch für die Wissenschaften könnte eine solche Entwicklung verhängnisvoll sein, weil nämlich ohne das kritische Zusammenspiel von Theologie und Philosophie die Einheit des Wissens, die die Wissenschaften davor bewahrt, gänzlich in spezialistische Fächer auseinanderzufallen […], nicht mehr wahrgenommen würde.“ (WuTh, 17) Ohne Theologie (und Philosophie) ist, dieser Aussage Pannenbergs zufolge, die bewusste Einheit des Wissens nicht zu haben und ebenso wenig der einheitliche Zusammenhang, die Systematik der Wissenschaften. Ohne Theologie bleibt die Versammlung der Wissenschaften an der Universität bloßes Aggregat. Das behauptet nicht nur Theologie als Wissenschaft, sondern erhebt auch einen – nicht geringen – Anspruch auf eine Rolle der Theologie in der Wissenschaftstheorie selbst. Um diesen zweiten Aspekt, Theologie als Wissenschaftstheorie, soll es mir im Folgenden gehen; wobei ich zu Beginn des 4. Abschnitts nochmals eigens auf die Frage eingehen werde, ob und inwieweit Pannenberg diesen zweiten, stärkeren Anspruch in Wissenschaftstheorie und Theologie auch tatsächlich vertritt. Mein Grundgedanke ist folgender: Jede Wissenschaft setzt auf Seiten ihres Gegenstandes – und zuletzt für sich selbst – eine bestimmte fundamentale Struktur voraus. Und zwar muss diese Struktur so verfasst sein, dass sie die Begreifbarkeit und Rationalität dieses Gegenstandes gewährleistet und in der Folge einen nichtarbiträren, objektiven Diskurs zwischen Einzelsubjekten über selbigen ermöglicht. Diese Verfasstheit möchte ich heuristisch als ‚Logizität‘ bezeichnen. Wenn sich nun aber zeigen lässt, dass die christliche Theologie über ein Konzept verfügt, das mit dieser Logizität systematische Schnittmengen aufweist, dann lässt sich hierüber die Theologie nicht nur innerhalb der Wissenschaften als Wissenschaft verorten, sondern ihre Perspektive wäre, in systematischer Hinsicht, auch mit wissenschaftstheoretischen Fragen selbst gewinnbringend in Beziehung zu setzen. Ein solches Konzept liegt meines Erachtens im λόγος-Konzept vor. Führt man also Logos und Logizität eng, so ergibt sich eine Reihe an weitreichenden und fruchtbaren Konse-

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quenzen für jenes Verhältnis, das Pannenberg in Wissenschaftstheorie und Theologie so facettenreich bespricht. Das ist, in aller Kürze, der Grundgedanke der nachfolgenden Argumentation. Im ersten Abschnitt werde ich hierfür systematisch umreißen, was ich genauer unter Logizität verstehe. Im zweiten Schritt werde ich skizzenhaft zu zeigen versuchen, dass das pagane antike λόγος-Konzept diese Form der Logizität zu fassen vermag. Der anschließende dritte Abschnitt gilt dem (ebenfalls skizzierten) Nachweis, dass dieser Hintergrund wohl auch für das prominenteste Auftreten des λόγος-Konzepts im Christentum, namentlich im Johannes-Prolog, in Anspruch genommen werden kann. Im abschließenden vierten Schritt erörtere ich die systematischen Konsequenzen, die sich aus diesen Überlegungen für einzelne Aspekte der von Pannenberg analysierten Beziehung zwischen Wissenschaftstheorie und Theologie ergeben. Vorab einige kurze Bemerkungen zur eingenommenen Perspektive. Meine Perspektive ist die des Philosophen, nicht des Theologen, und sie ist systematisch und historisch gleichermaßen. Was Ersteres angeht, so impliziert dies vor allem, dass ich aus einer philosophischen Perspektive auf philosophische wie theologische Texte gleichermaßen blicke und sie, mit Pannenberg, in begrifflicher Hinsicht als kommensurabel betrachte.1 Letzteres spricht eine Verschränkung an, insofern einerseits der erste Schritt den heuristischen Begriff der ‚Logizität‘ primär systematisch entwickeln wird, während andererseits in den nachfolgenden Schritten einzelne Entwürfe vor diesem Hintergrund historisch rekonstruiert werden. In diesem Kontext sei vorab bemerkt, dass ich mich auf die ursprüngliche griechische Fassung des λόγοςKonzepts konzentriere und dessen Übergang in die lateinische Terminologie des verbum ausspare. Weiterhin konzentrieren sich meine Ausführungen vor allem auf das Verhältnis von Christentum und Platonismus, wobei ich hierbei, abermals mit Pannenberg,2 grundsätzlich von einer Affinität zwischen beiden Denkrichtungen ausgehe.3 Zu guter Letzt verstehe ich die vorliegenden Ausführungen primär als

1 Vgl. hierzu etwa Pannenbergs Argumente gegen H. Diem im Kontext des Wahrheitsbegriffs (WuTh, 22–24). Die prinzipielle Kommensurabilität (nicht aber eine schlichte Identifikation) von Theologie und Philosophie ist für Pannenberg von Beginn an ein zentraler Ausgangspunkt – auch und gerade mit Blick auf die Wissenschaftlichkeit der Theologie (vgl. für die Frühzeit die Einleitung von G. Wenz in: Ders. (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016, 15–70, bes. 18–19; 23–24). 2 Vgl. hierzu besonders W. Pannenberg, „Christentum und Platonismus. Die kritische Platonrezeption Augustins in ihrer Bedeutung für das gegenwärtige christliche Denken“, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 96 (1985), 147–161 [nachfolgend: ChuP; wiederabgedruckt in BSTh 1, 58–73]; weiterhin etwa auch WuTh, 16–17; 129; STh I, 88–93. Auf die systematischen Differenzen zwischen Christentum und Platonismus, auf die Pannenberg gleichwohl zu Recht hinweist, werde ich bei anderer Gelegenheit eingehen. 3 Was nicht impliziert, dass diese Affinität damit per se gesetzt ist oder alles auf diese hin gelesen wird. Wohl aber besteht sie potentiell und ist auch nicht a priori in ihrem Umfang limitiert. Denn wenn

Logos und Logizität

Gedanken im Anschluss an Pannenberg. In diesem Sinne geht der folgende Gedankengang einen weiteren systematisch-historischen Bogen, um im vierten Abschnitt auf Pannenbergs Position zurückzukommen.

1.

Logizität

Was ist mit Logizität als Voraussetzung von Wissenschaft genauer gemeint?4 Wenn wir unter Wissenschaft heuristisch eine intersubjektiv konsequent nachvollziehbare, kriterial evaluierbare, von subjektiven Einflüssen soweit als möglich freie und zuletzt auf Systematik hin angelegte Behandlung eines Gegenstands oder Gegenstandsbereichs begreifen, dann wird deutlich, dass die durch diese Merkmale umrissene Objektivität ein wie auch immer geartetes Fundament oder Korrelat im Gegenstand selbst haben muss. Anders gesagt: Die wissenschaftliche Behandlung eines Gegenstands setzt voraus, dass unterschiedliche Subjekte diesen Gegenstand im Prinzip auf die gleiche Weise wahrzunehmen vermögen, sich über diesen in Form von Argumenten austauschen können und es darüber hinaus ein objektives Kriterium gibt, anhand dessen diese Aussagen und Argumente als richtig oder falsch bzw. zumindest als relativ ‚richtiger‘ oder ‚falscher‘ ausgewiesen werden können.5 Dieses Kriterium muss dabei jenseits der involvierten Einzelsubjekte und auf bestimmte Weise im Gegenstand selbst liegen. Weiterhin muss, damit eine wissenschaftliche Beobachtung nicht nur eine isolierte Einzelbeobachtung bleibt, eine gewisse Form von Gesamtordnung auf Seiten des Gegenstandsbereichs vorliegen, die es in der Folge erlaubt, im Rahmen der wissenschaftlichen Behandlung eine Form von Systematik auszubilden.

man, wie Pannenberg vollkommen zu Recht gegen H. Dörrie bemerkt, von vornherein Platonismus und Christentum als diametrale Gegenentwürfe definiert, dann ist die Konstatierung fehlender Schnittmengen nichts weiter als eine analytische Wahrheit (ChuP, 149 Anm. 1). 4 Die folgende Auffächerung beansprucht nur, notwendige Kriterien von Wissenschaftlichkeit anzuführen, selbstredend keinen vollständigen Katalog. Der heuristische Begriff der ‚Logizität‘ lehnt sich dabei an seinen Vergleichspunkt, den λόγος, an und meint nicht jenen naturwissenschaftlich verengten Logizitätsbegriff des logischen Positivismus, den Pannenberg sehr beiläufig und ein einziges Mal anführt (WuTh, 329). 5 Dies gilt m. E. nicht nur für die Natur-, sondern auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Als Beispiel: Auch wenn wir vielleicht nie die eine abschließende Deutung von Goethes Faust oder die eine vollständige Erklärung zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs finden werden, können (und müssen) wir doch zwingend zwischen (relativ) besseren und schlechteren Interpretationen des Faust bzw. Erklärungen des Kriegsausbruchs unterscheiden können, wenn Germanistik und Geschichte Wissenschaften sein sollen. Vgl. zu diesem Komplex grundlegend V. Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft. Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften, München 2018.

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Setzen wir noch etwas basaler an. Gemäß der bisherigen Skizze setzt Wissenschaft also voraus, dass etwas erkannt wird, dass dieses Etwas als Etwas erkannt wird, dass dieses und verwandte Etwasse in einen größeren Zusammenhang eingebettet werden können und dass so letztlich ein intersubjektiv verbindlicher und objektiver Diskurs über diesen Gegenstandsbereich möglich wird, den wir als Wissenschaft bezeichnen können.6 Dass überhaupt etwas erkannt wird, setzt, unter anderem, erstens voraus, dass auf der Gegenstandsseite eine Vielheit, und zwar eine unterscheidbare Vielheit vorliegt. Denn gäbe es ausschließlich und im strengen Sinne nur Eines, so wäre dieses Eine nicht erkennbar, da es ja nichts gäbe, gegen das sich dieses eine Etwas konturieren könnte; womit es in der Folge nicht als dieses Etwas fassbar wäre.7 Es bedarf folglich einer minimalen Differenz zwischen einem Etwas, also dem erkannten Gegenstand, und jenem, was nicht dieses Etwas ist. Ohne diese minimale Vielheit ist nichts erkennbar. Insofern aber dieses Etwas als Etwas erkannt wird, bedarf es neben dieser Kontur des Etwas gegen das, was nicht dieses Etwas ist, zweitens der Allgemeinheit. Denn ein Etwas als Etwas zu erkennen, heißt nicht nur, es gegen das abzugrenzen, was nicht dieses Etwas ist; es heißt auch, dieses Etwas als Instanz zu erkennen, die etwas mit Anderem gemein hat. Denn bestünde die Gegenstandsseite im strikten Sinne aus lauter Singularitäten, die allesamt noch nicht einmal dies gemein hätten – nämlich alle Singularitäten zu sein –, dann wäre im Vollsinne nicht davon zu

6 Ich lasse im Vorliegenden die Frage beiseite, ob – und falls ja: wo genau – es eine klare Demarkationslinie zwischen alltäglich-privatem objektivem Erkennen und wissenschaftlichem Erkennen gibt. (Unterschiede liegen prima facie sicherlich im Zug zur Systematik und in der Institutionalisierung, wobei Ersteres auch dem Privaten nicht prinzipiell verschlossen und Letzteres dem wissenschaftlichen Argument als solchem äußerlich ist.) Ich vermute, dass es diese Linie – im strengen Sinne – nicht gibt und rein prinzipiell vielmehr ein Kontinuum zwischen beiden besteht (womit allerdings keineswegs die Möglichkeit von Expertentum bestritten ist). Dieses Kontinuum ist zugleich der Grund, warum wissenschaftliche Erkenntnisse überhaupt Geltung in unserem alltäglichen, gesellschaftlichen und politischen Leben beanspruchen können. Im Prinzip muss jede wissenschaftliche Argumentation in eine alltägliche Argumentation übersetzbar sein; wissenschaftlich etablierte Methoden sind unter diesem Blickwinkel nichts anderes als Abkürzungen (die bisweilen allerdings mehrere Jahre Studium zusammenfassen). Beispielsweise ist die Nennung des p-Werts in statistischen Verfahren insofern nur eine konventionelle Abkürzung, als es prinzipiell möglich wäre, in jedes (statistische) Argument zusätzlich und explizit auch jenes Argument einzubauen, das begründet, warum der p-Wert bestimmte Aussagen stützen kann und was er letztlich genau aussagt. 7 Prinzipiell ist diese Kontur auf zwei Arten zu konzipieren: a) die Abgrenzung des Etwas gegenüber einem Hintergrund, vor, auf oder in dem sich dieses Etwas abhebt; oder b) ein zweites Etwas, vom dem sich das erste Etwas unterscheidet (was latent einen gemeinsamen Hintergrund im Sinne von a) voraussetzt). Ausgeblendet bleibt im Vorliegenden die Frage, ob und in welcher Weise das Erkenntnissubjekt in diese Konstellation eingeht und dieses somit bei strengster Einheit konsequenterweise ebenfalls aufzuheben ist.

Logos und Logizität

sprechen, dass diese Etwasse als Etwas(se) erkannt werden.8 Erst wenn dies nicht der Fall ist und auf der Gegenstandsseite Allgemeinheit vorliegt, wird im eigentlichen Sinne ein Etwas als das Etwas, das es ist – und das andere Etwasse auch sind oder sein können –, erkannt.9 Es bedarf somit auch der Allgemeinheit(en),10 damit von Erkenntnis des Gegenstandsbereichs die Rede sein kann. Soll aus dieser Erkenntnis wissenschaftliche Erkenntnis im engeren Sinne werden, so bedarf es darüber hinaus, drittens, einer Vielheit von Allgemeinheiten sowie einer gewissen Form der nachvollziehbaren Ordnung und Beziehung zwischen diesen Allgemeinheiten. Es bedarf im Wortsinne der Systematik. Denn stünden die Allgemeinheiten allesamt vollkommen unverbunden nebeneinander, so würde sich das angeführte Problem der Singularitäten auf der Ebene der Allgemeinheiten weitestgehend wiederholen. Schließlich wäre, selbst wenn alle Allgemeinheiten es gemein hätten, Allgemeinheiten zu sein, von spezifisch wissenschaftlicher Erkenntnis des Gegenstandsbereichs kaum zu sprechen. Ohne weitergehende Ordnungsstrukturen auf Seiten des Gegenstandsbereichs bliebe die Erkenntnis bloße Registrierung und lose Sammlung der unverbundenen Allgemeinheiten.11 Sie wäre nicht einmal eine Katalogisierung, insofern Katalogisieren die Folgerichtigkeit des Abzählens, des καταλέγειν, impliziert. Zuletzt ermöglicht das Vorliegen der drei genannten Momente auf der Gegenstandsseite, dass verschiedene Subjekte diesen Gegenstandsbereich prinzipiell auf die gleiche Weise – also als dasselbe Etwas, dieselbe Allgemeinheit usw. – erkennen können und der Auseinandersetzung über diesen Gegenstandsbereich somit eine spezifische Form der objektiven Diskursivität und intersubjektiven Verbindlichkeit zukommt. Denn wenn auf der Gegenstandsseite eine Struktur der skizzierten Art vorliegt, ist ein Kriterium gegeben, das es erlaubt, innerhalb einer intersubjektiven Auseinandersetzung über diesen Gegenstandsbereich objektiv zwischen richtigen und falschen Aussagen bzw. zwischen relativer Richtigkeit und Falschheit zu unterscheiden. Ohne dieses Kriterium hingegen handelt es sich entweder, im besten

8 Jedes Etwas könnte also auch nicht als dies – nämlich als ‚Etwas‘ – erkannt werden. 9 Am Beispiel: Um ein vorliegendes Etwas als Baum zu erkennen, wird dieses Etwas als Etwas erkannt, das andere Etwasse – andere Bäume – auch sind oder sein können. Letzteres bedeutet: selbst wenn nur ein einziger Baum existiert, dann impliziert dessen Erkenntnis als Baum, dass potentiell auch andere Etwasse Bäume sein können. Ausgespart sei der Grenzfall eines Begriffs, der selbst wesentlich beinhaltet, dass er genau (oder höchstens) einmal instanziiert ist – dies könnte auf den Gottesbegriff zutreffen. 10 Diese Allgemeinheiten können, um Beispiele für verschiedene Wissenschaften zu geben, biologische Arten genauso wie historische Kategorien oder literarische Stilmittel sein. 11 Damit sei nicht behauptet, dass es zwingend genau eine Ordnungsstruktur auf Gegenstandsseite gibt, wohl aber, dass es ein (an der Gegenstandsseite entscheidbares) Mehr oder Weniger an sachlicher Adäquatheit konkurrierender systematischer Beschreibungen dieser Ordnungsstrukturen gibt.

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Falle, um ein bloßes Nebeneinander verschiedener Meinungen oder, im schlimmsten Falle, um eine rein an außersachlichen Kriterien orientierte und entschiedene Auseinandersetzung. Diese vier Momente sind, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, entscheidende Voraussetzungen für Erkenntnis und Wissenschaft. In ihrer Gesamtheit möchte ich sie heuristisch als ‚Logizität‘ bezeichnen.

2.

Der Logos in der griechischen Philosophie

Im vorliegenden Abschnitt gilt es nun zuerst nachzuzeichnen, wie die genannten vier Aspekte der Logizität (Vielheit, Allgemeinheit, Systematik und Diskursivität) systematisch im antiken griechischen λόγος-Konzept (an)gedacht sind und inwiefern dieses Konzept Grundlage einer wissenschaftlichen Sichtweise sein kann. Damit sei nur behauptet, dass das antike λόγος-Konzept diese Aspekte aufweist und abdeckt, nicht aber, dass es mit diesen Aspekten deckungsgleich ist oder sich in selbigen erschöpft. Angesichts der Fülle und Komplexität des Materials verbleibt die vorliegende Darstellung selbstredend selektiv und exemplarisch. Insbesondere mit Blick auf das Moment der Vielheit ist vorab ein konzeptueller Aspekt des λόγος in Erinnerung zu rufen, der oftmals in den Hintergrund tritt, wenn λόγος vorschnell als ‚Vernunft‘, ‚Sprache‘ oder dergleichen begriffen wird.12 In seiner Grundstruktur bezeichnet λόγος das ‚Verhältnis‘,13 die Beziehung zweier Bestimmungen a | b zueinander, etwa zwischen 1 und 2. Im λόγος ist damit zugleich die umfassende Einheit zweier Einheiten formuliert und somit die Beziehung, die zwischen zwei wesentlichen Bestimmungen besteht, als solche umgreifend gefasst. In der Folge bringt, das sei ergänzend bemerkt, eine ἀναλογία entsprechend die Gleichheit zweier solcher Verhältnisse, a | b = c | d, zum Ausdruck. Die Verhältnisbeziehung, der λόγος, der beispielsweise zwischen 2 und 4 besteht, ist identisch mit jenem, der zwischen 3 und 6 besteht. Insofern λόγος aber die Einheit zweier Einheiten und damit zugleich die Aufspaltung einer vorgängigen, ununterschiedenen 12 Damit sei wohlgemerkt nicht behauptet, dass diese Begriffe oder Übersetzungen völlig inadäquat wären. Hermeneutisch, historisch und systematisch ist die Fragerichtung jedoch diametral umzukehren: Wie genau werden Vernunft, Sprache usw. begriffen, wenn sie als λόγος gefasst werden? Was unterscheidet sie dadurch von anderen Vernunft- oder Sprachkonzepten? 13 Grundlegend hierzu ist immer noch J. Stenzel, Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles, Darmstadt 3 1959 [1924]. Gut auch die einführenden Bemerkungen in L. Perilli (Hg.), Logos. Theorie und Begriffsgeschichte, Darmstadt 2013, 1–18. Dass im λόγος, im λέγειν ursprünglich eine zahlenhafte Struktur, ein geordnet-gerichtetes Zählen liegt, merkt man noch an Worten wie „erzählen“ (dt.) oder „to tell“ und „tale“ (engl.); vgl. „tellan“ (alt-engl. für „zählen“). Im λέγειν ist damit ursprünglich ein ‚Zusammenlesen‘, ein ‚Auflesen‘ und ‚Sammeln‘ von Einheiten in eine gemeinsame, gerichtete Ordnung gedacht.

Logos und Logizität

Einheit in zwei nun aufeinander bezogene Einheiten formuliert, ist er zugleich die paradigmatische Grundfigur im Übergang zwischen Einheit und Vielheit. λόγος lässt sich folglich als jene Grundoperation hin zu einer ursprünglichen Vielheit begreifen, die, wie im ersten Abschnitt skizziert, notwendig ist, damit überhaupt etwas erkannt werden kann. Tatsächlich lässt sich genau dieser systematische Einsatz des λόγος-Konzepts im Übergang von Einheit zu Vielheit belegen. Prägnant findet er sich etwa bei Plotin, der den λόγος systematisch – unter anderem14 – an der Nahtstelle zwischen dem absoluten Einen, das jegliche Vielheit übersteigt, und der Alleinheit des νοῦς, der die umfassende Vielheit der geistigen Wesensbestimmungen umfasst, verortet. Während das absolute Eine diese Bestimmungen in „ununterschiedener Weise“ in sich aufgehoben hält, sind diese im Geist „durch den Logos unterschieden“.15 Plotin kann in diesem Sinne geradezu vom „vielfältig-schillernden“ λόγος sprechen.16 Entsprechend betont er die Vielheitsstruktur des λόγος auch für den einzelnen gedanklichen Gehalt: So, wie sich ein erkanntes Etwas in einer notwendigen Vielheit gegen andere abheben muss, um erkannt zu werden, so muss dieses Etwas auch immanent eine vielheitliche Struktur aufweisen, insofern diese immanente Struktur gerade jenes spezifische Etwas ist, das erkannt wird.17 Hat man die systematische Funktion des λόγος im Übergang von absoluter Einheit zu primordialer Vielheit präsent, so treten in diesem Sinne auch zwei prägnante Parallelstellen bei Platon in

14 Soweit ich sehen kann, ist diese systematische Funktion des λόγος bei Plotin bislang weitgehend unbeachtet geblieben. Für die gängige Vermittlungsfunktion des λόγος zwischen dem νοῦς und den nachfolgenden Hypostasen vgl. etwa aufschlussreich L. P. Gerson, „Plotinus on logos“, in: J. Wilberding, Ch. Horn (Hg.), Neoplatonism and the Philosophy of Nature, Oxford 2012, 17–29. 15 ἀλλ᾿ ἄρα οὕτως εἶχεν ὡς μὴ διακεκριμένα· τὰ δ᾿ ἐν τῷ δευτέρῳ διεκέκριτο τῷ λόγῳ. ἐνέργεια γὰρ ἤδη· τὸ δὲ δύναμις πάντων. „Aber es [sc. das Eine] hatte sie [sc. alle Dinge; τὰ πάντα] auf ununterschiedene Weise. Diese sind aber im Zweiten [sc. im Geist] unterschieden durch den Logos. Denn dies [sc. die Vielheit im Geist] ist schon Wirklichkeit, jenes aber ist Mächtigkeit zu allem.“ (Plotin, Enn. 5.3.15.31–33; Übers. CP) Zu beachten ist, dass hier im Kontext der Stelle vom diskursiven Denken der Seele mit keinem Wort die Rede ist. Es geht folglich nicht darum, dass der seelische λόγος – in seiner diskursiv-vereinzelnden Perspektive – die Wesensbestimmungen im Geist unterscheiden würde. Die Diakritik des λόγος ist vielmehr bereits für den νοῦς selbst und seine Beziehung zum absoluten Einen anzusetzen. Vgl. auch Philon, Her. 234–236. 16 εἰ γὰρ ἕν τι καὶ μὴ ἓν τοῦτο ποικίλον, οὔτ’ ἂν λόγος εἴη „Denn wenn er [sc. der Logos eines Lebewesens oder einer Pflanze im Geist] nur Ein Etwas und nicht diese vielfältig-schillernde Einheit wäre, so wäre es kein Logos.“ (Enn. 6.7.14.4–5; Übers. CP) 17 καὶ πάλιν αὖ ἕκαστον τῶν νοουμένων συνεκφέρει τὴν ταὐτότητα ταύτην καὶ τὴν ἑτερότητα· ἢ τί νοήσει, ὃ μὴ ἔχει ἄλλο καὶ ἄλλο; καὶ γὰρ εἰ ἕκαστον λόγος, πολλά ἐστι. „Und jedes einzelne Gedachte wiederum bringt diese Identität und Verschiedenheit mit sich. Oder was würde man denken, das nicht eines und anderes hätte? Denn wenn nämlich jedes einzelne (Gedachte) ein Logos ist, dann ist es vielheitlich.“ (Enn. 5.3.10.26–29; Übers. CP)

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den Blick.18 Und zwar ist bemerkenswert, dass auf den Höhepunkten des Parmenides und des Symposion das Eine bzw. das Schöne selbst mit nahezu gleichlautenden Negationen umschrieben werden, die sich jedoch in einer unscheinbaren Qualifikation des λόγος markant unterscheiden: Dem absoluten Einen wird am Ende der ersten Deduktion im Parmenides jedweder λόγος abgesprochen, während im Symposion beim Schönen nur der konkret bestimmte τις λόγος negiert wird.19 Insofern Schönheit für Platon zwar eine Einheitsfigur, wohl aber eine Einheit bereits aufkeimender, immanenter Vielheit ist,20 wird deutlich, warum im Parmenides mit Blick auf die absolute Einheit jeglicher λόγος negiert wird, während sich im Symposion im Schönen der Übergang zur Vielheit als noch unbestimmter, aber bereits latenter λόγος formulieren kann und folglich nur ein τις λόγος, ein konkret bestimmter λόγος negiert wird.21 Auch bei Platon ist damit bereits die systematische Funktion des λόγος im Übergang zur Vielheit angedeutet.22 Der λόγος ist – wenn dieser Vorgriff gestattet ist – bereits hier im Grunde „das generative Prinzip der Besonderung“23 .

18 Vgl. zum folgenden Punkt ausführlicher Ch. Poetsch, „Die Logoi der platonischen Sonnenanalogie“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 75 (2021), 235–273, bes. 262–265. 19 οὐδὲ λόγος οὐδέ τις ἐπιστήμη (Parm. 142a3–4); οὐδέ τις λόγος οὐδέ τις ἐπιστήμη (Symp. 211a7). Plotin hat die unscheinbare Qualifikation im Parmenides augenscheinlich genau zur Kenntnis genommen: οὐδὲ λόγος οὐδέ τις νόησις (Enn. 6.9.11.11); vgl. ad loc. auch den Index Fontium im 3. Band der editio minor von Henry/Schwyzer. 20 Vgl. auch Phlb. 66b1–3. 21 Zur wichtigen Figur des ἀόριστος λόγος vgl. grundlegend Stenzel, a. a. O. (Anm. 13). 162–174. 22 Der Einwand, dass an den beiden genannten Stellen epistemologische und nicht ontologische Konzepte verhandelt werden, trägt nicht, da dies die ontoepistemologische Koppelung bei Platon übersieht. Vom absoluten Einen selbst kann es keinen λόγος geben, weil es selbst vollkommen ohne Teile ist und damit in sich ohne Binnenstruktur, ohne λόγος, ist. Würde – wie man auf den ersten Blick denken könnte – λόγος bei Parm. 142a3 einfach eine „Definition“ meinen, dann wäre die absolute Teillosigkeit, die Platon im Sophistes (245a8–9) und eben auch im Parmenides (159c5) aufruft, völlig ausreichend und somit eine Definition des Einen der 1. Deduktion ohne Weiteres möglich (vgl. auch Parm. 137c5–d2). 23 So Pannenberg STh II, 331 (im Rahmen des Verhältnisses von Christologie und Anthropologie). In der Tat aber scheint mir genau diese Generierung von Differenz und Andersheit, die Pannenberg auch andernorts (teils mit und gegen Hegel) speziell mit der Person des Sohnes verbindet (bes. STh II, 42–47), den Kern bereits des antiken λόγος-Begriffs zu treffen (wenngleich ebd., 45–46 die Unterschiede zum platonischen wie hegelschen Verständnis hervorgehoben werden – eine Argumentation, die freilich m. E. die Negativität der Sinnenwelt zu einseitig in Anspruch nimmt und dabei Passagen wie etwa Tim. 92c5–9 unbeachtet lässt). Auch das neben der Differenzierung im λόγος-Begriff präsente Korrelat der Verbindung betont Pannenberg in diesem Kontext (unter Einbezug des Geistes, aber auch mit spezifischem Bezug auf das griechische λέγειν; vgl. Anm. 13): „In seiner Verbindung mit dem Geiste wirkt der Sohn in der Schöpfung als Prinzip nicht nur der Unterschiedenheit der Geschöpfe, sondern auch ihrer Zusammengehörigkeit in der Ordnung der Schöpfung – auch in diesem Sinne als ‚Logos‘ der Schöpfung: Er ‚sammelt‘ die Geschöpfe in die

Logos und Logizität

Die aufgerufenen Stellen kommen allesamt darin überein, dass sie nicht nur den primordialen Übergang zu einer ersten Vielheit beschreiben, sondern mit dieser Vielheit auch jene Gesamtheit aller geistigen Wesensbestimmungen meinen, die bei Platon gemeinhin als ‚Ideenkosmos‘ bezeichnet wird. Dies erlaubt es, das zweite und das dritte Moment der Logizität, Allgemeinheit und Systematik, zusammenfassend zu besprechen. Als paradigmatische Allgemeinheiten bilden die platonischen Ideen bekanntlich die Archetypen einzelner empirischer Instanzen und sind als solche das eigentlich Erkennbare.24 Dass die Gesamtheit dieser Ideen eine hierarchische Ordnung, etwa in Relationen von Gattungen und Arten, aufweist, bedarf kaum des Nachweises.25 Bemerkenswert ist jedoch, dass diese Ordnungsstruktur Platon zufolge ebenfalls durch den λόγος bestimmt ist. Die Ideen verhalten sich zueinander, wie es etwa die Politeia formuliert, κατὰ λόγον und im Sophistes zählt der λόγος unter die grundlegenden ‚größten Ideen‘, welche die durchgehenden Bestimmungen der Ideengesamtheit bilden.26 Dem entspricht insbesondere, dass an einer der systematisch dichtesten Stellen im Corpus Platonicum, in der Linienanalogie der Politeia, markant darauf hingewiesen wird, dass hier, im Bereich der Ideen, der Logos selbst (ὁ λόγος αὐτός) geradezu in seinen angestammten Gefilden ist.27 Diese eindrückliche Aussage ist gerade dann nachvollziehbar, wenn der λόγος als Grund der eidetischen Welt selbst verstanden ist. Die eidetische Gesamtheit der Ideen ist bekanntlich das Vorbild der sinnlichen Welt, welches dieser zugrunde liegt und in diese eingeht. In dieser Form ist bereits Heraklits λόγος-Begriff in Anspruch zu nehmen28 und auch das Konzept der stoischen λόγοι σπερματικοί dürfte letztlich in dieser Linie liegen. Besonders prägnant findet sich die Rolle des λόγος in der Genese der Systematik eidetischer Allgemeinheiten bei Philon und dessen Konzept des λόγος τομεύς. Diesen ‚Messer-Logos‘ versteht Philon als jene treibende Kraft, die für die Ordnung der eidetischen Welt in ihren Verhältnissen und Einteilungen verantwortlich

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Ordnung ein, die durch ihre Unterschiede und Beziehungen gegeben ist, […].“ (STh II, 46; alle Herv. CP) Etwa gemäß der bekannten Formel Rep. 477a3–4. C. F. von Weizsäcker hat dafür argumentiert, dass es letztlich diese Allgemeinheiten sind, mit denen sich auch die Naturwissenschaften beschäftigen; vgl. C. F. von Weizsäcker, Ein Blick auf Platon. Ideenlehre, Logik und Physik, Stuttgart 2 2002 [1981]; bes. der Aufsatz „Parmenides und die Graugans“. Man denke etwa an Rep. 485b6 und Rep. 516a8–b2 sowie die Dihairesen im Sophistes und im Politikos. Rep. 500c2–5; Soph. 260a5–6. Vgl. Rep. 511b3–4; zu bedenken ist hierbei abermals die strenge ontoepistemologische Korrelation, etwa im Sinne von Rep. 477a3–4. DK 22 B 1–2; 32; 50–51. Vgl. hierzu auch Th. A. Szlezák, Platon. Meisterdenker der Antike, München 2021, 250–252.

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zeichnet.29 Die teilende Funktion, die als Geiststruktur begriffen scheint, ordnet dabei den göttlichen Logos einerseits der Gottheit in ihrer reinen Einheit unter und macht ihn andererseits zum Paradigma des menschlichen Denkens, das mit dem göttlichen Denken genau den teilend-analytischen λόγος gemein hat.30 Was sich bei Philon in der eidetischen Genese durch den λόγος in Gattungen und Arten aufteilt, spiegelt sich darüber hinaus im λόγος als ‚Definition‘, welche diese Struktur durch die Angabe von γένος und εἶδος nachvollzieht – wobei abermals die enge Bindung von Ontologie und Epistemologie zu beachten ist. Im definitorischen λόγος τῆς οὐσίας (vgl. Rep. 534b3–4) wird demnach jene Information und Position innerhalb der Gesamtordnung aller eidetischen Gehalte angegeben, welche die je in Frage stehende Allgemeinheit wesentlich ausmacht. Auch das zweite und das dritte Moment der Logizität, Allgemeinheit und Systematik, sind damit im griechischen λόγος-Konzept auszumachen. Bleibt das vierte Moment, die intersubjektive Verbindlichkeit. Bereits bei Heraklit ist im λόγος-Konzept eine ontoepistemologische Korrelation angelegt, die für den systematischen Einsatz dieses Begriffs in dieser Hinsicht charakteristisch ist. Sie besteht, verkürzt gesagt, einerseits darin, dass alle Menschen an ein und derselben Vernunft partizipieren, und andererseits darin, dass diese Vernunft für die Objektseite, die – dann erkannte – Ordnung der Welt, verantwortlich ist.31 Der Grund, warum unser Denken die Welt erkennen kann, liegt also letztlich darin, dass dasselbe Grundelement in das Denken und die Welt eingeht und seinen wesentlichen Kern ausmacht: λόγος. Denken und Welt sind demnach buchstäblich analog. Insofern aber jeder Mensch qua Mensch an dieser Instanz partizipiert,32 besteht auch die prinzipielle Möglichkeit eines Diskurses, der sich an einem nicht-partikularen Maßstab ausrichtet. Besonders prägnant kommt dieses Verhältnis in Platons Philebos

29 Vgl. Her. 131–140; 165–166; bes. 234–235. In Her. 187–188 wird der λόγος neben der Teilung zugleich als „Klebstoff und Band“ (κόλλα … καὶ δεσμὸς) bezeichnet, er wirkt also nicht nur differenzierend, sondern in dieser Teilung zugleich verbindend – was genau der Auffassung des λόγος als Verhältniseinheit entspricht. Vgl. auch die bemerkenswerte Formulierung bei Platon, Rep. 525e1. 30 ἄτμητοι μὲν οὖν αἱ δύο φύσεις, ἥ τε ἐν ἡμῖν τοῦ λογισμοῦ καὶ ἡ ὑπὲρ ἡμᾶς τοῦ θείου λόγου, ἄτμητοι δὲ οὖσαι μυρία ἄλλα τέμνουσιν. ὅ τε γὰρ θεῖος λόγος τὰ ἐν τῇ φύσει διεῖλε καὶ διένειμε πάντα, ὅ τε ἡμέτερος νοῦς, ἅττ’ ἂν παραλάβῃ νοητῶς πράγματά τε καὶ σώματα, εἰς ἀπειράκις ἄπειρα διαιρεῖ μέρη καὶ τέμνων οὐδέποτε λήγει. „Unteilbar sind zwar die zwei Wesensnaturen, die Wesensnatur

des Denkens in uns und die Wesensnatur des göttlichen Logos über uns. Aber obwohl sie (selbst) unteilbar sind, zerschneiden sie unzählbar viel anderes. Denn der göttliche Logos unterteilte und verteilte alles in der Wesensnatur; und unser Geist nimmt alle Dinge und Körper auf geistige Weise, unterteilt bis ins Grenzenlose in grenzenlos viele Teile und hört niemals auf zu zerschneiden.“ (Philon, Her. 234–236; Übers. CP) 31 Vgl. DK 22 B 1–2; 32; 50–51. 32 Platon führt aus diesem Grund nicht zufällig die Misologie und die Misanthrophie auf dieselbe Quelle zurück (Phdo. 89d3–4).

Logos und Logizität

zum Ausdruck, wo die λόγοι – im Übrigen abermals als Vermittlung von Einheit und Vielheit – als ein „altersloses Geschehnis in uns“ beschrieben werden.33 Auch Philon greift diese Konstellation auf: etwa, wenn er den menschlichen λόγος als vom göttlichen λόγος herstammend bezeichnet.34 Auch die intersubjektive Verbindlichkeit wird also im Kontext der antiken griechischen Philosophie durch das λόγος-Konzept implementiert. Soweit der skizzierte Nachweis, dass die angeführten systematischen Momente der Logizität insgesamt im griechischen λόγος (an)gedacht sind. In diesem Sinne liegt im λόγος-Konzept also die systematische Grundstruktur beginnender Wissenschaftlichkeit vor. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei, dass die genannten Momente historisch in eine spezifische Konstellation gebracht wurden, die insbesondere im Platonismus eine systematische Grundfigur bildete und auf deren zentrale Bedeutung auch Pannenberg deutlich hingewiesen hat.35 Sie formuliert eine vertikal-hierarchische Abfolge, bestehend aus dem Ideenprinzip, dem Ideenkosmos, der Weltseele und zuletzt dem Kosmos. Diese Konstellation bietet dabei nicht nur Hinweise auf mögliche historische Vorläufer,36 sondern ist auch zentraler Ansatzpunkt für die frühen Diskussionen und Verhältnisbestimmungen von

33 φαμέν που ταὐτὸν ἓν καὶ πολλὰ ὑπὸ λόγων γιγνόμενα περιτρέχειν πάντῃ καθ᾽ ἕκαστον τῶν λεγομένων ἀεί, καὶ πάλαι καὶ νῦν. καὶ τοῦτο οὔτε μὴ παύσηταί ποτε οὔτε ἤρξατο νῦν, ἀλλ᾽ ἔστι τὸ τοιοῦτον, ὡς ἐμοὶ φαίνεται, τῶν λόγων αὐτῶν ἀθάνατόν τι καὶ ἀγήρων πάθος ἐν ἡμῖν· „Wir behaupten, dass Eines und Viele, indem (sie) durch Logoi irgendwie identisch werden, (sich) überall herumbewegen, immer entsprechend jedes einzelnen Verhältnisses, und zwar sowohl früher als auch jetzt. Und dies wird weder jemals enden, noch beginnt es erst jetzt, sondern es ist, wie mir scheint, etwas Unsterbliches der Logoi selbst und ein altersloses Geschehen in uns.“ (Phlb. 15d4–8; Übers. CP); vgl. im Detail zu dieser Stelle Ch. Poetsch, Platons Philosophie des Bildes. Systematische Untersuchungen zur platonischen Metaphysik, Frankfurt a. M. 2019, 249–251. 34 Vgl. Her. 234–235. 35 Vgl. die wichtigen Bemerkungen in ChuP, 160–161 (bes. mit Anm. 22; 24). Pannenberg stellt hier in grundlegenden, sehr verdichteten Beobachtungen pointiert heraus, inwiefern letztlich das genaue Verständnis der obersten drei Elemente der nachfolgend skizzierten Hierarchie (Eines, Nus, Weltseele) in ihrer Relation zueinander letztlich über grundlegende Gemeinsamkeiten und Differenzen von (frühem) Christentum und Platonismus – etwa in so zentralen Fragen wie der Homousie – entscheidet. Zur Tradierung dieser systematischen Konstellation zwischen der Alten Akademie und dem späteren Platonismus immer noch grundlegend: H. J. Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin, Amsterdam 2 1967 [1964]. 36 Zu denken ist hier etwa an die frühe, im Derveni Papyrus ansatzweise greifbare orphische Theogonie von Uranos, Kronos, Zeus und zuletzt wohl Dionysos (als Sinnbild des Kosmos); vgl. hierzu W. Burkert: „Apokalyptik im frühen Griechentum. Impulse und Transformationen“, in: D. Hellholm (Hg.), Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East, Tübingen 1989, 235–254, bes. 248. Diese Folge hat ihre früheste Quelle im vorderen Orient, im Kurmarbi-Mythos vom „Königreich im Himmel“; vgl. hierzu M. L. West, The East Face of Helicon. West Asiatic Elements in Greek Poetry and Myth, Oxford 1997, 278–280.

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Christentum und Platonismus,37 wobei hier dem ps.-platonischen 2. Brief eine wichtige Rolle zukommt.38 Genauer besteht diese viergliedrige Ordnung darin, dass zuoberst ein erstes Prinzip als ἀρχὴ τοῦ παντός angesetzt wird, das von Platon und vor allem von Plotin als reine, differenzlose Einheit konzipiert ist. Diesem ersten Prinzip ist die Gesamtheit aller eidetischen Gehalte als die für Erkenntnis konstitutive Vielheit nachgeordnet. Im Übergang zwischen diesen beiden Instanzen kommt dem λόγος, wie gezeigt, eine mehrfache Funktion zu. Zum einen, insofern er als Verhältniseinheit zweier Einheiten die anfängliche Ausdifferenzierung von absoluter Einheit in Vielheit überhaupt paradigmatisch formiert. Zum anderen, insofern er die Systematik und Ordnung dieser eidetischen Vielheit begründet und damit zugleich die Grundstruktur derselben bildet. Diese eidetische Vielheit ist dabei ihrerseits gleichermaßen Archetyp der sinnlichen Welt und Paradigma des menschlichen Denkens; wobei dies wiederum begründet, weshalb die Welt für das menschliche Denken im Prinzip objektiv erkennbar ist und warum schlussendlich zwischen den Menschen ein verbindlicher Diskurs über selbige möglich ist.

3.

Der christliche Logos

Wenden wir uns nun der Frage zu, inwieweit der vorgestellte Übertrag zwischen Logos und Logizität auch im Rahmen der christlichen Theologie, genauer im λόγος-Konzept des Johannes-Prologs, denkbar ist – schließlich ist zu bedenken, wie Pannenberg hervorhebt, „daß viele der frühchristlichen Theologen nicht nur in der geistigen Luft des Platonismus aufgewachsen waren, sondern diese auch als Christen nicht verleugneten“39 . Zu fragen ist also, inwieweit die Momente des Logizitätsbegriffs sowie die am Ende des vorangegangenen Abschnitts nochmals skizzierte Konstellation sinnvoll auch mit den Aussagen zum λόγος im JohannesProlog zu verbinden sind. Eine Vorbemerkung. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ein solcher Übertrag heißumkämpftes Terrain betritt. Ebenso bin ich mir bewusst, dass dies im vorliegenden Rahmen, wie schon das Vorherige, nur skizzenhaft angedeutet, keineswegs umfassend begründet werden kann. Allerdings möchte ich für das Verhältnis des

37 Vgl. exemplarisch Eusebios, Praep. ev. 11.18. 38 Auch im 2. Brief findet sich prominent eine Drei-Götter-Stufung, der augenscheinlich der Kosmos untergeordnet ist (Epis. II 312d2–e4). Der Brief wurde in der Folgezeit durchgängig als authentisches Werk Platons betrachtet, darf aber wohl als gesichert unauthentisch gelten. Dennoch: Er datiert in die früheste Tradition des Platonismus (evtl. noch zu Platons Lebzeiten; vgl. M. Erler, Platon, Basel 2007, 310) und hat entsprechend wichtigen Quellenwert. 39 ChuP, 149 Anm. 1.

Logos und Logizität

λόγος-Konzepts in der griechischen Philosophie und bei Johannes vorab Folgen-

des zu bedenken geben: Selbst die herausragende und, soweit ich sehen kann, ausgewogenste und differenzierteste Arbeit von J. Frey zum Thema kommt für die griechische Philosophie zum Schluss, dass „[g]enerally speaking, apart from Heraclitus and the Stoics, the Logos is not a prominent term in Greek philosophy“, und bemerkt weiterhin, dass bei Platon „the term is used predominantly in its rhetorical or logical meaning, whereas its cosmological aspects, as are present in Heraclitus’ concept, are not of any significance in Plato’s thought“.40 Das sind veritable Fehleinschätzungen. Dies ließe sich, neben dem im vorherigen Abschnitt Angeführten, anhand zahlreicher weiterer prominenter Beispiele, etwa Platons Linienanalogie, belegen.41 Entscheidend ist dabei auch, dass diese fehlerhafte und einseitige Sichtweise des platonischen λόγος-Konzepts entscheidende Verzerrungen mit Blick auf die griechische Philosophie im Ganzen mit sich bringt, sodass in der Folge Heraklit und die Stoa irrtümlicherweise als vereinzelte Inseln systematischer Relevanz erscheinen.42 Und es hat zur Folge, dass Philosopheme und Positionen, die eigentlich auf die platonische Akademie zurückzuführen sind, fälschlicherweise als genuin stoisch betrachtet werden43 – was vor allem dann ein Problem darstellt,

40 J. Frey, „Between Torah and Stoa. How Could Readers Have Understood the Johannine Logos?“, in: J. G. van der Watt, R. A. Culpepper, U. Schnelle (Hg.), The Prologue of the Gospel of John. Its Literary, Theological, and Philosophical Contexts, Tübingen 2016, 189–234, hier: 205 (beide Zitate). 41 Vgl. bes. Rep. 509d6–8; 534a3–8. Letztlich ist der λόγος die systematische Pointe der ganzen Linienanalogie; vgl. im Detail Poetsch, a. a. O. (Anm. 33), 89–98. 42 Entsprechend hält J. Frey die Präsenz des λόγος-Konzepts ab dem sog. Mittelplatonismus für einen Einfluss der stoischen Tradition: „In the Platonic tradition, the Logos became a central term only after it had been ‚adopted,‘ under Stoic influence, in Middle Platonism.“ (Frey, a. a. O. [Anm. 40], 207; Herv. CP). J. Frey sieht, unter Rückgriff auf J. Dillon, die Voraussetzung für diese Übernahme des stoischen Logos in der Tendenz des Mittelplatonismus, zwischen einem ersten und einem zweiten Gott zu unterscheiden, von denen der erste vollkommen transzendent ist, während der zweite, zumeist mit den Ideen identifiziert, vermittelnd-demiurgisch agiert (vgl. ebd., 207). Diese Hierarchie ist jedoch, wie im vorangegangenen Abschnitt skizziert, schon bei Platon selbst zu fassen (wie auch im ps.-platonischen 2. Brief, der älter ist als Stoa und Mittelplatonismus; vgl. Anm. 38). Die Beschränkung der philosophischen Vorgeschichte auf Heraklit und die Stoa findet sich etwa auch bei J. Ringleben, Das philosophische Evangelium. Theologische Auslegung des Johannesevangeliums im Horizont des Sprachdenkens, Tübingen 2014, 2 Anm. 4. Anders als J. Ringleben denke ich nicht, dass die systematische Sachfrage „wichtiger [ist] als die vieldiskutierten historischen Hypothesen über die Herkunft des Logos-Begriffs und […] diese in ihrer systematischen Aussagekraft [relativiert]“ (ebd., 2). Die Sachfrage ist ohne jeden Zweifel entscheidend, aber diese muss implizieren, den systematischen Gehalt, der in der Antike im λόγος-Begriff lag, freizulegen. Dies würde z. B. davor schützen, die Bedeutung ‚Wort‘ zu stark in den Vordergrund zu rücken, die dem griechischen λόγος ursprünglich weitgehend fremd ist und für den sachlich-systematischen Gehalt allenfalls nachgeordnet ist. 43 Vgl. etwa S. Vollenweider, „Der Logos als Brücke vom Evangelium zur Philosophie. Der Johannesprolog in der Relektüre des Neuplatonikers Amelios“, in: A. Dettwiler, U. Poplutz (Hg.), Studien zu

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wenn eine materialistische Implementierung dieser Philosopheme gerade nicht vollzogen wird. Stattdessen wäre deshalb vielmehr, neben dem λόγος-Konzept und der Prinzipienlehre Platons, insbesondere die Alte Akademie stärker hinzuziehen.44 Erstens, um deren Rolle bei der Ausbildung der genannten hierarchischen Konstellation detailliert zu bedenken. Zweitens, um wichtige Unterscheidungen, wie etwa jene zwischen λόγος ἐνδιάθετος und λόγος προφορικός, und Konzepte, wie bspw. die λόγοι σπερματικοί,45 historisch und sachlich adäquat zu verorten. Und drittens, um die entscheidende Wichtigkeit der Mathematik, der in der Alten Akademie eine überragende Bedeutung zukam, für das λόγος-Konzept zu erfassen; und zwar auch für jene Einsatzpunkte, die auf den ersten Blick nicht mit der Mathematik in Verbindung stehen. Erst auf diese Weise sind die historischen und systematischen Hintergründe des λόγος-Konzepts für das erste vor- und das erste nachchristliche Jahrhundert vollständig zu erfassen. Dann, und nur dann, ist überhaupt sinnvoll ein Vergleich zwischen der griechischen Philosophie und dem johanneischen λόγος anzustellen. Mit anderen, etwas zugespitzten Worten: Ob und inwieweit die griechische Philosophie eine Rolle für den Johannes-Prolog und das dortige λόγος-Konzept spielt, ist überhaupt nicht adäquat zu bewerten, solange keine umfassende und systematisch fundierte Darstellung des λόγος-Konzepts in der griechischen Philosophie selbst vorliegt46 – und zwar schlicht aus dem Grund, weil eines der comparanda nicht zureichend erschlossen ist.47 Entsprechend ist auch das Vorliegende nur ein tentativer Vorschlag.

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Matthäus und Johannes. Études sur Matthieu et Jean, Zürich 2009, 377–397, bes. 378–379, 384–385 sowie Frey, a. a. O. (Anm. 40), 206–207. Einschlägig ist z. B., wie bei Speusipp das zweite Prinzip für die Einteilung der Dihairesen verantwortlich ist: Jamblich, De comm. math. sc., 4.15.11–12; vgl. zur Inanspruchnahme des vierten Kapitels für Speusipp überzeugend J. Dillon, „Speusipp in Iamblichus“, in: Phronesis 29 (1984), 325–332. Dies ist – möglicherweise vermittelt über den Neupythagoreismus – ein deutlicher Vorläufer für Philons ‚Messer-Logos‘ im Kontext der Dihairesen (vgl. Her. 131–140; 165). Welche Frey a. a. O. (Anm. 40), 207 mit Anm. 102 zu Recht als sachlich bereits bei Platon und Aristoteles gegeben sieht. Am weitesten gehen hier, neben J. Stenzel, bislang Krämer, a. a. O. (Anm. 35), M. Fattal, Logos, pensée et vérité dans la philosophie grecque, Paris et al. 2003 sowie P. Zellini, Numero e Logos, Mailand 2010. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Damit sei keinesfalls behauptet, dass der johanneische Text und der λόγος-Begriff der griechisch-paganen Tradition die einzigen beiden Momente wären, die in einen solchen Vergleich einzugehen hätten. Unstrittig scheint mir, dass der Prolog (und das Evangelium im Ganzen) historisch adäquat „nicht monokausal“ (U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, Leipzig 2009, 40) zu deuten ist und entsprechend auch die jüdische Weisheits-Tradition und andere Traditionsstränge unverzichtbare Teile des Gesamtbildes sind (vgl. auch STh I, 300–301).

Logos und Logizität

Es ist also zu fragen, ob und wie die Aussagen zum λόγος im Johannes-Prolog im Sinne der Logizität und ihrer einzelnen Momente zu lesen sind.48 Beginnen wir im Anfang.49 Joh 1,1a hebt an mit ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος. Dieser Beginn formuliert ein Verhältnis zwischen einer ἀρχή und dem λόγος – dem λόγος selbst, wie man mit Blick auf den bestimmten Artikel pointieren könnte. Der λόγος ist in der ἀρχή.50 Vor dem Hintergrund der im vorherigen Abschnitt skizzierten systematischen Rolle des λόγος-Konzepts wäre dies der Übergang der absoluten Einheit Gottes in die im λόγος als Verhältniseinheit präformierte Vielheit eidetischer Gehalte, die zugleich in der Folge als intelligibles Paradigma der sinnlichen Welt fungiert.51 Dass eine solche Interpretation auch historisch möglich war, belegt der JohannesKommentar des Origenes, der in Joh 1,1 genau diese Konstellation von absoluter Einheit und Vielheit formuliert sieht.52 In den Hintergrund der im vorherigen Abschnitt skizzierten systematischen Rolle des λόγος-Konzepts wie auch in das erste Moment der Logizität, die Vielheit, fügt sich die Aussage ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος demnach durchaus ein. Mit dem Unterschied zu gängigen Lektüren freilich, dass die genannte ἀρχή nicht nur einen Anfang, sondern stärker noch ein erstes Prinzip, einen Urgrund bezeichnet. Und zwar jenen ersten, absoluten Urgrund, der dann in Joh 1,1b als ὁ θεός angesprochen wird.53 Dass aber dieser Urgrund überhaupt erst aus der Perspektive des λόγος, also jener Ebene, auf der sich Erkennbarkeit überhaupt erst realisiert, als „der Gott“ angesprochen wird,54 fügt sich dabei in

48 In gewisser Weise folgt dies der Methode von Frey, a. a. O. (Anm. 40), 221, eine Art ‚Probelektüre‘ des Prologs durch ein zeitgenössisches Lesepublikum mit bestimmten philosophischen Kenntnissen (im vorliegenden Fall: insbesondere aus der platonischen Tradition) zu simulieren. Zum JohannesProlog in einer philosophisch noch weiteren, interkulturell-komparativen Perspektive vgl. zuletzt auch F. Muller, Kenologische Versuche. Der Johannesprolog zwischen Nāgārjuna, Vasubandhu und Meister Eckhart, Münster 2022. 49 Eine Auffassung von ἐν ἀρχῇ im Sinne von ‚am Anfang‘, wie sie etwa Ringleben, a. a. O. (Anm. 42), 11 u. ö. ansetzt, scheint mir für das Griechische weniger adäquat. 50 Für diesen Gebrauch von ἐν ἀρχῇ vgl. etwa Aristoteles, Met. Λ 7, 1072b32. 51 Vgl. zum Schöpfungsparadigma im Detail die Darstellung bei Pannenberg, STh II, 39–41. 52 ὁ θεὸς μὲν οὖν πάντη ἕν ἐστι καὶ ἁπλοῦν· ὁ δὲ σωτὴρ ἡμῶν διὰ τὰ πολλά, ἐπεὶ „προέθετο“ αὐτὸν „ὁ θεὸς ἱλαστήριον“ καὶ ἀπαρχὴν πάσης τῆς κτίσεως, πολλὰ γίνεται ἢ καὶ τάχα πάντα ταῦτα, καθὰ χρῄζει αὐτοῦ ἡ ἐλευθεροῦσθαι δυναμένη πᾶσα κτίσις. „Der Gott ist also ganz Einer und einfach, unser Retter aber wird, wegen der vielen (Dinge [?]) – denn ‚Gott‘ hat ihn ‚als Sühne hingestellt‘ [Röm 3,25] und als Erstling der gesamten Schöpfung –, Viele oder vielleicht auch alle diese (Vielen), denn die gesamte Schöpfung, sofern sie der Erlösung fähig ist, bedarf seiner.“ (Origenes, Comm. in Io. 1.20.119; Übers. CP) 53 Man könnte prima facie einwenden, dass Joh 1,2 dem widerspricht, da hier ἐν ἀρχῇ und τὸν θεόν auftreten. Dem kann jedoch entgegnet werden, dass Joh 1,2 als Zusammenfassung der – dann als unzeitlicher Prozess verstandenen – Teilverse Joh 1,1a–c aufgefasst werden kann, in welchen das Zu-Sich-Selbst-Kommen der ἀρχή qua λόγος beschrieben wird. 54 Ähnlich auch Ringleben, a. a. O. (Anm. 42), 12.

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eine (negativtheologische) Perspektive, in der die ἀρχή als solche noch jenseits der Erkennbarkeit liegt und als Gott erst durch und in der Perspektive des λόγος erkannt wird.55 Man mag gegen diese Interpretation einwenden, dass sie die offenkundigen – und nicht zu leugnenden – Parallelen zu Gen 1,1 und der LXX, zur Perspektive der zeitgenössischen jüdischen Leserschaft sowie das dortige Verständnis von ἐν ἀρχῇ negiert, zumal ὁ θεός dort gerade nicht die ἀρχή selbst ist, sondern die ἀρχή den zeitlichen Anfang der Schöpfung bezeichnet.56 Dieser Einwand ist durchaus berechtigt. Er lässt aber zum einen außen vor, dass ein Text auf Verschiedenes anspielen kann,57 ohne damit zugleich auf alle Implikationen aller Verweisstellen verpflichtet zu sein (zumal Joh 1,1a gerade mit der Form ἦν von Gen 1,1 abweicht). Zum anderen übersieht dieser Einwand die Möglichkeit, dass im hellenistischen Judentum Gen 1,1 auch in einem anderen Sinne verstanden werden konnte, wie insbesondere Philons Deutung des Anfangs belegt: Für Philon ist die in Gen 1,1 begonnene Schöpfung nicht die Schöpfung der physischen, sondern insbesondere der intelligiblen Welt; Gen 1,1 beschreibt für ihn die ursprüngliche Teilung der Gesamtwirklichkeit in eine geistige („Himmel“) und eine physische („Erde“) Ebene der Wirklichkeit.58 Diese Deutung ist ihrerseits nicht ohne Spannung, aber sie belegt nichtsdestotrotz, dass eine Lektüre von Gen 1,1 möglich war, die mit der angeführten Interpretation von Joh 1,1a kompatibel ist. Man hat es in dieser Sichtweise im Grunde mit zwei Schöpfungen zu tun: der Schöpfung des intelligiblen Paradigmas und der anschließenden Schöpfung der sinnlichen Welt anhand dieses Paradigmas. Als zweiter Teilvers formuliert Joh 1,1b die Beziehung von ὁ λόγος und ὁ θεός. Diese Beziehung wird über die Präposition πρός formuliert, welche in Joh 1,2 nochmals aufgegriffen wird. Da diese Präposition mit dem Akkusativ, πρὸς τὸν θεόν,

55 Dies wird auch Joh 1,18 sehr deutlich; vgl. zudem prominent Joh 14,6. 56 Zudem könnte man einwenden, dass die ἀρχή in Joh 1,1 ohne bestimmten Artikel bleibt. Das ist ebenfalls korrekt, übersieht jedoch, dass auch das gängige Verständnis von „im Anfang“ (oder: „am Anfang“) faktisch einen bestimmten Artikel ansetzt (da „im“ und „am“ Kurzformen von „in dem“ bzw. „an dem“ sind). 57 Wie auch im Rahmen eines so verdichteten Textes wie dem Johannes-Prolog eine Doppelkonnotation von ἀρχή durchaus denkbar ist – zumal im Anfang von allem, in dem nur Gott ist, der (wie auch immer geartete) Beginn und das Prinzip letztlich koinzidieren. Insofern mit ἦν das Imperfekt genutzt wird (und nicht etwa ein Aorist wie ἐγένετο; vgl. Joh 1,3; 1,6 sowie F. Siegert, Das Evangelium des Johannes in seiner ursprünglichen Gestalt. Wiederherstellung und Kommentar, Göttingen 2008, 185), scheint mir Joh 1,1a weniger einen punktuellen, zeitlichen Anfangspunkt, sondern eher ein zeitloses, immer schon geschehenes Geschehen zu bezeichnen. 58 Philon, Leg. 1.1, 1.21; QG 2.18; Cher. 111; Agr. 65. Vgl. hierzu Z. Strauss, Die Aufhellung des Judentums im Platonismus. Zu den jüdisch-platonischen Quellen des Deutschen Idealismus, dargestellt anhand von Hegels Auseinandersetzung mit Philon von Alexandria, Berlin 2019, 231–233.

Logos und Logizität

formuliert wird, ist eine Übersetzung mit „bei Gott“ schwer möglich; insbesondere, weil sie die im Griechischen klar formulierte Richtung und Intention des λόγος auf Gott nicht abbildet. Die Präposition πρός ist aber umso bemerkenswerter, wenn man im λόγος jene ursprüngliche Verhältniseinheit mithört: In der antiken λόγος-Lehre ist πρός gerade der terminus technicus, der die Verhältnisbeziehung zwischen zwei Elementen eines λόγος, aber auch die Beziehung zweier λόγοι in der ἀναλογία bezeichnen kann.59 Dass dieses Verständnis des πρός in Joh 1,1b und Joh 1,2 historisch gesehen sehr gut möglich war, belegt abermals Origenes, der die im Griechischen auf der Hand liegenden Beziehungen des πρός zum Logosund Analogie-Denken offenkundig bemerkt und aufgegriffen hat.60 Die in Joh 1,1c anschließende Formulierung, dass ὁ λόγος auch θεός sei, fügt sich, als Folge dieser Beziehung auf ὁ θεός in Joh 1,1b, gut in diesen Zusammenhang; zumal die subtile und doch deutliche Unterscheidung zwischen ὁ θεός und θεός ebenfalls nicht ohne einschlägige Vorläufer ist.61 Im Ganzen betrachtet ist also für Joh 1,1–2 ein Verständnis denkbar, das in den Eingangsversen des Prologs die beiden ersten Momente der Logizität angelegt sieht: Vielheit, insofern mit dem λόγος als intentionaler Verhältniseinheit der auch von Origenes konstatierte Übergang der absoluten Einheit in eine primordiale Vielheit geschieht; Allgemeinheit, insofern diese Vielheit Schöpfungsparadigma, und somit die Menge aller Allgemeinheiten, ist. Impliziert, wenn auch nicht ausgeführt, ist das dritte Moment der Logizität, die Systematik, da dieses Paradigma im λόγος ohne Zweifel als geordnete Vielheit konzipiert ist.62 Dass der λόγος eine unverzichtbare Funktion bei der Entstehung weiterer Entitäten übernimmt, wird im Anschluss in Joh 1,3a deutlich ausgesprochen: πάντα δι᾽ αὐτοῦ ἐγένετο.

59 Vgl. etwa einen locus classicus: Euklid, Stoicheia V, Def. 5–7. Insofern der erste Logos auf eine reine Einheit hin ausgerichtet ist, handelt es sich um den Sonderfall einer ersten Intention und Analogie überhaupt (vgl. hierzu Stenzel a. a. O. [Anm. 13], 162–174). 60 Unter Vorgriff auf Joh 1,9 und Joh 1,14: ὁ γὰρ ἐν ἑκάστῳ λόγος τῶν λογικῶν τοῦτον τὸν λόγον ἔχει πρὸς τὸν ἐν ἀρχῇ λόγον πρὸς τὸν θεὸν ὄντα λόγον θεόν, ὃν ὁ θεὸς λόγος πρὸς τὸν θεόν· „Der Logos in jedem einzelnen vernünftigen Wesen hat nämlich auf den Theos-Logos hin, der im Grunde auf den Gott hin war, dieses Verhältnis, das der Theos-Logos auf den Gott hin (hat).“ (Origenes, Comm. in Io. 2.3.20; Übers. CP) Vgl. auch Ch. Bruns, „Christologischer Universalismus. Der Johannesprolog in der Wirklichkeitsdeutung des Origenes“, in: M. Enders, R. Kühn (Hg.), „Im Anfang war der Logos…“. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart, Freiburg/Basel/Wien, 2011, 7–46, bes. 17. 61 Vgl. Philon, Somn. 1.228–230. Siehe hierzu auch F. Siegert, „Der Logos, ‚älterer Sohn‘ des Schöpfers und ‚zweiter Gott‘. Philons Logos und der Johannesprolog“, in: J. Frey, U. Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions- und traditionsgeschichtlicher Perspektive, Tübingen 2004, 277–293, hier: 284–287. 62 So abermals Origenes; vgl. Bruns, a. a. O. (Anm. 60), 11–12.

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Dass das im λόγος Entstandene, wie es in der Folge in Joh 1,3c–4 heißt, Leben war und dass dieses Leben das Licht der Menschen war (ὃ γέγονεν ἐν αὐτῷ ζωὴ ἦν, καὶ ἡ ζωὴ ἦν τὸ φῶς τῶν ἀνθρώπων),63 ist im Rahmen der vorgeschlagenen systematischen Konstellation ebenfalls gut integrierbar. Dass zudem, wie es im zweiten Teilvers Joh 1,4b heißt, dieses Leben (und damit der λόγος) das Licht der Menschen ist, findet ebenfalls einen deutlichen Widerhall in der klassischen griechischen λόγος-Philosophie.64 Die Auffassung, wonach die paradigmatische intelligible Welt im Vollsinne Leben ist, ist bereits bei Platon gut bezeugt.65 Entsprechend hat auch Amelios in seiner bei Eusebios überlieferten Paraphrase des Prologs aus platonischer Perspektive diesen Punkt betont.66 Diese Interpretation des Plotinschülers Amelios belegt zudem im Ganzen – wenn auch nicht im gleichen Maße wie die Deutung des Origenes –, dass die hier skizzierte Interpretation über einen historischen Rückhalt in den Jahrhunderten nach dem Evangelisten verfügt. Aufschlussreich ist darüber hinaus, dass in Joh 1,3–5 insgesamt genau jene zwei Aspekte alternieren, deren wechselseitiger Bezug im Hinblick auf die im λόγος gefasste Logizität schon im vorangegangenen Abschnitt von entscheidender Bedeutung war: der ontologische und der epistemologische Aspekt. Das, was ontologisch die Grundstruktur der Welt ausmacht, und das, was dem Menschen als lebendiges

63 Insofern im Vorliegenden das ursprüngliche Textverständnis im Vordergrund steht, ist die im Frühchristentum gängige Interpunkt gewählt; vgl. hierzu K. Aland, „Eine Untersuchung zu Joh 1 3.4. Über die Bedeutung eines Punktes“, in: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 59, 174–209. Allerdings scheint es mir, pace Aland, sachlich wie sprachlich wahrscheinlicher, wie Clemens von Alexandria und Origenes ὃ γέγονεν mit ἐν αὐτῷ zusammen zu nehmen (d. h. Alands Variante A 2), statt ἐν αὐτῷ mit ζωὴ ἦν zusammen zu ziehen (Alands Variante A 1). 64 Zu denken ist etwa an die Parallele von Linien- und Höhlengleichnis in der Politeia: Ersteres formuliert den Bereich der Ideen als Bereich des Logos (Rep. 511b3–4; vgl. auch Rep. 500c2–5), Letzteres beschreibt denselben ontologischen Bereich mittels des Lichts (u. a. Rep. 515e7–516a3; vgl. auch Phdo. 109e7). Im Sonnengleichnis dürfte ebenfalls eine recht genaue Entsprechung zwischen Licht und Logos gegeben sein (vgl. hierzu Poetsch, a. a. O. [Anm. 18], 264–265 mit Anm. 92). Vgl. zur Thematik auch detailliert G. H. van Kooten, „The ‘True Light Which Enlightens Everyone’ (John 1:9). John, Genesis, the Platonic Notion of the ‘True, Noetic Light,’ and the Allegory of the Cave in Plato’s Republic“, in: Ders. (Hg.), The Creation of Heaven and Earth. Re-interpretations of Genesis 1 in the Context of Judaism, Ancient Philosophy, Christianity, and Modern Physics, Leiden/Boston 2005, 149–194. 65 Vgl. etwa Tim. 30c4–31b3; 39c7–9; Soph. 248e6–249a5. Vgl. auch Aristoteles, De anm. 404b19–20. 66 ἐν ᾧ τὸ γενόμενον ζῶν καὶ ζωὴν καὶ ὂν πεφυκέναι·„in welchem [sc. dem Logos] das Gewordene von Natur aus lebendig und Leben und seiend (ist)“ (apud Eusebios, Praep. ev. 11.19.1; Übers. CP). Vgl. auch H. Dörrie, „Une Exégèse néoplatonicienne du prologue de l’Évangile selon Saint Jean“ [1972], in: Ders., Platonica Minora, München 1976, 491–507; J. G. Cook, The Interpretation of the New Testament in Greco-Roman Paganism, Tübingen 2000, 149–150; J. Dillon, „St John in Amelius’ Seminar“, in: P. Vassilopoulou, St. R. L. Clark (Hg.), Late Antique Epistemology. Other Ways to Truth, London 2009, 30–43; Vollenweider, a. a. O. (Anm. 43).

Logos und Logizität

Erkenntnisvermögen innewohnt, ist dasselbe: λόγος.67 Entscheidend ist dabei, dass in Joh 1,9 (wo diese Verschränkung im Verbund mit Joh 1,10–11 aufgegriffen wird) nochmals betont wird, dass alle Menschen von diesem λόγος-Licht erleuchtet sind (ὃ φωτίζει πάντα ἄνθρωπον).68 Das ist, übertragen auf den vierten Aspekt der Logizität, genau jene gemeinsame Grundlage des Denkens, die konstitutiv jenseits alles Partikularen liegt und damit – fortgedacht – Objektivität und intersubjektive Verbindlichkeit sicherstellt. Auch das vierte Moment der Logizität ist damit durchaus im Rahmen des johanneischen λόγος-Konzepts greifbar. Der ontologisch-kosmologische Aspekt tritt dabei in Joh 1,5 nochmals besonders deutlich hervor: Dass – wie es auch in Joh 1,10–11 nach den drei Versen zum Täufer aufgenommen wird – das Licht in der Finsternis erscheint (καὶ τὸ φῶς ἐν τῇ σκοτίᾳ φαίνει) und die Finsternis dieses Licht nicht angenommen hat (καὶ ἡ σκοτία αὐτὸ οὐ κατέλαβεν), lässt sich mit der in der griechischen Philosophie vorliegenden Konstellation ebenfalls korrelieren. Die Engführung von Materie und Dunkelheit, die lichthafte Erscheinung von eidetischer Bestimmtheit in dieser Materie und auch, dass die Materie die in ihr aufscheinenden eidetischen Strukturen selbst nicht annimmt – all dies findet sich explizit auch bei Platon.69 Die Verschränkung von epistemologischem und ontologischem Aspekt kommt latent nochmals im zentralen Vers Joh 1,14a zum Tragen, der die Inkarnation des λόγος beschreibt. Versteht man die Fleischwerdung des λόγος nicht als buchstäbliche Transformation (in welcher der gesamte λόγος vollständig und restlos zu Fleisch wird), sondern als Verbindung von Geistigem und Materiellem, dann ist

67 Diese systematische Parallele zwischen griechischer Philosophie und Johannes-Prolog hebt auch Pannenberg hervor; vgl. STh II, 331–332. 68 Vgl. auch: πᾶσα μὲν ἀνθρώπου ψυχὴ φύσει τεθέαται τὰ ὄντα, ἢ οὐκ ἂν ἦλθεν εἰς τόδε τὸ ζῷον „Jede menschliche Seele hat von Natur aus das Seiende gesehen – oder sie wäre andernfalls nicht in dieses Lebewesen [sc. das menschliche] eingegangen.“ (Phdr. 249e4–250a1; Übers. CP) 69 Zur Assoziierung von Materialität und Dunkelheit vgl. etwa Rep. 514a2–515c2; Soph. 254a4–6 (vgl. auch die guten Bemerkungen von van Kooten, a. a. O. [Anm. 64], 192 in Relation zum JohannesProlog). Dass die der Sinnenwelt zugrundeliegende Raummaterie χώρα die eidetischen Bestimmungen selbst nicht annimmt, wird Tim. 50b8–c2 explizit formuliert. In diesen Kontext gehört auch die Frage, ob ein entscheidender Unterschied zwischen Platonismus und Christentum letztlich darin besteht, dass der platonische Gott nur Vorgefundenes bildet, während der christliche Schöpfer eine creatio ex nihilo vollbringt (vgl. auch ChuP 149, Anm. 1). Hier ist zweierlei zu bedenken: Zum einen ist auch die platonische χώρα ein latent privatives Nichts (u. a. Tim. 50c1–2); und zum anderen ist zu berücksichtigen, dass diese privative Raummaterie ihren systematischen Grund im zweiten Prinzip der innerakademischen Prinzipienlehre hat – innerhalb derer wiederum möglicherweise das zweite Prinzip, also das Materialprinzip, letztlich vom ersten Prinzip abhängig ist (vgl. hierzu J. Halfwassen, Auf den Spuren des Einen. Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte, Tübingen 2015, 109–132). Bedenkt man diese beiden Aspekte, so schwindet der Unterschied zur creatio ex nihilo merklich – und es wird einmal mehr deutlich, wie wichtig eine adäquate Berücksichtigung der Alten Akademie für die vorliegenden Fragen ist.

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die Inkarnation auch im Rahmen der platonischen Tradition denkbar.70 Schon bei Platon ist an zentralen Stellen die Rede davon, dass die Geistseele, deren wesentlicher Kern der λόγος ist, in Menschengestalt erscheint.71 Dass auch die platonische Tradition die Erscheinung des λόγος in Menschengestalt affirmieren kann, belegt zudem abermals Amelios.72 Dies als Doketismus zu verstehen,73 verkennt jedoch, im Allgemeinen, den Status der φαινόμενα innerhalb der platonischen Ontologie(n) und, im Besonderen, die damit verbundene Dialektik der Erscheinung.74 Jede Entität der sinnlichen Welt hat diesen zwar geminderten, aber nichtsdestoweniger graduell seienden Status und auch der menschliche Körper ist in diesem Sinne Erscheinung und Bild.75 Wenn der λόγος also als Mensch erscheint (φαίνεσθαι), dann handelt es sich hierbei nicht um einen irgendwie gearteten bloßen Scheinleib, sondern er ist im gleichen Maße φαινόμενον – und Bild76 – wie dies für alle sinnlich-körperlichen Dinge gilt. Ohne Zweifel bestehen dabei Unterschiede zwischen Platonismus und Christentum mit Blick auf Christus. Für den Platonismus ist die Inkarnation in Jesus Christus vor allem exemplarische Explikation dessen, was im Grunde in jedem Menschen geschieht,77 während für das Christentum die historische Singularität der Menschwerdung Gottes stärker im Vordergrund steht. Diesen entscheidenden

70 Pace Frey, a. a. O. (Anm. 40), 228–230. Selbst eine vollständige Durchdringung des Körperlichen ist nachweisbar: Phdo. 81b1–d4; Tim. 34b3; 36e2. 71 Vgl. ἓν ζῷον φαίνεσθαι, ἄνθρωπον (Rep. 588e1) sowie Rep. 511b3–4 mit Rep. 589e4, weiterhin auch oben Phlb. 15d4–8 (Anm. 33). Es ist auffällig, dass sich diesbezüglich einschlägige Passagen gegen Ende des 9. Buchs der Politeia verdichten (man denke u. a. auch an ὁ ἐντὸς ἄνθρωπος Rep. 588e6–589a1). Bemerkenswerterweise stammt die in der Bibliothek von Nag Hammadi entdeckte, ins Koptische übertragene Platon-Passage exakt aus diesem Abschnitt. Zu dieser, teils entstellenden Paraphrase von Rep. 588a–589b vgl. J. M. Robinson (Hg.), The Nag Hammadi Library in English, Leiden/Boston 4 1996 [1978], 318–320. 72 καὶ εἰς τὰ σώματα πίπτειν [sc. ὁ λόγος] καὶ σάρκα ἐνδυσάμενον φαντάζεσθαι ἄνθρωπον μετὰ τοῦ καὶ τηνικαῦτα δεικνύειν τῆς φύσεως τὸ μεγαλεῖον· (apud Eusebios, Praep. ev. 11.19.1). Der letzte Halbsatz zeigt, dass für Amelios diese Inkarnation keineswegs einseitig negativ konnotiert ist (so zu Recht auch Vollenweider, a. a. O. [Anm. 43], 390–391). Zu φαντάζεσθαι ἄνθρωπον vgl. Anm. 71. 73 So etwa J. Rist, „St. John and Amelius“, in: Journal of Theological Studies 20 (1969), 230–231; zu Recht hiergegen Vollenweider a. a. O. (Anm. 43), 392. 74 Vgl. hierzu im Detail Poetsch, a. a. O. (Anm. 33), bes. 223–253; 284–287. Diese Dialektik ist im Kern eng verwandt mit einer zentralen trinitarischen Grundfrage, nämlich wie „die Formen der Gegenwart und Offenbarung Gottes in der Welt als wesenseins mit dem transzendenten Gott selber, diese also umgekehrt sowohl als transzendent als auch in der Welt gegenwärtig zu denken“ sind (STh I, 301). Pannenberg hebt ebd., 301–302 die direkte Beziehung zum λόγος-Begriff, insbesondere im Frühchristentum, hervor. 75 Vgl. Anm. 71. 76 Vgl. auch Kol 1,15 im direkt einschlägigen Kontext Kol. 1,15–17. 77 So auch Dillon, a. a. O. (Anm. 66), 36.

Logos und Logizität

Punkt „christlicher Geschichtstheologie“ (ChuP, 150), der die prinzipielle Zyklizität der Geschichtsvorstellung im Platonismus78 gleichsam durch einen absoluten historischen Nullpunkt aufhebt, hat Pannenberg vielfach hervorgehoben.79 Festzuhalten ist dann mit Blick auf das Verhältnis von exemplarischer Universalität und historischer Singularität jedoch auch, dass vor Joh 1,17 der Prolog in den Versen zum λόγος sehr wohl auch eine stärker universalistische Lesart zulässt – wofür im Übrigen abermals Origenes Gewährsmann ist.80 Dass etwa, wie es in Joh 1,14a wörtlich heißt, der λόγος „in uns gezeltet hat“ (καὶ ἐσκήνωσεν ἐν ἡμῖν) lädt zu dieser Lesart ebenso ein wie die Aussage in Joh 1,13, wonach der Glaube alle Menschen zu primär geistigen Wesen erhebt, welche von Gott gezeugt sind.81 Und zu bedenken ist ebenso, dass die platonisch-pagane Tradition in dieser Frage keinen monolithischen Block bildet. Amelios beispielsweise vertritt eine deutlich nuanciertere und offenere Position in dieser Frage als etwa Kelsos oder Porphyrios – deren einseitige Haltung nicht zuletzt vielleicht auch ihrer Polemik geschuldet ist, welche historisch gesehen längst ein Rückzugsgefecht war. Es ist also keineswegs zu bestreiten, dass zwischen Platonismus und Christentum mit Blick auf die gottmenschliche Einheit an bestimmter Stelle eine Differenzlinie verläuft. Sie ist im vorliegenden Rahmen selbstverständlich nicht einmal ansatzweise zu eruieren. Aber sie verläuft sicherlich nicht entlang der Frage, ob λόγος sich überhaupt inkarnieren kann oder nicht. Denn insofern er gerade die Verbindung von Geistigem und Materiellem sicherstellt, ist das Eingehen des λόγος in Fleisch und Materie geradezu die entscheidende Pointe der platonischen Position.82 Andererseits kann wenig Zweifel daran bestehen, dass die Vertreter des Platonismus grundsätzlich zu einer Position tendieren, die in der Folge der christlichen Tradition als ‚Subordinationismus‘ firmiert.83 Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang dann jedoch auch, wie Johannes selbst und seine ersten Leser, aber auch die Au-

78 Hierzu grundlegend K. Gaiser, Platons ungeschrieben Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule, Stuttgart 3 1998 [1963], 205– 289. 79 Vgl. u. a. WuTh 306–307; 312–315. 80 Vgl. hierzu im Detail die Analyse von Bruns, a. a. O. (Anm. 60). 81 οἳ οὐκ ἐξ αἱμάτων οὐδὲ ἐκ θελήματος σαρκὸς οὐδὲ ἐκ θελήματος ἀνδρὸς ἀλλ᾽ ἐκ θεοῦ ἐγεννήθησαν (Joh 1,13). 82 Vgl. ausführlicher Poetsch, a. a. O. (Anm. 33), bes. 249–253. Für die theologischen Konsequenzen einer solchen Interpretation Platons vgl. M. D. Krüger, „Sorge für die Seele. Systematisch-theologische Überlegungen in seelsorgerlicher Absicht“, in: I. Karle, E. Eichener (Hg.), „Was betrübst du dich, meine Seele?“ Die Sorge um die Seele aus exegetischer, systematisch-theologischer und poimenischer Perspektive, Evangelische Theologie 82 (2022), 202–212, bes. 204–206. 83 Zu latent subordinationistischen Zügen auch im frühen, vorniceanischen Christentum vgl. STh I, 298–302; 304–305.

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toren seiner möglichen Vorlage84 dieses Verhältnis wohl verstanden haben. Und hier ist nicht auszuschließen, ja der ideengeschichtliche Kontext legt es sogar nahe, dass das Verständnis des Evangelisten selbst eher zur hier skizzierten Seite tendiert haben könnte. Soweit ein par force-Ritt. Ich bin mir, wie eingangs erwähnt, bewusst, dass angesichts des Stellenwerts des Prologs und der mit ihm verbundenen Tradition unendlich viel mehr zu sagen wäre. Wenn aber das Skizzierte nicht jeglicher Plausibilität entbehrt, dann zeigt der vorliegende Übertrag anhand des λόγος-Konzepts, dass das, was ich als Logizität zu umschreiben versucht habe, auch an zentral(st)er Stelle im Christentum vorliegt. Wenn aber wiederum Logizität als Grundlage von Wissenschaftlichkeit überhaupt verstehbar ist, dann ist hier zugleich ein möglicher Ausgangspunkt gegeben, anhand dessen nicht nur das Verständnis der Theologie als Wissenschaft, sondern vor allem auch das Verhältnis von Theologie und Wissenschaftstheorie zu behandeln ist.

4.

Facetten im Anschluss an Pannenberg

In diesem Sinne ist nun der vorangegangene Bogen an Pannenbergs Überlegungen in Wissenschaftstheorie und Theologie anzuschließen. Genauer soll dies anhand dreier Aspekte erfolgen: erstens, mit Blick auf die Theologie als Wissenschaftstheorie, zweitens hinsichtlich des Verhältnisses von Philosophie und Theologie und abschließend kurz bzgl. des wissenschaftstheoretisch zentralen Moments der Intersubjektivität. Beginnen wir mit Theologie als Wissenschaftstheorie. Wenn die Philosophie als Philosophie Wissenschaftstheorie sein kann, während die Physik als Physik dies nicht kann,85 wie steht es dann diesbezüglich um die Theologie? Hier ist zuerst, wie angekündigt, die eingangs aufgerufene These zur Theologie als Wissenschaftstheorie genauer in den Blick zu nehmen: Inwieweit ist überhaupt davon auszugehen, dass Pannenberg der Theologie nicht nur – im Sinne seiner Grundthese – eine Position unter den Wissenschaften, sondern eben auch – im Sinne einer stärkeren These – eine Rolle in der Wissenschaftstheorie selbst zuschreiben möchte?86 Mindestens

84 Vgl. hierzu auch M. Enders, „Eine metaphysische und eine offenbarungstheologische Perspektive“, in: Ders., R. Kühn (Hg.), „Im Anfang war der Logos…“. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart, Freiburg/Basel/Wien, 2011, 376–380, hier: 376. 85 Weil die Physik selbst kein physischer Gegenstand ist und damit grundsätzlich außerhalb des Gegenstandsbereichs der Physik liegt. 86 Wie die Diskussionen im Anschluss an diesen Vortrag im Rahmen des 9. Pannenberg-Kolloquiums gezeigt haben, ist diese Interpretation umstrittener als ich dachte. Dennoch scheint es mir geboten, Pannenberg mit dieser stärkeren These – also Theologie (auch) als Wissenschaftstheorie – ernst zum

Logos und Logizität

zwei Argumente sprechen in meinen Augen dafür, dass Pannenberg hier die stärkere These, also Theologie auch als Wissenschaftstheorie, vertritt: zum einen mehrere Aussagen im Text, zum anderen die Grundanlage von Wissenschaftstheorie und Theologie selbst. Zuerst zu den Textbelegen. Zu nennen ist hier zuvorderst die bereits in meiner Einleitung zitierte, programmatische Aussage zur – unverzichtbaren! – Wichtigkeit der Theologie für die Gesamtsystematik der Wissenschaften an der Universität (WuTh, 17; s. o. S. 57). Insofern aber Aussagen zur Gesamtsystematik der universitären Wissenschaften ohne Zweifel wissenschaftstheoretische Aussagen sind, impliziert dies die stärkere These. Auch später im Werk werden in diesem Sinne Aussagen etwa zur Gesamtheit der Disziplinen getroffen, sodass der anfänglichen Programmatik auch Taten folgen; etwa wenn z. B. davon gesprochen wird, dass es „[n]eben Disziplinen, die den abstrakten Aspekt allgemeiner Regelbildung thematisieren, […] Disziplinen [geben muss], die den Zusammenhang von individuellen und allgemeinen Strukturen im Ablauf des Geschehen erforschen, und endlich solche, die die umfassenden Sinnhorizonte thematisieren“ (WuTh, 339) – auch das sind eindeutige Aussagen zum Gesamtzusammenhang der wissenschaftlichen Disziplinen und damit wissenschaftstheoretische Aussagen. Aussagen wie diese sind damit, gemäß der Pannenberg’schen Taxonomie theologischer Aussagen (vgl. WuTh, 336–337), nicht nur Hypothesen dritter Ordnung, sondern letztlich Aussagen vierter Ordnung, insofern sie nicht hypothetische Aussagen „über Wahrheit und/oder Unwahrheit von Ausprägungen des religiösen Bewußtseins“ sind (WuTh, 336), sondern Aussagen über diese genuin theologischen Aussagen in ihrem Verhältnis zu wissenschaftlichen Aussagen anderer Disziplinen. Nochmals explizit wird der wissenschaftstheoretische Anspruch auch, wenn Pannenberg davon spricht, dass der Wissenschaftsbegriff „von Theologen in anderer Weise entworfen werden [mag] als von anderen Wissenschaftstheoretikern“ (WuTh, 23; Herv. CP). Unabhängig davon, wie dieser andere Wissenschaftsbegriff konkret aussehen mag, reiht diese Aussage die Theologen eindeutig in die Reihe der Wissenschaftstheoretiker ein und beansprucht folglich abermals die Möglichkeit, wissenschaftstheoretische Aussagen im Rahmen der Theologie zu treffen. Im Ganzen betrachtet findet sich also eine Reihe an Textbelegen, welche die Interpretation stützen, wonach Pannenberg selbst die stärkere These intendiert. Zum zweiten Argument, zur Grundanlage von Wissenschaftstheorie und Theologie. Wenn, um ein einfaches Beispiel zu wählen, der Satz ‚Die Disziplin X ist aus den-und-den Gründen eine Wissenschaft‘ ein wissenschaftstheoretischer Satz ist,

nehmen. Ich werde im Folgenden versuchen, diese ausführlicher mit Belegen zu untermauern und bedanke mich sehr herzlich bei allen Beteiligten für die anregenden Diskussionen.

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dann ist Wissenschaftstheorie und Theologie im Ganzen ein wissenschaftstheoretisches Werk. Schließlich beansprucht Pannenberg hier im Sinne seiner Grundthese ausführlich darzulegen, dass und wie Theologie eine Wissenschaft ist bzw. sein kann.87 Ebenso beinhaltet das Werk, etwa im zweiten Kapitel, allgemeinere Überlegungen zum Verhältnis der Natur- und Geisteswissenschaften wie auch zu wissenschaftstheoretischen Grundbegriffen, etwa dem Verhältnis von Erklären und Begründen (WuTh, 136–156).88 All das sind, ohne Zweifel, nicht nur wissenschaftliche, sondern auch wissenschaftstheoretische Aussagen. Wenn nun aber nicht davon auszugehen ist, dass Pannenberg in Wissenschaftstheorie und Theologie sein Selbstverständnis als Theologe plötzlich abgelegt hat (und hier gleichsam ein Buch ‚außerhalb seiner Profession‘ schreibt), dann impliziert dies, dass die Theologie gerade als Theologie aus Pannenbergs Sicht grundsätzlich zu wissenschaftstheoretischen Aussagen in der Lage ist.89 Wissenschaftstheorie und Theologie vertritt als Werk eines Theologen also gleichsam performativ die These, dass Theologie als Theologie Wissenschaftstheorie betreiben kann. Diese beiden Argumente lassen meines Erachtens keinen anderen Schluss zu, als dass Pannenberg letztlich die stärkere These vertritt. Das heißt, die Theologie ist nicht nur im vollen Sinne zu den Wissenschaften zu zählen, sondern kann Pannenberg zufolge als Theologie auch Aussagen über die Wissenschaft als solche machen. Betrachtet man nun aber besonders das systematisch zentrale fünfte Kapitel genauer, so ist es, zumindest soweit ich sehen kann, auffällig, dass hier zwar sehr ausführlich dafür argumentiert wird, dass und wie Theologie als Wissenschaft zu verstehen ist; dass aber gleichwohl – neben diesen, wie gesagt, wissenschaftstheoretischen Aussagen zum Wissenschaftsstatus der Theologie selbst – recht wenig dazu zu finden ist, wie genau Theologie in concreto als Wissenschaftstheorie fungieren kann. Wo liegen, so wäre dann aber im Sinne der stärkeren These zu fragen,

87 Die Ergänzung „sein kann“ ist notwendig, da es für Pannenberg durchaus Fassungen von Theologie gibt, die diese gerade außerhalb der Wissenschaft(en) setzen bzw. durch ihren Ansatz Gefahr laufen, dies zu tun (vgl. etwa die Argumente WuTh, 22–23). 88 Dass diese Erörterungen dabei zugleich mit einer Rekapitulation wichtiger historischer Positionen aus der Wissenschaftstheorie einhergehen, steht außer Frage. Es steht aber einer systematischen Behandlung nicht entgegen. Im Gegenteil: Pannenberg legt etwa in STh I, 7–8 programmatisch dar, dass auch die systematische Theologie immer nur in Auseinandersetzung mit historischen Positionen überhaupt systematisch arbeiten kann. So gesehen ist Wissenschaftstheorie und Theologie nicht nur Wissenschaftstheorie, sondern notwendig auch Wissenschaftstheoriegeschichte. 89 Dies ist nochmals zu unterscheiden von den üblichen ‚Methodenkapiteln‘ in verschiedenen Einzelwissenschaften. Auch wenn selbst diese Kapitel streng genommen bereits wissenschaftstheoretische Aussagen beinhalten, bleiben sie doch auf die je einzelne Disziplin beschränkt. Pannenbergs Anspruch geht jedoch über einen solchen Methodenkanon für eine Einzeldisziplin – in diesem Fall: die Theologie – doch offenkundig hinaus.

Logos und Logizität

die spezifisch theologischen Potentiale und Ansatzpunkte zur Behandlung wissenschaftstheoretischer Fragen? Genau hier scheint mir nun der in den vorangegangenen Kapiteln skizzierte Gedankengang insofern anschlussfähig, als er diese Frage recht passgenau im Rahmen des Pannenberg’schen Ansatzes umrissartig zu beantworten vermag. Theologie ist nach Pannenberg, so würde ich dies zusammenfassen, die Evaluierung von Aussagen zur Sinnfassung der Gesamtwirklichkeit hinsichtlich ihrer Differenziertheit, Deutungskraft und Richtigkeit angesichts dieser Gesamtwirklichkeit; wobei die Betrachtung auf Aussagen in historischen Religionen eingeschränkt ist.90 Ferner zeichnet sich Theologie für Pannenberg dadurch aus, dass diese Sinnfassung konstitutiv mit Blick auf den Gottesbegriff, und zwar auf Gott als die „alles bestimmende Wirklichkeit“ (WuTh, 335)91 , geschieht. Entscheidend sind für Pannenberg zudem der Rückgriff auf die Tradition und der Ausweis „als Formulierung von Implikationen biblischer Überlieferung“ (WuTh, 348). Theologie als Wissenschaftstheorie92 ist demnach eine spezifische Form der Wissenschaftstheorie, die unter konstitutivem Rückgriff auf ihre je eigene religiöse Tradition Aussagen darüber macht, was Wissenschaft als Wissenschaft auszeichnet, worin Wissenschaftlichkeit im Kern besteht und was die der Wissenschaft vorausliegenden Bedingungen sind, um diese Wissenschaftlichkeit zu realisieren. Eine solche theologische Wissenschaftstheorie müsste nach Pannenbergs Theologiekonzept ferner konstitutiv auf den Gottesbegriff rekurrieren und sie müsste diesen im Sinne einer allbegründenden und -bestimmenden Form fassen. In diese Perspektive fügt sich nun – exemplarisch für die Tradition des Christentums – die vorangegangene Argumentation zum λόγος-Konzept in meinen Augen recht passgenau. Zwar wurden anhand der vorangehenden Skizze keine einzelnen konkreten Aussagen zum Sinn der Gesamtwirklichkeit evaluiert.93 Wohl aber

90 Vgl. hierzu etwa: „Gegenstand theologischer Aussagen ist dabei sowohl das Ungenügen überlieferter oder gegenwärtig auftretender religiöser Sinnbehauptungen als auch die Feststellung des Maßes ihrer erhellenden Kraft und der zur optimalen Integration gegenwärtiger Sinnerfahrung etwa erforderlicher Änderungen der traditionellen Sinnbehauptungen, sowie ihres Verhältnisses zu anderen religiösen Überlieferungen.“ (WuTh, 337; vgl. auch 330) Zur Differenziertheit als Kriterium vgl. u. a.: „Überlieferte Aussagen oder gegenwärtige Neuformulierungen bewähren sich dann, wenn sie den Sinnzusammenhang aller Wirklichkeitserfahrung differenzierter und überzeugender erschließen als andere.“ (WuTh, 347) 91 Im Original durchgängig hervorgehoben. 92 Oder auch: Wissenschaftstheorie als Theologie – so die Aussagen korrekt sind, dass sich weder Wissenschaftstheorie in ihrer theologischen Form erschöpft (da es z. B. auch Wissenschaftstheorie als Philosophie gibt), noch Theologie einfach nur aus Wissenschaftstheorie besteht (da sie noch vielfach anderweitig tätig ist), sind beide Formulierungen möglich und fruchtbar. 93 Was auch wiederum Sache der Theologie wäre; und zwar dort, wo sie nicht als Wissenschaftstheorie tätig ist.

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wurde anhand eines zentralen Begriffs der christlichen Tradition nachgezeichnet, dass und inwiefern dieser nicht nur anschlussfähig, sondern sogar grundlegend für wissenschaftstheoretische Aussagen sein kann. Schließlich hat sich – wenn man der Auslegung im 3. Abschnitt prinzipiell, zumindest als Möglichkeit, zustimmt – auch das christliche λόγος-Konzept als mit dem Logizitäts-Begriff kompatibel erwiesen. So gesehen finden sich in einem zentralen Text der christlichen Tradition genuine Potentiale in wissenschaftstheoretischer Hinsicht. Freilich geschieht dies im Johannes-Prolog in sehr verdichteter Form und ruft folglich entsprechende exegetische Bemühungen auf den Plan. Genau dies scheint aber von Pannenberg eingepreist, wenn er – gerade auch mit Blick auf die historische Veränderlichkeit der Lebensumstände (und damit der Sinn- und Erklärungsbedürfnisse) – von den „Implikationen biblischer Überlieferung“ (WuTh, 348; Herv. CP) spricht. Theologie kann demnach im Prinzip, unter Rückgriff auf ihren eigenen Kernbestand, wissenschaftstheoretische Aussagen treffen. Wobei mit diesem Vorschlag wohlgemerkt keineswegs behauptet sei, dass die so skizzierte Form und Möglichkeit einer theologischen Wissenschaftstheorie auch genau die spezifische Form hat, die Pannenberg ihr geben würde oder zu geben beabsichtigt hat.94 Wohl aber beansprucht sie in concreto (wenn auch nur in einer Skizze) zu zeigen, dass die religiöse Tradition und die Theologie durchaus über spezifische wissenschaftstheoretische Potentiale verfügen. Insofern die vorangegangenen Schritte zugleich einen Grenzgang zwischen Philosophie und Theologie darstellen, scheint mir auch das Verhältnis dieser beiden Wissenschaften in Pannenbergs Ansatz bedenkenswert. Denn bei aller Nähe, die Pannenberg für diese beiden Disziplinen angesichts ihrer Auseinandersetzung mit der umfassenden Wirklichkeit konstatiert, unterscheiden sie sich ihm zufolge doch in mehreren Punkten. Und zwar zeichne sich die Theologie gegenüber der Philosophie zum einen dadurch aus, dass sie „die Sinntotalität erfahrener Wirklichkeit […] unter dem Gesichtspunkt ihrer einenden Einheit, der Wirklichkeit Gottes“ thematisiere (WuTh, 339; vgl. 344). Zum anderen bestehe die differentia specifica der Theologie darin, dass nur sie untersuche, „wie das Bewußtsein von ihr [sc. dieser Wirklichkeit Gottes] in der Geschichte religiöser Erfahrungen“ hervorgetreten sei (WuTh, 340; vgl. 344). Gerade vor dem Hintergrund des zuvor Ausgeführten scheint mir jedoch fraglich, ob diese beiden Differenzpunkte letztlich

94 Insofern Pannenberg z. B. dem platonisch inspirierten Schöpfungsparadigma im λόγος letztlich kritisch gegenübersteht – da dieses in seinen Augen der „Kontingenz und Geschichtlichkeit der aus dem Schöpfungshandeln Gottes hervorgehenden Weltwirklichkeit“ (STh II, 42) zu wenig Rechnung trägt –, spricht manches dafür, dass dies in Teilen nicht der Fall ist; wenngleich ich vermute, dass der vorgeschlagene Ansatz im Ganzen durchaus mit seinem Ansatz sehr fruchtbar in Beziehung zu setzen ist. Das nachfolgend angeführte Zitat aus ChuP, 161 deutet klar in meinen Augen in diese Richtung, vgl. Anm. 97.

Logos und Logizität

aufrechterhalten werden können. Mit Blick auf die erste spezifische Differenz – den Gottesbegriff – konstatiert Pannenberg sogar selbst, dass er in der Philosophie vorliegt, ja sogar vorliegen muss. Auch der Philosophie ist „unausweichlich […] die Frage nach der Möglichkeit solcher Totalität, nach ihrer einenden Einheit“ aufgegeben, was „der Sache nach“ mit dem Gottesbegriff koinzidiert (WuTh, 306). Nach Pannenberg ist also auch der Philosophie – wo sie nicht der „Mode des Tages“ folgt (WuTh, 307) – der Gottesbegriff konstitutiv inhärent. Als differentia specifica ist er damit aber vonseiten der Theologie gerade nicht in Anspruch zu nehmen. Auch die zweite spezifische Differenz, der Bezug zur „Geschichte religiöser Erfahrung“ wäre m. E., zumindest im antiken Kontext, zu diskutieren. Denn es ist schwerlich zu bestreiten, dass etwa in der Stoa oder in der späteren Tradition des Platonismus, z. B. bei Jamblich oder Proklos, aber auch schon bei Platon selbst,95 ein Bewusstsein der göttlichen Wirklichkeit gerade als religiöse Erfahrung zum Tragen kommt. Zumindest im Hinblick auf ihren eigenen Anspruch scheint mir das nicht a priori abgrenzbar – es sei denn man schränkte religiöse Erfahrung von vornherein auf institutionalisierte Formen von Religion ein. Dennoch bleiben mit Pannenberg zwei weitere wesentliche Differenzmomente für das Verhältnis von Philosophie und Theologie festzuhalten: Zum einen die im Abschlusskapitel von Wissenschaftstheorie und Theologie nochmals aufgegriffene Unterscheidung zwischen zeitunabhängiger Begriffsarbeit in der Philosophie einerseits und der konstitutiven Geschichtlichkeit der Religionen in der Theologie andererseits (WuTh, 423). Zum anderen besteht ohne Zweifel im Rahmen der Theologie eine größere Konzentration und Verpflichtung auf eine Tradition, während es für die Philosophie in der Begriffsarbeit sicher einfacher ist, bei Bedarf zwischen den Traditionen wechseln oder ganz auf sie zu verzichten. Insofern stellt auch das Vorangegangene nicht nur zufällig, sondern konstitutiv einen Grenzgang auch zwischen den Traditionen dar. Insbesondere mit Blick auf die platonische Tradition scheint mir hier jedoch für das Verhältnis von Philosophie und Theologie bemerkenswert, dass Pannenberg sich an anderer Stelle, im Aufsatz Christentum und Platonismus, gerade dem „Einen Guten“ (ChuP, 151) der Philosophie Platons als genuin theologischem Potential zuwendet. Und zwar besteht dieses Potential gerade insofern, als „der platonische Gottesgedanke des Guten […] als noch unausgeschöpfte Quelle der Erneuerung philosophischer Theologie und als Bezugspunkt der begrifflichen Entfaltung einer aus ihrem eigenen Ursprung gedachten christlichen Gotteslehre“ (ChuP, 161) zu dienen vermag.96 Dies bestärkt nicht nur meine Vermutung, dass das in den vorangegangenen Abschnitten Dargelegte nicht 95 Vgl. hierzu zuletzt Szlezák, a. a. O. (Anm. 28), 568–609. 96 Die systematisch zentralen Aussagen, die Pannenberg hier zu Ende des Aufsatzes verdichtet (vgl. oben Anm. 35), können hier nicht ihrerseits in der nötigen Ausführlichkeit analysiert werden. Sie werden in einem Folgeaufsatz ausführlicher behandelt werden.

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vollständig am Ansinnen Pannenbergs vorbeigeht.97 Pannenberg benennt mit dem Einen-Guten auch exakt jenes Element, das innerhalb der im zweiten und dritten Abschnitt skizzierten λόγος-Konstellation den höchsten Punkt, christlich gewendet also Gott-Vater, bildet.98 Dies scheint mir v. a. deshalb bemerkenswert, weil Pannenberg auch in Wissenschaftstheorie und Philosophie an ganz entscheidender Stelle, nämlich beim Gottesbegriff im fünften Kapitel, explizit auf die Rede vom Guten, das alles bindet, im Phaidon zu sprechen kommt (WuTh, 307) – mit dem konstitutiven Unterschied freilich, dass diese Bindung nicht im Rahmen einer geschichtlichen Offenheit, sondern wesentlich geschlossener gedacht wird. Denn während im antik-platonischen Kontext „die Totalität der Wirklichkeit als Kosmos“ (WuTh, 307) gedacht ist und sie damit für Pannenberg als bereits vollständig geordnet und abgeschlossen verstanden wird,99 ist der gegenwärtige Blickwinkel, speziell des Christentums, aus Pannenbergs Sicht genuin von geschichtlicher Offenheit geprägt.100 Bei aller Kompatibilität und Anschlussfähigkeit scheint also aus der Perspektive Pannenbergs keine bruchlose Übernahme des antiken Ansatzes, auch in wissenschaftstheoretischer Perspektive, möglich – wohl aber bildet dieser, wie zitiert eine „noch unausgeschöpfte Quelle der Erneuerung“. Ein wichtiger Punkt, der in diesem Kontext zum Abschluss zumindest aufgerufen sei, ist das Moment der intersubjektiven Verbindlichkeit. Dieser Punkt ist zweifelsohne für jeden Diskurs, aber besonders für den wissenschaftlichen Diskurs von entscheidender Bedeutung. Pannenberg hebt ihn in seiner Argumentation immer wieder hervor.101 Wenn aber in Frage steht, welche Bedingungen und Formationen einem intersubjektiv verbindlichen Diskurs zugrunde liegen, dann kann, so scheint mir, eine christliche Theologie im Sinne des oben skizzierten Gedankengangs gerade als Theologie im Pannenberg’schen Sinne auch als Wissenschaftstheorie in konkreter Ausformulierung auf diese Frage antworten. Dies gilt insbesondere für jene systematische Konstellation, die allen Menschen prinzipiell eine Partizipation am λόγος zuspricht. Und zwar gerade insofern diese Instanz nicht nur den gemeinsamen Grund von Welt und Einzelsubjekt bildet, sondern damit auch das Verhältnis aller Einzelsubjekte zueinander begründet.102 Für derartige wissenschaftstheoretische Problemstellungen scheint mir – zumal auch in

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Vgl. Anm. 94. Vgl. auch Anm. 35. Vgl. auch STh II, 41–42. In WuTh vgl. bes. 346–347. Zur Zentralität dieser letztlich eschatologischen Figur im Hinblick auf das Verhältnis von Glaube und Vernunft bei Pannenberg vgl. auch G. Wenz, „Theologie der Vernunft. Zum unveröffentlichten Manuskript einer Münchner Vorlesung Wolfhart Pannenbergs vom SS 1969“, in: Ders., a. a. O. (Anm. 1), 355–377, bes. 357–358; 369–375. 101 Vgl. WuTh bes. 29, 42 Anm. 62; 53–54; 98–101; 116–117; bes. 303–304. 102 Vgl. Joh 1,4; 1,9 sowie im Detail oben, im 3. Abschnitt.

Logos und Logizität

interkultureller Perspektive103  – der antike Logos in seiner paganen wie christlichen Fassung genuin anschlussfähig. Zugleich vermag er an die notwendige und ganz buchstäbliche Rückbindung jedes wissenschaftlichen Diskurses an eine gemeinsam geteilte Grundlage zu erinnern, innerhalb derer ein solcher Diskurs überhaupt erst sinnvoll möglich wird. Schließlich gilt, und mit diesem Zitat Pannenbergs möchte ich schließen: „[…] selbst ein Streit um die Wahrheit ist nur möglich, wo deren Einheit vorausgesetzt wird.“ (WuTh, 23)

103 Vgl. hierzu: „Wenn irgendetwas dem hellenistischen Zeitalter vertraut war, dann gehört dazu allerdings das Erlebnis der Pluralität der Kulturen. Nur suchte man in solcher Pluralität das Bewußtsein einer umgreifenden Einheit des gemeinsam Menschlichen zu bewahren, und das geschah im Medium des Denkens, wie es die Griechen entwickelt hatten. Auch der christliche Glaube konnte seinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, der von seinem Gedanken der Einheit Gottes unabtrennbar ist, nur in diesem Medium artikulieren.“ (ChuP, 148)

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Ist der Glaube vernünftig? Zum Rationalitätsverständnis bei Plantinga und Pannenberg Die Frage, welcher Status der Theologie im Verhältnis zur Philosophie und zu den anderen Wissenschaften zukommen soll, wurde im Laufe der Geschichte intensiv diskutiert. An den teils kontrovers geführten Debatten zwischen analytischen und kontinentalen Ansätzen der Theologie lässt sich exemplarisch verdeutlichen,1 wie vielfältig das Spektrum theologischer Denkformen aktuell ist. Zugleich können wir beobachten, wie der Fortschritt der modernen Wissenschaften, die Religionskritik im Gefolge des Logischen Positivismus bzw. des Kritischen Rationalismus und der Wandel hin zu einer weltanschaulich zunehmend pluralen Gesellschaft überkommene Gewissheiten im Blick auf den gesellschaftlichen Stellenwert der Theologie und die ihr in der Öffentlichkeit zugestandene Rolle in Frage stellen. Wenn eine bestimmte Form religiöser Selbst- und Weltdeutung primär als eine mögliche Option unter anderen erscheint,2 erhält die Frage nach dem Wahrheitsanspruch oder zumindest nach der Möglichkeit einer Rechtfertigung von religiösen Überzeugungen neue Dringlichkeit.3 Vor welche Herausforderung sich eine Theologie gestellt sieht, die angesichts der eben beschriebenen Dynamiken und einer in ihren eigenen Reihen über weite Strecken metaphysikkritischen Grundhaltung Rechenschaft für die christliche Hoffnung abzulegen und den christlichen Glauben als rational verantwortbare Option auszuweisen versucht,4 wird deutlich, wenn Pannenberg fordert, die Theologie müsse ihre „eigenen Grundlagen in einem weiteren Zusammenhang […] reflektieren und neu […] gewinnen.“5 Zur Klärung ihres epistemologischen Status 1 Vgl dazu den Diskussionsband von H.-J. Höhn/S. Wendel/Gr. Reimann/J. Tappen (Hg.), Analytische und Kontinentale Theologie im Dialog (QD 314), Freiburg i. Br. 2021. 2 Vgl. H. Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg i. Br. 2012. 3 Siehe dazu bereits L. B. Puntel, Wissenschaftstheorie und Theologie. Zu Wolfhart Pannenbergs gleichnamigem Buch, in: ZKTh 98 (1976) 271−292; hier: 271f sowie neuerdings M. Breul/K. Viertbauer, Der Glaube und seine Gründe. Neue Beiträge zur Religiösen Epistemologie (RPT 117), Tübingen 2022. 4 Vgl. J. Werbick, Einführung in die theologische Wissenschaftslehre, Freiburg i. Br. 2010; bes. 79−121. 5 WuTh, 8. Damit ist nicht gemeint, die Theologie solle sich an die methodischen Standards der Wissenschaften anbiedern und den ihr eigenen Charakter als Wissenschaft von Gott – wie Pannenberg sagen wird – im „Fegefeuer der Wissenschaftstheorie“ preisgeben. Auf diese Weise würde sie, wie H. Kuhn in seiner polemischen Rezension zu Wissenschaftstheorie und Theologie schreibt, letztlich zu einem „erbaulichen Postscriptum zu den acta eruditorum“ verkommen müssen (H. Kuhn, Die

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habe sich die Theologie daher nicht nur in einen intensiven und konstruktiven Dialog mit der Philosophie – insbesondere der Epistemologie –, sondern auch mit anderen Wissenschaften und ihren Denkmodellen zu begeben, eine Aufgabe, der Pannenberg in Wissenschaftstheorie und Theologie (1973) nachzukommen versucht.6 Einen ganz anderen, aber nicht minder spannenden Weg schlägt Alvin Plantinga, einer der zentralen Akteure der analytischen Religionsphilosophie und Vordenker der Reformed Epistemology,7 ein. Während letzterer zu zeigen versucht, dass ein Gläubiger in seinen religiösen Überzeugungen selbst dann gerechtfertigt sein kann, wenn er keine zwingenden Argumente für deren Wahrheit beizubringen vermag, hält Wolfhart Pannenberg trotz des auch von ihm eingestandenen Scheiterns der klassischen Gottesbeweise und der natürlichen Theologie entschieden daran fest, dass Theologie als Wissenschaft von Gott nicht darauf verzichten darf, ihren Wahrheitsanspruch argumentativ zu untermauern.8

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Alvin Plantinga und die Reformed Epistemology

Neben seinen grundlegenden Beiträgen zur Erkenntnistheorie ist die Frage nach der „intellektuelle[n], rationale[n] Akzeptierbarkeit“9 des theistischen oder spezifischer des christlichen Glaubens, wie er in den Bekenntnissen der christlichen Hauptkonfessionen zum Ausdruck gebracht wird, zentral für Plantingas vielfältiges Schaffen. In ihrem Bemühen um präzise Begriffe und transparente Argumentationen, mit dem sie sich eindeutig in die analytische Tradition einreiht, greift die Reformed Epistemology immer wieder auf den Reformator Calvin und seinen Ge-

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Theologie vor dem Tribunal der Wissenschaftstheorie, in: PhR 25 [1978] 264−277; hier: 264 u. 271: kursiv im Original; vgl. 274). Im Blick auf Alvin Plantinga siehe dazu auch A. Loichinger, Ist der Glaube vernünftig? Zur Frage nach der Rationalität in Philosophie und Theologie (BFRP 3;1 u. 3;2), Neuried 1999, 676. Meines Wissens sind bisher nur zwei explizit theologische Bücher in die renommierte Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft aufgenommen worden: W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie (stw 676), Frankfurt a. M. 1987 sowie die erstmals 1976 bei Patmos erschienene Dissertationsschrift von H. Peukert, Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung (stw 231), Frankfurt a. M. 1978. Vgl. dazu einführend D. Schönecker, Alvin Plantinga, in: K. Viertbauer/G. Gasser (Hg.), Handbuch Analytische Religionsphilosophie. Akteure – Diskurse – Perspektiven, Berlin 2019, 56−65. Vgl. W. Pannenberg, An introduction to systematic theology, Grand Rapids; MI 1991, 6f sowie weiterführend Ch. Gutenson, Can belief in the Christian God be properly basic? A Pannenbergian perspective on Plantinga and basic belief, in: CScR 29 (1999) 49−72; hier: 49−51. A. Plantinga, Gewährleisteter christlicher Glaube. Aus dem amerikanischen Englisch übers. v. J. Schulze, Berlin – Boston 2015, IX (=GCG). Die amerikanische Originalausgabe Warranted Christian belief wurde bereits 2000 veröffentlicht.

Ist der Glaube vernünftig?

danken eines sensus divinitatis als kognitives Vermögen, aber auch auf Thomas von Aquin und Paulus in Röm 1,18−20 zurück,10 ohne darüber den Anspruch, eine erneuerte oder, anders gesagt, reformierte Epistemologie vorzulegen,11 aus den Augen zu verlieren. Die Reformed Epistemology zeichnet sich also dadurch aus, dass sie als eine prägende Strömung innerhalb der Religionsphilosophie gelten kann, darüber hinaus aber auch als Erkenntnistheorie einflussreich geworden ist. Plantinga schätzt die lange Tradition der natürlichen Theologie und ihrer theoretisch hochkomplexen Argumente für die Existenz Gottes, sieht aber auch deutlich, dass sie für die religiöse Praxis der allermeisten Menschen relativ bedeutungslos ist.12 Aus diesem Grund optiert er dafür, den traditionellen religionskritischen Einwand nicht mit Argumenten der natürlichen Theologie zu entkräften, sondern die von Religionskritikern wie philosophischen Theologen gleichermaßen geteilte Prämisse, ohne stichhaltige Argumente für die Existenz Gottes könne es keine gerechtfertigten theistischen Überzeugungen geben, direkt anzugreifen. Mit dieser gedanklichen Wendung ist nach Winfried Löffler das Kernanliegen der reformierten Erkenntnistheorie, die sich gleichermaßen als Gegenposition zur klassischen Religionskritik wie zur natürlichen Theologie versteht, scharf umrissen.13 Nach Plantinga, der nicht nur dem Evidentialismus kritisch gegenüber steht, sondern sich auch gegen Engführungen des klassischen erkenntnistheoretischen Fundationalismus wendet,14 müssen sich theistische Überzeugungen (beliefs) nicht auf Argumente (propositional evidence) stützen, um epistemisch gerechtfertigt zu sein. Sie können, ähnlich wie andere (selbst-)evidente Überzeugungen auch, berechtigterweise basale Überzeugungen (properly basic beliefs) sein. Mit anderen Worten: Wer an Gott glaubt, ist rational und gerechtfertigt, ja kann darin darüber hinaus sogar gewährleistet (warranted) sein,15 auch wenn er keine guten Argumente für den Theismus vorbringt (gegen den Evidentialismus),16 „weil der religiöse Glaube selbst einer fundamentalen Wissensquelle entspringt, dem sensus divinitatis“17

10 Vgl. GCG, 196−202. 11 Vgl. D. Schönecker, Alvin Plantinga, 57. 12 Vgl. GCG 118 sowie den Abschnitt The reformed objection to natural theology in A. Plantinga, Reason and belief in God, in: Ders./N. Wolterstorff (Hg.), Faith and rationality. Reason and belief in God, Notre Dame; IN 1983, 16−91; hier: 63−73 (=RBG). 13 Vgl. W. Löffler, Die Rolle religiöser Erfahrung bei Swinburne, Plantinga und Alston, in: E. Heinrich/ D. Schönecker (Hg.), Wirklichkeit und Wahrnehmung des Heiligen, Schönen und Guten. Neue Beiträge zur Realismusdebatte, Paderborn 2011, 67−123; hier: 85f sowie Ders., Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 3 2019, 109f und D. Schönecker, Alvin Plantinga, 57f. 14 Vgl. D. Schönecker, Alvin Plantinga, 57−59. 15 Zu warrant als situations- und personenrelative Eigenschaft siehe weiterführend W. Löffler, Die Rolle religiöser Erfahrung, 97f. 16 Vgl. GCG, 95. 17 D. Schönecker, Alvin Plantinga, 57.

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(gegen den klassischen Fundationalismus). Der hier nur thesenhaft formulierte Grundgedanke wird insbesondere in Gewährleisteter Christlicher Glaube (2000; dt. 2015) weiterentwickelt und gegenüber Einwänden verteidigt. 1.1 Können theistische bzw. christliche (Glaubens-)Überzeugungen berechtigterweise basal sein? Bevor wir diese Frage beantworten können, müssen wir einen Blick auf Plantingas kritische Auseinandersetzung mit dem klassischen erkenntnistheoretischen Fundationalismus werfen. Diese äußerst einflussreiche erkenntnistheoretische Position zeichnet sich nach Löffler18 durch zwei Thesen aus: (1) Überzeugungen (beliefs) sind für S genau dann gerechtfertigt, wenn es sich entweder um properly basic beliefs handelt oder sie auf solche zurückgeführt werden können.19 (2) Überzeugungen sind properly basic beliefs genau dann, wenn sie für S selbstevident oder unkorrigierbar sind oder wenn es sich um für S evidente Sinneswahrnehmungen handelt.20 Während die erste These unproblematisch erscheint, ergeben sich im Blick auf die zweite eine Reihe von Anfragen. Zwar sei unbestritten, dass „selbstevidente Überzeugungen (analytische oder apriorische Wahrheiten, etwa Axiome der Mathematik oder Logik), alle unkorrigierbaren Überzeugungen über meine eigenen mentalen Zustände (ich habe Zahnschmerzen) und Wahrnehmungseindrücke (dieses Ding da erscheint mir rot)“21 weder eigens begründet werden können noch müssen und daher als berechtigterweise basal gelten dürfen,22 allerdings zeige sich bei genauerer Prüfung auch, dass These (2) diesem Anspruch selbst nicht genügt.23 Insofern These (2) weder selbstevident noch unkorrigierbar oder für die Sinne evident ist und sich zudem nicht auf andere berechtigterweise basale Überzeugungen stützen lässt,

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Vgl. W. Löffler, Die Rolle religiöser Erfahrung, 91f. Vgl. GCG, 96f. Vgl. GCG, 97f. Vgl. D. Schönecker, Alvin Plantinga, 59. Dass Überzeugungen als properly basic eingestuft werden und nicht auf Argumente gestützt werden müssen, bedeutet allerdings nicht, sie hätten keinen Grund und wären in diesem Sinne grundlos. Sie werden vielmehr in bestimmten Situationen spontan gebildet (vgl. RBG, 78−80). Zudem sind berechtigterweise basale Überzeugungen weder unkorrigierbar noch irrtumsresistent, weshalb alle Einwände gegen sie sorgfältig geprüft werden müssen. Darüber hinaus bleibt darauf hinzuweisen, dass es Plantinga um eine erkenntnistheoretische und nicht um eine psychologische Fragestellung geht, weshalb berechtigterweise basale Überzeugungen von sich aufdrängenden Meinungen abzugrenzen sind (vgl. W. Löffler, Die Rolle religiöser Erfahrung, 93). 23 Vgl. GCG, 109.

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muss Plantinga zu dem Schluss kommen, dass der klassische Fundationalismus selbstwidersprüchlich ist und deshalb rational nicht akzeptabel sein kann.24 Zudem scheint es darüber hinaus auch noch andere Überzeugungen zu geben, die zwar offensichtlich berechtigterweise basal sind, aber den eng abgesteckten Rahmen des klassischen Fundationalismus sprengen. So etwa, wenn ich glaube, mich zu erinnern, zum Frühstück einen Espresso getrunken zu haben, oder spontan den Eindruck gewinne, Andreas freue sich. Auch für die Überzeugung, es gebe materielle Gegenstände wie Bäume oder andere bewusstseinsbegabte Wesen neben mir oder die Welt existiere seit mehr als zehn Minuten, lassen sich keine Argumente anführen.25 Dennoch würden wohl die meisten Menschen nicht zögern, sie ihrem Weltbild zugrunde zu legen, ohne sich deshalb unvernünftig zu fühlen.26 Das für Plantinga und für das Grundanliegen der Reformed Epistemology entscheidende Argument liegt aber weniger im Aufweis der Selbstwidersprüchlichkeit des klassischen Fundationalismus, sondern vielmehr darin, einen Ansatzpunkt für dessen Erweiterung auf den Bereich religiöser Überzeugungen gefunden zu haben. Da letztere, ähnlich wie die Überzeugungen, es gebe andere bewusstseinsbegabte Wesen außer mir oder eine Vergangenheit, spontan und ohne unser willentliches Zutun, also de facto nicht aufgrund von Argumenten gebildet werden, dürfen wir unter Verweis auf das Paritätsargument27 mit Plantinga davon ausgehen, dass religiöse Überzeugungen ebenfalls berechtigterweise basal sein können.28 Allerdings muss einschränkend hinzugefügt werden, dass nicht etwa die Überzeugung Gott existiert, sondern lediglich Manifestationsmeinungen (William Alston), die in bestimmten Lebenssituationen – Überwältigung durch Natureindrücke, Erfahrung von Schuld, beim Bibellesen oder im Gottesdienst – gebildet werden29 und

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Vgl. GCG, 111. Vgl. GCG, 114f. Vgl. W. Löffler, Die Rolle religiöser Erfahrung, 92. Dagegen ließe sich natürlich einwenden, dass religiöse Überzeugungen stärker begründungspflichtig seien als andere Meinungen, die wir im Alltag problemlos bilden (vgl. W. Löffler, Die Rolle religiöser Erfahrung, 93 in Verbindung mit R. Schupp, Glaube und Erkenntnis. Zu Alvin Plantingas Reformed Epistemology, Paderborn 2006, 84−86). 28 Vgl. A. Plantinga, God and other minds. A study of the rational justification of belief in God, Ithaca – London 1967, 271 sowie GCG, 80. 29 Vgl. RBG, 80f. Dort heißt es: „Calvin holds that God ‘reveals and daily discloses himself in the whole workmanship of the universe,’ and that the divine art ‘reveals itself in the innumerable and yet distinct and well ordered variety of the heavenly host.’ God has so created us that we have a tendency or disposition […] to believe propositions of the sort this flower was created by God or this vast and intricate universe was created by God when we contemplate the flower or behold the starry heavens or think about the vast reaches of the universe. […] There are […] many conditions and circumstances that call forth belief in God: guilt, gratitude, danger, a sense of God’s presence, a sense that he speaks, perception of various parts of the universe“ (kursiv im Original).

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die abgeleitete Überzeugung Gott existiert implizieren, als properly basic gelten können.30 In dieser älteren, schwachen Form der Reformed Epistemology, wie sie von Plantinga insbesondere in Reason and belief in God (1983) entwickelt worden ist, geht es ihm lediglich darum zu zeigen, inwiefern es erkenntnistheoretisch möglich ist, dass eine Person religiöse Überzeugungen im Sinne von properly basic beliefs in ihr Überzeugungssystem bzw. in ihre Weltanschauung integriert und dabei als rational gelten kann.31 Da die Kriterien dafür in einem induktiven Verfahren32 und zudem im Rahmen eines Systems von Überzeugungen, das von einer bestimmten Gruppe geteilt wird und insofern gruppenrelativ ist,33 gewonnen werden, ergeben sich aber gerade für Vernünftigkeitsansprüche im Bereich der Religion eine Reihe von Folgeproblemen, die in den gegen Plantinga erhobenen Relativismuseinwänden – insbesondere im Great Pumpkin Einwand34 – ihren Niederschlag finden. Hat in den frühen Schriften die Rechtfertigung (justification) religiöser Überzeugungen und damit das Abblocken von Zweifeln im Mittelpunkt des Interesses gestanden, rückt für Plantinga mit der systematischen Ausarbeitung seiner epistemologischen und religionsphilosophischen Argumente im abschließenden Band der warrant-Trilogie Gewährleisteter Christliche Glaube35 die Wahrheitsfrage deutlicher in den Fokus der Aufmerksamkeit. Um dem Relativismusvorwurf begegenen zu können, gewinnen externalistische Elemente, insbesondere das bauplangemäße Funktionieren des Erkenntnisapparates (proper function), an Bedeutung. Darüber hinaus erhebt Plantinga den starken Anspruch zeigen zu können, dass „gebildete, moderne und kulturell aufgeschlossene Christen“36 epistemisch de facto vernünftig sind, wenn sie religiöse Überzeugungen als basal akzeptieren. Um Wissen von wahren Meinungen unterscheiden zu können, entwickelt Plantinga ein komplexes Modell von Gewährleistung (warrant), das als Gütesiegel

30 Vgl. RBG, 81. 31 Vgl. W. Löffler, Die Rolle religiöser Erfahrung, 95. 32 Vgl. A. Plantinga, Ist der Glaube an Gott berechtigterweise basal? In: Chr. Jäger (Hg.), Analytische Religionsphilosophie (UTB 2021), Paderborn 1998, 317−330; hier: 328 sowie RBG, 76f. 33 Vgl. RBG, 77. Siehe dazu weiterführend auch Ch. Gutenson, Can belief in the Christian God be properly basic? 66−68. 34 Vgl. RBG, 74−78 sowie weiterführend den Abschnitt Der Einwand des Großen Kürbis in R.-Th. Klein, Können christliche Glaubensüberzeugungen Wissen sein? Der Beitrag Alvin Plantingas zur Bestimmung des epistemischen Status von christlichen Glaubensüberzeugungen (FSÖTh 136), Göttingen 2012, 197−202. 35 Die warrant-Trilogie (vgl. GCG, 591f) umfasst die folgenden drei Werke, von denen die ersten beiden stark epistemologisch ausgerichtet sind und hier nicht weiter behandelt werden sollen: Warrant: the current debate, New York 1993; Warrant and proper function, New York 1993 sowie Warranted Christian belief, New York 2000. 36 GCG, 109; vgl. 233f u. 284f.

Ist der Glaube vernünftig?

ebenso für abgeleitete wie basale Überzeugungen dienen soll. Sehr vereinfacht gesagt besteht der Grundgedanke darin, „dass eine wahre Überzeugung genau dann zu Wissen wird, wenn sie aus einem angemessen funktionierenden Vermögen hervorgeht, das nach einem Bauplan (design plan) für den Zweck eingerichtet ist, wahre Überzeugungen hervorzubringen, und das dabei in einer ihm entsprechenden Umwelt aktiv ist.“37 Zu ergänzen wäre noch, dass der Grad der Gewährleistung von der Entschiedenheit abhängt, „mit der S diese Überzeugung vertritt“38 – was bedeutet, dass Gewährleistung als situations- und personenrelative Qualität zu verstehen ist. Ohne weiter auf Plantingas epistemologisch komplexe und fein ausdifferenzierte Argumentation eingehen zu wollen, kann aus religionsphilosophischer Sicht positiv festgehalten werden, dass „Menschen, die ansonsten nicht durch seltsame Erkenntnisansprüche auffallen, aber in bestimmten Situationen (basale) religiöse Manifestationsmeinungen“39 bzw. religiöse Überzeugungen bilden, nichts Bedenkliches tun. Ihre religiösen Überzeugungen sind möglicherweise sogar gewährleistet, aber nur dann, wenn der Theismus wahr ist40 – womit sich bereits andeutet, dass die epistemologische und die metaphysische Frageebene nicht voneinander getrennt werden können.41 1.2 Das Aquinas/Calvin Modell: Sind gewährleistete theistische bzw. christliche Überzeugungen möglich? Während sich Plantinga in der frühen Phase seines Denkens auf die einfache Abweisung von Zweifeln an der Vernünftigkeit religiöser Überzeugungen beschränkt hat, legt er mit dem A/C Modell eine Theorie vor, mit deren Hilfe erklärt werden soll, ob bzw. wie gewährleistete religiöse Überzeugungen überhaupt möglich sind. Angenommen Gott habe uns Menschen als Schöpfer der Welt mit einem Wahrnehmungsvermögen für theistische Manifestationen ausgestattet,42 nämlich mit dem sensus divinitatis als Disposition, in bestimmte Situationen theistische Überzeugungen zu bilden,43 dann ließe sich relativ einfach zeigen, dass letztere

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D. Schönecker, Alvin Plantinga, 61; vgl. GCG, 183. GCG, 183. W. Löffler, Die Rolle religiöser Erfahrung, 98. Vgl. GCG, 219. R. Schupp, Glaube und Erkenntnis, 367 in Verbindung mit GCG, 193f u. 221−223. Vgl. GCG, 208 u. 232 sowie A. Hollingsworth, Wolfhart Pannenberg, openness to the world, and the sensus divinitatis, in: ITQ 86 (2021) 289−302; hier: 295−298. 43 Vgl. GCG, 200f.

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berechtigterweise basal sind und zudem oft Gewähr beanspruchen können, da sie allen dafür geforderten Voraussetzungen44 genügen: (1) Sie werden durch ein nach einem göttlichen Bauplan entworfenes Vermögen hervorgebracht. (2) Es gibt religiös signifikante Situationen, die eine passende kognitive Umgebung für die Bildung religiöser bzw. theistischer Überzeugungen darstellen. (3) Wer religiöse Überzeugungen bildet, ist prinzipiell an Wahrheit interessiert. (4) In Bezug auf seine Zuverlässigkeit steht der sensus divinitatis grundsätzlich nicht schlechter da als andere Erkenntnisvermögen. (5) Wenn die auf diese Weise hervorgebrachten Überzeugungen stark genug sind, laufen sie auf Wissen hinaus. Auch wenn damit plausibel aufgewiesen wurde, dass theistische Überzeugungen Gewähr haben können und insofern einem Wissen zumindest sehr nahekommen, bleibt die Frage, was daraus für spezifisch christliche Glaubensüberzeugungen folgt, noch offen. Zudem stehen wir vor dem Problem, dass nach christlichem Verständnis der sensus divinitatis durch die Erbsünde korrumpiert und in seiner von Gott her im kognitiven Bauplan vorgesehenen Funktionsweise schwer beschädigt ist.45 Wir können also nicht länger mit ungetrübten religiösen Wahrnehmungen und darauf sich stützenden gewährleisteten religiösen Überzeugungen rechnen. Darüber hinaus umfasst der christliche Glaube spezifische Inhalte – wie etwa Trinität, Menschwerdung Jesu Christi, seine Auferstehung und unsere Erlösung durch ihn46 –, die zwar durchaus Gegenstände religiöser Überzeugungen sein können, aber außerhalb der Reichweite des sensus divinitatis liegen.47 Plantinga sieht sich also genötigt, sein Modell um den Heiligen Geist zu erweitern, der in einigen, aber keineswegs in allen Menschen ein Dreifaches bewirkt:48 (1) Er erneuert den sensus divinitatis, also unsere von der Schöpfung her gegebene Disposition zur Gotteserkenntnis.

44 Vgl. GCG, 206f u. 293−296 in Verbindung mit W. Löffler, Die Rolle religiöser Erfahrung, 99. 45 Vgl. GCG, 241f u. 248−253. Siehe dazu kritisch weiterführend O. Wiertz, Der sensus divinitatis, die Erbsünde und das Problem menschlicher Freiheit gegenüber Gott. Kritische Anmerkungen zur Rolle des sensus divinitatis in Alvin Plantingas reformierter Erkenntnistheorie, in: ThPh 81 (2006) 548−576: bes. 575f. 46 Vgl. GCG, 283 47 Vgl. W. Löffler, Die Rolle religiöser Erfahrung, 99. 48 Vgl. GCG, 285−287. Siehe auch R.-Th. Klein, Können christliche Glaubensüberzeugungen Wissen sein? 172−174 sowie kritisch weiterführend den Abschnitt Der „Grund“ christlichen Glaubens: die innere Einwirkung des Heiligen Geistes in R. Schupp, Glaube und Erkenntnis, 296−315.

Ist der Glaube vernünftig?

(2) Insbesondere im Hören der Heiligen Schrift bewegt er Menschen dazu, spezifisch christlichen Glaubenswahrheiten, die über allgemein theistische Überzeugungen hinausgehen, zuzustimmen. (3) Er befähigt nicht nur zu einer epistemisch-theoretischen – diese sei auch dem Teufel möglich –, sondern auch zu einer affektiv-willentlichen, freudig engagierten Glaubenszustimmung,49 die in einem gottgefälligen Leben und einer Haltung der Dankbarkeit ihren konkreten Ausdruck findet. Werfen wir einen Blick auf den bisher zurückgelegten Weg, dürfte deutlich geworden sein, dass aus Sicht Plantingas weder der theistische noch der christliche Glaube als Hypothese verstanden werden darf, die in religiösen Erfahrungen Bestätigung finden könnte.50 Die beiden A/C Modelle erklären zwar, wie basale religiöse Überzeugungen zustande kommen, „aber dies ist bereits eine religionsimmanente Erklärung“51 . In weiterer Folge drängt sich daher der Verdacht auf, die Reformed Epistemology mache massive theologische Voraussetzungen. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn sie Glaube – hier im Sinne von faith und nicht bloß von belief – im Anschluss an Calvin als Wissen und damit als einen Spezialfall von Erkenntnis (knowledge) qualifiziert.52 1.3 Sind die Aquinas/Calvin Modelle wahr? – Eine offene Frage Dieser Eindruck wirft unweigerlich die Frage auf, ob die Reformed Epistemology überhaupt als Weg zum Aufweis der Vernünftigkeit religiöser Überzeugungen ad extra in Betracht gezogen werden kann53 – eine Erwartung, die der Buchtitel Gewährleisteter christlicher Glaube zumindest nahezulegen scheint. Allerdings kommt

49 Zur affektiven Glaubenszustimmung siehe kritisch weiterführend den Abschnitt Erkenntnis, Affekte und kognitive Umgebung in R. Schupp, Glaube und Erkenntnis, 315−323. 50 Vgl. GCG, 388f. 51 W. Löffler, Die Rolle religiöser Erfahrung, 101. 52 Wenn der Glaube, wie es mit Verweis auf den Heidelberger Katechismus heißt, Erkenntnis einer bestimmten, speziellen Art sein kann, so in zwei Hinsichten: „Erstens im Blick auf den Gegenstand. Was erkannt werden soll, ist (sofern es zutrifft) von umwerfender Bedeutung, es ist bestimmt das Wichtigste, was man überhaupt wissen kann. Aber zweitens ist sie im Hinblick auf die Art und Weise der Erkenntnis dieses Inhalts ungewöhnlich, denn dieser Inhalt wird durch einen außerordentlichen kognitiven Prozess bzw. einen Überzeugung produzierenden Mechanismus erkannt. Der christliche Glaube wird ‚unserem Verstand geoffenbart‘, und zwar dadurch, dass der Heilige Geist in uns den Glauben an die Hauptbotschaft der Heiligen Schrift bewirkt. Der Überzeugung produzierende Prozess ist ein doppelter und setzt sowohl die von Gott (sei es direkt oder indirekt als Ausgangspunkt des Zeugniskette) inspirierte Schrift voraus als auch den inneren Ansporn des Heiligen Geistes. In beiden Fällen kommt das spezielle Wirken Gottes zum Tragen“ (GCG, 301). 53 Vgl. W. Löffler, Einführung, 110.

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Plantinga, wie er selbst eingesteht, nicht entscheidend über eine Möglichkeitsthese und einen Modellvorschlag dazu hinaus, wie wir uns das Zustandekommen basaler religiöser Überzeugungen vorstellen sollen. Sowohl das einfache wie das erweiterte A/C Modell machen starke theologische Voraussetzungen und sind deshalb primär „als innerchristlicher Vorschlag zu verstehen“54 , der die Bildung spontaner religiöser Überzeugungen plausibel machen kann. Die Frage nach der Wahrheit des Modells ist aber weiter ungelöst und muss das, wie Plantinga am Ende seiner Studie freimütig einräumt, auch bleiben, weil wir mit einer Antwort auf diese Frage den Zuständigkeitsbereich der Philosophie verlassen würden.55 Wir werden ihm dennoch zugestehen dürfen, „bestimmte Einwände, Widerstände und Hindernisse auf dem Weg des christlichen Glaubens“56 ausgeräumt und zumindest defensive Teilantworten auf die Wahrheitsfrage – R. Schupp spricht von einer „defensiven Strategie negativer Apologetik“57 – gegeben zu haben.58 Zudem wird in der jüngeren Phase seiner Bemühungen um eine Reformierte Epistemologie eine religionsphilosophisch durchaus interessante Konsequenz seines lebenslangen Ringens um eine christliche Philosophie59 deutlicher entfaltet: Der gängige religionskritische Einwand, der christliche Glaube könne zwar eine wahre Theorie sein – wer könnte das auch ausschließen –, die Gläubigen verhielten sich aber in jedem Fall erkenntnistheoretisch unvernünftig, wenn sie dergleichen akzeptierten, wird unhaltbar.60 Denn wenn der christliche Glaube wahr sein sollte, dann ist er nach Plantinga auch gewährleistet61 – das deshalb, weil zu den christlichen Glaubenslehren auch Theorien über das Zustandekommen und die Gewährleistung

54 Ebd. 55 Vgl. GCG, 592f in Verbindung mit GCG, 194−196 sowie A. Plantinga, Replies to my commentators, in: D. Schönecker (Hg.), Plantinga’s Warranted Christian Belief. Critical essays with a reply by Alvin Plantinga, Berlin – Boston 2015, 237−262; hier: 240. 56 GCG, 593. 57 R. Schupp, Glaube und Erkenntnis, 148; vgl. 280f u. 287f. Siehe auch Ch. Gutenson, Can belief in the Christian God be properly basic? 71. 58 Zu erinnern wäre zum einen an das Paritätsargument, nach dem auch nicht-religiöse Menschen gewisse weltanschauliche Rahmenannahmen treffen müssen, die „vernünftig sind, obwohl man sie nicht voraussetzungslos beweisen kann“ (W. Löffler, Einführung, 110). Zum anderen hat Plantinga in seinem Spätwerk auf fünf gängige Einwände gegen christliche Überzeugungen auf sehr differenzierte und durchaus überzeugende Weise geantwortet (vgl. W. Löffler, Die Rolle religiöser Erfahrung, 102−105). 59 Vgl. A. Plantinga, Self-Profile, in: J. E. Tomberlin/P. van Inwagen (Hg.), Alvin Plantinga (Profiles 5), Dordrecht – Boston – Lancaster 1985, 3−97; hier: 12f u. 33 sowie Ders., Advice to Christian philosophers, in: J. A. Simmons (Hg.), Christian philosophy. Conceptions, continuations, and challenges, Oxford 2019, 21−39. 60 Vgl. GCG, 195f u. 222f. 61 Vgl. GCG, 219.

Ist der Glaube vernünftig?

religiöser Überzeugungen gehören, „die dann ebenfalls wahr wären und die die Gläubigen gerechtfertigt erscheinen“62 lassen würden. 1.4 Was leistet die Reformierte Epistemologie? – Ein kritisches Fazit Auch wenn die Wahrheitsfrage im Blick auf den christlichen Glauben offenbleiben muss, hat Plantinga zu Recht Kritik an einer szientistisch bzw. materialistisch enggeführten Denkweise und an einem eigentümlichen epistemischen Doppelstandard geübt, der religiösen Weltauffassungen insbesondere in philosophischen Kreisen massive Beweislasten auferlegt oder sie ganz unter Ideologieverdacht stellt. All das sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Position auf zahlreiche und durchaus berechtigte Einwände gestoßen ist, von denen hier nur diejenigen kurz angesprochen werden sollen, die direkt auf die Vernünftigkeit religiöser Überzeugungen abzielen63 und die sich in erstaunlich ähnlicher Form bei Pannenberg wiederfinden werden.64 Angesichts einer langen Tradition von Religionskritik bis hin zu den neuen Formen eines radikalen Atheismus, des wissenschaftlichen Fortschritts und einer zunehmend säkularer werdenden Gesellschaft müssen wir uns eingestehen, dass religiöse Menschen in einer epistemisch unfreundlichen Umgebung leben und in ihren Überzeugungen zunehmend angefragt sind – was uns darauf verpflichtet, Einwände ernst zu nehmen und uns ihrer intellektuellen Herausforderung zu stellen. Selbst wenn sich diese Einwände mit Plantinga über weite Strecken entkräften lassen sollten und religiöse Überzeugungen als berechtigterweise basal ausgewiesen werden können, stellt sich zweitens daran anschließend doch die Frage, ob in diesem Klima der Anfechtung und Infragestellung einer natürlichen bzw. philosophischen Theologie im Blick auf die Argumentation ad extra nicht ein größeres Gewicht

62 W. Löffler, Einführung, 110. 63 Vgl. zum folgenden W. Löffler, Die Rolle religiöser Erfahrung, 105−107. 64 Pannenberg führt drei Gründe an, warum es Argumente für den Glauben an Gott braucht: 1. Das Wort Gott habe in den säkularen Kulturen der Neuzeit seine grundlegende Funktion und Bedeutung weitgehend verloren. Folglich werde „nicht nur das Dasein Gottes problematisch, sondern auch der Inhalt des Gottesgedankens undeutlich“ (STh I, 74; vgl. WuTh, 50f); 2. Die radikale Religionskritik habe ernstzunehmende Einwände gegen den Glauben an Gott vorgebracht, auf die eine Theologie antworten müsse und könne (vgl. WuTh, 24); und schließlich stehen wir 3. innerkirchlich vor der Herausforderung, uns um eine zeitgemäße Verkündigung der Wahrheit des Evangeliums zu bemühen, ohne dass Theologie auf Nebenschauplätze ausweicht oder zu einer Flucht ins Engagement bzw. zu einem bloß subjektiven Glaubensakt verkehrt wird (vgl. WuTh, 45−47; STh I, 17 u. STh III, 10f). Siehe dazu zusammenfassend auch W. Pannenberg, An introduction to systematic theology, 22−24).

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zugemessen werden müsste, als dies in der Reformierten Epistemologie der Fall zu sein scheint? Drittens legt sich der bereits angesprochene Einwand nahe, die Reformierte Epistemologie stütze sich auf starke theologische Voraussetzungen65 – sensus divinitatis bzw. Heiliger Geist –, was aus philosophischer Sicht zumindest als bedenklich erscheinen muss.66 Vieles scheint nach Löffler dafür zu sprechen, die Reformed Epistemology als theologische Erkenntnistheorie zu verstehen, „also als eine Auffassung von der menschlichen (insbesondere der religiösen) Erkenntnis unter der vorausgesetzten Annahme, dass die christlichen Lehren im Wesentlichen wahr sind.“67 Damit würde die Reformierte Erkenntnistheologie in die Nähe einer Fundamentaltheologie rücken, eine Tendenz, die nach Löffler insbesondere in Gewährleisteter Christlicher Glaube über weite Strecken erkennbar sei. Darüber hinaus deutet sich an, dass die Reformierte Erkenntnistheorie, wie sie von Plantinga als christlichem Philosophen vertreten wird,68 der seinem Verständnis nach nicht so sehr eine erfolgreiche Vermittlungsarbeit nach außen zu leisten, sondern einen „Vorschlag eines abgerundeten christlichen Weltbilds unter Zugrundelegung christlicher Glaubensüberzeugungen zu entwickeln“69 habe, zumindest in ihrem Grundanliegen ad intra eine größere Nähe zu Pannenbergs Projekt einer Theologie als Wissenschaft von Gott aufweist, als es auf den ersten Blick scheinen mag.

2.

Wolfhart Pannenberg – Theologie als Wissenschaft von Gott

Anders als Alvin Plantinga, der auf die Vernünftigkeit von Glaubensüberzeugungen bzw. des Gläubigen abstellt und die Wahrheitsfrage bewusst offenlässt, rückt Wolf-

65 Zuweilen wird Plantinga sogar explizit – vor allem mit Bezug zu Calvin – als Theologe bezeichnet. So etwa in A. Hollingsworth, Wolfhart Pannenberg, 295. 66 Wie fließend die Grenzen sind bis hin dazu, dass sie endgültig verschwimmen, lässt sich beispielsweise an A. Hollingworths Versuch ablesen, die fundamentalanthropologische Kategorie der Weltoffenheit des Menschen (Pannenberg), die ihren höchsten Ausdruck in der Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott findet, und den sensus divinitatis (Calvin, Plantinga) als angeborenes Vermögen der Gotteserkenntnis miteinander zu parallelisieren (vgl. A. Hollingsworth, Wolfhart Pannenberg, 298−301). Siehe dazu kritisch weiterführend auch W. Löffler, Externalistische Erkenntnistheorie oder theologische Anthropologie? Anmerkungen zur Reformed Epistemology, in: L. Nagl (Hg.), Religion nach der Religionskritik (Wiener Reihe 12), Berlin – Wien 2003, 132–147. 67 W. Löffler, Die Rolle religiöser Erfahrung, 106. 68 Vgl. dazu weiterführend den Abschnitt Plantingas Advice to Christian Philosophers in W. Löffler, Plantingas „Reformierte Erkenntnistheorie“ und die neue Debatte um eine „Christliche Philosophie“, in: K. Dethloff/L. Nagl/F. Wolfram (Hg.), „Die Grenze des Menschen ist göttlich“. Beiträge zur Religionsphilosophie (SÖGRPh 7), Berlin 2007, 181−224; hier: 217−221. 69 W. Löffler, Die Rolle religiöser Erfahrung, 107 (kursiv im Original).

Ist der Glaube vernünftig?

hart Pannenberg von allem Anfang an den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens, der in einer gleichermaßen systematischen wie historischen Reflexion zu erweisen sei,70 in den Fokus der Aufmerksamkeit. Seine systematische Theologie zeichnet sich nach Christoph Schwöbel insbesondere durch drei Charakteristika aus: Er versucht den Herausforderungen einer radikalen Religionskritik argumentativ auf einem intellektuell hochstehenden Niveau zu begegnen, ohne sich in Immunisierungsstrategien zu flüchten. Er entwickelt sein theologisches Denken zweitens „in close contact with the findings of biblical exegesis and against the background of a comprehensive analysis of the Christian tradition“71 , ohne dabei drittens die interdisziplinäre Zusammenarbeit aus den Augen zu verlieren. Nur wenn es der Theologie gelingt, eine „comprehensive view of reality that is authentically Christian as well as intellectually plausible“72 zu entwickeln, die den Menschen darüber hinaus Orientierung gibt, wird sie nach Pannenberg ihre Aufgabe auf eine Weise erfüllen können, die den modernen Menschen in seinen Weltbezügen ernst nimmt und damit umgekehrt auch beanspruchen darf, von ihm in ihrem Wahrheitsanspruch geprüft zu werden.73

2.1 Natürliche Gotteserkenntnis – Was kann natürliche Theologie leisten? Wollen wir mit Pannenberg Theologie als Wissenschaft von Gott entfalten und darin konstruktiv-kritisch an eine lange christliche Tradition der Identifikation des Gottes des Glaubens mit dem Gott der Philosophen anknüpfen74 , müssen wir uns zugleich Rechenschaft darüber geben, dass der Gottesgedanke in unserer säkularen Kultur zunehmend an Attraktivität verliert.75 Damit wird nicht nur das Dasein Gottes problematisch, auch die Behauptung, das Wort Gott verweise „auf eine alles bestimmende Wirklichkeit“76 und habe sich folglich darin zu bewähren, Welt, Geschichte und Mensch sub ratione Dei in ihrem Verhältnis zu Gott und zueinander auf spezifisch theologische Weise zu erschließen,77 gerät unter Druck. Wer angesichts dieser für die Theologie schwierigen Situation allerdings

70 Vgl. STh I, 8 u. 19. 71 Chr. Schwöbel, Wolfhart Pannenberg, in: D. E. Ford/R. Muers (Hg.), The modern theologians. An introduction to Christian theology since 1918, Malden; MA 3 2005, 129−146; hier: 143. 72 Ebd. 73 Vgl. STh I, 69. 74 Vgl. WuTh, 16. 75 Vgl. STh I, 73f. 76 WuTh, 305. 77 Vgl. WuTh, 300 u. 332f.

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meint, die metaphysischen Implikationen des Wortes Gott aufgeben zu sollen78 und sich stattdessen auf religiöse Erfahrungen in einem weiten Sinn stützen zu können, wird erkennen müssen, dass deren Wert für die Gotteserkenntnis insofern begrenzt ist,79 als Gott als Schlüsselwort religiöser Weltauffassung immer schon in irgendeiner Weise vorausgesetzt werden muss, um religiöse Erfahrungen überhaupt als solche erkennen und verstehen zu können.80 Ähnlich wie die Wahrheit jeder subjektiven Wahrheitsvergewisserung immer schon vorausliegt,81 lässt sich auch der philosophische Gottesgedanke nicht aus der Erfahrung ableiten.82 Damit ist aber keineswegs bestritten, dass der religiösen Erfahrung im Blick auf die Gotteserkenntnis eine spezifische Bedeutung zukommen kann – auch wenn der Rekurs auf religiöse Erfahrung bzw. religiöses Erleben, die als solche subjektiv und partikulär sind, auf den ersten Blick in Aporien führt und für den Wahrheitsanspruch von Glaubensaussagen nichts auszutragen scheint.83 Wird Gott in philosophischer Perspektive als alles bestimmende Wirklichkeit gedacht und damit als Ursprung des einen Kosmos versanden, müssen wir nach Pannenberg aus theologischer Perspektive zugleich daran festhalten, dass Erkenntnis des einen und einzigen Gottes erst durch diesen selbst, genauer durch Offenbarung, ermöglicht wird. Anders könne „die Möglichkeit von Gotteserkenntnis gar nicht konsistent“84 , d. h. ohne Widerspruch zum Gottesgedanken, gedacht werden. Wir werden also aus theologischer Perspektive zugestehen müssen, dass uns nicht nur die subjektive religiöse Erfahrung in ihrer Endlichkeit und Bedingtheit,85 sondern auch die rein rationale Reflexion86 keinen direkten Zugang zum Gott des Glaubens eröffnen kann. Diese doppelte theologische Kritik an der religiösen Erfahrung und an der natürlichen Theologie spitzt allerdings die Frage, wie rationale Gotteserkenntnis möglich sein soll und inwiefern der christliche Glaube Wahrheit beanspruchen kann, nochmals deutlich zu. Bevor wir aber auf den epistemologischen Status von Glaubensaussagen eingehen können, müssen wir in einem ersten Schritt Pannenbergs Kritik an der natürlichen Theologie und seinen Versuch, diese in Richtung „einer natürlichen Gotteserkenntnis im Sinne einer dem

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Vgl. STh I, 79f. Vgl. STh I, 77. Vgl. STh I, 80f. Vgl. STh I, 34. Vgl. STh I, 77. Vgl. WuTh, 303f u. STh I, 169. STh I, 12; vgl. 14. Vgl. STh I, 57. Vgl. STh I, 107 u. 120.

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Menschen als solchen immer schon eigenen, faktischen Kenntnis von dem Gott, den die christliche Botschaft verkündet“87 , vertiefen. Wenn Paulus in Röm 1,19f betont, der biblische Gott sei allen Menschen von der Schöpfung her, also von Natur aus bekannt, so sei diese Aussage primär als „eine im Licht der Offenbarung Gottes in Jesus Christus aufgestellte Behauptung über den Menschen“88 und nicht so sehr als eine Aussage der natürlichen Theologie zu verstehen. Deren theologische Sinnspitze liege darin, „Kriterien des wahrhaft Göttlichen“89 – also zur Beantwortung der Frage, ob der biblische Gott der allein wahre, d. h. der einzige, der seiner Natur nach Gott ist, sein kann – bereitzustellen.90 Zugleich erhebt die Behauptung, Gott könne aus den Werken seiner Schöpfung erkannt werden, auch dort noch Anspruch auf Geltung, „wo Menschen von sich aus gar nichts von Gott wissen wollen, jedenfalls nicht von dem einen, wahren Gott“91 des christlichen Glaubens. Nach Pannenberg lässt sich – mit direktem Bezug auf Rahner – nämlich sagen, dass sich der Mensch von allem Anfang als jemand erfährt, der in ein ihn übersteigendes Geheimnis hineingestellt ist,92 das sich in Gestalt der liebenden Zuwendung der Mutter konkretisiert und ihm so ermöglicht, sich vertrauensvoll „auf die Welt überhaupt, auf das Leben und darin zugleich auf Gott als seinen Schöpfer und Erhalter“93 einzulassen. Dass es sich dabei bereits um ein unthematisches Wissen von Gott handelt, das als Intuition des Unendlichen streng von jedem religiösen Apriori ebenso wie von einer Anlage bzw. Disposition des Menschen zu unterscheiden ist, lässt sich allerdings erst rückblickend von einem im Prozess der Selbst- und Welterfahrung „gewonnenen, expliziten Gottesbewusstsein her“94 verstehen. Die Herausbildung eines Bewusstseins von Gott ist nach Pannenberg also weniger mit der natürlichen Theologie in einem philosophischen Sinn als vielmehr mit der „Gotteserfahrung der Religionen, die an den Werken der Schöpfung zum Bewusstsein des Wirkens und Wesens der Gottheit kommen“95 , verbunden.

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STh I, 120 (kursiv im Original); vgl. 86f. STh I, 121. STh I, 91. Vgl. WuTh, 308 in Verbindung mit STh I, 90f u. 120f. STh I, 121. Vgl. K. Rahner, Grundkurs des Glaubens, in: KRSW 26, 1−445; hier: 27 u. 39 in Verbindung mit STh I, 128 sowie W. Pannenberg, Religiöse Erfahrung und christlicher Glaube [1993], in: BSTh 1, 133−144; hier: 140. 93 STh I, 129. 94 Ebd.; vgl. 155. 95 STh I, 131; vgl. 131f.

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2.2 Zum Wahrheitsanspruch des Glaubens – Ist Theologie eine Wissenschaft? Nicht nur die natürliche Theologie, auch religiöse Erfahrungen und persönliche Glaubensüberzeugungen scheinen aus Sicht von Pannenberg keinen signifikanten Beitrag zur Absicherung des Wahrheitsanspruchs des christlichen Glaubens leisten zu können.96 Angesichts der modernen Wissenschaften und einer Konzeption von Religion, die über weite Strecken beim Subjekt ansetzt, lässt sich die Wirklichkeit Gottes aber auch nicht länger im Sinne einer dogmatischen Gewissheit geltend oder gar ad extra – also für diejenigen, die nicht glauben – auf vernünftig nachvollziehbare Weise plausibel machen.97 Um einen über einen bloß phänomenologischen Befund98 hinausgehenden Anhaltspunkt dafür zu finden, inwiefern Religion als für die Humanität des Menschen konstitutiv gelten darf99 und damit zu einer „zwar nicht hinreichende[n], aber unerläßliche[n] Bedingung für die Wahrheit religiöser Behauptungen über göttliche Wirklichkeit, vor allem aber über die Wahrheit des monotheistischen Glaubens an einen einzigen Gott“100 werden kann, lohnt es sich, nochmals auf die im Rahmen der Diskussion einer natürlichen Gotteserkenntnis getroffene Unterscheidung zwischen einem intuierten Unendlichen, auf das sich der Mensch in einem unthematischen Gottesbewusstsein bezieht, und einer konkreten, als sound-so-bestimmten Gottheit zurückzukommen. Da Gott sich nach Pannenberg wesentlich geschichtlich offenbart, kann er nicht instantan, also „in der Form eines zeitlos-ungeschiedenen Gewahrseins eines unendlichen Ganzen offenbar“101 sein. Man könnte daher mit Oehl „auch von einer Abskondität Gottes im unthematischen Gottesbewusstsein (und in der Metaphysik/Philosophie) sprechen“102 , die aber insofern offenbarungstheologisch anschlussfähig ist, als der biblische Gott als derjenige offenbar ist, „der nur in der Mitte und am Ende der Geschichte, antizipativ und in

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Vgl. WuTh, 324 u. STh I, 173. Vgl. WuTh, 333 u. STh I, 141−143. Vgl. STh I, 171. Vgl. STh I, 170f. STh I, 173. K. Vechtel, Sind wir von Natur aus religiös? Pannenbergs theologische Bestimmung des Menschen und das Phänomen der religiösen Indifferenz, in: G. Wenz (Hg.), Was ist der Mensch? Zu Pannenbergs Anthropologie (PSt 9), Göttingen 2022, 101−121; hier: 108. 102 Th. Oehl, Gottes strittige Wirklichkeit und unthematisches Wissen von Gott. Zum Zusammenhang zweier Kerngedanken in Pannenbergs Theologie, in: G. Wenz (Hg.), Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms (PSt 4), Göttingen 2018, 119−134; hier: 125 (kursiv im Original).

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eschatologischer Zukunft, voll offenbar wird und – essenziell kontrastiv dazu – im Instantanen verborgen bleibt.“103 Die angesprochene „Differenz-Einheit zwischen dem präreflexiv intuierten Unendlichen, dem unthematischen Gottesbewusstsein als Ausdruck der Verborgenheit Gottes einerseits und dem geschichtlich-strittigen Offenbarsein des verborgenen Gottes andererseits“104 erlaubt es Pannenberg zum einen, dem Menschen mit Blick auf die Intuition des Unendlichen eine unveräußerliche religiöse Dimension zuzuschreiben, die allerdings in ihrer geschichtlich-konkreten Realisation und einem daran anknüpfenden theologischen Wahrheitsanspruch ambivalent bleiben muss. Gottes Wirklichkeit sei zwar „in subjektiven Antizipationen der Totalität der Wirklichkeit“105 mitgegeben, jede einzelne Erfahrung stehe aber als solche in einem größeren geschichtlichen und kulturellen Bedeutungszusammenhang und könne als subjektiver Entwurf einer Sinntotalität nur hypothetischen Charakter beanspruchen, dessen Tragfähigkeit und Plausibilität sich im Fortgang der Erfahrung bestätigt oder auch erschüttert und in Frage gestellt werden kann.106 Zum anderen bietet die Unterscheidung zwischen unthematischem Gottesbewusstsein und expliziter Gotteserkenntnis nach Oehl aber auch den entscheidenden Anknüpfungspunkt dafür, dass und inwiefern Theologie berechtigterweise als Wissenschaft verstanden werden kann: Soll Theologie als Wissenschaft von Gott entfaltet werden, darf sie weder die Existenz Gottes einfach dogmatisch voraussetzen, noch kann sie auf einen Gegenstandsbezug verzichten. In beiden Fällen würde sie die wissenschaftlichen Standards verfehlen. Angesichts dieses Dilemmas greift Pannenberg auf die aus seiner Sicht unstrittige Intuition des Unendlichen und ein darin impliziertes unthematisches Wissen von Gott zurück, das Theologie erst als Wissenschaft konstituiert, indem es ihr „eine Einheit qua Gegenstand, auf den sie sich primär richtet, gibt.“107 Das intuitiv gewusste Unendliche bildet also, mit anderen Worten, den Gegenstandsgaranten, der eine Verifikation bzw. Falsifikation theologischer Aussagen erst erlaubt und darin zugleich ihren wissenschaftstheoretischen Status als gehaltvolle Hypothesen absichert.108 Die Frage nach der Wahrheit religiöser Aussagen findet folgerichtig weniger in den subjektiven Glaubenserfahrungen, die als solche erst im größeren Kontext einer geschichtlichen Religion verstehbar werden109 , ihre Antwort, sondern vielmehr in

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Ebd. (kursiv im Original). K. Vechtel, Sind wir von Natur aus religiös? 109. WuTh, 312. Vgl. WuTh, 312−314. Th. Oehl, Gottes strittige Wirklichkeit, 126 (kursiv im Original); vgl. 122−127. Vgl. ebd., 127. Vgl. WuTh, 311.

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einem vielschichtigen „Prozeß der Welterfahrung und im Ringen um ihre Interpretation“110 , im Rahmen dessen „sich die Welt – mit Einschluß der Menschheit und ihrer Geschichte – als durch Gott bestimmte Wirklichkeit erweist“111 und darin einen konstitutiven Beitrag zum Selbst- und Weltverständnis des Menschen leistet.112 Weil die Geschichte und damit unsere Welterfahrung noch unabgeschlossen sind – Welt und Menschheit sind noch im Werden113 –, muss auch die Gottesfrage offengelassen werden. Der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens bleibt demnach bis zu seiner endgültigen, d. h. eschatologischen Verifikation strittig.114 2.3 Was kann Theologie als Wissenschaft von Gott leisten? – Ein kritisches Fazit Theologie kann im Anschluss an Pannenberg prägnant als „Wissenschaft von Gott als dem fundierenden Grund von Selbst und Welt“115 bestimmt werden. Da der biblische Gott zugleich offenbar und verborgen, also gerade nicht zeitlos und unmittelbar gegenwärtig ist, und der Zugang zur Gottesfrage in der Moderne nicht mehr von der Welt, sondern vom menschlichen Subjekt und seinem Weltverhältnis her erfolgt, kommt der Anthropologie eine zentrale fundamentaltheologische Vermittlungsfunktion zu. Mit ihrer Hilfe soll – wie oben angesprochen – die Einsicht, Religion gehöre „konstitutiv zum Menschsein des Menschen als eines weltoffenen, transzendenten und auf Sinntotalität ausgerichteten Wesens“116 , begründet werden. Die primäre Aufgabe einer Fundamentaltheologie als theologischer Basiswissenschaft würde in dieser Perspektive darin bestehen, eine Theorie der Religionen – genauer eine Theologie der Religionsgeschichte – zu entwickeln, mit deren Hilfe die religiöse Überlieferungsgeschichte daraufhin befragt werden könnte, inwieweit die einzelnen Religionen anhand ihrer eigenen Maßstäbe dazu beitragen, das Selbst- und Weltverständnis des Menschen zu erhellen117 – womit ihr auch eine (religions-)kritische Funktion zukommt.118

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STh I, 184 STh I, 175. Vgl. WuTh, 317−319 u. 322f. Vgl. WuTh, 311. Vgl. WuTh, 346f. G. Wenz, Wissenschaft von Gott. W. Pannenbergs Dogmatik im Kontext von Wissenschaftstheorie und theologischer Enzyklopädie, in: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“ – Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung (PSt 1), Göttingen 2015, 37−55; hier: 44. 116 Ebd. 117 Vgl. WuTh, 324f. 118 Vgl. WuTh, 346.

Ist der Glaube vernünftig?

Allerdings führt Pannenbergs vielschichtiger theologischer Ansatz, der eine integrale Sicht auf die Wirklichkeit im Ganzen zu bieten versucht, nach Schwöbel zu wenigstens zwei kritischen Rückfragen: Zum einen stellt sich die Frage, ob eine Theologie als Wissenschaft von Gott, die wesentlich auf eine eschatologische Bewährung des grundsätzlich strittigen Wahrheitsanspruches der christlichen Botschaft angewiesen bleibt, nicht zu einer unnötigerweise unterbestimmten oder zumindest schwebenden Auffassung von Wirklichkeit führen könnte und dabei riskiert, ihren eigenen Anspruch zu unterlaufen119 – eine Schwierigkeit, die Pannenberg in seiner Systematischen Theologie selbst anspricht.120 Zum anderen bleibt der Versuch, einen Mittelweg zwischen einer rein dogmatischen Präsentation des christlichen, auf Offenbarung gestützten Glaubens und einer rein rationalen Theologie zu finden, merkwürdig ambivalent. „The use of anthropological and epistemological reflection as a modern praeambula fidei would seem to provoke the danger that these considerations are made subject to far-ranging theological reinterpretations that would reduce philosophy to an ancillary role for the constructive theological task.“121 Auf der anderen Seite könnte man aber auch den Verdacht hegen, die außertheologischen Kategorien würden eine theologische Rekonstruktion der Glaubensinhalte auf unzulässige Weise einschränken, ohne dadurch deren Glaubwürdigkeit ad extra signifikant steigern zu können.122 Wir müssen uns also abschließend eine doppelte Frage stellen: „is it necessary to try to establish the basis for the claims to universality in Christian faith from the perspective of reason, before one turns to the explication of the contents of faith as they are grounded in revelation, or would it be more adequate to treat the universality of Christian truth-claims as an implication of the Christian revelation that can only be developed in terms of rational reconstruction of its contents from the perspective of faith?“123 Anders gesagt: Wie strittig ist die Wirklichkeit Gottes nun eigentlich und was bedeutet es, vom hypothetischen Charakter theologischer Aussagen124 zu sprechen?

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Vgl. Chr. Schwöbel, Wolfhart Pannenberg, 143f. Vgl. STh I, 33f in Verbindung mit STh I, 78–80 sowie MuG, 19.. Chr. Schwöbel, Wolfhart Pannenberg, 144. Vgl. D. Holwerda, Faith, reason and the resurrection, in: A. Plantinga/N. Wolterstorff (Hg.), Faith and rationality. Reason and belief in God, Notre Dame; IN 1983, 265−316; hier: 304f. 123 Chr. Schwöbel, Wolfhart Pannenberg, 145. 124 Vgl. dazu kritisch R.-Th. Klein, Ist Theologie eine Wissenschaft? In: Chr. Herrmann/R. Hille (Hg.), Verantwortlich glauben. Ein Themenbuch zur christlichen Apologetik, Nürnberg 2016, 53−67; hier: 58f.

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Paul Schroffner

3.

Ist der Glaube vernünftig? – Eine abschließende Bilanz

Werfen wir einen Blick auf den bisher zurückgelegten Weg, wird deutlich, dass beide Autoren auf eine gemeinsame Herausforderung Antwort zu geben versuchen. Während Plantinga auf die Vernünftigkeit der Glaubensüberzeugungen und des einzelnen Gläubigen abstellt, versucht Pannenberg in einem breit angelegten Entwurf den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens im Rahmen einer Theologie als Wissenschaft von Gott, die modernen epistemologischen Standards genügen soll, aufzuweisen. Beide Modelle haben ihre jeweiligen Stärken, stehen aber auch vor einer gemeinsamen Herausforderung: Wie kann die Brücke vom Gott der Philosophen zum Gott des Glaubens auf eine Weise geschlagen werden, die beiden Perspektiven gerecht wird? Was Pannenberg mit seiner kritischen Weiterentwicklung der natürlichen Theologie zu einer natürlichen Gotteserkenntnis zu leisten versucht, bleibt in Plantingas Rede von berechtigterweise basalen religiösen Überzeugungen merkwürdig unterbestimmt – selbst dann, wenn man sie im Blick auf Pannenberg so reformuliert, dass meine Erfahrung, in ein mich übersteigendes Geheimnis hineingestellt zu sein, als berechtigterweise basale Glaubensüberzeugung gelten kann.125 Dieses unthematische Wissen von Gott kann nur dann auf den sich in der Geschichte offenbarenden biblischen Gott bezogen werden, wenn wir mit Pannenberg eine Theologie als Rede von Gott entwickeln, die Glaube und Vernunft nicht gegeneinander ausspielt. Das würde aber auch bedeuten, dass negative und positive Apologetik zwar unterschieden, aber nicht strikt voneinander getrennt werden können. Löffler macht zurecht auf einen wenig beachteten Aspekt von Plantingas Denken aufmerksam126 , wenn er daran erinnert, dass sich jedes erkennende Subjekt auf ein Netz von weltanschaulichen Überzeugungen als Hintergrundwissen stützt. In dieser Perspektive erscheint erstens der Rückgriff auf den sensus divinitatis bzw. das Wirken des Heiligen Geistes, zwei Prämissen, die aus der theologischen Anthropologie gewonnen werden, weniger extravagant. Schließlich gilt: Je ausgefallener religiöse Überzeugungen sind, desto eher laufen sie Gefahr, „commonly accepted beliefs on various levels of functioning world-views, e. g. well-entrenched scientific and common sense theories or well entrenched ontological claims“127 zu unterminieren und damit auch ihre eigenen Anspüche in Frage zu stellen. Indem religiöse Überzeugungen in den größeren Kontext einer Weltanschauung integriert werden, kann zweitens auch dem Beliebigkeits- bzw. Relativismusvorwurf, wie er etwa im Great Pumpkin Einwand erhoben wird, wirksam begegnet werden. Drittens lässt sich der 125 Vgl. Ch. Gutenson, Can belief in the Christian God be properly basic? 69f. 126 Vgl. W. Löffler, An underrated merit of Plantinga’s philosophy, in: D. Schönecker (Hg.), Plantinga’s Warranted Christian Belief, 65−81; hier: 80. 127 Ebd.

Ist der Glaube vernünftig?

Vorwurf, Gott würde zu einem einfachen Erfahrungsgegenstand unter anderen degradiert, zumindest teilweise entkräften. Zum einen ist Gott nicht nur bloßes Objekt, sondern der zentrale Gedanke in einer theistischen Weltanschauung – weshalb der Glaube an seine Existenz auch durch eine Reihe weiterer Elemente, die Teil dieser Weltanschauung sind, gestützt werden kann. Zum anderen ereignen sich religiöse Erfahrungen nie isoliert, sondern sind in den Deutungshorizont einer Weltanschauung eingebettet, der als kritischer Filter für ihre Glaubwürdigkeit fungieren kann.128 Die auf den ersten Blick rein negative Apologetik Plantingas ist, mit anderen Worten, also durchaus anschlussfähig für Pannenbergs Entwurf einer Theologie als Wissenschaft von Gott. Auch wenn Pannenbergs Anspruch weit über denjenigen Plantingas hinausgeht, könnte man letzteren doch so verstehen, dass er mit seiner kritischen Sichtung der gegen den Theismus bzw. gegen den christlichen Glauben auf erkenntnistheoretischer Ebene erhobenen Einwände den von Pannenberg explizit erhobenen Wahrheitsanspruch, der als solcher bis zu seiner eschatologischen Verifikation notwendig strittig bleiben muss, wenigstens indirekt stützt – nicht zuletzt deshalb, weil der epistemologische und der theologische Disput zwar unterschieden, aber auch aus Sicht von Plantinga nicht ohne weiteres voneinander getrennt werden können.129

128 Vgl. ebd. 129 Aus Sicht von Plantinga ist die De-jure-Frage „nicht wirklich unabhängig von der De-facto-Frage. Um die erstere zu beantworten, müssen wir die letztere beantworten. Das ist wichtig, denn es zeigt, dass sich ein erfolgreicher atheologischer Einwand nicht gegen die Rationalität, die Rechtfertigung, die intellektuelle Respektabilität, die rationale Begründung oder sonst etwas dergleichen richten muss, sondern gegen die Wahrheit des Theismus. Atheologen, die den Theismus angreifen wollen, werden sich auf Einwände beschränken müssen, wie das Übel-Argument, die These von der Inkohärenz des Theismus oder die Idee, es sprächen irgendwelche sonstige triftige Belege gegen den Theismus.“ (GCG, 222; kursiv im Original) Kritiker können sich also nicht länger auf die bloße Feststellung zurückziehen, sie müssten zwar die Wahrheitsfrage offenlassen, seien aber dennoch berechtigt, den Theismus als eine intellektuell unverantwortliche Position zurückzuweisen. Derartige Einwände greifen entweder zu kurz oder setzen die Falschheit des Theismus schon voraus (vgl. GCG Xf; 195f u. 221–223).

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Dirk Ansorge

Wissenschaftstheorie und Metaphysik der Geschichte bei Ernst Troeltsch und Wolfhart Pannenberg

Für Karl-Ernst Apfelbacher (1940–2015)

Wie kaum ein anderer Theologe seiner Zeit hat sich Ernst Troeltsch (1865–1923) um eine wissenschaftstheoretische Begründung christlicher Theologie und des mit ihr erhobenen Wahrheitsanspruches bemüht.1 Dazu motivierte ihn nicht zuletzt die durch den Historismus des 19. Jahrhunderts aufgeworfene Frage nach der möglichen Geltung von Wahrheitsbehauptungen: Wie ist angesichts der geschichtlichen Relativität menschlichen Erkennens der unbedingte Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens zu begründen? Um diese Frage zu beantworten, entwickelte Troeltsch in zahlreichen Beiträgen eine wissenschaftstheoretische Rechtfertigung christlichen Glaubens und christlicher Theologie, die einen wichtigen Beitrag zu den wissenschaftstheoretischen Überlegungen von Wolfhart Pannenberg darstellt. Pannenbergs Bezugnahme auf Troeltsch findet sich ziemlich genau in der Mitte des 1. Teils seiner 1973 veröffentlichten Monographie Wissenschaftstheorie und Theologie.2 Dieser Teil ist mit „Die Theologie im Spannungsfeld von Einheit und Vielfalt der Wissenschaften“ überschrieben. Im 2. Kapitel handelt Pannenberg dort von der „Emanzipation der Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften“.

1 Zu Person, Leben und Werk von Troeltsch vgl. u. a. Hans-Georg Drescher, Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991; Karl-Ernst Apfelbacher, Frömmigkeit und Wissenschaft. Ernst Troeltsch und sein theologisches Programm, München 1978; Trutz Rendtorff, Art. Troeltsch, Ernst (1865–1923), in: TRE 34 (2002), 130–143; Friedrich Wilhelm Graf/Hartmut Ruddies, Religiöser Historismus. Ernst Troeltsch 1865–1923, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus, 2. Kaiserreich, Teil 2, Gütersloh 1993, 295–335; Friedrich Wilhelm Graf, Ernst Troeltsch (1865–1923), in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Klassiker der Theologie, Bd. 2, München 2005, 171–189; Ders., Ernst Troeltsch. Leben im Welthorizont, München 2022; Reinhold Bernhardt, Ernst Troeltsch, in: Klassiker der Religionstheologie im 19. und 20. Jahrhundert. Historische Studien als Impulsgeber für die heutige Reflexion (Beiträge zu einer Theologie der Religionen 20), München 2020, 55–73. – Im Folgenden gebrauchte Abkürzungen: ZThK = Zeitschrift für Theologie und Kirche; KGA = Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe, Berlin 2007ff. 2 Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973.

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Dirk Ansorge

Damit ist ein zentrales Thema bestimmt, das die wissenschaftstheoretischen und wissenschaftsorganisatorischen Debatten im 19. Jahrhundert prägte.3 Zugleich ist damit auch der inhaltliche Rahmen aufgespannt, innerhalb dessen sich Pannenberg auf Troeltsch bezieht. Es geht ihm um die Eigenständigkeit nicht nur der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften, sondern auch und insbesondere um die Eigenständigkeit der Theologie gegenüber den Geisteswissenschaften. Denn wie diese insgesamt, so bezieht auch die Theologie ihren Charakter als Wissenschaft nicht vom Wissenschaftsideal der Naturwissenschaften her. Vielmehr ist der Wissenschaftscharakter der Theologie – und somit ihr Wahrheitsanspruch – in kritischer Auseinandersetzung mit den nichttheologischen Wissenschaften herzuleiten. Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung kann es nicht überraschen, dass sich Pannenberg bereits in der Einleitung zur Wissenschaftstheorie als auch im Anschluss an seine Ausführungen zu Troeltsch mit dem logischen Positivismus des Wiener Kreises und dem kritischen Rationalismus Karl Alberts auseinandersetzt.4 Diese im Grundsatz weitgehend bekannten Positionen und ihre theologische Kritik bleiben im Folgenden ausgespart. Stattdessen ist zu fragen: Mit welcher Zielsetzung bezieht sich Pannenberg in seiner Wissenschaftstheorie auf Ernst Troeltsch? Welche Überlegungen von Troeltsch stützen seine eigenen Reflexionen zur Wissenschaftlichkeit der Theologie? Und wo erblickt Pannenberg die Grenzen der Überlegungen von Troeltsch? Einen ersten Hinweis zur Beantwortung dieser Fragen liefert Pannenberg selbst, wenn er am Ende seiner Ausführungen zu Troeltsch resümiert: Indem er die Grundlegung der Geschichtserkenntnis nur einer „metaphysisch“ fundierten Erkenntnistheorie zutraute, überschritt Troeltsch auf seine Weise den Methodendualismus von Natur- und Geisteswissenschaft und die Enge seines eigenen bloß geisteswissenschaftlichen Ansatzes zur wissenschaftstheoretischen Begründung der Theologie.5

Demnach beruht Pannenbergs Einschätzung der wissenschaftstheoretischen Leistung von Troeltsch auf dem Konzept einer „metaphysisch fundierten Erkenntnistheorie“. Was darunter zu verstehen ist, soll im Folgenden erläutert werden. Einleitend ist dazu Troeltschs Bemühen zu würdigen, die Notwendigkeit einer wissenschaftstheoretischen Begründung der Theologie zu erweisen (1). In einem zweiten Schritt wird sein Konzept einer „religionsgeschichtlichen Theologie“ 3 Vgl. Helmut Pulte, Wissenschaft, in: Annika Hand/Christian Bermes/Ulrich Dierse (Hg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 11), Hamburg 2015, 483–522. 4 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 31–73. 5 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 117.

Wissenschaftstheorie und Metaphysik der Geschichte bei Ernst Troeltsch und Wolfhart Pannenberg

als Versuch vorgestellt, diese Begründung zu liefern (2). Vorausgesetzt dazu ist Troeltschs Einsicht in die Geschichtlichkeit von Idealen, Werten und Normen (3). Von daher ergeben sich Perspektiven einer „Metaphysik der Geschichte“, welche Dogmatik und Historik zu versöhnen imstande ist (4). Nach alledem wird im fünften Schritt Pannenbergs kritische Bezugnahme auf die geschichtsphilosophischen Überlegungen von Troeltsch vorgestellt (5) und in einen weiteren Verständnisrahmen eingerückt (6).

1.

Troeltschs Bemühen um eine wissenschaftstheoretische Rechtfertigung der Theologie

Wie Pannenberg in seiner Wissenschaftstheorie, so geht es auch Ernst Troeltsch in zahlreichen seiner Beiträge darum, den christlichen Wahrheits- und Geltungsanspruch auch außerhalb eines gläubigen Selbst- und Weltverständnisses auszuweisen. Damit stellt sich Troeltsch in die Tradition christlicher Apologetik, die seit den biblischen Anfängen des Christentums (vgl. 1 Petr 3,15) darauf zielte, vermittels rationaler Argumentation die Wahrheit des christlichen Glaubens gegenüber ihren Bestreitungen zu verteidigen und somit den Grund christlicher Hoffnung als tragfähig zu erweisen.6 Um den Wissenschaftscharakter der Theologie auszuweisen, wendet sich Troeltsch gegen jeden „Dogmatismus“ bzw. gegen eine „Dogmatische Theologie“, welche ihre Wahrheitsbehauptungen losgelöst, ja teils im Gegenzug zur säkularen Wissenschaft erhebt und sich dazu auf das (geglaubte) Faktum der Offenbarung stützt. Für eine offenbarungspositivistische Position steht noch vor dem profilierten Ansatz von Karl Barth (1886–1968) der einflussreiche Versuch von Albrecht Ritschl (1822–1889), eine christliche Wahrheitslehre und Ethik aus der biblischen Offenbarung herzuleiten. Voraussetzung dazu war Ritschls mit Nachdruck getroffene Unterscheidung von Glauben und Rationalität, Offenbarung und Metaphysik.7 Nach seinem zum Wintersemester 1886/87 vollzogenen Wechsel von der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität nach Göttingen begegnete der Student Troeltsch dem einflussreichen Dogmatiker Ritschl auch persönlich. Trotz aller Faszination distanzierte sich Troeltsch schon früh von seinem Lehrer. In seinen 1891 vorgelegten Promotionsthesen kritisiert er den supranaturalistischen Offenbarungspositivismus des inzwischen verstorbenen Ritschl entschieden. So heißt es etwa in der 12. These:

6 Vgl. zum theologischen Begriff der „Apologetik“: Eilert Herms, Art. Apologetik VI. Fundamentaltheologisch, in: RGG4 , Bd. 1, Tübingen 1998, 623–626. 7 Vgl. Karl Heinz Neufeld, Albrecht B. Ritschl (1822–1889), in: Heinrich Fries/Georg Kretschmar (Hg.), Klassiker der Theologie, Bd. 2, München 1988, 208–220.

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Das wissenschaftliche Moment der Dogmatik liegt in der Prinzipienlehre; bei der Darlegung des Glaubensinhaltes selbst kann von Wissenschaft im strengen Sinne nicht die Rede sein.8

Für Troeltsch mündet der Ansatz von Ritschl in einen dualistischen Begriff von Gott und Welt bzw. Gott und Mensch. Schon die von Ritschl für das Christentum mit Nachdruck reklamierte Einheit christlicher Dogmatik und Ethik („zwei Brennpunkte einer Ellipse“9 ) lässt sich redlicherweise nicht aufrechterhalten; denn die Ethik folgt autonomen Prinzipien, die nicht ohne weiteres mit der Offenbarung in eins fallen. Letzten Endes steht bei Ritschl die von Gott gewirkte Heilsgeschichte einer von Menschen zu verantwortenden Profangeschichte gegenüber. Wie aber gelangt beides im glaubenden Subjekt zu einer Synthese? Wie lässt sich die Unterstellung einer doppelten Wahrheit vermeiden? Wie entgeht der gläubige Mensch einer Bewusstseinsspaltung?10 Und wie ist Theologie als Wissenschaft möglich? Über die Wissenschaftlichkeit der Theologie ist nicht auf der Ebene der Inhalte, sondern der Methodik zu entscheiden. Diese aber ergibt sich nach Troeltsch aus der allgemeinen Religionswissenschaft. Diese stellt sich vor dem Hintergrund der religionswissenschaftlichen Forschungen des 19. Jahrhunderts vorrangig als Religionsgeschichte dar. Gleich in der ersten These wird deshalb Troeltschs Bemühen sichtbar, die christliche Theologie als eine Disziplin der allgemeinen Religionsgeschichte zu verstehen und so ihre wissenschaftstheoretische Legitimität zu erweisen: Die Theologie ist eine religionsgeschichtliche Disziplin, doch nicht als Bestandteil einer Konstruktion der universalen Religionsgeschichte, sondern als Bestimmung des Inhalts der christlichen Religion durch Vergleichung mit den wenigen grossen Religionen, die wir genauer kennen.11

Unübersehbar wird damit jeder offenbarungstheologisch begründete Wahrheitsanspruch der christlichen Religion zurückgewiesen, wie er etwa von Ritschl erhoben wurde. Vielmehr hat sich die Wahrheit der christlichen Religion im Vergleich mit

8 Ernst Troeltsch, Thesen zur Erlangung der theologischen Lizentiatenwürde (1891), in: KGA 1 (2009), 70f, hier 70. 9 „Das Christentum ist nicht einer Kreislinie zu vergleichen, welche um einen Mittelpunkt liefe, sondern einer Ellipse, welche durch zwei Brennpunkte beherrscht ist“ – nämlich Dogmatik und Ethik: Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3, Bonn 1874, 6. 10 So bereits in: Ernst Troeltsch, Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon (1891), in: KGA 1 (2009), 81–338. 11 Troeltsch, Thesen (KGA 1, 70).

Wissenschaftstheorie und Metaphysik der Geschichte bei Ernst Troeltsch und Wolfhart Pannenberg

anderen Religionen und im Horizont der Geschichte zu erweisen. Dieses Anliegen sollte Troeltsch sein Leben lang verfolgen. Eine der Moderne verpflichtete Theologie muss die Herausforderungen annehmen, die ihr aus den Naturwissenschaften wie auch aus den Geisteswissenschaften in methodischer Sicht erwachsen. Anders kann sie weder im akademischen Umfeld noch in der öffentlichen Debatte den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens überzeugend vertreten. Vor diesem Hintergrund zielen Troeltschs Überlegungen zur Wissenschaftlichkeit der Theologie auf die Überwindung des Gegensatzes von Dogma und Geschichte. Zugleich beharrt Troeltsch auf dem Eigenrecht der Theologie wie auch der Geisteswissenschaften insgesamt; nachdrücklich verwahrt er sich gegenüber Tendenzen, aus einer naturwissenschaftlichen Deutung des Wirklichkeitsganzen eine Universalierung ihrer methodischen Prinzipien herzuleiten. Vielmehr sind Philosophie, Literatur, Kunst, aber eben auch die Religionen gegenüber den Naturwissenschaften als selbstständige Manifestationen menschlichen Geistes anzuerkennen. Hier kann Pannenberg anknüpfen. Geht es doch ihm in seiner Wissenschaftstheorie um ein umfassendes Verständnis der Wirklichkeit im Licht des christlichen Glaubens. Innerhalb einer durch den christlichen Glauben orientierten Wahrnehmung der Welt besetzt die Theologie einen systematisch präzise zu bestimmenden Ort, der es ihr ermöglicht, zum Verständnis nicht nur der Religion, sondern des Wirklichkeitsganzen einen bedeutungsvollen und deshalb sinnstiftenden Beitrag zu leisten. Diesen Beitrag begrifflich zu fassen, ist Aufgabe einer jeden wissenschaftstheoretischen Begründung der Theologie.

2.

Troeltschs Ansatz zur wissenschaftstheoretischen Begründung der Theologie als „religionsgeschichtliche Theologie“

Systematischer Ansatzpunkt der wissenschaftstheoretischen Reflexionen von Troeltsch ist die Betrachtung des Menschen im Raum der Geschichte. Mit diesem Ansatz erweist sich Troeltsch als Erbe des Historismus, welcher das Denken des 19. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat.12 Demnach wurde das Geschichtsbewusstsein zu einem konstitutiven Merkmal okzidentalen Selbstverständnisses.13 Für den Historiker Friedrich Meinecke (1862–1954) beispielsweise ist der Historismus eine

12 Vgl. Ernst Topitsch, Der Historismus, in: Studium Generale 7 (1954), 430–439; J. Edgar Bauer, Art. Historismus/Historizismus, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. III, Stuttgart 1993, 143–155. 13 Vgl. zur spezifischen Prägung des Denkens in der europäischen Geistesgeschichte: Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Berlin 2 2019, Bd. 1, 110–135.

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„Weltanschauung“, die „ihren Höhepunkt in der Konstruktion der geschichtlichen Erkenntnis als Methodologie des Wissens des Einzelnen und Besonderen hat“.14 Der in seinen Schattierungen durchaus facettenreiche „Historismus“ liefert für Troeltsch den begrifflichen Rahmen, innerhalb dessen er sein eigenes Konzept einer „religionsgeschichtlichen Theologie“ begründet und entfaltet. Diese – die „religionsgeschichtliche Theologie“ – ist für Troeltsch die notwendige Instanz der Vermittlung zwischen empirischer Historie einerseits und deutender Gesamtschau des Kulturzusammenhangs („Kultursynthese“) andererseits. Worin bestand nun das Problem, für das Troeltsch mit seinem Entwurf einer „religionsgeschichtlichen Theologie“ eine Lösung meinte anbieten zu können? Unabhängig von dogmatischen Fragestellungen und Herausforderungen hatte der Durchbruch der historischen Methode im 19. Jahrhundert grundlegende Fragen sowohl nach der Zuverlässigkeit historischer Erkenntnis als auch – und bedrängender noch – nach der Gewissheit ethischer Orientierungen aufgeworfen. Moralische Prinzipien waren in Fluss geraten; verbindliche ethische Werte schien es nicht mehr zu geben. Eine abgründige Beliebigkeit des Handelns drohte die Fundamente menschlichen Zusammenlebens zu unterhöhlen. Nicht zuletzt Friedrich Nietzsche (1844–1900) hat diese Entwicklung am Ende des 19. Jahrhunderts auf den Begriff gebracht.15 Demgegenüber geht es Troeltsch um ein Gesamtverständnis der Geschichte, aus dem er verbindliche sittliche Normen für menschliches Handeln abzuleiten hoffte, und zwar sowohl im privaten wie im öffentlichen Raum. Konsequenterweise hat sich Troeltsch in seinen letzten Berliner Jahren (1918–1923) auch politisch engagiert, und zwar im Sinne einer Anerkennung politischer Pluralität, die er der sich abzeichnenden zunehmenden Polarisierung in der Gesellschaft der Weimarer Republik entgegensetzte.16 Wie aber gewinnt man aus dem Innern der Geschichte heraus einen methodisch reflektierten Begriff von der Geschichte im Ganzen? Ein solcher Begriff ist freilich

14 Giuseppe Cacciatore, Art. Historismus, in: Hans J. Sandkühler/Detlev Pätzold (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 1, Hamburg 1999, 551–556, hier 552. – Vgl. Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus (1936), hg. v. Carl Hinrichs (Werke III), München 1965; Jens Nordalm (Hg.), Historismus im 19. Jahrhundert. Geschichtsschreibung von Niebuhr bis Meinecke, Stuttgart 2006. 15 Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886); Ders., Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887), Erste Abhandlung: „Alle Wissenschaften haben nunmehr der Zukunfts-Aufgabe der Philosophen vorzuarbeiten: diese Aufgabe dahin verstanden, dass der Philosoph das Problem vom Werthe zu lösen hat, dass er die Rangordnung der Werthe zu bestimmen hat.“ (Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. v. Giorgio Colli/Mazino Montinari, München 1980, 245–412, hier 289). 16 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf, Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont, München 2022, Kap. 21: Gelehrtenrepublikanismus: Demokrat in vielfältigen Rollen.

Wissenschaftstheorie und Metaphysik der Geschichte bei Ernst Troeltsch und Wolfhart Pannenberg

unverzichtbar; denn will man geschichtliche Ereignisse und Daten beurteilen, dann gilt: Nicht vom isolierten Urteil und Anspruch der christlichen Gemeinde aus, wie viele Theologen uns immer wieder einreden wollen, sondern nur vom Gesamtzusammenhang aus kann ein Urteil über das Christentum gewonnen werden, ebenso wie weder die Selbstbeurteilung der Griechen noch die der Römer unser Urteil über ihren dauernden Beitrag zum menschlichen Geiste ohne Weiteres bestimmen kann.17

Jede historische Aussage über ein singuläres Ereignis ist in eine umfassende Gesamtdeutung der Wirklichkeit eingebunden, von der her sie in ihrer Besonderheit zu verstehen und zu beurteilen ist.18 Insofern setzt eine Geltung beanspruchende Geschichtswissenschaft zwar nicht den Blick auf die Geschichte im Ganzen voraus – dieser Blick ist Menschen schon deshalb unmöglich, weil sie die Geschichte nicht von ihrem Ende her betrachten können –, wohl aber fordert die Geschichtswissenschaft einen zeitlichen Abstand zum vergangenen Geschehen. Denn erst dieser Abstand ermöglicht es ihr, das singuläre Ereignis in seiner Bedeutung innerhalb größerer historischer Zusammenhänge zu beurteilen. Anders als in den empirischen Wissenschaften lassen sich geschichtliche Ereignisse nicht wiederholen; sie lassen sich deshalb auch keiner experimentellen Überprüfung unterziehen. Schon deshalb kann die Geschichtswissenschaft nicht auf eine Rekonstruktion dessen zielen, „wie es eigentlich gewesen ist“ (Leopold von Ranke). Vielmehr gewinnt sie stets ein Verständnis des Vergangenen aus dem Blickwinkel der Gegenwart. Dabei lassen die jeweils gültigen Kategorien, Werte und Normen die Vergangenheit in durchaus unterschiedlichem Licht erscheinen. Troeltsch versteht deshalb die Geschichtswissenschaft als eine konstruktive Erkenntnisleistung zum Zwecke einer Zusammenfassung der Gegenwart zu einem ihr Wesen charakterisierenden Begriff und die Beziehung dieses Ganzen auf die Vergangenheit als auf eine Gruppe von geschichtlichen Mächten und Tendenzen, die ebenfalls mit allgemeinen Begriffen bezeichnet und charakterisiert werden müssen.19

17 Ernst Troeltsch, Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie (1898), in: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen (1913), 2 1922, 729–753, hier 736f. 18 Dieses methodische Prinzip kennzeichnet den Historismus insgesamt und wurde insbesondere von Wilhelm Dilthey betont. 19 Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München – Berlin 3 1924, 6 (KGA 8, 205).

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Geschichtswissenschaft stellt sich insofern als eine spannungsvolle Korrelation von Vergangenheit und Gegenwart dar, die sich wechselseitig erhellen: die Vergangenheit im Licht der Gegenwart und umgekehrt.20 Wie nun gelangt die Geschichtswissenschaft zu ihren je vorläufigen Erkenntnissen und Einsichten, welche das einzelne Ereignis im Kontext der Universalgeschichte beurteilen lassen? In einem Aufsatz von 1898 über historische und dogmatische Methode in der Theologie nennt Troeltsch drei Elemente der historischen Methode: die historische Kritik, das Auffinden von Analogien und die zwischen allen historischen Daten erfolgende Korrelation. Im Einzelnen bedeutet das: 1. Aufgrund ihres kritischen Ansatzes lässt die historische Methode grundsätzlich nur Wahrscheinlichkeitsurteile zu; 2. indem die Historie Ereignisse in eine Beziehung bzw. Analogie zu anderen Ereignissen setzt, unterstellt sie die grundsätzliche Vergleichbarkeit des Historischen; 3. und schließlich: indem die Historie Einzelnes im Gesamtzusammenhang alles Geschehenden betrachtet, setzt sie eine universale Wechselbeziehung aller Ereignisse voraus.21 Unübersehbar widersprechen die drei Eigentümlichkeiten der historischen Methode der dogmatischen Theologie im Grundsatz. Weder kann sich die Dogmatik auf eine prinzipielle Kritik ihrer Wahrheitsbehauptungen einlassen, noch kann sie die Analogizität des Offenbarungsgeschehens zugeben. Dogmatische Theologie muss vielmehr die Unableitbarkeit der göttlichen Offenbarung betonen. Deshalb kann sie die Offenbarung auch nicht im und aus dem Gesamtzusammenhang des Historischen verstehen, ja nicht einmal verstehen wollen. Stattdessen muss sie auf der Faktizität des Außerordentlichen beharren: „Das Wunder ist in Wahrheit entscheidend“, so Troeltsch pointiert.22 Aus den Eigentümlichkeiten der historischen Methode resultiert die prinzipielle Unsicherheit und Vorläufigkeit jeder historischen Aussage. Dies hat einschneidende Konsequenzen für den Wahrheitsanspruch der christlichen Religion, insofern diese sich auf historische Wahrheiten beruft. Im Gegenzug dazu betont die dogmatische Theologie die Einzigkeit und Unvergleichlichkeit der göttlichen Offenbarung in

20 Zu diesem Wechselverhältnis vgl. Arthur Coleman Danto, Analytische Philosophie der Geschichte (1968), Frankfurt a. M. 1980. 21 Vgl. Ernst Troeltsch, Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie (1898), in: Gesammelte Schriften 2, 731–734. – Vgl. zum Gegensatz von historischer und dogmatischer Methode bei Troeltsch u. a.: Sven Grosse, Christentum und Geschichte: Troeltsch – Newman – Luther – Barth, in: Das Christentum an der Schwelle der Neuzeit. Drei Studien zur Bestimmung des gegenwärtigen Ortes des Christentums, Kamen 2010, 97–155, bes. 125–134 22 Troeltsch, Ueber historische und dogmatische Methode, 742.

Wissenschaftstheorie und Metaphysik der Geschichte bei Ernst Troeltsch und Wolfhart Pannenberg

der Geschichte des Volkes Israel und in der Person Jesu von Nazareth. Sie geht „von einem festen, der Historie und ihrer Relativität völlig entrückten Ausgangspunkt“ aus und gewinnt von ihm aus unbedingt sichere Sätze […], die höchstens nachträglich mit Erkenntnissen und Meinungen des übrigen menschlichen Lebens in Verbindung gebracht werden dürfen. Diese Methode ist prinzipiell und absolut der geschichtlichen entgegengesetzt. Ihr Wesen ist, daß sie eine Autorität besitzt, die gerade dadurch Autorität ist, daß sie dem Gesamtzusammenhang der Historie, der Analogie mit dem übrigen Geschehen und damit der alles das in sich einschließenden historischen Kritik und der Unsicherheit ihrer Ergebnisse entrückt ist.23

Religiöse Autorität verschafft sich ihre Anerkennung vor allem durch das Mittel des Wunders; dieses aber ist gerade dadurch definiert, dass es aus dem Gesamtzusammenhang der Geschichte heraustritt und insofern analogielos ist. Hingegen schließt das methodische Prinzip der Analogie „die prinzipielle Gleichartigkeit alles historischen Geschehens ein, die freilich keine Gleichheit ist, sondern den Unterschieden allen möglichen Raum läßt, im übrigen aber jedesmal einen Kern gemeinsamer Gleichartigkeit voraussetzt“.24 Die Analogie hat zur Folge, dass man im wissenschaftlichen Zugriff auf die christliche Religion „die Bindung des religiösen Glaubens an historische Einzeltatsachen nur als eine mittelbare und relative faßt“ (ebd.). Methodisch folgert Troeltsch daraus für eine ihrer historischen Bedingtheit bewusste Theologie, dass sie „die Verflechtung des Christentums in die allgemeine Geschichte beachtet und sich an die Aufgabe seiner Erforschung und Wertung nur von dem großen Zusammenhang der Gesamtgeschichte aus begibt“.25 Dieser Aufgabe hat sich die dogmatische Theologie bislang freilich verweigert – und zwar aus prinzipiellen Gründen.

3.

Troeltschs Einsicht in die Geschichtlichkeit von Idealen, Werten und Normen

Letzten Endes führt die dogmatische Theologie zu einer Verdoppelung der Geschichte: Die Profangeschichte steht der Heilsgeschichte unvermittelt gegenüber. Um diesen Gegensatz zu überwinden, fasst Troeltsch die Bestimmung des „Wesens

23 Ebd., 740. 24 Ebd., 732. 25 Ebd., 738.

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des Christentums“ nicht als eine dogmatische, sondern als eine historische Aufgabe auf. Zudem hofft er, auf dem Weg der historischen Methode den Wahrheits- und Überlegenheitsanspruch des Christentums wissenschaftlich erweisen zu können. Denn gerade im Lauf der Geschichte und im religionsgeschichtlichen Vergleich trete die Besonderheit der christlichen Religion zutage. Infolgedessen sei es der Theologie höchst angemessen, sich mit den Methoden der Geschichtswissenschaft vertraut zu machen. In der sechsten der vierzehn Thesen, die Troeltsch seinem 1901 gehalten Vortrag Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte zugrunde gelegt hat, findet sich eine konzise Zusammenfassung dieses hermeneutischen Ansatzes: Das Christentum ist also als rein historische Erscheinung mit allen Bedingtheiten einer individuellen historischen Erscheinung zu betrachten und daher auch ausschließlich mit den allgemeinen historischen Methoden zu erforschen.26

Wie aber kann mit den Methoden der Geschichtswissenschaft der Anspruch des Christentums auf unbedingte Geltung gerechtfertigt werden? Stellt die historische Methode – wie gezeigt – nicht jeden Absolutheitsanspruch in Frage, den die Religionen unausweichlich erheben? Kann die dogmatische Theologie mit der historischen Methode tatsächlich versöhnt werden? Oder ist am Ende eine dualistische Auffassung von Gott und Welt, Metaphysik und Geschichte gar unausweichlich? Bereits in seinem Aufsatz Geschichte und Metaphysik27 (1898) hatte Troeltsch das Verhältnis zwischen geschichtlichem Wandel und zeitlosen Wahrheiten erörtert. Dieser Spur folgt er in Die Absolutheit des Christentums (1902, 2. Aufl. 1912). Beide Male weist er darauf hin, dass jede Beurteilung historischer Daten eine ihr zugrunde liegende Wert-Skala voraussetzt. Denn ohne die Voraussetzung von Werten, anhand derer historische Urteile überhaupt erst möglich werden, zerfiele die Historie in eine atomisierte Vielzahl unverbundener Ereignisse. Zwischen ihnen wäre kein sinnvoller Zusammenhang erkennbar; alles Vergangene, das Gegenwärtige und auch das Zukünftige erschiene bedeutungslos und bliebe letzten Endes unverständlich. Woher aber gewinnt der menschliche Verstand jene Werte, welche die Daten der empirischen Geschichtsforschung kritisch beurteilen lassen? Und müssen nicht konsequenterweise auch die Werte selbst, anhand deren die historischen Daten

26 Ernst Troeltsch, Thesen zu dem am 3. Oktober in der Versammlung der Freunde der Christlichen Welt in Mühlacker zu haltenden Vortrage über Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1901), (KGA 5, 1998, 54). 27 Ernst Troeltsch, Geschichte und Metaphysik (1898), in: ZThK 8 (1898), 1–69 (KGA 1, 617–682).

Wissenschaftstheorie und Metaphysik der Geschichte bei Ernst Troeltsch und Wolfhart Pannenberg

beurteilt werden können, als historisch geworden und insofern der historischen Kritik zugänglich gelten? Nach Troeltsch gehen Werte aus einer „Idealbildung“ des menschlichen Geistes hervor: Das menschliche Bewusstsein stellt sich in einem schöpferischen Akt der Imagination abstrakte Inhalte vor, welche dem sinnlich Wahrgenommenen oder Erdachten eine Ordnung verleihen. Diese „Idealbildung“ des menschlichen Geistes ist wiederum geschichtlich zu verstehen. Denn Kulturen und Weltanschauungen bilden offenkundig sehr unterschiedliche Ideale aus, aus denen wiederum eine Vielfalt an Werten und Normen hervorgeht. Vollends die Moderne ist durch weltanschauliche Pluralität, ja sogar durch einen Antagonismus der Werte gekennzeichnet. Denn in der pluralen Welt der Moderne erfolgt die Bildung von Idealen, Werten und Normen unausweichlich konflikthaft, weil in ihr einander widerstreitende Geltungsansprüche aufeinanderprallen.28 Es kommt zu einer unaufhörlichen Konkurrenz und Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Idealen, Werten und Normen. Dennoch schlussfolgert Troeltsch aus dem Konflikt kultureller und religiöser Geltungsansprüche keinen kulturellen oder religiösen Relativismus. In der siebten These zu seinem Vortrag Die Absolutheit des Christentums heißt es nämlich: Diese Auffassung des Christentums und seiner Stellung in der Historie schließt nun aber nicht einen ziellosen Relativismus ein, sondern bringt für jeden frommen und daher an Ziel und Sinn der Geschichte glaubenden Menschen die Aufgabe mit sich, das Wertverhältnis der christlichen Gottesoffenbarung zu den in anderen Hauptreligionen vorliegenden Gottesoffenbarungen zu untersuchen.29

Will man die Vorstellung von einer zielgerichteten Dynamik der Geschichte nicht verabschieden – und in der Perspektive des christlichen Glaubens verbietet sich diese Haltung –, dann ist ein Vergleich zwischen den Religionen nicht nur möglich, sondern sogar geboten. Denn die Konflikte um die Geltung von Idealen, Werten und Normen weisen nach Troeltsch in eine gemeinsame Richtung, nämlich die der Allgemeingültigkeit. Ein „gemeinsames Ziel“ aller anzustreben entspricht der gemeinsamen menschlichen Natur; es verwirklicht sich jedoch stets nur vorläufig,

28 Vgl. Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, Tübingen (1902), 2 1912, 25–41 (KGA 5, 81–244, hier 137–153). Während Troeltsch in seinen frühen Schriften „Ideale“ und „Werte“ noch voneinander unterscheidet, wird beides in der „Absolutheit des Christentums“ miteinander identifiziert. – Zum Ringen der Kulturen um Werte und Normen bei Troeltsch vgl. Wolfhart Pannenberg, Die Begründung der Ethik bei Ernst Troeltsch, in: Ethik und Ekklesiologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977, 70–96, bes. 87–89. 29 Troeltsch, Thesen (KGA 5, 55).

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und zwar im konflikthaften Ringen um Ideale, Werte und Normen. Dass die Kriterien für deren Anerkennung strittig bleiben, schließt nicht aus, dass eine gemeinsame Richtung des Ringens um ein gemeinsames Ziel erkennbar wird. Allerdings bleibt das endgültige Ziel der Menschheitsgeschichte „als Ganzes und Fertiges doch der Geschichte jenseitig“.30 Im christlichen Glauben steht für diese Jenseitigkeit das vollendete Gottesreich. In ihrem Insistieren auf der Zukunftsoffenheit eines konflikthaften Ringens um Ideale, Werte und Normen unterscheidet sich die Religionstheorie von Troeltsch erkennbar von derjenigen Hegels, wonach sich in der Geschichte und durch sie hindurch ein von Ewigkeit her bestimmter „Weltgeist“ verwirklicht. Eine solche Konzeption trüge nach Troeltsch dem zukunftsoffenen Prozess der Geschichte gerade nicht Rechnung, insofern das Zu-sich-selbst-Kommen des absoluten Geistes der Sache nach nichts gegenüber dem Ursprung Neues böte.31 Allerdings geht auch Troeltsch davon aus, dass sich in der Geschichte zunehmend eine innere Vernunft manifestiert, die zwar nicht von Anfang an in ihr gegeben ist, die sich aber im wissenschaftlichen Ringen um die Angemessenheit des Urteilens zunehmend zur Geltung bringt. In der Geschichte meint Troeltsch deshalb eine Sinnrichtung erkennen zu können, welche die vielen Einzelbeobachtungen zu bündeln und in ihrer jeweiligen Bedeutung zu beurteilen erlaubt.32 Mit seiner geschichtsteleologischen Auffassung setzt sich Troeltsch auch von Wilhelm Dilthey (1833–1911) ab, dessen Lehrstuhl für Philosophie er 1915 in Berlin übernahm. Dilthey, dem Troeltsch er seine Schrift Der Historismus und seine Probleme (1922) widmete, hatte in der Geschichte lediglich eine unverbundene Vielheit von handlungsleitenden Idealen und Werten beobachten können, deren Sinn sich erst von einer Erkenntnis des Ganzen her erschließt.33 Demgegenüber unterstellt Troeltsch bereits in der Geschichte einen zukunftsgewandten „Zweckzusammenhang“. Gegen Dilthey betont er die Dynamik der Menschheitsgeschichte in

30 Troeltsch, Absolutheit des Christentums, 69 (KGA 5, 179). – Nach Pannenberg hebt die Zukunftsorientierung der Geschichte den geschichtsphilosophischen Ansatz von Troeltsch gegenüber dem von Dilthey hervor, der in der Geschichte nur eine Mannigfaltigkeit unterschiedlicher Zweck- und Wertorientierungen erblickte: Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 109f. 31 Zu den eschatologischen Konzepten bei Hegel und Troeltsch vgl. Jörg Dierken, Säkularisierung als immanente Eschatologie? (Hegel, Troeltsch, Löwith), in: Thomas M. Schmidt/Annette Pitschmann (Hg.), Religion und Säkularisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart – Weimar 2014, 36–48. 32 Hier dürfte auch der Unterschied zum Konzept kommunikativer Vernunft bei Jürgen Habermas liegen, der in seiner Konsensus-Theorie eine solche Teleologie nicht in Anschlag bringt. 33 Zu Diltheys Hermeneutik und ihren theologischen Implikationen vgl. Wolfhart Pannenberg, Über historische und theologische Hermeneutik, in: Grundfragen systematischer Theologie, Bd. 1, Göttingen 1967, 123–158.

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ihrem Ringen um die Deutung der Geschichte und die Herausbildung handlungsleitender Werte. Zugleich begreift er die Geschichte als einen unabschließbaren Prozess, über den abschließend erst nach ihrem Ende geurteilt werden kann. Troeltschs Auffassung vom Lauf der Geschichte ist für die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie bedeutungsvoll; denn sie verbietet es, anhand eines abstrakt gewonnenen Begriffs von „Religion“ das Christentum als die vollkommene oder „absolute“ Religion vorzustellen, wie es Hegel34 und andere unternommen hatten.35 Vielmehr erbildet sich erst im Ringen unterschiedlicher Ideale, Werte und Normen ein stets je vorläufiger Begriff von Religion. In Bezug darauf hat dann freilich auch Troeltsch zwar keine „Absolutheit“, wohl aber eine „Höchstgeltung“ des Christentums reklamiert, insofern in ihm alle Religionen zusammenlaufen: So muss das Christentum nicht bloß als Höhepunkt, sondern auch als Konvergenzpunkt aller erkennbaren Entwicklungsrichtungen der Religion gelten und darf daher im Vergleich zu den übrigen als die zentrale Zusammenfassung und als die Eröffnung eines prinzipiell neuen Lebens bezeichnet werden.36

Denn erst in der christlichen Religion, so Troeltsch, offenbart sich den Gläubigen ein lebendiger, persönlicher Gott. Das daraus resultierende persönliche Verhältnis zu Gott ist der Wurzelgrund für die Entstehung religiöser Subjektivität und die Individualität des Menschen. Damit ist zugleich auf der Ebene der Gesellschaft die Grundlage für Freiheit, Individualismus und persönliche Autonomie gelegt. Und es ist nach Troeltsch das – am Ende protestantische – Christentum, welches in seiner zweitausendjährigen Geschichte die Herausbildung von freier Subjektivität und Individualität ermöglicht hat. In dieser Perspektive erscheinen freie Subjektivität und Individualität des Menschen als Sinn und vorläufiges Ziel nicht nur des Christentums, sondern der Moderne insgesamt.

34 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 1 (1832, 2 1840): „Der Begriff der Religion ist in der Religion sich selbst gegenständlich geworden. Der Geist, der an und für sich ist, hat nun in seiner Entfaltung nicht mehr einzelne Formen, Bestimmungen seiner vor sich, weiß von sich nicht mehr als Geist in irgendeiner Bestimmtheit, Beschränktheit; sondern nun hat er jene Beschränkungen, diese Endlichkeit überwunden und ist für sich, wie er an sich ist. Dieses Wissen des Geistes für sich, wie er an sich ist, ist das Anundfürsichsein des wissenden Geistes, die vollendete, absolute Religion, in der es offenbar ist, was der Geist, Gott ist; dies ist die christliche Religion“ (hg. v. Hermann Glockner: Werke 16, Stuttgart 1980, 87). 35 So etwa der protestantische Theologe Otto Pfleiderer (1839–1908). Zu ihm vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 146–149. 36 Troeltsch, Absolutheit des Christentums, 89f (KGA 5, 197); vgl. Ders., Geschichte und Metaphysik, in: ZThK 8 (1898), 35 (KGA 1, 649).

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Troeltschs Weg zu einer Metaphysik der Geschichte

Spätestens jetzt wird klar, dass der religionsgeschichtliche Ansatz von Troeltsch überaus voraussetzungsreich ist. Wenngleich er anerkennt, dass die Kriterien für die Beurteilung von Idealen, Werten und Normen geschichtlich bedingt sind, leitet ihn doch in seinen eigenen Überlegungen das Ideal freier Subjektivität, welches im protestantischen Christentum zur geschichtlichen Reife gelangt sei und an dem alle übrigen Religionsformen zu bemessen seien. Troeltsch selbst ist diese Problematik allerdings nicht verborgen geblieben. In seinem posthum erschienenen Vortrag Der Historismus und seine Überwindung (1924) relativiert er den Anspruch auf den Vorrang des Christentums. Denn jetzt beschränkt Troeltsch die „Höchstgeltung“ des Christentums auf den europäischen Kulturkreis. Europäische Werte wie freie Subjektivität und Individualität, Personalität und sittliche Verantwortlichkeit seien im Vergleich der Religionen und Kulturen nicht universalisierbar, so auch im für die nicht mehr zustande gekommene Vortragsreise nach England bestimmten Beitrag Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen.37 Mit Blick auf die einzelnen Gläubigen spricht Troeltsch nurmehr von einer „naiven Absolutheit“ präreflexiver Erlösungsgewissheit. Diese kann auch mit Blick auf Angehörige andere Religionen in Anschlag gebracht werden, die in außereuropäischen Kulturkreisen leben. Dabei bleibt Troeltschs Interpretation der Geschichte zutiefst theologisch geprägt. So erblickt er – in einer für Profanhistoriker zweifellos überraschenden Wende – in dem Ringen der verschiedenen Kulturen und Religionen um Ideale, Werte und Normen den „Ausdruck und Offenbarung des göttlichen Lebensgrundes“ in der Geschichte.38 Demnach lässt sich im Lauf der Geschichte die Wirklichkeit Gottes identifizieren. Diese Schlussfolgerung muss freilich spätestens seit den humanen Katastrophen des 20. Jahrhunderts als höchst fragwürdig gelten. Auch wird man angesichts des abgründigen Versagens von Christinnen und Christen die christliche Kirche nicht umstandslos als „Ausdruck und Offenbarung des göttlichen Lebensgrundes“ in der Geschichte identifizieren können.39 Auf jeden Fall verweigert sich Troeltsch mit seinem Verständnis eines geschichtlichen Ringens um die Allgemeinheit von Werten und Normen der Auffassung der dogmatischen Theologie, wonach alles menschliche Werturteilen aus einem supranaturalistischen Offenbarungsgeschehen entspringt. Denn diese Auffassung

37 Ernst Troeltsch, Die Stellung des Christentums und die Weltreligionen. Fünf Vorträge (KGA 17, 105–118). 38 Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (1922), 175 (KGA 16/I, 368). 39 Zur Problematik einer Interpretation der Geschichte als „Erscheinung Gottes“ bei dem Kirchenhistoriker Ekkehard Mühlenberg vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, 544–548.

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könnte dem erwähnten Dualismus von Gott und Mensch tatsächlich nicht entgehen. Um diese sowohl für den Glaubensvollzug des Individuums als auch für die Anerkennung der Theologie als Wissenschaft fatale Konsequenz zu vermeiden, muss sich die Theologie den Einsichten und Herausforderungen des säkularen Wissens stellen. Dabei kann sie jedoch bereitwillig jene Debatten aufgreifen, die innerhalb der Geschichtswissenschaften über die Möglichkeiten gewisser Erkenntnis und normativer Geltung geführt werden. Bei alledem ist Troeltsch der optimistischen Meinung, dass sich innerhalb des wissenschaftlichen Kommunikationsraumes eine fortschreitende Übereinkunft über Werte und ihre Geltung erzielen lasse. Gerechtfertigt ist dieser Optimismus dadurch, dass Troeltsch „Religion“ als eine fundamentale Bestimmung humaner Existenz betrachtet. Demnach ist der Mensch von seiner geistigen Veranlagung her auf eine das Ganze noch einmal überspannende Wirklichkeit hin ausgerichtet.40 Zwar erfolgt die Realisierung dieser Ausrichtung jeweils kulturell geprägt, doch setzt sie jeweils einen transzendenten Deutungshorizont voraus. Von daher ist für Troeltsch der Brückenschlag zu einer Metaphysik der Geschichte möglich. Denn will die Geschichtswissenschaft nicht fruchtlos um sich selbst kreisen, indem sie die Daten ihrer Interpretationen je neu selbst erzeugt, muss sie die Realität der Ereignisse als gegeben postulieren. Nur so lässt sich das Einzelne zum Ganzen, das Endliche zum Unendlichen in ein Verhältnis setzen, so dass ein historisches Verstehen möglich wird, das Wahrheit und Geltung beanspruchen kann.41 Für die säkulare Geschichtswissenschaft kommt einer „religionsgeschichtlichen Theologie“ deshalb eine unverzichtbare Vermittlungsfunktion zu. Denn sie vermittelt zwischen der historischen Wissenschaft einerseits und der Geschichtsmetaphysik andererseits – und zwar so, dass die Theologie der Geschichtswissenschaft einen hermeneutischen Rahmen bereitstellt, der ein Urteilen über die einzelnen Daten allererst ermöglicht. Diesen Beitrag leistet die Theologie aber nicht dadurch, dass sie unveränderliche Werte markiert, sondern so, dass sie mit ihrer Rede vom „Gottesreich“ einen transzendenten Horizont der Geschichte aufspannt, welcher dem Einzelnen innerhalb der Geschichte Sinn und Bedeutung verleiht. Näherhin bedeutet dies: Das „Reich Gottes“ ist in der Geschichte nie vollständig verwirklicht, wirkt aber in die je konkrete Situation handelnder Menschen hinein und bestimmt deren Urteile im Erkennen und Handeln. In dieser Perspektive

40 Vgl. auch Wolfhart Pannenberg, Sind wir von Natur aus religiös?, Düsseldorf 1986. Dazu: Klaus Vechtel, Sind wir von Natur aus religiös? Pannenbergs theologische Bestimmung des Menschen und das Phänomen der religiösen Indifferenz, in: Gunther Wenz (Hg.), Was ist der Mensch? Zu Wolfhart Pannenbergs Anthropologie (Pannenberg-Studien 9), Göttingen 2022, 101–122. 41 Vgl. Ernst Troeltsch, Geschichte und Metaphysik, in: ZThK 8 (1898), 1–69 (KGA 1, 617–682).

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erscheint die Universalgeschichte als ein die singulären Ereignisse überwölbender Raum, welcher dem einzelnen Ereignis Sinn und Bedeutung zumisst. Der Blick auf die Geschichte im Ganzen kann daher „Geschichtsmetaphysik“ oder auch „Geschichtsphilosophie“ genannt werden – allerdings nicht in theoretischer Abstraktheit, sondern als Quelle normativer Prinzipien. Auch mit Blick auf die Ethik betont Troeltsch deshalb die geschichtliche Dimension humaner Existenz in ihrem Selbstverständnis und Handeln. Denn von dem je vorläufigen universalen Zweckzusammenhang her lassen sich die jeweiligen Zwecke der handelnden Individuen vermittels einer je neu anzueignenden Perspektive auf die Geschichte im Ganzen immerhin anfanghaft beurteilen. In dieser geschichtsmetaphysischen Perspektive fallen säkulare Geschichtsdeutung und religiöse Geschichtsdeutung in eins. Der drohende Dualismus, dem eine dogmatische Geschichtsdeutung nicht entrinnen kann, scheint in praktischer Hinsicht überwindbar.42

5.

Pannenbergs Rezeption der religionsgeschichtlichen Theologie von Troeltsch

Für Pannenbergs Verständnis der Offenbarung als sich in der Geschichte vollziehende Selbstmitteilung Gottes ist Troeltschs Konzeption einer religionsgeschichtlichen Theologie zweifellos hochgradig attraktiv. Auch für seine Überlegungen zum Wissenschaftscharakter der Theologie liefert Troeltsch wegweisende Impulse. Bereitwillig würdigt Pannenberg die nicht nur von ihm, sondern auch von Dilthey gewonnenen Einsichten in die Geschichtlichkeit allen Erkennens: Die Entwicklung des historischen Bewusstseins und der historischen Hermeneutik hat zur Einsicht in die Situationsgebundenheit geschichtlichen Erlebens und seiner sprachlichen Ausdrucksformen im Prozess der Überlieferung geführt. Daraus ergeben sich Perspektivität und Relativität aller geschichtlichen Zeugnisse und Interpretationen. In den Werken von Wilhelm Dilthey und Ernst Troeltsch ist die prinzipielle Bedeutung dieser Einsicht in für die Folgezeit maßgeblich gewordener Weise dargestellt worden.43

Dabei hat sich Troeltsch nicht damit zufrieden gegeben, den Wahrheitsanspruch des Christentums in eine alles zersetzende Relativität aufzulösen. Vielmehr hat er in der Geschichte einen konfliktreichen Prozess identifiziert, in dem das menschliche

42 Damit wäre auch dem Anliegen von Ritschl Genüge getan, christliche Dogmatik und Ethik als Einheit zu betrachten. 43 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, 177.

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Bewusstsein um Wahrheit und Geltung von Idealen, Werten und Normen gerungen hat und weiterhin ringt. Dies gilt auch für die Religionen. In Bezug auf diese meinte Troeltsch dem Christentum eine „Höchstgeltung“ zusprechen zu dürfen. Auf die problematischen – weil zirkulären – Voraussetzungen dieses Urteils wurde bereits hingewiesen. In seinem Spätwerk ringt Troeltsch erkennbar mit der Zirkularität seines Ansatzes, ohne jedoch zu einer überzeugenden Lösung zu gelangen.44 Troeltschs Einsicht in die Geschichtlichkeit von Religionen lässt unschwer erkennen, warum seine „religionsgeschichtliche Theologie“ und seine geschichtsphilosophischen Reflexionen für Pannenbergs Anliegen attraktiv wurden, Offenbarung als Geschichte zu verstehen.45 Denn auch bei Pannenberg stellt sich die Geschichte als ein zukunftsoffener Prozess dar, über dessen Verlauf und Ausgang erst von seinem Ende her endgültig entschieden ist. Innerhalb der Geschichte und vor ihrem Abschluss sind Sinn und Bedeutung allenfalls antizipatorisch verwirklicht. Insofern kann es nicht verwundern, wenn Pannenberg im Troeltsch-Kapitel seiner Wissenschaftstheorie nicht in erster Linie die Versuche von Troeltsch würdigt, den Dualismus zwischen Dogmatik und Geschichte dadurch zu überwinden, dass er eine „religionsgeschichtliche Theologie“ entwickelt – hier wird man Troeltsch tatsächlich wohl einen hermeneutischen Reduktionismus vorwerfen müssen. Vielmehr konzentriert sich Pannenberg auf die geschichtlich-eschatologischen Implikationen im Denken von Troeltsch. Nachdem sich sein Versuch, das Phänomen „Religion“ aus einem Grundvollzug der menschlichen Psyche herzuleiten, als unzureichend erwiesen hatte, hatte Troeltsch das fortgesetzte Ringen um Ideale, Werte und Normen als dynamisierende Kraft innerhalb der Geschichte identifiziert. In zukunftsoptimistischer Perspektive wollte daher auch Troeltsch über den Wert des Einzelnen und Vorläufigen erst vom Ende der Geschichte her entschieden sein lassen. Es ist klar, dass dieser Gedanke Pannenbergs geschichtstheologischem Ansatz sehr entgegen kommt. So würdigt Pannenberg entschieden Troeltschs Versuch einer Dynamisierung der Geschichte auf ihre eschatologische Vollendung hin. Wie kaum ein anderer, so Pannenberg, habe sich Troeltsch die exegetischen Einsichten von Johannes Weiß zu eigen gemacht, wonach das Wirken Jesus wesentlich durch seine eschatologische Reich-Gottes-Predigt bestimmt war.46

44 Vgl. Reinhold Bernhardt, Ernst Troeltsch, in: Klassiker der Religionstheologie im 19. und 20. Jahrhundert. Historische Studien als Impulsgeber für die heutige Reflexion (Beiträge zu einer Theologie der Religionen 20), München 2020, 55–73, bes. 66–69. 45 Vgl. Wolfhart Pannenberg u. a., Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1961. – Vgl. dazu Gunther Wenz, Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms (Pannenberg Studien 4), Göttingen 2018. 46 Vgl. Johannes Weiß, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 1892. – Vgl. das Urteil von Pannenberg: „Troeltsch war vielleicht der einzige Systematiker seiner Zeit, der die umwälzenden

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Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass Pannenberg mit seiner Konzentration auf die Geschichtstheologie die wissenschaftstheoretischen Potenziale im Denken von Troeltsch missachtet – jedenfalls soweit sie die „Heimkehr“ der Theologie in den Kreis der methodisch reflektierten Wissenschaften betrifft. Allerdings geht es Pannenberg um Anderes und Mehr: Indem er als transzendentalen Horizont des Aushandlungsprozesses von Idealen, Werten und Normen einen metaphysischen Horizont ausmacht, zielt er auf die Überwindung des Gegensatzes zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Troeltsch ist sich nämlich sehr wohl dessen bewusst, dass jeder Anspruch auf Wahrheit und Geltung hinfällig würde, unterstellte man nicht jenseits aller unweigerlich vorläufigen Aushandlungsprozesse eine alles umfassende Wirklichkeit, in der über die Wahrheit und das Gute definitiv entschieden ist. Jedes Ringen um Wahrheit, Werte und Normen setzt implizit nicht nur voraus, dass es Wahrheit, Werte und Normen überhaupt gibt, sondern auch, dass sie dem Konflikt der Interpretationen eine aus ihm selbst nicht zu gewinnende Richtung verleihen. Das aber heißt: Jede Handlungstheorie, die Geltung und Verbindlichkeit beansprucht, verlangt nach einer Metaphysik. Theologisch gesprochen ist dies das Reich Gottes, in dem über Wahrheit, Werte und Normen definitiv entschieden ist. Dabei reicht ein handlungstheoretischer Ansatz nach Pannenberg nicht aus, die theologische Dimension des Gottesreiches zu erfassen. Dieses könne nämlich nicht auf die Idee einer sittlich vollkommenen Praxis reduziert werden, ohne damit wesentliche Dimensionen der mit dem Begriff „Reich Gottes“ angedeuteten Wirklichkeit aufzugeben. Von daher kritisiert Pannenberg Troeltschs anfänglichen Versuch, die Verwirklichung von Werten und Normen mit der sittlichen Kategorie des „Zwecks“ zu erfassen.47 Denn „Zweck“ ist nach Pannenberg ein handlungstheoretischer Begriff, welcher die Perspektivik der Religionen nur ausschnitthaft erfasst. Eine handlungstheoretische Interpretation des Gottesreiches widerspricht dessen theologischem Begriff. Das Gottesreich ist nicht das Resultat menschlichen Urteilens und sittlichen Handelns, sondern eine von Gott gesetzte Wirklichkeit, die jedes menschliche Handeln transzendiert.48 Besser als durch „Zweck“ sei diese Perspektivik durch die Begriffe „Ideale“ und „Werte“ ins Wort gefasst.

Einsichten von J. Weiß in die Bedingtheit der Botschaft Jesu und insbesondere seines Reich-GottesBegriffs durch eine futurisch verstandene Eschatologie theologisch zu verarbeiten wußte, ohne dabei das Moment der realen Zukünftigkeit der Gottesherrschaft zu eliminieren“ (Wissenschaftstheorie, 110). 47 Zu einer handlungstheoretischen Rekonstruktion des Gottesreich-Gedankens vgl. Helmut Peukert, Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung, Frankfurt a. M. 1978. 48 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 111f.

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Zustimmend zitiert Pannenberg deshalb Troeltschs spätere Kritik an einer bloß sittlichen Idee des Gottesreiches; dieses sei nämlich nicht die Verbindung von Menschen durch gemeinsame Anerkennung des Gesetzes der Autonomie als eines von Gott in die Brust gelegten Gesetzes […], sondern eine wundervolle Gabe Gottes, etwas völlig Objektives, die Gemeinschaft der Menschen in völligem Frieden und völliger Liebe, weil in völliger Hingabe und Beugung unter die vollkommen offenbarte Herrschaft Gottes.49

Zwar habe auch Troeltsch den Begriff des Guten mit dem des Zweckes verbunden; aber „er sah die Wahl von Zwecken in der geistigen Erfahrung von Werten begründet, die dem Handeln des Menschen vorangehen“.50 Um die Gültigkeit dieser Werte und die aus ihnen resultierenden Normen gilt es je neu zu ringen; durch dieses Ringen ist die Geschichte der Kulturen und Religionen bestimmt. Innerhalb der Geschichte können absolute Werte immer nur antizipatorisch verwirklicht werden. Diese Struktur entspricht der Spannung zwischen dem „schon jetzt“ und „noch nicht“ des Gottesreiches, wie es Jesus verkündigt hat. Das vollkommene Gute ist ebenso wie das vollendete Gottesreich transzendent gegenüber der Geschichte; dennoch wirkt das Gute ebenso wie die Perspektive des Gottesreiches in die Geschichte hinein. Allerdings distanziert sich Pannenberg auch von Troeltsch. So kritisiert er insbesondere dessen frühen Versuch, das Wesen der Religion aus der Psychologie des menschlichen Bewusstseins herzuleiten. In Die Selbständigkeit der Religion (1895/ 96) betrachtet Troeltsch die Bildung idealer Werte als eine psychische „Grundfunktion“, der sich jeder Mensch hingebe. „Religion“ sei insofern als ein „idealer Wert“ zu verstehen, als sie die „Beziehung auf eine unendliche oder nach Maßgabe unseres Verständnisses unendliche Macht“ zum Inhalt hat.51 Religion ist demnach „der Glaube an eine diese Ideale in sich enthaltende, in der Welt durchsetzende und dem Menschen hierin sein Heil gewährende Macht“.52 In der Beziehung des Menschen zu dieser Macht sei „immer der praktische Charakter der Religion als

49 Ernst Troeltsch, Grundprobleme der Ethik. Erörtert aus Anlaß von Herrmanns Ethik, in ZThK 12 (1902), 125–178, hier 150 (Gesammelte Schriften 2, Tübingen 1913, 552–672). Zitiert von Wolfhart Pannenberg in: Grundlagen der Ethik. Philosophisch-theologische Perspektiven, Göttingen 1996, 68. Vgl. auch: Wolfhart Pannenberg, Die Begründung der Ethik bei Ernst Troeltsch, in: Ethik und Ekklesiologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977, 70–96. 50 Pannenberg, Grundlagen der Ethik, 69. 51 Ernst Troeltsch, Die Selbständigkeit der Religion, in: ZThK 5 (1895), 361–436, hier 396 (KGA 1, 364–538, hier 398). 52 Ebd., 398 (KGA 1, 399f).

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Streben nach einem höchsten Gut unausrottbar mitgesetzt“.53 Konkret ergeben sich hieraus kulturell unterschiedliche Formen religiöser Vergemeinschaftung sowie ritueller und ethischer Praxis. Troeltsch erblickt im so bestimmten „Urdatum“ des Glaubens zugleich die Gewähr für die Wahrheit des religiösen Bewusstseins als Gottesbewusstsein. Aber ist dieses Argument tragfähig? Zwar habe Troeltsch, so Pannenberg, rasch erkannt, dass die Psychologie des religiösen Bewusstseins die „Beweislast“ für die Wahrheit des Gottesbewusstseins nicht tragen könne und deshalb die psychologische Argumentation durch eine transzendentalphilosophische ergänzt.54 Demnach setzt Religion als „Beziehung auf eine unendliche Macht“ im religiösen Subjekt eine vorgängige Offenheit für das Ganze der Wirklichkeit voraus. Troeltsch unterstellt hierzu in der Tat ein „religiöses Apriori“ in jedem menschlichen Bewusstsein.55 Doch auch diese Ergänzung habe nicht ausgereicht; denn nur auf der Ebene der Metaphysik könne über die Wahrheit des Gottesbewusstsein entschieden werden – eine Einsicht, die freilich unter anderem von Otto Pfleiderer früher und überzeugender vorgetragen worden sei, so Pannenberg. Jedenfalls sei im Ausgang von dem Bewusstsein einer „unendlichen Macht“ noch lange nicht der Gottesbegriff des Monotheismus erreicht. In seiner Systematischen Theologie wertet Pannenberg das auf diese Weise diagnostizierte Defizit bei Troeltsch als Aufforderung, zwischen anthropologischer Basis der Religion und den konkreten Religionen zu unterscheiden.56 Troeltsch sei es entgangen, dass er bei seinem Bemühen, das Christentum im Sinne einer „Höchstgeltung“ von Religion zu erweisen, einen Begriff von Religion vorausgesetzt hat, der wesentlich durch das Christentum selbst geprägt ist. Deshalb erfolge seine Argumentation zirkulär. Seiner eigenen Überzeugung von der Geschichtlichkeit allen Ringens um Werte und Normen sei Troeltsch damit nicht gerecht geworden. Vielmehr könne es nicht überraschen, dass die auf einem christlichen Religionsbegriff gegründete Betrachtung der Religionsgeschichte am Ende keine andere Religion als eben das Christentum in ihrer „Höchstgeltung“ erweist. Vor allem aber, so Pannenberg in seiner Wissenschaftstheorie: Der grundsätzlichen Einsicht von Troeltsch in die Geschichtlichkeit aller „Zwecksetzung“ innerhalb der Geschichte entspricht nicht die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Seins selbst. Bei Troeltsch bleibt die Kategorie der „Geschichtlichkeit“ auf die Kategorie des Zwecks und die Herausbildung von Werten beschränkt. Sie wird nur handlungstheoretisch geltend gemacht; nicht jedoch dient sie dem Verständnis geschichtlicher 53 Ebd., 390–392. 396 (KGA 1, 391–393; 397f). 54 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 150. 55 Vgl. Troeltsch, Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft (1905), (KGA 6/I, 215–256). 56 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 150.

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Erfahrung an sich. Die metaphysischen Kategorien von Troeltsch, so Pannenberg pointiert, „treten komplementär zu dieser Erfahrung hinzu, statt durch ihre Analyse vermittelt zu sein“.57 Dass die Dinge selbst zeitlich verfasst sind, wie es später Heidegger betont hat, aber bereits von Dilthey angebahnt war, habe Troeltsch noch nicht wahrgenommen. Die Relation zwischen dem Teil und dem Ganzen, die für die Geschichtshermeneutik von Troeltsch grundlegend ist, werde nicht ihrerseits noch einmal zeitlich gedacht. Damit jedoch gelange bei Troeltsch die Zukunft nicht als seinskonstitutive Dimension in den Blick. Dies sei umso überraschender, als der Gedanke einer Dynamisierung der Geschichte – nämlich durch den Konflikt der Interpretationen und den Widerstreit der Werte – bei Troeltsch als richtungsweisend gelten darf. Demgegenüber macht Pannenberg darauf aufmerksam, dass bereits die Verpflichtung der an einem Diskurs beteiligten Personen auf die gemeinsame Suche nach der Wahrheit nur vor dem Hintergrund eines zeitlichen Seinsverständnisses plausibilisiert werden kann. Dieses ist durch die Annahme einer „Sinntotalität“ charakterisiert, in der jedes Einzelne durch allgemeine Bestimmungen charakterisiert ist. Diese Sinntotalität ist zwar erst am Ende der Geschichte realisiert, wirkt aber schon jetzt in jedes aufrichtige Bemühen um Verständigung sowohl ermöglichend als auch orientierend hinein. Indem Troeltsch die Geschichtlichkeit nicht nur der historischen Daten, sondern auch die Geschichtlichkeit der zu ihrer Beurteilung beanspruchten Werte ernst nimmt, eröffnet er einen geschichtlich verfassten Diskursraum, innerhalb dessen über die Bedeutung der einzelnen Ereignisse gestritten und – allerdings je vorläufig – entschieden werden kann. Innerhalb des Kommunikationsraums der Wissenschaftsgemeinschaft ist eine fortschreitende Übereinkunft darüber zu erzielen, was in der Beurteilung der historischen Daten als gültig und insofern wahrheitsförderlich gelten darf. Dieser Kommunikationsraum ist wiederum selbst geschichtlich verfasst und zukunftsoffen. Vor diesem Hintergrund würdigt Pannenberg das wissenschaftstheoretische Verdienst von Troeltsch. Dieser habe auf dem Wege seiner „religionsgeschichtlichen Theologie“ die metaphysischen Voraussetzungen einer Verständigung über die Deutung der Geschichte und die Kriterien des Handelns offengelegt. Denn die Bereitschaft zur Kommunikation und der Wille zur Verständigung setze ein Einvernehmen darüber voraus, dass es so etwas wie eine „Sinntotalität“ überhaupt gibt: „Sie integriert zumindest virtuell die Bedeutungsstrukturen der Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten der am Kommunikationsprozess beteiligten Individuen und konstituiert damit die Einheit der sozialen Lebenswelt“.58

57 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 115. 58 Ebd., 116.

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Dirk Ansorge

Troeltsch, so Pannenberg, habe damit jenseits der Frage nach der „Objektivität“ geschichtlicher Erkenntnis die Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen gestellt und somit eine im kantischen Sinne transzendentale Ebene der Reflexion erreicht.59 Diese Ebene übersteige auch den Gegensatz von Natur und Geist und somit den Gegensatz von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft.

6.

Ausblick

Letzten Endes geht es Troeltsch wie Pannenberg um das Verständnis der Wirklichkeit im Ganzen. Von dieser sind Natur und Geist zwar nicht „Attribute“ einer einen und einzigen Substanz, wie Spinoza meinte, um den cartesischen Dualismus von Körper und Geist zu überwinden. Wohl aber setzt jedes Verstehen-Wollen eine „Metalogik“ voraus, welche Natur und Geist gleichermaßen zu umspannen fähig ist. Eine solche Metalogik wäre zweifellos dazu imstande, auch die Theologie in ihrer Wissenschaftlichkeit zu begründen. Man kann nicht sagen, dass Troeltsch diese Begründung geliefert hat. Anzuerkennen ist sein Bemühen, die Wissenschaftlichkeit der Theologie auszuweisen. Dies gelingt ihm aber nur um den Preis einer Verkürzung dessen, was er „Religion“ nennt, auf die Anerkennung idealer Werte und eine aus ihnen hervorgehende Zwecksetzung humaner Praxis. Auch wurde er der Vielgestalt des Religiösen nicht einmal in Ansätzen gerecht; seine Reflexionen beschränken sich auf die ihm bekannten „Hauptreligionen“.60 Der Münsteraner Fundamentaltheologe Jürgen Werbick hat darauf aufmerksam gemacht, dass eine in diesem Sinne reduktionistische Bestimmung von Religion dem Selbstverständnis religiöser Menschen kaum gerecht wird. Stattdessen hat Werbick die Kategorie des „Zeugnisses“ als dafür grundlegend und maßgebend eingeführt. Demnach hat die Theologie die radikale Engagiertheit des religiösen Menschen so zum Thema zu machen, dass sie im existenziellen Selbstvollzug des Menschen das Moment unbedingter Bezogenheit auf die Wahrheit des Wirklichkeitsganzen zur Geltung bringt.61 Dies kann freilich nicht auf dem Wege einer ausschließlichen Bezugnahme der Theologie auf ideelle Werte wie Freiheit, Individualität, Entwicklung oder Fortschritt geschehen. Wie Pannenberg mit Recht feststellt: Eine Bemessung von Religionen an solchen Werten bliebe ihrem Selbstverständnis fremd und äußerlich. 59 Vgl. ebd., 116f. 60 Troeltsch, Thesen (KGA 5, 55). 61 U. a. hat Werbick den Gegenstand der historischen Theologie als eine Geschichte von „Zeugen und Bezeugungen“ verstanden wissen wollen: Jürgen Werbick, Theologische Methodenlehre, Freiburg u. a. 2015, 325–383.

Wissenschaftstheorie und Metaphysik der Geschichte bei Ernst Troeltsch und Wolfhart Pannenberg

Religiösen Menschen geht es offenkundig in erster Linie nicht um die Anerkennung irgendwelcher Wahrheiten, sondern um die existenzielle Konsonanz mit einer – dann freilich als real – unterstellten Struktur der Wirklichkeit.62 Insofern kann weder der religiöse Mensch noch die Theologie auf Metaphysik verzichten. Diese aber ist nicht das Primäre und Gründende glaubenden Selbstvollzuges, sondern folgt ihm nach. Lässt sich auf dieser Grundlage eine Brücke zu den Wissenschaften des Geistes und der Natur schlagen? Zweifellos verbindet die Annahme einer vom Bewusstsein unabhängigen Wirklichkeit die Wissenschaften aller Disziplinen. Aber bereits die methodische Vielfalt der unterschiedlichen Zugänge zur Wirklichkeit lässt jede Einheit des Wissens in scheinbar unverbundene Fragmente zerbersten. Überdies ist den Naturwissenschaften die Rede von Werten grundsätzlich fremd; in den Geisteswissenschaften scheiden sich an ihrer Begründung und Bestimmung die Geister. Auch deshalb lässt sich daran zweifeln, ob Troeltsch der Brückenschlag zwischen Natur- und Geisteswissenschaften tatsächlich gelungen ist. Will man sich nicht auf die bloße Behauptung der Wirklichkeit als „real gegeben“ zurückziehen, müsste dieser Brückenschlag wohl auch methodische Perspektiven eröffnen. Angesichts des Methodenpluralismus in den verschiedenen Disziplinen ist dies jedoch kaum zu erwarten. Allenfalls von einer transzendentalen Ebene her ließe sich so etwas wie die „Einheit der Wissenschaften“ rekonstruieren.63 Wo Troeltsch im Ringen um Ideale, Werte und Normen eine Konvergenz erwartete, ist in den Wissenschaften eine tiefgreifende Pluralisierung und Diversifizierung zu beobachten. Zwar kann die Theologie daran erinnern, dass es so etwas wie eine Einheit der Wirklichkeit gibt, die kosmologisch-synchron und geschichtlichdiachron zu fassen wäre und insofern der Fragmentarisierung allen Wissens entgegen wirkte. Ob dies aber dazu ausreicht, wissenschaftsmethodisch die Einheit des Wirklichkeitsganzen zu gewährleisten, ist mehr als fragwürdig.

62 Vgl. Tim Crane, Die Bedeutung des Glaubens. Religion aus der Sicht eines Atheisten, Berlin 2019. 63 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794) (PhB 246), Hamburg 1997; Hermann Krings, Transzendentale Logik, München 1964.

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Harald Matern

Theologie als Wissenschaft der „Religion“ Überlegungen im Anschluss an Pannenbergs „Wissenschaftstheorie und Theologie“ Die protestantische Theologie ist in der europäischen Moderne als akademische Disziplin umstritten – zumindest im Blick auf einige ihrer Subdisziplinen. Ihren Status als Wissenschaft gilt es daher beständig neu auszuweisen. Dies trifft auch auf andere geisteswissenschaftliche Fächer zu, hat aber für die deutschsprachige protestantische Theologie eine eigene Dynamik und Geschichte entfaltet, die aufs Engste mit den gesellschaftlich-öffentlichen Debatten über „Religion“ seit der Aufklärung verknüpft ist. Denn protestantische Theologie nimmt eine sehr spezifische Doppelrolle ein: Ihr Gegenstand, der je nach Kontext als „Glaube“, „Christentum“, „Gott“, oder eben auch: „Religion“ bestimmt werden kann, erfordert eine spezifische „Interessiertheit“. Über „Religion“ kann (1) in der europäischen Moderne kaum je aus einer reinen Beobachterperspektive gehandelt werden. Das gilt für alle religionsbezogenen Disziplinen im deutschsprachigen Bereich und lässt sich aus der Religionsgeschichte der europäischen Moderne wie auch aus der mit ihr verwobenen Geschichte des Religionsbegriffs wie auch der beteiligten Wissenschaftsdisziplinen erklären.1 Je nachdem, wie genau dieser Gegenstand bestimmt wird, ist er gar nicht beobachtbar2 , demonstrierbar oder „empirisch“ vollständig aufweisbar. Wer von „Religion“ handelt kann dies nicht ohne normative Implikationen tun, weder auf der Ebene der Abgrenzung des Gegenstands, noch auf derjenigen seiner inhaltlichen Bestimmung. Allerdings ist diese Normativität (2) im Bereich der Theologie besonders augenscheinlich. Protestantische Theolog:innen sind sehr häufig auch selbst ihrem Gegenstand „religiös“ verbunden. Dazu kommt (3), dass die moderne deutschsprachige protestantische Theologie zugleich akademische Disziplin wie auch Handwerkskunde ist. Sie ist praktische Wissenschaft, insofern sie immer auch der Ausbildung von Religionsprofessionellen dient. Und dieser Praxisbezug führt dazu, dass (4) ihre Relevanz und damit auch ihre Legitimität im Konzert der akademischen Disziplinen 1 Vgl. zur ersten Annäherung für die deutschsprachige Moderne Georg Pfleiderer; Harald Matern (Hg.): Die Religion der Bürger. Der Religionsbegriff in der protestantischen Theologie vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 2021. 2 Anders lautende Behauptungen einer „objektiven“, „rein wissenschaftlichen“ Religionsbeobachtung führen zwangsläufig zu seltsamen Verzerrungen in der Konstruktion des Gegenstands. Darauf gehe ich weiter unten ein.

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mit der Religions- und Institutionsgeschichte des (protestantischen) Christentums steht und fällt. Anders gesagt: Die Plausibilität und Relevanz der Theologie als akademischer Disziplin hängt auch mit der Voraussetzung zusammen, dass weite Teile der Bevölkerung Christinnen und Christen sind, dass sie einer Kirche angehören, die sich als „Volkskirche“ verstehen kann und das Leben der Bürgerinnen und Bürger der Welt von der Wiege bis zur Bahre begleitet – unabhängig davon, ob diese das wahrnehmen oder einfordern. Genau diese historisch gewachsene Situation beginnt sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland rapide zu verändern. Während manche der genannten Aspekte auch unabhängig von einer gesamtgesellschaftlichen Erstreckung oder auch nur kulturellen Prägekraft des christlichen Glaubens den Status der akademischen Theologie als Wissenschaft prägen, ist der letztgenannte ein Erfordernis universitätspolitischer Natur: Wenn nicht ausgewiesen werden kann, dass das, was Theologinnen und Theologen tun, von gleichsam allgemeinen Interesse ist, dann steht mit ihrer Wissenschaftlichkeit zugleich auch die Existenz der Theologie an öffentlichen, staatlichen Universitäten in Frage. Pannenbergs theologische Schriften und mit ihnen seine Erwägungen zum Thema „Theologie als Wissenschaft“ fallen damit in eine Epoche der protestantischen Theologie, von der angenommen werden kann, dass sie als Epochenende, als Zeitenwende, als Übergangsphase – oder, will man so, auch als „Sattelzeit“ beschrieben werden könnte. Ich möchte im Folgenden zunächst (1.) einige Ausführungen zum Kontext des theologischen Schaffens Pannenbergs geben. Dabei wird sich zeigen, dass – natürlich – seine Bestimmung der Theologie als Religions- oder auch Glaubenswissenschaft3 , wie er sie in WtuTh vornimmt, notgedrungen auch auf diesen Kontext reagiert. Nach dieser Kontextualisierung möchte ich (2.) etwas näher auf den Begriff „Religion“ als theologischen Grundbegriff sowie dessen Näherbestimmung durch den Begriff „Sinn“ eingehen. Abschliessend werde ich (3.) einige weitere Überlegungen vornehmen, die die Potentiale der Theologie Pannenbergs betreffen und als Überlegungen im Anschluss an sein Werk zu verstehen sind. Dabei wird zunächst (3.1) kritisch auf die Stellung des Sinnbegriffs einzugehen sein. Anschließend (3.2) bringe ich Pannenbergs Theologie ins Gespräch mit Entwicklungen im Bereich der „Theologie der Religionen“ und (3.3) mit kognitiven und evolutionären Religionswissenschaften.4 In allen Teilen meines Beitrags fokussiere ich auf Pannenbergs spezifischen Umgang mit Begriff und Thema der „Religion“ – denn es ist dieser Begriff, der prismatisch alle vorher genannten kontextuellen Bedingungen wie kein anderer zu

3 Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973, 322 u. a. 4 Abschließend (4.) versuche ich, innovative und zukunftsweisende Aspekte der Theologie Pannenbergs vor dem beschriebenen Problemfeld zu skizzieren.

Theologie als Wissenschaft der „Religion“

bündeln und zu brechen vermag. Gleichzeitig steht die Frage nach den innovativen Potentialen der wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Theologie durch Wolfhart Pannenberg 50 Jahre nach dem ersten Erscheinen von WuTh durchgehend im Hintergrund meiner Überlegungen.

1.

Zum Kontext: Theologie und Religion nach dem Zweiten Weltkrieg

1.1 Entwicklungen des Religionsbegriffs im deutschsprachigen Raum Jeder theologische Entwurf, jedes theologische System, jede Aufgabenbestimmung der Theologie, hat eine Vorgeschichte. Das ist bei Pannenberg besonders spürbar, da seine systematischen Ausführungen zugleich als theologiegeschichtliche Abhandlungen lesbar sind. Als Geschichtstheologe führt er seine programmatischen Einsichten zur Geschichte in seinen eigenen Werken gleichsam vor und durch. Pannenbergs Aufgabenbestimmung der Theologie in WuTh hängt aufs engste mit der Begriffs- und Theologiegeschichte von „Religion“ zusammen. Der Religionsbegriff ist für die Theologien spätestens des 19. Jahrhunderts der am härtesten umkämpfte Zentralbegriff überhaupt. An ihm scheiden sich Geister und theologische Grundhaltungen wie an keinem anderen. Blicken wir ins 19. Jahrhundert, kann, abgesehen von den gängigen theologischen Schulbildungen und konfessionellen Zuordnungen, ganz grob von mindestens zwei alternativen Wegen gesprochen werden: Theologie, akademische Theologie, wird entweder als „Religions“-Wissenschaft bestimmt. Dabei kann, je nach theologischem Interesse und weiteren Grundannahmen dieser Begriff wiederum unterschiedlich konnotiert werden. Oder aber die Theologie wird als Wissenschaft des „Glaubens“ ganz bewusst nicht auf „Religion“ bezogen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kommen noch weitere solcher Zentral- oder Grundbegriffe hinzu. Während die „Frömmigkeit“ bereits spätestens seit Schleiermachers Werken eine bedeutende Rolle erlangt, ist es gegen Ende des Jahrhunderts besonders die „Weltanschauung“, die eine solche grundbegriffliche Bedeutung erhält. An solchen Begriffen wird der Wissenschaftscharakter der Theologie, zugleich aber auch der soziale Träger, also die institutionelle Gestalt des Religiösen, wie auch die spezifische innere Struktur des Gegenstandes der Theologie verhandelt. Mit all diesen Begriffen, besonders aber mit dem Begriff der „Religion“ geht einher, dass sie nicht rein theologische Begriffe sind. Sie sind unterschiedlich bestimmbare Gattungsbegriffe, die nicht nur eines, sondern viele bezeichnen. Wer von „Religion“ spricht, spricht auch von „Religionen“. Und damit zu keinem Zeitpunkt interesselos, denn bereits die Scheidung von „Religion“ und „Nicht-Religion“ beinhaltet einen normativen Kern. Mehr noch, wenn es um „Religionen“ zu tun ist: Wo ein Vergleich von Exemplaren möglich ist, wo es möglich ist, die Zugehörigkeit

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von etwas zu einer Gattung zu bestimmen, ist eine Normalgestalt der Gattung mitgesetzt, die es erlaubt, dieses oder jenes Exemplar als defizitär auszuweisen. Zugleich sind diese theologischen Zentralbegriffe immer weniger spezifisch theologische Begriffe. Mit der Transformation (der empfundenen Pluralisierung und Individualisierung, der Kritik, aber auch der wissenschaftlichen Neubeschreibung) des Religiösen verlieren sie ihren spezifisch theologischen, ihren spezifisch christlichen Charakter: Es gibt nicht nur verschiedene etablierte „Religionen“ die religionsgeschichtlich sortiert und beschrieben werden können. Sondern es entstehen mit der Auswanderung des Begriffs aus der Theologie und Philosophie bzw. den entstehenden weiteren religionsbezogenen Wissenschaftsdisziplinen auch Neubildungen: „Kunstreligion“ und „Wissenschaftsreligion“ oder auch die „Religion der Menschheit“ sind solche neuen begrifflichen Formen mit denen Phänomene unterschiedlichster Art beschrieben werden sollen und auch können.5 Der Streit um die richtige Bestimmung des Religionsbegriffs, die intensionale wie extensionale Ausweitung dieses Begriffs, schließlich nicht zuletzt die Religionskritik, führen bei manchen Theologen zur Ablehnung des Religionsbegriffs, bei anderen zur Neubestimmung des wissenschaftlichen Charakters der Theologie. Grössere theologische Entwürfe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts können so als Nachspiel, oder auch als Radikalisierung von Positionen gelesen werden, die prägend für die Situation der modernen protestantischen Theologie nach der Aufklärung insgesamt geworden sind.6 Wenn etwa Karl Barth 1938 „Religion“ als „Unglaube“ bestimmt, dann nimmt er damit einerseits pietistische und lutherisch-konfessionelle Positionen innertheologischer Religionskritik auf. Andererseits eröffnet er damit eine Scheinalternative, denn spezifische funktionale Bestimmungen des Religionsbegriffs müssen ja seinerseits nun auf den Begriff des „Glaubens“ übertragen werden, wenn anders die Theologie ihre Bodenhaftung, ihren „Sitz im Leben“ nicht vollständig verlieren soll. Wenn Dietrich Bonhoeffer kryptisch von einem „religionslosen Christentum“ sprechen kann, dann ist etwas sehr spezifisches gemeint, eine Abkehr von spezifischen kirchlichen und liturgischen Formaten, eine Gegenbewegung gegen die funktionale Ghettoisierung der Religion vielleicht, nicht aber eine Abkehr vom Begriff der Religion selbst. Wer, andererseits, wie etwa Paul Tillich oder weitere Zeitgenossen, den Begriff „Religion“ als theologischen Grundbegriff nicht aufgeben will, kommt nicht umhin, die mit der Geschichte dieses Begriffs selbst gegebenen Problemstellungen mit einzukaufen. Das führt mancherorts zu besonderen „Verrenkungen“, so bei

5 Vgl. Wolfgang Eßbach: Religionssoziologie, Bd. 2: Entfesselter Markt und artifizielle Lebenswelt als Wiege neuer Religionen, Paderborn 2019, v. a. 137–172. 6 Vgl. zum Folgenden Georg Pfleiderer; Harald Matern: Die Religion der Bürger, 969ff.

Theologie als Wissenschaft der „Religion“

Paul Tillich zu einer charakteristischen Fluidität des Begriffs, der je nach Situation mal normativ-christlich, mal deskriptiv, mal evaluativ, mal ganz und gar kryptisch verwendet werden kann. Gleichwohl ist seine Bestimmung der Theologie als „normativer Religionswissenschaft“ prägend für eine ganze Generation theologischer Entwürfe. Im Blick auf Pannenbergs Ausführungen kommt ein Spezifikum hinzu, dass, nur teilweise theologiehistorisch kontextualisiert werden kann. Die Theologie nach dem zweiten Weltkrieg befindet sich in einer bis dato kaum bekannten religionsgeschichtlichen Situation. Bereits im 19. Jahrhundert, etwa um die Revolutionszeit in Deutschland, oder während des Kulturkampfes in den 1870er und 80er Jahren gab es bei vielen Theologen Verlustängste, Befürchtungen vor einer „Entchristlichung“ der Bevölkerung. Und auch im 20. Jahrhundert, zumal in der Zeit zwischen den Weltkriegen, wurden solche Ängste wieder präsent. Immer hatten sie mit der drohenden Auflösung des schillernden staatlich-religiösen Doppelgebildes des Staatskirchentums zu tun, mit der zunehmenden Entflechtung christlicher und öffentlicher institutioneller Zusammenhänge bei Schule, Eheverwaltung, etc. Entsprechend begannen Theologen, das Christentum anderwärts zu suchen als ganz allgemein „im Staat“: In der Kultur, in der bürgerlichen Familie, oder aber auch in anderen institutionellen Formen, etwa im Sozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam aber ein neuer Faktor hinzu: Während bis dorthin immer noch mehr oder minder selbstverständlich davon ausgegangen werden konnte, dass der grösste Teil der Bevölkerung irgendwie als christlich anzusprechen wäre, und die allermeisten Menschen in irgendeiner Form auch Mitglied einer christlichen Kirche waren, auch wenn sie deren Dienstleistungen und Feiern zunehmend als Sache freier Wahl wahrnahmen, wurde nun auch diese Selbstverständlichkeit in Frage gestellt. Nach einer kurzen Phase der Stabilität nach dem Zweiten Weltkrieg begann in den 1960er, vor allem aber in den 1970er Jahren, ein Prozess, der als „Säkularisierung“ möglicherweise den Charakter einer sozial- und religionsgeschichtlichen Epochengrenze aufweisen könnte. Über diesen Begriff ist viel diskutiert und geschrieben worden; unbestritten ist jedoch, dass der rapide Mitgliederschwund der christlichen Kirchen, der in jener Zeit begann, bis heute anhält und in einer Weise prägend für die Theologien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden konnte, wie es die philosophische Religionskritik im 19. Jahrhundert, die Pluralisierung und Individualisierung des Religiösen, wie es all diese religionsgeschichtlichen Verflechtungen noch nicht vermochten. 1.2 Theologie im Malstrom der Säkularisierungsdebatte Ernst Troeltsch sprach bereits 1912 von der „neudeutsche[n] Schneidigkeit“ in Sachen Religion, die die „religiöse Indifferenz“ als Zeichen kulturellen Hochstands,

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oder gar als intellektuellen chic betrachtete.7 Während aber dies zunächst (zu Beginn des 20. Jahrhunderts) vielleicht noch als ein Intellektuellenphänomen betrachtet werden kann, so muss die öffentliche Stimmung in Sachen „Religion“, spezifischer in Sachen des Christentums, nach dem Zweiten Weltkrieg doch grundlegend anders beschrieben werden. Kann „Religion“ noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit all den hinzugekommenen begrifflichen und phänomenalen Spielarten, doch weitgehend unumstritten als einer der zentralen Deutungsbegriffe (wenngleich für unterschiedliche Phänomene) im deutschsprachigen öffentlichen Raum beschrieben werden, so gilt dies spätestens seit den 1960er Jahren nicht mehr. Als neuer Zentralbegriff muss nun „Säkularisierung“ gelten. Der Begriff „Säkularisierung“ beschreibt soziale Transformationsprozesse, im Speziellen das Autonomwerden von Religion und Politik. Erst seit dem späten 19. Jahrhundert wird damit zugleich ein geistesgeschichtlicher Prozess bezeichnet. Gegenwärtig gibt es konkurrierende Definitionen des Begriffs, die unter anderem durch seine Geschichte erklärbar sind. Gemeinsam ist allerdings allen Definitionsversuchen, dass sie unterschiedslos abhängig sind von einem jeweils vorausgesetzten Konzept von „Religion“. Säkularisierung kann etwa als Ablösung von „Religion“, als „Überwindung“ von Religion, als „Transformation“ religiöser Gehalte in nichtreligiöse verstanden werden, um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen. Welche messbaren oder genauer eingrenzbaren Vorgänge damit im engeren Sinn gemeint sind, muss jeweils aus dem vorausgesetzten Kontext erschlossen werden. Vorausgesetzt jedoch ist immer eine wie auch immer geartete Konzeption von „Religion“. Diese Abhängigkeit reicht so weit, dass, wie die sogenannte LöwithBlumenberg-Debatte zeigte, mit der Konzeption des Säkularen bzw. der Säkularität die „Legitimität der Neuzeit“ zugleich auf dem Spiel zu stehen schien.8 Denn im Kern geht es in allen Säkularisierungsdebatten um den Ort und den Stellenwert von „Religion“ in der westlichen Moderne, bzw. um den sozialen wie geistesgeschichtlichen Status eben dieser Moderne. Wenn davon ausgegangen wird, dass zentrale neuzeitliche Konzepte wie etwa Staatlichkeit subkutan als Säkularisate religiöser Ideen gelten müssen, dann wäre die Idee der Moderne im Kern selbst eine religiöse Idee. Und selbst wenn man nicht so weit geht, dies zu behaupten: Wenn

7 Ernst Troeltsch: Die Religion im deutschen Staate (1912), in: Ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Neudruck Aalen 1962, 68–90, hier: 70. 8 Vgl. nur Robert M. Wallace: Progress, Secularization and modernity: the Löwith-Blumenberg debate, in: New German Critique (1981): 63–79; Stephen A. Mcknight: The legitimacy of the modern age. The Löwith-Blumenberg debate in light of recent scholarship, in: The Political Science Reviewer 19 (1990), 177–196; Peter E. Gordon: Secularization, Genealogy, and the Legitimacy of the Modern Age. Remarks on the Löwith-Blumenberg Debate, in: Journal of the History of Ideas 80.1 (2019), 147–170; Sjoerd Griffioen: Secularization between Faith and Reason. Reinvestigating the Löwith-Blumenberg Debate, in: New German Critique 46.1 (2019), 71–101.

Theologie als Wissenschaft der „Religion“

es etwa zutreffen sollte, dass das moderne Geschichtsdenken sehr zentral auf der christlichen Eschatologie aufbaut9 – dann bietet das für Theologen einen Einsatzpunkt auf „säkulare“ Geschichtskonstrukte ihrerseits theologisch-eschatologisch zu antworten. Dies ist eines der grundlegenden Anliegen, das Pannenberg mit anderen Theologen (nicht nur) des 20. Jahrhunderts zwar teilt, aber mit besonderer Prominenz erneut in die deutschsprachige (und später auch englischsprachige) protestantische Theologie einbringen wird. Dies ist auch deswegen von Bedeutung, weil die Begriffe „Säkularität“ oder „Säkularisierung“ zunehmend selbst auch weltanschauliche Phänomene beschreiben – also religioide Strukturen.10 Es entsteht so etwas wie eine säkulare Lebensform, die ihrerseits funktional einer Religion vergleichbar ist. José Casanova hat in einem vergleichbaren Zusammenhang vom „Säkularismus“ als einer „politischen Ideologie“ gesprochen.11 Säkularität hat damit in jüngerer Zeit einen ähnlichen Status wie „Religion“ erlangt: Sie beschreibt nichtmehr eine Dynamik, sondern einen Zustand: Etwas, das es „gibt“, das für sich selbst etwas „ist“. Damit ist das Begriffsfeld um „Säkularisierung“ zu einem zentralen Deutungsbegriff (jedenfalls für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts) avanciert. Daneben steht eine weitere, für diesen Kontext relevante wissenschaftsgeschichtliche Bedeutungsdimension des Säkularisierungsbegriffs: Die akademischen Disziplinen gewinnen im Prozess der Herausbildung der westlichen Moderne zunehmend an Eigenständigkeit. Das betrifft die Theologien insofern, als sie durch ihre Situierung an staatlichen Universitäten den wissenschaftlichen, aber auch praktischen Implikationen der jeweiligen politischen Leitideologie zu folgen haben. Davon betroffen ist das wissenschaftliche Selbstverständnis, aber auch die wissenschaftliche Praxis: Im Hörsaal wird nicht gebetet. Die Wissenschaftlichkeit der deutschsprachigen protestantischen Theologie hängt nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend an ihrer (selbst verordneten) „Säkularität“12 . Auch hierauf reagiert Pannenberg.

9 Vgl. Matthias Hoesch: Säkularisierung, Eschatologie und Geschichte, in: Ders.: Vernunft und Vorsehung. Säkularisierte Eschatologie in Kants Religions- und Geschichtsphilosophie, Berlin/Boston 2014, 4–48. 10 Vgl. Charles Taylor: A Secular Age, Cambridge/MA; London 2007, besonders 505–593. 11 José Casanova: Säkularismus – Ideologie oder Staatskunst?, in: Transit 2010, 29–43. 12 Vgl. nur: Stefanie Rotermann: Wozu (noch) Theologie an Universitäten? Münster 2001; Norbert Mette: Theologie zwischen Universität und Kirche, in: Jahrbuch für Pädagogik 1 (2005), 235–248; Patrick Becker (Hg.): Die Theologie an der Universität. Eine Standortbestimmung, Münster 2005; Walter Homolka; Hans-Gert Pöttering (Hg.): Theologie(n) an der Universität. Akademische Herausforderung im säkularen Umfeld. Berlin u. a. 2013; Christoph Auffahrt u. a.: Zur Zukunft der Theologie in Kirche, Universität und Gesellschaft, Freiburg i. Br. 2017; Clemens Steinhilber: Theologie an staatlichen Universitäten – Relikt oder Modell? Förderung des freiheitlichen Staatsethos durch integrative Feindpolitik, Berlin 2018.

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Denn es wird vor diesem Hintergrund zu einer immer dringlicheren theologischen Kernaufgabe, die Demarkationslinie von „Religion“ bzw. „Glauben“ und „weltlichem“ (oder später: „säkularem“) Raum sowohl institutionell, wie auch sozial, wie aber auch wissenschaftstheoretisch und -politisch zu klären. Und das ist bezeichnend. Denn genau diese Demarkationslinie zeichnet sich bis heute – und heute vermehrt – durch eine konstitutive Unschärfe aus13 : Weder im 19. noch im 20. Jahrhundert, noch auch heute, kann als konsensfähig gelten, wo die Unterscheidung dieser Bereiche verläuft. Und es ist typisch für solche Grauzonen, dass sie normative Bearbeitungen geradezu provozieren.14 Das gilt in besonderer Weise auch für den Säkularisierungsbegriff. Denn genau wie „Religion“ ist auch der Begriff „Säkularisierung“ bzw. „Säkularität“ nicht allein ein normativer Begriff, sondern zugleich ein ‚pseudo-substantieller‘. Ich möchte von einer „pseudo-substantiellen“ Kategorie deshalb sprechen, weil auch dieser Begriff der Absicht nach ein Phänomen beschreibt, das es „gibt“, das fassbar sein soll, als Praxis oder Kommunikationsform, dem aber zugleich eine ideale Dimension eignet: Um das Säkulare als solches auszuweisen, muss „Säkularität“ vorgängig beschrieben und lokalisiert werden. Diese Festschreibung – oder Reifizierung – ist selbst ein Deutungsvorgang, der aber zugleich das intendierte Phänomen mit hervorbringt. Auf der einen Seite wird Messbares beschrieben und gedeutet; der Prozess selbst aber, sobald er von seinem juridisch-politisch-ekklesialen Hintergrund gelöst wird, scheint genau dadurch eine Eigendynamik zu entfalten, die ihn selbst zum geschichtlichen Agenten werden lässt. „Pseudo-substantiell“ hat noch eine weitere Dimension: Die notorische Unschärfe der Demarkationslinien von „Religion“ und „Säkular“ oder „Säkularem“ setzt im gleichen Zug Epizentren der Phänomene voraus. Im Zuge der beschriebenen Reifizierung erhalten beide Phänomene bzw. Vorgänge nicht nur eine Pseudostruktur sondern auch einen Pseudoort, gesellschaftlich wie individuell. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht erstaunlich, dass „Säkularisierung“ und „Religion“ nicht nur nicht voneinander zu trennen sind, sondern zugleich auch einander ablösende Deutungskategorien der westlichen Moderne zu sein scheinen. Aus heutiger Perspektive erscheint „Säkularisierung“, zumindest in starker und normativer Verwendung, als historischer bzw. epochaler Begriff. Mit der Schwelle

13 Nicht zu Unrecht hat daher Georg Pfleiderer von „Säkularisierung“ als einem der spezifisch. kulturwissenschaftlichen „Schwellenbegriffe“ gesprochen, vgl. Georg Pfleiderer: „Säkularisierung“. Systematisch-theologische Überlegungen zur Aktualität eines überholten Begriffs, in: PrTh 37 (2002), 2, 130–153, hier: 130. 14 Unklar scheint mir, ob deswegen „Säkularisierung“ als „Kampfbegriff “ verstanden werden muss, vgl. Friedrich Wilhelm Graf: „Dechristianisierung“. Zur Problemgeschichte eines kulturpolitischen Topos, in: Hartmut Lehmann (Hg.): Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 1997, 32–66, hier: 34.

Theologie als Wissenschaft der „Religion“

zum 21. Jahrhundert scheinen neue Deutungstrends aufgekommen zu sein, die wahlweise von einer Rück- oder Wiederkehr der „Religion“ bzw. der „Religionen“ ausgehen, von deren (weiterer) Transformation, oder aber auch von einem „Postsäkularen“ Zeitalter.15 Damit ist nicht so sehr ein phänomenaler Befund gemeint: Es gibt nicht plötzlich „mehr“ „Religion“ oder „Religionen“. Vielmehr handelt es sich um einen Bewusstseinswandel bei solchen Denkerinnen und Denkern, die vormals die „Religion“ bereits im Sterbebett glaubten. Ausschlaggebend, jedenfalls für die öffentliche Wahrnehmung, mögen hier die Ereignisse um 09/11 im Jahr 2001 gewesen sein. So gesehen lässt sich „Säkularisierung“ als Kontext und Thema protestantischer Theologien präziser eingrenzen als Deutungsperspektive für den Zeitraum zwischen 1945 und ca. 2000.16 Im Nachgang ist im 21. Jahrhundert mehrheitlich „postsäkular“ der zentrale Deutungsbegriff. „Säkularisierung“ ist als Epochenbezeichnung ein religionsgeschichtlicher Begriff. Er lässt sich aber nicht sinnvoll auf die Zeit unmittelbar nach 1945 anwenden. In der katastrophalen Lage nach Kriegsende kam den protestantischen Kirchen eine Sonderrolle zu:17 Sie genossen das besondere Vertrauen der alliierten Besatzer und ihnen wurde das Recht zugestanden, die „Entnazifizierun“ selbst vorzunehmen. Ein Grund dafür war die Vorstellung, dass starke evangelische Kirchen einen wesentlichen Beitrag zur „mentalen Entnazifizierung“ der Bevölkerung würden leisten können. Während es den evangelischen Landeskirchen gelang, einen substantiellen Beitrag zur Linderung der materiellen Not der Bevölkerung zu leisten, kann über die Resultate der „Entnazifizierun“ sowohl in den eigenen Reihen der Kirchen als auch im Blick auf das gesellschaftliche Bewusstsein zu Recht gestritten werden.18 15 Als „Trendsetter“ in dieser Debatte kann vielleicht, jedenfalls im Blick auf die öffentliche Wirkung, Jürgen Habermas gelten, vgl. ders.: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a. M. 2001. Hierbei können „Glaube“ und „Wisse“ als Platzhalter für die mit „Religio“ und „Säkularitä“ bezeichneten Bereiche und Praktiken gelten. Vgl. dazu Martin Laube: Christentum und „postsäkulare“ Gesellschaft. Theologische Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 106 (2009), 458–476; Friedrich Johannsen (Hg.): Postsäkular? Religion im Zusammenhang gesellschaftlicher Transformationsprozesse, Stuttgart u. a. 2010; Martin Endreß: „Postsäkulare Kultur “? Max Webers Soziologie und Habermas´ Beitrag zur De -Säkularisierungsthese, in: Agathe Bienfait (Hg.): Religionen verstehen. Wiesbaden 2011, 123–149. 16 Zur Plausibilität einer solchen Periodisierung vgl. Lucian Hölscher: Kirche im Zeitalter der Säkularisierung, in: ZEE 52 (2008), 5–11. 17 Vgl. Andreas Gestrich: Gesellschaftliche Herausforderungen, in: Siegfried Hermle; Harry Oelke (Hg.): Protestantismus in der Nachkriegszeit (1945–1961), Leipzig 2021, 56–77 (Lit!). 18 Vgl. Clemens Vollnhals: Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945–1949. Die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit (Studien zur Zeitgeschichte 36), Berlin; Boston 1989; Martin Greschat: Die evangelische Christenheit und die deutsche Geschichte nach 1945. Weichenstellungen in der Nachkriegszeit, Stuttgart 2003.

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Aber: Das Projekt einer „Rechristianisierung“ Deutschlands schien zunächst Früchte zu tragen. Bis in die 1960er Jahre hinein erfreuten sich die evangelischen Landeskirchen im Westen Deutschlands grosser Beliebtheit. Noch Ende der 1960er Jahre waren 95% der Bevölkerung im Westen Mitglied einer christlichen Kirche. Der theologische Umgang mit dem Thema „Säkularismus“ bzw. „Säkularisierung“ muss für diesen Zeitraum im Kontext einer solchen „Stunde der Kirche“ gesehen werden. „Rechristianisierung“ – der Bevölkerung wie des Staats – war einer der „Kampfbegriffe“19 evangelischer Theologen. Die politische Religion des Nationalsozialismus, diese „Weltanschauung“, konnte in diesem Kontext rückblickend als Spielart des „Säkularismus“ und der Entchristlichung verstanden werden.20 Besonders standen für die Kirchen Themenfelder wie „Familie“ und „Jugend“ im Fokus – also solche Bereiche, die auch im Nationalsozialismus entsprechend ideologisch wie praktisch aufgeladen worden waren. Insbesondere die Jugend galt als moralisch gefährdet – und sie entfernte sich zunehmend von den Kirchen, wenngleich Jugendorganisationen wie der CVJM zunächst guten Zulauf hatten. Auf den seit 1949 wieder eingeführten Kirchentagen standen neben den neben den genannten Themen zudem wirtschaftlich-soziale Aspekte regelmässig zur Debatte. Entsprechende „evangelisch-soziale“ Arbeitskreise bildeten sich in den Kirchen bzw. den kirchennahen Parteien.21 Erst in der Mitte der 1960er Jahre kam es sozial- und kirchengeschichtlich gesehen zu jenen sozialen Umwälzungen, die als „Säkularisierung“ angesprochen werden können – mit einem gewissen Höhepunkt zwischen Mitte der 1960er und 1970er Jahre. Hatten die Kirchen beider Konfessionen in der Nachkriegszeit relativ großen sozialen und besonders auch politischen Einfluss in der Bundesrepublik, so wandelt sich dies nun rapide. Zwischen 1965 und 1975 gibt es einen massiven Einbruch der Mitgliederzahlen und des Gottesdienstbesuchs, insbesondere bei jüngeren Menschen zwischen 16 und 29 Jahren. Nach 1975 geht der Rückgang kontinuierlich weiter, aber in gemäßigtem Tempo. Es bieten sich unterschiedliche Erklärungsansätze dafür an. Der wirtschaftliche Aufschwung brachte vermehrte und andere Freizeitmöglichkeiten mit sich. Zugleich wurde dieser Aufschwung von einem allgemeinen Anstieg des Bildungsniveaus und von einem Wertewandel begleitet, der etwa das traditionelle Familienmodell der bürgerlichen Kleinfamilie in Frage stellte, und zudem einen Wandel

19 Hartmut Lehmann: Von der Erforschung der Säkularisierung zur Erforschung von Prozessen der Dechristianisierung und der Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, in: Ders. (Hg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, Göttingen 1997, 9–16. 20 Vgl. Martin Greschat, Evangelische Christenheit, 311. 21 Vgl. Klaus Fitschen: Christliche Milieus und Gruppen, in: Siegfried Hermle; Harry Oelke (Hg.): Protestantismus in der Nachkriegszeit (1945–1961), 101–122.

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weg von materiellen hin zu postmateriellen und individualistischen Werten brachte (Selbstbestimmung, Autonomie).22 Unklar ist, ob diese Entwicklungen mit dem Begriff der „Säkularisierung“ hinreichend beschrieben sind. Denn zum einen deuteten manche Sozialhistoriker bzw. Soziologen diesen Prozess nicht als „Säkularisierung“ sondern als „Individualisierung“: Zwar hätten sich diejenigen christlich-religiösen Praktiken verändert, die die institutionell-grosskirchliche Religiosität betreffen. Dieser Wandel sei aber nicht als Verlust zu verstehen, sondern als Transformation: Weg von kollektiven, institutionell verfassten Frömmigkeitsstilen hin zu individualisierten. Bekannt geworden und für Pannenberg relevant ist die Rede von der „unsichtbaren Religion“ seit Beginn der 1990er Jahre.23 Zum anderen muss ein Thema erwähnt werden, dass in der geläufigen akademischen Theologie- und Kirchengeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts gerne vergessen geht: Seit den 1950er Jahren kam es in Deutschland, aber auch der Schweiz, zu einem Erstarken „evangelikaler“ Gruppen und Verbände. Parallel zu den etablierten landeskirchlichen Strukturen entwickelte sich ein neues Netzwerk paralleler kirchlicher Strukturen und Institutionen, mit einem eigenen Bildungswesen, eigenen Dachverbänden, eigenen Frömmigkeitsformen. Das Phänomen ist nicht neu und in Deutschland und der Schweiz haben pietistische und erweckliche Gruppen und Kirchen eine lange Tradition. Nach 1945 allerdings ergab sich auch in diesem Feld eine neue Dynamik, die erst in sehr junger Zeit eine gewisse akademische Aufmerksamkeit erfährt.24 Einen ersten Einblick in diese Thematik bietet die Geschichte der Evangelischen Allianz, die bereits 1851 gegründet wurde, aber im Nachkriegsdeutschland eine besondere Dynamik entfaltete, da sie sich mit den amerikanischen „New Evangelicals“ verbinden konnte und sehr aktiv ein 22 „Die in den 1960er Jahren ablaufenden Veränderungen betrafen alle gesellschaftlichen Bereiche, die Ökonomie wie die Politik, die massenmediale Öffentlichkeit wie die Literatur und Kunst, ebenso aber auch den ganzen Bereich der Alltagskultur und der Formen des familiären Zusammenlebens, den Lebensstil, das Konsumverhalten, die Geschlechterverhältnisse und die Sexualität.“, Detlef Pollack: Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in den 1960er Jahren, in: Claudia Lepp u. a. (Hg.): Religion und Lebensführung im Umbruch der langen 1960er Jahre. Göttingen 2016: 31–63, hier: 44. 23 Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 1991. 24 Vgl. Werner Beyer (Hg.): Einheit in der Vielfalt. Aus 150 Jahren Evangelischer Allianz, Wuppertal; Zürich 1995; Reinhard Scheerer: Bekennende Christen in den evangelischen Kirchen Deutschlands 1966–1991. Geschichte und Gestalt eines konservativ-evangelikalen Aufbruchs, Frankfurt a. M. 1997; Friedhelm Jung: Die deutsche evangelikale Bewegung. Grundlinien ihrer Geschichte und Theologie, Bonn 2001; Stephan Holthaus: Fundamentalismus in Deutschland: Der Kampf um die Bibel im Protestantismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Bonn 2003; Gisa Bauer: Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland: Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945 bis 1989), Göttingen 2012; Jörg Breitschwerdt: Theologisch konservativ. Studien zu Genese und Anliegen der evangelikalen Bewegung in Deutschland, Göttingen 2019; Thorsten Dietz: Menschen mit Mission. Eine Landkarte der evangelikalen Welt, Witten 2022.

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ganz eigenes Programm der „Rechristianisierung“ in Deutschland, aber auch der Schweiz betrieb.25 Zentrale Dokumente, die den internationalen Charakter der Bewegung unterstreichen sind etwa die Lausanner Verpflichtung von 1974 und das Manila Manifest von 1989. Ob Säkularisierung, Individualisierung oder Transformation – wie auch immer der Wandel beschrieben wird, der die etablierten landeskirchlichen Institutionen betraf und weiterhin betrifft, so ist doch seine Bedeutung für die akademischen evangelischen Theologien unbestreitbar. „Säkularisierung“ ist nicht nur der Kontext, sondern auch ein wesentliches Thema evangelischer Theologien nach 1945. Als unmittelbare Reaktion auf die politische Religion des Nationalsozialismus und die damit einhergehende Sakralisierung des Politischen kann das Buch Friedrich Gogartens „Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit“ von 1953 gelten. Gogarten stellt darin auch begrifflich die Weichen für wesentliche theologische Debatten der Nachkriegszeit. Theologisch wird hier die „Säkularisierung“ als christologisch vermittelte Freiheit gegenüber der Welt verstanden. Es ist die Aufgabe des christlichen Glaubens, die „Weltlichkeit“ der Welt beständig bewusst zu halten. Hier wird folglich die beständige Aushandlung der Demarkationslinie von „Religion“ und „Welt“ zur Aufgabe der Religion selbst bestimmt. Damit verbunden ist eine kritische Invektive gegen die Sakralisierung des Politischen. Gogarten identifiziert den „Säkularismus“ als Ideologie, die die religiöse Überhöhung der Welt forciere. Aufgabe des christlichen Glaubens ist also, präziser, beständige Arbeit an der Entsakralisierung der Welt. Rudolf Bultmanns Programm der „Entmythologisierung“ kann seinerseits als wissenschafts- bzw. theologietheoretische Variation auf die „Säkularisierung“ der Theologie selbst verstanden werden. Die Forderung, die Theologie radikal auf die historische Methode festzulegen wurde in den Kirchen selbst äusserst kritisch aufgenommen. Namentlich die Debatten um Bultmanns Theologie führten zu einem nachhaltigen Bruch zwischen evangelikaler Bewegung und Landeskirchen, die – auf der Grundlage der Barmer Theologischen Erklärung – in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch relativ eng miteinander verbunden gewesen waren. Andererseits ist Bultmanns Programmatik ihrerseits nicht frei von metaphysischen Vorannahmen – in diesem Fall existentialanthropologischen. Der Theologie sei es im Besonderen darum zu tun, eine Hermeneutik menschlichen Selbstverständnisses zu erarbeiten und deren existentiale Strukturen freizulegen, um so die grundlegenden Sinngehalte der biblischen Überlieferung auf neue Weise zugänglich zu machen.

25 Vgl. Reinhard Hempelmann (Hg.): Handbuch der evangelistisch-missionarischen Werke, Einrichtungen und Gemeinden, Stuttgart 1997, 134ff.

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Den unmittelbaren Kontext der Ausführungen Pannenbergs zum Wissenschaftscharakter der Theologie bildet aber sicherlich in Teilen die Theologie bzw. Christentumstheorie Trutz Rendtorffs. Für Rendtorffs Theologie ist der Anspruch auf interdisziplinäre Öffnung der Theologie zentral, die zugleich mit dem Anliegen verbunden ist, wesentliche kulturprotestantische Anliegen als methodischen Schlüssel zum Verständnis des Christentums in der modernen Gesellschaft jenseits von „Kirchensoziologie“ und „Unsichtbarer Religion“ zu verwenden. Dabei geht es im Kern darum, der Säkularisierungsthese eine Alternativerzählung gegenüberzustellen, die zentral von der Annahme ausgeht, die „Gesellschaft“ sei fundamental christlich geprägt. Dem Aufweis dieser Christlichkeit sind zahlreiche Einzelstudien gewidmet, die auch ihrerseits kirchenpolitisch fruchtbar gemacht werden. Rendtorff ist nicht unbedingt schulbildend gewesen, zumindest nicht im Sinne einer systematischen Schülerschaft. Seine Programmatik hingegen prägte in manchen Teilen theologische wie kirchenpolitische Argumentationsstrategien in den 1970er bis 1990er Jahren.26 1.3 Pannenberg im Kontext der Säkularisierungsdebatte Für Pannenbergs Reaktion auf die Säkularisierungsdebatte ist die Rückgewinnung des theologischen Geschichtsdenkens zentral; auf diesem Weg schien zum einen die Entwicklung (oder Wiederherstellung) einer Alternativerzählung zur Genese der westlichen Moderne möglich, zugleich aber erlaubte die Hinwendung zur Eschatologie auch die Entwicklung einer neuen, für sein Werk zentralen religionsund wahrheitstheoretischen Konzeption. Diese Neugestaltung der protestantischen Theologie ist (auch) ein direktes Erfordernis der gesellschaftlichen Transforma-

26 Vgl. Trutz Rendtorff: Säkularisierung als theologisches Problem, in: NZSTh 4 (1962), 318–339; Ders.: Zur Säkularisierungsproblematik. Über die Weiterentwicklung der Kirchensoziologie zur Religionssoziologie, in: Internationales Jahrbuch für Religionssoziologie 2 (1966), 51–72; Ders.: Von der Kirchensoziologie zur Soziologie des Christentums. Über die soziologische Funktion der „Säkularisierung“, in: Ders.: Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung, Gütersloh 1972, 116–139; Ders.: Christentum ohne Kirche? Zur Überwindung einer falschen Alternative, in: Ders., Theorie des Christentums, 140–149; Ders.: Gesellschaft ohne Religion? Theologische Aspekte einer sozialtheoretischen Kontroverse (Luhmann/Habermas), München 1975; Ders.: Religion – Umwelt der Gesellschaft. Theoretische Voraussetzungen der Deutung des empirischen Verständnisses von Kirche und Gesellschaft, in: Joachim Matthes (Hg.): Erneuerung der Kirche – Stabilität als Chance? Folgerungen aus einer Umfrage, Gelnhausen 1975, 57–81;, 147; vgl. zu Rendtorff: Martin Laube: Das Subjekt der Freiheit. Trutz Rendtorffs theologische Rekonstruktion der Habermas/Luhmann-Debatte, in: Roderich Barth u. a. (Hg.), Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne, Frankfurt a. M. 2005, 403–418; Ders.: Theologie und neuzeitliches Christentum. Studien zu Genese und Profil der Christentumstheorie Trutz Rendtorffs, Tübingen 2006.

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tionen der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Denn mit dem als „Säkularisierung“ beschriebenen Transformationsprozess steht neben der Öffentlichkeitsbedeutung der „Religion“ sowie der Kirchen als Institutionen auch die Plausibilität der Theologie als akademischer Disziplin erneut und auf ganz neue Weise in Frage. Nun geht es nicht mehr nur um ihre wissenschaftliche Haltbarkeit, sondern auch um die Frage ihrer gesellschaftlichen Relevanz überhaupt. Pannenberg bewertet nicht alle im Zusammenhang der Säkularisierungsdebatten verhandelten Transformationsprozesse als prinzipientheoretische Herausforderungen – auch nicht deren Konsequenzen. So kann ein „Christentum ohne Kirche“27 aus Pannenbergs Perspektive durchaus existieren. „Abstufungen der Kirchlichkeit“28 seien seit dem 4. Jahrhundert sogar die Regel gewesen. Dennoch sei die „spezifisch neuzeitliche Form eines unkirchlichen Christentums“ ihrerseits eine unmittelbare Folge der (wie oben beschrieben) mit der konfessionellen Spaltung einhergehenden Säkularisierungs- bzw. Ausdifferenzierungsprozesse. Als besonderen Katalysator beschreibt Pannenberg in diesem Zusammenhang „die neupietistische Erweckungsbewegung“, die im 19. Jahrhundert „mit ihrer Frömmigkeit zur Herrschaft gelangt“29 sei und damit die kirchliche Beheimatung vieler Menschen

27 Wolfhart Pannenberg: Christentum ohne Kirche?, in: Ders.: Ethik und Ekklesiologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977, 187–199 (Titel über Aufsatz in Originalveröffentlichung: Christsein ohne Kirche). Pannenberg führt hier eine Argumentation ins Feld, die auch gegenwärtig noch teils vertreten wird: Zwar seien die Zahlen betreffend Gottesdienstbesuchen niedrig; gleichwohl würden weiterhin Kasualfeiern von Kirchenmitgliedern in ungeminderter Frequenz in Anspruch genommen: „Von Zeit zu Zeit wird der christliche Leser der Tagespresse aufgeschreckt durch Nachrichten über den niedrigen Stand des Kirchenbesuchs, Nachrichten, die anzukündigen scheinen, daß es mit dem Christentum in unserer Gesellschaft bergab geht. Nur 15 %o der Protestanten gehen sonntags regelmßig zur Kirche und neuerdings in bundesdeutschen Großstädten auch nur noch 25 % der Katholiken. Solche Nachrichten geben dann auch immer wieder denjenigen Stimmen Auftrieb, die die volkskirchliche Organisation unserer Kirchen mit Kindertaufe und Kirchensteuer für einen unaufrichtigen Zustand halten und fordern, die Kirchen sollten sich zu Freiwilligkeitskirchen wandeln, denen nur noch die wirklich engagierten Christen angehören. Solche Forderungen gehen an der Tatsache vorbei, daß die 75–85 % der Christen, die nicht regelmäßig zur Kirche gehen, dennoch ihre Kinder taufen und konfirmieren lassen, die kirchliche Trauung in Anspruch nehmen und ein christliches Begräbnis wünschen, sowie schließlich auch die Last ihrer Kirchensteuern tragen.“ (a. a. O., 187) Tatsächlich ist es fraglich, ob Gottesdienstbesuche, insbesondere im Blick auf die protestantischen Kirchen, in gutes Indiz für die „Kirchlichkeit“ ihrer Mitglieder sind. Allerdings ist im Rückblick nach 50 Jahren auch das von Pannenberg ins Feld geführte Argument nicht mehr unmittelbar in Geltung: Nicht nur die Mitgliederzahlen, sondern auch die Frequenz von Kasualfeiern der Mitglieder sind im Rücklauf begriffen. Aus der Rückschau wirkt die in ihrer Zeit durchaus innovative Argumentation daher wie ein Rückzugsgefecht. 28 A. a. O., 188. Dieser Begriff stammt aus der Zeit der frühen ‚Säkularisierungsdebatten‘ in der Kulturkampfzeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 29 A. a. O., 189.

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nachhaltig geschädigt habe.30 Diese Beobachtung steht aus heutiger Perspektive vielleicht konträr zu anders lautenden Deutungen, erklärt sich aber aus Pannenbergs Kirchenverständnis. Gleichwohl plädiert Pannenberg, und das ist die implizite normative Pointe seiner Argumentation, dafür, dass nur ein kirchlich (gemeint ist: insbesondere: großkirchlich-institutionell) organisiertes Christentum die Vollgestalt der christlichen Religion verwirklichen könne. Im Rahmen seiner Argumentation gestaltet sich dieses Thema in der Form einer bleibenden „Angewiesenheit auf die Kirche“31 , die auch für das „unkirchliche Christentum“ in Geltung stehe, und zwar besonders im Blick auf den Fortbestand der christlichen Tradition sowie (dies ist das im engeren Sinne religiöse Argument) hinsichtlich der „Bewältigung der Grenzsituationen des Lebens“32 : „Bei Geburt und Tod, beim Schritt aus der Kindheit in ein geistig selbständiges Dasein und bei der Eheschließung sucht darum auch der sonst außerhalb der Kirche stehende Christ die symbolische Verbindung mit einem in Gott gegründeten Lebenszusammenhang.“33 Damit verbinden sich mehrere Argumentationsebenen: die anthroplogische, die religiös-kulturelle wie auch die institutionelle. Die letztgenannte Hinsicht betrifft auch den Fortbestand der theologischen Fakultäten, der seinerseits mit der Existenz des volkskirchlichen Kirchenmodells verwoben scheint.34 Selbst „der vornehmlich an der allgemeinmenschlichen Wahrheit des christlichen Glaubens … interessierte Christ“ habe „in der Sache einen

30 Ich bin persönlich unsicher, ob diese These historisch haltbar ist. Mir scheint es eher der Fall zu sein, dass insbesondere die pietistischen Gruppen und Theologien es waren, die in jener Zeit an der ‚Weltlichkeit‘ des Christentums, an Gemeinschaftlichkeit, Weltdeutung und Weltgestaltung dezidiert festgehalten und damit ihrerseits einen gewichtigen Beitrag zur Modernisierungsgeschichte der Theologien und Kirchen geleistet haben. Sollte diese Einschätzung stimmen, wären gerade die kirchlichen ‚Gegner‘ Pannenbergs seine heimlichen Verbündeten – wenngleich auch in anderer argumentativer Gestalt, als ihm lieb gewesen wäre. 31 A. a. O., 190. 32 Ebd. Besonders dieser letztere Punkt scheint aus gegenwärtiger Perspektive ebenfalls nicht mehr plausibilisierbar. Längst ist ein Markt für individuell und „frei“ gestaltete „rites de passage“ entstanden, an dem sogar Kirchenprofessionelle sich beginnen zu beteiligen. Der Gedanke, dass in einem solchen ‚Kasualmarkt‘ nicht dasselbe geleistet werden könne, wie durch die Kirchen, mag theologisch-normativ einleuchten, ist aber selbst von so vielen Voraussetzungen abhängig (namentlich einem christlich-normativen Menschenbild), dass er öffentlich kaum plausibilisierbar erscheint. 33 A. a. O., 195. 34 Es ist m. E. unentschieden, ob kirchliche oder sonstige „freie“ Ausbildungsinstitute nicht ebenfalls den Fortbestand der christlichen Tradition gewährleisten könnten. Fraglich scheint mir eher welche Form der Tradition hier im Blick ist. Dies wäre eine normative Frage, die im Blick auf den Begriff der Theologie diskutiert werden müsste.

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Bundesgenossen an der Theologie“35 – sofern eben die Theologie auf die „Wahrheit“ und „das menschliche Allgemeingültige“36 ausgerichtet werde und dafür auf eine wissenschaftlich gesicherte Form der Tradition zurückgreifen könne. In Frage steht folglich mit der Fortexistenz der theologischen Fakultäten an öffentlichen Universitäten zugleich die Transformation der Theologie zur Sicherung ihrer religiösen, kirchlich-institutionellen wie auch besonders ihrer gesellschaftlich-öffentlichen Plausibilität. Auf der anderen Seite garantiere die Existenz der Kirche(n) innerhalb der Gesellschaft die Präsenz einer zumindest ideell auf die Repräsentation des Reiches Gottes bezogenen Gemeinschaft innerhalb der säkularen Kultur.37 Mit dieser Hinsicht erhält Pannenbergs Argumentation eine politisch-ethische Dimension. Auch der säkulare Staat bedarf in dieser Perspektive der institutionellen Präsenz der Kirche als idealer Repräsentantin seines geistlich-idealen Fundaments. Nur weil die Kirchen das Reich Gottes nur mangelhaft verkörpern und repräsentieren, aufgrund der „Unglaubwürdigkeit der konfessionell gespaltenen Kirchen mit ihren einander ausschließenden Ansprüchen, die eine Kirche Christi zu verkörpern“38 habe sich ein „individualistisches Christentum“39 außerhalb derselben überhaupt etablieren können. In anderen Worten: Die Einheit der „Religion“ bzw. in diesem Fall des christlichen Glaubens, bedarf einer einheitlichen institutionellen Repräsentation. Nur unter diesen Bedingungen kann sie ihrer Funktion gerecht werden, die Einheit des gesellschaftlich-kulturellen Lebens innerhalb einer säkularen Kultur zu repräsentieren und praktisch-symbolisch zu verkörpern. Gerade eine säkulare Kultur und eine säkulare Staatlichkeit bedürfen einer solchen Institution wenn anders die Legitimität kultureller und staatlicher Institutionen wie auch der sie tragenden Moral gewährleistet sein soll. Hinsichtlich der Theologie als akademischer Reflexionsgestalt der christlichen Religion bedeutet dies, dass ihr normatives Ziel in der Begründung und Darstellung der „allgemeinmenschlichen Wahrheit“ des christlichen Glaubens (‚nach außen‘) wie in der Wiederherstellung der Einheit der Kirchen (‚nach innen‘) bestehen muss. Auch aus der Rückschau, gegen Ende der 1980er Jahre, stellt sich für Pannenberg die Situation in vergleichbarer Weise dar: „Christentum in einer säkularisierten Welt“, das 1988 erschien, ist eine gegenwartsdiagnostische Fortsetzung der vorherigen Argumente in revisionistischer Absicht. Nicht weniger als eine Rekonstruktion der geistesgeschichtlichen Grundlagen der Moderne steht damit im Vordergrund 35 36 37 38 39

A. a. O., 193. Ebd. Vgl. A. a. O., 194. A. a. O., 199. A. a. O., 195.

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dieser Schrift. Auf der einen Seite schien Pannenberg zu hoffen, dass die Säkularisierungsdebatte zugunsten einer klarer theologischen Deutungsbegrifflichkeit verschwinden würde.40 Auf der anderen Seite wollte er den Gedanken einer zumindest noch subkutan als „christlich“ ansprechbaren öffentlichen Kultur auch zu diesem Zeitpunkt nicht aufgeben. Damit steht auch fest, dass sein Hauptopponent in der Deutung der Gegenwart die Blumenberg’sche Konzeption der Genese der Moderne sein muss – die er selbst als eine subkutan theologische Erzählung entlarvt.41 Pannenbergs Gegenerzählung sieht die Konfessionskriege insbesondere des 17. Jahrhunderts als Entdeckungszusammenhangs eines neuartigen integralen Verständnisses des Verhältnisses von Staat und Religion.42 Die modernen westlichen Demokratien mit den Menschenrechten als ihrem zivilreligiösen Kernelement, seien dagegen ihrerseits als „politische Religionen“43 zu interpretieren, die in ihrem Zentrum bereits den modernen „Atheismus“44 mit sich führten. Weder Reformation, noch Renaissance, noch schliesslich eine mutmassliche „Auflehnung“ der Menschen gegen den christlichen Gott hätten die säkulare Moderne begründet, sondern vielmehr die im Zusammenhang der Konfessionskriege herausgebildeten Verhältnisbestimmungen von Religion, Öffentlichkeit und Staat. Zwar gehöre die Unterscheidung von „Welt“ und „Religion“ bzw. „Kirche“ und „Staat“ bereits zum ursprünglichen Wesen des christlichen Glaubens selbst.45 Ein vollständig ‚autonomes‘ Selbstverständnis der staatlichen Ordnung und ihrer Institutionen (etwa des Erziehungswesens) sei allerdings ein Produkt erst des 17. Jahrhunderts und habe, spezifisch im 20. Jahrhundert, zu einem immensen Verlust an historischem und religiös-kulturellem Wissen geführt.46 Eine Konsequenz davon sei etwa die Entfesselung der Ökonomie und deren Aufstieg zum gesellschaftlichen Leitsystem, und damit einhergehend die Kommerzialisierung des kulturellen Lebens – und schliesslich der Religion selbst. Einen Ausweg aus einer scheinbar unaufhaltsam fortschreitenden Tendenz zum öffentlichen Bedeutungsverlust der Religion sieht Pannenberg in der theologischen Aneignung des Sinnbegriffs, wie er ihn bei Peter L. Berger formuliert findet.47 Diesen hatte er in seiner „Anthropologie“ nun ausführlicher entwickelt (s. u. 2.2).

40 Wolfhart Pannenberg: Christianity in a Secularized World London 1989 (Deutsch: Freiburg i. Br. 1988), viii. 41 Vgl. a. a. O., 6f. 42 Vgl. a. a. O., 14. 43 A. a. O., 15. 44 A. a. O., 16. 45 Vgl. a. a. O., 23. 46 Vgl. a. a. O., 26. 47 Vgl. a. a. O., 29f.

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Die im Zuge der „Säkularisierung“ entstandene „Heimatlosigkeit“ des Bewusstseins führe zu Erfahrungen der Frustration, da weder die Integration der persönlichen Biographie noch der Komplexität des gesellschaftlichen Lebens, noch fundamentalmoralische Grundsatzentscheidungen durch das öffentliche Prozedieren säkularer Kommunikation geleistet würden. Der Sinnverlust auf individueller wie öffentlicher Ebene sei das eigentliche Problem der säkularen Kultur und damit auch die Signatur der westlichen Moderne. Damit verbunden seien in direkter Konsequenz die Delegitimierung öffentlicher Institutionen, traditioneller Moral und der Observanz der öffentlichen Gesetze, sowie die Beschädigung oder gar der Verlust individueller Orientierungs- und Sinnstiftungsmöglichkeiten.48 Der Gewinn an individuellen Freiheiten wiege diese Verluste keinesfalls auf. In der Pflicht sieht Pannenberg damit allerdings nun nicht in erster Linie die Kirchen, sondern die Politik – und damit indirekt auch die Theologie. Diese stehe, wie die kirchlichen Amtspersonen, in der Spannung zwischen Opposition gegen und Assimilation an die säkulare Kultur. Einen Mittelweg sieht Pannenberg in der durchgehend rationalen Gestaltung der Theologie, mit dem Ziel, die überlieferten christlichen Wahrheitsgehalte in neuer Form verstehbar zu machen.49 Nur auf diesem Weg seien traditionelle Gehalte der christlichen Überlieferung auch gesellschaftlich-öffentlich noch in ihren Sinnstiftungsmöglichkeiten plausibilisierbar. Speziell sind dabei im Blick die Lehrinhalte der Auferstehung Jesu, des trinitarischen Gottesbildes und die Inkarnationslehre; kritisiert wird ein Großteil der theologischen Strömungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: die Tod-Gottes-Theologie, Programme der Ent- oder Remythologisierung50 , die feministische Theiologie und die Befreiungstheologie. Der geforderte Mittelweg dürfe allerdings nicht der Versuchung anheimfallen, eine irrationale Gegenwelt aufzubauen, in die die Menschen angesichts der Sinnleere der säkularen Welt gleichsam „flüchten“ könnten. Vielmehr müsse die spirituelle Heimatlosigkeit ihrerseits theologisch gedeutet und eingebettet werden. Hierfür müsse die traditionelle rationale Dimension der christlichen Theologie wiederbelebt und neu gestaltet werden. Dies könne aber, um wirkmächtig zu sein, nur ökumenisch geschehen.

48 Vgl. a. a. O., 33–38. 49 Vgl. a. a. O., 46f. 50 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Christentum und Mythos“ findet sich etwa in der gleichnamigen 1972 veröffentlichten Studie, Wolfhart Pannenberg: Christentum und Mythos. Späthorizonte des Mythos in biblischer und christlicher Überliferung, Gütersloh 1972 (Zuerst erschienen in: Terror und Spiel, Probleme der Mythenrezeption [Poetik und Hermeneutik IV], hrsg. von H. Fuhrmann, 1971, 473–525) Hierin ist einerseits die Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann zentral; diese wird aber andererseits im Medium einer historischen und sachlichen Auseinandersetzung mit Begriff und Thema des Mythos insgesamt geführt.

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Dass Pannenbergs Zeitdiagnose mit einem Appell an die Theologie und der Suche nach neuen bzw. alten Formen der Rationalität endet, ist, wie gesehen, kein Zufall. Denn am Ende steht und fällt für ihn die Öffentlichkeitsbedeutung der (christlichen) „Religion“ wie der Kirchen als institutioneller Trägerinnen von Sinnstiftungsmöglichkeiten wie der Legitimität zentraler Werte im Kontext der deutschsprachigen Moderne der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Fähigkeit der Theologie, die zentralen Gehalte der christlichen Überlieferung in einer Weise zu reformulieren, die auch für das säkulare oder atheistische Selbstverständnis der gesellschaftlichen Öffentlichkeit nicht nur plausibel, sondern auch überzeugend ist. Dies ist die Situation, in der Wolfhart Pannenberg beginnt, seine theologischen Hauptwerke zu schreiben und seine Ausführungen zu „Religion“ und „Theologie“ müssen auch in diesem Kontext verstanden werden.

2.

„Religion“ als theologischer Grundbegriff: Pannenbergs Religionsbegriff nach WuTh im Kontext

2.1 Wissenssystematische Einordnung des Religionsbegriffs „Wissenschaftstheorie und Theologie“ ist, was den Religions- und Theologiebegriff betrifft, eines der Hauptwerke Wolfhart Pannenbergs. Ich möchte kurz die entsprechenden Ausführungen in Erinnerung rufen. In WuTh ordnet Pannenberg die Theologie den hermeneutischen, verstehenden Wissenschaften zu. Spezifisch hat es die Theologie mit dem Verstehen von Sinn zu tun, also mit solchen Erfassungen von Wirklichkeit, die es mit der Verhältnisbestimmung von Ganzem und Teilen zu tun haben. In seinen Ausführungen zu „Sinnerfahrung und Wissenschaft“ fasst Pannenberg seine Auseinandersetzung mit der wissenschaftstheoretischen Tradition zusammen und unterscheidet einen referentiellen, einen intentionalen und einen kontextuellen Sinnbegriff. Pannenberg präferiert den letzteren, weil es nur diesem gelinge, Sinn und Bedeutung einer Aussage sowohl zu integrieren, als auch auf konkrete Erfahrungen, Lebenswirklichkeiten zu beziehen.51 Damit verbunden ist der Anspruch, einzelne Sinnerfahrungen selbst in Beziehung auf ein Sinnganzes, eine antizipierte Sinntotalität zu verstehen. Dabei ist es für Pannenberg entscheidend, dass so erfasster „Sinn“ seinerseits nicht als relativ oder konstruiert zu betrachten ist, sondern in einer bestimmten Beziehung zur Wahrheit steht.52 Damit ist der Anspruch verbunden, das Verstehen von Sinn intersubjektiv überprüfbar zu machen, und zugleich individuelle

51 WuTh, 214f. 52 A. a. O., 218.

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Sinnerlebnisse auf die wahrnehmbare Gegenstandswelt zu beziehen. Mit diesem Wahrheitsbezug wird, so Pannenberg, einerseits die Wissenschaftlichkeit auch der Theologie gesichert. Auf der anderen Seite wird aber auch ein kritischer Massstab für das Gespräch mit anderen Wissenschaften aufgerichtet. Auch scheinbar verstehensabstinente Wissenschaften nehmen Sinnerfahrungen in Anspruch, da ihre formalisierten Aussagen wiederum auf Alltagskontexte bezogen werden müssen, um überhaupt in ihrer Bedeutung erschliessbar zu sein.53 Wenn Pannenberg dann schliesslich die Theologie als „Wissenschaft von Gott“ bestimmt, aber zugleich anthropologisch und religionswissenschaftlich einbindet54 , wendet er sich gegen unterschiedliche Theologiekonzeptionen, die er als Verengung wahrnimmt. Einerseits soll die Theologie an der Wahrheitsfähigkeit ihrer metaphysischen Gegenstände festhalten. Andererseits kann sie dies nicht in Absehung von deren „Weltlichkeit“, also von deren Niederschlag in spezifischen Erfahrungen in der Lebenswirklichkeit tun. So soll die Theologie als Wissenschaft zwar ihr Spezifikum bewahren, das von ihrem Gegenstand her bestimmt wird. Andererseits soll sie ihre Beschreibungs- und Erschliessungskraft für das Verständnis der Welt nicht verlieren. Damit wird eine grundlegende Option für das Gespräch mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen offengehalten, und zwar nicht nur mit den „verstehenden“, geisteswissenschaftlichen Fächern, sondern auch mit den Naturwissenschaften. Theologische Aussagen seien in diesem Kontext als Hypothesen zu behandeln – wie die Aussagen jener Disziplinen auch. Wie dies gemeint sein kann wird deutlich an Pannenbergs Ausführungen zu „Religion“ und Religionen. Gott als Gegenstand der Theologie ist zugänglich nur in den geschichtlichen Religionen. Oder, anders formuliert, „Die Wirklichkeit Gottes ist mitgegeben jeweils nur in subjektiven Antizipationen der Totalität der Wirklichkeit, in Entwürfen der in aller einzelnen Erfahrung mitgesetzten Sinntotalität, die die ihrerseits geschichtlich sind, d. h. der Bestätigung oder Erschütterung durch den Fortgang der Erfahrung ausgesetzt bleiben.“55 Religionen sind solche Traditionszusammenhänge in denen Sinn, als spezifischer Zugriff auf die Wirklichkeit im Ganzen, thematisch wird und sich symbolsprachlich ausdrückt – und zwar auf solche Weise, dass diese Sinnerfahrungen ihrerseits systematisierbar werden. Dieser letzte Punkt ist entscheidend, denn er verhindert, dass alle möglichen Phänomene plötzlich als „Religion“ angesprochen werden könnten, beugt also einer Inflation des Religionsbegriffs vor. Für die Theologie stellt sich damit die Aufgabe zu fragen, in welcher Weise sich die göttliche Wirklichkeit (als Sinntotalität) in den verschiedenen Religionen selbst bekundet.56 Andererseits, und das sagt Pannenberg an 53 54 55 56

Vgl. a. a. O., 222f. Vgl. a. a. O., 299f. A. a. O., 312f. Vgl. a. a. O., 317.

Theologie als Wissenschaft der „Religion“

dieser Stelle nicht ausdrücklich, sind unter dieser Voraussetzung nur solche Religionen überhaupt als „Religion“ anzusprechen, die ihrerseits Theologien entwickeln, also Sprachformen, die ihre Symbolsysteme metasprachlich zu erschliessen und zu übersetzen suchen. Religiöse Wahrheitsansprüche können sich, unter dieser Bedingung, nur in der Form von Theologien äussern, denn allein diese erlauben es, solche Ansprüche als ‚Hypothesen‘ zu formulieren, sie damit intersubjektiver Überprüfung zuzuführen und dabei zugleich die notorische Interessiertheit, also das normative Interesse an ihren Glaubensgegenständen, „die persönliche Glaubensbindung des Theologen“57 kritisch mitzubedenken. Theologie ist kritische und normative Wissenschaft der Religionen. Sie ist aber auch ihrerseits Teil dessen, was als „Religionsgeschichte“ angesprochen werden muss. (vgl. zu diesem Punkt auch unten 3.2) Diese Zuspitzung der theologischen Aufgabe erlaubt es Pannenberg, mehrere Ansprüche zugleich einzuholen: Einerseits die Bestimmung der Theologie von ihrem Gegenstand, also Gott, her, und damit der Bewahrung ihrer wissenschaftlichen Besonderheit. Andererseits die Abkehr von einem simplistischen Absolutheitsanspruch des Christentums. Drittens aber auch die Einbeziehung der Pluralität der geschichtlichen Religionen(und damit auch die Ausweitung des Gegenstandsbereichs). Viertens den Dialog mit Kultur- und Sozialwissenschaften. Und fünftens, dies alles unter Beibehaltung des Wahrheits- und Allgemeingültigkeitsanspruchs des Christentums. Hinter all diesen Aspekten wird allerdings auch spürbar, wie deutlich das Interesse Pannenbergs darauf zielt, im Kontext eines so wahrgenommenen neuen Atheismus, im Zusammenhang eines empfundenen Niedergangs des Christentums oder einer „Dechristianisierung“ der Gesellschaft, nicht nur die Plausibilität der Theologie als akademischer Disziplin, sondern auch die Plausibilität der (christlichen) Religion als einer nicht zu überbietenden Kulturform menschlicher Verständigung über die Welt zu gewährleisten – und zwar einer solchen Verständigung, die nicht nur Erkenntnisse bietet, sondern zugleich auch in der Lage ist, Werthaltungen zu begründen und stark zu machen. Anders gesagt: Hinter den wissenschaftstheoretischen Ausführungen Pannenbergs stehen an dieser Stelle auch ein stark empfundenes kulturell-ethisches Interesse, das sich in der Folge ja immer wieder auch in „Beiträgen zur Ethik“ niederschlägt, sowie ein intensives religiöses Engagement. Die Wendung, die Pannenberg seinem Theologiebegriff gibt, kann als Inovationsschritt im Rahmen der Entwicklung deutschsprachiger protestantischer Theologien gelesen werden. Die Behauptung allerdings, dass Religion, näherhin das Christentum, nicht nur unhintergehbar zur menschlichen Verständigung über zentrale

57 A. a. O., 323.

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Fragen der Wirklichkeit hinzugehört, sondern dass die „säkulare“ Gesellschaft sich selbst missversteht, wenn sie nicht sieht, dass das Humanum, die menschliche Bestimmung, durch säkulare Politik in keiner Weise zu verwirklichen sei, und deshalb das Weltreich notwendig der Ergänzung durch das Gottesreich bedürfe,58 kann im zeitgenössischen Kontext als ultrakonservativ oder gar fundamentalistisch verstanden werden. Vordergründig betrachtet ist sie das Gegenteil einer „Theorie des Christentums“, wie sie von Trutz Rendtorff ausgearbeitet wird. Dieses innovative Potential betrifft auch den Religionsbegriff Pannenbergs. Im Kontext der deutschsprachigen evangelischen Theologie seiner Zeit sind einerseits der Fokus auf Religion und Religionsgeschichte, auf Ethikbegründung sowie auf Wahrheit und Allgemeinheit in dieser Kombination eher (noch) eine Ausnahmeerscheinung.59 In den Folgejahren werden diese Grundüberlegungen Pannenbergs anthropologisch und ethisch weiter spezifiziert und eingebettet. Insbesondere ist es Pannenberg dabei um die gattungs- wie die individualgeschichtliche Genese des religiösen Bewusstseins zu tun und damit die breitere Abstützung auch seiner Ausführungen über den Zusammenhang von Religion und „Sinn“. Am nächsten ist Pannenbergs Engführung von „Religion“ und „Sinn“ sicherlich den Ausführungen Paul Tillichs, wenngleich auch spezifische Unterschiede bestehen, insbesondere durch Pannenbergs Anspruch, mit „Sinn“ eine realgeschichtliche Kategorie zu entwickeln. 2.2 „Sinn“ als Grundbegriff der Religionstheorie – zwischen Innovation und Kritik Der Sinnbegriff spielte bereits in Pannenbergs frühen Ausführungen zur Anthropologie eine grundlegende, wenngleich aus der werkgeschichtlichen Rückschau eher implizite Rolle. Schon die 1962 unter dem Titel „Was ist der Mensch?“ aus der Kompilation von Vorträgen veröffentliche „Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie“60 kennt bereits die später systematisch ausgearbeitete Funktion des Sinnbegriffs. So wird die Frage „nach dem Sinn unseres Daseins“ bereits mit derjenigen nach der „Einheit der Wirklichkeit“61 korreliert; jene nach dem

58 Vgl. Wolfhart Pannenberg: Christlicher Glaube und Gesellschaft, in: Politische Studien 29 (1978), 123–133. 59 Erst nach und nach sollte sich (trotz ‚Vorläufern‘) in den 1970er Jahren im Gefolge Hans-Joachim Birkners eine zweite Schleiermacher-Renaissance entwickeln, mit einem spezifisch anderen Fokus auf „Religion“. 60 Wolfhart Pannenberg: Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 1962, Zitate im Folgenden aus 3 1968. 61 A. a. O., 27.

Theologie als Wissenschaft der „Religion“

„Sinn der Menschseins über den Tod hinaus“, ihr Begreifen als „sinnvoll“62 , wird als Korrelat der Zukunftsoffenheit des Menschen ins Spiel gebracht63 ; die Einheit des Menschen als eines „sinnvollen Ganzen“64 wird ihrerseits auf einen dem Menschen äußerlichen Grund bezogen; der „Sinn des Lebens“65 ist auch im mythischen Erleben präsent und der „Sinn [des] Verlaufs“ der „Menschheitsgeschichte“66 ist Bestandteil des christlichen Geschichtsdenkens. Allerdings kann hier von einer systematischen Zentralstellung des Sinnbegriffs noch keine Rede sein. Es scheint, dass tatsächlich die Auseinandersetzung mit den anthropologische und theologischen Implikationen der Säkularisierung bzw. des neuen Atheismus, das Empfinden einer gesellschaftlichen Zersplitterung und des Verlusts des (religiösen) Einheitsgrunds der Kultur mindestens als äußere Anlässe für die spätere systematische Zentralstellung und begründende Funktion von Religions- und Sinnbegriff für die Theologie verstanden werden müssen. Es sind diese Begriffe, mit denen Pannenberg die weiter oben beschriebenen ‚Grauzonen‘ normativ bearbeitet und neue Demarkationslinien ausarbeitet. Ein Blick in die „Anthropologie in theologischer Perspektive“, die über 20 Jahre später – nach der intensiveren Auseinandersetzung mit Säkularismus u. a. – veröffentlicht wurde, weist nun die in „Wissenschaftstheorie und Theologie“ grundgelegten und methodisch ausgearbeiteten Aspekte des Sinnbegriffs prominent aus. „Sinn“ und „Sinnbewußtsein“ sind zu tragenden Theoriebegriffen avanciert, die auf anthropologischer Ebene als direkte subjektive Korrelate des Wahrheitsbegriffs verstanden werden können. Zudem finden sich zahlreiche Komposita wie „Sinnfindung“67 , „Sinnbewußtsein“68 , „Sinngehalt“69 , „Sinnhorizont“70 , „religiöser Tiefensinn“71 , (religiöse) „Sinnerfahrung“72 , „Lebenssinn“73 , „Sinnstruktur“74 , „Sinngebilde“75 u. a.m. die einerseits deutlich die Auseinandersetzung mit den in WuTh und der Anthropologie selbst zitierten Theorietraditionen widerspiegeln, die andererseits aber auch ausweisen, dass „Sinn“ nunmehr als anthropologischer

62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75

A. a. O., 37. A. a. O., 34. A. a. O., 43. A. a. O., 89. A. a. O., 102. Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 7 u. a. A. a. O., 221 u. a. A. a. O., 92 u. a. A. a. O., 69 u. a. A. a. O., 69. A. a. O., 105 u. a. A. a. O., 136. A. a. O., 158 u. a. A. a. O., 269 u. a.

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und religionstheoretischer Grundbegriff etabliert scheint, der zudem normative gesellschaftstheoretische (und damit ethische) Applikationen erfährt.76 Solche kulturanalytischen und ethischen Anwendungen sind ihrerseits dem Sinnbegriff nicht äußerlich. Sie sind vielmehr Teil der spezifischen Verschränkung mehrerer Bedeutungsebenen dieses Begriffs, die als typisch für das 20. Jahrhundert gelten kann – nämlich von „Sinn“ als Fähigkeit, Sachverhalte wahrzunehmen und zu ordnen (1), solche Sachverhalte angemessen zu versprachlichen (2) und daraus handlungsorientierendes Wissen abzuleiten bzw. zu erzeugen (3).77 Der Sinnbegriff ist in dieser Zuspitzung als (normativer) kulturtheoretischer Grundbegriff erkennbar. Pannenberg geht aber noch einen Schritt darüber hinaus. „Sinn“ soll, als Thema der „Religion“, zugleich eine fundierende Funktion für alle drei genannten Bedeutungsebenen erhalten. Mit einem solchen Verweis auf einen „Sinn des Sinns“78 ist nicht so sehr eine ‚Verdopplung‘ des Sinnbegriffs angestrebt, sondern vielmehr die Einsicht verbunden, dass „Sinn“ selber ein metaphysischer Begriff ist. Damit ist gemeint, dass hier eine Einheit hinter der erscheinenden Vielheit behauptet wird, die als Bedingung der Möglichkeit von Verstehen, Erkennen und zweckhaftem Handeln gelten können soll. Pannenberg bleibt allerdings auch nicht bei einem solchen transzendentalen Sinnbegriff stehen.79 „Sinn“ als ein solcher „Grenzbegriff “ wäre im interdisziplinären Gespräch (zumindest im Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften)

76 Der Religionsbegriff wird hier wie anderen Orts teilweise komplementär zum Begriff „Glauben“ verwendet. Auch Komposita wie „religiöser Glaube“ (a. a. O., 15) sind möglich. „Glaube“ erscheint bei Pannenberg als eine Näherbestimmung des Religionsbegriffs. 77 Vgl. dazu Alexander Heit: Sinnbildung in der Moderne. Selbstverortung der Theologie am Beispiel von Ernst Troeltsch, Paul Tillich, Wolfhart Pannenberg und Eilert Herms, Zürich 2018, 11–32. Heit bezieht sich dabei auf Emil Angehrn, Christian Thiess wie auch Jörn Rüsen. Mit einer solchen Konstellation ist bereits angezeigt, dass der Sinnbegriff hier in einem geschichtsphilosophischen Rahmen verstanden wird. 78 Vgl. Volker Gerhardt: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2014.. 79 Nach Gerhardt soll das Göttliche als die rationale Grundbedingung jeder Sinngebung ausgewiesen werden. Damit wird, unter anderen Vorzeichen und disziplinären Bedingungen und mit einer etwas anderen Stoßrichtung, letztlich ein ganz ähnliches Projekt verfolgt wie bei Pannenberg. Allerdings verbleibt Gerhardt mit seinen Ausführungen eher bei einer grenzbegrifflichen, transzendentalen Stellung des „Göttlichen“ – womit seinerseits eine disziplinäre Grenzziehung zwischen Philosophie und Theologie verbunden ist: „Menschen können zwar sagen, wie sie Gott verstehen; sie können sich auch darauf einigen, das Göttliche als Ursprung, Wesen, Grund oder als ein die Welt überschreitendes Ziel anzusehen. Aber ein Wissen davon, dass Gott diese oder andere Aufgaben wirklich zukommen, haben sie nicht. Sie können es allein schon deshalb nicht erwerben, weil es Wissen nur in der Form von Aussagen über Gegenstände gibt, zu denen Gott, allein schon seinem Begriff nach, nicht gehört.“ (Gerhardt: Der Sinn des Sinns, S. 209). Die Voraussetzung von Ganzheit in „historischer, systematischer und kritischer Perspektive“ (a. a. O., 210) bleibt eben dies: Voraussetzung.

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möglicherweise noch zu plausibilisieren. Vielmehr ist es Pannenberg darum zu tun, die Realität dieser fundierenden Sinneinheit als rationale Möglichkeit (oder sogar Notwendigkeit) auszuweisen. Auf diese Weise aber wird eine entsprechend geartete rationale Theologie als Auslegungsdisziplin des Themas der „Religion“ zur wissenschaftssystematisch fundierenden Disziplin. Implizit wird damit, mutatis mutandis, ein konstitutiver „Theologiebedarf “80 nicht nur der Geistes- und Kulturwissenschaften, sondern des Wissenschaftssystems insgesamt behauptet. Theologie ist nicht allein notwendig um die kulturellen Wurzeln der westlichen Moderne zu verstehen, sondern fundamental für das Verstehen der Welt überhaupt. Denn nur im Rahmen der (christlichen) „Religion“ ist die Bedingung der Möglichkeit ihres Verstehens nicht nur symbolisch versprachlicht und damit thematisch, sondern zugleich als kollektive wie individuelle Erfahrung sinnenfällig. Damit haben wir es in Pannenbergs Grundlegung des Religions- und Theologiebegriffs bereits von Anfang an mit einer „großen Erzählung“ zu tun. Sein wissenschaftssystematischer Entwurf lässt sich als Narrativ deuten, das seinerseits einer impliziten theologischen Logik folgt, heilsgeschichtlich wie topologisch. Gleichwohl ist es diesem Narrativ eigen, dass es sich strikten Rationalitätsstandards unterwerfen und öffnen will. Darauf weist der mit dem Wahrheitsbegriff angezeigte Allgemeinheitsanspruch hin. Anders als andere theologische Systeme, die auf narrative Hermetik bzw. rein binnenlogische Explikationen hin angelegt scheinen (für ein solches steht bei Pannenberg wie bei anderen Autoren die „Kirchliche Dogmatik“ Karl Barths), indiziert der Wahrheitsbegriff bei Pannenberg einen geradezu widerläufigen Anspruch. Es ist allerdings nicht bereits dieser Anspruch, der als religionstheoretische Innovation verstanden werden sollte, sondern vielmehr die Tatsache, dass damit de iure das interdisziplinäre Gespräch zum Prüfstein der Theologie wird. Anders gesagt: Eine Theologie, die nicht von sich aus den Dialog, vielleicht den Streit, mit anderen akademischen Disziplinen sucht, muss zwangsläufig hinter ihrem eigenen Begriff zurückbleiben. Es ist genau diese Öffnung der Theologie zum Feld der Wissenschaften, besonders auch der Naturwissenschaften hin, die Kritiker:innen wiederum als esoterische81

80 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Die Nation – von Gott „erfunden“? Kritische Randnotizen zum Theologiebedarf der historischen Nationalismusforschung, in: Gerd Krumeich, Hartmut Lehmann (Hg.): „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, 285–317. 81 Der hier verwendete Begriff „esoterisch“ lehnt sich an die von Michael Bergunder vorgeschlagene Terminologie an, vgl. Ders.: Umkämpfte Historisierung. Die Zwillingsgeburt von „Religion“ und „Esoterik“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und das Programm einer globalen Religionsgeschichte, in: Klaus Hock (Hg.): Wissen um Religion: Erkenntnis – Interesse. Epistemologie und Episteme in Religionswissenschaft und interkultureller Theologie, Leipzig 2020, 47–132.

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Schließung erscheinen muss. Denn sie geht einher mit einer spezifischen Realitätsbehauptung, die zu der Entwicklung des Religionsbegriffs in der westlichen Moderne als geradezu gegenläufig erscheinen muss. Nicht nur auf Theorieebene wurde ja „Religion“ mehr und mehr ins „Innere“ der Menschen verlagert. Dem mit Schleiermacher breitenwirksam einsetzenden „Abschied von der Kosmologie“82 entspricht – trotz oder gerade wegen aller Tendenzen zur Politisierung von „Religion“ im 19. wie 20. Jahrhundert – zugleich die Privatisierung des Religiösen. Hinzu kommt nun im Umfeld Pannenbergs auch die beginnende soziale Marginalisierung der institutionellen „Religion“, ihre zunehmende Entflechtung aus den politischen Strukturen westlicher Demokratien, sowie die empfundene beginnende Verlagerung der akademischen Deutungshoheit in Sachen „Religion“ zu Ungunsten der Theologie. Nichtsdestotrotz muss Pannenbergs Theologie in ihrem Innovationspotential an ihrem eigenen Anspruch geprüft werden. Die Entscheidung darüber, ob es sich bei seinen Ausführungen um eine in sich geschlossene oder vielmehr eine interdisziplinär und auch für unterschiedliche Ergebnisse geöffnete Systematik handelt, mag der jeweiligen Perspektive auf sein Werk und dem damit verbundenen theologischen Standpunkt überlassen werden. Gleichwohl kann eine solche Deutungsentscheidung nicht unter Absehung von Pannenbergs eigenem Standpunkt und Theorieangebot erfolgen. Mir scheint, dass für eine solche Prüfung mehrere Einsatzpunkte geeignet wären: Zum einen sicherlich der Sinnbegriff. Er bildet das systematische Scharnier zwischen Verinnerlichung der „Religion“, objektiv-allgemeinem Wahrheitsanspruch und ethischer bzw. kulturhermeneutischer Applikation83 und ist sicherlich eine der exponiertesten (Soll-)Bruchstellen seines Systems. Zum zweiten ist es Pannenbergs erklärter Anspruch, eine Theologie der Religionen bzw. eine religionsgeschichtliche Theologie als Fundamentaltheologie zu installieren. Pannenberg selbst ist diesem Anspruch nur in Ansätzen nachgekommen. Es lässt sich fragen, ob dafür systematische Gründe vorliegen. Diese Fragestellung führt einerseits tief ins interdisziplinäre Gespräch mit weiteren religionsbezogenen akademischen Disziplinen. Andererseits scheint ein Ausblick in gegenwärtige „religionstheologische“ Entwürfe bzw. Theologien der „Religion“(en)

82 Vgl. Ulrich Barth, Abschied von der Kosmologie. Welterklärung und religiöse Endlichkeitsreflexion, in: Ders.: Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 401– 426. 83 Mir scheint, dass insbesondere der Ethik Pannenbergs nicht immer das Recht widerfährt, das ihr entspräche. Gerade wenn Pannenberg im Kontext gelesen wird, scheint doch deutlich zu werden, dass der Problemaufriss seiner Systematik ein nicht allein theologie- oder religionstheoretisches Interesse widerspiegelt, sondern zumindest in seinem Entdeckungszusammenhang auch ganz konkrete anthropologische, kirchenpolitische und gesellschaftstheoretische Probleme stehen.

Theologie als Wissenschaft der „Religion“

Aufschluss darüber zu versprochen ob und inwiefern dieser Anspruch einzulösen oder überhaupt einlösbar ist. Ein dritter Aspekt, der zur Überprüfung geradezu einlädt, im deutschsprachigen Kontext aber weiterhin eher stiefmütterlich behandelt wird, ist das große Feld der Natur- bzw. Evolutionsgeschichte der „Religion“. Dieses Feld beinhaltet das besonders in der US-amerikanischen Theologie populäre Thema „Theologie (bzw. Religion) und Naturwissenschaften“ – es umfasst aber noch mehr. Denn gerade der universalgeschichtliche Anspruch Pannenbergs würde und müsste ja einer gattungshistorischen Prüfung zumindest in Ansätzen offenstehen.84 Er müsste erklären können, „wie Religion im Übergang von der Naturgeschichte zur Kulturgeschichte sich ausgebildet haben muss.“85 Ich möchte im Anschluss auf die genannten Aspekte jeweils einzeln und explorativ eingehen und damit bewusst im Anschluss an Pannenberg weitere Gedanken entwickeln.86

3.

Überlegungen im Anschluss an Pannenberg

3.1 Religion und Sinn: „Sinn“ als religionstheoretischer Grundbegriff87 Die Zuspitzung des Religionsbegriffs auf Sinnerfahrung ist, trotz mancher anderer Verschiebungen, eine Konstante in Pannenbergs systematischem Werk seit dessen Grundlegung in WuTh. Anders als es zumindest in Pannenbergs Werk erscheint, eignet dem Sinnbegriff aber eine notorische Unschärfe. Denn, in welcher Verbindung oder Bedeutungsva84 Dieser letzte Aspekt ist vermutlich der spekulationsoffenste der genannten Punkte. 85 Günter Dux: Zum historischen Stand der Religion. Eine wissenssoziologische Kritik, in: Trutz Rendtorff (Hg.): Religion als Problem der Aufklärung. Eine Bilanz aus der religionstheoretischen Forschung, Göttingen 1980, 107–129, 108. Vgl. auch Wolfhart Pannenberg: Macht der Mensch die Religion oder macht die Religion den Menschen? Ein Rückblick auf die Diskussionen des religionstheoretischen Arbeitskreises, in a. a. O., 151–157. 86 Ein weiterer Kritikpunkt an Pannenberg betrifft den Religionsbegriff selbst: Kritik ist ihm von theologischer Seite insbesondere von seinem Schüler Falk Wagner zuteil geworden (vgl. ST I, 170–176; 180f), aber auch ganz besonders von religionswissenschaftlicher Warte aus (vgl. ST I, 176). Spezifisch ist dabei darauf hingewiesen worden, dass Pannenbergs Religionsbegriff seinerseits die Prägung durch die jüdisch-christliche Tradition nicht verhehlen kann – ein Hinweis, der, vordergründig betrachtet, manchen der Ansprüche, die Pannenberg mit diesem Begriff verbindet, den Boden zu entziehen scheint. Andererseits ist es gerade dieser Hinweis, der mir am wenigstens substantiell erscheint. 87 Vgl. zum Folgenden auch Christine Axt-Piscalar: „Der Gott der Geschichte: Einige Aspekte zur Einholung von Wolfhart Pannenbergs geschichtstheologischem Programm durch die Trinitätslehre, in: Kerygma und Dogma 64.4 (2018), 284–299.

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riante er auch verwendet wird, eignet ihm doch stets ein subjektivistischer, andererseits zugleich ein metaphysischer Ueberschuss. Subjektivistisch überschiessend ist der Sinnbegriff ohnedies immer dort, wo Bedeutungen hinter Zeichen erahnt werden müssen. Er ist es noch mehr im Blick auf existentielle Grundfragen. Er ist es schliesslich aber auch dort, wo er als historischer bzw. geschichtstheoretischer Begriff verwendet wird. Denn weder in der Rückschau kann Sinn eindeutig ausgewiesen, noch kann prospektiv Sinn auf eine Weise vorweggenommen werden, die von selbst auch intersubjektiv plausibilisierbar wäre. Genau dies strebt Pannenberg aber in der Kopplung von Sinn- und Wahrheitsbegriff und dem damit verbundenen Geltungsanspruch an. Ähnlich gilt dies für die metaphysische Dimension des Sinnbegriffs. Denn trotz aller Unterstellung inhärenter Rationalitätsstrukturen ist Sinn letztlich an spezifische Erfahrungen und deren Deutung gebunden. Sinnempfinden, Sinndeutung ist in letzter Hinsicht immer individuell. „Sinn“ ist schliesslich an keinem Ort ein empirischer Begriff, dessen Konturen nachweis- und wiederholbar ausgewiesen werden könnten. Wenn der Sinnbegriff als theologischer oder religionstheoretischer Grundbegriff verwendet wird, dann ist implizit eine unhintergehbare Dimension individueller Qualia mit angesprochen, die sich jeder intersubjektiven Überprüfung sperrt. Das gilt auch für einen dergestalt formalistischen Sinnbegriff, wie ihn Pannenberg verwendet. Die notorische Unschärfe des Sinnbegriffs wird nicht erst aus der Rückschau nach 50 Jahren deutlich. Gerhard Sauter notierte etwa 1980, dass der Sinnbegriff, wie von Pannenberg (nämlich als letztlich hermeneutischen Strukturbegriff) verwendet, „geradezu zur Kategorie für Wirklichkeit [werde] … Deshalb gilt die Sinnfrage als die religiöse Frage katexochen – und Religion ist in diesem Verständnis nichts anderes als Entfaltung der Sinnfrage.“88 Es scheint – aus der Perspektive Sauters – folglich fraglos zu sein, dass von „Religion“ anders als unter Rekurs auf den Sinnbegriff gar nicht sinnvoll gesprochen werden kann. Zugleich aber muss Sauter mit dem Wirklichkeitsbegriff eine weitere Kategorie einführen, die zu einer solchen Entgrenzung des Themas der Religion führt, dass schliesslich alles Wirkliche in deren Bannkreis fallen würde. Damit aber verlöre der Religionsbegriff jegliche analytische Kraft. Aus heutiger Perspektive stellt sich diese im Zuge der Tillich-Pannenbergschen Doppelspur, die im Rahmen der Religionstheorien Peter L. Bergers und Niklas Luhmanns einiges an Präzision gewinnen konnte, formulierte Feststellung allerdings selbst als historisch dar. Zwar weisen zahlreiche Texte den Sinnbegriff in seinen unterschiedlichen Dimensionen auch in jüngerer Zeit weiterhin als religi-

88 Gerhard Sauter: „Sinn“ und „Wahrheit“. Die Sinnfrage in religionstheoretischer und theologischer Sicht, in: Trutz Rendtorff (Hg.): Religion als Problem der Aufklärung, 69–106, 71.

Theologie als Wissenschaft der „Religion“

onstheoretischen Zentralbegriff aus.89 Auf der anderen Seite wird eine auf „Sinn“ abstellende Religionstheorie mittlerweile flankiert von einer steigenden Zahl an weiteren Theorieangeboten, die von einem solchen nicht metaphysikfreien Zentralbegriff Abstand nehmen wollen, der zudem eine individualistische Verengung geradezu zu provozieren scheint.90 Das ist nicht zuletzt auch deshalb der Fall, weil sich eine disziplinär eigenständige, von der Theologie weitgehend unabhängige Religionswissenschaft im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts hat akademisch etablieren können, die zumeist unter Rückgriff auf andere Geistes- und Kulturwissenschaften eine Vielzahl religionstheoretischer Konzeptionen entwickelt hat. In solchen jüngeren Ansätzen spielt zudem ein zentraler Kritikpunkt auch an Pannenbergs Religionsbegriff eine grössere Rolle: Die Angst davor, mit „Religion“ einen Begriff zu verwenden, der, zumindest für den deutschsprachigen Bereich, unhintergehbar christlich-theologisch geprägt sein könnte, hat nicht nur zur Ausbildung verschiedenster Alternativmodelle geführt, sondern auch zu unterschiedlichen Anläufen, die Genese der Religionswissenschaft eben nicht mehr als Resultat des „Geistes des Protestantismus“91 zu erzählen, sondern mit alternativen historischen Rekonstruktionen zugleich einen gleichsam christlich-theologisch unbefleckten Religionsbegriff zu erzeugen. Also statt einer, wie von Pannenberg im Gefolge Paul Tillichs92 befürworteten „Theologie der Religionsgeschichte“, eine Religionswissenschaft als religionsgeschichtliche Meta-Theologie. Waren es zu Pannenbergs Zeit insbesondere kulturanthropologische, (sprach-)philosophische, religionspsychologische, aber auch immer noch religionsphänomenologische Bahnen, in denen sich die ‚neueren‘ Ansätze der Religionswissenschaft bewegten93 , so sind heute ganz andere Formen der Religionswissenschaft und 89 Vgl. etwa Wilhelm Gräb: Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998; Burkhard Gladigow: Art. „Sinn“, in: Metzler Lexikon Religion, Stuttgart 2000, 311–317; Werner H. Ritter: Zur Bestimmung von Sinn, Religion, Weltanschauung und christlichem Glauben. Differenzierende theologische und religionspädagogische Reflexionen in weiterführender Absicht, in: Theo Web, Online-Zeitschrift für Religionspädagogik 1 (2002), 27–41; Dietrich Korsch (Hg.): Der verborgene Sinn. Religiöse Dimensionen des Alltags, Göttingen 2008; Martin Klüners; Jörn Rüsen: Religion und Sinn, Göttingen 2020; Volker Gerhardt: Das Göttliche als Sinn des Sinns. Manuskript zu einem Vortrag auf Einladung von Spree-Athen, Berlin (2013), online unter: https://www.spree-athen-ev.de/assets/der-sinn-des-sinns.pdf, zuletzt abgerufen am 01. Februar 2023. 90 Mehr dazu weiter unten in Kap. 3.3. 91 Vgl. Sigurd Hjelde: Die Geburt der Religionswissenschaften aus dem Geist der protestantischen Theologie, in: Friedrich Wilhelm Graf; Friedemann Vogt (Hg.): Religion (en) deuten. Transformationen der Religionsforschung, Berlin u. a., 2010. 9–28. 92 Paul Tillich: The Significance of the History of Religions for the Systematic Theologian, in: ders.: The Future of Religions, hg. von Jerald C. Brauer, New York 1966, 80–94. 93 Vgl. zeitgenössisch exemplarisch Antoine Vergote: Neue Perspektiven in den Religionswissenschaften, in: Religion als Problem der Aufklärung, 36–51.

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Religionskritik hinzugekommen. Zu nennen sind exemplarisch die kognitive Religionswissenschaft94 sowie aus jüngerer Zeit postkoloniale Kritiken am europäischen Religionsdiskurs insgesamt95 , die sich einer Vielzahl theoretischer Ansätze bedienen. Aus dem Bereich der Religionswissenschaft werden damit fundamentale Anfragen an „Religions“-Theologien formuliert, die eine Vielzahl der Grundannahmen in Frage stellen, die (auch) Pannenbergs Theorieansatz leiten. Religion als Sinndeutung oder Sinnverstehen kommt zwar in religionswissenschaftlichen Zusammenhängen durchaus noch vor96 ; „Sinn“ wird aber zugleich, zusammen mit anderen westlich-modernen „Grundbegriffen“ wie „Religion“ selbst, auch als Kategorie eines substanzorientierten europäischen Ursprungsmythos in Frage gestellt.97 Eine ähnlich lautende Kritik wird auch auf die Kategorie der westlichen Modernität selbst angewendet98 , mitsamt ihren Grundannahmen der Individualisierung und Pluralisierung der „Religion“ – wie auch der „Säkularisierung“99 . Immer geht es hier um die Kritik an der Universalisierung partikularer regionaler Entwicklungen, an der Ausblendung bzw. Alterisierung nicht-hegemonialer Formen von „Religion“ bzw. Modernität, am Verschweigen bzw. der Stillstellung anderslautender Stimmen im religionsbezogenen Diskurs. Diese Kritik ist ganz

94 Vgl. Pascal Boyer: Religion Explained: The Evolutionary Origins of Religious Thought, New York 2001; Todd Tremlin: Minds and Gods. The Cognitive Foundations of Religion, New York 2006; Justin L. Barrett: Cognitive Science of Religion: What Is It and Why Is It? Religion Compass 1 (2007): 768–786; Sebastian Schüler: Religion, Kognition, Evolution: Eine religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Cognitive Science of Religion, Stuttgart 2012. 95 Vgl. etwa Tomoko Masuzawa: In Search of Dreamtime. The Quest for the Origin of Religion, Chicago/London 1993; Timothy Fitzgerald: The Ideology of Religious Studies. New York; Oxford 2000; Angelika Rohrbacher: Eurozentrische Religionswissenschaft? Diskursanalytische Methodik an den Grenzen von Ost und West. Marburg 2009; Ulrike Brunotte: Religion und Kolonialismus, in: Hans G. Kippenberg; Jörg Rüpke; Kocku von Stuckrad (Hg.): Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, Bd. 1. Göttingen 2009, 339–369; Dipesh Chakrabarty Europa als Provinz. Perspektiven postkolnialer Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 2010; Andreas Nehring: Postkoloniale Religionswissenschaft: Geschichte–Diskurse–Alteritäten, in: Julia Reuter; Alexandra Karentzis (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden 2012, 327–341. 96 Vgl. nur Crystal L. Park: Religion and Meaning, in: Raymond F. Paloutzian; Crystal L. Park (Hg.): Handbook of the Psychology of religion and Spirituality, New York; London 2005, 295–314; Burkhard Galdigow: Art. “Sinn“, in: Christoph Auffahrt u. a. (Hg.): Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien, Bd. 3: Paganismus – Zombie, Stuttgart/Weimar 2000, 311–317. 97 Vgl. etwa Michael Bergunder: Umkämpfte Historisierung. Die Zwillingsgeburt von „Religion“ und „Esoterik“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und das Programm einer globalen Religionsgeschichte, in: Klaus Hock (Hg.): Wissen um Religion: Erkenntnis – Interesse. Epistemologie und Episteme in Religionswissenschaft und Interkultureller Theologie. Leipzig 2020, 47–131. 98 Vgl. exemplarisch: Anna Daniel: Die Grenzen des Religionsbegriffs. Eine postkoloniale Konfrontation des religionssoziologischen Diskurses, Bielefeld 2016, 180–215. Ganz ähnlich lässt sich die dekonstruktivistische Kritik für den Säkularisierungsbegriff durchspielen, vgl. a. a. O., 216–222. 99 Vgl. Anna Daniel: Grenzen, 222–229.

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sicher berechtigt, wenn sie die Vermutung einliniger globaler Entwicklungen in den Blick nimmt, die jeweils „im Westen“ ihren Ursprung hätten und dann auf „die ganze Welt“ ausstrahlten. Damit sind nicht nur gängige Erzählungen im Blick, sondern auch ganze Theorieangebote, wie etwa die Gesellschaftstheorie Niklaus Luhmanns (und mit ihr die Vermutung, Modernität lasse sich immer und überall durch funktionale Differenzierungsprozesse und strukturell gleichartige Kommunikationsformen bestimmen). Es gehört zu den Verdiensten (nicht erst) der postkolonialen Religionswissenschaft, auf solche unzulässigen Universalisierungen partikularer Entwicklungen aufmerksam zu machen. Andererseits schießt eine solche Kritik über ihr Ziel hinaus, wenn sie (wie zuweilen geschehen), jegliche Art von kulturellem Einfluss europäischer Diskurse leugnet.100 Damit treten dem Anspruch der Theologie Pannenbergs aus heutiger Perspektive gleich mehrere mögliche kritische Anfragen entgegen: − Der Sinnbegriff wird als substanzialistische metaphysische Kategorie eingestuft. In dieser Einschätzung kommt ihm keine universelle Legitimität zu, sondern er widerspiegelt vielmehr Entwicklungen des partikularen europäischen oder „westlichen“ Religionsdiskurses. Zugleich ist „Sinn“ in dieser Sichtweise keine empirische Kategorie. − Die christliche Prägung des Religionsbegriffs lässt jede so agierende Theologie der Religionsgeschichte zu einer Art petitio principii werden, die unweigerlich in das Christentum als absolute Religion münden muss − Die damit verbundenen Wahrheits- und Allgemeinheitsansprüche sind ihrerseits nicht nur als hochgradig normativ abzulehnen, sondern auch als schädlich für den Religionsfrieden einzustufen − Der Anspruch, „Religion“ in diesem Sinne als anthropologische Konstante und damit zugleich als notwendiges Element humaner Persönlichkeitsbildung auszuweisen wird als imperialer und kolonialer Gestus verstanden Nimmt man diese kritischen Anfragen zusammen ergibt sich das Bild eines beinahe unhintergehbar gestrigen, verbohrt christlichen Theorieansatzes, der mit dem Anspruch, dass „Religion“ nicht nur ein Modus der Selbstbeschreibung spezifischer Menschengruppen, sondern zugleich ein Element allgemeinheitsfähiger Weltbeschreibung sei, gleichsam aus der Zeit gefallen scheint. Ist also Pannenbergs Reaktion auf seinen religionsgeschichtlichen Kontext – den als „Säkularisierung“ zu beschreibenden gesellschaftlichen Wandel in der westlichen Spätmoderne – als eine Form beinahe fundamentalistischer Immunisierung

100 So scheint Michael Bergunder zu argumentieren, wenn er die europäische Genese des Begriffs „Religion“ (nicht: der Religion) ebenfalls in Frage stellen möchte, was mir wenig plausibel erscheint; vgl. Bergunder: Umstrittene Historisierung.

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zu verstehen? Als „Esoterik“? Als ein Vorgehen, das gleichsam durch die Hintertür auch naturwissenschaftlichen Aussagen eine Nähe zur christlichen Schöpfungstheologie unterjubelt? Teile der Pannenbergrezeption in den USA würden einer solchen Einschätzung recht geben. Allerdings würde eine solche Einordnung weder dem eigenen Anspruch Pannenbergs gerecht werden, noch auch der Situation der Religionstheorie im Allgemeinen wie der Religionstheologie im Besonderen. Nicht nur bewegen sich weiterhin Religionstheologen wie Ulrich Barth, nebst Teilen seiner Schülerschaft, zumindest in Grundzügen recht nah an der Pannenbergschen Grundannahme: Religion ist Sinndeutung.101 Auch laufen Teile der genannten Vorwürfe ins Leere. Bereits die Annahme, es lasse sich ein gleichsam geschichtsfreier Religionsbegriff erzeugen, oder ein solcher, der völlig abseits von theologischen Diskussionen entstanden sei, scheitert an der diskursgeschichtlichen Realität. Selbstverständlich lässt sich alles Mögliche konstruieren, und Theoriegeschichte ist kein Schicksal, das sein Ergebnis bereits vorwegnimmt. Soll aber ein Religionsbegriff verwendet werden, der das Selbstverständnis religiöser Gemeinschaften wie auch deren professioneller Deutungskulturen mitumfasst, kann „Religion“ im deutschen Sprachbereich zumindest nicht unter Absehung von der Geschichte des Christentums und seiner Theologien konzeptualisiert werden. Auch die Vermutung, ein mutmaßlich „neutraler“ Religionsbegriff lasse es zu, den Religionsvergleich und -dialog wertfrei zu führen, muss meiner Vermutung nach ins Leere laufen. Wer „Religion“ sagt, führt bereits einen normativen Begriff im Mund, entscheidet, was Religion ist, und was nicht, und was als defizitäre Religion zu gelten hat. Das gilt sowohl für religionswissenschaftliche Untersuchungen wie auch für dialogorientierte Religionstheologien. Solche Normativität lässt sich nicht „wegmogeln“; sie darf (und muss) offengelegt und selbst als Gegenstand der Kontroverse präsentiert werden. Und schließlich: Der Sinnbegriff ist, in der formalistischen Fassung, die Pannenberg ihm angedeihen lässt, als hermeneutischer Strukturbegriff selbstverständlich nicht frei von ‚metaphysischen‘ Aspekten oder auch der Unterstellung von nicht hintergehbaren ‚Qualia‘. Dies trifft allerdings auf nahezu alle Begriffe zu, die in irgendeiner Weise in den religionsbezogenen Wissenschaften Verwendung finden. Der Gegenstand „Religion“ bringt (in seinen historischen Formen) diese Aspekte ja selbst mit sich. Als heuristischer Begriff ist der Begriff „Sinn“ jedenfalls nicht schlechter zur Beschreibung religiöser Praxis geeignet, als viele andere.

101 Vgl. nur Ulrich Barth: Was ist Religion? Sinndeutung zwischen Erfahrung und Letztbegründung, in: Ders.: Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 3–27; Ders.: Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung, hg. von Friedemann Steck, Tübingen 2021.

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Auch der Wahrheits- und Allgemeinheitsanspruch im Blick auf religiöse Aussagen, inklusive des eschatologischen Bewahrheitungsvorbehalts, ist keinesfalls per se als Versuch theologischer Immunisierung zu deuten. Es könnte mit Pannenberg geradezu als die Aufgabe der Theologie (wie auch anderer religionsbezogener Wissenschaften) verstanden werden, die Wahrheit religiöser Intuitionen und Sätze zu überprüfen und ggfs. zu erweisen. Auch vor diesem Hintergrund ist Pannenbergs Forderung nach einer „Theologie [..] der Religionen“ in der Form einer Fundamentaltheologie zu verstehen.102 Ausgearbeitet hat Pannenberg sie allerdings nicht in ausführlicher Form. Vielmehr bettet Pannenberg seine ganze Konzeption von „Religion“ immer deutlicher ein in eine Natur- und Gattungsgeschichte des Geistes, die auf das religiöse Bewusstsein als Sinnbewusstsein hinzulaufen scheint.103 Vielleicht hat Pannenberg gerade deshalb im deutschen Sprachraum hinsichtlich seiner Religionskonzeption keine grössere explizite Schülerschaft hervorbringen können. Denn der Anspruch, die Wahrheit der „Religion“, näherhin des Christentums, in einer als Religionsgeschichte verstandenen Naturgeschichte des Geistes zu erweisen, widerspricht in größeren Teilen den Anliegen und Theorieansätzen vieler gegenwärtiger deutschsprachiger protestantischer Theolog:innen – zumindest dann, wenn man die Theolog:innen im weitesten Sinne evangelikaler Provenienz nicht dazurechnet. Auf die Frage nach der Naturgeschichte der „Religion“ möchte ich im zweiten Folgeabschnitt weiter unten eingehen. Zunächst soll der Entwicklung der Theologien der Religionen nachgegangen werden. 3.2 Theologien der Religion(en): Entwicklungen und Tendenzen Angesichts der empfundenen zunehmenden Säkularität der Mehrheitsgesellschaft sowie der gleichzeitigen Pluralisierung und Individualisierung des Religiösen hatte Pannenberg die Forderung nach einer „Theologie der Religionen“ bzw. auch einer „Theologie der Religionsgeschichte“ als fundamentaltheologischem Rahmen aufgestellt, innerhalb dessen der Wahrheits- und Geltungserweis mit den Mitteln der Historie zu führen sei. Pannenbergs Forderungen und Ansprüche stehen damit bereits in beträchtlicher Spannung zu theologischen Ansätzen seiner Zeit, die die Vielheit der Religionen nicht als Herausforderung zu einem Streit um die Wahrheit ansahen, sondern

102 Wolfhart Pannenberg: WuTh, 372. 103 Vgl. zusätzlich zu den bereits zitierten Anthropologien nur die späteren schöpfungstheologischen Ausführungen in Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie Band 2, Göttingen 1991, besonders 77–162.

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alle Religionen als gleichermassen wahrheitsfähig beschreiben. Die Rede ist von pluralistischen Theologien der „Religion“. Im Hintergrund dieser seit den 1960er Jahren beginnenden und in den 1980ern Jahren als eigenständige Subdisziplin der Systematischen Theologie entstandenen Strömung104 steht der Gedanke eines (metaphysischen) Einheitsgrundes105 der Religionen, auf den sie sich alle gleichermassen beziehen – ob in „mystischer Erfahrung“106 oder schlicht „menschlichem Glauben“107 . „Die ewig vorausliegende Wahrheit Gottes transzendiert jedes Glaubensbekenntnis, so dass das Christentum mit anderen Religionen in der Solidarität suchender Demut […] steht.“108 Keine einzelne Religion kann die zu Grunde liegende Wahrheit vollumfänglich in ihren Symbolen und Praktiken realisieren. Vielmehr sind sie alle partielle Verwirklichungen der oder auch Annäherungen an die eine, nie vollständig zu erreichende Wahrheit. „Wahrheit ist für die Pluralistischen Religionstheolog(inn)en zukunftsoffen, kontextgebunden und damit wesenhaft plural.“109 Woher um die zu Grunde liegende eine Wahrheit gewusst werden kann, ist dabei allerdings nicht restlos klar. Dabei steht das Anliegen einer Aufarbeitung der kolonialen Geschichte Europas sowie der Wertschätzung globaler Religionskulturen zumeist im Vordergrund. Teils konnte die empfundene neue Pluralität der Religionen auch als „bedrängend“110 eingeschätzt werden. Ein wichtiger Hintergrund der unterschiedlichen Ansätze zu einer „Theologie der Religionen“ ist die ökumenische Bewegung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Pluralismusdiskurs kann, so gesehen, als global orientiertes Gegenstück der europäischen Säkularisierungsdebatte verstanden werden.

104 Vgl. Zum historischen Hintergrund auch Alph Christophersen: Probleme der Religionstheologie – Probleme mit der Religionstheologie, in: Friedrich Wilhelm Graf; Friedemann Voigt (Hg.): Religion(en) deuten. Transformationen der Religionsforschung, Berlin u. a. 2010, 303–330, 306f. 105 Vgl. John Hick: Gotteserkenntnis in der Vielfalt der Religionen, in: Reinhold Bernhardt (Hg.): Horizontüberschreitung. Die pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 1991, 60–80; Theo Sundermeier: Evangelisation und die „Wahrheit der Religionen“, in: a. a. O., 175–190. 106 Vgl. Michael von Brück: Mystische Erfahrung, religiose Tradition und die Wahrheitsfrage, in: Reinhold Bernhardt (Hg.): Horizontüberschreitung. Die pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 1991, 81–103. 107 Vgl. Wilfred C. Smith: Menschlicher Glaube – Das gemeinsame Zentrum aller religiösen Traditionen, in: Reinhold Bernhardt (Hg.): Horizontüberschreitung, 156–174. 108 Reinhold Bernhardt: Vorwort, in: Ders (Hg.): Horizontüberschreitung. Die pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 1991, 7f., 7. 109 Reinhold Bernhardt: Einleitung, in: a. a. O., 13. 110 Carl Heinz Ratschow: Die Religionen (Handbuch Systematischer Theologie, Band 16), Gütersloh 1979, 120.

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Einen öffentlich beachteten Ausdruck fand die pluralistische Religionstheologie in dem von John Hick und Paul F. Knitter herausgegebenen Band „The Myth of Christian Uniqueness“111 Mitte der 1980er Jahre. Die in diesem Band vertreten Autoren rechnen mit der Relativität aller Religionen zueinander. Der bestehende religiöse Pluralismus soll dadurch affirmiert werden, die Theorie den Erfahrungsumständen angepasst. Abgelöst werden soll das Paradigma des ‚absoluten‘ Christentums nun auch auf der Theorieebene, zurückgewiesen werden exklusivistische wie inklusivistische Positionen gleichermassen. Das Anliegen ist dabei dezidiert ethisch; die Umformung der Theologie soll aus diesem Impetus heraus geschehen. Die erkannte faktische Partikularität der eigenen und anderer Positionen wird als Notwendigkeit gedeutet. Interessant für den Anschluss an Pannenberg ist hier die Tatsache, dass das moderne Geschichtsbewusstsein die skizzierte Position untermauern soll.112 Der historisch-faktizitäre Relativismus erhält normative Geltung.113 Dabei ist das Anliegen nicht die Abwertung einer Religionstradition gegenüber anderen, sondern die Erzeugung von Orientierungswissen durch Bündelung aller verfügbaren Kräfte: „We must enter into serious exchange with each other in order to help humanity—including, of course, ourselves—find adequate orientation in today’s world; in order, that is, to enable us to construct religious frameworks that can provide genuine guidance with respect to the unprecedented problems we today confront.“114 Diese Zielsetzung verdeutlicht die funktionale und auch ethische Zuspitzung des zu Grunde liegenden Religionsbegriffs: „Religion“ dient der Freisetzung von Orientierungswissen zur Lösung von Menschheitsproblemen. Hinter diesem Zweck stehen die partikularen Religionstraditionen in ihren Geltungsansprüchen zurück – und an diesem Zweck werden sie auch gemessen: „When we try, then, to look at the religious traditions as long-lived historical entities we find in each case a complex mixture of valuable and harmful elements.“115 Die Begründung dieses Maßstabs, die Einstufung und Wertung von Elementen unterschiedlicher Religionen als wertvoll oder auch schädlich, ist nicht Sache der Religionen oder Theologien. Sie sind schlicht „different ways of being human in relation to the Eternal, each with both its cultural glories and its episodes of violent 111 John Hick; Paul F. Knitter (Hg.): The Myth of Christian Uniqueness. Toward a Pluralistic Theology of Religions, New York 1987. 112 Vgl. Gordon D. Kaufmann: Religious Diversity, Historical Consciousness, and Christian Theology, in: a. a. O., 5: “I want to suggest now that the complex of attitudes and consciousness that underlies modern attempts to engage in historical and comparative studies of human religiousness can provide a way to break through the tendencies toward absoluteness and self-idolatry that often obstruct interaction between Christians and others.” 113 Vgl. a. a. O., 8. 114 A. a. O., 13. 115 John Hick: The Non-Absoluteness of Christianity, in: John Hick; Paul F. Knitter (Hg.): The Myth of Christian Uniqueness, 29.

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destructiveness, each raising vast populations to a higher moral and spiritual level and yet each at times functioning as a vehicle of human chauvinism, cupidity, and sadism.“116 Vielmehr ist es nach dieser Hinsicht die Aufgabe der Theologien, ihre zentralen Lehrbestände gemäss des aufgestellten Maßstabs zu revidieren. Schon einige Jahre vorher hatte Michael von Brück die „Möglichkeiten und Grenzen einer Theologie der Religionen“117 ausgelotet und eine gemässigt inklusivistische Position vorgelegt. Diese Arbeit knüpfte konzeptionell an die sog. „Lichterlehre“ Karl Barths an und ergänzte sie mit Aspekten aus der Theologie Rudolf Ottos. Beide Theologien seien hinsichtlich ihrer Religionskonzeption komplementär.118 Bei beiden Theologen sei das „Wesen der Religion […] erst von ihrer eschatologischen Vollendung her zu begreifen.“119 Zudem führe „die Vielfalt der religiösen Erfahrung […] zu Christus hin (Otto), und die Universalität der Gnade Gottes in Jesus Christus läßt Wahrheit auch außerhalb des Christentums erkennen (Barth).“120 Der (erste) entscheidende Unterschied dieses Entwurfs zu Pannenbergs Konzeption liegt auf der Hand: Hier ist es das „Wesen der Religion“ – dort die Wahrheit der in der Religion antizipierten Sinngehalte, die nur vom Eschaton her einsichtig werden würden. Damit aber ist die Argumentation auf einer jeweils anderen Aussagenebene angesiedelt. Denn wenn jede partikulare Religion allenfalls als partielle und perspektivische Realisierung von Wahrheit gelten kann, ist nicht nur die Gleichwertigkeit der Religionen behauptet, sondern vielmehr auch deren Angewiesenheit aufeinander. Der Weg zur Wahrheit führt dann über den Religionsdialog. Damit ist auf der anderen Seite keine Prävalenz nichtchristlicher Religionen ausgesagt. Vielmehr ist der Religionsdialog ein wichtiges Mittel für die „Selbstbesinnung“121 der christlichen Theologie, um der (im Rahmen des Säkularisierungsempfindens im deutschsprachigen Raum grassierenden) „,Krisenstimmung‘“122 innerhalb von Theologie und Kirche(n) zu begegnen. Die Selbstbesinnung angesichts des und im Dialog mit dem religiös Anderen soll Impulse zur Erneuerung geben, die aus den Quellen der christlichen Überlieferung allein nicht möglich scheint. Dies ist der zweite entscheidende Unterschied zum Ansatz Pannenbergs, der sich zum Gegenüber nicht das andere Religiöse sondern vielmehr das andere Christliche in Gestalt des Katholizismus sowie das areligiös Andere der vermeintlich säkularen Gesellschaft sowie der genauso säkularen Wissenschaft wählt.

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A. a. O., 30. Michael von Brück: Möglichkeiten und Grenzen einer Theologie der Religionen, Berlin 1979. Vgl. a. a. O., 102ff. A. a. O., 107. A. a. O., 108. A. a. O., 110. A. a. O., 110.

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In von Brücks Ansatz werden Grundsatzfragen wie diejenige nach dem Religionsbegriff bewusst nicht vor- oder ausgelagert, sondern im Rahmen der Durchführung der Theologie des Dialogs selbst thematisch: „Darum ist es notwendig, nicht nur religionswissenschaftlich neutral, sondern auch theologisch engagiert nach Religion zu fragen, wie sie sich uns heute angesichts der säkularisierten Welt darstellt. Um aber nach Religion zu fragen, ist es notwendig, den Dialog mit anderen Religionen vorurteilsfrei zu führen. Die im Dialog aufbrechenden Fragen spiegeln die inneren Probleme der christlichen Theologie wider, denn der Dialog selbst impliziert Glaubens- und Welterfahrung.“123 „Religion soll die menschliche Lebenswirklichkeit sein, in der die Menschen bewußt und ganzheitlich (nicht nur intellektuell) nach einem Unbedingten, Letztgültigen und Totalen fragen, das aller Wirklichkeit als Unverfügbares zugrunde liegt, in das sie vertrauen und aus dessen Zuspruch und Anspruch sie ihr Leben einrichten. Weil hier der Mensch nach seinem eigenen Lebensgrund gefragt ist, kann nur derjenige Fragen an die Religion stellen und Aussagen über eigene und fremde Religiosität machen, der engagiert fragt.“124 Vor dem Hintergrund der auch hier begegnenden Annahme einer prinzipiellen Einheit des Grunds der „Religionen“ kann „Religion“ ihrerseits durch deren Dialog näher bestimmt werden, denn es ist von einer grundsätzlichen (strukturellen) Gleichheit der „Glaubens- und Welterfahrung“ auszugehen. Ob der Begriff der Glaubenserfahrung das Selbstverständnis anderer Religionen angemessen beschreibt ist dabei vernachlässigbar, da die ‚theologisch engagierte‘ Perspektive bewusst den Ausgang beim eigenen partikularen Standpunkt nimmt. Das erklärte Ziel ist dabei das Bemühen um „ein neues, unserer heutigen Welterfahrung angemessenes Gottesbild.“125 Hier scheint mir ein dritter entscheidender Unterschied zu liegen: Nicht die Klärung des einen Gottesbildes (bzw. die Erkenntnis Gottes), sondern die Erarbeitung eines neuen, ist das Ziel des Religionsdialogs – und implizit auch der Religionsgeschichte. Damit ist implizit ebenfalls ein ethisches Anliegen markiert. Von Brück aber sieht seinen Ansatz ausdrücklich auf einer Linie mit den Gedanken Paul Tillichs126 , Paul F. Knitters – aber auch Wolfhart Pannenbergs, auf dessen WuTh ausdrücklich Bezug genommen wird.127 Mit dem Hinweis darauf, dass auch der hier zugrunde liegende Religionsbegriff ein (christliches) Konstrukt ist, das normative Implikationen hat, würde diese Position umgehen können, denn der ‚engagierte‘ Dialog setzt diese gemäßigte

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Ebd. A. a. O., 112. A. a. O., 111. Paul Tillich: The Significance of the History of Religions for the Systematic Theologian, in: Ders.: The Future of Religions, hg. von Jerald C. Brauer, New York 1966, S. 80–94. 127 Michael von Brück: Möglichkeiten und Grenzen, 113.

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Normativität als diejenige einer partikularen Position mit universellem Anspruch ja gerade voraus. Fraglich allerdings bleibt auch hier, woher die Gewissheit des einheitlichen Grundes aller solcher „Religionen“ oder diejenige der strukturellen Gleichheit subjektiven Religionserlebens stammen kann. Meine Vermutung ist, dass diese Behauptung ihrerseits eine christliche Setzung ist, die aber als solche nicht markiert wird. Damit aber wird eine Unterscheidung verschleiert, die bei Pannenberg offen mitgeführt wird: Im Blick auf die Erkenntnis Gottes bzw. der göttlichen Wirklichkeit kann es erfolgreichere und weniger erfolgreiche Anläufe geben. Die grundlegende normative Setzung impliziert eine Prüfung und damit auch Hierarchisierung der Erkenntnisansprüche. Unklar bleibt, von Pannenberg her gedacht, dann die Frage, nach welchem Massstab diese Prüfung zu erfolgen hätte. In Pannenbergs Fall ist es das Forum öffentlicher Rationalität. Hier allerdings ist es das Forum des Religionsdialogs selbst, das diese Leistung erbringen (und damit ein ‚neues‘ Gottesbild generieren) soll. Damit aber stellen sich weitere, zusätzliche Fragen, die dann doch wiederum die Grundsatzfragen des Religionsbegriffs nicht übergehen können: Wer hat Zugang zu diesem interreligiösen Forum, darf also normative Ansprüche auf Klärung des Gottesbegriffs stellen? Unter welchen Bedingungen darf welche Sprecherin, welcher Sprecher sich am Dialog beteiligen? Wer stellt diese Bedingungen und Massstäbe? Der Inklusivismus dieser Position müsste seinerseits als ein christlich normativer auch auf der Ebene der Grundlagenreflexion ausgewiesen werden. Es scheint folglich, als würde der von Pannenberg im deutschsprachigen Bereich ausgehende Impuls, nicht nur nicht in dieser Form weitergeführt werden, sondern auch zu ganz neuen Problemen zu führen. Ob dabei die Religionstheologien bzw. Theologien der Religionen als „Theologie light“128 einzustufen sind, muss aus meiner Perspektive als fraglich gelten – die pragmatische Beschränkung auf spezifische Aussagenebenen muss keinesfalls immer als mangelnde begriffliche oder gedankliche Schärfe ausgelegt werden. Neuere deutschsprachige Entwürfe zu einer Theologie der Religionen haben sich durchaus auch mit der Klärung der unterschiedlichen Möglichkeiten, eine dialogorientierte Religionstheologie zu konzipieren, befasst. Dabei wird auch die Geschichte dieses Ansatzes kritisch mitbedacht. So positioniert sich etwa Reinhold Bernhardt bewusst inklusivistisch, aber im Rahmen einer historisch wie materialdogmatisch reflektierten Normativität.129 Sofern der Massstab zur Beantwortung

128 Alf Christophersen; Probleme der Religionstheologie – Probleme mit der Religionstheologie, in: Friedrich Wilhelm Graf; Friedemann Voigt (Hg.): Religion(en) deuten. Transformationen der Religionsforschung, Berlin u. a. 2010, 303–330, 304. 129 Reinhold Bernhardt: Klassiker der Religionstheologie im 19. und 20. Jahrhundert. Historische Studien als Impulsgeber für die heutige Reflexion, Zürich 2021; vgl. insbes a. a. O. 321ff („Überlegungen zur Konstitution einer Theologie der Religionen“). Die Durchführung dieses Ansatzes lässt

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der oben genannten Fragen als ein christlicher (bzw. als im Rahmen der christlichen Tradition symbolisch bearbeitbar) ausgewiesen werden kann und das Ziel auch nicht die Grunderneuerung des Gottesbildes sein muss, ist die pragmatische Ausklammerung bestimmter Grundsatzfragen (wie der genannten) nicht nur hilfreich, sondern geboten. Dies scheint mir eine gangbare Alternative zu Pannenbergs Ansatz zu sein, die auch der ‚Zwitterstellung‘ der deutschsprachigen Theologietradition der Moderne, oszillierend zwischen religiöser Praxis und wissenschaftlicher Reflexion, gerecht wird. Allenfalls wäre zu fragen, wie der Anschluss an den allgemeineren Wissenschaftsdiskurs gestaltet werden soll, wenn die genannten Grundsatzfragen vornehmlich im Binnenraum der Theologie bearbeitet werden. Es steht zu vermuten, dass eine mögliche Brücke die Ethik sein könnte; anzuknüpfen wäre beim ethischen Anliegen der Gleichbehandlung und gleichen Würde unterschiedlicher religiöser Positionen. Ob damit andererseits eine funktionalistische Verengung des Religionsbegriffs zu vermeiden wäre, müsste sich zeigen. Ungeklärt bleibt aber auch im Rahmen gegenwärtiger „Theologien der Religionen“ die von Pannenberg aufgeworfene Frage nach der Religionsgeschichte. Wie wird die Entstehung und die Entwicklungsdynamik der „Religion“ bzw. der „Religionen“ historisch beschrieben, wenn die traditionellen hierarchischen Entwicklungstypologien vermieden werden sollen? Pannenberg selbst hat keine ausführlich ausgearbeitete Theologie der Religionsgeschichte vorgelegt bzw. nicht in Form einer „Theologie der Religionen“ als Fundamentaltheologie. Im ersten Band seiner „Systematischen Theologie“ hat er die Auffassung erneuert, dass die „Religionsgeschichte als Kritik der Religionen und ‚Erscheinungsgeschichte‘ des in ihnen verborgenen göttlichen Geheimnisses, der wahren Wirklichkeit Gottes“130 zu verstehen sei. Die damit vorausgesetzte „anzunehmende Einheit der Religion in der Geschichte der Religionen“ hat ihren Grund in der Annahme einer Einheit der „göttlichen Wirklichkeit“131 . Diese aber muss als metaphysische Voraussetzung (unter dem eschatologischen Bewahrheitungsvorbehalt) letztlich unerklärt bleiben.132 Die Konzeption einer Religionsgeschichte als Kritik der Religion(en) ist aber von dieser Voraussetzung abhängig. Denn sie wird erst auf diesem Hintergrund lesbar als Geschichte zunehmender Klärung der Gotteserkenntnis133 und damit letztlich als „Streit um den wahren Glauben“134 . An anderer Stelle heißt es programma-

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sich nun nachvollziehen in Ders.: Jesus Christus – Repräsentant Gottes. Christologie im Kontext der Religionstheologie, Zürich 2021. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd. 1, 187. Ebd. Die Behauptung, der philosophische Begriff des Absoluten erfülle diese Funktion (vgl. a. a. O., 193f) muss für andere Wissenschaftsdisziplinen hermetisch erscheinen. Vgl. A. a. O., 194–205. Wolfhart Pannenberg: Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, 253.

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tisch: „Die Endgültigkeit der christlichen Offenbarung kann nicht als supranaturale Voraussetzung einleuchten, sondern nur dann, wenn sie sich im Rahmen eines unbefangenen Gesamtprozesses der allgemeinen Religionsgeschichte ergibt.“135 Entscheidend ist für eine Weiterführung dieser Fragestellung das Konzept von Geschichtsschreibung, das hier jeweils veranschlagt wird. Nach dem bisher erörterten müsste die Aufgabe beschrieben werden als „Religionsgeschichte im Rahmen einer allgemeinen, empirisch vermittelbaren Geschichte des menschlichen Geistes“. Damit ist grundsätzlich behauptet, dass es der (im weiteren Sinne) historische Zugriff ist, der die resultierende Systematik informieren – oder auch klären – soll. Das ist ein grundlegender Unterschied (aber damit nicht unbedingt schon ein Gegensatz) zu denjenigen Religionstheologien, deren primäres Interesse im (synchronen) Dialog besteht. Pannenberg selbst hat seine diesbezüglichen Anstrengungen folglich immer stärker auf den Bereich der Naturgeschichte konzentriert. Dies hat seinen Grund wohl auch darin, dass für ihn zunehmend die Anthropologie als Fundamentaldisziplin der Religionswissenschaft in den Fokus rückt. Allein auf dieser Beschreibungsebene sind empiriefähige Aussagen zu treffen, wenn die Methode den Ansprüchen angepasst wird. Die heilsgeschichtliche Konzeption der Religionsgeschichte muss, so könnte man diese Schwerpunktverlagerung lesen, nun auch in konkreteren Zusammenhängen erhärtet werden können. Damit aber stellt sich tatsächlich die Frage nach einer Naturgeschichte des Geistes. 3.3 Religionsgeschichte als Naturgeschichte des Geistes Pannenberg ist im internationalen theologischen Gespräch zu einem der Protagonisten der Diskussionen um die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaften geworden.136 Diesbezügliche Ausführungen finden sich in einer Vielzahl von einzelnen Publikationen, Sammelbänden, sowie in seiner „Anthropologie“ wie auch (vor allem) im zweiten Band seiner „Systematischen Theologie“137 . Bekanntlich steht dabei die Grundannahme im Vordergrund, dass Theologie und Naturwissenschaften (oder auch: „religion and science“) von derselben Wirklichkeit sprechen und sich dabei auf derselben Aussagenebene bewegen. Es müsse sich zeigen lassen, dass das, was theologisch über die Welt ausgesagt wird, nicht nur

135 A. a. O., 255. 136 Einschlägige Aufsätze aus den 1970er bis zu den 2000er Jahren zu dieser Thematik sind zudem in einem von Niels Henrik Gregersen herausgegebenen Sammelband enthalten: Wolfhart Pannenberg: The Historicity of Nature. Essays on Science and Theology, West Conshohocken 2008. 137 Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd. 2.

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historisch plausibilisierbar, sondern auch von Naturwissenschaftler:innen nachvollziehbar – und überprüfbar – sei. Es ist dabei nicht ganz einfach, Pannenbergs Position einem der bestehenden ‚Interaktionsmodelle‘ eindeutig zuzuordnen.138 Pannenberg selbst sah jedenfalls keine Form des Konflikts zwischen Theologie/ Religion und Naturwissenschaft.139 Im Kontext einer offenbarungsgeschichtlichen Theologie, die ihren Wahrheitsanspruch mit einem eschatologischen Vorbehalt versieht ist eine solche Position vermutlich auch nicht notwendig. Anders mag es hingegen aussehen, wenn die Perspektive gewechselt wird. Dann kann Pannenbergs Theologie wahlweise als esoterisch140 oder auch als beinahe fundamentalistisch141 erscheinen. Um solche Verschlagwortungen kann es an dieser Stelle allerdings nicht gehen, denn sie treffen das Anliegen der Theologie Pannenbergs kaum. Wohl aber muss sich seine Theologie gerade aufgrund ihres Anspruchs naturwissenschaftlichen Kritiken aussetzen und ihre religionstheoretische und -historische Konzeption im Blick auf ‚die harten Fakten‘ en detail zu klären zumindest versuchen; anderenfalls würde die Theologie ihren Anspruch auf angemessene Klärung der Wahrheitsgehalte des Glaubens aufgeben: „Der Verzicht darauf, die von den Wissenschaften beschriebene Welt als die Welt Gottes in Anspruch zu nehmen, bedeutet den Ausfall der gedanklichen Rechenschaft für das Bekenntnis zur Gottheit des Gottes der Bibel.“142 Es ist auf der anderen Seite klar, dass solche Klärungsversuche ihrerseits hochgradig spekulativ, und damit auch ungenau bleiben müssen. Das betrifft insbesondere den Bereich der Kosmologie und des nichtmenschlichen Lebens.143 Am konkretesten lässt sich eine Diskussion wohl führen im Bereich der Evolutionstheorie und der theologischen Anthropologie.144 Dazu bietet sich gegenwärtig die Perspektive evolutionärer und kognitiver Religionstheorien an. In dieser in den 1990er Jahren entstandenen und seitdem stetig angewachsenen Disziplin145 wird „Religion“ als anthropologische Konstante be-

138 Vgl. zur typologischen Schematisierung der Interaktionsmodelle Helen de Cruz: Art. ”Religion and Science”, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2022 Edition), hg. Von Edward N. Zalta; Uri Nodelman, https://plato.stanford.edu/archives/fall2022/entries/religion-science/(zuletzt abgerufen am 10. Februar 2023). 139 Wolfhart Pannenberg: Notes on the alleged conflict between religion and science, in: Zygon 40 (2005), 585–588. 140 Vgl. Michael Bergunder: Umkämpfte Historisierung. 141 Wilfried Gerhard: Faktisch fundamentalistisch: Erwiderung auf Wolfhart Pannenberg, in: Evangelische Kommentare 27 (1994), 89–91. 142 Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie Bd. 2, 77f. 143 Spezifisch sind vielleicht zu nennen die durchaus originellen Ausführungen zu „Kraft, Feld und Geist“ (ST II, 99–105; 119–124, u. a.). 144 Vgl. ST II 139–161. 145 Zur Geschichte des Fachs vgl. Claire White: An Introduction to the Cognitive Science of Religion. Connecting Evolution, Brain, Cognition, and Culture, London/New York 2021.

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hauptet und ihr Auftreten evolutionär und neurophsyiologisch begründet – eine Annahme, die der postkolonialen religionswissenschaftlichen Kritik nun gerade zuwider läuft. Denn nicht nur wird behauptet, das Auftreten eines „Religion“ genannten Phänomenbereichs sei anthroplogisch konstant. Vielmehr wird das Thema dieser „Religion“ sehr spezifisch etwa als Glaube an „übernatürliche“ Agenten bzw. generell das Vorhandensein von „spernatural concepts“ definiert.146 Die cognitive science of religion setzt an demselben Punkt an, den bereits Günther Dux aus soziologischer Perspektive in verschiedenen Anläufen untersuchte: Wie ist der Ursprung (und damit der Sinn) von Religion gattungshistorisch zu erklären? Der Unterschied zu Dux‘ Theorieangebot besteht darin, dass die kognitive Religionswissenschaft vordergründig empirisch arbeitet. Damit agiert sie praktisch auf derselben wissenschaftstheoretischen Ebene wie naturalistische Theorien des Bewusstseins. Dabei ist die Grundannahme (die sich auch bei Dux findet) leitend, dass „Religion“ von Menschen „erfunden“ oder zumindest „gemacht“ oder „konstruiert“ wurde, ohne dass dieses „Machen“ intentionaler Natur sein müsste. Mit dieser Grundannahme ist ein reduktionistisches Konzept von „Religion“ verbunden, das seinerseits nicht weiter begründet wird: „Religion“ lässt sich durch anderes erklären, ist also kein Phänomen sui generis, sondern gehört zu dem nicht weiter spezifizierten Bereich der „Kultur“147 und unterliegt denselben ‚evolutionären‘ Gesetzen wie dieser. Interessanterweise wird für die kulturelle Evolution ein selektiver Mechanismus unterstellt.148 Anders gesagt: Der Traditionsprozess selbst „reinigt“ gewissermaßen den religiösen Ideenhimmel, indem er dessen Komplexität auf wenige Konzepte reduziert. Auch dies könnte gelesen werden als eine i.w.S. ‚heilsgeschichtliche‘ Konzeption. „Religion“ ist, folglich, in sich selbst grundsätzlich ein einheitliches Phänomen des menschlichen Bewusstseins.

146 Vgl. z. B. exemplarisch Pascal Boyer: Religion Explained. The Evolutionary Origins of Religious Thought, New York 2001. 147 Vgl. a. a. O., passim. 148 „Concepts in the mind are constructed as a result of being exposed to other people’s behavior and utterances. But this acquisition process is not a simple process of ”downloading” notions from one brain to another. People’s minds are constantly busy reconstructing, distorting, changing and developing the information communicated by others. This process naturally creates all sorts of variants of religious concepts, as it creates variants of all other concepts. But then not all of these variants have the same fate. Most of them are not entertained by the mind for more than an instant. A small number have more staying power but are not easily formulated or communicated to others. An even smaller number of variants remain in memory, are communicated to other people, but then these people do not recall them very well. An extremely small number remain in memory, are communicated to other people, are recalled by these people and communicated to others in a way that more or less preserves the original concepts. These are the ones we can observe in human cultures.“ A. a. O., 32f.

Theologie als Wissenschaft der „Religion“

Mit diesem Ansatz wenden sich Vertreterinnen und Vertreter der kognitiven Religionswissenschaft gegen solche Strömungen in den Geistes- und Kulturwissenschaften, die auch Pannenberg ein Dorn im Auge sein mussten. Besonders wird gegen jegliche Form des kulturellen Relativismus und Partikularismus und für eine zumindest in Grundzügen einheitliche, gattungsgeschichtlich informierte Anthropologie argumentiert. Damit finden sich diese Theorieansätze zumindest größerenteils auf derselben argumentativen Linie, wie Pannenberg: „Religion“ ist ein grundlegendes anthropologisches Phänomen, das nicht beliebig definiert werden kann, sondern allgemeine ausweisbare Grundzüge aufweist.149 Wenn „Religion“ ein solches Phänomen ist, dann muss ihre Existenz und Verbreitung auch allgemein aufgewiesen werden können. „Religion“ ist ein geschichtliches Phänomen; in seiner Historizität liegt aber nicht ein Grund für seine Relativität, vielmehr kristallisieren sich im Lauf der Kulturgeschichte spezifische hegemoniale Religionsformen heraus – da nur diese ausreichende (psychische) Mehrleistungen erbringen, um sich auf Dauer behaupten zu können.150 Diese „Mehrleistung“ besteht darin, reflektierte Konzeptualisierungen von Intuitionen anzubieten (z. B. Teleologien, oder auch, allgemeiner, die Idee übernatürlicher Handlungssubjekte), die in symbolischer Form (als Theologien) tradiert werden.151 Allerdings bringt genau dieser letztere Punkt ein grundlegendes Theorieproblem mit sich: Wenn „Religion“ (1) gattungsgeschichtlich allgemein und konstant ist, und (2) solche Grundzüge aufweist, die erlauben, das Phänomen auch als „Religion“ auszuweisen, dann muss (3) zumindest eine sehr weite und formale Definition von „Religion“ existieren. Die Schlussfolgerung (3) wird allerdings im Rahmen der kognitiven Religionswissenschaft zurückgewiesen. Der daraus resultierende „bottom-up, fractionation approach“152 , der die Forschungsrichtung seit ihren Anfängen prägt, bringt nicht nur „unsaubere Gegenstände“153 hervor, sondern

149 Damit ist wiederum nicht gesagt, dass „Religion“ in dieser Perspektive immer einheitlich sein müsste. Vielmehr wird von einander überlappenden Grundzügen ausgegangen, die eine Form von ‚Familienähnlichkeit‘ konstituieren, aber nicht alle in jeder Religionstradition aufweisbar sind. „Religion“ als anthropologische Konstante ist grundsätzlich in sich plural, wenngleich nicht beliebig. 150 Vgl. Jerome H. Barkow; Lea Cosmides; John Tooby: The Adapted Mind. Evolutionary Psychology and the Generation of Culture, Oxford 1992. 151 Vgl. Justin L. Barrett (Hg.): The Oxford Handbook of The Cognitive Science of Religion, Oxford 2022, Part II: Religious Concepts, a. a. O., 67–132, sowie v. a. James van Slyke; Jason Slone: Key Ingredients for a World Religion. Insights from Cognitive and Evolutionary, in: a. a. O., 257–277. 152 Claire White: Introuction, 32. 153 Pascal Boyer: Religion as an Impure Subject. A Note on Cognitive Order in Religious Representation in Response to Brian Malley, in: Method & theory in the study of religion 8,2 (1996), Special Issue: Cognition, Culture, and the Study of Religion, 201–213.

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arbeitet auch in seinen hermeneutischen Grundannahmen – unsauber. Denn die beabsichtigte „Erklärung“ qua Reduktion ist ein Modus der Kritik. Und tatsächlich muss gelten: „Wer Religion kritisiert, der nimmt selbst schon einen normativen Religionsbegriff in Anspruch.“154 Diesen allerdings nicht offenzulegen oder gar auszuarbeiten, entzieht der Kritik ihre gedankliche Kraft. Verdeutlichen lässt sich dies mit Blick auf Pannenbergs Grundannahmen anhand der Unterscheidung verschiedener Aussageebenen. Bei Pannenberg ist „Religion“ ein Phänomen, das nicht ausschließlich auf der Ebene von „Intuitionen“ angesiedelt ist. Vielmehr werden (i) Intuitionen über die Welt, den Menschen, Gott, in einen (ii) Deutungszusammenhang gestellt, der geschichtliche, existentielle sowie handlungspraktische Aspekte integriert. Dafür steht der Sinnbegriff. Diese Deutungsebene ist wiederum mehrschichtig. „Sinn“ stellt sich für einen Menschen ein auf der Ebene des (iia) Erlebens, der Erfahrung. Solches Sinnerleben wird aber wiederum gedeutet und in einen breiteren konzeptionellen Rahmen (iib) eingeordnet. Die Resultate dieses Deutungsvorgangs – die religiösen Symbole – werden ihrerseits (iii) im Kontext der theologischen Überlieferung reflektiert und (iv) in die interdisziplinäre Diskussion eingespeist. Diejenige Aussagenebene, die für die Auseinandersetzung mit der kognitiven Religionswissenschaft am interessantesten ist, nämlich der mit dem Sinnbegriff indizierte Deutungszusammenhang, ist selbst nicht reflexionsabstinent. Bereits auf der Ebene der „Religion“ sind folglich ‚paratheologische‘ Prozesse angesiedelt. Damit ist der von Pannenberg verwendete Religionsbegriff selbst auf einer anderen Aussagenebene angesiedelt, als die in der kognitiven Religionswissenschaft untersuchten Phänomene. Zwar wird auch dieser Einwand im Rahmen der kognitiven Religionswissenschaft reflektiert: „The reason the hermeneutical approaches reject causal explanation is […] the claim that cultural and religious phenomena cannot be understood in terms of physical phenomena; rather, they inhabit a world of their own – the world of meaning. However, as plausible this premise might seem, it is a mistake.“155

Die hier in Frage stehende „world of meaning“ bezeichnet eine in wert- oder sinnmetaphysischen Ansätzen verbreitete Konzeption, die von der Existenz eines

154 Vgl. Christian Danz: Systematische Theologie, Tübingen 2016, 120; vgl. auch Jörg Dierken: Kritik der Religion. Religionsbeurteilung, Götterdiskriminierung und Kriterien religiöser Vernunft, in: Ders.: Selbstbewusstsein individueller Freiheit. Religionstheoretische Erkundungen in protestantischer Perspektive, Tübingen 2005, 69–90. 155 Aku Visala: Philosophical Foundations of Cognitive Science of Religion, in: Justin L. Barrett (Hg.): The Oxford Handbook of The Cognitive Science of Religion, 27–47, 31.

Theologie als Wissenschaft der „Religion“

eigenen Realitätsbereichs ausgeht. So würden spezifische „Werte“ oder auch „Ideen“ ganz unabhängig von der Genese des deutenden Individuums existieren und auch überindividuell erschließbar sein. Eine solche materiale ‚Sinnmetaphysik‘ wird tatsächlich in manchen Theologien bzw. Religionstheorien vertreten.156 Allerdings ist der von Pannenberg verwendete Sinnbegriff anders geartet. „Sinn“ bezeichnet für ihn einerseits die Qualität spezifischer Erfahrungen und Erlebnisse, andererseits aber auch das Resultat ihrer Deutung. „Sinn“ ist zudem auch ein heuristisches, formales Theoriekonzept im Rahmen der Theologie. Damit trifft für Pannenbergs theologische Religionstheorie eine Tatsache zu, die für die Mehrheit deutschsprachiger „Religions“-Theologien des 19. und 20. Jahrhunderts typisch zu sein scheint: Die gerne mit dem Namen Friedrich Schleiermachers in Verbindung gebrachte Unterscheidung von „Religion“ und „Theologie“ wird zwar einerseits eingeschärft. Andererseits wird sie aber sogleich unterlaufen, denn das als „Religion“ bezeichnete Phänomen ist seinerseits derartig verwoben in Deutungs- und Reflektionsvorgänge, dass es kaum als „theologiefrei“ gelten kann. Damit ist aber eine gänzlich anders geartete Religionskonzeption im Blick, als die in der kognitiven Religionswissenschaft veranschlagte (oder auch die weiter oben kritisierte). Hiermit scheint mir ein Grundproblem benannt, das sowohl in der (deutschsprachigen) disziplinären Auseinandersetzung zwischen „Theologie“ und „Religionswissenschaft“ zu einigen Unklarheiten führt, als auch im weiteren Zusammenhang des interdisziplinären Gesprächs: Die deutschsprachige theologische „Religions“-Debatte des 19. und 20. Jahrhunderts ist, trotz aller materiellen und formalen Differenzen, geprägt von einer sehr spezifischen Konzeption der Religion, die aufs Engste mit der Geschichte des modernen Protestantismus in Deutschland, der Schweiz und Österreich verbunden ist. „Religion“ wird in diesen Debatten, wie auch hier, sehr häufig selbst als bereits hochgradig intellektualisiertes Unterfangen verstanden. In der Selbstwahrnehmung deutschsprachiger protestantischer Theolog:innen kann sich dies so abbilden, „das sich der Begriff der Religion einer geschichtlich gewordenen Kultur verdankt, die sich selbst mit dem Religionsbegriff beschreibt.“157 Auf der anderen Seite erlaubt es gerade dieser Zugriff, gerade solche Natur- und Sozialwissenschaften auf ihre Grundannahmen hin zu befragen, die selber ein grundsätzlich historisch strukturiertes Denkmodell in ihren Begründungszusammenhängen mitführen. Das gilt, wie gezeigt wurde, für verschiedene Formen der kognitiven Religionswissenschaft. Diesen müsste es eigentlich ein Anliegen sein, das zugrunde liegende gattungsgeschichtliche Entwicklungsmodell auch beschreiben zu können – bereits um die Plausibilität ihrer Argumentationslinien aus dem

156 So etwa bei Rudolf Otto, Clifford Geertz, Mircea Eliade oder auch William James. 157 Christian Danz: Systematische Theologie, Tübingen 2016, 108.

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Bereich des rein Spekulativen herauszuführen. Dies scheint aber, wie ebenfalls gesehen wurde, häufig nicht der Fall zu sein.

4.

Zukunftsweisende Aspekte: Innovative Momente in der Theologie Wolfhart Pannenbergs

Der Versuch, Religionsgeschichte als Naturgeschichte des Geistes zu präfigurieren, ist, naturgemäss, gewagt, denn er scheint von Beginn an unterschiedliche Beschreibungsebenen zu vermischen. Gleichwohl ist auch anthropologisch die Frage nach „dem Unterschied“ oder auch „dem Humanum“ der Spezies homo sapiens, nicht abschliessend beantwortet und wird kaum ohne entsprechende vergleichbare Deutungsangebote auskommen. Hier scheinen gegenwärtige deutschsprachige Theologien häufig eher mutlos als inspirierend.158 Auch die von Pannenberg immer mitgeführte Anfrage, ob und wie es möglich sei, gesamtgesellschaftlich die Legitimität zentraler Institutionen und Werte sicherzustellen, scheint mir in eine Richtung zu weisen, die von nicht unerheblicher Relevanz ist: Welche grundlegenden weltanschaulichen oder religiösen Ideen prägen denn gesamtgesellschaftliche Übereinkünfte, woher stammen die „europäischen Werte“? „Braucht“ Demokratie Religion?159 Solche Fragen ergebnisoffen und kontrovers diskutieren zu wollen, ist nicht zuletzt eines der Verdienste Pannenbergs. Und schliesslich: „Religion als Sinnverstehen“, „Religion“ als Sinndeutung“. Man kann dieser Grundannahme, wie auch der spezifischen Prägung, die Pannenberg ihr hat angedeihen lassen, vieles vorwerfen. Etwa eine kognitivistische Verengung, oder auch die Tatsache, dass hier vielleicht nicht „Religion“ sondern eher „Theologie“ beschrieben wird. Tatsächlich lassen sich aber, jedenfalls im Blick auf das Christentum, „Religion“ und „Theologie“ zwar analytisch, nicht aber faktisch vollständig voneinander trennen – wenn anders Theologie nicht zu einer rein deskriptiven Disziplin der allgemeineren Kulturgeschichte werden soll. Theologien sind Teil der Religionsgeschichte. Mutatis mutandis gilt dies für alle religionsbezogenen Disziplinen. Diese Frage angemessen aufzuarbeiten ist ein dringendes interdisziplinäres Forschungsdesderat.

158 Vgl. aber die vielfältigen Veröffentlichungen von Dirk Evers zum Thema, z. B. Raum – Materie – Zeit. Schöpfungstheologie im Dialog mit naturwissenschaftlicher Kosmologie, Tübingen 2000; Zwei Perspektiven und die eine Wirklichkeit. Anregungen zum Diskurs zwischen Glauben und Wissenschaft, Karlsruhe 2010; Naturalismus als Haltung. Zum Streit zwischen religiöser und natürlicher Weltanschauung, in: Heiko Schulz (Hg.): Natur – Freiheit – Sinn. Drei Leitbegriffe religiöser Selbstpositionierung im Gespräch mit Paul Tillich Leipzig 2020, 46–84, u.v.m. 159 Vgl.Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion. Mit einem Vorwort von Gregor Gysi, Stuttgart 2022.

Theologie als Wissenschaft der „Religion“

Ob die Kategorie „Sinn“ geeignet ist, das Proprium der Religion zu beschreiben, mag bestritten werden; dass mit diesem Ansatz einer der anspruchsvollsten Versuche vorliegt, das Thema „Religion“ im Rahmen der Theologie so zu behandeln, dass es auch für Nichttheologinnen zugänglich wird, lässt sich hingegen auch nach 50 Jahren kaum bestreiten und ist aus meiner Perspektive zukunftsweisend, wie ein Blick auch in andere wissenschaftliche Disziplinen zeigt.160 Ein letzter Punkt: Wie insbesondere der Blick in den Bereich der „Theologie der Religionen“ gezeigt hat, ist für die Theologie ausschlaggebend, wie mit dem eigenen Anspruch auf Wahrheit und Geltung theologisch umgegangen wird. Mir scheint, dass gerade dieser Aspekt in einer Zeit von enormer Wichtigkeit ist, in der relativierende und kritische Theoriediskussionen zu Recht auch im Bereich der Religionstheorie geführt werden. Den Anspruch auf Wahrheit und adäquate Weltbeschreibung nicht nur innerhalb der Theologie sondern auch der „Religion“ auszuklammern oder vollständig in Frage zu stellen ist für Theologien in einer Zeit zunehmender akademischer wie aber auch religiöser Marginalisierung aus meiner Perspektive kein zukunftsweisender Weg. Hier kann Pannenbergs Theologie weiterhin inspirierende Impulse setzen.

160 Vgl. Volker Gerhardt: Der Sinn des Sinns, 2017; Francesco Paolo Ciglia: Sinn oder Nicht-Sinn? 2018; Emil Angehrn: Sinn und Nicht-Sinn, 2010; Klüners/Rüsen: Religion und Sinn 2020.

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Religionswissenschaft oder Theologie? Unterschiede in Christentum und Islam Kann Theologie Wissenschaft sein?1 Wolfhart Pannenberg hat diese Frage erwartungsgemäß bejaht; und gute Gründe dafür angeführt – ebenfalls erwartungsgemäß. Was aber macht die Wissenschaftlichkeit der Theologie aus? Wer sie nur „historisch-antiquarisch“2 betreibe – so Pannenberg –, erziele keinen Erkenntnisgewinn und könne daher noch nicht beanspruchen, wissenschaftlich tätig zu sein; und ebensowenig, wer der Theologie „dezisionistisch“ (299) das nun einmal gegebene Christentum zugrundelege. Denn dessen Wahrheit müsse eine theologische Wissenschaft ja erst einmal nachweisen. Darum geht es der Theologie. Wolfhart Pannenberg zufolge fragt sie also notwendig nach der Wahrheit des Glaubens, den sie reflektiert. Von einer so verstandenen Theologie grenzte bekanntlich bereits 1924 Joachim Wach in seiner Heidelberger Habilitationsschrift seine eigene Disziplin, die Religionswissenschaft, ab. Er tat dies mit den Worten: „sie ist einfach die Übernahme des religiösen Anspruchs, der religiösen Selbstaussage ohne Diskussion und unter ausdrücklicher Ausschaltung (Einklammerung) der Gültigkeits-Wahrheitsfrage.“3 So scheint Einigkeit in der theologischen Grundbestimmung zu bestehen: Theologie stellt die Wahrheitsfrage inhaltlich; und damit wäre die Wissenschaftlichkeit der Theologie doch bereits begründet. Mit ihrem „historisch-antiquarischen“ – oder bloß referierenden – Vorgehen liegt die Religionswissenschaft in Pannenbergs Gegenüberstellung sogar auf der weniger wissenschaftlichen Seite. Man könnte aber den Gesichtspunkt nachreichen, dass die Wahrheitsfrage religionswissenschaftlich zwar anders gestellt wird, aber immerhin eine Rolle spielt: Man fragt hier einfach,

1 Ich danke Angelica Hilsebein, Mira Sievers und Tobias Specker für wertvolle Verbesserungsvorschläge zu früheren Versionen des vorliegenden Beitrags. 2 Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt: Suhrkamp ²1977, S. 299f. Seitenzahlen oben im Text beziehen sich auf dieses Buch. 3 Kursives im Original gesperrt, Eingeklammertes so im Original: Joachim Wach, Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung, Leipzig: J.C. Hinrichs 1924, S. 26. Das Pronomen „sie“ bezieht sich in diesem Satz auf „die Annahme der Autonomie der Religion“; der oben zitierte Ausdruck wird für Wach aber zum religionswissenschaftlichen Programmwort. – Dass sich die Theologie der Religionswissenschaft ebenfalls scharf entgegenstellen kann, zeigt schon das in theologischen Kreisen verbreitete Bonmot, Religionswissenschaft sei wie Leberkäse – der ja weder Leber noch Käse enthält.

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ob diese oder jene Sichtweise in dieser oder jener Tradition tatsächlich vertreten wurde; nicht aber, ob die betreffende Sichtweise wahr ist. Nun kommen jedoch zwei weitere Gesichtspunkte hinzu. Beide können den Wissenschaftscharakter der Theologie sofort wieder unterlaufen. Es sind die Gesichtspunkte Thematik und Methode. Wenn nämlich einer Fragestellung jeder Bezug zur Wirklichkeit fehlte, könnte sie sich schwerlich im institutionell-wissenschaftlichen Geschehen halten – sie wäre dann ein Glasperlenspiel; und wenn sie einer weltbezogenen Wahrheitsfrage zwar nachginge, dies aber ohne ein kritisch entwicklungsfähiges Verfahren unternähme, könnte sie ebenfalls kaum als wissenschaftlich gelten – sie wäre dann so etwas wie die Astrologie. Beide Gesichtspunkte sind daher zu berücksichtigen: Thematik und Methodik der Theologie. Diese beiden Gesichtspunkte aber lassen sich, wie sich gleich zeigen wird, nicht getrennt voneinander behandeln.

1.

Die theologische Grundfrage

Die Theologie stellt die Wahrheitsfrage; aber was befragt sie damit? Thema der Theologie ist für Pannenberg „die Wirklichkeit Gottes“ (299f.). Der Ausdruck erfordert selbst eine Erklärung. Die Rede von Gottes Wirklichkeit als theologisches Zentralthema verwendet Pannenberg, wie sich bei ihm im weiteren Textverlauf zeigt, in einem dreifachen Sinne: (1) „Die Wirklichkeit Gottes“ kann schlicht „Gott“ meinen, oder (2) „dass Gott keine reine Fiktion ist“; (3) das Thema der „Wirklichkeit Gottes“ kann aber eben auch eine Frage sein, nämlich: „ob Gott in der Geschichte wirksam ist“. Dass Pannenberg diese Frage meint, erweist sich an seiner Bemerkung, die Theologie müsse die Fraglichkeit der Gotteswirklichkeit aufgreifen (301). Folglich habe Rede von Gott, wenn wissenschaftlich, offen zu geschehen, unabgeschlossen: nicht dogmatisch, sondern „problematisch“ (301). So zeigt sich mit der Thematik auch bereits ein Teil der Methodik. Weil sich die Wirklichkeit Gottes erst in der Geschichtsvollendung erwiesen haben wird, bleibt die Gotteswirklichkeit innergeschichtlich notwendig umstritten. Theologie müsse daher „hypothetisch“ vorgehen. Gegen das Zwischenergebnis, Gott sei die Grundhypothese der Theologie, lassen sich nun allerdings mindestens zwei Einwände vorbringen. Einerseits ließe sich dagegenhalten, dass mit der Charakterisierung der Wirklichkeit Gottes als Hypothese nicht zutreffend beschrieben sei, welchen Status der Gottesbezug von Gläubigen hat: Religiöser Glaube ist doch keine probehalber übernommene Möglichkeitsvorstellung, die ihre Widerlegung dankbar als Erkenntnisfortschritt begrüßt. Mit „Hypothese“ beschreibt Wolfhart Pannenberg allerdings auch nicht einen bestimmten – niedrigen – Grad an Überzeugtheit von Gläubigen.

Religionswissenschaft oder Theologie?

Vielmehr klärt Pannenberg, wenn er Gottesrede als hypothetisch bezeichnet, dass sie bestreitbar ist – und tatsächlich bestritten wird. Pannenberg spricht hier nicht davon, wie sehr sich Gläubige mit ihrem Glauben identifizieren, sondern welchen erkenntnistheoretischen Status ein Sprechen von Gott angesichts beschränkter irdischer Erkenntnisfähigkeiten lediglich haben kann; und er verlangt, dass die Theologie als Wissenschaft darüber sich selbst und ihren Gesprächspartnern Rechenschaft gibt. Den anderen Einwand trägt Pannenberg selbst vor: Eine Hypothese wird dadurch als zutreffend oder verkehrt erwiesen, dass das mit ihr vorläufig Behauptete in der Wirklichkeit eintritt oder nicht. Damit verweist jede Hypothese auf etwas außerhalb ihrer selbst Liegendes, auf die erfahrbare Wirklichkeit. Wenn nun aber „Gott“ das Thema der Theologie sein soll, „Gott“ als Hypothese allerdings auf anderes verweist, weil jede Hypothese auf die erfahrbare Wirklichkeit deutet, dann ist doch das Thema der Theologie offenkundig gerade nicht nur Gott, sondern auch diese andere Wirklichkeit, von der die Gotteshypothese widerlegt oder bestätigt werden kann. Damit könne die Hypothese Gott also gar nicht das Thema schlechthin einer Wissenschaft sein. Pannenberg geht auf diesen Einwand ein, indem er erwidert: Mit „Gott“ werde ja kein beliebiger Gegenstand bezeichnet, sondern die alles bestimmende Wirklichkeit (302). Damit sind Gott und die gesamte Wirklichkeit keine getrennten Themen mehr. Allerdings erfordert auch Pannenbergs hiermit unterbreitetes Angebot einer Nominaldefinition des Wortes „Gott“ eine genauere Betrachtung. Die Rede von Gott als alles bestimmender Wirklichkeit findet er in dem berühmten Aufsatz Rudolf Bultmanns aus dem Jahr 1933, weiß aber, dass sie nicht erst von Bultmann stammt. Vielmehr hat dieser sie als breit akzeptiertes Gemeingut aufgegriffen (304) – und übrigens selbst dann nicht erkenntnisleitend genutzt. Was bedeutet hier „bestimmen“? Es geht nur scheinbar um ein Festlegen. Vielmehr können drei Hinweise weiterhelfen. (1) Die Theologie reformatorischer Tradition spricht bereits im 18. Jahrhundert4 von „Bestimmung“, gerade in der Formel von der Bestimmung des Menschen, und zwar in einem wohl bewusst mehrdeutigen Sinne, nämlich: was etwas ist, sein soll und sein wird. Um dies auf Begriffe zu bringen: Die Bestimmung des Menschen erfolgt in der Theologie taxonomisch, ethisch und eschatologisch. (2) Das aber meint nicht, dass die Bestimmung von einzelnen Menschen oder des Menschen schlechthin theologisch als schicksalsgegeben anzunehmen wäre. Gottes Bestimmen geschieht mittels seiner Geschichtsmacht. Dies bedeutet: Durch sie wird alles Einzelne im Gesamt seinen sinnvollen Platz erhalten. Dass Gott alles

4 Johann Joachim Spalding, Die Bestimmung des Menschen. Die Erstausgabe 1748 und die letzte Auflage von 1794, herausgegeben von Wolfgang Erich Müller, Waltrop: Spenner 1997.

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„bestimmt“, heißt daher nicht, dass eine Schicksalsmacht jede Selbstbestimmung in der Welt ausschließt, sondern: Durch seine regierende Weisheit ist Gott der Grund dafür, dass alles, was ist, genau dasjenige ist, was es ist und sein wird. Gottes regierende Weisheit aber lässt die Geschöpfe gestalterisch am Geschichtslauf beteiligt sein. (3) Da „Bestimmung“ das Übersetzungswort für τέλος/telos ist – etwa um anzugeben, was das „Ziel“ vernunftbegabter Lebewesen ist5 – lässt sich „Bestimmung“ wohl heute mit „Sinn“ wiedergeben. Dann ließe sich „die alles bestimmende Wirklichkeit“ wiedergeben als die Wirklichkeit, die alles seinen Sinn finden lässt. Damit dürfte der Wirklichkeitsbezug der theologischen Grundthematik dargelegt sein. Wenn Gott die alles bestimmende Wirklichkeit ist, dann sind die einzelnen Erfahrungsgegenstände in Welt und Selbst der Menschen kein weiteres theologisches Thema neben dem Thema Gott; vielmehr gehört die erfahrbare Wirklichkeit selbst zur Frage nach Gott, ja zur Wirklichkeit Gottes. Denn das Geschehen ist das Feld, durch das und auf dem Gott seine alles bestimmende Macht erweist. Auf diesem Feld lässt sich folglich einzig die Prüfung der Hypothese von seiner Wirklichkeit durchführen. Eine solche Überprüfung ist allerdings noch nicht endgültig möglich. Denn das menschliche Erkennen ist begrenzt (301); und der Geschichtsverlauf ist noch nicht abgeschlossen (312). Menschen können jedoch – das erfüllende Ende vorwegnehmend – alles Einzelne bereits als so zusammenhängend verstehen, dass jedes Element zur Erfüllung von allem mitgewirkt haben wird: „Die Totalität der Wirklichkeit ist nicht abgeschlossen vorhanden. Sie wird nur antizipiert als Sinntotalität.“ (312) Mit diesem Blick auf alles Wirkliche und unter der Hypothese, dass Gott tatsächlich alles bestimmt, lässt sich auch sagen: Nicht nur einige Erfahrungsgegenstände können als Spur Gottes gelten, sondern alle (304). Damit aber liegt nun ein Raster vor, mit dem sich alle Religionen als Antwort auf dieselbe Frage vergleichen lassen. Die Frage lautet: Inwiefern gelingt es dieser oder jener Sichtweise, je neu auftretende Welterfahrungen so zu integrieren, dass auch sie als von Gott bestimmt deutlich werden? Mit anderen Worten: Man kann verschiedene religiöse Deutungsansprüche auf ihre Kraft hin vergleichen, „die tatsächlich erfahrende Wirklichkeit im verstehenden Umgang mit ihr zu erschließen“ (323). In diesem Sinn ließe sich im Grunde jeder Sinndeutungsentwurf der verschiedenen Religionen theologisch untersuchen. Pannenberg meint aber, jede Theologie habe sich an ihre je eigenen Quellen zu machen – allerdings stets

5 Z. B. Mark Aurel, Τὰ εἰς ἑαυτόν (Selbstbetrachtungen), II,16, letzter Satz. – Vgl. Christian Grawe, „Die Bestimmung des Menschen“ sowie Volker Gerhardt, „Sinn des Lebens“, beide in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, s.vv. – Übrigens folgt, wenn Gott derjenige ist, der alles bestimmt, dass er auch der Einzige ist, der allein durch sich selbst bestimmt ist.

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mit derselben Frage, inwieweit nämlich darin die All-Bestimmungsmacht Gottes erschließend zur Geltung kommt. Anders gesagt: Kann eine Religionsgemeinschaft aus ihrer normativen Grundlage (Texte, Traditionen) die Sinnfrage überzeugend beantworten? An diese letzte theologische Aufgabenzuteilung Pannenbergs wird sich die folgende Untersuchung nicht halten. Hier schaut die christliche Theologie vielmehr über ihre eigenen Quellen hinaus und nimmt auch eine andere Religion mit ihrem Quellenbezug und ihrer Reflexionstradition in den Blick. Eine solche Untersuchung legt sich schon deshalb nahe, weil die christliche Theologie im deutschsprachigen Raum heute in einer anderen Ausgangslage arbeitet als zu Pannenbergs Schaffensperiode. Die Fächer deutschsprachiger staatlicher Universitäten haben bekanntlich im letzten Jahrzehnt die islamische Theologie als neue Gesprächspartnerin hinzubekommen.6 Unter vergleichbaren Bedingungen wie die evangelischen und katholischen Universitätstheologien – und, in kleinerem Maßstab, auch die jüdische und christlich-orthodoxe Theologie – schreiben nun muslimische Vertreter*innen ihre Eigentraditionen fort. Einwände gegen die Einführung islamischer Theologie mit eigenen akademischen Instituten ließen nicht auf sich warten. Zum einen war die alte Infragestellung der grundsätzlichen Möglichkeit wissenschaftlicher und daher universitärer Theologie erneut zu hören. Dann kam die Forderung, die Theologien der verschiedenen Religionen sollten doch als ein und dasselbe Fach auftreten. Weiterhin hieß es, islamischerseits sei Theologie eine unzulässige Neuerung und daher unrealistisch, irrelevant, auch für die muslimischen Religionsgemeinschaften bedeutungslos, weil künstlich; und schließlich sei das Fach eine Bedrohung sowohl für die Islamwissenschaft, deren Existenz es gefährde, als auch für die christliche Theologie hierzulande, deren Renommee als hochrationale Disziplin mitruiniert würde durch den ‚unaufgeklärten‘ neuen Nachbarn. Zur Widerlegung solcher Einwände lässt sich gerade die Begriffsfassung Pannenbergs nutzen. Mit ihr lässt sich nämlich klären, ob christliche und islamische Theologie berechtigterweise an Universitäten betrieben werden. Pannenbergs Aufgabenstellung für die Theologie lässt sich ja, wie er auch selbst meinte, nicht auf den christlichen Glauben beschränken. Daher wäre ihm zufolge nun dreierlei zu untersuchen: Wie können christliche und wie können islamische Theolog*innen die Geschichtsmächtigkeit Gottes und damit die Geschichtserschließungskraft des eigenen Glaubens erweisen? Dem ist die Frage vorzuschalten: Können islamische Theolog*innen nachvollziehen, dass die Frage nach der

6 Vgl. Felix Körner, „Islamic University Theology. A Critical Interlocutor in the German-Speaking World“, in: Stefan Laurs, Ingo Proft und Markus Schulze (Hg.), Gott für die Welt. Festschrift für George Augustin, Freiburg im Breisgau: Herder 2021, S. 585–601.

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Geschichtsmächtigkeit Gottes und der Geschichtserschließungskraft des eigenen Glaubens das theologische Grundanliegen ist? Um die Antwort darauf verständlich zu machen, wäre allerdings zunächst ein Versuch zu unternehmen, den jeweiligen Eigencharakter der christlichen und der islamischen Theologie zu beschreiben.

2.

Christliche und islamische Theologie: Charakterisierungen

Die beiden folgenden Abschnitte stellen zuerst die christliche und dann die islamische Theologie in ihrer jeweiligen Eigenprägung dar, aber auch in ihrer je eigenen ‚Kontinuität‘. Man kann nämlich zeigen, wie sich das jeweilige Ausgangsereignis auf den spezifischen Charakter von Verkündigung und Vermittlung auswirkt, und zwar auch noch auf die Vorgehensweisen der klassischen wissenschaftlichen Debatten und auf die Ausformungen der gegenwärtigen Diskurse. 2.1 Christliche Theologie Die Eigenart christlicher Theologie als Kontinuum von Erstverkündigung, Reflexionsgeschichte und Gegenwartsgestalt lässt sich grob in sechs Bestimmungen fassen.7 Repräsentativ Der christliche Glaube basiert auf einem Geschichtszeugnis, nämlich auf dem ‚Zeugnis Jesu Christi‘. Das gilt in mehrfachem Sinne. Der christliche Glaube beruht auf dem Zeugnis, das Jesus selbst über die Geschichtsmacht des Gottes Israels abgelegt hat, dem Zeugnis, mit dem er das durch ihn kommende Gottesreich den von ihm Angesprochenen angekündigt, erfahrbar und zugänglich gemacht hat, und dem Zeugnis seiner Jüngerinnen und Jünger nach Ostern, wenn sie seine Auferstehung und neue Gegenwart verkünden. Alle diese Zeugnisse sind Vergegenwärtigungen. Vergegenwärtigend – repräsentativ – ist auch das, was die Kirche ist, tut und weitergibt – gerade durch ihre Feier und in der Bibel. Denn damit legt die Christenheit die bezeugten Ereignisse den Menschen vor mit dem Ziel, sie in die Gemeinschaft Gottes zu stellen. Entsprechend sind auch die Lehrentfaltungen des Christentums und seine heutige Theologie grundsätzlich ‚repräsentativ‘. Dabei handelt es sich um ein je neues Präsentieren: Rekursiv Jesus hat sich ständig auf die Schriften Israels bezogen; und die neutestamentlichen Autoren tun es ebenfalls. Ja, das Neue Testament ist niemals allein die Heilige Schrift der Christenheit. Bevor es überhaupt entstand, stellten die Texte 7 Ich übernehme und überarbeite in diesem Abschnitt Gedanken aus meinem Beitrag „Der Begriff der Theologie. Christliche Erkenntnislehre“ in: Felix Körner, Serdar Kurnaz, Angelika Neuwirth und Ömer Özsoy, Christlich-islamische Interaktion. Theologische Grundlegung (Jerusalemer Religionsgespräche, Band 1), Freiburg im Breisgau: Herder 2023, S. 131–173.

Religionswissenschaft oder Theologie?

Israels schon die Lesungen im Gottesdienst der Frühen Kirche und galten ihr als „Heilige Schriften“.8 Man las die Schriften Israels im Lichte Christi, als Zeugnis für ihn: als Vorhersage seines inzwischen eingetretenen und seines in Herrlichkeit erwarteten Kommens sowie als verständniserschließende Deutung seiner Lebensgeschichte. Die Relecture von Israels heiligen Schriften war dabei nie nur ein Wiederlesen, sondern im Lichte sich ändernder Ausgangslagen immer auch ein „Neulesen“ und Fortschreiben. Ebenso geschieht christliche Theologie bis heute als Relecture: als Neudeutung der Bibel und des gesamten apostolischen Zeugnisses sowie der auf ihnen aufbauenden kirchlichen Verkündigungs-, Denk- und Lebensgeschichte. Der Blick der Verkündigung jedoch richtete sich nie nur auf die Vergangenheit: Antizipativ In der Verkündigung Jesu ist das Geschichtsende im Blick, aber nicht so sehr als bedrohliches Gericht wie vielmehr als erhoffte Erfüllung, als Befreiung, als σωτηρία/sōtēria: „Rettung, Erlösung, Heil“. Da die Zukunft folglich in Vorfreude erwartet wird, erhebt das Christuszeugnis noch in einem weiteren Sinn einen umakzentuierten Anspruch: Die Vollendung des Weltenlaufs, das gute Ende der Geschichte ist dem Zeugnis zufolge jetzt schon zugänglich geworden. Denn in der Lebensgemeinschaft mit Jesus können Menschen bereits jetzt so leben, wie es am Ende für alles erhofft wird: versöhnt mit dem Schöpfer, der sich auch als Vollender von allem erweisen wird. Damit ist die Zukunft für die, die sich darauf einlassen, schon Gegenwart geworden. Die ewige Erfüllung ist noch nicht in ihre Fülle eingetreten, aber sie ist anschlussfähig geworden. Die Zukunft wird bereits – und zunehmend – Gegenwart. Eine solche Vorwegnahme ist, technisch gesagt, eine ‚Prolepse‘ (Voraus-Ereignung), die ‚Antizipation‘ (Vorgriff) ermöglicht. Wer sich von dieser Verkündigung ergreifen lässt, kann eintreten in die so bezeugte Wirklichkeit. Sie ist „kommende“ Wirklichkeit: zukünftig, aber erlebbar und lebbar geworden. Sie besteht also im Modus des „Schon, Bereits“. Genau dies benennt die Formel: Das Christuszeugnis ist antizipativ. Doch handelt es sich nicht um ein rein informatives Zeugnis, das kommende Tatsachen behauptet: Transformativ Enthält die Christusverkündigung denn keinen ethischen Anspruch? Zwar bietet das Neue Testament Regellisten für die private Lebensgestaltung; von Luther „Haustafeln“ genannt.9 Aber die Vermittlung des Ethos geschieht grundsätzlich nicht bloß imperativ. Schon das früheste schriftlich zugängliche Christuszeugnis benennt selbst die ihm eigene – dann auch ethisch relevante – Sprachform: Die Verkündigung lässt sich auf Griechisch als παράκλησις/paraklēsis bezeichnen.10 Paraklese ist „Trost“. Denn wird Menschen – „repräsentativ“ und

8 Vgl. Römer 1,2. 9 Epheser 5,21–6,9 und Kolosser 3,18–4,1. 10 1 Thessalonicher 2,3.

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„antizipativ“ – das angebrochene Gottesreich zugesagt, kann in ihnen eine Stimmungswandlung geschehen. Jedoch handelt es sich dabei nicht bloß um ein verändertes Lebensgefühl. Wer vom Jesuszeugnis getroffen ist, dem wandelt sich – so getröstet, getrost – auch Lebensstil und Lebensplan. Das Grundproblem geschöpflichen Lebens erfährt seine Lösung: Die Gottesferne, die Verfangenheit, die Sünde wird nun überwunden. Das Christuszeugnis bewirkt jene befreiende Freude, aufgrund derer Menschen sich zu einer Lebensform ermutigt und befähigt sehen, die sie anders nicht hätten leben können: in selbstlosem Dienst, bei dem sie sich allerdings durchaus auch selbst achten und finden. Kurz: Christuskenntnis11 befreit zu Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe. Dass diese ‚transformative‘ Grundform – als zugleich narrative wie appellative – im Christuszeugnis liegt, ist nachvollziehbar; aber kann auch die wissenschaftliche Theologie transformativ sein? Überfrachtete eine solche Erwartung nicht den theologischen Diskurs, ja verböge ihn ins Suggestive, Ideologische? Der transformative Charakter des Ausgangszeugnisses muss sich auf die christliche Theologie nicht so auswirken, dass sie aufs schwärmende oder gar moralisierende Sprechen festgelegt wäre. Vielmehr hat bereits die frühe Verkündigung ein bemerkenswertes erkenntnis- und sprachkritisches Transformationspotential.12 Oft nämlich drückt sich das Christuszeugnis in zunächst nicht einleuchtender Form aus. Zur Vermittlung des Zeugnisses wird scheinbar Widersprüchliches gesagt; jedoch nicht aus mangelnder Sorgfalt oder gar beschränkter Denkfertigkeit. Vielmehr wollen bewusst überraschende, ja anstößige Formeln einen neu reflektierenden Nachvollzug des Christusgeschehens bewirken und damit auch eine Überwindung bestimmter bisheriger begrifflicher Festlegungen. So ist sich Paulus durchaus im Klaren: Einen schändlich Hingerichteten als gottgesandten Retter zu behaupten – also „Christus als den Gekreuzigten“ zu verkündigen – ist „für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit“.13 Auch als Jesusworte Überliefertes enthält oftmals eine derartige Anstößigkeit; etwa: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten“.14 Ebenso stellen die Gleichnisse Jesu die Herausforderung dar, sich auf die Dynamik des Gottesreiches einzulassen, auf sie einzugehen in der Weise der μετάνοια/metanoia: des „Umsinnens“. Und auch die kirchliche Tradition wird mehr und mehr solche provokanten, zum Neudenken herausfordernde Redeweisen einbauen. Schon wenn die Kirche zu Jesus und über ihn mit dem Wort „Gott“ spricht, ist der gesamte Prozess der Vergegenwärtigung der Christusgeschichte in Gang gesetzt:

11 Philipper 3,8. 12 Zu Thema Begriff und Antizipation vgl. Wolfhart Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 66–79 über rückwirkende Sinnkonstitution vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Band 2, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, S. 342f. 13 1 Korinther 1,23. 14 Lukas 9,24.

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Wie kann man ihn – und nicht nur den von ihm bezeugten himmlischen Vater – als Gott bezeichnen? Weil sein Anspruch, Gemeinschaft mit ihm bedeute ewige Gemeinschaft mit Gott,15 durch das Osterzeugnis überzeugend geworden ist. Wie sich das vermittelte Zeugnis auf die begrifflichen Fassungen und gesellschaftlichen Auffassungen ganzer Kulturen auswirkt – ausgewirkt hat und weiter auszuwirken sollte –, ist eine hochbedeutsame Thematik theologischer Forschung.16 Wie ist jedoch das Transformative der christlichen Verkündigung und Reflexion zu verstehen? Als selbstwirksames Geschehen? Partizipativ Mit der Rede von der transformativen Kraft der christlichen Glaubenssprache ist offenkundig nichts bloß Passives angesprochen. Menschen werden durch sie nicht ‚medikamentös-magisch‘ verwandelt – nicht unbeteiligt; vielmehr sind sie als Handelnde einbezogen in das Umformungsgeschehen17 des Gottesreiches. Dies hatte sich soeben bereits im herausfordernden Charakter der Gleichnisse und anstößigen Glaubensformeln gezeigt. Das Christuszeugnis ist ‚partizipativ‘; und dies in einem umfassenden Sinne. Man betrachte ein neutestamentliches Wort wie dieses: „Ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, sodass ihr immer noch Furcht haben müsstet, sondern ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater!“.18 Paulus wechselt hier mitten im griechischen Satz kurz die Sprache. Mit dem aramäischen Wort für „Vater“ greift er merklich Jesu eigene Ausdrucksweise auf. Er zitiert jedoch nicht nur dokumentierend. Ausdrücklich beteiligt er vielmehr seine Adressaten. Sie sollen die Geschichte Jesu keineswegs bloß wie eine Erzählung hören, um sich an ihn zu erinnern und zu lernen, welche besondere Beziehung er zum Gott Israels hatte. Die Gläubigen selbst haben „den Geist der Kindschaft empfangen“. Sie sind hineingezogen in die Vaterbeziehung Jesu. Sie dürfen – wegen Jesus, mit Jesus, „in“ Jesus – zu Gott „Vater“ sagen. Gott als Vater anzuerkennen aber heißt, in die Jesusgeschichte einzutreten und Gott die eigene Lebensführung und -erfüllung anzuvertrauen wie Jesus, vertrauend auf die machtvolle Weisheit und Güte des „Abba“ – und ihm deshalb gehorsam. So ist das Christuszeugnis von Anfang an partizipativ; jedoch kann die wissenschaftliche Theologie nicht im selben Sinne partizipativ sein (wie Zeugnis und Theologie ja auch auf je unterschiedliche Weise transformativ sind). Partizipativ ist die christliche Theologie vielmehr, insofern sie teilhat am „Geist“. Er ermöglicht nämlich ein immer tieferes Verständnis des bisher Festgeschriebenen

15 Vgl. schon Lukas 12,8. 16 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, S. 106–128. 17 Vgl. Matthäus 13,33. 18 Römer 8,15.

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und daher auch Erkenntnis über das bisher Festgeschriebene hinaus.19 Wie aber lässt sich ein solcher Erkenntnisfortschritt erklären? Intuitiv Das Christuszeugnis spricht Menschen den Anbruch des Endes der Geschichte zu und eröffnet ihnen den Eintritt in deren Vollendung; und die christliche Theologie ist der Versuch, das Christuszeugnis zu vermitteln und nachzuvollziehen. Nun ist der Anspruch des Christuszeugnisses, dass in der Auferstehung Christi die Vollendung der gesamten Schöpfung antizipiert ist, nämlich im Voraus erfahrbar geworden ist: transformativ, partizipativ. Dementsprechend will die christliche Theologie sich allen Lebensbereichen, Ereignissen und Fragen stellen und sie im Licht des Christuszeugnisses verstehen. So kann ihr der Zusammenhang des Weltgeschehens immer weiter aufgehen: wie jedes Einzelne auf je seine Weise zum Teil der einen Heilsgeschichte wird, wie „alles zum Guten mitwirkt“.20 Diese Form der Weltbetrachtung ist in einem doppelten Sinn ‚intuitiv‘. Zum einen vorbegrifflich. So unterstellt sie sich der Geschichte und dem Beten der Kirche. Wenn sich das Christentum zur Sprache bringt, setzt es in seiner frühen Bezeugung keine Begriffe voraus, um dann etwa aus ihnen seine Lehren abzuleiten. Vielmehr verwendet es seine Begriffe im Vorgriff: Ihre Bedeutungsfülle erschließt sich erst allmählich; man könnte sagen, im Laufe des ‚Hinschauens‘. Intuitiv ist daher das christlichtheologische Vorgehen andererseits im Sinne ihres betrachtenden Erkennens (lat. intueri: „schauen“). Die betrachtende Dynamik bringt immer neue Einsichten hervor. Sie versucht dabei, statt abgetrennte Einzelpunkte zu untersuchen, das Ganze im Blick zu behalten: den gesamten Geschichtsverlauf; die gesamte biblisch bezeugte Geschichte; Zeit und Ewigkeit. Diese intuitiv-theologische Haltung aber hat nur eingenommen, wer – von der Osterbotschaft ergriffen – den immer neu zu entdeckenden auferstandenen Christus vor Augen hat. In ihm beginnt der spezifisch christlich-theologische Blick die Vollendung der Geschichte zu erkennen und sieht darin wiederum alle Ereignisse der Geschichte und Teile der Schöpfung an ihren Platz fallen. Wenn christliche Erkenntnis und Rede als „intuitiv“ beschrieben wird,

19 Vgl. Johannes 16,13; Apostelgeschichte 15,28; Kolosser 2,2f. sowie Dei Verbum 8: die Überlieferung „entwickelt sich in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes weiter“. So in Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, hg. v. Peter Hünermann und Bernd Jochen Hilberath, Freiburg: Herder 2004, in loc. Die unmittelbar nach Beschlussfassung erstellte Übersetzung im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz gab die lateinische Vorlage weniger wörtlich wieder; der gesamte Unterabschnitt lautete dort wie folgt: „Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt: es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen, durch innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt, durch die Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben; denn die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis an ihr sich Gottes Worte erfüllen.“ 20 Römer 8,28.

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ist also nicht gesagt, dass sie aus bloß vagen Andeutungen besteht, sondern einer im Geschichtsverlauf unerschöpflichen Quelle entspringt. 2.2 Islamische Theologie Es fällt nochmals schwerer als bei der Christentumsgeschichte, von der einen Theologie des Islam zu sprechen. Denn christlicherseits bildeten sich, bei allem bleibenden Dissens, immerhin offizielle, amtliche, beauftragte, „apostolische“ Vertretungsinstanzen heraus. Auch die Eigenart des christlichen Zeugnisses – etwa sein repräsentativer Charakter – machen eine solche Entwicklung nachvollziehbar. Islamischerseits ließ sich der Diskurs viel weniger „amtlich“ bündeln. Doch mit der Bereitschaft für eine gewisse idealtypisch notwendige Grobheit lässt sich der eben entwickelten sechsfachen Charakterisierung der christlichen Bekenntnis- und Denkform für den Islam eine eigene Begriffsreihe gegenüberstellen. Wiederum beschreiben die Charakteristika dabei den erkenntnistheoretischen Status sowohl der Ausgangsverkündigung wie auch des späteren theologischen Arbeitens, also ein Kontinuum von Erstverkündigung, Reflexionsgeschichte und Gegenwartsgestalt. Korantreu will islamische Theologie ja immer sein, auch wenn sie den Text gar nicht zitiert.21 Erwartungsgemäß bildeten sich nicht nur unterschiedliche theologische Schulen, sondern regelrecht getrennte Stile, Überlieferungskorpora und Diskurse heraus. Fiqh, tafsīr und kalām, zuhd und tas.awwuf wollen eben jeweils Grundverschiedenes: Rechtsgelehrsamkeit und Exegese, Spekulation, Askese und Mystik. Erwartungsgemäß beziehen sich die verschiedenen ‚Theologien‘ in jeweils eigener Weise auf den Koran und finden in ihm auch je andere Grundmotive. Nun zur angekündigten islambezogenen Begriffsreihe. Sie kann ebenfalls sechsgliedrig ausfallen. Deduktiv Das, was man das christliche Denken nennen kann, geht wie gesagt tendenziell ‚intuitiv‘ vor. Es setzt seine Begriffe zunächst nicht in einer bestimmten Bedeutung voraus. Schon der Koran hingegen argumentiert theologisch so, dass er Folgerungen aus Begriffen zieht, deren Gehalt festzustehen scheint. Ein Beispiel: Weil Gott Gott ist, gehört ihm alles; deshalb muss er sich nichts zusätzlich beschaffen. Daher muss er sich auch kein Kind zulegen. Folglich ist die Behauptung, Jesus sei der Gottessohn, verkehrt.

21 Vgl. die Begriffsfassung von „islamisch“ bei Shahab Ahmed, What is Islam? The Importance of Being Islamic, Princeton: UP 2016, S. 364: „meaningful through hermeneutical engagement with Revelation to Muḥammad as Pre-Text, Context and Text“.

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2:118 Und sie sagen: Gott hat sich ein Kind zugelegt. Gepriesen sei er! (Über derlei ist er doch erhaben!) Vielmehr gehört ihm, was im Himmel und auf Erden ist. Alle sind ihm demütig ergeben (qānit).

So argumentativ und konfrontativ wird später auch die islamische Theologie vorgehen – ihrem Ausgangstext entsprechend. Wie aber konfrontiert sie das ihr Entgegenstehende, gerade jüdische und christliche Diskurse? Korrektiv Die koranische und islamische Bezugnahme auf frühere Gotteszeugnisse weicht nicht völlig ab vom jesuanischen und christlichen Umgang mit der Geschichte Israels und dann der Kirche. Wir hatten diesen Umgang oben als „rekursiv“ bezeichnet. Jedoch sollte diese Bezeichnung auch beschreiben, dass dieser Umgang die eigene Vorgeschichte nicht etwa richtigstellen oder gar überwinden will. Vielmehr will die rekursive Behandlung des Bisherigen das Alte im Lichte der Gegenwart neu lesen und verstehen und es so zu seiner eigentlichen Bedeutung bringen. Anders der Koran: Was die vorkoranischen Gottesdienstgemeinschaften überliefern, verwirft er zwar nicht rundweg. Er erkennt sogar den göttlichen Ursprung anderer Prophetien an. Jedoch sei das den Gottgesandten Mitgeteilte verkehrt übermittelt worden: „entstellt“.22 Dass sich dies nicht nur auf mündliche Überlieferung, sondern auch auf heilige Schriften bezieht, geht etwa aus der soeben zitierten Ablehnung der Gottessohnschaft hervor, zu der sich das Neue Testament hingegen klar bekennt.23 Koranisch wird das Alte „bestätigt“,24 indem dessen Überlieferung als entstellend verworfen wird. Auch Jesus stellt Überlieferungen richtig; aber er nimmt keine Richtigstellungen an den heiligen Schriften seines Volkes vor, sondern an dessen Praxis.25 Koran und Islam folgern allerdings aus der Korrekturbedürftigkeit der „Schriftbesitzer“ nicht, dass sie deshalb ausgelöscht werden müssten. Man geht mit der konfessionellen Uneinigkeit zwar argumentativ um, aber auch pragmatisch. Man hofft wohl, dass die anderen auf Prophetenbotschaften basierenden Gottesdienstgemeinschaften ihre „Entstellungen“ erkennen und richtigstellen. Dann können die verschiedenen Gemeinschaften mit ihren eigenen gottgegebenen Gesetzen (5:48) auch nebeneinander bestehen und sich als ein Gemeinwesen verstehen. Damit zeigt sich ein drittes Charakteristikum islamischen Glaubensdenkens. Inklusiv Bereits der Koran geht davon aus, dass jede prophetisch vermittelte Gottesdienstform (dīn, „Religion“) im Grunde den anderen gleicht. Sie haben einerseits dieselbe Absicht: einer Gemeinschaft die gottgewollte Ordnung zu geben;

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4:46, nämlich: ḥ-r-f II. Vgl. Markus 1,1 etc. Nämlich: s.-d-q II. Vgl. Matthäus 7,9.

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und sie enthalten andererseits auch dieselben Elemente: eine herabgesandte Schrift, Gebetszeiten, Sozialregelungen (19:31.55). Der Koran stellt sich daher auch nicht inhaltlich über Gemeinschaften wie die jüdische oder christliche. Sein einziger Vorzug ist, dass er nun schnell und zuverlässig – und damit vor Entstellungen sicher – verschriftlicht wurde. Wer also wissen will, was Gott dem Mose, David oder Jesus tatsächlich als Botschaft herabgesandt hat, finde es sicherer im Koran als in Thora, Psalter und Neuem Testament. Hier besteht nun ein klarer Unterschied zu dem Anspruch, der das Christentum ausmacht. Er wurde oben als „antizipativ“ bezeichnet: In der Jesusgeschichte sei das Gottesreich angebrochen und begehbar geworden. In seiner Lebensgemeinschaft finde sich eine anderswo nicht zugängliche Quelle von Trost, Freude und daher von Liebesfähigkeit. Zwar hat auch das islamische Denken einen antizipatorischen Zug. Er bezieht sich auf das bevorstehende Gottesgericht, das über jeden Menschen entscheiden wird: Höllenfeuer oder Paradiesgärten.26 Auf den göttlichen Richterspruch sollen sich alle – antizipierend27 – vorbereiten. Als grundsätzlich antizipativ aber lässt sich der Gestus des Islam nicht bezeichnen. „Antizipativ“ meinte ja oben nicht bloß den Blick in eine Zukunft, auf die man sich nun vorbereiten soll, sondern die Zusage, dass Gottes Zeit heilender Versöhnung angebrochen und zugänglich geworden ist. Dass Jesus die entscheidende Geschichtswende darstellt, ist christliche Grundüberzeugung. Daraus kann das Bewusstsein erwachsen sein, die Kirche sei allen anderen Gemeinschaften überlegen und dürfe ihre Überlegenheit auch durchsetzen: eine zutiefst beklagenswerte Folge. Der inklusive Charakter von islamischer Ausgangsverkündigung und darauf aufbauender Theologie hatte hingegen in der Geschichte mehrheitlich mildernde, vermenschlichende Folgen auf den Umgang mit nicht-islamischen Gemeinschaften. Dass der Islam nicht in gleichem Maße antizipativ ist, hatte allerdings auch drei theologisch-inhaltliche Folgen. Adhortativ Weil weder der Koran noch die islamische Frömmigkeit oder Denkgeschichte die Vorfreude als ein Hauptmerkmal herausstellen, liegen dort die ethischen Forderungen auf einer anderen Ebene als christlicherseits. Wir hatten gesehen, dass der antizipative Charakter des Christuszeugnisses Menschen jenen Trost schenken kann, der sie zu einer ungeahnten Liebesfähigkeit befreit; unser Stichwort dafür war der „transformative“ Charakter des christlichen Glaubens. Die von der koranischen und islamischen Verkündigung beabsichtigte Sinneswandlung geschieht hingegen weniger durch eine derartige freudige Ergriffenheit als durch

26 55:35.46 etc. 27 Vgl. Josef van Ess, Die Gedankenwelt des Ḥāriṯ al-Muḥāsibī. Anhand von Übersetzungen aus seinen Schriften dargestellt und erläutert (Bonner Orientalistische Studien, Neue Serie 12) Bonn: Orientalisches Seminar 1961, S. 139–143 sowie Felix Körner, „Islam als Religion der Verantwortung. Eine geistliche Tradition“, in: Felix Körner und Serdar Kurnaz, Wirtschaft und Gewissen. Eine islamischchristliche Kontroverse, Freiburg: Herder 2020, S. 62f.

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„erinnernde Mahnung“ und „Warnungen“: ḏikr, nuḏur. Treffender ist daher eine Betonung des ‚adhortativen‘ Charakters der islamischen Grundverkündigung und Theologie. Die Ermahnung zum guten, nämlich eschatologisch verantwortlichen, Handeln ist grundlegend und beständig.28 Doch ergeht die Ermahnung häufig nicht über das Erschrecken, sondern über die Ermutigung. Entsprechend versteht sich der Koran ausdrücklich als gottgeschenkte „Rechtleitung, Barmherzigkeit und Frohbotschaft“.29 Wie angedeutet, hat der nicht grundsätzlich antizipative Charakter des Islam allerdings drei Folgen. Zwei sind noch zu nennen. Kognitiv Oben wurde darauf hingewiesen, dass das christliche Glaubensdenken auf seinem antizipativen Grundgestus aufbaut. Es blickt ja auf die vollendete Zukunft: Sie ereignet sich zwar an bestimmten Stellen der Geschichte vorweg und ist so bereits erlebbar und lebbar geworden. Die zukünftige Vollendung der Geschichte ist jedoch nicht als schon vorhanden wahrnehmbar. Sie steht eben noch aus. Die vollendete Zukunft wird allerdings im Christuszeugnis gegenwärtig. Das Zeugnis Jesu wie auch das Zeugnis der heutigen Christenheit dient der Vergegenwärtigung des Kommenden. Daher konnten wir das christliche Glauben und Denken als „repräsentativ“ beschreiben. Es geht von einer bestimmten Einzelgeschichte aus, derentwegen sich überhaupt erst sagen lässt, dass alles anders wird, als es bisher ist, nämlich zu seiner Fülle gelangt. Was der Islam bezeugt, ist davon grundsätzlich verschieden. Er ist, wie sich bereits bei seiner Charakterisierung als „deduktiv“ andeutete, in seinem Grundzug rationaler: Schon im Koran wird begrifflich argumentiert. Denn Menschen können das, was dort bezeugt wird, durch ihr Denken erreichen, ja sogar durch das nachdenkende Hinschauen auf Naturvorgänge.30 Man sollte dies den ‚kognitiven‘ Grundzug im Islam nennen. Dabei geht der Blick in eine unverdorbene Welt: Gottes Schöpfung ist wohlgeordnet.31 So ist sie auch Weisung. Man muss nur Augen haben, sie zu lesen. Der kognitive Zug wirkt sich bis in die heutige islamisch-theologische Selbstreflexion aus. So kommt etwa von muslimischer Seite eine wissenschaftstheoretische Stellungnahme, die sich zwar leger ausdrückt, aber hohes Gewicht hat. Die Unterscheidung zwischen Islamischer Theologie und Islamwissenschaft sei ein „fake Diskurs“.32 Mit anderen Worten: Es gibt in Methode und Grundfrage keinen Unterschied zwischen religionswissenschaftlichem und theologischem Vorgehen. – Dem scheint nun der letzte hier zu nennende Zug des islamischen Glaubensdenkens entgegenzustehen.

28 Vgl. z. B. Felix Körner, „Spiritualität als Weltverantwortung. Muslime und Christen in Deutschland“, in: Geist und Leben 92 (2019), S. 7–14. 29 16:89 parr.; zwischenmenschliche wohlmeinende Ermahnung 90:17. 30 Vgl. 10:24 usw. 31 Vgl. vor allem Sure 55.s 32 Jan Felix Engelhardt, Islamische Theologie im deutschen Wissenschaftssystem. Ausdifferenzierung und Selbstkonzeption einer neuen Wissenschaftsdisziplin, Wiesbaden: Springer VS, S. 181, 191.

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Reservativ Islamisches Denken scheut sich davor, den Anschein zu erwecken, Menschen könnten Gottes Wesen durchschauen und daher seine Absichten kennen; und diese Scheu ist kein bloß unterbewusster Reflex. Die Zurückhaltung wird vielmehr ausdrücklich thematisiert und reflektiert. Man könnte vom ‚reservativen‘ Charakter islamischer Verkündigung sprechen. Vergleicht man ihn mit dem Gestus des christlichen Zeugnisses und seinen Vermittlungen, zeigt sich: Es besteht ein Dissens; er ist nicht vollständig, aber doch grundlegend. Zwar behauptet ja auch der christliche Glaube nicht, Menschen könnten die Einzelbestandteile des göttlichen Willens vorherwissen und damit den Verlauf der Geschichte im Einzelnen voraussagen. Dennoch besteht ein christlich–islamischer Unterschied in einem entscheidenden Punkt: Das christliche Zeugnis nimmt ein gutes Geschichtsende vorweg, das heißt ein Ziel aller Zeitlichkeit, in dem alles Einzelgeschehen eine – sogar erkennbare – Funktion im Gesamtgeschehen bekommen haben wird. Das islamische Zeugnis stellt die Menschheit hingegen vor ein kommendes Gottesgericht mit für alle offenem Ende – einschließlich einer möglichen Willkürentscheidung Gottes.33 Muslimischerseits nimmt man daher den Lebenssinn, den Sinn der Weltgeschichte nur stark eingeschränkt in den Blick: Die letzte Antwort auf die Warumfrage ist demnach kein erkennbar werdender auf das gute Ende hin führender Zusammenhang. Die Warumfrage ist vielmehr mit dem Satz zu beantworten: Gott hat es so gewollt.34 Das islamische Gottesverständnis ist damit systematisch

33 48:14; 29:21. Dass Gott rechtleitet und und irreführt, wen er will, ist nicht nur eine koranische, sondern ähnlich auch eine biblische Aussage (74:31). Wenn Paulus aber (Römer 9,18) von Gott sagt: „Er erbarmt sich, wessen er will, und macht verstockt, wen er will“, dann ringt er mit der Tatsache, dass zahlreiche Israeliten sich noch nicht von der entscheidenden Geschichtswende in Christus überzeugen lassen und auch dies in Gottes gutem Plan eine Rolle bekommt. 34 Eine koranische Erzählung, in Sure al-Kahf (18), illustriert dies eindrücklich. Die Stelle wird auch von muslimischer Seite regelmäßig ins Feld geführt, wo man theologisch über den Geschichtssinn spricht (Ömer Özsoy, „‚Gottes Hilfe ist ja nahe!‘“ (Sure 2, 214) – Die Theodizeeproblematik auf der Grundlage des koranischen Geschichts- und Menschenbildes“, in: Andreas Renz, Hansjörg Schmid, Jutta Sperber und Abdullah Takim (Hg.), Prüfung oder Preis der Freiheit? Leid und Leidbewältigung in Christentum und Islam, Regensburg: Pustet 2008, S. 199–211). Die Sure schildert einen Engel, der mehrere Verbrechen verübt, immer an armen Menschen: Einmal zerstört er deren Einkommensquelle, ihr Fischerboot, einmal reißt er ihnen eine Mauer nieder, einmal tötet er gar deren Sohn. Der Engel verbietet seinem menschlichen Begleiter, Fragen zu stellen. Später folgt die Erklärung der offenkundigen Brutalität. Das Boot wäre sonst vom König eingezogen worden, unter der Mauer lag ein nun zugänglicher Schatz, die Eltern bekommen einen besseren Sohn. Die Erklärung befriedigt nicht wirklich. Es wird zerstört statt in neue Zusammenhänge gebracht. Vor allem: Der erste Sohn wird ersetzt. Sein Tod erhält so keinen Sinn außer der Beseitigung des früheren, angeblich weniger guten Nachkommens. Skopus der Erzählung ist offenkundig: Der Mensch soll sein Schicksal schweigend annehmen, Gott hat seinen Plan. Für den aber geht er hier über Leichen. Einer islamischen Geschichtstheologie zufolge kann sich im weiteren Geschehensverlauf also erweisen, dass Einzelereignisse immerhin sinnvoller waren, als sie zunächst erschienen. Die Hoffnung richtet

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reservativ: Es geschieht immer unter dem Vorbehalt, dass Gott auch anders entscheiden kann, als er unserer Ansicht nach müsste, und anders sein kann, als er sich gezeigt hat. Eine sichere Heilszusage ergeht nicht. Die islamische Theologie verbietet sich diese Sicherheit nicht bloß, um eine ethisch motivierende Höllenangst aufrechtzuerhalten, sondern aus Ehrfurcht vor dem „je größeren Gott“: Allāhu akbar. Der reservative Grundgestus des islamischen Zeugnisses drückt sich auch in der traditionellen Abschlussformel theologischer Traktate aus: wa-llāhu a‘lam – „… und Gott weiß es besser“. Hierin liegt wie gesagt ein markanter Unterschied zum Grundgestus des Christuszeugnisses. Dessen Zusage besagt zwar auch nicht, dass Menschen die Einzelheiten des weiteren Geschichtsverlaufs kennen – oder gar Gottes Wesenszüge durchschauen – könnten. Doch erhebt das Christuszeugnis den Anspruch – und liefert die geschichtliche Begründung dafür –, dass die Menschen um Gottes vollkommen zuverlässige Güte und Macht wissen dürfen sowie um ein gutes Geschichtsende. Deshalb und insofern nennt die Christenheit mit Jesus Gott den „Vater“. Deshalb und insofern ließen sich Verkündigung und Theologie christlicherseits bezeichnen als „antizipativ“, „repräsentativ“ und „partizipativ“. Die islamische Theologie wird hingegen immer mit dem Vorbehalt sprechen, Gott könnte im Grunde auch anders sein und den Geschichtsverlauf anders lenken, als er gesagt und die Menschen verstanden haben. Das ist wohlgemerkt nicht irrational. Wer kein Geschichtsereignis als die Zusicherung der guten Geschichtsmacht Gottes anerkennt, bleibt logischer Weise in dieser Unsicherheit über die Zukunft.

3.

Ergebnisse

Anhand von sieben Fragen lassen sich nun die Ergebnisse des Dargelegten sichern. (1) Wird hier nicht zu viel in einen Topf geworfen? Kann man für eine Religion ihr Ausgangszeugnis, ihre Lehrentwicklung und auch noch Strömungen ihres heutigen Denkens zugleich behandeln? Der vorliegende Text versucht ja einerseits das biblisch Bezeugte mit der christlichen Bekenntnis- und Denkgeschichte sowie andererseits das koranische Zeugnis mit der islamischen Bekenntnis- und Denkgeschichte zusammenzusehen: Ist das nicht eine unzulässige Vermischung, etwa von Lehre und Theologie? Und werden dann nicht beim Charakterisieren auch noch Sprachstil, Erkenntnisform und Grundbotschaft miteinander vermengt? Nein. Man kann ja den Ausgangspunkt von seinen Rezeptionsorten unterscheiden und dennoch Kontinuitäten aufzeigen: dass ursprüngliche Besonderheiten in Stil und Grundanliegen sich immer wieder bemerkbar machen; dass man sich später

sich hier allerdings nicht auf einen so geschichtsmächtigen Gott, dass alles Geschehen zu einem guten Ende zusammengeführt wird.

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zurecht mit Verfahren und Aussagen auf die Grunddokumente berief, dass man so Charakteristika freilegte, die lange verdeckt waren, und dass es ein beschreibbares Entsprechungsverhältnis von Form und Inhalt gibt. Es ist nur schwierig, für alles einen einzigen Begriff zu finden: Zeugnis, Lehre und schließlich Theologie? So jedenfalls das heute übliche Verständnis von ‚Theologie‘. Gemeint ist damit ja fast nur noch die – akademische – Wissenschaft. Dagegen konnte θεόλογος/theologos zunächst jeden „Gotteskünder“35 meinen. (2) Ist es nicht widersprüchlich, einer Sichtweise zugleich zu attestieren, sie sei grundsätzlich rational und vorläufig? Behauptet ein rationales Gedankengebäude von sich nicht per definitionem, dass es zutrifft? Schließen also der „kognitive“ und der „reservative“ Charakter des islamischen Glaubensdenkens einander nicht aus? Nein. Damit zu rechnen, dass alles auch anders sein könnte, als man annimmt, ist selbstverständlich rational. Die deutlich unterschiedlich angelegte Sicht, die der christliche Glaube einnimmt, ist allerdings auch nicht irrational. Sie blickt zwar voller Zuversicht auf das Geschichtsende, besagt, dass die Geschichte gut ausgeht und die kommende Vollendung durch die Osterereignisse überzeugend begründet ist. Die christliche Zuversicht setzt sich damit aber wohlgemerkt nicht absolut. Sie behauptet nämlich weder: sie könne nun den Weltverlauf im Einzelnen vorhersehen; noch: die Welt könnte gar nicht anders sein, als sie mit dieser Zuversicht in den Blick kommt. Beim Nachdenken über seinen erkenntnistheoretischen Status ist sich der christliche Glaube vielmehr – wie oben erläutert – seines „hypothetischen“ Charakters bewusst. Der Glaube besteht ja in dem Vertrauen, dass erst am Ende seine Wahrheit erwiesen sein wird. Im Vollzug des Glaubens jedoch wird er nicht vorbehaltlich vertreten, sondern in Überzeugung, ja Ergriffenheit. (3) Ist es nicht widersprüchlich, nur das islamische – im Unterschied zum christlichen – Glaubensdenken als „deduktiv“ zu bezeichnen; dann aber doch für jederlei – auch die christliche – Theologie einen Gottesbegriff vorauszusetzen und damit offenkundig begriffsdeduktiv zu arbeiten? Wie können christliche Theolog*innen ihre Untersuchung der Geschichte mit einer vorgefassten Nominaldefinition beginnen: „Gott ist die alles bestimmende Wirklichkeit“? Müssten sie nicht alle Aussagen über Gott vielmehr aus den biblisch bezeugten Ereignissen ableiten? Wäre nicht erst ein solches geschichtsbasiertes Vorgehen tatsächlich „repräsentativ“ und „intuitiv“ und damit spezifisch christlich? Die Begriffsfassung von der „alles bestimmenden Wirklichkeit“ ist erstens keine enge Definition, sondern sinnvollerweise mehrdeutig: Eine „Bestimmung“ kann sich ja darauf beziehen, was ist, was sein soll oder sein wird. Dementsprechend lässt sich aus dieser Begriffsfassung auch nicht deduzieren, was Gott unmöglich getan habe – und er wird weder bei Wolfhart

35 Kurt Aland und Barbara Aland (Hg.), Walter Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin: de Gruyter 1988, Sp. 724.

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Pannenberg noch hier dafür verwendet. Der Begriff entstammt drittens keinen abstrakt-philosophischen Überlegungen, sondern lehnt sich an biblische Formulierungen an – etwa an die Rede von „unserer“ Bestimmung zur Gotteskindschaft (Epheser 1,5); er eignet sich dennoch als Begriffsgrundlage für Gespräche über die Gottesfrage mit Nichtchrist*innen. Denn ein Begriffsvorschlag wie „‚Gott‘ meint die alles bestimmende Wirklichkeit“ ist sowohl philosophisch anschlussfähig als auch Aufschlag für eine Überprüfung in der Geschichte. (4) Wie fasst das christliche Denken Gottes Geschichtsmächtigkeit und die Geschichtserschließungskraft des eigenen Glaubens? Die Geschöpfe werden von Gott nicht heteronom gesteuert. Sie handeln insofern frei. Aber Gott bringt auch dasjenige geschöpfliche Tun, das dem „Leben in Fülle“36 zuwiderläuft, so im Gesamtverlauf zusammen, dass es am Ende doch der Erfüllung gedient hat. Dass dies so ist, lässt sich am deutlichsten – und am ergreifendsten – im Ostergeschehen erkennen. (5) Ist die Frage nach der Geschichtsmächtigkeit Gottes und der Geschichtserschließungskraft des eigenen Glaubens auch für islamische Theolog*innen das Grundanliegen? Ja. Sie gehen zwar davon aus, dass Gott in der Geschichte handelt, und können auch sagen, dass der eigene Glaube Schlüssel zum Verständnis der Geschichte ist. Allerdings würden sie nicht beanspruchen, dass Gott seine Geschichtsmacht in bestimmten Ereignissen endgültig zuverlässig erwiesen hat. Vielmehr lautet islamischerseits die grundsätzliche Antwort auf die Frage, wie sich der Geschichtsverlauf verstehen lässt: weil Gott es so gewollt hat. Darin besteht ja der großenteils reservative Charakter der islamischen Bezeugungsgeschichte. Die Frage nach dem Geschichtssinn wird also beantwortet, aber bewusst ohne die Eröffnung von Einsicht und Zuversicht. Wissenschaftstheoretisch ist dies die weniger riskante Alternative zur christlichen Heilszusage. (6) Wie ist nun die Verhältnisbestimmung von Religionswissenschaft und Theologie wissenschaftstheoretisch zu fassen? Für das Verhältnis von Islamwissenschaft und Islamischer Theologie lässt sich jetzt sagen: Islamische Theolog*innen können die Pannenberg’sche Charakterisierung von Theologie im Unterschied zur Religionswissenschaft durchaus übernehmen: Theologie stellt die Frage nach der Wirklichkeit Gottes: ob er mehr ist als eine Illusion, ob er in der Welt wirkt, wie er ist und handelt. Muslim*innen sagen jedoch, wer die islamische Denkgeschichte referiert – also religionswissenschaftlich vorgeht –, tut auch nicht weniger als die Islamischen Theolog*innen: Sie tragen ja ebenfalls nur die Problematiken vor, machen Lösungsvorschläge und erkennen schließlich an, dass Gott es besser weiß. Diese Reserve ist nicht nur die erkenntnistheoretisch bescheidene Anerkennung, dass man immer einem Denkfehler aufgesessen sein kann. Vielmehr steckt dahinter auch das Eingeständnis, dass selbst das logisch Vollkommene in Bezug auf

36 Johannes 10,10.

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Gott möglicherweise verkehrt ist, weil Gott es unvorhersehbar anders wollen kann. Der Unterschied zwischen Islamwissenschaft und Islamischer Theologie ist daher tatsächlich minimal. Beide haben dieselbe Erkenntnisgrundlage; nur referiert die Islamwissenschaft den Wahrheitsanspruch des Islam, ohne überzeugen zu wollen, während die Theologie ihn vorträgt, um zu zeigen, dass er überzeugt und was er heute bedeutet.37 Christlicherseits liegt der Unterschied zwischen Religionswissenschaft und Theologie hingegen in der verschiedenen Erkenntnisgrundlage beider: Religionswissenschaft berücksichtigt nur das bereits Gesagte und Geschehene. Theolog*innen aber gehen von der „Intuition“ aus, dass die endgültige Erfüllung der Geschichte in Christus angebrochen ist. (7) Ist die hier angewandte Methodik einer kontrastierenden Charakterisierung von christlichem und islamischem Glauben wissenschaftlich rechtfertigbar? Tatsächlich sollte man theologische Begriffe bezüglich einer religiösen Tradition nicht von außen weiterentwickeln. Christlicherseits verunmöglicht der „intuitive“ theologie-produktive Blick auf die zukünftige Geschichtsvollendung eine Entwicklung des Glaubensdenkens aus der Außenperspektive („religionswissenschaftlich“). Islamischerseits ist die Theologie erkenntnistheoretisch anders gelagert: Sie ist „deduktiv“ und „kognitiv“. Theologisch lässt sich der Islam daher grundsätzlich aus muslimischem wie nichtmuslimischem Blickwinkel gleichermaßen neu versprachlichen. Doch ist ebenso grundsätzlich ein besonderer Respekt vor dem Denken und Glauben einer anderen Tradition verlangt. Deshalb soll die hier von christlicher Seite entwickelte Begrifflichkeit zur Beschreibung des islamischen Glaubensdenkens auch nicht als definitiv gelten, sondern als Vorschlag für ein weitergehendes islamisch–christliches Gespräch.

37 Felix Körner, „Interactive Theology. A New Paradigm for a New Constellation“, in: Herman Roborgh, Victor Edwin (Hg.), Witness to a Common Hope. Festschrift in honour of Father Christian W. Troll SJ, Anand: Gujarat Sahitya Prakash 2022, S. 19–33, S. 23.

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Thorsten A. Leppek

Absenz der Gewissheit – Präsenz der Wissenschaftstheorie Beobachtungen und Überlegungen zur Bedeutung der Gewissheit rund um Pannenbergs wissenschaftstheoretische Grundlegung der Theologie im Jahre 1973

1.

Einleitung

Die Wissenschaften sind „der Hort des bestgesicherten Wissens“1 – kein Wunder, denn die Wissenschaften streben danach. Leitend dabei ist für einige Disziplinen die „regulative Idee der Wahrheit“2 . Doch wie verhält es sich in der Theologie, von der gesagt werden kann, dass sie eine Wissenschaft ist? Vor rund 50 Jahren war es alles andere als ausgemacht, dass die Theologie sich mit wissenschaftstheoretischen Fragestellungen auseinandersetzt. Während seinerzeit manch einer die Theologie für zu unwissenschaftlich hielt, nahm ein anderer daran Anstoß, sie wissenschaftlich verstehen und betreiben zu wollen3 . Der wissenschaftstheoretische Status dieser Disziplin an der Universität war – vorsichtig formuliert – unklar. Im Jahr 1974 verleiht Ulrich Gerber seiner Einschätzung Ausdruck, dass „[d]ie Notwendigkeit wissenschaftstheoretischer Reflexionen im Bereich der Theologie [...] erst allmählich in das Selbstverständnis der Theologie ein[trete].“4 Offenbar gab es reichlich „Verwunderung, Unbehagen, Achselzucken, Neugierde, ein Gefühl der Entlastung und der Angst vor permanentem Weiterlernen“, wenn in der

1 H. Poser, Wissenschaftstheorie. Eine Einführung, Ditzingen 2012, 346. 2 Zum Wahrheitsstreben in den Wissenschaften siehe ausführlicher H. Poser, Wissenschaftstheorie. Eine Einführung, Ditzingen 2012, 346ff.: „Das Abzielen auf Wahrheit – wissend, dass wir ihrer nie habhaft werden können oder ihrer nie sicher sein dürfen – bestimmt eine Lebenshaltung, die der unmittelbare Ausfluss der Wissenschaften ist.“ (a. a. O., 348). 3 Siehe S. M. Daecke, Soll die Theologie an der Universität bleiben? Zur Auseinandersetzung um eine Begründung der Theologie als Wissenschaft, in: W. Pannenberg/G. Sauter/S. M. Daecke/H. N. Janowski, Grundlagen der Theologie – ein Diskurs, Stuttgart 1974, 7–28. 4 Siehe U. Gerber, Rezensionen G. Sauter u. a., Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie, München 1973 u. W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt 1973, in: Theologia practica 9 (1974), 56.

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wissenschaftlichen Theologie (und auch in der Kirche) „das Stichwort ‚Wissenschaftstheorie‘“5 fiel. Mit dem Niveau der wissenschaftstheoretischen Reflexion jener Tage konnte man nicht zufrieden sein. Und es war kein Geringerer als der Philosoph Lorenz B. Puntel, der dies der damaligen Theologie attestieren musste.6 Puntel beklagte einen erheblichen Mangel an wissenschaftstheoretischer Reflexion. Dieses harte Urteil war sehr zu seinem eigenen Bedauern. Denn Puntel, der auch promovierter katholischer Theologe ist, weiß natürlich, dass dies nicht so sein müsste. Dies zeigt sein Blick in die Geschichte: Denn „[u]nbestreitbar hat die christliche Theologie eine ansehnliche wissenschaftstheoretische Tradition. Auf die eine oder andere Weise hat sie im Verlauf ihrer Geschichte ihren methodischen bzw. wissenschaftstheoretischen Status, ihr Verhältnis zur Philosophie und zu den anderen Wissenschaften sowie andere ähnliche Probleme zu klären versucht und dabei – entsprechend dem Problembewußtsein der Zeit – beachtliche Ergebnisse erzielt.“7 Puntel erklärt sich das wissenschaftstheoretische Defizit in der Theologie damit, dass es für Theologen sehr schwierig sein dürfte, „sich nämlich mit der in gewisser Hinsicht chaotisch zu nennenden Situation der heutigen Philosophie und Wissenschaftstheorie auseinandersetzen“; nur selten werde ein Theologe „in der Lage sein, diese immense Literatur so zu kennen und zu beherrschen, daß er ein eigenes, überlegenes Konzept zu entwickeln in der Lage wäre. Meistens schließt er sich der einen oder anderen Richtung an – ein altes Übel des theologischen Denkens. Wenn aber die Theologie – unter Hinweis auf diese Situation oder aus anderen Gründen – versucht, sich aus dieser ganzen Problemsphäre herauszuhalten, wird sie erst recht unglaubwürdig.“8 Mit dieser Einschätzung dürfte er recht behalten. Und es wird klar, warum Wolfhart Pannenbergs großangelegte wissenschaftstheoretische Studie von Puntel

5 Siehe U. Gerber, Rezensionen G. Sauter u. a., Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie, München 1973 u. W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt 1973, in: Theologia practica 9 (1974), 56. 6 Siehe dazu L. B. Puntel, Rezension Wissenschaftstheorie und Theologie. Zu Wolfhart Pannenbergs gleichnamigem Buch, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 98 (1976), 271–292, bes. 271. 7 L. B. Puntel, Rezension Wissenschaftstheorie und Theologie. Zu Wolfhart Pannenbergs gleichnamigem Buch, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 98 (1976), 271–292, zit. 271. Von daher ist es abwegig, Pannenberg vorzuhalten, die Theologie vor ein ‚Tribunal der Wissenschaftstheorie‘ gestellt zu haben. Siehe dazu die folgende Rezension: H. Kuhn, Die Theologie vor dem Tribunal der Wissenschaftstheorie. Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, in: Philosophische Rundschau 25 (1978), 264–277. 8 L. B. Puntel, Rezension Wissenschaftstheorie und Theologie. Zu Wolfhart Pannenbergs gleichnamigem Buch, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 98 (1976), 271–292, zit. 271f.

Absenz der Gewissheit – Präsenz der Wissenschaftstheorie

als positive Ausnahme eingestuft wird. Hier – so Puntel – „erreichen seine langjährigen Bemühungen um eine Klärung des Theoriestatus‘ der Theologie einen (vorläufigen) Höhepunkt.“9 Auf eindrucksvolle Weise sucht Pannenberg mit seiner „Wissenschaftstheorie und Theologie“ (1973)10 die kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit den seinerzeit diskutierten, höchst elaborierten wissenschaftstheoretischen Positionen, worunter insbesondere der logische Positivismus und der kritische Rationalismus zu rechnen sind. Aus heutiger Sicht kann bestätigt werden, was Gerber bereits damals in Bezug auf Pannenbergs Theorieanstrengungen festgehalten hat: Pannenberg hat zweifelsohne „[d]as theologische Denken [...] wissenschaftstheoretisch vorangebracht.“11 Es ist darum auch als äußerst bedauerlich zu bezeichnen, dass das Echo auf sein großes Werk eher gering ausgefallen ist12 . Es ist sicher nicht übertrieben, Pannenbergs wissenschaftstheoretisches Werk von 1973 als „book of first-rate-importance“13 zu deklarieren oder als „massive work of scholarship“ zu bezeichnen – ist es doch ein „invaluable compendium of sources on various historical conceptions of theology and of science in a broad sense“14 .

9 L. B. Puntel, Rezension Wissenschaftstheorie und Theologie. Zu Wolfhart Pannenbergs gleichnamigem Buch, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 98 (1976), 271–292, zit. 272. 10 W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M., 1973 [kurz: WuTh]. 11 Gerber würdigt damit auch zugleich das Verdienst von G. Sauter, der seinerzeit ein wichtiger Dialogpartner Pannenbergs zum Thema war. Siehe U. Gerber, Rezensionen G. Sauter u. a., Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie, München 1973 u. W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt 1973, in: Theologia practica 9 (1974), 64. 12 Es ist m. E. verständlich, wenn Puntel angesichts des von Pannenberg Geleisteten das verhältnismäßig geringe Echo auf die WuTh beklagt (Siehe L. B. Puntel, Rezension Wissenschaftstheorie und Theologie. Zu Wolfhart Pannenbergs gleichnamigem Buch, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 98 (1976), 272). Auch G. Sauter bedauert, dass die von Pannenberg und ihm vorgelegten wissenschaftstheoretischen Überlegungen im Kollegenkreis der Theologen nicht denkerisch aufgegriffen worden seien für die weitere, vertiefende Auseinandersetzung mit der Sachthematik, es zu bloßen „Etikettierungen“ gekommen sei – auch „Vorstellungen über ‚Wissenschaftstheorie‘ gerade unter Theologen immer mehr auseinandergehen und oft zu bloßen Schlagworten geworden sind.“ (G. Sauter, Überlegungen zu einem weiteren Gesprächsgang über „Theologie und Wissenschaftstheorie“, in: EvTh 40, 161–168, zit. 161). 13 J. B. Cobb, Rezension Theology and the Philosophy of Science, by W. Pannenberg, Philadelphia 1976, in: Religious Studies Review 3 (1977), 213–215, zit. 213. Cobb schreibt weiter: „He has undertaken an urgent task for which he is uniquely qualified and carried it through to an original conclusion that should influence the place of theology in the intellectual life of the West as well as the selfunderstanding and inner structure of theology.“ 14 So G. P. Gouthrie, Rezension Wissenschaftstheorie und Theologie, in: Interpretation 34 (1980), 191–195, zit. 194f.: „What is to be said about this work? The very least that can be said is that it is a massive work of scholarship, an invaluable compendium of sources on various historical conceptions

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Pannenbergs ist mit seiner „Wissenschaftstheorie und Theologie“ – so viel ist inzwischen der theologischen Zunft klar geworden – ein „einschlägiges Schlüsselwerk“ seit der ab den späten 1960er und frühen 1970er Jahren geführten Diskurse rund um die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie gelungen.15 Und es ist eine Grundbesonderheit dieses Werkes, dass die Theologie darin eine sorgfältig erarbeitete wissenschaftstheoretische Grundlegung erhält, durch die sie legitimerweise als akademische Disziplin neben anderen Wissenschaften an der Universität gelten kann16 . Der damit verbundene Anspruch ist hoch. Denn die Theologie soll und kann sich in den Augen Pannenbergs nicht zurückziehen auf einen unangreifbaren Standpunkt. Jürgen Werbick hat dies prägnant formuliert: „Der Verbleib der Theologie an den Universitäten hängt vielmehr daran, ob es der Theologie gelingt, ihren Wissenschaftscharakter zu öffentlicher Anerkennung zu bringen. Dabei reicht es nicht hin, für die Theologie eine Wissenschaftlichkeit sui generis zu reklamieren, etwa weil man die Wissenschaft vom Wort Gottes nicht den herkömmlichen Kriterien der Forschung unterwerfen könne. Wenn Theologie sich auf allgemein mitteilbare Inhalte bezieht, wenn sie Behauptungen mit Wahrheitsanspruch vorbringt, dann muß sie sich rückhaltlos der Wahrheitsfrage aussetzen, wie sie in den verschiedenen wissenschaftlichen Bemühungen in verschiedener Weise, aber doch als Frage nach der einen Wahrheit zum Ausdruck kommt.“17

2.

Wissenschaftstheorie und Theologie oder Theologie und Wissenschaftstheorie?

2019 legt der evangelische Theologe Sven Grosse ein neues Buch zum Thema der Wissenschaftlichkeit der Theologie vor. Pannenberg nicht unähnlich wird von Grosse die „theologische Wissenschaftstheorie“ als „integraler Bestandteil der Theologie“18 interpretiert. Das ist erfreulich – bezeugt diese Bemerkung doch ein

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of theology and of science in a broad sense. Any future writer in these areas would do well to avail himself of the immense assemblage of data presented here.“ H. Seubert, Ist Theologie eine Wissenschaft? Grundsätzliche Überlegungen im Anschluss an Sven Grosse, in: F. F. Grassl/H. Seubert/D. von Wachter (Hrsg.), Ist Theologie eine Wissenschaft?, Leipzig 2022, 15: „In den späten sechziger und frühen siebziger Jahren wurde das Problemfeld von Theologie und Wissenschaftstheorie intensiv diskutiert. Im deutschen und internationalen Sprachraum spielt dabei Wolfhart Pannenbergs einschlägiges Schlüsselwerk von 1973 eine entscheidende Rolle.“ Siehe dazu ausführlicher Ph. Hefner, The Role of Science in Pannenberg’s Theological Thinking, in: Zygon 24 (1989), 135–151, bes. 136 u. 150. J. Werbick, Theologie als Wissenschaft? Zu Wolfhart Pannenbergs Buch „Wissenschaftstheorie und Theologie“, in: Stimmen der Zeit 99 (1974), 327–338, zit. 327f. S. Grosse, Theologie und Wissenschaftstheorie, Paderborn 2019, 245.

Absenz der Gewissheit – Präsenz der Wissenschaftstheorie

wissenschaftstheoretisches Interesse, das, wie oben erwähnt, nicht schon immer theologischen Zirkeln attestiert werden konnte. Dass aus dieser positiven Haltung gegenüber wissenschaftlichen Fragestellungen nicht notwendigerweise folgen muss, sich zum Zwecke der Gewinnung eines wissenschaftstheoretischen Selbstverständnisses für die Theologie intensiv mit der gegenwärtigen philosophischen Wissenschaftstheorie auseinanderzusetzen, belegt dieses neue Buch, das in Anspielung auf Pannenbergs „Wissenschaftstheorie und Theologie“ den Titel „Theologie und Wissenschaftstheorie“ trägt, also die Theologie an die erste Stelle rückt19 . Grosse geht „von der Schlüsseleinsicht aus, dass auf die christliche Offenbarung sich gründende Theologie eine Wissenschaft ist, aber nun gerade nicht so, dass sie sich einem Wissenschaftsbegriff fügt, der nicht von ihr selbst, der Theologie, hervorgebracht worden ist. Vielmehr kann Theologie nur so eine Wissenschaft sein, indem sie auch sagt, was überhaupt Wissenschaft ist. Wenn sie aber sagt, was überhaupt Wissenschaft ist, dann kann sie auch sagen, was die Ordnung der Wissenschaften untereinander ist.“20 Es mag nicht wundern, dass man diesem Werk attestiert hat, es sei „in gewisser Weise aus der Zeit gefallen“ und stünde „quer zum Zeitgeist“21 – sucht der Autor doch in erster Linie nicht das Gespräch mit neueren und neuesten wissenschaftstheoretischen Standpunkten, die in der scientific community diskutiert werden, sondern eher mit dem Deutschen Idealismus und ganz besonders mit der theologischen Tradition, wobei Th. v. Aquin, M. Luther und K. Barth von hervorhebenswerter Bedeutung für ihn sind. Der Theologie, die Grosse auch als Weisheit verstanden wissen will, fällt diesem Ansatz zufolge vielmehr die Aufgabe zu, eine Ordnung unter den Wissenschaften zu stiften und ihrer Zersplitterung sowie Marginalisierung entgegenzuwirken. Ob ein solcher Weg im Ganzen vielversprechend ist, kann an dieser Stelle nicht angemessen geklärt werden. Es ist aber schon jetzt offenkundig, dass Grosses wissenschaftstheoretisches Werk von ganz anderem Gepräge ist, jedoch als ähnlich umfängliche Studie mit Überlegungen zur Wissenschaftlichkeit der Theologie eine vergleichbar umsichtige Besprechung verdient wie Pannenbergs herausragendes Werk von 1973.

19 Zur Vertauschung der zwei schon bei Pannenbergs WuTh titelgebenden Zentralbegriffe ‚Theologie‘ und ‚Wissenschaftstheorie‘ siehe die Bemerkungen Grosses in S. Grosse, Theologie und Wissenschaftstheorie, Paderborn 2019, 4. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass es nicht um ein ‚entweder...oder‘ geht. Beide Systematiker wollen der Thematik Rechnung tragen, welche der Buchtitel zu bearbeiten verspricht – so verschieden die Wege auch sein mögen (s. u.). 20 S. Grosse, Theologie und Wissenschaftstheorie, Paderborn 2019, 2. 21 H. Seubert, Ist Theologie eine Wissenschaft? Grundsätzliche Überlegungen im Anschluss an S. Grosse, in: F. F. Grassl/H. Seubert/D. von Wachter (Hrsg.), Ist Theologie eine Wissenschaft?, Leipzig 2022, 13–36, zit. 36.

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3.

Wissenschaftstheorie ohne Gewissheit?

Pannenberg hat die Theologie in seiner „Wissenschaftstheorie und Theologie“ höchst absichtsvoll als Wissenschaft bestimmt und eingefordert, dass die Theologie am wissenschaftstheoretischen Diskurs partizipiert. Schließlich galt ihm dieser Schritt als „lebenswichtig für die Zukunft der Theologie im Zusammenhang der Universität“22 . Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass die Wahrheitsfrage von fundamentaler Bedeutung ist. Denn es sind typischerweise die Wissenschaften, die nach Wissen und Wahrheit streben. Die Gewissheitsthematik dagegen – so wird noch zu zeigen sein – ist für Pannenbergs wissenschaftstheoretischen Ansatz von untergeordneter Bedeutung23 . Wer das Sachregister der „Wissenschaftstheorie und Theologie“ gründlich sichtet, wird feststellen können, dass sich darin der Ausdruck ‚Gewissheit‘ nicht findet. Und wer das ganze Buch aufmerksam liest, wird sogar zu dem Ergebnis gelangen können, dass die Gewissheit als Thema so gut wie keine Rolle spielt24 . Darum wird man Reinhard Leuze, der seinerzeit für Pannenberg das Sachregister angefertigt hat25 , auch keinen Fehler bescheinigen können. Wer sich intensiver mit wissenschaftstheoretischen Fragestellungen befasst, dürfte wissen, dass die Gewissheitsthematik ohnehin kein (oder kaum ein) Thema im philosophisch geführten wissenschaftstheoretischen Diskurs ist, wie u. a. die aktuelle Einführungsliteratur zur „Wissenschaftstheorie“ belegt.26 Und falls die Vokabel ‚Gewissheit‘ dennoch aufgegriffen wird, dann mitunter kritisch. Ein gutes Beispiel hierfür ist Hans Alberts kritisch-rationalistische Kritik am ‚selbstfabrizierten‘ Charakter jedweder Gewissheit, worauf noch zurückzukommen sein wird. 22 WuTh, 9. 23 Die untergeordnete Bedeutung der Gewissheitsthematik im Denken Pannenbergs wird dem Leser auch deutlich, wenn man W. Greives vorzügliche Gesamtdarstellung der Theologie Pannenbergs aufmerksam liest: W. Greive, Die Glaubwürdigkeit des Christentums. Die Theologie Wolfhart Pannenbergs als Herausforderung, Göttingen 2017 (FSÖTh 160). Zur Bedeutung der Wahrheitsfrage im Denken Pannenbergs merkt Greive dagegen an: „Das Denken Pannenbergs widerspricht der postmodernen Auffassung, dass die Frage nach der Wahrheit die langweiligste und unproduktivste sei und will durch seine Gründlichkeit im Bedenken der Grundprobleme von Philosophie und Theologie zeigen, dass man die Wahrheitsfrage nicht umgehen kann und sie in ihrer radikalen Geschichtlichkeit zu bestimmen hat.“ (a. a. O., 16). Diese Einschätzung teile ich, wie auch meiner Promotionsschrift (T. Leppek, Wahrheit bei Wolfhart Pannenberg. Eine philosophisch-theologische Untersuchung, Göttingen 2017 [FSÖTh 159]) zu entnehmen ist. 24 Von einzelnen Ausnahmen, die die Frage nach der Fundierung der Theologie betreffen, abgesehen. Darauf wird weiter unten eingegangen. 25 Vgl. den Hinweis in WuTh, 4. 26 Siehe dazu H. A. Wiltsche, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Göttingen 2 2021; S. Kornmesser/ W. Büttemeyer, Wissenschaftstheorie. Eine Einführung, Berlin 2020; H. Poser, Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung, reclam, Ditzingen 2012.

Absenz der Gewissheit – Präsenz der Wissenschaftstheorie

Ebenfalls nicht uninteressant ist die Beobachtung, dass selbst in theologischen Beiträgen zur Wissenschaftlichkeit der Theologie die Gewissheitsfrage nicht unbedingt eine Rolle spielen muss. Dies gilt zumindest für diejenigen Beiträger, die Pannenbergs „Wissenschaftstheorie und Theologie“ rezensieren oder seine diesbezüglichen Diskussionsbeiträge würdigen wollen27 . In der Theologie mag sich die eine oder der andere fragen, wie eine solche Absenz der Gewissheit erklärbar ist. Sehr aufschlussreich ist eine Bemerkung Pannenbergs im Rahmen eines bereits Ende 1972 geführten Gespräches über die Theologie als Wissenschaft28 . Und zwar legt Pannenberg offen, dass es die Theologie seines Erachtens „nicht [...] mit Gewißheiten, die sie zu produzieren hätte“, zu tun habe29 . Diese Aussage ist bemerkenswert – und zwar in doppelter Hinsicht: Sie hält zum einen fest, dass das Ziel wissenschaftlicher Theologie im Verständnis Pannenbergs nicht im Produzieren von Gewissheiten zu suchen ist. Und zum zweiten – das ist ein Implikat dieser Bemerkung – ist Gewissheit bzw. sind Gewissheiten nicht der Ausgangspunkt theologischen Schaffens. Aufschlussreich ist nun, wie Pannenberg seine Absage an die Relevanz der Gewissheitsfrage begründet. Und zwar geht er davon aus, dass die Theologie und der christliche Glaube „in tiefgreifender Weise umzulernen“30 hätten. Pannenberg stört sich nämlich, wie sich zeigt, an der autoritativ verbürgten „Gegebenheitsweise des Glaubensinhaltes“; der Empfang des Glaubensinhaltes durch die Autorität Gottes könne schließlich keine „unbedingte Gewißheit“ begründen – zumindest nicht mehr seit der Problemlage, wie er sie seinerzeit wahrgenommen hat31 . Einige Jahre später lehnt, wie seine Worte im zweiten Band der „Grundfragen systematischer Theologie“ (1980) belegen, Pannenberg auch eine (alleinige) erweckungstheologische Begründung der Gewissheit „im engen Umkreis der Erfahrung von Schuld und Vergebung“ ab, da „die Abschirmung dieser Thematik gegen die

27 Siehe U. Gerber, Rezensionen G. Sauter u. a., Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie, München 1973 u. W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt 1973, in: Theologia practica 9 (1974), 56–64. Auch in den Beiträgen von J. Werbick (Theologie als Wissenschaft? Zu Wolfhart Pannenbergs Buch „Wissenschaftstheorie und Theologie“, in: Stimmen der Zeit 99 (1974), 327–338), Ph. Hefner (The Role of Science in Pannenberg’s Theological Thinking, in: Zygon 24 (1989), 135–151) u. J. P. Gouthrie (Rezension Wissenschaftstheorie und Theologie, in: Interpretation 34 (1980), 191–195) findet sich keine Bezugnahme auf die Gewissheitsthematik. 28 Dieses Gespräch wird u. a. dokumentiert durch folgenden Band: W. Pannenberg/G. Sauter/S. M. Daecke/H. N. Janowski, Grundlagen der Theologie – ein Diskurs, Stuttgart 1974, 58 – 120. 29 W. Pannenberg/G. Sauter/S. M. Daecke/H. N. Janowski, Grundlagen der Theologie – ein Diskurs, Stuttgart 1974, 71. 30 W. Pannenberg/G. Sauter/S. M. Daecke/H. N. Janowski, Grundlagen der Theologie – ein Diskurs, Stuttgart 1974, 71. 31 W. Pannenberg/G. Sauter/S. M. Daecke/H. N. Janowski, Grundlagen der Theologie – ein Diskurs, Stuttgart 1974, 71.

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von Nietzsche und der Psychoanalyse ausgegangene Kritik der christlichen Moral und der aus ihr hervorgegangenen Schuldgefühle [...] heute ebenfalls nicht ohne Gewaltsamkeit möglich [sei], von der wahre Gewißheit frei sein“ müsse32 . Es ist interessant, bemerken zu können, dass die beobachtbare Absenz der Gewissheitsthematik im Wesentlichen mit Pannenbergs Unverständnis für überkommene Begründungsfiguren der Gewissheit zusammenhängt. Seine Kritik an mehr oder weniger traditionellen Ansätzen zur Gewissheitskonstitution – seien sie überzeugend oder nicht – schließt jedoch nicht aus, sondern ein, sich grundsätzlich(er) mit der Frage zu beschäftigen, was unter ‚Gewissheit‘ strukturell zu verstehen ist. Eine solche Klärung, zu welcher auch eine Auseinandersetzung mit geläufigen Gewissheitsbegriffen (im Sinne von Definitionen) gehören sollte, fehlt in Pannenbergs magnum opus, was bedauerlich ist – auch, weil mithilfe einer systematischen Reflexion auf den Begriff der Gewissheit selbst verdeutlicht werden kann, warum ihre Adaption im wissenschaftstheoretischen Kontext als nicht allzu vielversprechend eingestuft werden kann. Was Pannenberg in einem Aufsatz aus dem Jahre 1978 bietet, lohnt zur Kenntnis zu nehmen. Es ist eine knappe Explikation seines Verständnisses von Glaubensgewissheit im Verhältnis zur Wahrheit: Pannenberg legt dar, dass die eigentümliche Gewissheit des Glaubens „auf der durch das Gewissen vermittelten Selbstevidenz der göttlichen Wahrheit“ beruhe, diese Gewissheit jedoch wie alle anderen Gewissheiten „vorwegnehmende Gegenwart dieser Wahrheit, prolepsis“ bleibe und „daher subjektiv“ sei „und seine Vorwegnahme [...] nur dann wahr [sei], wenn ihr die Vorweggabe der göttlichen Wahrheit selber entgegenkommt.“33

Es ist geradezu charakteristisch für dieses Verständnis von Gewissheit, dass diesem – ganz im Gegensatz zu dem, was gemeinhin im Alltag und in Fachdiskursen unter Gewissheit verstanden wird – eine letzte Ungewissheit bzw. epistemische Fallibilität eigentümlich ist, die, wie sich zeigt, erst durch die Wahrheit selbst überwunden werden kann. Diese Grundeigentümlichkeit seines Verständnisses von Gewissheit vermag aber zweierlei zu erklären: Und zwar erstens, warum Pannenberg die Gewissheit für seine auf Wahrheit ausgerichtete Theologie wissenschaftstheoretisch nicht bemühte bzw. ja nicht bemühen konnte und zweitens, warum deshalb das Konzept der Vergewisserung als ein Modell zur vorläufigen Bewährung oder Veri-

32 W. Pannenberg, Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Band 2, Göttingen 1980, 11. 33 W. Pannenberg, Wahrheit, Gewißheit und Glaube, in: W. Pannenberg, Grundfragen systematischer Theologie Bd. 2, Göttingen 1980, 226 – 264, zit. 263.

Absenz der Gewissheit – Präsenz der Wissenschaftstheorie

fikation für Pannenbergs Theologie trotz des Vorhandenseins von Gewissheit alles andere als entbehrlich ist: Im ersten Band seiner „Systematische[n] Theologie“ (1988) stellt Pannenberg klar, dass „die theologische Vergewisserung der Wahrheit der christlichen Lehre nicht einfach überflüssig [werde] durch die Gewißheit des Glaubens, sondern [...] in der Geschichte des Christentums ganz offenbar eine wichtige Funktion für diesen Glauben selber gehabt“34 habe. Mit anderen Worten: Im Gesamtzusammenhang eines fortschreitenden Erfahrungsprozesses wird präeschatologisch über die Wahrheit noch zu urteilen sein in dem Sinne, dass sich Wahrheitsansprüche bewähren müssen. Die Gewissheit vermag die Wahrheit jedenfalls nicht sicherzustellen.

4.

Hypothesen und Gewissheit

Warum die Gewissheitsthematik aus guten Gründen im (allgemeinen wie speziellen) wissenschaftstheoretischen Kontext ausgespart werden darf (nicht muss35 ), wird mithilfe der hier vorgetragenen Überlegungen immer deutlicher werden. In seiner „Wissenschaftstheorie und Theologie“ hat sich Pannenberg nicht nur kritisch mit wissenschaftstheoretischen Positionen auseinandergesetzt, sondern dabei auch den Hypothesenbegriff des kritischen Rationalismus für seine Theologie übernommen36 und diesen sowohl für die Aussagen der Theologie als auch für die Aussagen des Glaubens rezipiert37 . Dies hat in der Folge zu vielfältiger Kritik geführt. Sigurd M. Daecke hat seinerzeit auf den Punkt gebracht, was Kritiker an Pannenbergs wissenschaftstheoretischem Konzept als Problem zu erkennen glaub(t)en: Indem Pannenberg den Hypothesenbegriff gebrauche – was „vielen Theologen

34 W. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. I, 60. 35 Man mag als Beleg hierfür an Hartmut von Hentig denken, der die ‚Gewissheit‘ als wissenschaftstheoretisches Kriterium ins Gespräch brachte. Siehe dazu S. M. Daecke, Soll die Theologie an der Universität bleiben? Zur Auseinandersetzung um eine Begründung der Theologie als Wissenschaft, in: W. Pannenberg/G. Sauter/S. M. Daecke/H. N. Janowski, Grundlagen der Theologie – ein Diskurs, Stuttgart 1974, 11. 36 Siehe auch H. Albert, Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft, Tübingen 1982, 158ff. Albert behandelt auf den Seiten 158–167 Pannenbergs Rezeption des kritischen Rationalismus und würdigt bei aller Kritik an Pannenberg immerhin, dass seine Auseinandersetzung (mit dem kritischen Rationalismus) „gründlicher [sei], als man das sonst – auch oft in philosophischen Arbeiten – findet [...].“ (a. a. O., 159). 37 Pannenberg verdeutlicht in einem Gespräch über Wissenschaftstheorie, dass er sowohl die Aussagen der Theologie als auch diejenigen des Glaubens als Hypothesen verstanden wissen will. Siehe dazu W. Pannenberg/G. Sauter/S. M. Daecke/H. N. Janowski, Grundlagen der Theologie – ein Diskurs, Stuttgart 1974, 71.

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zumindest ungewohnt“ erscheine –, ergebe sich ein Gegensatz zur Gewißheit, mit der Glaubensaussagen gemacht werden, und entsprechend zu dem assertorischen Charakter theologischer Aussagen.“38 Ob ein Gegensatz tatsächlich besteht, müsste natürlich erst im Einzelfall geprüft werden. Pannenberg hat dies – einige Jahre später – verneint39 . In jedem Fall wird man mit Hans Norbert Janowski sagen können, dass das sich in Pannenbergs Theologie bekundende Verhältnis zwischen Hypothesenbegriff und Gewissheit des Glaubens häufig als spannungsreich aufgefasst worden ist40 . Exemplarisch für eine so geartete Kritik steht Hermann Fischer, der in den 1960er Jahren teilweise zeitgleich mit Pannenberg, aber in anderer Funktion systematische Theologie in Mainz lehrte41 und von einer Unvereinbarkeit des Hypothesenbegriffs mit der Gewissheit des Glaubens ausging. Pannenbergs Konzept zufolge rede „der Theologe mit gespaltener Zunge: einmal als reflektierender Christ aufgrund von Offenbarung, deren Wahrheit ihn, sofern sie nicht in der Anfechtung zerbricht, gewiß ist, zum anderen als moderner Zeitgenosse mit dem Vorbehalt nur hypothetischer Geltung seiner Aussagen. Was in einer Hinsicht als wahr gilt, muß in anderer als dahingestellt bleibend angesehen werden.“42 In Fischers Theologie ist Glaube „ein riskierter Akt und unbeschadet seiner kognitiven Gehalte nicht durch das diskursive Geschehen des Denkens zu ersetzen.“43 Unter der Annahme einer „im Glauben vergewisserten Wahrheit“ wies er Pannenbergs wissenschaftstheoretisch verantwortete Rezeption des Hypothesenbegriffs für die Theologie als undurchführbar zurück. Eine „hypothetische Theologie“ hielt er für eine contradictio in adjecto, wörtlich für „ein hölzernes Eisen.“44 Fischers Einwände überzeugen gleich aus mehreren Gründen nicht: Was als wahr gilt, muss nicht schon, weil es als wahr gilt, wahr sein. Wenn etwas z. B. in

38 So S. M. Daecke in: W. Pannenberg/G. Sauter/S. M. Daecke/H. N. Janowski, Grundlagen der Theologie – ein Diskurs, Stuttgart 1974, 70. Siehe zur Diskussion um das Verhältnis von Glaubensgewissheit und Hypothesen a. a. O., 70 – 80. 39 Vgl. Pannenbergs Bemerkungen im Vorwort zu Bd. 2 seiner Grundfragen systematischer Theologie, 12. 40 Siehe H. N. Janowski, Wissenschaft von Gott und Religionskritik. Nachbemerkung zum Gespräch über Theologie als Wissenschaft, in: W. Pannenberg/G. Sauter/S. M. Daecke/H. N. Janowski, Grundlagen der Theologie – ein Diskurs, Stuttgart 1974, 121. 41 Siehe dazu die von der Johannes Gutenberg-Universität im Professorenkatalog zusammengetragenen Informationen zu Fischers akademischer Laufbahn und seinem Wirken in Mainz: https://www. gutenberg-biographics.ub.uni-mainz.de/personen/register/eintrag/hermann-fischer.htmlhttps:// www.gutenberg-biographics.ub.uni-mainz.de/personen/register/eintrag/hermann-fischer.html (Abrufdatum: 31.12.22). 42 H. Fischer, Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 167. 43 H. Fischer, Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 168. 44 H. Fischer, Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 168.

Absenz der Gewissheit – Präsenz der Wissenschaftstheorie

Hypothesenform als wahr behauptet wird, wird ein Wahrheitsanspruch erhoben. Das ist alles andere als etwas bloß ‚dahingestellt‘ sein zu lassen. Mit der Möglichkeit des Irrtums bzw. der Fallibilität zu rechnen, ist kein Defizit – im Gegenteil. Die Zeilen Fischers erzeugen eher den Eindruck, als wolle er die Wahrheit über den Rekurs auf die Gewissheit des subjektiven Glaubens (trotz des ‚Risikos‘, das er mit dem Glauben verbunden sieht) sicherstellen und so vor dem bloß Hypothetischen retten. Derartige Versuche, sich mithilfe eines entschiedenen Glaubensaktes dem Denken und auch den logischen Implikationen von Aussagesätzen entziehen zu können, müssen misslingen und sind von Pannenberg im Übrigen zu Recht als „Flucht ins Engagement“ (in Anspielung auf den deutschen Titel eines Buches des Popper-Schülers William W. Bartley) moniert worden45 . Darüber hinaus ist allein schon die Inanspruchnahme der Gewissheit für veritative Anliegen hoch problematisch. Das hat Fischer nicht gesehen; und auch Sven Grosse scheint in seiner bereits oben erwähnten „Theologie und Wissenschaftstheorie“ der Gewissheit sowohl theologisch als auch wissenschaftstheoretisch zu viel zuzutrauen: Auf Grosses Kritik an Pannenbergs Umgang mit dem Hypothesenbegriff und der Gewissheitsthematik ist im Folgenden näher einzugehen: Grosse entfaltet in seinem Werk eine theologia viatorum, d. h. eine „Theologie derer, die aufgrund ihres Glaubens an die Offenbarung auf dem Weg sind“46 und gemäß 1 Kor 13,12 wüssten, dass ihre Erkenntnis Stückwerk sei. Allerdings – und an diesem Punkt unterscheidet sich sein Theologieverständnis sehr von demjenigen Pannenbergs – kommt der Gewissheit eine herausragende Rolle, und zwar hinsichtlich relevanten Wissens: „Was sie weiß, das weiß sie mit einer Gewissheit und Vollständigkeit, die zumindest ausreicht, um den Weg zu diesem Ziel zu finden. Ihr Wissen ist also ein Wissen, das nötig ist, um das Heil zu erlangen und die Sünde zu überwinden, die dem Heil entgegensteht.“47

Für solches Zutrauen in die Gewissheit steht freilich auch Martin Luther Pate, auf dessen berühmte Worte aus „De servo arbitrio“ (1525), dass der Heilige Geist schließlich kein Skeptiker sei, Grosse hinweist48 .

45 W. W. Bartley, Flucht ins Engagement. Versuch einer Theorie des offenen Geistes, München 1964. Es handelt sich um die deutsche Übersetzung von Bartleys „The retreat to commitment“, New York 1962. Zur Rezeption durch Pannenberg siehe WuTh, 45 sowie W. Pannenberg, Wie wahr ist das Reden von Gott? Die wissenschaftstheoretische Problematik theologischer Aussagen, in: W. Pannenberg/G. Sauter/S. M. Daecke/H. N. Janowski, Grundlagen der Theologie – ein Diskurs, Stuttgart 1974, 30. 46 S. Grosse, Theologie und Wissenschaftstheorie, Paderborn 2019, 91. 47 S. Grosse, Theologie und Wissenschaftstheorie, Paderborn 2019, 91. 48 Siehe dazu S. Grosse, Theologie und Wissenschaftstheorie, Paderborn 2019, 103. Grosse übersetzt den kompletten Satz aus dem Lateinischen: „Der Heilige Geist ist kein Skeptiker. Er hat auch

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Grosse unterscheidet in seinem Werk zwischen der Gewissheit des Glaubens und zwischen der Gewissheit, auf die die Theologie abzielt. Es sind unterschiedliche Gewissheitsgrade, die er ausmacht: „Die Gewissheit, zu welcher die Theologie als Wissenschaft gelangt, steht auf einer geringeren Stufe als die Gewissheit des Gläubigen. Gleichwohl ist sie Gewissheit. Sie ist keineswegs etwas, das in der Schwebe bleibt wie eine Hypothese. Darum ist Wolfhart Pannenberg zu widersprechen, der gemeint hatte, ‚daß Gott nur als Problem‘ – als Hypothese – ‚nicht als gesicherte Gegebenheit Gegenstand der Theologie ist.“49

Es zeigt sich – ungeachtet solcher Distinktionen an Gewissheitsgraden und nicht zuletzt in dieser Kritik an Pannenberg – dass seine theologia viatorum (auch in ihrem Selbstverständnis) von einer „eschatologisch schauenden Scientia Dei et beatorum“ zu unterscheiden ist, die aus dem Sehen sprechen könnte“, aber eben doch selbst als bloß auf dem Weg befindlich verstandene Theologie mit der Möglichkeit einer den Bereich des bloß Hypothetischen übertreffenden Gewissheit rechnet.50 Die große Bedeutung, die Grosse der theologischen Gewissheit in seiner „Theologie und Wissenschaftstheorie“ beimisst und schon daran erkennbar wird, dass er ihr ein ganzes Kapitel widmet (a. a. O., 251–264), scheint der Absenz der Gewissheitsthematik in Pannenbergs „Wissenschaftstheorie und Theologie“ diametral entgegenzustehen. Wie diese Beobachtung zu beurteilen sein wird, wird an späterer Stelle zu bedenken sein. Grosses unübersehbar eigenes Interesse an der Gewissheit hat vermutlich dazu geführt, dass er auch für Pannenbergs Theologie annimmt, es gehe in ihr wesentlich um eine Frage der Gewissheit. Zumindest lässt sich dies aus dem nachfolgend zitierten Satz Grosses herauslesen: „Wolfhart Pannenberg hatte angesichts der von ihm für höher eingeschätzten Gewissheit des menschlichen Wahrheitsbewusstseins außerhalb des Glaubens theologische Aussagen nur noch als Hypothesen aufstellen wollen.“51

nichts Zweifelhaftes oder [bloße] Meinungen in unsere Herzen geschrieben, sondern verbindliche Aussagen, die gewisser und stärker sind als das Leben selbst und alle Erfahrung.“ (ebd., Anm. 209) 49 S. Grosse, Theologie und Wissenschaftstheorie, Paderborn 2019, 253. 50 Vgl. H. Seubert, Ist Theologie eine Wissenschaft? Grundsätzliche Überlegungen im Anschluss an Sven Grosse, in: F. F. Grassl/H. Seubert/D. von Wachter (Hrsg.), Ist Theologie eine Wissenschaft?, Leipzig 2022, 23f. 51 S. Grosse, Theologie und Wissenschaftstheorie, Paderborn 2019, 109. Wenn Grosse dann weiterschreibt, „dass das biblische Zeugnis und die große theologische Tradition – und nicht erst Karl Barth – keineswegs dieser Auffassung sind“ (a. a. O., 109f.), deutet sich an, dass für ihn bereits der

Absenz der Gewissheit – Präsenz der Wissenschaftstheorie

Grosse übersieht anscheinend, dass Pannenbergs Theologie nicht primär auf Gewissheit aus ist, sondern auf Wahrheit – übrigens aus sehr gutem Grund. Es handelt sich schließlich bei der Theologie um eine Wissenschaft. Ein weiterer Kritikpunkt, mit dem Grosse zu konfrontieren ist, ist die Einsicht, dass alles das, was im Horizont wissenschaftlichen Schaffens als Problem oder Hypothese behandelt wird, in einem anderen Kontext oder in einer anderen Hinsicht das Erleben von Gewissheit nicht notwendigerweise tangieren muss. Dies hat Christoph Mocker zu Recht gegen Grosses Pannenberg-Kritik hervorgehoben: „Tatsächlich darf man alles, das nicht ‚gesichert‘ ist, in der Wissenschaft als ‚Problem‘ und ‚Hypothese‘ bezeichnen, auch die Existenz Gottes. [...] Was wir an Ergebnissen der Wissenschaft in externer, lebensweltlicher Perspektive als gewiss gelten lassen, kann und darf es aus interner, wissenschaftstheoretischer Perspektive nicht sein. Da haben auch wissenschaftliche Ergebnisse, die lebenspraktisch als gesichert gelten dürfen, normalerweise nur einen falliblen, hypothetischen Charakter [...].“52

Im Sinne der Worte Mockers darf man Grosse selbstverständlich zubilligen, mit M. Luther auf den gewissheitsverbürgenden Hl. Geist zu rekurrieren. Allerdings ist dies für sich genommen nicht mehr als eine subjektive Überzeugung, über deren Wahrheitswert damit (noch) nicht entschieden ist.

5.

Subjektive versus objektive Gewissheit

Was sowohl Pannenberg als auch Grosse in der wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung mit der Gewissheitsthematik versäumen, ist die Beachtung des Unterschieds zwischen subjektiver Gewissheit (etwa in der Form ‚Ich bin gewiss, dass p‘) einerseits und objektiver Gewissheit (‚Es ist gewiss, dass p‘) andererseits53 . Prägnant wurde dieser Unterschied von N. Rescher formuliert: ‚People – even philosophers – are often confused about certainty. All too often they overlook the vast gulf of difference that obtains between saying ‚I am certain‘ and ‚It

Hinweis auf die Schrift und die Tradition ein Argument für die Richtigkeit des von ihm Behaupteten zu sein scheint. 52 Siehe Ch. Mocker, Unfehlbare Gewissheit in der Theologie?, in: F. F. Grassl/H. Seubert/D. von Wachter (Hrsg.), Ist Theologie eine Wissenschaft?, Leipzig 2022, 133. 53 Völlig zu Recht weist Chr. Mocker in (kritischer) Auseinandersetzung mit Grosse auf diesen Unterschied hin. Siehe dazu ausführlicher Chr. Mocker, Unfehlbare Gewissheit in der Theologie?, in: F. F. Grassl/H. Seubert/D. von Wachter (Hrsg.), Ist Theologie eine Wissenschaft?, Leipzig 2022, 119–137, bes 120f, bes. Anm. 12.

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is certain‘. ‚It is certain‘ is a matter of an objective certainty. By contrast, ‘I think it is certain’ is a matter of subjective certitude. When someone says ‘I am certain that p’ the proper response is ‘You sound like an interesting person, tell me more about yourself ’ (On Certainty, And other Philosophical Essays on Cognition, Berlin 2011, 1).‘54

Wer sich klar macht, dass gemäß unserem Sprachgebrauch im Alltag und in den Wissenschaften zwischen diesen zwei verschiedenen Arten der Gewissheit ein erheblicher Unterschied besteht, kann diese Kenntnis für die eigenen Reflexionen nutzen. Subjektive Gewissheit ist ein „geistiger Zustand der Sicherheit, der sich am besten verhaltenstheoretisch als unbedingtes Festhalten an Annahmen bzw. Überzeugungen umschreiben lässt“55 . Demgegenüber kann objektive Gewissheit aufgrund des mit ihr in Verbindung gebrachten inter-subjektiven (und insofern mit Objektivität assoziierten) Charakters als Wissens-Merkmal in Betracht kommen, wobei jedoch auch bei dieser Form von Gewissheit im Einzelfall kritisch hinterfragt werden kann, ob sich hinter einem reklamierten objektiven Gewissheitsanspruch nicht doch lediglich pure Subjektivität bahnbricht und dabei im schlimmsten Falle die Wahrheit verfehlt wird. Die Gewissheit ist strukturell lediglich „eine Eigenschaft bzw. ein Zustand unseres Bewusstseins“56 – unabhängig davon, ob im Einzelfall Wahrheit vorliegt oder nicht. Das ist auch bei der Gewissheit des Glaubens nicht anders. Sie gehört jedenfalls nicht nur angesichts der faktischen Strittigkeit des Gottesgedankens, des kontrovers diskutierten christlichen Wahrheitsanspruches und der Unabgeschlossenheit des Geschichtsprozesses57 sicher zur Gattung subjektiver Gewissheit 58 , woraus sich die Anfrage an Grosse ergibt, wie er darauf wissenschaftstheoretisch fundiert aufbauen möchte. Die Objektivität des Inhalts einer Gewissheitserfahrung zu behaupten, ist zunächst nicht mehr als ein subjektiver Anspruch auf (Wahrheits-)Geltung des Behaupteten! Das ist – wenn man so will – eine nicht unerhebliche epistemische Schwäche dieser Art von Gewissheit, wobei selbst für objektive Gewissheitsansprüche niemals Infallibilität in Anspruch genommen werden kann. Denn selbst das, was mit vollem Recht

54 Zitiert nach Chr. Mocker, Unfehlbare Gewissheit in der Theologie?, in: F. F. Grassl/H. Seubert/D. von Wachter (Hrsg.), Ist Theologie eine Wissenschaft?, Leipzig 2022, 119–137, 121f. Anm. 12. 55 Diese von T. Schärtl vorgelegte Definition der Gewissheit ist m. E. zutreffend. Siehe dazu T. Schärtl, Wahrheit und Gewissheit. Zur Eigenart religiösen Glaubens, Regensburg 2004, zit. 169. Auf Schärtls Gewissheitskonzeption ist hier nicht näher einzugehen. 56 A. Kreiner, Warum Wahrheit und Gewissheit nicht zusammen kommen können, 123. Siehe ferner schon A. Kreiner, Ende der Wahrheit? Zum Wahrheitsverständnis in Philosophie und Theologie, Freiburg 1992, 97 sowie meine Ausführungen in: T. Leppek, Wahrheit bei Wolfhart Pannenberg, 57 WuTh, 419: 58 Auch Mocker rechnet die Glaubensgewissheit zum Typus subjektiver Gewissheit. Siehe dazu a. a. O., 120 Anm. 8.

Absenz der Gewissheit – Präsenz der Wissenschaftstheorie

wissenschaftlich als Wissen bezeichnet werden kann, also dasjenige, worauf sich objektive Gewissheit beziehen kann, besteht – akademisch betrachtet – aus Behauptungen, die ihrerseits gemäß Bivalenzprinzip entweder falsch oder wahr sein können. Pannenberg hat derlei Limitationen klar gesehen und darum sein gesamtes wissenschaftstheoretisches Konzept für die Theologie auf das Streben nach Wahrheit ausgerichtet59 . Jedweder Versuch einer Fundierung der Theologie auf (eine wie auch immer geartete Form der) Gewissheit wurde von Pannenberg als untauglich zurückgewiesen. Prägend und verantwortlich für diese wissenschaftstheoretische Meinung(sbildung) auf Seiten Pannenbergs dürfte der kritische Rationalismus gewesen sein, mit dem sich Pannenberg eingehend auseinandergesetzt hat. Schon für Popper war es ausgemacht, wie Pannenberg referiert, dass wir „nicht aus letzten Gewißheiten sichere Erkenntnisse ableiten [können]“; solche Gewissheiten seien „ihrerseits faktisch immer angezweifelt worden.“60 An die Stelle des Versuches, die Wissenschaft aus letzten Gewissheiten, die ihrerseits als nicht mehr begründbar gelten, zu begründen (was Pannenberg mit Sympathien für die Überlegungen Bartleys ebenfalls als ein irrationales Unterfangen verstanden haben dürfte), bricht sich bei Pannenberg ein wissenschaftstheoretischer Ansatz bahn, der ganz ähnlich wie der kritische Rationalismus Hypothesen aufstellt und diese prüft. Ein problematisches Angewiesensein auf Gewissheit sah Pannenberg auf diese Weise als überwunden an61 . Allerdings erfordert die Programmatik Pannenbergs das Offenhalten der Wahrheitsfrage. Die Wahrheit ist als strittige und „auf dem Spiele“ stehende Größe anzuerkennen; der Rekurs auf die Gewissheit vermag die Wahrheit eben niemals vorab sicherzustellen62 .

59 Siehe dazu ausführlicher W. Pannenberg, Grundfragen systematischer Theologie Bd. 2. Gesammelte Aufsätze,244ff. Dass Pannenberg der Theologie als Wissenschaft vorrangig das Streben nach Wahrheit (und nicht nach Wissen) anempfahl, ist möglicherweise auch durch den vergleichsweise starken Einfluss kritisch-rationalistischen Denkens zu erklären. 60 WuTh, 38: „Die Intellektualisten bestritten die [sc. Gewissheit] der Empiristen und umgekehrt.“ (a. a. O., 38f.). 61 Vgl. WuTh, 47f.: „Das Aufstellen und Prüfen von Hypothesen setzt keine letzten Gewißheiten empirischer oder intellektueller Art voraus.“ (a. a. O., 48). Dieser kritische Blick auf die wissenschaftliche Inanspruchnahme von Gewissheit kennzeichnet dann auch weitere Passagen, in denen Pannenberg theologische Konzeptionen bespricht, die der Gewissheit eine fundamentale Bedeutung zuschreiben. Vgl. Pannenbergs Bemerkungen zu J. A. Ernesti (a. a. O., 358) und F. D. E. Schleiermacher (a. a. O., 416). Auch Pannenbergs kritische Ausführungen zur ‚dogmatischen Gewißheit‘ (siehe a. a. O., 333) kommen nicht von ungefähr! 62 Vgl. WuTh, 419: Angesichts der für Pannenbergs Denken wichtigen Einsicht, dass „die Theologie sich nicht adäquat als Entfaltung einer ihr vorweggegebenen, und zwar als abgeschlossen gegebenen Wahrheit verstehen“ könne, „sinkt der Unterschied, ob solche abgeschlossene Gegebenheit durch eine Offenbarungsautorität oder durch die subjektive Gewißheit einer Glaubenserfahrung [kursiv: T. L.] verbürgt sein soll, zur Bedeutungslosigkeit herab.“ (ebd.)

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Pannenberg war stets darum bemüht, jeglichen bloßen Subjektivismus zu überwinden. Im Rückblick wird man urteilen dürfen, dass ihm dies im Großen und Ganzen gelungen ist. Jedenfalls können (auch) seine gewissheitskritischen Erwägungen vor dem Hintergrund seines Wissens um die Problematik, die von den verschiedensten Spielarten des theologischen Subjektivismus ausgeht, verstanden werden. Allerdings hätte m. E. seine Theologie darüber hinausgehend von einer Reflexion auf die Struktur von (zum Teil unterschiedlichen) Gewissheitsbegriffen profitieren können. So hätte er beispielsweise im Gesamtzusammenhang seiner wissenschaftstheoretischen Überlegungen expressis verbis darlegen können, warum man die Gewissheit eher nicht brauchen kann im wissenschaftstheoretischen Kontext oder hätte – das wäre eine Alternative gewesen – die religiöse Gewissheit des christlichen Glaubens als subjektive Gewissheit deutlich(er) wertachten können und gleichzeitig anhand ihrer Grenzen plausibel machen können, warum Theologie besser nicht auf Gewissheit, sondern auf das die Wissenschaften an den Universitäten verbindende Streben nach der Wahrheit zu gründen ist. Hier hätte Pannenberg an einen landläufigen Begriff von Gewissheit anknüpfen können. Was Pannenberg unter ‚Gewissheit‘ versteht bzw. verstehen kann, weicht, wie oben bereits gezeigt, in Teilen sehr vom geläufigen Sprachgebrauch ab.

6.

Schluss: Ein Weniger an Gewissheit ist mehr

Der Münchner Fundamentaltheologe Armin Kreiner hat in einem Aufsatz darauf aufmerksam gemacht, dass ‚Gewissheit‘ und ‚Wahrheit‘ Unterschiedliches meinen, weswegen sie auch nicht „zusammen kommen“ können63 . Die Theologie wäre in der Tat gut beraten, dieser Erkenntnis größere Beachtung zu schenken64 . Während es bei ‚Wahrheit‘ sowohl im truth talk des Alltags als auch in den Wissenschaften sehr häufig um eine durch die Korrespondenztheorie der Wahrheit zu überbrückende Relation zwischen Sprache und außersprachlicher Wirklichkeit geht, bezeichnet ‚Gewissheit‘ lediglich eine innere Relation zu sich selbst bzw. eigenen Überzeugungen. Der fehlende Bezug nach außen dürfte ihre größte Schwäche sein. Auch wenn man als Theologe gute Gründe haben mag, dem kritischen Rationalismus nicht nahezustehen, muss man Hans Albert zugestehen, eben jene

63 Siehe dazu: A. Kreiner, Warum Wahrheit und Gewissheit nicht zusammen kommen können, in: G. Oberhammer/M. Schmücker (Hrsg.): Glaubensgewissheit und Wahrheit in religiöser Tradition: Arbeitsdokumentation eines Symposiums. Österreichische Akademie der Wissenschaften. PhilosophischHistorische Klasse: Sitzungsberichte, Bd. 775. Wien: ÖWA, Verl. der Österr. Akad. der Wiss., 121–133. 64 Siehe dazu ausführlicher meine Überlegungen in: T. Leppek, Wahrheit bei Wolfhart Pannenberg. Eine philosophisch-theologische Untersuchung, Göttingen 2017 (FSÖTh 159), 62ff.

Absenz der Gewissheit – Präsenz der Wissenschaftstheorie

Subjektivitätsproblematik, an der die Gewissheit an ihre eigenen Grenzen kommt, herausgestellt zu haben: „Die Einsicht, daß alle Gewißheit in der Erkenntnis selbstfabriziert, radikal subjektiv und damit für die Erfassung der Wirklichkeit ohne Bedeutung ist, daß man Gewißheit nach Bedarf herstellen kann, wenn man sich nur entschließt, die betreffende Überzeugung gegen alle möglichen Einwände zu immunisieren, stellt den Erkenntniswert jedes Dogmas und den methodischen Wert jeder Strategie der Dogmatisierung in Frage.“65

Ob tatsächlich jedwede Gewissheit „selbstfabriziert“ ist, wollen wir einmal dahingestellt sein lassen. Auf jeden Fall tut die Theologie gut daran, die Schwierigkeiten, die sich mit dem Rekurs auf Gewissheit(en) ergeben, nicht auszublenden – insbesondere dann, wenn konfligierende Gewissheitsansprüche um Geltung ringen. Kreiner hat unter Aufnahme der Gewissheitskritik Alberts Folgendes, und zwar nicht ohne Ironie, zu bedenken gegeben: „Dass es sich bei der eigenen um eine gottgeschenkte, bei der Gewissheit anderer um eine selbstfabrizierte handeln soll, lässt sich zwar nicht grundsätzlich ausschließen. Es lässt sich aber vermutlich auch nicht noch einmal mit Gewissheit feststellen. Letzten Endes läuft diese Strategie darauf hinaus, sich auf das eigene Glück zu verlassen, was bekanntlich immer ein wenig ungewiss bleibt.“66

Während Pannenbergs wissenschaftstheoretische Grundlegung durch die Offenhaltung der Wahrheitsfrage und die Zulassung der Ungewissheit von solcher berechtigten Kritik nicht betroffen ist, können die Worte Kreiners unverändert an die Adresse Grosses für den fortzusetzenden wissenschaftstheoretischen Diskurs weitergereicht werden. Ist es nicht überhaupt ein bedauernswerter Umstand, dass man in der Geschichte der Theologie allzu sehr auf Gewissheiten baute und infolgedessen Andersdenkende unterdrückte? „Die Einsicht, dass man sich dabei auch täuschen kann, findet sich in der Christentumsgeschichte relativ selten und relativ spät – und vorwiegend im Hinblick auf die Gewissheiten anderer.“67

65 H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 5 1991 (Nachdruck 2010), 41. 66 A. Kreiner, Warum Wahrheit und Gewissheit nicht zusammen kommen können, in: G. Oberhammer/ M. Schmücker (Hrsg.): Glaubensgewissheit und Wahrheit in religiöser Tradition: Arbeitsdokumentation eines Symposiums. Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse: Sitzungsberichte, Bd. 775. Wien: ÖWA, Verl. der Österr. Akad. der Wiss., 130. 67 A. a. O., 132. Kreiner bezieht sich in seinem Aufsatz auf ein Buch von Keith Ward, A Vision to Pursue. Beyond the Crisis in Christianity, London 1991.

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In Anbetracht der in diesem Beitrag skizzierten Problemlage rund um die Gewissheitsfrage ist m. E. zu überlegen, ob man nicht im Rahmen einer fachkundigen Urteilsbildung über verschiedenartige theologische Wissenschaftstheorien genau jenen Typus wissenschaftstheoretischer Grundlegungen der Theologie als exzellente Leistung würdigen darf, in welchem wie bei Pannenberg das genuin wissenschaftliche Streben nach Wahrheit auf möglichst hohem akademischen Niveau vorangetrieben wird und zugleich die Gewissheit getrost „durch Abwesenheit glänzen“ darf.

Matthias Ruf

Unverständliches Verstehen Zur Kritik der „Hermeneutischen Theologie“ in der Wissenschaftstheorie Wolfhart Pannenbergs In Wissenschaftstheorie und Theologie entwickelt Wolfhart Pannenberg einen Begriff von Wissenschaft, mit dem er nicht weniger versucht, als einen Weg zwischen der Skylla und der Charybdis der Wissenschaftstheorie zu bahnen: weder sollen in dem Entwurf verschiedene wissenschaftliche Disziplinen verkürzend auf eine Leitdisziplin reduziert werden, noch sollen unterschiedliche Wissenschaftsbereiche (etwa die Geistes- und Naturwissenschaften) so scharf voneinander unterschieden werden, dass die Einheit der Wissenschaft nicht mehr sichtbar wird.1 Für die Konturierung eines solchen gleichzeitig integrativen wie differenzierten Verständnisses von Wissenschaft sowie für die Verortung der Theologie darin spielt Pannenbergs Verständnis von „Hermeneutik“ eine zentrale Rolle. Dies entwickelt er auch in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von Entwürfen der „Hermeneutischen Theologie“. Allerdings sind gegen Pannenbergs Verständnis von Hermeneutik gewichtige theologische Einwände vorgetragen worden; außerdem sind jüngere Entwürfe aus der „Hermeneutischen Theologie“ sowie konzeptuell ähnliche, die einem subjekthermeneutischen Paradigma zugeordnet werden können, nicht unmittelbar von Pannenbergs Einwänden betroffen. Auf den ersten Blick scheinen beide Aspekte seinen Ansatz an einer empfindlichen Stelle zu treffen. Genauer besehen zeigt sich jedoch, dass einige prominente Einwände gegen Pannenbergs Hermeneutik auf Missverständnissen beruhen; außerdem weisen auch die jüngeren „hermeneutischen Alternativen“ zu Pannenbergs Ansatz ausgerechnet in hermeneutischer Hinsicht selbst erhebliche Schwächen auf – nämlich insofern die hier vorgetragenen Deutungsangebote des Christentums dort, wo sie unter Rückgriff auf Schlüsselausdrücke wie beispielsweise „Gott“, „Schöpfung“ oder „Rettung“

1 Dass hier ein besonders umfassendes Verständnis von „Wissenschaft“ angezielt wird, spiegelt sich auch in intrikaten Übersetzungsproblemen wider: im Englischen gibt es keinen Ausdruck, der präzise einfängt, was Pannenberg unter „Wissenschaft“ versteht. Wenn der Titel der englischsprachigen Übersetzung von seiner Wissenschaftstheorie und Theologie mit Theology and the Philosophy of Science angegeben wird, verfehlt dies jedenfalls bestimmte Merkmale seines umfassenden Wissenschaftsbegriffs. Unter „science“ werden (anders als Pannenberg dies für „Wissenschaft“ vorsieht) im Englischen in der Regel schließlich nur „natural sciences“ verstanden. Pannenbergs Wissenschaftstheorie und Theologie wird im Folgenden mit „WuTh“ abgekürzt und nach der folgenden Ausgabe zitiert: W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt: Suhrkamp 1987.

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Matthias Ruf

ausgesagt werden, unverständlich sind. Auf diesen etwas ungewöhnlichen und klärungsbedürftigen Einwand laufen die folgenden Überlegungen in einem dritten und letzten Abschnitt zu. Ehe dies genauer erläutert werden kann, wird zuvor in einem ersten Schritt das pannenbergsche Verständnis von Theologie im Rahmen seines hermeneutisch informierten Grundverständnisses von Wissenschaft skizziert und in einem zweiten Schritt die theologische Kritik an Pannenbergs Hermeneutik ausgewertet.

1.

Wissenschaftstheorie und Theologie in hermeneutischer Perspektive

Für die Entwicklung seines Wissenschaftsbegriffes in Wissenschaftstheorie und Theologie weicht Pannenberg etwas von seinem üblichen Vorgehen ab. Gewiss leitet er sein Verständnis erneut so her, dass er bedeutende alternative Verständnisweisen durchmustert und auswertet. Allerdings setzt er dabei nicht – wie unter Rücksicht auf andere Untersuchungen zu erwarten gewesen wäre – bei frühen Formen eines Wissenschaftsbegriffes ein, deren Entwicklung dann über Jahrhunderte nachverfolgt wird, um bewährte Bezugspunkte für ein zeitgenössisches Verständnis herauszuarbeiten. Ansatzpunkt ist vielmehr unmittelbar der „(logische) Positivismus“ aus der Mitte des 20. Jahrhunderts und dessen Anspruch, sämtliche Wissenschaften „am Modell der modernen Naturwissenschaften [zu] orientieren“ (WuTh, 29). Hier zu beginnen, lege sich Pannenberg zufolge wegen des überwältigenden Erfolges der Naturwissenschaften nahe, den zeitgenössische wissenschaftstheoretische Entwürfe nicht ignorieren könnten. Allerdings könne es bei einem solchen Bezug nicht bleiben, da die verschiedenen Spielarten des „Positivismus“ mit inneren Schwierigkeiten verbunden seien und diese wiederum darauf verwiesen, den zu engen Rahmen des Positivismus zu überschreiten. Ansatzpunkte für teils einschneidende Kritik seien unter anderem im kritischen Rationalismus markiert worden, wobei sich die Anfragen schon auf die Anwendung positivistischer Grundprinzipien auf die Naturwissenschaften bezogen.2 Zusätzlich 2 Anlass für eine Kritik bot vor allem die Beanspruchung von beobachtbarem „Gegebenen“, das im logischen Positivismus zuerst in Basissätzen erfasst werden soll, um so als „Kontrollinstanz“ für wissenschaftliche Behauptungen zu fungieren (vgl. WuTh, 32). Selbst wo von der Forderung, dass allgemeine wissenschaftliche Sätze durch Gegebenes verifizierbar sein müssen, Abstand genommen und im kritischen Rationalismus allein deren Falsifizierbarkeit verlangt wurde (Karl Popper), seien Probleme zu markieren: Diese bestünden nach Pannenberg unter anderem darin, dass die „Abhängigkeit der sprachlichen Form von Basissätzen von einer umfassenden Erfahrungsperspektive“ schon andeute, dass in der Wissenschaft nicht einzelne „Hypothesen, sondern ganze Theoriezusammenhänge zur Diskussion stehen“ (vgl. WuTh, 57). Pannenberg sieht dies auch durch die Beobachtung Thomas S. Kuhns gestützt, dass in wissenschaftlichen Debatten umfassend eingebettete Hypothesen kaum durch einzelne Beobachtungen widerlegt, sondern dass letztere gegebenenfalls als Anomalien

Unverständliches Verstehen

sei ein Zugriff, der primär an den Naturwissenschaften orientiert werde, auch in klassischen „geisteswissenschaftlichen“ Disziplinen wie der Philosophie oder den Geschichtswissenschaften nicht sachgemäß. Hier nämlich würden zu Erklärungszwecken einzelne Phänomene in übergeordnete Sinnstrukturen eingeordnet, die nicht wie Naturgesetze verfasst seien (vgl. WuTh, 65f.). Dies lässt sich etwa an der Erklärung historischer Ereignisse illustrieren: Man könnte beispielsweise notieren, dass im Juni 1914 der Thronfolger von Österreich-Ungarn ermordet wurde. Und man könnte sogar naturwissenschaftliche Beobachtungen etwa zur Flugbahn der tödlichen Kugel anstellen. Genauer versteht man dieses Ereignis aber erst, wenn man es beispielsweise als Auslöser des ersten Weltkriegs einordnet oder zur weiteren Verortung Verbindungen zur instabilen Weltordnung und politischen Lage in den 1920er Jahren zieht. Im Vergleich mit solchen Perspektiven könnte man kaum eine tiefere Erklärung anbieten, indem auf allgemeine historische Regeln oder gar Gesetze zurückgegriffen würde – auch wenn dies etwa im Rahmen der analytischen Handlungs- und Geschichtstheorie gelegentlich versucht wurde. Offensichtlich träfen dabei spezifische Gesetze der Art: „Immer, wenn der Thronfolger erschossen wird, bricht ein Weltkrieg aus“ etc. schlichtweg nicht zu. Aber auch die durch Carl G. Hempel inspirierte, weniger spezifische Auffassung, dass historische Einzelereignisse durch andere verursacht seien und dass solche Kausalrelationen unter allgemeine Gesetze fielen, werde nach Pannenberg der Eigentümlichkeit (etwa der Unwiederholbarkeit und Kontingenz) historischer Ereignisse nicht gerecht.3 Auch wenn insofern Unterschiede zwischen den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften markiert werden müssen, seien diese nach Pannenberg dennoch nicht grundsätzlich zu trennen – in einer solchen Auffassung würde die unglückliche Alternative (gewissermaßen also die Charybdis) zu den erwähnten verstanden werden, die im Rahmen abgeschirmter Paradigmen „normalwissenschaftlich“ bearbeitet werden (vgl. WuTh, 57–60). 3 Vgl. WuTh, 61–73. Bemerkenswerterweise stellt Pannenberg in diesem Zusammenhang keine Verbindung zum troeltschen Korrelationsprinzip und dessen Rezeption in der Theologie her. Es scheint mir jedoch einiges dafür zu sprechen, dass dieses Prinzip erst dann seine Funktion, die „Allmacht der Analogie“ zu sichern, erfüllen kann, wenn es genau im Sinne eines quasi-positivistischen Prinzips verstanden würde, nach dem der Zusammenhang „historischer Kausalität“ doch gesetzesförmig ist (vgl. E. Troeltsch, „Über historische und dogmatische Methode in der Theologie“ [1898], In: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, hg. v. ders., Tübingen: Mohr Siebeck 1922, 732). Dass hier Probleme zu markieren wären, zeigt sich auch aus einer handlungstheoretischen Perspektive (vgl. zur Rezeption durch die Churchlands wie auch zur Kritik von Hempels Prinzipien in der Handlungstheorie, die in einem „kruden Kausalismus“ mündeten, die Darstellung und Kritik bei G. Keil, Handeln und Verursachen, Frankfurt: Klostermann 2015, 51–72, sowie das Zitat 33). Dieser Zusammenhang ist auch insofern interessant, dass theologischerseits beispielsweise bei Christian Danz in der Kritik traditioneller Vorstellungen göttlicher Providenz gelegentlich unwillkürlich ein solcher Kausalismus beansprucht wird (vgl. dazu M. Ruf, „Handeln Gottes“. Zur Hermeneutik theologischer Rede von Gott, Tübingen: Mohr Siebeck 2022, 279–281).

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Matthias Ruf

Reduktionsversuchen bestehen, die sich oft in einer überzogenen Differenzierung von Erklären und Verstehen ausdrücken würde. Es sei demgegenüber vielmehr von einer Gemeinsamkeit beider Wissenschaftsbereiche auszugehen, die darin bestünde, dass sie jeweils hermeneutisch vorgingen und Einzelphänomene in ein übergeordnetes Ganzes einordneten.4 Im Falle der Naturwissenschaften ist der übergeordnete Zusammenhang ein Naturgesetz; in den Geisteswissenschaften handle es sich um Sinnzusammenhänge. Ein hermeneutisches Vorgehen sei insofern ein wichtiges Merkmal jeglichen wissenschaftlichen Arbeitens.5 Pannenberg versteht vor dem Hintergrund dieser Grundkonzeption auch die Theologie als Wissenschaft. Worin aber besteht ihr unterscheidendes Merkmal? Mit der Philosophie zeichne die Theologie sich dadurch aus, dass sie das Sinnganze, in das sie Einzelphänomene einordne, entgrenze. Am Beispiel des Mordes am Thronfolger hat sich schon angedeutet, dass im Fortschreiten der Geschichte historische Ereignisse einen Bedeutungszuwachs erfahren können. Was hier schon am Horizont auftaucht, nämlich ein umfassendes Sinnganzes der Weltgeschichte, rücke nun die Theologie in den Fokus. Sie berücksichtige, dass die Einzeldinge erst am Ende der Geschichte ihre bestimmte Bedeutung bekommen. Dieses Interesse an einem umfassenden, geschichtlich entwickelten Sinnganzen rühre daher, dass dieses ein Korrelat des Gottesbegriffes sei (vgl. WuTh, 311). Sinnvoll gefasst sei Gott als die alles bestimmende Wirklichkeit zu verstehen – und diesen Gottesbegriff prüfe die Theologie an der geschichtlich verfassten Wirklichkeit: Sie frage, ob es tatsächlich Sinn mache, die Weltgeschichte als durch Gott bestimmt zu verstehen (vgl. WuTh, 302). Positiv gewendet, ist im Anschluss daran das geschichtlich gefasste Sinnganze also deshalb so interessant für die Theologie, da sich Gott darin offenbare. Anders als in der Tradition Hegels geht Pannenberg dabei nicht davon aus, dass das Sinnganze über Reflexion erreicht werden könne. Die religiösen Vorstellungen können noch nicht im philosophischen Begriff des Absoluten überwunden werden, der genauer besehen immer nur ein „Vorgriff “ sei.6 Religiöse Vorstellungen blieben

4 Vgl. WuTh, 159; Pannenberg versteht hier ausweislich der Überschrift „Hermeneutik“ als Methode und offenbar höchstens indirekt als Lehre vom Verstehen (vgl. zu dieser Bedeutungsdimension allerdings WuTh, 159ff.). 5 Damit ist der Begriff „Wissenschaft“ allerdings noch nicht hinreichend bestimmt. Schließlich ordnen auch Mythologien Einzelnes in ein Ganzes ein. Wissenschaftliche Disziplinen seien davon aber dennoch unterscheidbar, insofern sie die übergeordneten Zusammenhänge über basale Regeln der Rationalität kontrollieren. Pannenberg zählt hier im Anschluss an Heinrich Scholz unter anderem das Prinzip der Widerspruchsfreiheit oder Kontrollierbarkeit sowie das Satzpostulat dazu (vgl. WuTh, 271f.). Diese Kriterien seien nach Pannenberg nur „ausdrückliche Formulierungen der logischen Implikationen von Behauptungssätzen“ (WuTh, 329) und keineswegs aus dem positivistischen Ideal einer naturwissenschaftlich geprägten Einheitswissenschaft entwickelt. 6 Vgl. zu der entsprechenden Auseinandersetzung mit Hegel und zu den in diesem Zusammenhang wichtigen Ausführungen zum Thema der „Antizipation“ unter anderem die Erläuterungen in W.

Unverständliches Verstehen

demgegenüber Korrektiv und Ausgangspunkt. Die Theologie versuche also nicht sofort das geschichtliche Sinnganze in den Blick zu nehmen, sondern konzentriere sich (gewiss auch unter Antizipation des Sinnganzen) auf religiöse Vorstellungen oder genauer: auf Zeugnisse von Handlungen Gottes in der noch unabgeschlossenen Geschichte. Diese Handlungen würden indirekt – so auch schon die These 1 im frühen Programmaufsatz „Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung“ von 1961 – etwas über göttliche Absichten und damit über Gott selbst aussagen, den Hauptgegenstand der Theologie.7 Wenn die Theologie auf die Überlieferung von jenen Handlungen Gottes reflektiere, verfahre sie nach Pannenberg nicht anders als andere Wissenschaften: Wenn sie Behauptungen über geschichtliche Ereignisse und ihre Bedeutung aufstelle, müsse sie dies im Bewusstsein der Vorläufigkeit ihrer Wahrheitsansprüche tun. Dies hänge allein schon damit zusammen, dass die Bedeutung einzelner historischer Ereignisse und damit auch die Offenbarung Gottes sich endgültig erst am Ende der Geschichte vollständig erschlössen (das gilt auch dann, wenn das Ende der Geschichte in Christi Auferweckung schon aufleuchtet). Nach Pannenberg bestehe die Aufgabe der systematischen Theologie darin, trotz der Vorläufigkeit von Wahrheitsansprüchen für diese argumentativ einzutreten.8 Die entsprechenden Bemühungen blieben jedoch ein sehr unfertiges Unterfangen. Zusammengenommen gelte deswegen nach Pannenberg das Folgende: Wegen der Entwicklung von Bedeutung bis zum Ende der Geschichte und wegen der Vorläufigkeit, die Wahr-

Pannenberg, „Über historische und theologische Hermeneutik“, Grundfragen systematischer Theologie, Hg. ders., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967, 123–159, hier 149ff. 7 In seinen Ausführungen zu Anthropologie und Religionswissenschaft gibt Pannenberg eine hilfreiche Erläuterung, was genau als Gegenstand der Theologie zu bestimmen ist – eine Erläuterung die auch analog auf das Verhältnis von Gott und Gesamtgeschichte anzuwenden wäre. In einer bestimmten Hinsicht, so erläutert Pannenberg dort, könnte man sagen, dass der Gegenstand der Theologie das Christentum sei. Allerdings gelte dies nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt: „Er besteht darin, daß Theologie Religionswissenschaft und so auch speziell Wissenschaft vom Christentum ist, insofern sie Wissenschaft von Gott ist. Theologischen Charakter hat die Untersuchung der Religionen und so auch des Christentums nur dann, wenn sie die Religionen darauf befragt, inwiefern sich in ihren Überlieferungen Selbstbekundung göttlicher Wirklichkeit dokumentiert“ (WuTh, 317). 8 Dazu versuche die christliche Theologie unter anderem die Konsistenz des Gottesgedankens zu zeigen; außerdem müsse sie zeigen, dass Behauptungen christlicherseits mit den Ergebnissen anderer Wissenschaften kohärent sind. Und schließlich geht es um den Nachweis, dass sich die gegenwärtigen Rekonstruktionen des Christentums noch in inhaltlicher Kontinuität zu den Wurzeln befinden – dass also ein Konsens bestehe zwischen dem Kern des Evangeliums und dem sich geschichtlich entwickelnden Dogma (vgl. die ausführlichen Erläuterungen in W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, 18–36; vgl. außerdem zum Themenkomplex „Wahrheitsanspruch und Wahrheitserweis“ in geschichtlicher Perspektive die Ausführungen a. a. O., 36–72).

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heitsansprüche argumentativ zu erhärten, haben theologische Sätze den Status von Hypothesen.9

2.

Theologische Kritik an Pannenbergs Konzept von Theologie als hermeneutischer Wissenschaft

Die skizzierten Überlegungen Pannenbergs sind in ihrem Potential, verschiedene Disziplinen in differenzierter Form zu integrieren und dabei auch den Platz und Anspruch der Theologie an der Universität einleuchtend zu bestimmen, mindestens bedenkenswert. Zumindest gilt dies aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive. Von theologischer Seite wurden genau diese Zusammenhänge allerdings immer wieder zum Ansatzpunkt prinzipieller Kritik gemacht und diese zuletzt sogar so ausgewertet, dass sich die Leistungskraft von Pannenbergs Denken mit Blick auf heutige Fragen erschöpft habe. Im Folgenden werden zwei besonders prominente unter diesen Einwänden skizziert: Erstens gehört dazu die Kritik an der Vorstellung oder zumindest religiösen Bedeutung eines geschichtlichen Sinnganzen; zweitens geht es um Einwände gegen den Hypothesencharakter theologischer Sätze. Beide Einwände überzeugen genauer besehen jedoch nicht: Zum ersten Kritikpunkt. Unter anderem Dietrich Korsch hat gegen Pannenbergs Überlegungen eingewendet, dass heute von einer „Einheit der Geschichte“ kaum mehr geredet werden könne und sich auch die „Transzendenz als Bestimmung des je eigenen Lebens“ nicht mehr von dort, sondern von der individuellen Lebensgeschichte aus erschließen müsse.10 Außerdem sieht er im Hintergrund des Geschichtsverständnisses ein „eher konservatives Modell der Entwicklung“ und wähnt dabei ein Schattenwurf bestimmter politischer Auffassungen der späten 60er Jahre des 20. Jahrhunderts ausmachen zu können.11 Nach Korsch habe sich der „normative Gehalt“ dieser Gesamtkonzeption inzwischen erschöpft; eine „offene historische Grundhaltung“ im Sinne von Ernst Troeltsch, bei der nicht beansprucht werde, die Geschichte insgesamt überschauen zu können, sei dem vorzuziehen.12 In dieser Beschreibung scheint mir jedoch Pannenbergs Auffassung durch die politische Einordnung zunächst verzwergt zu werden und darüber hinaus in verschiedener Hinsicht nicht treffend erfasst worden zu sein: Erstens wird hier nach meiner Wahrnehmung die Bedeutung des Sinnganzen für die individuelle Erschließung von Transzendenz überbetont. Auch Pannenberg setzt bei religiöser Erfahrung und deren Erschließungskraft ein. Bei der Frage der „psychologischen Motivierung 9 10 11 12

Vgl. a. a. O., 64–72. D. Korsch, Antwort auf Grundfragen christlichen Glaubens, Tübingen: Mohr Siebeck.2016, 12. Vgl. a. a. O., 11. Vgl. a. a. O., 11f.

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des Glaubensaktes“ mag nach Pannenberg dabei auch der weite „Rahmen der unausdrücklichen Bezogenheit menschlicher Existenz auf das göttliche Geheimnis“ eine Rolle spielen.13 Oder es sind geschichtliche Schlüsselstellen wichtig, in denen ein Offenbaren Gottes in einem geschichtlichen Handeln erfahren wurde und die zum zentralen Bezugspunkt des Glaubens geworden sind. In beiden Fällen ist es aber nicht die (vollständig erfasste) Gesamtgeschichte, die für ein Wecken von Glauben konstitutiv sei (hierhin gehört auch Pannenbergs Unterscheidung von fiducia und notitia: letztere sei Voraussetzung des Glaubens, nicht aber Glauben selbst).14 Unabhängig davon gilt ein weiteres: Gewiss erschließt sich die Bedeutung des göttlichen Geschichtshandelns nach Pannenberg erst am Ende der Geschichte. Aber auch wenn der Glaubende dieses Ende antizipiert, bedeutet das noch nicht, dass hierbei eine einheitliche Gesamtgeschichte zu unterstellen wäre, in der alles „irgendwie“ zusammenstimmt. In seiner Wissenschaftstheorie hält er demgegenüber beispielsweise fest, dass die „Wirklichkeit im ganzen (…) eben nicht nur aus abstrakten Strukturen“ bestehe; vielmehr schließe sie „stets auch den Aspekt des Besonderen und Einmaligen ein, das im zeitlichen Prozeß jeweils als ein Neues auftritt“ (WuTh, 70). Und in seinen genaueren Ausführungen zu den Kategorien „Teil“ und „Ganzes“ in der Wissenschaftstheorie behauptet er ganz analog, „daß der reale Prozeß der Geschichte die Individuen und Reiche verschlingt und nicht einfach harmonisch als Teile eines Sinnganzen vollendet“.15 Der darin enthaltene Einspruch gegen die Unterstellung einer allzu glatten „Einheit der Geschichte“ ließe sich darüber hinaus auch unter Bezug auf eschatologische Motive stützen: Es könnte mit der Welt auch katastrophisch oder in einem göttlichen Gericht enden, wobei viele lose historische Entwicklungsstränge unverflochten nebeneinanderliegen würden. Pannenberg ist hier also insgesamt erfahrungsorientierter, was den

13 W. Pannenberg, Systematische Theologie, Band 3, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 171. 14 Vgl. a. a. O., 163–184. Dies scheint mir auch mit Blick auf die Debatte Pannenbergs mit G. Sauter zu unterstreichen zu sein, der hier meines Erachtens zu undifferenziert unterstellt, Pannenberg gehe es auch um eine „wissenschaftstheoretische Überprüfung […] der Entstehung des Glaubens“ (vgl. G. Sauter, „Überlegungen zu einem weiteren Gesprächsgang über ‚Theologie und Wissenschaftstheorie‘, Evangelische Theologie 1 (1980), 161–168, hier 161). Glaube setzte nach Pannenberg durchaus (vorläufiges) historisches Wissen voraus, das mindestens antizipativ auch mit dem Thema der Gesamtgeschichte verbunden ist. In diesem Wissen bestünde nämlich der Ansatzpunkt, Gott zu vertrauen – weil er sich eben in der Geschichte schon als vertrauenswürdig erwiesen habe. Dennoch gehe der Glaube selbst (im Sinne von fiducia) über ein solches historisches Wissen hinaus, was unter anderem mit seiner Zeitstruktur zusammenhinge: der Glaube richte sich nicht zuletzt auf ein künftiges Heil und vertraue auf die erst eschatologisch vollständig sichtbare Güte Gottes. Hier korrelieren promissio und fiducia (vgl. W. Pannenberg, Systematische Theologie, Band 3, 156–163). 15 W. Pannenberg, „Die Bedeutung der Kategorien „Teil“ und „Ganzes“ für die Wissenschaftstheorie der Theologie“ [1978], In: Beiträge zur Systematischen Theologie, Bd. 1, Hg. ders., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999, 85–101, hier 96.

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Glauben angeht und mit Blick auf die Gesamtgeschichte meines Erachtens gar nicht derart auf geschichtsphilosophisch aufgerüstete Annahmen verpflichtet, wie unterstellt. Ein zweiter Kritikpunkt. Unter anderem Joachim Ringleben (und mit Einschränkung auch Gerhard Sauter) hat geltend gemacht, dass die Klassifizierung christlicher Aussagen als Hypothesen christlicher Gewissheit nicht gerecht werde. Darauf zielt Ringleben beispielsweise mit den folgenden kritischen Anfragen: „Wie ist vom noch ausstehenden endgültigen Selbsterweis der Gottheit Gottes her verständlich zu machen, daß antizipierender Glaube als Gewißheit von der Wahrheit schon möglich ist? Muß nicht im Glauben an Jesus die ganze Wahrheit schon da sein, um in Selbstunterscheidung von ihrer faktisch begrenzten, vorläufigen Erscheinung als Vorgriff auf ihre noch ausstehende endgültige Realisierung im sich verstehenden Glauben überhaupt gewußt werden zu können? Die Lösung der Wahrheitsfrage ins Eschaton zu verlegen (…), ist doch wohl eine Option, die selber noch in der gegenwärtigen Erfahrung des Glaubens von der Wahrheit in Jesus begründet sein muß“.16

Von einer solchen Kritik aus läge es näher, eine stabilere Grundlage der Theologie zu suchen. Beispielsweise könnte man sich an dieser Stelle um den Nachweis bemühen, dass Religion ein allgemeines anthropologisches Phänomen sei und theologische Sätze allein als Ausdruck dessen zu verstehen seien; oder man könnte wie im Falle Karl Barths behaupten, dass die theologische Reflexion auf Glaubensgehalte dem Zugriff anderer Wissenschaften entzogen sei, und dass die Theologie auf ein Glaubenswagnis begründet werden müsse (vgl. WuTh, 279). Gegen solche Zugriffe könnte man mit Pannenberg auch wissenschaftstheoretische Überlegungen anführen: Würde man die Wahrheit des Christentums in

16 J. Ringleben, „Pannenbergs Systematische Theologie“, Theologische Rundschau 63 (1998), 337–350 hier 339. Mit ähnlicher Konsequenz spricht Gerhard Sauter unter anderem von „abgeschlossener Rede von Gott“, bei der (im Unterschied zu Aussagen wie „Gott versöhnte die Welt mit sich selbst“) eine Erfüllung nicht erst noch ausstehe; Sauter denkt hier unter anderem an die Trinitätslehre. In diesen Fällen träfe der hermeneutische Vorbehalt, dass die Bedeutung von Aussagen als entwicklungsoffen verstanden werden müsse, nicht zu (vgl. die Hinweise und Auseinandersetzung damit in W. Pannenberg, „Antwort auf G. Sauters Überlegungen“, Evangelische Theologie 1 (1980), 168–181; hier 168). Interessanterweise scheint mir Sauter in „Überlegungen zu einem weiteren Gesprächsgang über ‚Theologie und Wissenschaftstheorie‘“ den Hauptakzent seiner früheren Kritik etwas zu verschieben und nicht „primär“ auf die Gewissheitsfrage zu beziehen (vgl. a. a. O., 163), sondern auf die Vieldeutigkeit des Hypothesenbegriffs bei Pannenberg: er beobachtet, dass mit dem hypothesenhaften Charakter von Aussagen manchmal auf einen „prinzipiellen Vorbehalt gegenüber jeder abschließenden Überprüfung“ Bezug genommen wird; manchmal allerdings werde moderater behauptet, dass die Bezeichnung eine Aussage als Hypothese nur solche Aussagen markiere, die sich vorläufig „als bewährt (bestätigt) oder nicht bewährt feststellen lassen“ (ebd.).

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solchen Formen absichern, würde es der Dogmatik äußerlich bleiben, sie danach noch in rationaler Form vorzutragen. Sich darum zu bemühen, dass christliche Glaubensüberzeugungen kohärent sind, mache nach Pannenberg nur Sinn, solange der Ausgang dieser Prüfung auf die Wahrheit noch offen ist.17 Ein solches Verständnis mag wissenschaftstheoretisch gewiss attraktiv sein. Man könnte Pannenberg aber immer noch vorwerfen, dass das theologische Gewissheitsproblem hier noch nicht geklärt ist. Das ist richtig, nur äußert sich Pannenberg dazu nicht vorrangig an den Stellen, an denen hier (etwa von Ringleben) Antworten gesucht werden: Statt beispielsweise im ersten Band der Systematischen Theologie (oder statt in seiner Wissenschaftstheorie und Theologie) wird man bei Pannenberg in diesen Fragen eher in einem wichtigen Kapitel aus dem dritten Band seiner Systematischen Theologie fündig.18 Hier erläutert Pannenberg im Abschnitt zum Thema „Glauben“, dass christliche Gewissheit nicht in der theoretischen Stabilität des „Glaubensgedankens“ gründe. Vielmehr rühre diese Gewissheit daher, dass der Glaubende im Akt des Vertrauens seinen theoretischen Glaubensgegenstand – etwa den Satz: Gott hat Christus wieder lebendig gemacht – überschreite und sich mit dem eigentlichen Gegenstand, nämlich Christus selbst, verbinde und darin festmache. Zur Beschreibung dessen ruft Pannenberg Motive aus der Mystik oder aus frühen Texten Luthers, beispielsweise aus De libertate christiana, auf.19 In solchen Bezügen, die auch im Kontext ökumenischer Debatten wichtig sind, wird unmittelbar erkennbar, dass Pannenberg keineswegs als „Rationalist“ missverstanden werden sollte, der Glaube und Gewissheit im christlichen Sinne mit „Wissen“ verwechselt – sosehr er sich auch darum bemüht, die Kohärenz christlicher Überzeugungen zu zeigen.20 Dass Pannenberg also vom hypothetischen Charakter theologischer 17 Vgl. W. Pannenberg, Systematische Theologie, Band 1, 28f. 18 Unter anderem im Band 1 der Systematischen Theologie wird allerdings schon auf eine weitere theologische Dimension christlicher Gewissheit verwiesen – etwa indem behauptet wird, dass die Entscheidung über die Wahrheit der göttlichen Offenbarung schon „vorläufig in den Herzen der Menschen durch das überführende Wirken des Geistes Gottes“ fällt (a. a. O., 66). 19 Vgl. W. Pannenberg, Systematische Theologie, Band 3, 161 zu Luther oder 176 zur Implikation für den Umgang mit historischer Kritik: „Und was den Gegenstand des Glaubens selbst betrifft, so sollte das Gottvertrauen der Christen die ruhige Zuversicht begründen, daß keine historische Kritik die Wahrheit der Offenbarung Gottes zerstören kann, daß vielmehr gerade auch aus den Ergebnissen kritischer Exegese und Rekonstruktion der Geschichte Jesu die Wahrheit der Offenbarung Gottes immer wieder hervortreten muß, wenn sie denn wirklich in der Geschichte Jesu Ereignis geworden ist.“ 20 An dieser Stelle ist eine auffällige Nähe zu Eberhard Jüngels Verhältnis zur Mystik zu konstatieren und zu dessen Bestimmung von securitas und certitudo. Von dort aus wiederum wird die Differenz der beiden in der umstrittenen Rechtfertigungsfrage erheblich nivelliert. Jüngel hält beispielsweise fest: „Wenn es so etwas wie eine christliche Mystik geben sollte, dann müßte es eine solche Mystik der Verschränkung von innen und außen sein, in der der im Akt der Rechtfertigung sich mir zusprechende Gott mich zur Lebensgemeinschaft mit ihm herausruft“ (vgl. E. Jüngel, Das Evangelium

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Aussagen spricht, liegt auf einer anderen Ebene wie Ringlebens Frage nach der Gewissheit, die Pannenberg durchaus beantworten kann. Diese Hinweise sind gewiss nur Streiflichter, die genauer erläutert und durch andere Einwände ergänzt werden müssten. Doch statt dies weiter zu vertiefen, geht es im Folgenden darum, dass jemand in einem alternativen theologischen Grundansatz an derart früher Stelle abgewichen ist, dass Detaildiskussionen Pannenbergs ohnehin kaum drängend erscheinen oder von Interesse wären. Meines Erachtens könnte man diese Positionen so beschreiben, dass hier grundsätzlich andere Weichenstellungen in der Hermeneutik der Rede von Gott vorgenommen werden. Um solche Ansätze, die zuletzt erheblich an Aufmerksamkeit gewonnen haben, geht es im Folgenden.

3.

Alternativen zu Pannenbergs Hermeneutik der Rede von Gott

Unter den verschiedenen Möglichkeiten, alternative theologische Grundprogramme zu entwickeln, sind aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive besonders jene stark, die das Prinzip der Widerspruchsfreiheit oder Kontrollierbarkeit sowie das Satzpostulat respektieren. Jemand könnte dem zustimmen, aber dennoch sehr früh von Pannenbergs Überlegungen abweichen – nämlich in der Gegenstandsbestimmung von Theologie. Pannenberg, so hat sich gezeigt, hat die Auffassung vertreten, dass die Theologie sich auf Gott beziehe und dazu Gottes indirekte Offenbarung in der Geschichte in den Blick nehme. In einem gegenwärtig auffällig prominenten Strang der Deutung religiöser Rede von Gott werden demgegenüber eher zugespitzte Varianten von subjekt- oder ereignishermeneutischen Deutungen favorisiert: Die Rede von Gott sei verantwortlicherweise nicht so zu verstehen, dass es hier um Gott als ein transzendentes Gegenüber oder gar eine göttliche Person gehe, von der etwas ausgesagt werde. Vielmehr sei christliche Rede von Gott ein Arsenal von Symbolen, die uns entweder in Sprachereignissen neu orientieren oder mit denen religiöse Menschen Kontingenzerfahrungen deuten. Die zuletzt genannte Auffassung findet man beispielsweise bei Christian Danz – Bezüge zu etwaiger Transzendenz finden sich hier nur noch in der Form, dass das Einleuchten von Sinnangeboten als „unableitbar“ beschrieben wird, wobei von „Offenbarung“ (nicht aber mehr von einem „Offenbarer“) die Rede ist.21 Die erstgenannte Auffassung

von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, 6. Auf., Tübingen: Mohr Siebeck, 206ff.). Genau dies würde nun – ungeachtet von Unterschieden eines analytischen oder synthetischen Rechtfertigungsverständnis – Ausgangspunkt der Rechtfertigungslehre Pannenbergs sein (vgl. W. Pannenberg, Systematische Theologie, Band 3, 238–265). 21 Dieses Verständnis von Offenbarung wird bei Danz in seiner Auseinandersetzung mit Karl Barth deutlich (vgl. C. Danz, Wirken Gottes. Zur Geschichte eines theologischen Grundbegriffs, Neukirchen-

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spiegelt sich beispielsweise bei Hartmut von Sass in seinem engagiert vorgetragenen Plädoyer dafür wider, atheistisch zu glauben. Von Sass versucht hier genauer die „mühselig und beladenen“ Christen vom Theismus zu „therapieren“.22 Gelegentlich wird betont, dass subjekt- und ereignishermeneutische Ansätze aus theologischen Gründen scharf voneinander zu trennen sind – Ingolf U. Dalferth etwa weist dazu in besonderer Weise auf den Widerfahrnischarakter hin, der bei subjekthermeneutischen Beschreibungen der Selbstdeutung zu kurz käme.23 In der Sache der Gotteslehre sind sich diese Ansätze jedoch frappierend ähnlich, was sich auch darin zeigt, dass sie beide bestimmte klassische Problemfelder nicht teilen (etwa die Theodizeefrage – die Frage nach dem Bösen stellt sich natürlich dennoch, ist hier aber sinnvollerweise nicht mehr auf ein transzendentes Gegenüber zu beziehen); außerdem haben sie beide gleichermaßen keine Berührungs- oder zumindest Reibungsflächen mehr mit den Natur- oder Geschichtswissenschaften. Auch Pannenberg setzt sich in seiner Wissenschaftstheorie mit vergleichbaren Konzeptionen der Rede von Gott auseinander, die – wenngleich in der Gotteslehre

Vluyn: Neukirchener 2007, 188): Zwar wird hier zunächst noch aus KD I/1 referiert, dass nach Barth Gott „in unzerstörter Einheit, aber auch in unzerstörter Verschiedenheit der Offenbarer, die Offenbarung und das Offenbarsein“ sei. Im nächsten Satz wird der „Offenbarer“ aber wieder aus der Gleichung gestrichen: „Barth bindet Gott an das Geschehen oder Ereignis der Offenbarung zurück, ja man kann sagen, Gott ist das Ereignis der Offenbarung“ (ebd.). Von „unzerstörter Verschiedenheit“ ist dann nicht mehr die Rede. Vgl. auch die knappe Skizze des Grundansatzes in C. Danz, „Was ist Religion? Anmerkungen zu ihrem Verständnis“, Interesse am Anderen. Interdisziplinäre Beiträge zum Verhältnis von Religion und Rationalität, Hg. G. Schreiber, Berlin: De Gruyter 2019, 3–19. 22 Vgl. H. von Sass, Atheistisch glauben. Ein theologischer Essay, Berlin: Matthes & Seitz 2022, Vorbemerkung. 23 Dalferth betont wie sehr sich seine „radikale“ (ereignishermeneutische) von „moderner“ (subjektivitätstheologischer) Theologie unterscheide, bei der der „christliche Glaube zum religiösen Ideenensemble eines sich verflüchtigenden Häufchens freier Protestanten verharmlost“ werde (vgl. I.U. Dalferth, Radikale Theologie, Berlin: Evangelische Verlagsanstalt 2013, 178). Man könnte allerdings Fragen, wie gewichtig der beanspruchte Unterschied zwischen den Ansätzen wirklich ist: Dalferth bestimmt ihn so, dass in jener radikalen Theologie gegen die „Priorität der deutenden Aktivität“ auf Seiten des Menschen auf die „stets grundlegende Passivität“ insistiert werde, „die dem ursprünglichen kreativen Einbrechen des Anderen und Neuen entspricht und dafür steht, dass nicht nur Begonnenes fortgesetzt, sondern fundamental Neues begonnen wird“ (vgl. a. a. O, 183 und ähnlich auch 191.261). Das sind gewiss zentrale Themen eines reformatorischen Offenbarungsverständnisses, aber es scheint mir fraglich zu sein, ob diese nicht durch die gewichtigen Umstellungen in der Gotteslehre, die sich bei Dalferth (und zugespitzt bei Hartmut von Sass) finden, überstrahlt werden. Gott wirke (so deute dies nach Dalferth der Glaubende) in Sprachereignissen als „Wirklichkeit des Möglichen“ über „abwesende Anwesenheit“ (a. a. O. 260). Eine solche Deutung mag man allerdings für undurchsichtig halten. Dort, wo die Leistungskraft einer solchen Konzeption nicht einleuchtet, wird man kaum mehr Unterschiede zu einem Entwurf wie dem von Christian Danz feststellen und in beiden Fällen höchstens auf die Unableitbarkeit von Orientierungsereignissen abstellen können.

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teilweise etwas moderater – in ähnlicher Weise davon ausgehen, dass die prima facie in vielen Fällen als Aussagen aufzufassende christliche Rede über Gott eigentlich (primär) etwas über den Menschen aussagen soll. Nach einem Durchgang durch die Entwicklung der allgemeinen Hermeneutik vor allem im 19. und 20. Jahrhundert (Bezugspunkte sind Schleiermacher, Dilthey, Heidegger und Gadamer) identifiziert Pannenberg auf theologischer Seite Rudolf Bultmann als wichtigen Gesprächspartner. An Bultmanns Interpretationen biblischer Schriften kritisiert Pannenberg besonders dies, dass sich Bultmann darin von „den unbequemen Problemen der historischen Faktizität des Überlieferten zu entlasten“ bemühe und die Texte „auf ihre existentielle Relevanz für den gegenwärtigen Menschen zu reduzieren“ versuche (WuTh, 169). Dieser Zugriff Bultmanns rührt zum einen gewiss auch daher, dass er die historische Zuverlässigkeit biblischer Texte sehr niedrig veranschlagt; wichtiger ist aber seine Überzeugung, dass eine existentiale Interpretation auch die theologisch angemessene oder gar allein mögliche Weise des Verstehens darstelle. Nach Bultmann, so fasst Pannenberg treffend zusammen, verfehle der Mensch in seiner Sünde seine Existenz und bedürfe des Angesprochen-Werdens und darin der Aufklärung von außen, die ihm erst in dem existential gedeuteten Bibelwort entgegentrete; außerdem habe Bultmann in seinem Aufsatz „Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?“ (1925) herausgearbeitet, dass „über Gott“ gar nichts ausgesagt werden könne, da Gott als die alles bestimmende Wirklichkeit in diesem Moment, der einer Herauslösung aus dem Bestimmungsverhältnis gleichkäme, als Gegenstand verfehlt werden müsste. Freilich, diese theologischen Argumente überzeugen Pannenberg nicht – beispielsweise hält er fest, dass Bultmann gar nicht zeige, dass man im Bewusstsein seiner Bestimmtheit durch Gott nicht auch „über“ Gott sprechen könnte. Darüber hinaus wirft er in einer Nebenbemerkung auch die Frage auf, ob der existentialhermeneutische Zugriff die biblischen Schriften „sachgemäß“ deute (vgl. WuTh, 177). Gewiss würde Pannenberg dabei nicht bestreiten, dass in jenen Deutungen religiös wichtige Bezüge zur Schrift und Bekenntnissen hergestellt werden. Allerdings wird dabei in der Tat doch offensichtlich dasjenige, was prima facie nach traditioneller Auffassung nur indirekt kommuniziert wird (zum Beispiel Folgen der Glaubensinhalte für das religiöse Bewusstsein), durch Neubetonung zum zentralen Kommunikationsgegenstand gemacht. Während es etwa nach reformatorischem Verständnis immer um beides ging: Gott und seine Wohltaten pro nobis, reduziert man die Bedeutung der Rede von Gott gewissermaßen ganz auf das pro nobis und streicht Gott aus der Formel. Es wäre dann fraglich, ob man hier noch berechtigterweise davon sprechen kann, das inhaltliche Band zu den Wurzeln zu wahren. Insofern ist hier Pannenbergs Anfrage mindestens berechtigt. Dem wiederum könnte man nun allerdings entgegenhalten, dass die eingangs erwähnten jüngeren Ansätze etwa von Christian Danz oder Hartmut von Sass sich

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offensichtlich keineswegs auf ein Band zu den Wurzeln verpflichten lassen.24 Ihre Beiträge zur Frage lassen außerdem auch kaum vermuten, dass sie davon irritiert wären, wenn sie (wie noch Bultmann versuchte) ihr Hermeneutikverständnis nicht biblisch ableiten können. Hier bestünde dann im Vergleich zu Pannenbergs Ansatz eine Patt-Situation: möglicherweise sind jene Ansätze nicht so gut „klassisch“ theologisch begründet. Aber damit ist noch kein allseits akzeptierter Einwand gegen sie vorgebracht. Sie ließen sich immer noch als Alternativen einführen, deren Leistungskraft etwa darin ausgemacht wird, dass sie beispielsweise Reibungsflächen mit Natur- oder Geschichtswissenschaften reduzierten und dabei den Bedeutungsverlust von Religion in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft positiv aufnehmen können. Insofern also die zeitgenössischen Debatten nicht mehr in derselben Weise auf einer ähnlichen Ebene geteilter theologischer Voraussetzungen wie Mitte des 20. Jahrhunderts geführt werden können, gewinnen die weiteren, nun nicht theologischen, sondern vor allem (sprach-)philosophischen Einwände Pannenbergs gegen solche Entwürfe aus dem Kontext der (Subjekt- oder) Ereignishermeneutik für die heutige Debatte an Bedeutung. Ein entscheidender Anknüpfungspunkt für Pannenberg besteht hier darin, dass bei Bultmann oder auch bei Rezipienten wie Gerhard Ebeling in der Konzentration auf existentiale Gehalte „der ganze Bereich der Aussage und also die verschiedenen Sachinhalte der Sprache ausgeblendet“ werden (WuTh, 176). Auf diese Problemanzeige war auch schon die Auseinandersetzung mit Gadamer zugelaufen (vgl. WuTh, 168). Zusammengenommen liege hier eine „Verengung des Sprachverständnisses“ vor (vgl. WuTh, 177). Was die genauere Erläuterung dieser Diagnose angeht, zielt Pannenberg allerdings erneut darauf ab, dass jenes Sprachverständnis nicht hinreichend begründet sei – genauer bezieht er sich in diesem wissenschaftstheoretischen Zusammenhang auf Gadamer und Heidegger (vgl. WuTh, 179) und für eine positive Würdigung des Aussagecharakters von Sprache auf die analytische Sprachphilosophie (vgl. WuTh, 179ff.). Hier könnte man jedoch erneut eine Patt-Situation konstatieren: vielleicht ist ein Vorverständnis, das die Aufmerksamkeit allein auf etwas wie die ereignishermeneutische Dimension von Sprache richtet, über die vorgetragenen Begründungen nicht gut gestützt – aber es könnte immer noch legitim sein. Bei Pannenberg finden

24 Eine ähnliche Grundstellung kommt auch im Plädoyer von Ulrich Barth zum Ausdruck, der den Protestantismus als „Traum einer Religion für freie Geister“ identifiziert und folgende Kerngedanken als zukunftsträchtig hervorhebt: „Erstens die Idee einer spirituellen Verbundenheit jenseits von Kirchenmauern und Institutionsschranken, zweitens die Idee einer religiösen Kommunikation jenseits von Bevormundung und Einschüchterung und drittens die Idee eines unendlichen Wertes jedes Individuums jenseits von Selbstverwirklichungsüberforderungen und Rollenzwängen“ (U. Barth, „Gedanken zur Zukunft des Protestantismus“, In: Aufgeklärter Protestantismus, Hg. ders., Tübingen: Mohr Siebeck 2003, 389–396, hier 396).

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sich allerdings noch zusätzliche Ansatzpunkte für eine weiterreichende Kritik an ereignishermeneutischen Reduktionen (dasselbe würde auch für subjekthermeneutische Ansätze gelten). Zumindest beiläufig ruft Pannenberg verschiedentlich den Themenkomplex der Verstehbarkeit auf, wertet diesen aber noch nicht detaillierter mit Blick auf theologische Gesprächspartner aus (vgl. WuTh, 180f.). Hierin liegt aber meines Erachtens ein gewichtiger Punkt, der zusätzlich dafür spräche, dort, wo klassische Äußerungen über Gott (etwa, dass Gott „Schöpfer“ oder „Erlöser“ sei) beibehalten werden, die Pattsituation zu Gunsten einer an Aussagen interessierten Theologie aufzulösen. Die folgenden Erläuterungen sollen in dem begrenzten Rahmen wenigstens kurz andeuten, worauf eine solche Argumentation abzielen würde. Das Problem, das hier markiert werden soll, fällt dann ins Auge, wenn man einerseits eine subjekt- oder ereignishermeneutische Verständnisweise von Religion teilt, wenn man andererseits aber weiterhin klassische christliche Terminologie verwenden möchte, um das auszudrücken. Dabei, so meine These, müssen fast notgedrungen Missverständnisse auftauchen und sind in jedem Fall Verständnisschwierigkeiten einzuräumen. Diese wiederum verweisen darauf, dass ein vollständiges Ausblenden des Aussagecharakters von religiöser oder theologischer Rede über Gott, bei dem genauer gesagt also nicht auch auf Gott als transzendentes Gegenüber referiert wird, sondern allein auf das religiöse Subjekt, grundsätzlich Plausibilitätsprobleme hat. Dieser Zusammenhang könnte über komplexe Theorien des Verstehens erläutert werden, die sich spätestens seit den 1970er Jahren im Rahmen der linguistischen Pragmatik entwickelt haben.25 Dass hier nicht unerhebliche Probleme bestehen, lässt sich aber auch schon an Beispielen illustrieren:

25 Wie Verstehensprozesse aus Perspektive der zeitgenössischen linguistischen Pragmatik funktionieren, skizziere ich in M. Ruf, „Handeln Gottes“, 32–74. Eine hintergründige Annahme besteht in der zeitgenössischen Linguistik regelmäßig darin, dass Verständigung erst dann gelingt, wenn Kommunikationsabsichten verstanden werden. Was das Gegenüber mit einer Äußerung mitteilen möchte, erschließen Hörer/Leser – so eine weitere Grundannahme der linguistischen Pragmatik – über verschiedene „Verständnisstrategien“ (vgl. beispielsweise a. a. O., 37–44 zu einem „Inferential Model of linguistic communication“). Dabei spielen gemeinhin geteilte „Kommunikationsmaximen“ eine wichtige Rolle, deren Verletzung in einer Kommunikationssituation signalisieren kann, dass nichtwörtlich kommuniziert wird. Die Äußerung Die Katze liebt es am Schwanz gezogen zu werden würde beispielsweise in gewöhnlichen Kontexten unter anderem die Maxime der „Qualität“ verletzen – nach Herbert P. Grice nehmen wir in Kommunikationssituationen in der Regel unter anderem an, dass das Gegenüber wahrhaftig kommuniziert und eine abweichende Kommunikationsabsicht im Sinn hat, wenn es offensichtlich diese Maxime verletzt. Als Pannenberg seine Wissenschaftstheorie geschrieben hat, waren diese Debatten bei weitem noch nicht so ausgereift wie heute. Allerdings finden sich immer wieder Bemerkungen, dass auch Pannenberg für Verständigung auf Kommunikationsintentionen abzielt oder beispielsweise Andeutungen, dass ein Unterschied zwischen indirekter/direkter Kommunikation besteht (im Falle des Katzenbeispiels würde etwa das direkt Kommunizierte wahrscheinlich anzugeben sein mit: ‚Die Katze liebt es nicht am Schwanz

Unverständliches Verstehen

Angenommen, jemand möchte beispielsweise eigentlich nichts über Gott, sondern allein sagen: ‚Ich bin mir meiner Endlichkeit bewusst‘. Und jemand möchte das mit den Worten ausdrücken: „Gott hat die Welt geschaffen“. Dann ist das missverständlich und von dem Hörer oder Leser kaum zu erschließen. Oder jemand möchte etwaige theistische Assoziationen vermeiden und nur ausdrücken: „ich habe ein religiöses Gefühl, das von Wissen um besonders lebendige absolute Ursächlichkeit begleitet ist“ – teilt dies aber wie Schleiermacher im §51 der Glaubenslehre mit dem Satz mit: „Gott ist allwissend“, dann würde es erneut überraschen, wenn ihn jemand versteht. Oder jemand möchte gerne den Bezug auf eine transzendente Person vermeiden und nichts anderes ausdrücken, als dass er sich in einem irgendwie unableitbaren Geschehen selbst neu versteht – und dieser nennt das „Offenbarung Gottes“. Dann würde derjenige, der so kommuniziert, um anderen mitzuteilen, was er meint, wahrscheinlich seriell missverstanden werden. Eher als ein Verständnis würde sich die Frage aufdrängen, warum man weiterhin die klassisch christliche Terminologie verwendet. Müsste diese nicht als sehr ungünstiges semantisches Rohmaterial gelten, wenn sie allein im subjekt- oder ereignishermeneutischen Sinne ausgelegt werden kann? Diese Frage wird meines Erachtens zu selten gestellt, was sich folgendermaßen erklären mag: Dass das Problem der Verstehbarkeit kaum benannt wird, scheint mir daher zu rühren, dass jene Ansätze oft allzu selbstverständlich wähnen, dass sie dasjenige was sie sagen (etwa „Gott hat die Welt geschaffen“) und dasjenige, was sie damit meinen (etwa ‚Ich bin mir meiner Endlichkeit bewusst‘) über die Klassifizierung von Äußerungen als Metapher vermitteln können.26 Das allerdings wäre aus sprachwissenschaftlicher Perspektive ein Missverständnis. Ob etwas eine Metapher ist, unterliegt nicht dem Willen des Interpreten. Metaphern müssen sich selbst zeigen, wie kürzlich Klaus Hofmann nachdrücklich unterstrichen hat: [D]ie Metaphorizität einer Aussage [ist] nicht dem Metaphorisierungswillen der Ausleger anheimgestellt. Eine metaphorische Interpretation mag eher Wunsch und Willen des

gezogen zu werden‘; und indirekt würde damit mitgeteilt: ‚Lass los‘!) (vgl. zu solchen Motiven der linguistischen Pragmatik beispielsweise WuTh, 42.184). 26 Ein ähnliches Problem würde auch bei einer Klassifikation des Gemeinten als „Symbol“ gezeigt werden können, die zuletzt beispielsweise Ulrich Barth erneut beansprucht hat (vgl. U. Barth, Symbole des Christentums, Tübingen: Mohr Siebeck 2021, 34–38). Die Einwände gegenüber einer solchen Klassifikation gleichen denjenigen, die schon gegen die klassische Analogielehre etwa Thomas von Aquins vorgebracht wurden und die bislang nach meiner Kenntnis nicht in einer solchen Weise überwunden werden konnten, dass die von Thomas intendierte Bedeutung analoger Rede gewahrt werden konnte (vgl. dazu meine Ausführungen in M. Ruf, „Handeln Gottes“,119–127 zur Analogielehre des Thomas und 173–176 zur einschlägigen Kritik daran).

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Matthias Ruf

Interpreten als die Metaphorizität des Interpretierten bezeugen […]. Eine Metapher gibt sich als solche zu erkennen.“27

Wo erkennbar keine Metaphern vorliegen, wird auch nicht durch die bloße Klassifizierung metaphorische Bedeutung generiert. Abstrakte Äußerungen wie „Gott hat die Welt geschaffen“ oder „Gott hat Jesus wieder lebendig gemacht“ sind aber in dem Kontext, in dem sie vorkommen, in der Regel nicht als Metaphern zu erkennen. Es wundert deshalb nicht, wenn Hörer nicht auf die intendierte Bedeutung von „Schöpfung“ kommen und beispielsweise erschließen, dass hier gerade ausschließlich von Endlichkeitsreflexion die Rede ist. Man muss diese alternative Bedeutung förmlich auswendig lernen und den Wörtern erkennbar eine unübliche Bedeutung beilegen. Diese Diagnose ist natürlich forsch und klingt zusammen mit der Problemanzeige, dass in einigen Interpretationen das inhaltliche Band zu den biblischen oder kirchlichen Wurzeln reißt, wie ein Vorwurf, der auch Schleiermacher gemacht wurde: Im Sendschreiben an Lücke berichtet Schleiermacher, ein junger Theologe habe ihm frischweg vorgehalten, dass er den „kirchlichen Ausdrücken oft neue Ideen“ unterlege.28 Schleiermacher wehrt sich gegen solche Unterstellungen mit dem Hinweis darauf, dass er wenigstens seine Kritik an den traditionellen Verständnisweisen offenlege. Man könne ihm kaum vorwerfen, den „aufmerksamen Leser“ irrezuführen und zu versuchen, durch Verwendung der klassischen Begriffe „Orthodoxie“ zu erschleichen. Doch selbst wenn man Schleiermacher keine trügerische Absicht unterstellen möchte, wird in einer solchen Reaktion für das Problem der inhaltlichen Kontinuität und für das der Verstehbarkeit noch keine Abhilfe geschaffen. Beide Probleme werden vielmehr unverkennbar unterstrichen: Er räumt ja ein, dass er die Begriffe umdeuten muss. Man könnte diese Problemanzeigen für eher unbedeutend halten. Das sind sie aber meines Erachtens nicht. Leuchtet es nämlich nicht mehr recht ein, warum man für seine Rekonstruktion des Christentums elementare christliche Terminologie verwendet, wird klärungsbedürftig, ob es sich um eine gelungene Interpretation des Christentums handelt. Damit soll nicht bestritten werden, dass hier auch aus einer religiösen Perspektive äußerst hilfreiche Facetten der Rede von Gott zusammengetragen werden. Bestreiten möchte ich bloß, dass man dabei auf den Gottesbezug verzichten kann. Erst dann reißt das Band zu den Wurzeln von Schrift und Bekenntnis nicht und wird plausibel, warum man weiterhin die klassische Rede von Gott beibehalten möchte. Wer diese Einschätzung

27 K. Hofmann, „Die Metaphoreszenz jüngerer Theologie“, Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 57/4 (2015), 521–549; hier 525. 28 F.D.E. Schleiermacher, „Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke (1829)“. In Kritische Gesamtausgabe, Bd. 10, Hg. H.–F. Traulsen, Berlin: de Gruyter. 307–394; hier 385.

Unverständliches Verstehen

teilt, sieht sich gewiss vor die Herausforderung gestellt, christliche Grundüberzeugungen im Gespräch mit anderen Wissenschaften zu plausibilisieren. Dafür wiederum findet man meines Erachtens in Pannenbergs Grundverständnis von Wissenschaftstheorie und Theologie einen vielversprechenden Anknüpfungspunkt.

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Georg Sans

Immanuel Kant über Theologie als positive Wissenschaft Zu einer Bemerkung Wolfhart Pannenbergs

„Der Sache nach ist also schon bei Kant das Moment des Positiven mit der praktischen Abzweckung verbunden.“1

Für Wolfhart Pannenberg ist Gott der Gegenstand der Theologie. Mit dieser in den Ohren von Uneingeweihten wenig spektakulären These stellt er sich gegen einen breiten Strom in der modernen Ideengeschichte, dem zufolge es sich bei der Theologie um eine positive Wissenschaft und bei ihrem Gegenstand um die Religion als geschichtliches Phänomen handelt. Im dritten Abschnitt des vierten Kapitels seiner Monographie über Wissenschaftstheorie und Theologie zeichnet Pannenberg in knappen Strichen die Entwicklung des Begriffs der positiven Theologie vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Die Geschichte mündet in Kants Bestimmung des Verhältnisses zwischen der philosophischen Fakultät auf der einen Seite und der theologischen, der juristischen und der medizinischen als den drei oberen Fakultäten auf der anderen Seite sowie der Aneignung der kantischen Vorgaben durch Schelling und Schleiermacher. Der Fall Kants ist für die These Pannenbergs deshalb besonders interessant, weil sich Kant sowohl ausführlich mit der Frage nach der Möglichkeit einer Theologie als Wissenschaft, die Gott zum Gegenstand hat, befasste, als auch den Beitrag untersuchte, den die historische christliche Religion zum Selbstverständnis des Menschen leistete. In dem letzteren Zusammenhang gebraucht Kant in seinen veröffentlichten Schriften zwar nicht den Ausdruck ‚positive‘ Theologie oder Religion; aber seine Überlegungen zur Auslegung der biblischen Offenbarung gehören in den Problemkreis einer Wissenschaftstheorie der Theologie. Im Folgenden will ich Kants Auffassung von der Theologie als positiver, an einer oberen Fakultät betriebener Wissenschaft darlegen und zu den zeitgenössischen Debatten ins Verhältnis setzen. Dadurch möchte ich versuchen, die Bemerkung Wolfhart Pannenbergs zu erhellen, Kant habe „das Moment des Positiven mit der praktischen Abzweckung verbunden“.2

1 W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973 (= WuTh), 248. 2 WuTh, 248.

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1.

Natürliche und geoffenbarte Religion

Kants Verständnis von Theologie lässt sich nicht losgelöst von seinem Begriff der Religion erläutern. Unter Religion versteht der Königsberger Philosoph bekanntlich „das Erkenntniß aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“.3 Im Vierten Stück der Religionsschrift erläutert Kant die Unterscheidung zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion. Während ich bei der natürlichen Religion „zuvor wissen muß, daß etwas Pflicht sei, ehe ich es für ein göttliches Gebot anerkennen kann“, muss ich bei der geoffenbarten Religion wissen, „daß etwas ein göttliches Gebot sei, um es als meine Pflicht anzuerkennen“.4 Auf den ersten Blick scheinen die beiden Arten von Religion einander auszuschließen. Entweder geht die Anerkennung der sittlichen Pflicht der Anerkennung des göttlichen Gebots voraus oder umgekehrt.5 Dabei spielt es vordergründig keine Rolle, ob das Verhältnis temporal, im Sinn einer Zeitfolge, oder konditional, im Sinn einer Erkenntnisbedingung, aufgefasst wird. Eine zeitliche Abfolge könnte etwa darin bestehen, dass ein bestimmtes Volk das Gebot ‚Du sollst nicht stehlen!‘ zunächst einer religiösen Urkunde entnimmt und erst später mit einer philosophischen Ethik in Berührung kommt, die das gleiche Gebot als vernünftige Pflicht lehrt. Umgekehrt könnte jemand von der sittlichen Pflicht, die Wahrheit zu sagen, überzeugt sein, bevor er oder sie von der möglichen Existenz eines Gottes erfährt, der seinen Gläubigen gebietet, wahrhaftig zu sein. Hingegen kann niemand ein und dieselbe Pflicht sowohl zuerst der Religion als auch zuerst der Philosophie entnehmen, oder das Gebot, nicht zu stehlen, sowohl zuerst durch die Stimme des eigenen Gewissens als auch zuerst durch die Belehrung anderer vernehmen. Demnach scheint niemand der natürlichen und der geoffenbarten Religion zugleich anhängen zu können. An dem Befund ändert sich nichts, wenn man den Zusammenhang zwischen sittlicher Pflicht und göttlichem Gebot konditional deutet. In diesem Fall könnte die eine Person aus einem Wissen um den Willen Gottes auf das sittlich Gebotene schließen, während die andere umgekehrt aus der menschlichen Moral die göttliche Absicht folgert. Die Schlussfolgerung vom Willen Gottes auf die sittliche Pflicht entspricht der Position, die in der zeitgenössischen analytischen Ethik Divine Command Theory genannt wird. Ihr zufolge gibt es keinen von

3 I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (= RGV), in: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. (= AA), Bd. VI, 1–202, hier: 153; vgl. ders., Kritik der praktischen Vernunft (= KpV), in: AA V, 1–163, hier: 129. 4 RGV, 154. 5 Man erkennt hier unschwer eine Variante des berühmten Eutyphron-Dilemmas: „Wird das Fromme, weil es fromm ist, von den Göttern geliebt oder ist es fromm, weil es (von ihnen) geliebt wird?“ (Platon, Eutyphron, 10a2–3. Üs. von Maximilian Forschner, Göttingen 2013, 22.)

Immanuel Kant über Theologie als positive Wissenschaft

theologischen Vorgaben unabhängigen Weg, wie der Mensch mit letzter Gewissheit erkennen kann, was gut oder böse ist. Die Festlegung auf eine solche Divine Command Theory wäre für Kant gleichbedeutend mit der Entscheidung für eine heteronome Moral.6 Dagegen lässt der kantische Begriff der Autonomie nur die umgekehrte Schlussfolgerung von der als vernünftig erkannten sittlichen Pflicht auf den göttlichen Willen zu. Wiederum scheinen natürliche und geoffenbarte Religion einander auszuschließen. Niemand kann sowohl aus der sittlichen Pflicht das göttliche Gebot als auch aus dem göttlichen Gebot die sittliche Pflicht ableiten, ohne sich in einem (wenigstens hermeneutischen) Zirkel zu verfangen.7 Um den Widerspruch aufzulösen, sind weitere Differenzierungen erforderlich. So könnten sich einige Pflichten unabhängig von der Religion erkennen lassen und andere nicht. In die erste Klasse fallen gewisse Regeln des menschlichen Zusammenlebens wie etwa ‚Du sollst nicht stehlen‘ oder ‚Du sollst nicht töten‘. Je nachdem, ob die Regel zuerst als sittliche Pflicht oder zuerst als göttliches Gebot erkannt wird, gehört sie entweder zur natürlichen oder zur geoffenbarten Religion. In die zweite Klasse fallen Regeln, die bestimmte religiöse Verrichtungen vorschreiben. Beispielsweise dürften das Fasten am Karfreitag oder die Wallfahrt nach Mekka von niemandem als Pflicht angesehen werden, der sie nicht zuvor als göttliches Gebot anerkannt hat. Für derlei Pflichten ist in der natürlichen Religion kein Platz. Mengentheoretisch stellt sich die Lage mutmaßlich so dar, dass die Pflichten und Gebote der natürlichen Religion einen Teil der Pflichten und Gebote der geoffenbarten Religion ausmachen.8 Die geschilderte Konstellation entspricht genau der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Offenbarungsglauben und Vernunftreligion in der Vorrede zur zweiten Auflage der Religionsschrift. Dort stellt Kant klar, dass die geoffenbarte die natürliche Religion „in sich wenigstens begreifen kann, aber nicht umgekehrt“, weshalb man „jene als eine weitere Sphäre des Glaubens, welche die letztere als eine engere in sich beschließt, (nicht als zwei außer einander befindliche, sondern als

6 „Wir werden, so weit praktische Vernunft uns zu führen das Recht hat, Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbindlich sind.“ (KrV, B 847) 7 Dagegen sieht Anh Tuan Nuyen bei Kant eine wechselseitige Abhängigkeit von Religion und Moral (vgl. A. T. Nuyen, Is Kant a Divine Command Theorist?, in: History of Philosophy Quarterly 15 [1998], 441–453). 8 Die theoretische Möglichkeit, dass einige Pflichten zur natürlichen und nicht zur geoffenbarten Religion gehören, ist nur um den hohen Preis der Annahme zu haben, dass sich eine der beiden Arten von Religion bezüglich des sittliche Gebotenen oder des Willens Gottes täuscht. Beispielsweise müsste die natürliche Religion aus der Pflicht ‚Du sollst nicht töten‘ auf das entsprechende göttliche Gebot schließen, während umgekehrt die geoffenbarte Religion aus dem Fehlen eines solchen Gebots zu folgern hätte, dass es auch die entsprechende Pflicht nicht gebe. Das ist nur möglich, wenn sich eine der beiden Religionen irrt.

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concentrische Kreise) betrachten“ könne.9 Der Gegensatz zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion lässt sich folglich sowohl intensional als auch extensional bestimmen. Während der Ausdruck ‚Offenbarungsglaube‘ der Intension nach die Vernunftreligion ausschließt – etwas kann nur entweder zuerst als sittliche Pflicht gewusst oder zuerst als göttliches Gebot anerkannt werden –, schließt er sie der Extension nach ein. Für Kant gibt es zwar religiöse Pflichten, die nur durch Offenbarung erkannt werden, aber die reine praktische Vernunft lehrt nichts, das nicht zugleich von Gott geboten wäre.10

2.

Der statutarische Glaube

Wie bereits erwähnt, sucht man den Ausdruck ‚positive Religion‘ in den Schriften Kants vergeblich.11 Pannenberg verweist zur Begriffsgeschichte auf Karl Gottlieb Bretschneider (1776–1848), der sich wiederum auf Johann August Ernesti (1707–1781) sowie auf Samuel Friedrich Nathanael Morus (1736–1792) bezieht. Den Genannten ist gemeinsam, dass sie unter positiver Religion eine freie Setzung des göttlichen Willens verstehen, der seine Gebote in Analogie zu den Vorschriften eines menschlichen Gesetzgebers erlässt. Bretschneider unterscheidet mit Rücksicht auf die Quellen der Erkenntnis zwischen der „(a priori) durch eigene freie Thätigkeit der Vernunft gefundenen, philosophischen Religion“ einerseits und der „(a posteriori) durch Auctorität gegebenen, positiven (historischen) Religion“ andererseits.12 Die Rede von der Positivität der Religion scheine „von der Bedeutung des Verbums ponere, wo es heißt: etwas festsetzen, als gewiß annehmen und behaupten, abzuleiten zu seyn, so daß positive Religion eine feste, ausgemacht wahre, hinlänglich beglaubigte Religion anzeigt, im Gegensatz gegen die Veränderlichkeit, Ungewißheit und subjective Verschiedenheit der philosophischen Religionslehre“.13 Was häufig als Grund für die Relativität der positiven Religion angeführt wird, gilt Bretschneider im Gegenteil als Anker der Verlässlichkeit.

9 RGV, 12. – Zur Deutung des Schemas vgl. Lawrence Pasternack, Kant on Religion within the Boundaries of Mere Reason, London 2014, 77–81, und ders., The „Two Experiments“ of Kant’s Religion. Dismantling the Conundrum, in: Kantian Review 22 (2017), 107–131. 10 Bei Kant gibt es weder eine Übererfüllung der Pflicht, wie sie die klassische Moraltheologie im opus supererogatorium kennt, noch kommt es zu einem Widerspruch zwischen Ethik und Religion, wie Søren Kierkegaard ihn exemplarisch an der Gestalt Abrahams aufgezeigt hat. 11 Eine Ausnahme bilden die Vorredeentwürfe zur ersten und zur zweiten Auflage. Dort stellt Kant dem reinen Vernunftglauben eine „positive Religion“ (AA XX, 440) bzw. eine „positive (statutarische) Religion“ (AA XXIII, 94) gegenüber. 12 K. G. Bretschneider, Systematische Entwicklung aller in der Dogmatik vorkommenden Begriffe, 3. Aufl., Leipzig 1825, 30. 13 Bretschneider, Begriffe, 31 f.

Immanuel Kant über Theologie als positive Wissenschaft

Anmerkungsweise grenzt Bretschneider seine Auffassung von Ernesti ab. Dieser „wollte der geoffenbarten Lehre deswegen den Namen einer positiven beigelegt wissen, weil Gott in ihr die natürliche Religion durch einen cultum arbitrarium vermehrt habe“.14 In einer Dissertation von 1756 hatte Ernesti die Ansicht vertreten, dass keine Religion nur solche Elemente enthalte, die von der Vernunft als notwendig eingesehen werden. Vielmehr könne Gott von seiner freien Willkür Gebrauch machen und den Menschen vorschreiben, was ihnen zum Heil dient.15 Ernesti vergleicht die Macht Gottes mit der Autorität von Eltern über ihre Kinder und von Herrschern über ihre Untertanen: Wenn Eltern, wenn Fürsten, kurz: wenn Herren das Recht haben, von den Ihren nicht nur das zu verlangen, was mit ihrer jeweiligen Art von Macht eigentlich und notwendig verbunden ist, sondern auch anderes, keineswegs Notwendiges, sondern sogar Willkürliches und Freies, wodurch sie wollen, dass ihnen Ehrfurcht erwiesen und Achtung bezeugt werde, weshalb sollten wir glauben, dass Gott, dessen Macht über die Menschen wir für weitaus größer erachten, nicht dasselbe Anrecht zusteht, oder wie sollte er nicht die Dinge vorschreiben können, wodurch er jene Ehrfurcht erwiesen bekommen will?16

Ernesti hat es offenbar auf die Sicherung der Allmacht Gottes abgesehen. Dass in der Willkür neben dem Freisein von Notwendigkeit und Zwang auch ein Moment der Beliebigkeit liegen könnte, scheint ihm nicht in den Sinn gekommen zu sein. Doch drängt sich dieser Verdacht geradezu auf, wenn Ernesti zur Begründung erklärt, die Befehle der Eltern und Fürsten gingen über das im Wesen ihrer Macht gelegene notwendige Maß hinaus. Möglicherweise deshalb beklagt Bretschneider Ernestis Vermehrung der natürlichen Religion um einen cultum arbitrarium und verweist stattdessen auf die etymologische Erklärung bei Morus, die er im Wortlaut zitiert:

14 Bretschneider, Begriffe, 32 Anm. 27. 15 Vgl. J. A. Ernesti, Vindiciae arbitrii divini in religione constituenda [1756–62], in: Opuscula theologica, 2. Aufl., Leipzig 1792, 169–292, hier: 173 (§ 3). – Siehe dazu E. Feil, Religio, Bd. IV: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2007, 368–370. 16 „Quare, si parentibus, si principibus, si dominis denique ius est, exigere a suis non modo ea, quae proprie et necessario coniuncta sunt cum suo cuiusque genere potestati, sed etiam alia, quibus pietatem et reverentiam praestari sibi et declarari velint, nullo modo necessaria illa, sed arbitraria prorsus et libera: quomodo non idem iuris concedendum Deo putemus, cuius longe maiorem in homines esse potestatem fatemur? aut quomodo ille non possit, quibus rebus necessariam illam pietatem sibi praestari velit, praescribere?“ (Ernesti, Vindiciae, 175 f. [§ 6].)

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Das Wort ‚positiv‘ der Lateiner entspricht dem griechischen Verb thetikon, das von Gesetzen gebraucht wird: nomous tithenai. Da dieses Verb von Gesetzen so verwendet wird, dass es ‚vorschreiben‘ oder ‚befehlen‘, ohne Hinzufügung eines Beweises, bedeutet, wird es nun von Gesetzen auf Dogmen übertragen, insofern hier einfach gelehrt oder festgesetzt wird, dass es so sei.17

Morus erklärt die positive Religion mit der Analogie nicht zwischen menschlichen Vorschriften und göttlichen Geboten, sondern zwischen staatlichen Gesetzen und kirchlichen Dogmen. Bretschneider resümiert, unter positiver Religion sei eine Religion zu verstehen, „die den Menschen wie ein Gesetz überliefert oder auferlegt ist“.18 Damit bewegt er sich in der Nähe der Bestimmung des statutarischen Glaubens bei Kant. Auch Kant bedient sich des Vergleichs mit der staatlichen Gesetzgebung. Zugleich erläutert er das Verhältnis zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion mittels des Verhältnisses zwischen Moralität und Legalität.19 Im ersten Fall genügt die eigene Vernunft zur Erkenntnis des Gebotenen; im zweiten Fall ergibt sich die jeweilige Pflicht aus dem speziellen Willen des Gesetzgebers. Wie der Gesetzgeber den Staatsbürgern ihr Verhalten vorschreibt, so befiehlt Gott den Gläubigen, was sie zu seiner Verehrung tun sollen. Der Inhalt der göttlichen Offenbarung sind gewisse Religionsgesetze. Kant gebraucht den Ausdruck ‚statutarisch‘ im Zusammenhang mit der göttlichen Gesetzgebung. Der Gegenbegriff lautet ‚moralisch‘. Wenn die göttlichen Gesetze nicht rein durch Vernunft, sondern durch Offenbarung erkannt werden, spricht Kant von einem „bloß auf Facta gegründeten historischen Glauben“. Dessen Einfluss reiche so weit, wie „die Nachrichten in Beziehung auf das Vermögen ihre Glaubwürdigkeit zu beurtheilen nach Zeit- und Ortsumständen hingelangen können“.20 Obwohl Kant die Möglichkeit einer privaten Offenbarung nicht von vornherein ausschließt – die Offenbarung „mag nun jedem einzelnen ingeheim oder öffentlich gegeben werden, um durch Tradition oder Schrift unter Menschen fortgepflanzt zu werden“21 –, scheint er die öffentliche Bekundung des göttlichen

17 „Respondet autem latinorum positivum Graeco verbo thetikon, quod usurpatur de legibus, nomous tithenai. Quoniam vero de legibus hoc verbum sic adhibetur, ut sit praescribere, praecipere, non adiuncta demonstratione; transfertur iam a legibus ad dogmata, quatenus hic simpliciter docetur aut ponitur, ita esse.“ (S. F. N. Morus, Commentarius exegetico-historicus in suam theologiae christianae epitomen. Hg. von K. A. Hempel, Halle 1797–98, Bd. I, 30; zit. in Bretschneider, Begriffe, 32 Anm. 27.) 18 „Religio legis instar hominibus tradita sive imposita“ (Bretschneider, Begriffe, 32 Anm. 27). 19 Vgl. RGV, 98–100. 20 RGV, 103. 21 RGV, 104.

Immanuel Kant über Theologie als positive Wissenschaft

Willens für den Normalfall zu halten.22 Zu einem öffentlichen Geschehen wird die historische Offenbarung für Kant dadurch, dass Zeugen die betreffenden Ereignisse beobachten und ihre Zeugnisse dem kritischen Urteil Dritter unterwerfen. Mit dem Gedanken der Offenbarung verbunden ist die Vorstellung von der Weitergabe des göttlichen Gesetzes innerhalb einer Glaubensgemeinschaft. Daher verwendet Kant die Ausdrücke ‚historischer Glaube‘ und ‚Offenbarungsglaube‘ gleichbedeutend mit ‚Kirchenglaube‘.23 Im Verhältnis zu dem reinen Vernunftglauben erfüllt der statutarische Glaube eine doppelte Funktion. Einerseits ergänzt er die moralischen Pflichten, die jeder Mensch kraft eigener Vernunft erkennt, um die Annahme spezifisch kultischer Pflichten, durch die der Mensch Gott einen besonderen Dienst zu leisten vermeint. Eine solche „gottesdienstliche“ Religion kritisiert Kant im Zweiten Teil des Vierten Stücks der Religionsschrift als „Afterdienst“ und „Religionswahn“.24 Folglich bleibt „die reine moralische Gesetzgebung, dadurch der Wille Gottes ursprünglich in unser Herz geschrieben ist, nicht allein die unumgängliche Bedingung aller wahren Religion überhaupt, sondern sie ist auch das, was diese selbst eigentlich ausmacht“.25 Fällt die Funktion der Offenbarung kultischer Pflichten weg, besitzt der statutarische Glaube nur noch eine mögliche andere Funktion. Er dient in Bezug auf die reine moralische Gesetzgebung als „das Mittel ihrer Beförderung und Ausbreitung“.26 In unübersehbarer Nähe zu Lessing, den er freilich nicht erwähnt, betrachtet Kant die geoffenbarte Religion als einen Weg zur sittlichen Besserung der Menschheit. Der Offenbarungsglaube müsse „als bloßes, aber höchst schätzbares Mittel“ angesehen werden, um der natürlichen Religion „Faßlichkeit, selbst für die Unwissenden, Ausbreitung und Beharrlichkeit zu geben“.27 Wie Pannenberg erinnert, gebraucht Lessing den Ausdruck ‚positive Religion‘ in seinem Fragment „Über die Entstehung der geoffenbarten Religion“ von 1760, wo er „die positiven Religionen als nur aus politischen Bedürfnissen hervorgegangene

22 Wenn die geoffenbarte Religion „nicht in einer ganz sichern Tradition oder in heiligen Büchern als Urkunden aufbehalten würde, so würde sie aus der Welt verschwinden, und es müßte entweder eine von Zeit zu Zeit öffentlich wiederholte, oder in jedem Menschen innerlich eine continuirlich fortdauernde übernatürliche Offenbarung vorgehen, ohne welche die Ausbreitung und Fortpflanzung eines solchen Glaubens nicht möglich sein würde“ (RGV, 156). 23 Vgl. RGV, 102. 24 Vgl. RGV, 168. – Kant bemängelt an der gottesdienstlichen Religion nicht ihre Werkgerechtigkeit, denn die entgegengesetzte rein moralische Religion fordert ebenfalls Werke. Vielmehr beklagt Kant die irrige Meinung, Gott durch kultische Verrichtungen mehr zu gefallen als durch sittliches Tun. 25 RGV, 104. – Der Stifter des Christentums will, „daß nicht die Beobachtung äußerer bürgerlicher oder statutarischer Kirchenpflichten, sondern nur die reine moralische Herzensgesinnung den Menschen Gott wohlgefällig machen könne“ (RGV, 159). 26 RGV, 104. 27 RGV, 165.

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Modifikationen der natürlichen Religion“ beurteile.28 Tatsächlich ergibt sich das Erfordernis zur Bestimmung positiver Gehalte für Lessing aus dem Ziel, die Religion unter allen Menschen zu verbreiten. Die allgemeine Ausbreitung der natürlichen Religion scheitert an dem unterschiedlichen Maß, in dem der einzelne Mensch zur vernünftigen Erkenntnis Gottes zu gelangen und sie zur Richtschnur seines Handelns zu machen vermag. Diese Verschiedenheit führt „in dem Stande seiner bürgerlichen Verbindung mit andern“ zu Spannungen, die durch die geoffenbarte Religion ausgeglichen werden sollen. Also verständige man sich über gewisse „conventionelle Dinge und Begriffe“, sprich: dogmatische Lehren und kultische Gebräuche, und schreibe sie anstelle der Wahrheiten der natürlichen Religion jedem Einzelnen bzw. allen Bürgern zur Beachtung vor. Das ist: man mußte aus der Religion der Natur, welche einer allgemeinen gleichartigen Ausübung unter Menschen nicht fähig war, eine positive Religion bauen: so wie man aus dem Recht der Natur, aus der nämlichen Ursache, ein positives Recht gebaut hatte. Diese positive Religion erhielt ihre Sanktion durch das Ansehen ihres Stifters, welcher vorgab, daß das Conventionelle derselben eben so gewiß von Gott komme, nur mittelbar durch ihn, als das Wesentliche derselben unmittelbar durch eines jeden Vernunft.29

Aufgrund ihrer Unentbehrlichkeit einerseits sowie ihrer Abweichung von der reinen Vernunftreligion andererseits sind alle geoffenbarten Religionen für Lessing „gleich wahr und gleich falsch“, wobei gilt: „Die beste geoffenbarte oder positive Religion ist die, welche die wenigsten conventionellen Zusätze zur natürlichen Religion enthält.“30 Wie Lessing, so hält auch Kant die Offenbarung für erforderlich, weil wir „nicht bloß als Menschen, sondern auch als Bürger in einem göttlichen Staate auf Erden“ leben. Diese civitas Dei oder Kirche bedürfe „einer öffentlichen Verpflichtung, einer gewissen auf Erfahrungsbedingungen beruhenden kirchlichen Form, die an sich zufällig und mannigfaltig ist, mithin ohne göttliche statutarische Gesetze nicht als Pflicht erkannt werden kann“.31 Für Kant verliert der statutarische Glaube seine Funktion, sobald die natürliche Religion unter allen Menschen verbreitet ist. Diesen Zustand selbst herbeizuführen ist Zweck der geoffenbarten Religion. Deshalb soll „jede auf statutarischen Gesetzen errichtete Kirche“ nach dem Prinzip verfasst sein, „sich dem reinen Vernunftglauben (als demjenigen, der, wenn er praktisch ist, in jedem Glauben eigentlich die Religion ausmacht) beständig zu nähern und den Kirchenglauben (nach dem, was 28 WuTh, 245. – In der Erziehungsschrift von 1780 fehlt der Begriff der positiven Religion. 29 G. E. Lessing, Ueber die Entstehung der geoffenbarten Religion, in: Theologischer Nachlass, Berlin 1784, 249–254, hier: 252 f. 30 Lessing, Religion, 253 f. 31 RGV, 105.

Immanuel Kant über Theologie als positive Wissenschaft

in ihm historisch ist) mit der Zeit entbehren zu können“.32 Demzufolge steht die geoffenbarte nicht weniger als die natürliche Religion ganz im Dienst der sittlichen Besserung des Menschen.33 Das bedeutet in Bezug auf den Inhalt und die Lehren der Offenbarung nichts anderes, als dass „die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft auf sie von selbst hätten kommen können und sollen“. Dank der göttlichen Offenbarung verbreiten sich gewisse Überzeugungen früher und schneller, als es der Fall wäre, wenn sie sich durch die Einsicht der Vernunft jedes Einzelnen durchsetzen müssten. Aus diesem Grund scheint für die Verbreitung der Religion „eine Offenbarung derselben zu einer gewissen Zeit und an einem gewissen Ort weise und für das menschliche Geschlecht sehr ersprießlich“.34 Was der Ausbreitung der Religion förderlich sein mag, braucht nicht zu ihrem eigentlichen Wesen zu gehören. Für einen über die natürliche Religion hinausgehenden Inhalt der Offenbarung bleibt letztlich kein Platz.35 Ausdrücklich hält Kant fest, dass nach der Einführung und öffentlichen Bekanntmachung der wahren Religion „forthin jedermann sich von dieser ihrer Wahrheit durch sich selbst und seine eigene Vernunft überzeugen kann“.36 Damit wird deutlich, worin Kant die Bedeutung der positiven Religion erblickt. Sie leistet einen Beitrag zur Stärkung von Sitte und Moral. Pannenberg erinnert an das Konstrukt der drei oberen Fakultäten – Medizin, Recht und Theologie –, die jede auf ihre Weise den „natürlichen Zwecken“ des Volkes dienen, nämlich „nach dem Tode selig, im Leben unter andern Mitmenschen des Seinen durch öffentliche Gesetze gesichert, endlich des physischen Genusses des Lebens an sich selbst (d. i. der Gesundheit und langen Lebens) gewärtig zu sein“.37 Alle drei oberen Fakultäten stützen sich auf „Statute, d. i. von der Willkür eines Obern ausgehende (für sich selbst nicht aus der Vernunft entspringende) Lehren“38 , die sie weitergeben und bewahren.

32 RGV, 153. – Jesus will, „daß nicht die Beobachtung äußerer bürgerlicher oder statutarischer Kirchenpflichten, sondern nur die reine moralische Herzensgesinnung den Menschen Gott wohlgefällig machen könne“ (RGV 159). 33 Sofern die Bibel „den moralischen Vorschriften der Vernunft in Ansehung ihrer öffentlichen Ausbreitung und inniglicher Belebung beförderlich ist“, könne sie „als Vehikel zur Religion gezählt werden“ und „als ein solches auch für übernatürliche Offenbarung angenommen werden“ (SF, 44). 34 RGV, 155. 35 Zur Entwicklung eines supranaturalistischen Begriffs der Offenbarung in Abgrenzung von Kant vgl. die bei Pannenberg angefertigte Dissertation von W. Reich, Der Offenbarungsbegriff im Supranaturalismus. Eine überlieferungs- und wirkungsgeschichtliche Untersuchung, Diss. Univ. München 1974, bes. 56–103. 36 RGV, 156. 37 I. Kant, Der Streit der Facultäten (= SF), in: AA VII, 1–115, hier: 30; zit. in WuTh, 247 f. 38 SF, 22; zit. in WuTh, 478.

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3.

Die gelehrte Religion

Abgesehen von einer knappen Bemerkung am Ende der Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift 39 findet sich Kants Wissenschaftstheorie der Theologie im ersten Abschnitt des Streits der Fakultäten. Kant hatte das Manuskript der Abhandlung begonnen, bald nachdem ihm durch ein Reskript des preußischen Königs Friedrich Wilhelms II. der Missbrauch seiner Philosophie „zu Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christenthums“ vorgeworfen und mit disziplinarischen Konsequenzen gedroht worden war.40 Die Veröffentlichung der Schrift erfolgte erst nach dem Tod des Königs unter seinem Nachfolger Friedrich Wilhelm III. Kant erörtert zunächst das Verhältnis der unteren, philosophischen zu den drei oberen Fakultäten im Allgemeinen und wendet sich dann exemplarisch dem Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie zu. Schon in der Einleitung zum Ersten Abschnitt des Streits der Fakultäten betont Kant den Unterschied zwischen den Philosophen und Theologen an einer Universität als den „eigentlichen Gelehrten“ auf der einen Seite und den „Literaten (Studierten)“, die an der Universität für ein Amt im Staat ausgebildet werden, auf der anderen Seite. Unter die letzteren fallen die „Geistlichen, Justizbeamten und Ärzte“. Da es sich bei ihnen weniger um Gelehrte als um „Geschäftsleute oder Werkkundige der Gelehrsamkeit“ handle, werden sie bei der Ausübung ihres Amtes von der Regierung überwacht. Zu wissenschaftlichen Fragen äußern dürfen sie sich „nur unter der Censur der Facultäten“.41 Kant verteidigt die Universität als einen Ort akademischer Freiheit, aber er schränkt die Freiheit der Wissenschaft auf den engen Kreis der Gelehrten ein. Öffentlich frei geäußert werden dürfen Meinungen weder außerhalb der Universität noch von Amtsträgern der Kirche oder des Staates. Eine weitere Einschränkung der akademischen Freiheit betrifft die oberen Fakultäten. Da sie den genannten drei Zwecken des Volkes – einer ewigen Seligkeit, einem Leben in Sicherheit und der Gesundheit – dienen, unterliegen ihre Lehren zugleich dem Interesse der Regierung. Ohne ihrerseits zu lehren, darf die Regierung die Lehren der theologischen, der juristischen und der medizinischen Fakultät sanktionieren.42 Von diesem Recht ausgenommen ist nur die philosophische Fakultät. Sie ist „in Ansehung ihrer Lehren vom Befehle der Regierung unabhängig“. Daher beansprucht Kant für die Philosophie die Freiheit, alles zu beurteilen, was „mit dem wissenschaftlichen Interesse, d. i. mit dem der Wahrheit, zu thun hat“. In Fragen 39 Dort stellt Kant der biblischen die philosophische Theologie gegenüber (vgl. RGV, 8–11). 40 SF, 6. – Zur Entstehung des Streits der Fakultäten vgl. P. Giordanetti, Einleitung, in: I. Kant, Der Streit der Fakultäten, Hamburg 2005, VII–XLV, bes. VII–XXI. 41 SF, 18. 42 Vgl. SF, 18 f.

Immanuel Kant über Theologie als positive Wissenschaft

der Wahrheit müsse „die Vernunft öffentlich zu sprechen berechtigt sein“.43 Zwar nütze die philosophische Fakultät dem Staat weniger unmittelbar als die anderen Fakultäten, aber innerhalb der Universität besitze sie die Aufgabe, die drei oberen Fakultäten „zu controlliren und ihnen eben dadurch nützlich zu werden, weil auf Wahrheit (die wesentliche und erste Bedingung der Gelehrsamkeit überhaupt) alles ankommt“.44 Kant resümiert: Die philosophische Facultät kann also alle Lehren in Anspruch nehmen, um ihre Wahrheit der Prüfung zu unterwerfen. Sie kann von der Regierung, ohne daß diese ihrer eigentlichen, wesentlichen Absicht zuwider handle, nicht mit einem Interdict belegt werden, und die obern Facultäten müssen sich ihre Einwürfe und Zweifel, die sie öffentlich vorbringt, gefallen lassen.45

Was speziell die Theologie anbelangt, entwirft Kant das Bild eines reinen biblischen Theologen, der, wie er ironisch anmerkt, „von dem verschrieenen Freiheitsgeist der Vernunft und Philosophie noch nicht angesteckt ist“.46 Als Kennzeichen einer solchen Theologie nennt Kant, dass sie ihre Lehren „nicht aus der Vernunft, sondern aus der Bibel“ bezieht.47 Für die biblische Theologie ergeben sich die Existenz und das Wesen Gottes nicht aus philosophischen Argumenten, sondern aus seiner Offenbarung durch die heilige Schrift. „Daß aber Gott selbst durch die Bibel geredet habe, kann und darf, weil es eine Geschichtssache ist, der biblische Theolog als ein solcher nicht beweisen; denn das gehört zur philosophischen Facultät.“48 Die Annahme des übernatürlichen Ursprungs macht die biblische Offenbarung zu einer statutarischen und von der Regierung sanktionierten Lehre. Aus der Sicht des einzelnen Theologen handelt es sich bei der Offenbarung um eine „Glaubenssache“, die „auf ein gewisses (freilich nicht erweisliches oder erklärliches) Gefühl der Göttlichkeit derselben selbst für den Gelehrten“ gründet.49 Der Gedanke, dass für die Offenbarung als „Geschichtssache“, das heißt für die Beurteilung des göttlichen Ursprungs der heiligen Schrift, statt der Theologie die Philosophie zuständig sein soll, mag heutzutage Befremden oder Kopfschütteln hervorrufen. Niemand wird ernsthaft fordern, dass die theologische Fakultät auf

43 SF, 19 f.; vgl. 27. 44 SF, 28. – In diesem Zusammenhang steht Kants berühmtes Aperçu von der philosophischen Fakultät als Magd der Theologie, wobei unklar bleibe, ob jene „ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt“ (ebd.). 45 SF, 28. 46 SF, 24. 47 SF, 23. 48 SF, 23. 49 SF, 23.

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die Behandlung der Fragen nach Gott und der Möglichkeit einer Offenbarung verzichten sollte, um sie der Philosophie zu überlassen. Damit ist allerdings die kantische Beobachtung nicht entkräftet, dass die Glaubwürdigkeit der Offenbarung nicht aus der Bibel selbst bewiesen werden kann, sondern nach einer Rechtfertigung verlangt, deren Wahrheit nicht auf Befehl, sondern frei angenommen wird.50 Auch wenn diese Grundlegung an der theologischen Fakultät der Universität erfolgt, muss sie sich der Methode der Philosophie bedienen.51 Insofern darf Kants Modell der Trennung zwischen unterer und oberen Fakultäten als unhaltbar gelten. Als weitere Eigentümlichkeit der theologischen Fakultät nennt er das Verbot, „den Sprüchen der Schrift einen mit dem Ausdruck nicht genau zusammentreffenden, sondern etwa moralischen Sinn unterzulegen“.52 Der biblische Theologe hat sich scheinbar um eine wörtliche Deutung der geoffenbarten Texte zu bemühen. Gleichzeitig betont Kant, zur Auslegung der Bibel seien „historische Gelehrsamkeit“ und „philologische Kenntnisse“ vonnöten.53 Dabei denkt er neben der Vertrautheit mit den alten Sprachen wohl ganz allgemein an die Erforschung schriftlicher Zeugnisse der Antike. Unter einem „mit dem Ausdruck … genau zusammentreffenden … Sinn“ dürfte daher eine Interpretation zu verstehen sein, die sich mit der Vorstellungswelt der biblischen Verfasser und ihrer Zeitgenossen verträgt. An diesem Punkt erweist sich die Trennung der oberen von der unteren Fakultät abermals als durchlässig. Woher soll der Theologe seine historische Gelehrsamkeit und philologischen Kenntnisse nehmen, wenn nicht aus der philosophischen Fakultät, nämlich aus deren Departement „der historischen Erkenntniß (wozu Geschichte, Erdbeschreibung, gelehrte Sprachkenntniß, Humanistik mit allem gehört, was die Naturkunde von empirischem Erkenntniß darbietet)“?54 Wenn Kant in der Religionsschrift als Gegenstück zur natürlichen die „gelehrte Religion“ einführt, von der man „andere nur vermittelst der Gelehrsamkeit (in und durch welche sie geleitet werden müssen) überzeugen“ könne,55 bezieht er sich auf die Gelehrsamkeit nicht nur der biblischen Theologie, sondern auch des historischen Departements der philosophischen Fakultät. Das Christentum wird aus einer natürlichen zu einer gelehrten Religion, sobald es in Jesus mehr sieht als 50 Der Geschichtsglaube könnte „ein theoretisch freier Glaube“ sein, „wenn jedermann gelehrt wäre“ (RGV, 164). 51 Zur bleibenden Angewiesenheit des theologischen Redens von Gott auf metaphysisches Denken vgl. W. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988, bes. 7–19. – Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum an vielen Fakultäten die Fächer systematische Theologie und Religionsphilosophie ein und demselben Lehrstuhl zugeordnet sind. 52 SF, 24. 53 SF, 45 und 68. – Über den Durchbruch zur modernen, historisch-kritischen Exegese vgl. A. Beutel, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium, Göttingen 2009, 212–215. 54 SF, 28. 55 RGV, 155.

Immanuel Kant über Theologie als positive Wissenschaft

bloß das Ideal eines Gott wohlgefälligen Lebens. Dann würden dem moralischen Glauben „in einem heiligen Buche noch Wunder und Geheimnisse beigesellt, deren Bekanntmachung selbst wiederum ein Wunder ist und einen Geschichtsglauben erfordert, der nicht anders als durch Gelehrsamkeit sowohl beurkundet, als auch der Bedeutung und dem Sinne nach gesichert werden kann“.56 Ein statutarischer Glaube, der dem Einzelnen nicht in einer Privatoffenbarung von Gott unmittelbar mitgeteilt wird, kann sich nur als gelehrte Religion verbreiten. Dazu gehört für Kant ein „gelehrtes Publicum“, das heißt eine gebildete Öffentlichkeit, in der die historischen Zeugnisse überliefert und gedeutet werden. Um die Objektivität des Geschichtsglaubens zu gewährleisten, fordert Kant, dass er „durch Schriftsteller als Zeitgenossen, die in keinem Verdacht einer besondern Verabredung mit den ersten Verbreitern desselben stehen, und deren Zusammenhang mit unserer jetzigen Schriftstellerei sich ununterbrochen erhalten hat, gleichsam controllirt werden könne“.57 Obwohl die Forderung im römischen Reich erfüllt war, fehlten unabhängige Zeugnisse über die Geschichte Jesu. Der Ursprung des Christentums liege deshalb im Dunkeln. Das änderte sich erst, als in den folgenden Generationen „das Christenthum für sich selbst ein gelehrtes Publicum ausmachte“.58 Seitdem verfügen wir über eine ausreichende Menge von Quellen, aus denen die gelehrte Religion mit historischen und philologischen Methoden gewonnen werden kann. Im Streit der Fakultäten nennt Kant den Theologen kurz und bündig den „Schriftgelehrten für den Kirchenglauben“.59 Laut der Religionsschrift dient die Schriftgelehrsamkeit dem Zweck, „den Kirchenglauben für ein gewisses Volk zu einer gewissen Zeit in ein bestimmtes, sich beständig erhaltendes System zu verwandeln“.60 Das System der gelehrten Religion umfasst die bekannten Dogmen des Christentums, allen voran die Trinität, die Inkarnation und die Auferstehung der Toten.61 Während dem Philosophen untersagt ist, aus einzelnen Schriftstellen „gewisse theoretische, für heilig angekündigte, aber allen (selbst den moralischen) Vernunftbegriff übersteigende Lehren“ zu ziehen, räumt Kant dem Theologen dieses Recht ein.62 Dass er damit den Gebrauch philosophischer Methoden in der Dogmatik ausschließt und die Theologie zu einer rein historisch und philologisch verfahrenden Wissenschaft macht, gehört ebenfalls zu den Merkwürdigkeiten der kantischen Einteilung der Fakultäten.

56 57 58 59 60 61 62

RGV, 129. RGV, 129. RGV, 130. SF, 36. RGV, 114. Vgl. SF, 38–40. SF, 38.

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Vor diesem Hintergrund verdient eine Stimme erwähnt zu werden, die sich gegen die Einordnung des Christentums unter die positiven Religionen aussprach. Christoph Friedrich Ammon veröffentlichte im Ersten Band des von ihm gemeinsam mit Heinrich Karl Alexander Hänlein herausgegebenen Neuen theologischen Journals einen anonymen Artikel über die Frage: „Ist das Christentum eine positive Religion?“ Der Autor nennt vier Merkmale einer positiven Religion, die zwar auf Judentum und Islam, nicht aber auf das Christentum zutreffen sollen. Demnach verzichtete Jesus (1.) auf die wundersame oder gewaltsame Bekehrung, (2.) auf die Einmischung in die Politik, (3.) auf den Anspruch letztverbindlicher Wahrheit sowie (4.) auf kultische Vorschriften.63 Stattdessen habe Jesus „aus der praktischen Vernunft geschöpft“.64 Die Nähe Ammons sowohl zu Kant als auch zur Neologie lässt sich schwerlich übersehen. Pannenberg erwähnt den Aufsatz mit dem Hinweis, dass Hegel den betreffenden Jahrgang des Neuen theologischen Journals las, als er in Bern an den Studien über die Positivität der christlichen Religion arbeitete.65 Hegel beklagt das Umschlagen der von Jesus gepredigten rein moralischen Religion in einen positiven Glauben und stellt die Frage, „wie die Religion Jesu positiv geworden sei“.66 Damit folgt Hegel dem Sprachgebrauch seiner Tübinger Lehrer. Denn wie Pannenberg ebenfalls anmerkt, hatte Friedrich Gottlieb Süskind die Möglichkeit „positiver Lehren einer Offenbarung“ ausdrücklich gegen Fichtes Kritik verteidigt.67

4.

Jenseits der Pflicht

Kant zufolge unterscheidet sich die natürliche von der gelehrten Religion „nicht nach ihrem ersten Ursprunge und ihrer innern Möglichkeit“, sondern „bloß nach

63 Vgl. C. F. Ammon, Ist das Christentum eine positive Religion?, in: Neues theologisches Journal, Erster Band, 1793, 89–104; 273–286. – Zur Verfasserschaft Ammons vgl. Bretschneider, Begriffe, 32 Anm. 27. 64 Ammon, Christentum, 279. 65 Vgl. WuTh 246. – In Hegels Exzerpten findet sich jedoch keine ausdrückliche Bezugnahme auf den genannten Artikel (vgl. G. W. F. Hegel, Unkunde der Geschichte, in: Frühe Schriften I, Hg. von F. Nicolin und G. Schüler, Hamburg 1989, 197–202). 66 G. W. F. Hegel, man mag die widersprechendste Betrachtungen, in: Frühe Schriften I, 281–351, hier: 285. – Über Hegels Studien zur Positivität der christlichen Religion vgl. W. Jaeschke, HegelHandbuch. Leben – Werk – Schule, 3. Aufl., Stuttgart 2016, 62–65. 67 F. G. Süskind, Bemerkungen über den aus Principien der praktischen Vernunft hergeleiteten Ueberzeugungsgrund von der Möglichkeit und Wirklichkeit einer Offenbarung, in Beziehung auf Fichte’s Versuch einer Critik aller Offenbarung, in: G. C. Storr, Bemerkungen über Kants philosophische Religionslehre, Tübingen 1794, 123–240, hier: 174. – Vgl. WuTh, 246 Anm. 503.

Immanuel Kant über Theologie als positive Wissenschaft

der Beschaffenheit derselben, die sie der äußern Mittheilung fähig macht“.68 Der Weg, wie eine Religion äußerlich mitgeteilt wird, ist eine übernatürliche Offenbarung. Zur gelehrten Religion gehört ein historischer Glaube. Er stützt sich nicht auf die praktische Vernunft, sondern auf statutarische Lehren. Vor dem Hintergrund dieses Gegensatzes zwischen dem reinen Vernunftglauben der natürlichen Religion einerseits und dem doktrinalen oder Kirchenglauben andererseits mag Pannenbergs eingangs zitierte Formel verblüffen, Kant habe „das Moment des Positiven mit der praktischen Abzweckung verbunden“.69 Als positive Religion hätte gemäß dem kantischen Sprachgebrauch der statutarische Glaube zu gelten. Dieser besitzt eine praktische Abzweckung allenfalls in dem Sinn, dass es sich bei den als von Gott geoffenbart geglaubten Statuten um Vorschriften handeln mag, die das sittliche oder religiöse Handeln betreffen. In der Monographie Wissenschaftstheorie und Theologie besagt die Rede von der Theologie als praktischer Wissenschaft jedoch etwas ganz anderes. Im zweiten Abschnitt des vierten Kapitels beruft sich Pannenberg für die Einordnung der Theologie unter die praktischen Wissenschaften auf Duns Scotus.70 Dieser hatte – im Anschluss an Aristoteles – die praktische Erkenntnis nicht auf die Auswahl und Anwendung der Mittel zu einem bestimmten Ziel begrenzt, sondern rechnete auch die Erkenntnis der Eigenart des angezielten Objekts zur Ethik. Für Scotus bildete Gott als das letzte Ziel des menschlichen Willens den Gegenstand der Theologie. Pannenberg erblickt darin „die Relativierung des theologischen Redens von Gott auf den Menschen, der nach Gott fragt“,71 deren volle Tragweite erst in der Neuzeit hervortrat.72 Ohne Zweifel passt Kant in die geschilderte Traditionslinie. Das gilt zumal für Kants Verständnis von Religion als Inbegriff „aller unserer Pflichten überhaupt als göttlicher Gebote (und subjectiv der Maxime sie als solche zu befolgen)“.73 Alles sittliche Handeln des Menschen zielt auf das höchste Gut als letzten Zweck. Als die Voraussetzungen der Erreichbarkeit des höchsten Guts postuliert Kant die Annahmen der Existenz Gottes sowie der Unsterblichkeit der Seele. Da es sich um Forderungen der reinen praktischen Vernunft handelt, gehören die beiden Postulate in den Bereich der natürlichen, nicht der geoffenbarten Religion.

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RGV, 155. WuTh, 248. Zum Folgenden vgl. WuTh, 230–233. WuTh, 232. „Wo die Bestimmung der Theologie als ‚praktische Wissenschaft‘ […] auf die Seligkeit des Menschen als Zweck begrenzt wurde, da musste sich eine anthropozentrische Tendenz im Theologiebegriff einstellen, die zu der in ihm angelegten Konzentration auf die Gotteserkenntnis in Widerspruch geraten konnte.“ (W. Pannenberg, Systematische Theologie. Gesamtausgabe, Göttingen 2015, Bd. I, 13.) 73 SF, 36.

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Doch so wenig an der praktischen Abzweckung der Theologie bei Kant gezweifelt werden kann, so wenig betrifft sie auf den ersten Blick das Moment des Positiven. Soll die Behauptung Pannenbergs einen Sinn behalten, müsste es neben dem Dasein Gottes und der ewigen Fortdauer der eigenen Existenz noch weitere religiöse Lehren geben, die auf das Erreichen des höchsten Guts abzwecken und die sich zugleich dem Moment des Positiven zuordnen lassen. An dieser Stelle betreten wir ein für die Deutung der kantischen Religionsschrift interessantes Feld. Im Mittelpunkt des Buches steht das Problem des radikalen Bösen und seiner Überwindung. Kant bewegt sich in vollem Bewusstsein und mit Absicht auf dem Gebiet der christlichen Hamartiologie und Soteriologie.74 Weniger klar und unter den Interpreten bis heute umstritten ist freilich, ob Kant die christliche Glaubenslehre restlos auf Begriffe der praktischen Vernunft bringen und so vollends der natürlichen Religion einverleiben wollte, oder welche kirchlichen Lehren er als zum statutarischen Glauben gehörig, das heißt als von Gott offenbart anerkennen würde.75 Für eine rationalistische Lesart der Religionsschrift sprechen Äußerungen wie die, das Christentum sei „die Idee von der Religion, die überhaupt auf Vernunft gegründet und so fern natürlich sein muß“.76 In eine andere Richtung weist zum Beispiel der von Kant vertretene Grundsatz der Schriftauslegung, wonach auch die Philosophie mit der Schwäche des menschlichen Willens zu rechnen habe und befugt sei, „allenfalls eine übernatürliche Ergänzung seiner mangelhaften Gerechtigkeit (auch ohne daß sie bestimmen darf, worin sie bestehe) gläubig anzunehmen“.77 Ist die Annahme einer solchen Art von göttlicher Mitwirkung oder Gnade vielleicht Teil eines statutarischen Glaubens? Die Schwierigkeit des Gedankens der Gnade rührt unter kantischen Vorgaben daher, dass die Idee des höchsten Guts die Austeilung der Glückseligkeit „ganz genau in Proportion der Sittlichkeit (als Werth der Person und deren Würdigkeit glücklich zu sein)“ verlangt.78 Ein Mensch, dem es an Gerechtigkeit oder Tugend mangelt, kann keine vollkommene Glückseligkeit

74 Zur kantischen Erlösungslehre vgl. G. Sans, Der Tod Jesu für uns. Zum Paradigma der Stellvertretung bei Kant, Pannenberg und Hegel, in: Die Christologie Wolfhart Pannenbergs. Hg. von G. Wenz, Göttingen 2021, 213–232, bes. 214–219. 75 Von Interesse sind hier nur diejenigen Inhalte, die einer Prüfung durch die praktische Vernunft standhalten, und nicht solche, die sich als Aberglaube entpuppen. 76 SF, 44. 77 SF, 43. – Zum Kontext vgl. O. Höffe, Philosophische Grundsätze der Schriftauslegung. Ein Blick in den Streit der Fakultäten, in: Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hg. von O. Höffe, Berlin 2011, 231–247. 78 KpV, 110.

Immanuel Kant über Theologie als positive Wissenschaft

erhoffen. Dass Gott einen Beitrag zum Ausgleich der fehlenden Sittlichkeit leistet, widerstreitet der Idee des höchsten Guts.79 Wie lässt sich der Widerstreit auflösen? Braucht es die gläubige Annahme einer göttlichen Mitwirkung? Oder sollten wir besser das Ziel des höchsten Guts aufgeben, weil sich kein Mensch jemals aus eigener Kraft der Glückseligkeit würdig zu machen vermag? Mit der zitierten Forderung, an die übernatürliche Ergänzung der eigenen mangelhaften Gerechtigkeit zu glauben, schlägt sich Kant auf die erste Seite. Doch was berechtigt uns zum Glauben an die Gnade? Dem Wortlaut nach bleibt Kant die Antwort schuldig. Bei der zitierten Forderung, an die übernatürliche Ergänzung der eigenen mangelhaften Gerechtigkeit zu glauben, handelt es sich um einen philosophischen Grundsatz der Schriftauslegung. Das Prinzip kann man entweder –wie die Postulate des Daseins Gottes und der Unsterblichkeit der Seele – als eine von den biblischen Texten unabhängige Forderung der reinen praktischen Vernunft verstehen. Damit würde die Annahme der Gnade zu einem Glaubenssatz der natürlichen Religion. Oder die Vernunft gelangt nicht über das Zugeständnis der Möglichkeit der Gnade hinaus. In diesem zweiten Fall enthielte das Zeugnis der Schrift allererst den Grund, an eine göttliche Mitwirkung zu glauben. Die Gnadenlehre wäre Bestandteil nicht der natürlichen, sondern der gelehrten Religion. Wenn die Gnade nicht von der praktischen Vernunft erkannt wird, muss sie durch Offenbarung gelehrt werden und gehört zu dem, was Pannenberg das Moment des Positiven nennt. Auch die von ihm angemerkte praktische Abzweckung lässt sich leicht feststellen. Es geht bei der göttlichen Mitwirkung um das Erreichen des höchsten Guts als des letzten Ziels menschlichen Lebens und Handelns. Träfe die zweite Lesart der Religionsschrift zu, erhielte die Theologie als Wissenschaft eine Aufgabe, die sie nicht mehr ohne weiteres an die philosophische Fakultät verlieren kann. Die Auslegung der Bibel im Geist des Grundsatzes von der übernatürlichen Ergänzung unserer mangelnden Gerechtigkeit kann überhaupt erst beginnen, nachdem die Existenz Gottes aus Vernunftgründen feststeht sowie der biblische Text historisch und philologisch aufbereitet wurde. Danach ist es die Aufgabe der theologischen Fakultät, Anhaltspunkte für eine göttliche Mitwirkung aus der heiligen Schrift zu ziehen und sie sowohl auf unsere Lehre von Gott als auch auf unser Verständnis des Menschen anzuwenden. Durch das zuletzt Gesagte erhielte die Bemerkung Pannenbergs, von der ich ausgegangen bin, ihren guten Sinn. Wollte man die Gnade hingegen nicht dem Moment des Positiven zuordnen, sondern selbst noch als Teil der natürlichen Religion betrachten, bliebe der Sinn der Bemerkung dunkel. Die Ausführungen Pannen-

79 Zum Einfluss Kants auf die Auseinandersetzung zwischen theologischen Rationalisten und Supranaturalisten vgl. W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 203–208.

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bergs sind zu knapp, um aus ihnen mit Gewissheit schließen zu können, wie er die Religionsschrift verstanden wissen wollte. Doch hielte Pannenberg Kant für einen Rationalisten, der die göttliche Gnade vollständig der Vernunft unterwirft, wäre nicht einzusehen, inwiefern der Königsberger Philosoph das Moment des Positiven mit der praktischen Abzweckung verbunden gedacht haben sollte. Dann käme vielmehr alles darauf an, das Positive möglichst zum Verschwinden zu bringen, weil es im besseren Fall nur ein Mittel zur Verbreitung der reinen Vernunftreligion darstellte, im schlechteren Fall sich sogar um Aberglauben handelte. Wer dem Moment des Positiven eine Rolle beim Erreichen des höchsten Guts zuweist, bejaht die Theologie als positive Wissenschaft.

Friederike Nüssel

Wie ist die Erfahrung von Sinn möglich? W. Pannenbergs Rezeption von W. Diltheys hermeneutischer Grundidee und ihre Bedeutung für die Dialogfähigkeit der Theologie

1.

Wahrheitsfrage und Sinnthematik „Ein sinnvolles Leben erscheint dem heutigen Menschen nicht mehr als selbstverständlich. Die Angst vor Sinnleere und Sinnverslust ist zusammen mit dem Fragen und Suchen nach Sinn zu einem Lebensthema des Menschen unserer Zeit geworden.“1

Diese Zeitdiagnostik artikuliert Wolfhart Pannenberg 1984 in einem Aufsatz über „Sinnerfahrung, Religion und Gottesfrage“ und verbindet sie mit einem kritischen Resümee zur Relevanz des christlichen Glaubens, die den lebensweltlichen Hintergrund seines theologischen Denkens bildet: „Das heute verbreitete Gefühl einer alles durchdringenden Sinnlosigkeit und das damit verbundene Fragen nach Sinn zeigen an, daß für viele Menschen und für weite Teile des öffentlichen Bewußtseins unserer säkularen Kultur die überlieferten Antworten des Christentums diese Funktion einer zusammenfassenden Auslegung der Erfahrung der Weltwirklichkeit und der Lebensprobleme des Menschen derzeit nicht besonders gut erfüllen.“2 Ob der erste Teil dieser Diagnose auch auf die Situation unserer Gesellschaft zu Beginn der 2020er Jahre zutrifft, mag man debattieren. Mir scheint, dass gegenwärtig nicht „eine alles durchdringende Sinnlosigkeit“ das Lebensgefühl bestimmt, sondern eher der große Druck globaler und konfligierender Krisen wie insbesondere der Klimawandel und die politische Zeitenwende, denen sich viele Menschen machtlos ausgesetzt sehen. Der zweite Teil der Diagnose hingegen in Bezug auf die Relevanz christlicher Welt- und Lebensdeutung dürfte noch deutlicher zutreffen als vor knapp vierzig Jahren. Zwar lässt sich aus dem rapiden Rückgang der Kirchenmitgliedschaft nicht unmittelbar auf einen Rückgang der Relevanz christlicher Lebensdeutung rückschließen. Aber Fakt ist, dass die Vertrautheit oder zumindest Bekanntschaft mit dem christlichen Glauben und christlicher Lebensform seit Pannenbergs Diagnose erheblich geschwunden ist. Die Gründe dafür können

1 Wolfhart Pannenberg, Sinnerfahrung, Religion und Gottesfrage, in: ThPh 59 (1984), 178–190, hier: 178. 2 Pannenberg, Sinnerfahrung, 188.

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systematisch-theologisch nur sehr bedingt erhoben werden. Wie sich hingegen die christliche Religion zur Frage nach dem Sinn verhält, ist ein systematischtheologisches Thema. Bei diesem Thema geht es nicht nur darum, welche Antwort christliche Theologie der christlichen Religion auf die Sinnfrage entnehmen kann, sondern zugleich um die Frage, ob und wie die Erkenntnis von Sinn überhaupt möglich ist. Faktisch enthält jede Interpretation des christlichen Glaubens im Horizont der Sinnfrage eine These darüber, worum es in der Frage nach Sinn geht und wie sich Sinn erkennen lässt. Die Sinnthematik ist ein Grundpfeiler der Wissenschaftstheorie, die Wolfhart Pannenberg in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Diskussion und ihrer Genese entwirft, um die Theologie als Wissenschaft zu positionieren.3 Seine Sinntheorie fundiert dabei das Verständnis von Wahrheit und Wahrheitserkenntnis, welches die Theologie in der systematischen Erklärung des Wahrheitsanspruchs des christlichen Gottesglaubens voraussetzt.4 Die Eigenart der Wahrheit, die im christlichen Glauben an Gott in Anspruch genommen wird, liegt nach Pannenberg darin, dass sie sich im Prozess der Geschichte realisiert. Was im christlichen Glauben geglaubt wird, ist wahr, weil und insofern es wahr wird. Die Wahrheit, die wahr werden wird, ist in der Geschichte Jesu zu erkennen, weil sie in seinem Leben Wirklichkeit geworden ist. Wirklichkeit geworden ist die Wahrheit, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt und darin sein Leben, welches im Dienst der Botschaft vom Reich Gottes stand, bewahrheitet und sich darin zugleich als der Gott offenbart hat, der das Leben aller Menschen zum heilsamen Ziel in der ewigen Gemeinschaft mit ihm selbst führen wird, indem er sie auferweckt. Der Grund dafür, dass mit dieser Realisierung der Wahrheit am Ende der Zeiten zu rechnen ist, liegt darin, dass sie sich in der Lebensgeschichte Jesu Christi vorweg ereignet hat. In ihr hat partikular an Jesus das Handeln Gottes bereits stattgefunden, welches der Menschheit insgesamt widerfahren wird. Insofern ist die Lebensgeschichte Jesu Christi Antizipation der eschatologischen Vollendung und darin der Wahrheit Gottes. Dieses christliche Wahrheitsverständnis ist darin zirkulär, dass die Wahrheit der Geschichte Jesu Christi ihrerseits von der eschatologischen Vollendung abhängt, in

3 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1977, siehe bes. das 3. Kapitel, Hermeneutik als Methode des Sinnverstehens, 157–224. 4 Siehe dazu Christine Axt-Piscalar, Was ist Theologie?, Tübingen 2013, hier: Kapitel XXIII: Wolfhart Pannenberg. Systematische Theologie als Entfaltung des universalen Wahrheitsanspruchs der christlichen Gottesgedankens, 308–322, bes. 308–310. Sieh auch Thorsten F. Leppek, Wahrheit bei Wolfhart Pannenberg. Eine philosophisch-theologische Untersuchung, FSÖTh 159, Göttingen 2017.

Wie ist die Erfahrung von Sinn möglich?

der ihre Strittigkeit allererst endgültig aufgehoben sein wird5 , dass aber umgekehrt diese Geschichte eben der Grund ist, auf die eschatologische Vollendung zu hoffen. Diese Zirkularität kann argumentativ nicht aufgehoben werden, weil dies entweder implizieren würde, die Struktur der Wahrheit als einer sich geschichtlich realisierenden zu bestreiten, oder die Wahrheit schon eingetreten sein müsste, was nicht der Fall ist. Mit dem Vorwurf der Zirkularität kann das von Pannenberg in Anschlag gebrachte Wahrheitsverständnis mithin nicht widerlegt werden. Man kann seiner wahrheitstheoretischen Argumentation allerdings vorwerfen, dass sie sich gegen die Rückfrage nach dem Kriterium der Wahrheit bzw. nach den Bedingungen des Wahrseins durch seine besondere Struktur immunisiert. Denn dem von Pannenberg in Anschlag gebrachten christlichen Wahrheitsverständnis lässt sich keine Angabe darüber entnehmen, unter welchen Bedingungen es sich als falsch erweisen würde. Zwar impliziert die in Anspruch genommene Wahrheit der eschatologischen Vollendung, dass der Wahrheitsanspruch dann falsifiziert ist, wenn diese Wahrheit nicht eintritt. Aber es ist per se ausgeschlossen, dass eine solche Falsifikation unter irdischen und damit unvollendeten Bedingungen je festgestellt werden kann. Lässt sich der christliche Wahrheitsanspruch dann aber noch als vernünftig ausweisen? Anders gefragt: Kann die Wahrheit des darin in Anschlag gebrachten Verständnisses der Wahrheit als wahr ausgewiesen werden, obwohl sich die Möglichkeit der Erkenntnis seiner Falsifikation nicht angeben lässt? Im Kontext dieser wahrheitstheoretischen Aporie haben die sinntheoretischen Überlegungen von Pannenberg ihren Ort. Ihre Funktion besteht darin, das auf eschatologische Bewahrheitung ausgelegte christliche Wahrheitsverständnis zu plausibilisieren. Die Sinntheorie, wie sie Pannenberg in „Wissenschaftstheorie und Theologie“ entwickelt, umfasst dabei zwei Seiten. Zum einen enthält sie die hermeneutische These, dass der Sinn von einzelnen Ereignissen, zu denen nicht nur historische Ereignisse, sondern auch Wahrnehmungen und Erkenntnisse gehören, sich erst im Gesamtzusammenhang allen Geschehens vollständig einstellt. Die Behauptung des Sinns von Ereignissen oder Ereignisfolgen impliziert die Totalität von Sinn. Zum anderen gehört zu Pannenbergs Sinntheorie die bewusstseinstheoretische oder psychologische These, dass menschliche Erfahrung als Erfahrung von Sinn strukturiert ist. Für die Ausarbeitung dieser beiden Thesen in ihrer Verbindung ist die Psychologie und Hermeneutik geistiger Erfahrung bei Wilhelm Dilthey von grundlegender Bedeutung. Pannenberg rekurriert dabei auf Diltheys „Einleitung in

5 Vgl. zur konstitutiven Bedeutung der Strittigkeit Gottes Axt-Piscalar, Theologie, 311f. Siehe auch Friederike Nüssel, Theologia crucis? Zur Rezeption lutherischer Kreuzestheologie in Wolfhart Pannenbergs Systematischer Theologie, in: Gunther Wenz (Hrsg.), Die Christologie Wolfhart Pannenbergs, Pannenberg-Studien Bd. 6, Göttingen 2020, 171–189.

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die Geisteswissenschaften“ von 18836 und die späten Aufsätze und Fragmente von 1907 bis 1910, in denen Dilthey den zweiten Teil der Einleitung unter dem Titel „Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“7 entwickelt hat.

2.

Pannenbergs Auseinandersetzung mit Diltheys Begründung der Geisteswissenschaften

Der Rekurs auf Dilthey nimmt im ersten Teil der Wissenschaftstheorie Pannenbergs über „Die Theologie im Spannungsfeld von Einheit und Vielfalt der Wissenschaften“ eine Schlüsselstellung ein. Nachdem Pannenberg im ersten Kapitel „Vom Positivismus zum kritischen Rationalismus“8 gezeigt hat, dass sich der für das Wissenschaftsverständnis des kritischen Rationalismus konstitutive Gedanke der kritischen Prüfung „auf Hypothesen über singuläre Ereignisse und kontingente Ereignisfolgen“9 ausdehnen lässt, rekonstruiert er im zweiten Kapitel über „Die Emanzipation der Geisteswissenschaften“10 eine Entwicklungsgeschichte derselben, die auf die hypothetische Sinndeutung der Geschichte zuläuft. In dieser Rekonstruktion nimmt Wilhelm Dilthey eine konstitutive Rolle ein, weil er die Emanzipationsbewegung eingeleitet und die Entwicklung der Hermeneutik wesentlich vorangetrieben hat. Diltheys Ziel in der „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ war es, die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften zu erweisen, um so ihr Eigenrecht gegenüber den Naturwissenschaften und einer naturalistischen Welterklärung darzulegen. Entsprechend argumentiert er, es lasse sich gegenüber den für die Sinne äußerlich gegebenen Vorgängen „ein besonderer Umkreis von Tatsachen absondern, welche primär der inneren Erfahrung, sonach ohne jede Mitwirkung der Sinne gegeben sind“11 . „Die tiefere Begründung der selbständigen Stellung der Geisteswissenschaften neben den Naturwissenschaften“ hängt dabei für Dilthey gerade an ihrer „Unvergleichbarkeit mit aller Sinnenerfahrung über die Natur“12 . Sie impliziert für ihn – ganz im Einklang mit neukantianischem Denken –, dass

6 Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, hrsg. von Bernhard Groethuys 1922, in: Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Göttingen 1957. 7 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hrsg. von Bernhard Groethuysen 1927, in: Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Göttingen 1958. 8 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 31–73. 9 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 69. 10 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 74–156. 11 Dilthey, Einleitung, 8f. 12 Dilthey, Einleitung, 9.

Wie ist die Erfahrung von Sinn möglich?

sich die geistigen Vorgänge aus den materiellen nicht ableiten lassen. Entscheidend ist für Pannenberg an diesem Ansatz zunächst, dass bei Dilthey der Begriff des Geistes im Unterschied zur Reduktion des Geistes auf das Selbstbewusstsein bei Immanuel Kant die geschichtliche Welt umfasst, „die aus dem Handeln von Menschen hervorgegangen ist entsprechend dem ‚objektiven Geist‘ Hegels.“13 Während bei Hegel allerdings im objektiven Geist mit den Handlungen der Individuen zugleich „die überindividuelle (und übermenschliche) Wirklichkeit des absoluten Geistes als Weltgeist in Erscheinung“14 trete, werde bei Dilthey der absolute Geist „ersetzt durch die Einheit des (geistigen) Lebens, das alle Individuen verbindet.“15 Leben sei für Dilthey dabei „nur real in den menschlichen Individuen.“16 Nach Pannenbergs Analyse besteht der eigentümliche Charakter der Geisteswissenschaften bei Dilthey im Verhältnis zu den Naturwissenschaften darin, „daß sie ihren Ausgangspunkt in der ‚Lebenseinheit‘, und zwar in der ‚psycho-physischen Lebenseinheit‘ des Individuums finden, die in der ‚inneren Erfahrung‘ gegeben ist, in der nicht nur die Einheit meines Bewußtseins, sondern auch ‚die gesamte Außenwelt … gegeben‘ ist“.17 Pannenberg teilt zwar das Anliegen von Dilthey und dem Neukantianismus, einer Verabsolutierung der naturalistischen Weltsicht und dem damit verbundenen Wissenschaftsverständnis entgegen zu treten. Wissenschaftsgeschichtlich steht Diltheys Argumentation für die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften nach Pannenberg allerdings unter dem Einfluss der „idealistischen Modifikation des cartesischen Dualismus“18 zwischen Natur und Geist. Durch die Erklärung des Unterschieds über den Gegensatz von Erklären und Verstehen19 mündet die Selbständigkeitsargumentation in einen Dualismus von Geistes- und Naturwissenschaften, der die Isolierung der Geisteswissenschaften zur Folge hat. Demgegenüber ist Pannenberg im Rahmen seiner Wissenschaftstheorie und seiner Argumentation für den wissenschaftlichen Charakter der Theologie an der Überwindung eines solchen Dualismus gelegen. Um dies zu begründen, macht er sich nun allerdings genau die Grundeinsicht von Dilthey zu eigen, die Dilthey selbst zur Begründung der Selbständigkeitsthese diente. Es handelt sich um die Analyse der Struktur geistiger Erfahrung. Während Dilthey mit der Analyse der Erfahrungsstruktur die geistige

13 14 15 16 17 18 19

Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 77. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 76. Zur Kritik der Entgegensetzung von Erklären und Verstehen vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 136–156, bes. 137.

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Erfahrung als Faktum sui generis gegenüber den naturwissenschaftlich beobachtbaren Vorgängen herauszustellen suchte, interessiert sich Pannenberg für Diltheys Analyse der geistigen Erfahrung, insofern diese als Sinnerfahrung erschlossen ist. Dabei geht es ihm zum einen um die Struktur der Sinnerfahrung, zum anderen um den anthropologischen Stellenwert. Denn indem geistige Erfahrung nach Dilthey wesentlich Sinnerfahrung ist, kann die Sinnthematik als im menschlichen Bewusstsein verankert gelten. Die Schlüsselstellung, die Dilthey in Pannenbergs Wissenschaftstheorie zukommt, resultiert also zum einen daraus, dass er die Eigenart der Geisteswissenschaften profiliert und damit eine wissenschaftstheoretische Entwicklung anstößt, die sich einem naturalistisch-reduktionistischen Wissenschaftsverständnis widersetzt. Zum anderen gründet seine Schlüsselstellung in einer Analyse der geistigen Erfahrung, die die Basis für die Entwicklung der „Hermeneutik als Methodik des Sinnverstehens“ (so die Überschrift des dritten Kapitels von „Wissenschaftstheorie und Theologie“) bietet und das Potential hat, die mit der Emanzipation der Geisteswissenschaften entstandene Dichotomie von Geistes- und Naturwissenschaften wieder aufzuheben. Pointierter als in der Wissenschaftstheorie legt Pannenberg die besondere Bedeutung von Dilthey für seinen wissenschaftstheoretischen und theologischen Ansatz in dem eingangs bereits erwähnten Aufsatz über „Sinnerfahrung, Religion und Gottesfrage“ aus. Pannenbergs Anliegen ist es hier zu zeigen, dass Sinnfindung nicht durch die Stiftung oder menschliche Produktion von Sinn geschieht, sondern sich in der „Wahrnehmung gegebenen Sinnes“20 vollzieht. Dilthey kommt in diesem Zusammenhang grundlegende Bedeutung zu, weil er in seiner Analyse der Sinnstruktur der Erfahrung gezeigt hat, dass „dem Menschen in jedem Augenblick mit den jeweiligen Einzelheiten des Erlebens zugleich das Ganze seines Lebens gegenwärtig ist“21 . Bei Dilthey habe die „einzelne Erfahrung … insofern den Charakter des Erlebnisses in der präzisen Bedeutung dieses Begriffs …, als die Einzelerfahrung als eine bestimmte Artikulation des ganzen Lebens erfaßt wird.“22 Erst vom Lebensganzen her werde mithin der Sinn der einzelnen Ereignisse des Lebens konstituiert. Jeder Einzelsinn habe seine Bedeutung „von solchem umfassenden Sinnzusammenhang her“23 . Diese Einsicht in die Bedeutung des Zusammenhangs mit dem Ganzen für den Sinn der Einzelmomente ist für Pannenbergs Verständnis der Sinnerfahrung und der Konstitution von Sinn schlechterdings grundlegend. Das „vielleicht wichtigste Verdienst der Diltheyschen Analysen von Sinn und Bedeutung

20 21 22 23

Pannenberg, Sinnerfahrung, 179. Pannenberg, Sinnerfahrung, 183. Ebd. Pannenberg, Sinnerfahrung, 186.

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im Zusammenhang des Erlebens“24 erblickt Pannenberg darin, dass Sinngebung sich damit nicht der Sinnstiftung des menschlichen Subjekts verdankt, sondern den Lebensverhältnissen selbst. Pannenberg folgert: „Die Ereignisse des Lebens haben, so betrachtet, schon als solche Sinn und Bedeutung. Das gilt auch für die Ereignisse der Geschichte. Ein Sinn braucht ihnen nicht erst durch menschliche Deutung sekundär beigelegt zu werden. Sie haben von sich aus Sinn und Bedeutung, je nach ihrem Beitrag für das Ganze des Lebenszusammenhanges, dem sie zugehören.“25 In seiner Interpretation der Entwicklung von Diltheys Denken ist Pannenberg darüber hinaus wichtig, dass Dilthey das Lebensganze und die Lebenseinheit, in der sich Sinn konstituiert, in der späteren Phase nicht wie in der „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ mit dem Individuum gleichgesetzt und als psychologisches Datum verstanden wird. Wenngleich der frühe Dilthey „vor einem konstruktiven Gebrauch der Kategorien ‚Einheit und Vielheit, Ganzes und Teil‘ in Anwendung auf die Gesellschaft“26 gewarnt habe, hält Pannenberg diese gerade für unumgänglich. Die sachliche Grundlage habe Dilthey dabei selbst benannt. Denn nach Dilthey entsteht aus der „Wechselwirkung der einzelnen Individuen, ihrer Leidenschaften, ihrer Eitelkeiten, ihrer Interessen der notwendige Zweckzusammenhang der Geschichte der Menschheit“.27 Pannenberg hält es für kohärent und sachgerecht, wenn beim späten Dilthey das geschichtlich-gesellschaftliche Leben als das Ganze gegenüber den Individuen als Elementen oder Teilen in den Vordergrund rücke. Damit sei „(a)n die Stelle der abstrakten Einheit einer allgemeinen Psychologie … die konkrete Einheit der Menschheit in ihrer Geschichte, die Einheit des Geschichts- und Gesellschaftszusammenhanges“28 getreten, in die sich alle Einzelnen immer schon einbezogen finden. Die Übertragung der sinnhaften Struktur des individuellen geistigen Erlebens auf den Geschichtszusammenhang im Rahmen des Diltheyschen Denkens hält Pannenberg auch deshalb für konsequent, weil Dilthey das innere Erleben oder die Innenwelt nicht als autark gegenüber der Außenwelt verstehe. Vielmehr seien die Einzelerlebnisse des Seelenlebens immer schon vermittelt durch die realen Bezüge zur Außenwelt29 und stünden damit nicht nur in intersubjektiven Zusammenhängen, sondern im Zusammenhang der Geschichte insgesamt. Diese über das Individuum hinausgreifende psychologische Analyse des geistigen Erlebens bei Dilthey führt damit schlüssig zur Frage nach der Möglichkeit von Sinnverstehen überhaupt und damit zur Klärung der Bedingungen der hermeneutischen Aufgabe.

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Ebd. Pannenberg, Sinnerfahrung, 186f. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 78. Dilthey, Einleitung, 53. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 79. Ebd.

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3.

Eine wegweisende Frage und das Potential für die Antwort

Pannenberg lässt seine Rekonstruktion der Grundeinsicht von Dilthey in die Frage münden, „auf welche Weise das noch nicht abgeschlossene Ganze des Lebens – auf den Ebenen des individuellen Lebens wie der sozialen Gruppen, der Gesamtgesellschaft oder auch der Menschheit überhaupt – in den einzelnen Lebensmomenten gegenwärtig sein kann“30 . Diese Frage habe „Dilthey im Zuge seiner Analysen der Bedeutungsstrukturen der geschichtlichen Erfahrung nicht mehr gestellt, – ebenso wenig wie die weitere Frage, wie denn die verschiedenen Weisen der Gegenwart des Ganzen auf den verschiedenen Ebenen des geschichtlichen Lebens ineinandergreifen, so daß von daher sowohl die Abhängigkeit der Individuen von Gruppe und Gesellschaft verständlich wird als auch ihre Selbständigkeit.“31 Die Identifikation dieser von Dilthey offen gelassenen Frage ist nun wiederum erhellend für Pannenbergs Verständnis der Sinntotalität und ihres Stellenwerts in seiner wissenschaftstheoretischen Argumentation. Er macht geltend, für Dilthey selbst liege die Antwort in „seiner allgemeinen Konzeption des Lebens, das als Totalität in allen seinen Gestalten pulsiert.“32 Pannenberg nennt dies eine pantheistische Intuition33 , die aber insofern unbefriedigend sei, als Dilthey davon ausgehe, dass „das noch unabgeschlossene Ganze des Lebens uns ‚aus den Teilen verständlich‘ werde“.34 Denn in Diltheys Aufschlüsselung der Sinnerfahrung sei das Ganze zumindest implizit schon für das Verständnis der Teile vorausgesetzt. Die Präsenz des Ganzen in der Erfahrung von Geschichtlichkeit werde bei Dilthey, wie Pannenberg geltend macht, zwar in Anspruch genommen. Denn er vertraue darauf, dass in der individuellen Sinnerfahrung „eine übersubjektive und darum intersubjektiv gültig zu beschreibende Lebenswirklichkeit erfaßt wird.“35 Aber ohne die Explikation dieser metaphysischen Voraussetzung bleibe „der Anspruch seiner Analyse der hermeneutischen Erfahrung auf ‚Objektivität‘ nach dem Verzicht auf ihre Fundierung durch eine Psychologie ungedeckt.“36 Diltheys Analyse des geistigen Erlebens ist mithin für Pannenberg nicht nur deshalb grundlegend, weil er die Bedeutung des Lebensganzen für die Erfahrung des Sinns der einzelnen Lebensmomente herausgestellt hat. Sie ist auch darin wegweisend, dass sie die Frage aufwirft, wie die in der Sinnerfahrung in Anspruch genommene Ganzheit des Lebens in der Sinnerfahrung als gegebene gedacht werden kann.

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Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 80. Ebd. Ebd. Vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 81. Ebd. Ebd. Ebd.

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Diltheys eigener Hinweis, dass sich solche Ganzheit im letzten Lebensmoment für das Individuum zeige, kann nach Pannenberg nicht die Antwort sein. Denn diese Antwort verbliebe auf der Ebene des individuellen psychischen Erlebens, die der späte Dilthey mit Recht überschritten habe. Eine Antwort auf der Ebene des psychischen Erlebens ist für Pannenberg selbst auch deshalb unzureichend, weil damit der Grund der Sinnerfahrung vom erfahrenden Subjekt abhängig gedacht und damit der Relativismus und Subjektivismus im Verständnis der Sinnerfahrung nicht ausgeschlossen wäre. Auf diese Weise wäre für Pannenberg der spezifische Gewinn, den er dem Ansatz von Dilthey entnimmt, verspielt. Denn dieser liegt für Pannenberg nicht nur in der Struktur der Sinnerfahrung, sondern zugleich darin, dass die Sinnerfahrung durch den Zusammenhang der Lebensmomente selbst begründet wird und nicht auf der subjektiven Konstruktionsleistung beruht. Für Pannenberg liegt auch der Ansatz für die Lösung der Frage nach der Gegebenheit des Sinns noch in der von Dilthey analysierten Struktur der Erfahrung, insofern sie auf der Verhältnisbestimmung von Teil und Ganzem basiert. Das Verständnis und die Bedeutung dieser Verhältnisbestimmung für die Sinntheorie und damit für die Grundlegung der Wissenschaftstheorie erörtert Pannenberg in dem Aufsatz „Die Bedeutung der Kategorien ‚Teil‘ und ‚Ganzes‘ für die Wissenschaftstheorie der Theologie“ von 1978.37 In einem ersten Gedankengang erschließt Pannenberg hier die Kategorien als „Strukturmomente des Wissens“.38 Sie lassen sich zwar „nicht unmittelbar aus der auf Gegenstände gerichteten Sprache“39 erheben, sondern werden erst „für eine Reflexion auf die in der Einzelbehauptung implizierten Zusammenhänge mit allen anderen Behauptungen und behaupteten Sachverhalten thematisch.“40 Aber in dem Bezug auf diese Zusammenhänge sind sie für Pannenberg nicht nur Strukturen des formalen Wissens wie in Kants Kategorienlehre, sondern bezeichnen vielmehr „die allgemeinen Strukturmomente des Wissens als Sachwissen, und zwar in seiner Totalität.“41 Die notwendige Bezogenheit der Kategorien auf die Totalität des Wissens ergibt sich für Pannenberg dabei aus „ihrer schon von Aristoteles beanspruchten Allgemeinheit“42 . Nur im „Bezug auf die Totalität der im Wissen erfaßten Wirklichkeit“43 können die Kategorien als Strukturmomente der im Wissen gewußten Wirklichkeit formuliert werden. Da aber „wegen der Endlichkeit menschlicher Existenz und menschlicher Erfahrung

37 Wolfhart Pannenberg, Die Bedeutung der Kategorien „Teil“ und „Ganzes“ für die Wissenschaftstheorie der Theologie, in: Theologie und Philosophie 53 (1978), 481–497. 38 Pannenberg, Bedeutung der Kategorien, 481–487, hier: 482. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Pannenberg, Bedeutung der Kategorien, 482, Hervorhebung FN. 42 Ebd. 43 Ebd.

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niemals jenes Totalwissen von der Totalität des Seienden“44 zu erreichen ist, wird nach Pannenberg in der Formulierung der Kategorien und ihrer Anwendung die „Totalität des Wissens (und des Seienden) … in unserem Bewußtsein nur antizipiert“45 . Strukturanalog zur Sinnerfahrung wird hier also die Antizipation der Totalität des Wissens in seinem Bezug auf die Totalität des Seienden als Bedingung der kategorial strukturierten Einzelerfahrung in Anschlag gebracht. Im Unterschied zu den Kategorienlehren bei Aristoteles und Kant hält Pannenberg es nicht für möglich, die Zahl der Kategorien zu fixieren, sondern rechnet mit einer nicht begrenzbaren „Pluralität von Kategorien als abstrakten Aspekten der Totalität des Seienden“46 . Aus der Endlichkeit menschlichen Daseins als Ort von Erfahrung und Wissen ergibt sich für ihn zudem, dass zum einen „bestimmte Kategorien in unserer Erfahrung eine ausgezeichnete Rolle spielen“ und zum anderen in verschiedenen Erfahrungsbereichen „unterschiedliche Kategorien als organisierende Prinzipien des jeweiligen Teilbereichs im Vordergrund stehen“47 . Während in den auf die Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten konzentrierten Naturwissenschaften die Kategorien von Raum und Zeit im Vordergrund stünden48 , sei für die auf individuelle Erscheinungen konzentrierten „sog. Geisteswissenschaften“49 die Kategorie des Ganzen die „leitende Kategorie“50 . Denn zum einen sei „jedes Individuum selbst ein Ganzes.“51 Zum anderen stehe „jede individuelle Erscheinung in einem ebenfalls einmaligen Kontext, der wiederum in gewissem Sinne ein Ganzes bildet, in welchem die einzelne Erscheinung einen bestimmten, unverwechselbaren Ort“52 habe. Das Ganze, auf das die Geisteswissenschaften bezogen seien, sei dabei als ein „Sinnganzes“53 zu verstehen, in dem sich wiederum verschiedene Stufen

44 45 46 47 48 49 50 51 52 53

Ebd. Ebd. Pannenberg, Bedeutung der Kategorien, 484. Ebd. Vgl. Pannenberg, Bedeutung der Kategorien, 485. Pannenberg, Bedeutung der Kategorien, 486. Pannenberg, Bedeutung der Kategorien, 487. Ebd. Pannenberg, Bedeutung der Kategorien, 487. Pannenberg, Bedeutung der Kategorien, 487.

Wie ist die Erfahrung von Sinn möglich?

von Sinnganzheiten unterscheiden lassen, „die sich zueinander wieder wie Ganzes und Teil verhalten.“54 Diese Überlegungen bilden für Pannenberg die Grundlage, um in einem zweiten Argumentationsgang55 die spezifische Bedeutung der Kategorien Teil und Ganzes in der Theologie herauszuarbeiten. In der Theologie werde im Zusammenhang von Schöpfungslehre, Soteriologie und Eschatologie die Welt als Totalität des endlichen Seienden verstanden. Allerdings sei im Unterschied zur Philosophie „die Totalität der ‚Welt‘ in der Theologie … nicht das eigentliche Thema“56 , sondern Gott als das Korrelat der Welt. Der besondere Beitrag des theologischen Weltverständnisses liege mithin in der Thematisierung dessen, dass die Welt als das Ganze der Wirklichkeit „nicht absolut und folglich nicht Gott sein“57 könne. Diesen Gedanken begründet Pannenberg in der Reflexion auf die Implikation des Begriffs vom Ganzen als eines in der Relation von Teilen Konstituiertes. Denn indem dieses als das Ganze seiner Teile zu denken sei, sei es von den Teilen abhängig und mithin nicht „selbstkonstitutiv“58 , sondern vielmehr „geeinte Einheit“, die als Grund ihrer selbst eine „einende Einheit“59 voraussetze. Diese Aufschlüsselung der Struktur des Ganzen enthält nun die Antwort auf die Frage nach dem Verständnis des Ganzen als Bedingung der Sinnerfahrung, die Dilthey nach Pannenbergs Analyse offengelassen bzw. nicht befriedigend beantwortet hatte. Denn wenn in der Erfahrung von Sinn die Totalität des Sinnganzen implizit vorausgesetzt bzw. antizipiert wird, wie dies nach Pannenberg in der Analyse der Sinnerfahrung bei Dilthey der Fall ist, so kann diese Totalität nur als Ganzes seiner Teile und darin als geeinte Einheit verstanden werden, die ihrerseits „einen Grund ihrer selbst als einende Einheit voraussetzt.“60 Als einende Einheit sei Gott dabei von der Totalität des Endlichen einerseits „verschieden, zugleich aber auch der

54 Pannenberg, Bedeutung der Kategorien, 487. Als Paradigma für den Bezug des Einzelnen zum Ganzen führt Pannenberg „die Stellung des einzelnen Wortes im Satz, des Satzes im Zusammenhang der Rede bzw. eines Textabschnittes, aber auch im Zusammenhang der Situation, in der er formuliert worden ist“ (ebd.) an. Dabei kommt der sprachlichen Artikulation allerdings nur relative Bedeutung für das menschliche Erleben zu. Zwar wird durch dieselbe das menschliche Erleben zugänglich. Aber die Sprache konstituiere nicht die Sinnhaftigkeit des Erlebens, wie Pannenberg in dem Aufsatz über die Sinnerfahrung deutlich macht, vgl. Sinnerfahrung 182. Vielmehr sei mit Rücksicht auf die Wirklichkeit darstellende Funktion der Sprache „eine irgendwie geartete sinnhafte Strukturiertheit des Wirklichen schon vor seiner sprachlichen Erfassung zu unterstellen“ (Pannenberg, Sinnerfahrung, 181). 55 Pannenberg, Bedeutung der Kategorien, 487–493. 56 Pannenberg, Bedeutung der Kategorien, 490. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Ebd.

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Welt des Endlichen … ebenso notwendig immanent als fortdauernde Bedingung ihrer Einheit“61 . Damit ist, wie Pannenberg ausdrücklich erklärt, kein Gottesbeweis formuliert, weil der Gedanke der einenden Einheit eine leere Allgemeinheit bezeichne, die „die durch den Ausdruck ‚Gott‘ intendierte differenzierte Struktur nicht angemessen zu beschreiben“62 vermöge. Nicht die Existenz Gottes, wohl aber die Unterscheidung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit bzw. zwischen Welt und Gott erscheint damit als notwendiges Implikat der Totalität der endlichen Wirklichkeit, die als Sinnganzes bzw. als Sinnhorizont individueller Erfahrung und individuellen Daseins implizit vorausgesetzt bzw. antizipiert wird. Die Frage nach der Möglichkeit von Sinnerfahrung im Anschluss an Diltheys Analyse der Erfahrungsstruktur erhält bei Pannenberg also eine zweistufige Antwort. Sie ist möglich durch die kategoriale Differenz von Teil und Ganzem und die Leitkategorie des Ganzen, die sich ihrerseits nur mit Hilfe der Unterscheidung von geeinter Einheit und einender Einheit denken lässt.

4.

Kritische Rückfragen und Implikationen für die Dialogfähigkeit der Theologie

Mit den hier rekonstruierten Überlegungen zur Möglichkeit des Sinnverstehens knüpft Pannenberg zwar an Diltheys Analyse geistiger Erfahrung an, ergänzt sie aber um eine metaphysische Reflexion, auf die Dilthey in seiner Begründung der Selbständigkeit der Geisteswissenschaften bewusst verzichtet hatte. Denn anders als bei Dilthey erscheint bei Pannenberg der Gottesgedanke im Sinne der einenden Einheit als Voraussetzung, um die in der einzelnen Sinnerfahrung antizipierte Sinntotalität denken zu können. Pannenbergs Sinntheorie lässt sich dabei in verschiedenen Richtungen hinterfragen, so insbesondere im Blick auf die These, dass die Sinnerfahrung nicht auf der Sinnstiftung des die Erfahrung tätigenden Subjekts beruhe, sondern in den Zusammenhängen der die Erfahrungen bestimmenden Ereignisse gründe. Darüber hinaus kann man auch fragen, ob Pannenbergs Verständnis der Welt als Totalität endlicher Wirklichkeit in Verbindung mit der These von der Einheit der Wahrheit nicht impliziert, dass im Streit um die Wahrheit von Welt- und Wirklichkeitsverständnissen nur die von ihm systematisch rekonstruierte christliche Auffassung zutreffen kann. Dieser Folgerung steht allerdings entgegen, dass für Pannenberg die Wahrheit Gottes strittig ist. Der Grund dieser Strittigkeit liegt nicht einfach in der begrenzten

61 Pannenberg, Bedeutung der Kategorien, 490. 62 Pannenberg, Bedeutung der Kategorien, 491.

Wie ist die Erfahrung von Sinn möglich?

theologischen Erkenntnisfähigkeit des Menschen, sondern in dem von Pannenberg in Anschlag gebrachten Gottesgedanken selbst. Denn Gott offenbart sich nach Pannenberg „in der Geschichte, so dass die Geschichte als Ort der ‚Selbstverwirklichung‘ Gottes zu denken ist, dessen definitive und schlechthin evidente Selbstbekundung am Ende der Geschichte noch aussteht.“63 Daraus ergibt sich, dass Pannenberg für den eigenen theologischen Entwurf nicht „den Anspruch auf absolute Entsprechung zu dem ihm zu denken aufgegebenen Gegenstand erhebt.“64 Zwar muss der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens an Gott durch die systematische, d. i. kohärente Explikation im Dialog mit anderen Religionen und Weltdeutungen ausgewiesen werden. Aber ob dieser Wahrheitsanspruch am Ende berechtigt ist, ist nach Pannenbergs Verständnis der Gottheit Gottes von der Selbstverwirklichung Gottes im Geschichtsprozess abhängig, wie sie in der Lebensgeschichte Jesu Christi in ihrer Geschichtlichkeit offenbar geworden ist.65 Mit dem Gedanken der Strittigkeit wird dabei nicht nur der Wahrheitsanspruch für den eigenen theologischen Entwurf unter Vorbehalt gestellt, sondern die Möglichkeit zugestanden, dass sich am Ende eine andere Welterklärung als zutreffend erweisen kann. Die Auseinandersetzung um das angemessene Weltverständnis und die Bedeutung des Gottesgedankens ist Pannenbergs Konzeption zufolge sachgerecht und notwendig, weil die Sinntotalität, die in der christlichen Eschatologie antizipiert wird, nicht nur strittig erscheint, sondern wegen der ausstehenden Verwirklichung strittig ist.66 Der Dialog über das Verständnis der Welt und den Sinn des Weltgeschehens ist darum nicht einfach eine Option, sondern im Rahmen einer Weltdeutung, die die Strittigkeit integriert, notwendig. In den Horizont solcher Auseinandersetzung rücken dabei sowohl das Spektrum atheistischer und agnostischer Konzeptionen wie auch das Spektrum der Religionen und der christlichen Konfessionen. Wenn gegen Pannenbergs Geschichtshermeneutik und Wahrheitstheorie die subjektive Konstitution aller Erkenntnis und Sinndeutung in Anschlag gebracht wird67 , so geht damit faktisch auch ein anderes Verständnis der Möglichkeit und Notwendigkeit eines Dialogs zwischen verschiedenen Weltdeutungen einher. Wo 63 Vgl. dazu Axt-Piscalar, Theologie, 311. 64 Ebd. 65 Vgl. dazu Friederike Nüssel, Was heißt „als Geschichte“? Zur christologischen Fundierung des offenbarungstheologischen Programms, in: Gunther Wenz (Hrsg.), Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, Pannenberg-Studien Bd. 4, Göttingen 2018, 71–91. 66 Siehe dazu Christine Axt-Piscalar, Die Eschatologie in ihrer Funktion und Bedeutung für das Ganze der Systematischen Theologie Wolfhart Pannenbergs, in: KuD 45 (1999), 130–142. 67 So zum Beispiel Martin Laube, Im Bann der Sprache: die analytische Religionsphilosophie im 20. Jahrhundert, TBT 85, Berlin/New York 1999. Die Bindung der Sinnerfahrung an die subjektive Erkenntnisleistung impliziert dabei ipso facto die Kritik an der von Pannenberg behaupteten Mög-

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Sinnverstehen von der Sinndeutungsleistung des Subjekts abhängig gedacht wird, resultiert die Bedeutung des Dialogs nicht aus der Anerkennung der in der Strittigkeit gründenden Vorläufigkeit jeder Weltdeutung, sondern aus der Frage nach der (inter-)subjektiven Vergewisserung der Reichweite und Schlüssigkeit der jeweils vertretenen Position. Solange kein Konflikt für das Zusammenleben zwischen einzelnen Menschen, Gruppen und Gesellschaften mit unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen entsteht, kann der Streit über Religion und Weltanschauung unterbleiben. Pannenbergs Erklärung des christlichen Glaubens an Gott hingegen impliziert, dass die Auseinandersetzung mit anderen Weltauffassungen für die christliche Weltsicht gerade unter der Voraussetzung ihrer Strittigkeit selbst bedeutsam ist, und zwar auch dann, wenn kein akuter Konflikt mit anderen Weltauffassungen und Lebensformen bestehen sollte. Die hermeneutische These, dass der Wahrheitsanspruch des christlichen Gottesglaubens eine Sinntotalität antizipiert, deren Realisierung noch aussteht, impliziert mit der Notwendigkeit des Dialogs zugleich die Anerkennung anderer Positionen im Dialog über die Wahrheit der Welt und die Wahrheit Gottes. Diese Implikation mag gegenüber der systematischen Verteidigung des Wahrheitsanspruches des christlichen Glaubens bei Pannenberg in den Hintergrund treten. Aber indem er seinen theologischen Ansatz darauf ausrichtet, den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens vor dem Forum anderer Auffassungen auszuweisen und sie dezidiert nicht im Verweis auf die Glaubensgewissheit des Individuums erklärt68 , werden sowohl andere Wissenschafts- und Wirklichkeitsverständnisse wie auch andere Religionen69 und Konfessionen in ihrem Wahrheitsanspruch ernst genommen und als Dialogpartner anerkannt. Die Dialogfähigkeit der Theologie gründet entsprechend nicht nur in der Möglichkeit der systematischen Erklärung des christlichen Glaubens und der darin erfolgenden rationalen Selbstauslegung, wie sie Jürgen Habermas für die Beteiligung der Religionen am Diskurs über die Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates anmahnt.70 Vielmehr ist die Theologie nach Pannenberg auch darin dialogfähig, dass sie aus der Struktur der Sinnkonstitution Gründe für die Notwendigkeit des Dialogs angeben kann. lichkeit, dass den Ereignissen des Lebens und der Geschichte schon als solchen Sinn zukomme, so Pannenberg, Sinnerfahrung, 186f. 68 Vgl. dazu exemplarisch die Antwort auf Eberhard Jüngels Besprechung des ersten Bandes der Systematischen Theologie: Wolfhart Pannenberg, Den Glauben an ihm selbst fassen und verstehen. Eine Antwort, in: ZThK 86 (1989), 355–370. 69 Vgl. dazu Wolfhart Pannenberg, Die Religionen in der Perspektive der Theologie und die Selbstdarstellung des Christentums im Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen, in: Theologische Beiträge 23 (1992), 305–316. 70 Jürgen Habermas, Ansprachen aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Frankfurt a. M. 2001. Vgl. auch Ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005.

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Pannenbergs eingangs genannte Diagnose, dass heute die überlieferten Antworten des Christentums „für viele Menschen und für weite Teile des öffentlichen Bewußtseins unserer säkularen Kultur … keine zusammenfassende Auslegung der Welterfahrung und Lebensprobleme“71 mehr zu bieten scheinen, lässt sich kaum von der Hand weisen. Im Licht der Pannenbergschen Sinnhermeneutik wird man dabei einerseits davon ausgehen, dass der Richtungssinn solcher Entwicklungen selbst offen ist. Andererseits lässt sich seiner sinnhermeneutischen Fundierung des christlichen Wahrheitsanspruchs die Einsicht entnehmen, dass sich die Relevanz des Evangeliums von Gottes Offenbarung in Jesus Christus für das Verständnis der Welt und des Menschen nur in Auseinandersetzung mit der konkreten Erfahrung ihrer Strittigkeit thematisieren lässt. Das wiederum kann nur im Dialog mit aktuellen Weltdeutungen und ihren Wahrheitsansprüchen geschehen.

Literaturverzeichnis Axt-Piscalar, Christine, Die Eschatologie in ihrer Funktion und Bedeutung für das Ganze der Systematischen Theologie Wolfhart Pannenbergs, in: KuD 45 (1999), 130–142. Dies., Was ist Theologie?, Tübingen 2013. Dilthey, Wilhelm, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, hrsg. von Bernhard Groethuys 1922, in: Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Göttingen 1957. Ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hrsg. von Bernhard Groethuysen 1927, in: Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Göttingen 1958. Habermas, Jürgen, Ansprachen aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Frankfurt a. M. 2001. Ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005. Leppek, Thorsten F., Wahrheit bei Wolfhart Pannenberg. Eine philosophisch-theologische Untersuchung, FSÖTh 159, Göttingen 2017. Nüssel, Friederike, Was heißt „als Geschichte“? Zur christologischen Fundierung des offenbarungstheologischen Programms, in: Gunther Wenz (Hrsg.), Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, Pannenberg-Studien Bd. 4, Göttingen 2018, 71–91. Dies., Theologia crucis? Zur Rezeption lutherischer Kreuzestheologie in Wolfhart Pannenbergs Systematischer Theologie, in: Gunther Wenz (Hrsg.), Die Christologie Wolfhart Pannenbergs, Pannenberg-Studien Bd. 6, Göttingen 2020, 171–189. Pannenberg, Wolfhart, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1977.

71 Pannenberg, Sinnerfahrung, 188.

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Ders., Die Bedeutung der Kategorien „Teil“ und „Ganzes“ für die Wissenschaftstheorie der Theologie, in: Theologie und Philosophie 53 (1978), 481–497. Ders., Sinnerfahrung, Religion und Gottesfrage, in: ThPh 59 (1984), 178–190. Ders., Den Glauben an ihm selbst fassen und verstehen. Eine Antwort, in: ZThK 86 (1989), 355–370. Ders., Die Religionen in der Perspektive der Theologie und die Selbstdarstellung des Christentums im Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen, in: Theologische Beiträge 23 (1992), 305–316.

Josef Schmidt

Gott als die „alles bestimmende Wirklichkeit“ Zum Kapitel 5 aus Wolfhart Pannenbergs Buch „Wissenschaftstheorie und Theologie“ (1973)1 Den Begriff Gottes als die „alles bestimmende Wirklichkeit“ übernimmt Pannenberg von Bultmann. In dessen Aufsatz „Welchen Sinn hat es von Gott zu reden?“ von 19252 heißt es im zweiten Satz: „Denn wo überhaupt der Gedanke ‘Gott’ gedacht ist, besagt er, dass Gott der Allmächtige, d. h. die Alles bestimmende Wirklichkeit sei“ (26). Seine Zuspitzung sieht Bultmann darin „dass Gott die unsere Existenz bestimmende Wirklichkeit ist“ (29); „will man von Gott reden, so muß man offenbar von sich selbst reden“ (28). Gott kann nie unser „Objekt“, auch nicht das des Denkens werden, denn das hieße „einen Standpunkt außerhalb Gottes“ (26) einzunehmen, was uns nicht möglich ist. Gott umfasst uns und ist uns nur als unsere Existenz begründender „Anspruch“ (27 f) gegenwärtig. Während im Aufsatz von Bultmann der Begriff der „alles bestimmenden Wirklichkeit“ nur einmal, nämlich am Anfang, vorkommt, ist er bei Pannenberg im Kapitel 5 seines Werkes „Wissenschaftstheorie und Theologie“ der leitende Begriff und als solcher allgegenwärtig. Er wird auf diese Weise auch von Bultmanns alleiniger Fokussierung auf die Existenz des Menschen gelöst und erst so voll ausgeschöpft. Nach Pannenberg muss der „Gottesgedanke an seinen eigenen Implikationen gemessen und geprüft“ werden (302). „Der Gedanke Gottes als der seinem Begriff nach alles bestimmenden Wirklichkeit ist an der erfahrenen Wirklichkeit von Welt und Mensch zu bewähren. Gelingt solche Bewährung, dann ist sie nicht durch eine dem Gottesgedanken äußerliche Instanz erfolgt, sondern das Verfahren erweist sich dann als der Form des ontologischen Gottesbeweises gemäß, als Selbsterweis Gottes“ (302). Mit dieser Inanspruchnahme des ontologischen Gottesbeweises durch Pannenberg, ist auch eine interessante Interpretation dieses Beweises selbst gegeben. Der Beweisschritt zur Wahrheit der Existenz Gottes wird damit nicht einem vom Sein zunächst abgelösten Begriff entnommen, sondern als ein Implikat der Erfahrung gewonnen. Dieses Implikat ist dann als nicht mehr übersteigbare,

1 Alle Zitatangaben, die nicht anderweitig zugeordnet sind, stammen aus diesem Buch. Aus zwei weiteren Werken Pannenbergs wird zitiert: Systematische Theologie Bd. I (STh I) Göttingen 1988; Beiträge zur systematischen Theologie, Bd I. Philosophie, Religion, Offenbarung (BSTh I), Göttingen 1999. 2 in: R. Bultmann, Glauben und Verstehen I, Tübingen 1966, 26–37.

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nicht mehr transzendierbare Wirklichkeit die „alles bestimmende Wirklichkeit“, die sich somit in der Erfahrung selbst bekundet. Diese Interpretation dürfte dem Anselmischen Beweis durchaus entsprechen, insofern sich für ihn das Erfassen einer nicht mehr transzendierbaren Wirklichkeit nicht aus einem axiomatisch vorangestellten Begriff ergibt, dessen Aufstellung man genau so gut bleiben lassen könnte, sondern aus dem „nequire“, „non posse“ eines bereits vorhandenen „cogitare“ also der immer schon vorgängigen Vernunft, für die es eben nicht möglich, weil widersprüchlich, ist, ein immer noch Übersteigbares als Letztgröße zu denken, also das immer Bedingte als selbst Unbedingtes zu denken und die sich deshalb auf ein eigenständig Unbedingtes und „Größtes“ bezogen sieht. Diese Grundreflexion der Vernunft ist gebunden an Existenzgewissheit und Erfahrung, deren Erhellung sie ist, indem sie die letzte Bedingtheit dieser Gegebenheiten freilegt. Auch wenn diese und ähnliche Argumentationen durchaus stimmig sind, sind sie in ihrer Intention dennoch nicht zum Abschluss gebracht, wie es die Gottesbeweise häufig behaupten. Pannenberg betont immer wieder, dass sie gerade in ihren Ergebnissen weitergedacht werden müssen. Es könnten sich aus ihnen Konsequenzen ergeben, die ihre Beweiskraft rückwirkend in Frage stellen. Wie etwa ist die „Bestimmung“ unserer Erfahrung und unserer Existenz zu denken ohne dass diese zugleich in ihrer Selbständigkeit vernichtet werden, wenn sie denn aus einer absoluten Bestimmung hervorgehen sollen? In solcher Perspektive bleibt der bereits gewonnene Gottesbegriff „hypothetisch“ (302), verlangt also nach weiterer „Verifizierung“. Wir werden darauf noch zurückkommen müssen. Um den Begriff der „alles bestimmenden Wirklichkeit“ als Implikat unserer Erfahrung aufzuzeigen, setzt Pannenberg zu weit ausgreifenden Analysen an (206–224). Der Besonderheit der Geisteswissenschaften entnimmt er den SinnBegriff. Unsere Erfahrung ist durch das Subjekt-Objekt-Verhältnis konstituiert, dessen Einheit die erlebte Sinn-Struktur ist. Die verschiedenen Verwendungen und Bestimmungen des Sinn-Begriffs in der Philosophie lassen nach Pannenberg drei Charakteristika erkennen: den „refererntiellen“ Sinn, der die Übereinstimmung des Satzes mit dem Sachverhalt bezeichnet, den „intentionalen“ Sinn, der den Subjektbezug zum Ausdruck bringt, und den „kontextuellen“ Sinn, der die Einbettung der einzelnen Sinnerfahrung in ihren sprachlichen und kulturellen oder ganz allgemein in ihren Erlebnis-Kontext bezeichnet. Pannenberg kann zeigen, das die einzelne Sinnerfahrung nach allen drei Aspekten auszulegen ist. Der Gesichtspunkt der Kontextualität führt dann zu folgenden Schritten, nämlich „dass jede Einzelerfahrung ihre Bestimmtheit nur im Zusammenhang eines Bedeutungsganzen hat. Daher ist der Gedanke einer Totalität der Wirklichkeit Bedingung aller Erfahrung überhaupt, Bedingung schon der Erfahrung von einzelnen Gegebenheiten“ (312). Doch diese Totalität ist nie „abgeschlossen vorhanden“, wie das in der antiken Kosmosvorstellung gedacht war, sondern geschichtlich offen (312). Dieser Unterschied ergibt sich aus der durch das

Gott als die „alles bestimmende Wirklichkeit“

Christentum hervorgehobenen Bedeutung des Individuellen, d. h. der Reflexionsund Transzendenzfähigkeit der einzelnen und kollektiven Subjektivität gegenüber einer stets vorgegebenen strukturellen Allgemeinheit des Seins im Kosmosdenken. Nach jener Individualitätsperspektive heißt dies, dass die Totalität nur stets „durch Überschreitung des Vorhandenen gedacht“ werden kann. „In solcher Antizipation [...] steckt immer schon das Element der Hypothese, ein Moment subjektiven Entwurfes, der sich im Fortgang der Erfahrung bestätigen muss oder erschüttert werden wird“ (312) „Die Wirklichkeit Gottes ist mitgegeben jeweils [...] in Entwürfen der in aller einzelnen Erfahrung mitgesetzten Sinntotalität, die ihrerseits geschichtlich sind“ (312). Eben hierin ist „die Geschichtlichkeit des Mitgegebenseins oder Manifestwerdens der göttlichen Wirklichkeit begründet“ (313). Ihre diesbezügliche Bedingtheit muss als „Selbstbedingen Gottes“ gedacht werden, „denn es würde dem Gedanken Gottes als der alles bestimmenden Wirklichkeit widersprechen, wenn er anders als durch sich selbst zugänglich wäre“ (313). Es zeigt sich hier die Erschließungskraft des Begriffs der „alles bestimmenden Wirklichkeit“. „Implizit ist damit mitgedacht, dass diese alles bestimmende Wirklichkeit nur durch sich selbst bestimmt ist“ (304). Aber ebenso bestimmt sie den Menschen in seinem Bezug zu Gott. Ohne diese Selbstbestimmung Gottes zur Befähigung des Menschen zum Selbstsein und zur Selbstbestimmung „wäre gar kein Wissen von Gott aus der Erfahrung der Welt und aus der Selbsterfahrung des Menschen möglich“ (311 Anm). Es zeigt sich hier, wie Pannenberg den von Bultmann vorgegebenen Gottesbegriff begrifflich auszuschöpfen vermag und zwar letztlich genau im Sinn der zentralen These Bultmanns, dass es für den Menschen kein „Außerhalb“ Gottes gibt. D. h. Gott ist immer schon auf unserer Seite und ermöglicht unseren freien Bezug zu ihm. Nun zwingt dieser Begriff aber zu einem genaueren Durchdenken des Begriffs der „Totalität der Wirklichkeit“. Ist diese Totalität mit dem Kosmos identisch? Platon dachte sie durchaus differenziert, indem er die „Arche“, die Idee des Guten, als einende und den Kosmos begründende Macht zugleich in entschiedener Differenz zu ihm begriff (307). Aber dann bleibt die grundsätzliche Frage „Wie ist es uns möglich, eine Totalität zu denken, ohne zugleich etwas außerhalb ihrer zu denken?“ (307). Denn eine von anderem abgegrenzte Totalität ist eben nicht die Totalität. Wenn die Andersheit die letzte Bestimmung der Wirklichkeit wäre, auch wenn diese ins Unendliche ginge, gäbe es keine Totalität, es sei denn, es könnte widerspruchsfrei ein Außerhalb gedacht werden, von dem diese Totalität ihre Einheit erhielte. Allein für sich könnte sie ihre Einheit nie zustande bringen, weil ihre interne Andersheit ihren Zusammenschluss mit sich, d. h. ihren Selbstbezug prinzipiell verhinderte. „Was der Begriff einer Totalität alles Wirklichen – oder auch nur alles Endlichen – zu denken aufgibt, kann nur durch eine andere Kategorie, die den Gegensatz von Teil und Ganzem übergreift, seine Lösung finden“ (307).

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In seinem Aufsatz „Die Bedeutung der Kategorien ‘Teil’ und ‘Ganzes’ für die Wissenschaftstheorie der Theologie“ (1978) (BSTh I, 85–100), vertieft Pannenberg diese Überlegungen: „Der Begriff des Ganzen als des letztumfassenden Ganzen aller endlichen Wirklichkeit [...] ist also in der Theologie thematisch, ob einem das nun paßt oder nicht [...]. Gott ist nicht das Ganze des endlichen Seienden, und der Begriff des Ganzen schließt nicht Gott als einen seiner Teile in sich. Was Teil des Ganzen ist, – Teil neben anderen solchen Teilen und im Unterschied zum Ganzen, – ist eben damit endlich (im Sinne der Hegelschen Definition des Endlichen als eines Etwas im Unterschied von anderem) und kann daher nicht Gott sein. Auch das Ganze kann nicht absolut und folglich nicht Gott sein, jedenfalls dann nicht, wenn es als Ganzes seiner Teile nicht nur seinerseits das Teilsein seiner Teile konstituiert, sondern auch umgekehrt auf die Teile angewiesen ist, deren Ganzes es ist. Das bedeutet: Das Ganze kann nicht als selbstkonstitutiv gedacht werden. Als Ganzes seiner Teile ist es geeinte Einheit, die einen Grund ihrer selbst als einende Einheit voraussetzt. Als einende Einheit der Welt ist Gott von der Totalität des Endlichen verschieden, aber doch auch wieder nicht schlechthin geschieden. Wäre Gott der Totalität des Endlichen gegenüber nur verschieden, dann wäre er selber endlich und müsste folglich selber als Teil jener Totalität des Endlichen gedacht werden, die wir als Welt denken. Als die einende Einheit der Totalität des Endlichen ist zwar Gott notwendig von ihr verschieden, zugleich aber auch der Welt des Endlichen [...] ebenso notwendig immanent als fortdauernde Bedingung ihrer Einheit – entweder als Grund dieser dann selbständig fortbestehenden Einheit oder als [...] ihren Teilen gegenwärtige Kraft“ (93 f). Der Gottesbegriff als einende Einheit außer der Welt droht in die Aporie zu geraten, wenn seine Transzendenz nicht genauer durchdacht wird. Erst der Hegelsche Gedanke der „wahren Unendlichkeit“ rückt die Transzendenz des Gottesbegriffs ins rechte Licht. Zugleich muss aber auch die Immanenz der göttlichen Transzendenz noch weiter geklärt werden, ansonsten bleibt sie bloße Behauptung. Die schöpferische Bestimmung der Endlichkeit „Kraft“ zu nennen, ist noch zu unbestimmt. Es ist ja doch eine ganz spezifische Kraft gemeint, nämlich die Kraft zur Eigenkraft, zur geschöpflichen Selbständigkeit. Nur in dieser Selbständigkeit und Freiheit kann sich das Geschöpf zum Schöpfer hinwenden, sich ihm verdankend. Eben in diesem Vollzug ist Gott im Menschen immanent und zeigt sich gerade hier als die „alles bestimmende Wirklichkeit“. Pannenberg deutet noch an, dass diese Immanenz zugleich die Immanenz der Welt in Gott bedeutet (94). Der Gedanke an Kol 1, 15 f liegt hier nahe: Die Welt hat ihre Mitte in Christus gefunden, denn Gott hat sich in ihr voll ausgesprochen, indem er sie in der Mitte ihrer Substanz in seinen Selbstbezug erhoben hat Der Begriff der „alles bestimmenden Wirklichkeit“ hat hier, mit Anselm zu sprechen, sein „quo maius cogitari nequit“ erlangt. Die Argumentation über Teil und Ganzes sieht zunächst aus wie ein „Gottesbeweis“ (94). Doch Pannenberg wendet sich hier wie in ähnlichen Fällen gegen diesen

Gott als die „alles bestimmende Wirklichkeit“

Begriff. Der Grund ist der, dass trotz der Geschlossenheit solcher Argumentationen Fragen offen bleiben, deren Beantwortung keineswegs akzidentiell ist, weil, sollte sie versagen, die Argumentation rückwirkend in Frage gestellt werden könnte. Im obigen Fall nennt Pannenberg zunächst das bereits angesprochene Problem der Selbständigkeit des Endlichen und den noch ungeklärten Begriff der „Kraft“ (94). Ein tiefer liegendes Problem stellt sich aber, wenn der Beweis beendet wird mit dem Erweis einer äußerweltlichen Begründungsmacht. Hier nicht weiter gedacht zu haben hatte schwerwiegende Folgen. Es führte zu dem Vorwort der „OntoTheologie“, der von Heidegger erhoben zum Schlagwort wurde für eine Absage an die abendländische Metaphysik und die von ihr abhängigen Theologie, und zwar weil diese Onto-Theologie mit Gott als außerweltlichem Objekt ein Gefüge bildet, das einer weiteren Vermittlung bedarf, also selbst kein Letztes und Absolutes ist. Nur kann diesem polemischen Schema (mit dem vermeintlich daraus sich ergebenden Weltverständnis „Gestell“ genannt) der Vorwurf nicht erspart bleiben, dass man Hegels Gedanke der „wahren Unendlichkeit“ nicht wirklich zur Kenntnis nahm, geschweige denn dessen Konsequenzen durchdachte. Allerdings genügt es auch nicht, sich mit der abstrakten Form dieses Gedankens und seiner bloßen Wiederholung zu begnügen. Seine Pointe bedarf des Vorlaufes einer genauen Analyse des Begriffs der Unendlichkeit. Pannenberg nimmt diese Aufgabe in Angriff. Dazu ein Text aus STh I aus der Erörterung des Begriffs der Heiligkeit Gottes (429–433). „Der Begriff des Unendlichen ist nicht primär als Schrankenlosigkeit zu bestimmen [...], (denn diese) kann die Form des unbegrenzten Fortgangs in der Reihe endlicher Bestimmungen haben [...] Die Grundbestimmung im Begriff des Unendlichen aber ist der Gegensatz zum Endlichen überhaupt. Darum konnte der Begriff des Unendlichen zur Bezeichnung der göttlichen Wirklichkeit im Gegensatz zu allem Endlichen, also durch anderes Begrenzten und Vergänglichen werden“ (430). Jedoch: „Die Vorstellung des Unendlichen, die dem Endlichen nur entgegengesetzt wird, ist, wie Hegel gezeigt hat, noch nicht wahrhaft als unendlich gedacht, weil sie noch durch Abgrenzung gegen anderes bestimmt wird, durch Abgrenzung vom Endlichen nämlich [...]. Wahrhaft unendlich ist das Unendliche erst, wenn es seinen eigenen Gegensatz zum Endlichen zugleich übergreift. In diesem Sinne ist die Heiligkeit Gottes wahrhaft unendlich, weil sie dem Profanen entgegengesetzt ist, aber zugleich in die profane Welt eingeht, in sie eindringt, um sie zu heiligen [...] Die in die Welt ausgreifende Heiligung ist nach der Botschaft des Neuen Testaments vermittelt durch Jesus Christus“ (432 f). Nach Pannenberg macht erst diese Vermittlung und ihre Konkretisierung durch die Vermittlung des Hl. Geistes die „wahre Unendlichkeit“ wirklich verständlich und löst sie von der „Paradoxie“ einer bloß abstrakten Begriffsvermittlung (433). Heinrich Scholz hat gegenüber Barth auf drei „Mindestforderungen“ bestanden für die Wissenschaftlichkeit der Theologie (271 f; 329 -348): (1) Das „Satzpostulat“, dass die Theologie Behauptungen aufstellt, (2) das „Kohärenzpostulat“, dass sie

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durch einen einheitlichen Gegenstandsbereich definiert ist, und das (3). „Kontrollierbarkeitspostulat“, dass ihre Aussagen verifizierbar sind. Pannenberg übernimmt diese Forderungen. Was das erste Postulat betrifft, so verteidigt Pannenberg den „kognitiven Charakter“ theologischer Aussagen (330f). Abweichende religiöse Sprachformen wie das Gebieten oder Beten oder liturgische Sprachhandlungen wie „ich taufe dich“ setzen immer schon Behauptungen voraus wie etwa die des Glaubensbekenntnisses. Behauptungen aber beanspruchen Wahrheit und setzen einen Bezug zu dem Sachverhalt, über den sie sprechen, voraus. Dieser Sachverhalt oder Gegenstand ist letztlich immer Gott selbst. Alle Aussagen der Theologie haben diesen einen Gegenstandsbezug, sie sind immer „sub specie dei“ zu betrachten. Damit ist schon das zweite Postulat, das Kohärenz- oder Gegenstandspostulat, erfüllt. Die Wahrheit beanspruchenden Behauptungen verlangen freilich nach Verifikation. Das ist das dritte, das Kontrollierbarkeitspostulat. Ihre Verifizierung kann die Behauptung nicht selbst als solche leisten. Insofern verweist sie stets als „Hypothese“ auf die Verifizierungsnotwendigkeit zum Zweck ihrer eigenen Legitimation. Wodurch aber werden theologische Aussagen verifiziert? Die vom logischen Positivismus geforderte sinnlich empirische Verifikation reicht offensichtlich nicht aus. Strukturanalysen von Sinnerfahrungen und ihre Explikationen wie sie oben beschrieben wurden, müssen ebenso als Verifikationen gelten können. Gleiches gilt für rein begriffliche Analysen wie die bereits vorgelegten über den Unendlichkeitsbegriff. Keinesfalls darf die Reflexion selbst als Verifikationsmöglichkeit übersehen werden. Die Seinsgewissheit des „cogito sum“ ist ihre eigene reflexive Verifikation. Sogar das Nichtwiderspruchsprinzip ist zunächst eine Behauptung, deren Wahrheit sich nur durch die Reflexion auf seine Bestätigung auch durch seine Bestreitung als wahr erweist. Wahrheit überhaupt, ebenso Sein, Einheit oder Gutheit (die klassischen Transzendentalien) lassen sich in ihrer Allgemeingültigkeit nicht empirisch induktiv, sondern nur durch Reflexion ermitteln. Aber auch für die geschichtlich zukunftsorientierten und zukunftsoffenen theologischen Behauptungen bleibt die an sie zu stellende Verifizierungsforderung erhalten wie freilich auch die Möglichkeit ihr zu genügen, nur haben diese Behauptungen dann antizipativen Charakter. Grundlegend für die theologische Reflexion ist, wie wir gesehen haben, die SinnAnalyse, die zu einer in jeder Sinnerfahrung impliziten umfassenden „Sinntotalität“ führt. Die Behauptung einer solchen Totalität nennt Pannenberg die „Hypothese“ erster Stufe (336). Für das religiöse Bewusstsein ist es kennzeichnend, dass es diese Sinntotalität als Anspruch wahrnimmt, indem es in ihr die den Menschen angehende Selbstbekundung der die Sinntotalität einenden Macht wahrnimmt. Diese Wahrnehmung hat Behauptungscharakter und Pannenberg nennt sie die Hypothese zweiter Stufe, die sich auf die Hypothese erster Stufe bezieht und sie deutet. Die Theologie hat es mit diesen religiösen Auffassungen von der Selbstbekundung der göttlichen Macht in den verschiedenen Religionen zu tun und zwar in ihrer

Gott als die „alles bestimmende Wirklichkeit“

geschichtlichen Gegebenheit, und sie formuliert Behauptungen, also Hypothesen darüber, somit Hypothesen dritter Stufe. „Theologische Aussagen sind Aussagen über Wahrheit und/oder Unwahrheit von Ausprägungen des religiösen Bewusstseins; sie beziehen sich also auf das Verhältnis der expliziten Sinnbehauptungen des religiösen Bewusstseins zu den religiös, d. h. für das Verständnis des Lebensganzen relevanten Sinnimplikationen der Wirklichkeitserfahrung verschiedener Art“ (336). Der prüfende Blick der Theologie muss auf die verschiedenen Gestalten des religiösen Bewusstseins, d. h. auf die verschiedenen Religionen gerichtet sein mit der Frage nach der erhellenden Kraft, mit der die Religionen sich jeweils in der Lage sehen, die Erfahrungen ihrer Umwelt in ihr religiöses Bewusstsein aufzunehmen und zu integrieren. Die Geschichte aber stellt immer wieder neue Anforderungen an dieses Vermögen. Der einen Religion mag es besser gelingen, dieser Anforderung zu entsprechen, als der anderen. Religionen etwa, die zu stark am Vorbild einer mythischen Urzeit orientiert sind, könnten in dieser Hinsicht von der Geschichte überrollt werden. Das Christentum hat die Besonderheit, dass es geschichtliche Veränderungen selbst noch als Medium der Selbstbekundung Gottes begreifen gelernt hat, weil Gott sich geschichtlich geoffenbart hat und diese Offenbarung im je neuen Licht der Geschichte neu zu begreifen aufgibt. Anders kann es nicht sein, wenn die Geschichte Gott nicht fremd bleibt, sondern zur Schöpfung gehört, in der er sich dem Menschen zu erkennen gibt. Das Sich-Einlassen auf diese Weise der Selbstbekundung Gottes öffnet den Glauben für die Zukunft, für die Zukunft Gottes mit dem Menschen, d. h. für Gott selbst, wodurch sie für uns eine letzte Zukunft sein wird.

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Thomas Oehl

Zur Bedeutung des Wortes „Gott“

1.

„Gott“ als Eigenname – ein Problemaufriss

Dass das Wort „Gott“ ein Eigenname (oder auch ein Eigenname) ist1 , ist schon von daher offenbar, dass dieses Wort in der zweitpersonalen Anrede – etwa im Gebet – gebraucht wird. Theologie, die sich vom biblisch bezeugten und kultisch tradierten Glauben nicht eklatant entfernen will – und dies gilt für Pannenbergs Theologie zweifellos –, muss diesem Faktum Rechnung tragen. Doch die Anerkennung des Wortes „Gott“ als Eigenname bringt für die Theologie zugleich ein abgründiges Problem mit sich. Wenn die Bedeutung des Eigennamens der Träger des Eigennamens ist, so ist der Satz „Gott existiert nicht“ unsinnig; denn einen Sinn hätte er nur, wenn das Wort „Gott“ darin eine Bedeutung hätte, und die hätte es ex hypothesi nur, wenn dasjenige existieren würde, von dem der Satz behauptet, es existiere nicht. In meinem Aufsatz Theologie als Grammatik (2015)2 habe ich dieses Problem zu umgehen versucht, indem ich – dem späten Wittgenstein folgend – eine Auffassung von Bedeutung zu entwickeln suchte, der gemäß die Bedeutung von Eigennamen nicht der Träger des Eigennamens ist und der gemäß die Rede von „Gott“ insgesamt entsprechend anders zu verstehen ist. Auch wenn ich denke, dass dieser Ansatz theologisch durchaus bedenkenswert ist, so ist doch zuzugeben, dass Pannenberg ihn selbst nicht verfolgt hat und dass er schwerlich kompatibel mit dem sein dürfte, was man Pannenbergs (epistemologischen, ontologischen wie auch theologischen) „Realismus“ nennen könnte.3 Dies wirft die Frage auf, wie Pannenberg mit dem aufgewiesenen Problem umgeht, das sich gerade für ihn in besonderer Dringlichkeit stellt; denn Pannenberg betont bekanntlich gerade die Strittigkeit der theologischen Aussagen, die sowohl Signum der Wissenschaftlichkeit der Theologie als auch Signum der Geschichtlichkeit und geschichtlichen Unverfügbarkeit Gottes sein soll. Doch theologische Aussagen wären nicht strittig,

1 Dies wird von Pannenberg explizit betont. Ihm zufolge „neigt der theologische Sprachgebrauch“ (im Unterschied zum metaphysischen) sogar „dazu, die Funktion des Wortes „Gott“ als Eigenname zu bevorzugen“ (STh I, 78). 2 Thomas Oehl (2015): „Theologie als Grammatik“, in: Kerygma und Dogma 61:2, 120–156. 3 Pannenberg scheint sogar der Auffassung, dass die Bedeutung des Eigennamens dessen Träger sei, anzuhängen, da er eine Implikation dieser Auffassung vertritt: nämlich, dass Aussagen über etwas, das (darin) mit einem Eigennamen bezeichnet wird, „die Existenz ihres Gegenstandes voraussetzen“ (STh I, 73).

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wenn die Verneinung der Existenz Gottes sich nicht einmal in einem sinnvollen Satz ausdrücken ließe. Überdies merkt Pannenberg an, dass gerade das aufgewiesene Problem im Zusammenhang der Bedeutung des Wortes „Gott“ eine besondere Herausforderung für die Theologie im Angesicht des säkularen Bewusstseins darstelle. Denn das säkulare (öffentliche) Bewusstsein meint aus diesem Problem schließen zu können, das Nachdenken und Reden über Gott habe sich gründlichst erledigt – so gründlich, dass Gott, wie man sagen könnte, derart tot sei, dass von ihm nicht einmal mehr sinnvoll behauptet werden könne, er sei tot. Gott hätte dann, nach seinem von Nietzsche prophezeiten metaphysischen Tod, den noch grundsätzlicheren, semantischen Tod erlitten. Bedenkt man nun, dass die Theologie jedoch nicht leugnen darf, dass das Wort „Gott“ ein Eigenname ist, wie ich eingangs betonte, lässt sich das Problem nicht einfach dadurch lösen, dass ausgeschlossen wird, das Wort „Gott“ im Satz „Gott existiert nicht“ könne ein Eigenname sein. Pannenbergs Theologie bietet eine Lösung dieses Problems, die zwingend ist, wenn man ihre Voraussetzungen anerkennt, die ihrerseits allerdings alles andere als selbstverständlich sind. Ich will diese Lösung skizzieren und rufe dazu eine Analyse in Erinnerung, die ich in einer früheren Arbeit4 zu Pannenbergs Gedankenfigur des „unthematischen Wissens von Gott“ als einer „Intuition des Unendlichen“ gegeben habe: Pannenberg zufolge folgt aus einer rein philosophischen, also diesseits der Theologie zu etablierenden Analyse des menschlichen Bewusstseins, dass in jedem Akt des Bewusstseins das Unendliche intuiert werde. Denn jeder Akt des Bewusstseins ist endlich – schon dadurch, dass ich endlich bin –, und diese Endlichkeit sei nur möglich in Abhebung von einer Unendlichkeit, die mit der Gegebenheit des Endlichen mit-gegeben sei; da das endliche menschliche Bewusstsein nun aber wirklich ist, müsse die Unendlichkeit, von der er sich abhebt, also tatsächlich mitgegeben, also ebenso wirklich sein. Sie sei allerdings nicht einfachhin Gegenstand des Bewusstseins, da sie sonst verendlicht würde; das Unendliche sei nicht einfachhin von mir unterschieden, sondern eine Entität, in der Selbst, Welt und Gott „noch ungeschieden ineinander liegen“5 , wie Pannenberg formuliert. Daher könne ich zu ihm auch nicht im Verhältnis des Bewusstseins stehen, sondern allein im Modus der Intuition. Dass das Unendliche intuiert wird, bedeute wesentlich auch, dass es mir nicht als wohlgeformtes Objekt, sondern bloß „verworren[..]“ präsent sei, wie Pannenberg weiter sagt.6 „Ver-worren“ präsent ist es im Wortsinne, da ich mit dem so verstandenen Unendlichen ja tatsächlich existentiell ver-bunden bin,

4 Thomas Oehl (2018): „Gottes strittige Wirklichkeit und unthematisches Wissen von Gott. Zum Zusammenhang zweier Kerngedanken in Pannenbergs Theologie“, in: Gunther Wenz (Hg.): Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms [Pannenberg-Studien Bd. 4]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 119–134. 5 STh I, 125. 6 STh I, 383.

Zur Bedeutung des Wortes „Gott“

insofern auch ich selbst – gemeinsam mit Welt und Gott – in diesem Unendlichen liege. Da ich – wie paradigmatisch Descartes in seinen Meditationen gezeigt hat – mir mit Gewissheit als Bewusstsein gegeben bin, sei mir mit selber Gewissheit das Unendliche gegeben, das ich darin intuiere und zu dem ich selbst wesentlich gehöre. Diese – umstrittene und eigens zu diskutierende – Gedankenfigur Pannenbergs bietet die Lösung für das Problem, das mit dem Satz „Gott existiert nicht“ verbunden ist, wenn das Wort „Gott“ darin als Eigenname und dessen Bedeutung als Träger des Eigennamens verstanden wird. Der Satz lässt sich damit nämlich wie folgt analysieren: „Es existiert das intuierte Unendliche und das intuierte Unendliche ist nicht P“ – und an die Stelle von P lassen sich nun alle möglichen begrifflichen Bestimmungen Gottes einsetzen, mit denen ein Vertreter des Satzes „Gott existiert nicht“ begründen würde, warum er nicht existiert. Etwa: „… das intuierte Unendliche ist nicht Person, ist nicht Jesus Christus, ist nicht allwissendes Wesen, ist nicht liebendes Wesen“ etc. Dieser Satz wäre sinnvoll, da der Ausdruck „das intuierte Unendliche“ eine Bedeutung hat, da das intuierte Unendliche existiert; und zugleich kann mit diesem Satz die Existenz Gottes, insofern er näher bestimmt ist als dieses intuierte Unendliche, sinnvoll negiert werden. Allerdings ist auch diese Lösung nicht unproblematisch. Denn aufgrund der Verworrenheit des intuierten Unendlichen lässt sich bestreiten, ob es überhaupt in einer derartigen Analyse vorkommen kann, d. h. in der logischen Funktion einer Nichtidentitätsbehauptung bzw. einer negativen Prädikation, welche normalerweise die definite Identität dessen, wovon etwas behauptet wird, voraussetzen. Ich kann dieses Problem hier nicht weiter diskutieren; es sollte aber nicht zuletzt als weitere Motivation dafür genannt werden, das Wort „Gott“ als Eigenname noch genauer, tiefer und besser zu verstehen. Mein Versuch, dies zu tun, wird nun über einen Umweg führen: Es soll zunächst abgesehen werden vom Wort „Gott“ als Eigenname und eine andere logische Form des Wortes „Gott“ betrachtet werden, die uns am Ende allerdings wieder – in vertiefter Form – auf das Wort „Gott“ als Eigenname zurückführen wird.

2.

„Gott“ als prädikativer Ausdruck

Fasst man das Wort „Gott“ allein als prädikativen Ausdruck auf, verfügt man über eine einfache Lösung für das Problem, wie der Satz „Gott existiert nicht“ als sinnvoll aufgefasst werden kann. Er wäre dann nämlich nicht als Aussage über ein existierendes Wesen namens „Gott“, sondern als Aussage über einen Begriff zu verstehen – und die Aussage bestünde darin, dass dieser Begriff nicht instantiiert, sondern extensional leer ist. So sehr die Theologie an einer Lösung für das Problem interessiert ist, so wenig kann die Lösung um den Preis erkauft werden, das Wort

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„Gott“ allein als prädikativen Ausdruck und nicht auch als Eigennamen zu verstehen; denn dies wäre, wie schon gesagt, theologisch inadäquat. Dass das Wort „Gott“ auch ein prädikativer Ausdruck ist, muss theologisch allerdings ebenso anerkannt werden wie die Tatsache, dass es ein Eigenname ist.7 Der Grund dafür ist zum einen das biblische Zeugnis davon, etwa im JohannesProlog: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ (Joh 1,1) – in „Gott war das Wort“ wird „Gott“ als prädikativer Ausdruck gebraucht, was sich im Griechischen am Auslassen des Artikels zeigt (kai theos ên ho logos). Zum anderen aber ermöglicht es allein die prädikative Verwendung des Wortes „Gott“, dass – der logischen Form nach – überhaupt im intendierten Sinne einer trinitarischen Bestimmung Gottes behauptet werden kann, dass Jesus Christus Gott ist. Dies in diesem Sinne behaupten zu können, ist wiederum für die Wissenschaftlichkeit der christlichen Theologie notwendige Bedingung; und es ist entscheidend dafür, die logische Form eines Fortschritts in der Religionsgeschichte überhaupt denken zu können. Beides stellt Pannenberg in besagter Reflexion auf das Wort „Gott“ ausführlich heraus und konkludiert dialektisch: In der „christlichen Rede von der Gottheit Jesu Christi“ sei „durchaus von Demselben“ wie im „außerchristlichen Sprachgebrauch[.]“ die Rede, „nämlich von „Gott“ schlechthin, aber in anderer Weise, in der Weise einer fundamentalen Korrektur“8 . Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, den gesuchten Zusammenhang zwischen „Gott“ als Eigennamen und „Gott“ als prädikativem Ausdruck wie folgt zu verstehen: Die religionsgeschichtliche Entstehung und Festigung des Glaubens, dass nicht nur ein einziger Gott zu verehren ist (Monolatrie), sondern es auch nur einen einzigen Gott gibt (Monotheismus), lässt sich analysieren als die Überzeugung, dass das Prädikat des Gottseins nur ein einziges Mal instantiiert ist. Dies gilt für einige Prädikate, beispielsweise für das Prädikat „die kleinste Primzahl“; auch dieses ist nur einmal instantiiert. Der Ausdruck „die kleinste Primzahl“ kann daher nicht nur prädikativ, sondern zugleich wie ein Eigenname, wie das Zahlwort „zwei“, verwendet werden. Der Ausdruck ist dann eine sog. „definite Deskription“9 ; sie besteht in einer Verknüpfung von Begriffen und (sonstigen) Bestimmungen so, dass dadurch ein einziges Individuum identifiziert ist. So ist der Ausdruck „Präsident der Vereinigen Staaten von Amerika“ keine definite Deskription, weil es einige Präsidenten der Vereinigen Staaten von Amerika gibt, wohingegen „46. Präsident der Vereinigen Staaten von Amerika“ eine definite Deskription ist, weil allein Joe Biden der 46. Präsident der Vereinigen Staaten von Amerika ist und bleiben wird.

7 Auch dies stellt Pannenberg in aller Deutlichkeit in STh I, 78 heraus. 8 STh I, 78. 9 So urteilt auch Pannenberg in STh I, 78, der dort statt „definiter Deskription“ allerdings „identifizierende Beschreibung“ als terminus technicus verwendet.

Zur Bedeutung des Wortes „Gott“

Die „definite Deskription“ vermittelt also Begriffe und Eigennamen, indem sie Begriffe so verknüpft, dass sie in dieser Verknüpfung wie ein Eigenname verwendet werden können. Es ist daher zu erwarten, dass wir „Gott“ als definite Deskription verstehen müssen, um „Gott“ als Eigennamen und „Gott“ als prädikativen Ausdruck zusammendenken, als Einheit denken zu können. Allerdings fallen unmittelbar zwei formale Differenzen auf, die zwischen dem Wort „Gott“ und etwa dem Ausdruck „46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika“ bestehen: (i) Das Wort „Gott“ als solches enthält keine weiteren (begrifflichen) Bestimmungen wie der Ausdruck „46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika“, der unter anderem ein Zahlwort und den Begriff des Präsidenten enthält. Damit das Wort „Gott“ sich also als definite Deskription, die als solche ein einziges Individuum identifizieren kann, herausstellen kann, bedarf es einer Explikation des Wortsinnes in Begriffen und (sonstigen) Bestimmungen. (ii) Dass der Begriff Gott nur ein einziges Mal instantiiert ist, war nicht zu allen religionsgeschichtlichen Zeiten klar, sondern ist religionsgeschichtlich vielmehr strittig. Will man – wie Pannenberg – Gottes religionsgeschichtliche Erscheinung Gott selbst, seiner Wirklichkeit, zuschreiben, so lässt sich die Bestreitung seiner Einzigkeit nicht als bloßer Irrtum bezüglich eines ewig feststehenden logischen Faktums verstehen, sondern als die reale Ent-wicklung eines logischen Faktums selbst, das somit nicht ewig feststehend ist. So zu denken, drängt sich aber nicht nur aus der besonderen geschichtstheoretischen Gesamtanlage von Pannenbergs Theologie auf; vielmehr muss jeder so denken, der den Satz „Es gibt nur einen einzigen Gott“ als informative Aussage will denken können. Denn würde „Gott“ in dieser Aussage schon bedeuten, dass er wesentlich nur ein einziger ist, so wäre die Aussage nicht informativ, sondern ein analytischer Satz; würde „Gott“ hingegen noch nicht bedeuten, dass er wesentlich nur ein einziger ist, würde der Begriff darin eben falsch verstanden, und die Aussage wäre soweit nicht sinnvoll. Wird die Aussage hingegen so aufgefasst, dass sich mit oder in ihrer religionsgeschichtlichen Anerkennung die Bedeutung des Wortes „Gott“ tatsächlich verändert, lässt sich die Aussage eben in diesem Sinne als informativ denken – und zugleich als sinnvoll auf Basis des „alten“ Gottesbegriffs, der den Ausgangspunkt dieser Veränderung darstellt. Die Aussage bildet somit keinen statischen Sachverhalt ab, sondern dokumentiert eine historische Transformation, vollzieht sie in sich selbst nach. Nehmen wir die beiden Differenzen (i) und (ii) zusammen, so kann das Wort „Gott“ genau dann als definite Deskription aufgefasst werden, wenn in einer religionsgeschichtlichen Epoche, auf Basis einer bis dahin gültigen und anerkannten Bedeutung des Begriffs „Gott“, ein Wortsinn von „Gott“ gültig und anerkannt wird, für den folgendes gilt: Er ist eine Verknüpfung von Begriffen (und ggf. anderen Bestimmungen oder auch Eigennamen), unter die nur ein einziges Individuum fällt und die auch zu erkennen gibt, dass nur ein einziges Individuum darunter fällt. An dieser Verknüpfung von Begriffen muss sich außerdem die Veränderung der

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Bedeutung des Gottesbegriffs von einem, bezüglich dessen noch nicht festgelegt ist, ob er nur ein einziges Mal oder mehrfach instantiiert ist, zu einem, bezüglich dessen festgelegt ist, dass er nur ein einziges Mal instantiiert ist, ablesen lassen. Genau eine solche Verknüpfung von Begriffen ist biblisch bezeugt: „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ (Ex 20,2–3)

3.

„Gott“ als gewordener Eigenname

Als letzten Schritt will ich an diesem ersten Wort des Dekalogs aufzeigen, dass und auf welche Weise konkret es eine definite Deskription darstellt. Dabei werde ich die materialdogmatischen und exegetischen Gehalte nur soweit darstellen, als es zum Verständnis der logischen Form dieser definiten Deskription nötig ist, um die es ja in diesem Beitrag zu tun ist. Zunächst: Das gesamte Wort basiert auf einer Bedeutung des Wortes „Gott“ als Begriff, von dem noch nicht feststeht, ob er ein einziges Mal oder mehrfach instantiiert ist, was also zu seiner Extension gehört. Inhaltlich (oder intensional) ist dieser Begriff abstrakt und allgemein bestimmbar als, wie Pannenberg treffend sagt, „Ort […], wo es um die letzten Grundlagen der gesellschaftlichen wie der kosmischen Ordnung und um die sie verbürgenden Instanzen geht“10 . Die Instanz, die sich im Exodus als „Gott“ vorstellt, erfüllt diesen Begriff, da die Herausführung aus der Knechtschaft in Ägyptenland offenkundig konkrete Instanz von „letzte Grundlagen der gesellschaftlichen wie der kosmischen Ordnung“ ist. Somit ist es verständlich, dass der, der diese Herausführung von sich aussagt und von seinem Volk auch als solcher erfahren wurde, sich dabei als Instanz des Begriffs „Gott“ vorstellt; zugleich aber ist er als diese Instanz konkreter bestimmt als der abstrakte und allgemeine Begriff, eben als einer, der durch die Herausführung aus der Knechtschaft in Ägypten eine neue, freiheitliche Ordnung hergestellt hat oder herzustellen im Begriff ist. Dass er der einzige ist, der den Begriff „Gott“ instantiiert, zeigt sich nun darin, dass die Freiheit, die durch das Herausführen aus der Knechtschaft realisiert und erfahrbar ist, von einer einzigartigen Qualität ist: wäre eine qualitativ andersartige Ordnung gleichen Ranges, die neben ihr existieren könnte, wäre sie nicht, was sie ist – sie wäre nicht wahrhaft Freiheit, sondern eingeengte Freiheit und damit keine wahrhafte Freiheit. Von der Einzigartigkeit der Ordnung, welche die Freiheit ist, lässt sich somit auf die Einzigkeit dessen schließen, der diese Ordnung durch die Herausführung aus der Knechtschaft hergestellt hat, garantiert und letztlich ist.

10 STh I, 73.

Zur Bedeutung des Wortes „Gott“

Somit wird „der, der uns aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt hat“ eine definite Deskription und so Gottes geschichtlich gewordener Eigenname.11 Dies bedeutet, dass der so begrifflich explizierte Gottesbegriff selbst zum Eigennamen wird; dies drückt der Gott, der sich in diesem Wort vorstellt, so aus: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Im Gültigwerden und Anerkennen dieses Satzes in der Geschichte verändert sich, wie gesagt, die Bedeutung des Begriffs „Gott“; dies vollzieht sich im Inhalt des Satzes selbst: Er basiert auf dem alten, allgemeinen Begriff „Gott“, in und mit dem noch nicht festgelegt ist, ob er ein einziges Mal oder mehrfach instantiiert ist – was schon dessen pluralische Fassung („Götter“) anzeigt; das Gebot, keine anderen Götter neben ihm zu haben, lässt sich im Lichte unserer Analyse nun so verstehen: aufgrund der Einzigkeit Gottes, die sich in der Einzigartigkeit der Freiheits-Ordnung zeigt, hat es keinen Sinn mehr, andere Instanzen des Begriffs „Gott“ als ihn alleine zu behaupten. Dass der Satz allerdings nicht besagt, dies sei unmöglich, sondern als Gebot formuliert ist, ist gut begründet: Denn die Freiheit, durch welche dieser Gott sich bezeugt, wäre inkompatibel damit, nun einen Denkautomatismus im Menschen zu starten, dem gemäß er gar nicht anders kann als Gott angemessen zu denken. Dies mündet wiederum in Pannenbergs zentralen Gedanken, dass die Strittigkeit Gottes seinem geschichtlichen, freien Wesen gemäß ist. So viel in aller Kürze zum Inhaltlichen, das ich nur darstelle, soweit es nötig ist, um die logische Form der definiten Deskription und die Bedeutungsveränderung zu verstehen, um die es hier eigentlich zu tun ist. Nun gilt es, in der Explikation dieser logischen Form noch einen Schritt weiterzugehen, der sich schon mehrfach angedeutet hat: nämlich, dass diese logische Form in der Geschichte steht, dass die definite Deskription nicht ewig gleich ist, sondern erst wird, und dadurch mit ihr eine Bedeutungsveränderung möglich wird. Wir können diesen Schritt in Auseinandersetzung mit Saul Kripke gehen, der in seinem Werk Naming and Necessity (1980) überzeugend argumentiert hat, dass es eine kategoriale Differenz zwischen definiten Deskriptionen und Eigennamen gebe – beide also nicht logisch äquivalent seien, auch wenn sie in all unseren faktischen Sätzen salva veritate substituierbar sind: Während der Eigenname „Joe Biden“ auch dann auf Joe Biden referieren würde, wenn dieser die letzte Präsidentschaftswahl nicht gewonnen hätte (Kripke spricht deshalb vom Eigennamen als einem „rigid designator“), wäre eine Bezugnahme auf ihn mit der definiten Deskription „46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika“ in diesem Fall nicht möglich. Diesen Unterschied kann man mit Kripke so stark gewichten, dass man definite Deskription nicht als Eigennamen 11 Die Individualität Gottes, die mit diesem Gedanken erfasst ist, lässt sich als Grund dafür verstehen, warum Pannenberg der sprachspiel- und (damit) regeltheoretischen Bedeutungstheorie des späten Wittgenstein nicht folgen will. Von dieser nämlich befürchtet er (zurecht oder zu Unrecht), dass sie den Sinn des Individuellen nicht mehr gelten zu lassen vermag (vgl. WuTh, 214).

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auffasst – und man trifft damit zweifellos einen gewichtigen Punkt: Der Eigenname ist etwas, das unverbrüchlich mit seinem Träger verbunden sein soll, das er nicht verlieren kann. Doch dies bedeutet nicht, dass ein Eigenname nicht etwas sein kann, das jemand gewinnen kann und das ab dann unverbrüchlich mit ihm verbunden ist. Genau dies ist beim geschichtlich sich offenbarenden Gott der Fall: Er gewinnt seinen Eigennamen erst durch die Herausführung seines Volkes aus der Knechtschaft in die Freiheit; er verzichtet aus freien Stücken darauf, vorher schon einen Eigennamen zu haben, wie man sagen könnte. Dies passt genau zu Pannenbergs Idee, dass Gott wesentlich ein Gott der Zukunft ist; wir können diese Idee konkretisieren, indem wir sagen, Gott sei ein Wesen, dessen Eigennamen ihm erst wird.12 Bemerkenswerterweise finden wir diesen Gedanken im Buch Exodus ausgesprochen, ja erzählt: „Mose sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt!, und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name?, was soll ich ihnen sagen? Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde.“ (Ex 3,13–14) Gott nennt also nicht einfach seinen Eigennamen, wie wir dies tun, wenn wir uns einem Gegenüber vorstellen, sondern verweist auf seine Zukunft – und doch verneint er dadurch nicht die Frage nach seinem Eigennamen, sondern beantwortet sie sehr wohl, indem er von seinem Werden spricht, durch das auch sein Eigenname wird. Beides zusammengenommen bedeutet den Gedanken, den ich in diesem Beitrag zu entwickeln suchte: Gottes Eigenname ist ein gewordener – und zwar einer, der nach christlichem Verständnis nach dem Werden, das das Buch Exodus bezeugt, noch einmal neu geworden ist.13

12 Dieser – weitreichende – Gedanke wird von mir derzeit im Rahmen einer umfassenderen Arbeit entwickelt. 13 Dies kann hier nicht weiter verfolgt werden. Es sei in diesem Zusammenhang aber auf die – überhaupt exzellente – dialektische Erschließung des Gottesnamens von Joachim Ringleben (2018): Der lebendige Gott. Gotteslehre als Arbeit am Begriff. Tübingen: Mohr Siebeck, 89–170 verwiesen, für welche der Gedanke des „Werdens“ ebenfalls zentral ist. Auch Ringleben geht im Übrigen von der Betrachtung des Namens Gottes zu derjenigen des Begriffs Gottes über – ganz der Gliederung des vorliegenden Textes entsprechend. Die darin vorgetragene Gedankenführung ist dem Geist von Ringlebens „Arbeit am Begriff “ verpflichtet und seiner Gotteslehre – der Form wie dem Inhalt nach – eng verwandt.

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Appendix: Systematisch-werkgeschichtliche Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Theologie (1973) und Systematische Theologie Band 1 (1988) Die Gedankenführung des vorliegenden Textes wurde, was die Werke Pannenbergs angeht, primär anhand des ersten Bandes der Systematischen Theologie von 1988 entwickelt. Thema des vorliegenden Bandes aber ist die 1973, also bereits 15 Jahre früher erschienene Monographie Wissenschaftstheorie und Theologie. Die Programmatik dieser Monographie ließe erwarten, dass die im vorliegenden Text thematische Frage nach der Bedeutung des Wortes „Gott“ gerade dort behandelt wird, insbesondere, dass Pannenberg dort die sprachphilosophischen und (urteils-)logischen Grundlagen dar- und offenlegt, die für die Behandlung dieser Frage entscheidend sind. All dies zusammen wirft die Frage auf, warum im vorliegenden Text primär der erste Band der Systematischen Theologie als textueller Bezugspunkt gewählt wurde – und wie sich dieser, nach Pannenbergs eigenem Urteil wie auch nach dem Urteil des Verfassers des vorliegenden Textes, eigentlich zu Wissenschaftstheorie und Theologie verhält. Anders gesagt, stellt sich hier – anhand einer konkreten, aber zentralen Frage, nämlich nach der Bedeutung des Wortes „Gott“ – die (generell virulente) Frage nach Kontinuität und Diskontinuität in der werkgeschichtlichen Entwicklung von Pannenbergs Theologie. Hierzu abschließend drei Überlegungen: (1) Zunächst ist herauszustellen, dass Pannenberg im ersten Band der Systematischen Theologie der Reflexion auf das Wort „Gott“ einen eigenen Abschnitt widmet (2. Kapitel, erstes Unterkapitel). Dieser liest sich in weiten Teilen wie eine Summa aus Wissenschaftstheorie und Theologie: Zentrale Motive aus diesem Werk von 1973, so z. B. der Zusammenhang religiöser oder theologischer Begriffe mit geschichtlich vermittelter Erfahrung, kehren dort wieder und erscheinen in der Reflexion auf das Wort „Gott“ in einem besonders klaren Licht. Überraschend ist, dass Pannenberg in den Fußnoten dieses Abschnitts nirgends ausdrücklich auf Wissenschaftstheorie und Theologie verweist, obwohl er dies an anderen Stellen der Systematischen Theologie immer wieder tut. Bedenkt man, dass Pannenberg es dort, wo er es tut, in affirmativer, die Kontinuität seines Denkens betonender Absicht tut, liegt folgende Vermutung nahe: Seine Reflexion auf das Wort „Gott“ ruft die Motive aus seinem früheren Werk derart modifiziert auf, dass sie auch nach Pannenbergs eigenem Urteil diesem gegenüber neu, jedenfalls nicht schon in seinem früheren Werk vollgestaltig vorhanden gewesen sind. Ist diese Vermutung richtig, so bedeutet eine Auseinandersetzung mit Pannenbergs Reflexion auf das Wort „Gott“ von 1988 eine retroaktiv-vollendende Rekonstruktion und Diskussion zentraler Gedanken des Werkes von 1973. Dass die Gedankenführung des vorliegenden Textes auf die Systematische Theologie konzentriert war, bedeutet – im Sinne Pannenbergs – folglich nicht, dass damit nicht zugleich auch über Wissenschaftstheorie und Theologie gesprochen wurde.

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(2) Die Probleme, durch die der Frage nach der Bedeutung des Wortes „Gott“ ihre hier dargelegten eigentümlichen Schwierigkeiten erst zuwachsen, sind im Text von Wissenschaftstheorie und Theologie noch nicht so klar präsent wie 15 Jahre später in Pannenbergs Werk: In Wissenschaftstheorie und Theologie zeigt Pannenberg noch kein explizites Bewusstsein davon, dass die Auffassung des Wortes „Gott“ bloß als Eigenname implizieren würde, dass der Satz „Gott existiert nicht“ nicht wahr sein kann, da er nicht einmal Sinn hat – was mit Pannenbergs wissenschaftstheoretischer Überzeugung inkompatibel ist, der gemäß es eine offene Frage für die Theologie als Wissenschaft ist und zu sein hat, ob dieser Satz wahr oder falsch ist, was eben voraussetzt, dass er zunächst sinnvoll ist. Warum Pannenberg 1973 davon noch kein explizites Bewusstsein hat oder zeigt, ist eine offene Frage. Eine naheliegende Möglichkeit, sie zu beantworten, bestünde im pauschalen Hinweis auf eine eben noch bestehende Unklarheit in einem früheren, weniger reifen Werk. Abgesehen davon, dass schwer zu beweisen ist, ob diese Antwort zu halten ist, wäre sie sachlich relativ uninteressant. Interessanter ist der unter (1) schon gegebene, bestimmtere Hinweis auf das Werden und Reifen seines eigenen Denkens, insofern es seinem eigenen Selbstverständnis nach allerdings aus seiner gewordenen und gereiften Form, die es in der Systematischen Theologie angenommen hat, den früheren Werken eine retroaktive Bestimmung und Klärung zukommen zu lassen vermag. Abgesehen von dieser – immer noch zu generellen – Überlegung lassen sich zwei spezifische Befunde aus dem Text von Wissenschaftstheorie und Theologie erheben, die erklären könnten, warum Pannenberg dort noch kein explizites, klares Bewusstsein des benannten Problems hat: (a) Pannenberg legt sich dort ausdrücklich auf eine bestimmte Bedeutung des Wortes „Gott“ fest: Er bestimmt dieses Wort als „Bezeichnung“ und sagt, unter ihr sei die „alles bestimmende[.] Wirklichkeit“ zu verstehen.14 Legt man sich darauf fest, ist einleuchtend, dass Probleme, die mit dem Wort „Gott“ verbunden sind, wenn es bloß als Eigenname aufgefasst wird, nicht in den Blick kommen; denn was auch immer diese „Bezeichnung“ genau ist und impliziert, sie ist offenkundig kein bloßer Eigenname, da sie aus begrifflichen Bestimmungen (a priori) besteht. Doch verbinden sich mit Pannenbergs Festlegung zwei Probleme: Zum einen droht durch sie aus dem Blick zu geraten, dass das Wort „Gott“ auch als Eigenname muss aufgefasst werden können, will man der religiösen, insbesondere kultischen Praxis etwa des Gebets in ihrer genuinen Logik Rechnung tragen können. In diesem Zusammenhang ist besonders überraschend, dass Pannenberg diese (Bedeutungs-)Festlegung nicht als eine darstellt, die aus spezifischen Gründen seines theologischen Denkens einzugehen ist, sondern als eine, die die Geschichte des Wortes „Gott“ unhintergehbar vorgibt: „Seit sich in der patristischen Theologie

14 WuTh, 304.

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der jüdische Monotheismus mit dem philosophischen Gedanken der Einheit des Göttlichen verbunden hat, ist das abendländische Denken nicht mehr hinter diesen Gedanken zurückgegangen. Von daher also ist die Nominaldefinition des Gottesbegriffs als der alles bestimmenden Wirklichkeit vorgegeben.“15 Dies mag richtig sein, insofern die philosophisch-theologische Geschichte des Wortes „Gott“ betrachtet wird (– wenngleich auch in ihr faktisch laufender Dissens über die Bedeutung dieses Wortes besteht), nicht aber, insofern die Geschichte des Gebrauchs dieses Wortes in sämtlichen, etwa auch säkularen theoretischen Diskursen oder aber in religiös-kultischen Praktiken betrachtet wird. Dieses Problem scheint Pannenberg selbst bemerkt zu haben, weshalb er seine Reflexionen auf das Wort „Gott“ im ersten Band der Systematischen Theologie ausdrücklich mit einer diagnostischen Beschreibung der faktischen Entwicklung des Gebrauchs dieses Wortes bis hin zur (damaligen) Gegenwart anhebt.16 Zum anderen aber ist mit der (Bedeutungs-)Festlegung von 1973 nicht das zu leisten, was die Gedankenführung des vorliegenden Textes (mit Pannenberg und in seinem Sinne) zu leisten versuchte: nämlich gerade durch die formale, sprachanalytische Betrachtung des Wortes „Gott“ einen möglichst voraussetzungsarmen, wenn auch gewiss nicht erschöpfenden Zugang zu den theologischen, sodann materialdogmatischen Sachproblemen zu ermöglichen. Wird die Bedeutung des Wortes „Gott“ hingegen in einem so starken Sinne wie in Wissenschaftstheorie und Theologie festgelegt und vorausgesetzt, ist jede darauf basierende Betrachtung nicht mehr (rein) formal, sprachanalytisch, sondern bereits mit starken materialen Prämissen belastet. Nun könnte man einwenden, Pannenberg habe (möglicherweise aus guten Gründen) keine derartige formale, sprachanalytische Betrachtung verfolgen wollen. Dieser Einwand vermag für Wissenschaftstheorie und Theologie kaum zu überzeugen, sucht Pannenberg dort doch gerade den Anschluss der Theologie an philosophische Grundlegungsdebatten, die als solche formal sind. Auch in dieser Hinsicht scheint Pannenberg mit seinen Reflexionen über das Wort „Gott“ im ersten Band der Systematischen Theologie eine methodische, wenn nicht gar methodologische Modifikation vorgenommen zu haben: Er führt diese mit einer vernehmbaren Offenheit gegenüber sprachanalytischen Einsichten bezüglich dieses Wortes durch; noch wichtiger aber ist, dass er in diesem Unterkapitel selbst auf einer dezidiert formalen Ebene der Betrachtung

15 WuTh, 305 [Hvh. T.O.]. 16 Vgl. etwa STh I, 73: Es sei, so Pannenberg, „die durch dieses Wort [sc. „Gott“] benannte Wirklichkeit unsicher geworden. Im Kontext eines von Religion emanzipierten öffentlichen Bewußtseins ist der Behauptungscharakter von Aussagen über Gott, insofern sie als Aussagen die Existenz ihres Gegenstandes voraussetzen, auffälliger geworden. Das gilt sowohl für die Aussagen der Tradition philosophischer Theologie als auch für die der christlichen Überlieferung und Verkündigung. Solche Aussagen stellen sich im Kontext einer rein säkular gewordenen öffentlichen Kultur zunächst einmal als bloße Behauptungen dar, deren Wahrheit dahingestellt bleibt.“

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bleibt, was schon die Überschrift desselben anzeigt: das Wort „Gott“ ist dort Thema – und nicht unmittelbar Gott selbst oder auch „nur“ die Bedeutung des Wortes „Gott“. Dass Pannenberg das Wort „Gott“ zum Thema macht, kann nach seinem Verständnis von Theologie, dem gemäß Gott selbst (alleiniger) Gegenstand der Theologie ist17 , aber gerade nicht bedeuten, dass er damit von etwas anderem als von Gott reden wollte. Der einzige Schluss, den dies zulässt, ist also, dass Pannenberg zur Überzeugung gelangt ist, dass Gott zu denken und zu erkennen beinhalten, wenn nicht sogar als Voraussetzung haben muss, das Wort „Gott“ und seine Logik zu denken und zu erkennen. (b) Pannenberg unterscheidet in Wissenschaftstheorie und Theologie drei verschiedene Auffassungen von Sinn/Bedeutung: die referentielle, die intentionale und die kontextuelle.18 Im Zuge seiner Diskussion dieser drei Auffassungen versucht Pannenberg aufzuzeigen, dass sie jeweils Einseitigkeiten und damit verbundene Probleme aufweisen, die am besten durch eine aufhebende Verbindung aller drei Auffassungen behoben werden können. Pannenberg stellt diese Verbindung durch den – für seine Theologie charakteristischen und insgesamt bedeutsamen – Gedanken einer „Sinntotalität/Bedeutungstotalität“ her.19 Auch dies stellt eine starke hermeneutische These dar, von der – jedenfalls auf einer formalen, sprachanalytischen Ebene der Betrachtung – fraglich ist, ob sie diejenige grundlegende Plausibilität besitzt, die Pannenberg ihr zuerkennt, und ob ihre Einführung an einer bereits so frühen, grundlegenden Stelle eines theologischen Systems gerechtfertigt werden kann. Abgesehen davon aber gibt es einen spezifischen Problemstrang, der damit verbunden ist: Pannenberg läuft durch die Integration oder gar Aufhebung referentieller Bedeutung in eine Bedeutungstotalität die Gefahr, dass der Gebrauch des einzelnen Wortes „Gott“, ja letztlich jedes einzelnen Wortes, als in einem so starken Sinne von der (letztlich als „Gott“ zu identifizierenden) Bedeutungstotalität durchdrungen ist, dass eine Referenz durch das Wort „Gott“, so es als Eigenname gebraucht wird, als (bedeutungstheoretisch) notwendig gelingend gedacht werden muss. Auch dies könnte erklären, warum das im vorliegenden Text diskutierte Problem – dass im Falle von Gottes Nichtexistenz (und damit einer Nichtreferenz des Wortes „Gott“ als Eigenname) der Satz „Gott existiert nicht“ nicht falsch, sondern unsinnig wäre – von Pannenberg 1973 letztlich nicht als Problem gesehen wird. Vor diesem Hintergrund ist es als Fortschritt zu werten, dass Pannenberg in den Reflexionen über das Wort „Gott“ im ersten Band der Systematischen Theologie nicht unmittelbaren Gebrauch von der Konzeption einer Bedeutungstotalität macht, sondern das Wort und die Sätze, in denen es gebraucht wird, einer davon (zumindest

17 Vgl. dazu STh I, 15 f. 18 Vgl. WuTh, 206. 19 Vgl. WuTh, 216 ff.

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zunächst) unabhängigen kritischen Betrachtung unterzieht. Wichtig ist dies gerade auch aus Gründen, die sich aus Pannenbergs Grundidee von Wissenschaftstheorie und Theologie ergeben, dass sich theologische Sätze als verifizierbare Hypothesen verstehen lassen und die Theologie gerade so als seriöse Wissenschaft zu verteidigen ist: Diese Wissenschaftsförmigkeit der Theologie bestünde nicht mehr, wären die theologischen Hypothesen in einem so starken Sinne in die Bedeutungstotalität eingebettet, dass sie nicht mehr als einzelne aus ihr herausgehoben werden könnten, ohne es dann schlicht mit Unsinn zu tun zu haben. Überhaupt ist zu bemerken – wie ich an anderer Stelle zu zeigen versuchte20 –, dass Pannenberg in Wissenschaftstheorie und Theologie noch nicht über sein späteres, vollgestaltiges Verständnis der Konzeption der „Bedeutungstotalität“ verfügte, welches diese als eine Realisation des abstrakt-begrifflichen Verhältnisses von Unendlichkeit und Endlichkeit (unter mehreren) versteht. Entsprechend mag Pannenberg weder dessen Potential zur Lösung des benannten Problems der drohenden Unsinnigkeit des Satzes „Gott existiert nicht“ noch die neuen Probleme, die sich aus dieser Lösung ergeben (könnten), voll ermessen haben; auf beides wurde im vorliegenden Text im Zuge der systematischen Gedankenführung hingewiesen. Dass Pannenberg im Jahr 1988, also mit dem ersten Band der Systematischen Theologie und damit auch in seinen Reflexionen über das Wort „Gott“, über das volle Verständnis der Konzeption der „Bedeutungstotalität“ verfügt, liegt (wohl) darin begründet, dass er sich darüber im Zuge einer Art (nachträglicher) genuin metaphysischer Grundlegung seines theologischen Systems Klarheit verschafft hat. Diese ist manifest in einer im selben (!) Jahr 1988 erschienenen Abhandlung über Metaphysik und Gottesgedanke. Auch wenn Pannenberg sich letztlich gerade nicht auf die Auffassung verpflichten wollte, philosophische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie Sprachphilosophie seien ohne Metaphysik möglich, hat er doch – und wohl aus guten Gründen – eine Differenz zwischen jenen Disziplinen und der Metaphysik gemacht. Womöglich müssen diese Disziplinen zunächst ohne Metaphysik verfahren, um dann – im Sinne einer Abstraktion von dieser Abstraktion – in ihren metaphysischen Grund zurückgeführt zu werden. Ist dem so, ist das Fehlende in Wissenschaftstheorie und Theologie kein kontingentes Defizit, sondern eines, das sich notwendig aus dem Vorgehen von Pannenbergs philosophisch-theologischer Enzyklopädie ergibt, welche er ja gerade in Wissenschaftstheorie und Theologie angekündigt hat.21 (3) Genau dieser Gedanke lässt sich noch einmal spezifisch und konkret im Hinblick auf das Problem der Bedeutung des Wortes „Gott“ zur Geltung bringen:

20 Vgl. dazu Thomas Oehl (2018): „Gottes strittige Wirklichkeit und unthematisches Wissen von Gott. Zum Zusammenhang zweier Kerngedanken in Pannenbergs Theologie“, in: Gunther Wenz (Hg.): Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms [Pannenberg-Studien Bd. 4]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 119–134. 21 Vgl. WuTh, 6. Kapitel.

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Entspricht die im vorliegenden Text dargestellte systematische Gedankenführung Pannenbergs Theologie, so bedeutet dies, dass die Vereinigung des Wortes „Gott“ als Eigenname mit dem Wort „Gott“ als prädikativem Ausdruck erst durch die Konzeption eines gewordenen Eigennamens möglich wird. Dieser aber kann nicht unmittelbar aus dem Wort selbst, sondern nur aus der offenbarungsförmigen Selbstvorstellung Gottes gewonnen werden. Ist Wissenschaftstheorie und Theologie nun – in dem hier geforderten Sinne – formal und sprachanalytisch, also diesseits der Offenbarung, kann auf Ebene dieses Werks noch nicht auf diejenigen materialdogmatischen Gehalte Bezug genommen werden, mit welchen ein auf dieser Ebene allerdings schon auftretendes Problem, nämlich zur Bedeutung des Wortes „Gott“, gelöst werden könnte. Dann würde sich Wissenschaftstheorie und Theologie zu den materialdogmatischen Teilen der Systematischen Theologie analog wie Hegels Logik gegenüber der Real-, insbesondere der Geistphilosophie, verhalten. Dem Werk würde eine in der Sache selbst gründende Abstraktion eignen, die kein kontingentes Defizit, sondern wesentlich-negativer Vorgriff auf das positive Ganze wäre.22

22 Vgl. dazu des Näheren Thomas Oehl (2016): „Die theologische Insuffizienz des Begriffs. Zur Systemkonzeption Wolfhart Pannenbergs“, in: Gunther Wenz (Hg.): Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg [Pannenberg-Studien Bd. 2], Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 233–263.

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Wissenschaftstheorie als Theologie Zu Hegels Logik Wissenschaftstheorie ist der Versuch, den Begriff der Wissenschaft und ihre Systematik wissenschaftlich zu entfalten.1 Johann Gottlieb Fichte hat die Wissenschaft von der Wissenschaft seit 1794 Wissenschaftslehre genannt2 und diese zur fundamentalphilosophischen Grundlage aller Wissenschaften erklärt. Zugleich forderte er, worauf Wolfhart Pannenberg in der Einleitung seines 1973 erschienen Werkes „Wissenschaftstheorie und Theologie“ eigens hingewiesen hat, „in seinem ‚Deduzierten Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt‘ 1807 ‚eine philosophische Enzyklopädie der gesamten Wissenschaft als stehendes Regulativ für die Bearbeitung aller besonderen Wissenschaften‘. … Hegel hat dann“, so Pannenberg weiter, „mit seiner ‚Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse‘ 1817 Fichtes Forderung, den gesamten wissenschaftlichen Stoff

1 Vgl. H. Pulte, Art. Wissenschaftstheorie; Wissenschaftsphilosophie, in: HWPh 12, Sp. 973–981. 2 Vgl. T. van Zantwijk, Art. Wissenschaftslehre, in: HWPh 12, Sp. 965–968. Zur Logik und ihrem Begriff im Wandel der Zeiten vgl. die einschlägigen Artikel in HWPh 5, Sp. 353–482. Ihre historischen Benennungen als Dialektik, Organon, Denk-, Vernunft- oder Wissenschaftslehre etc. sind von W. Risse untersucht worden (HWPh 5, Sp. 357–362). Als Scientia Scientiarum hat die Logik nach Fichte die Aufgabe einer dialektischen Deduktion des Wissbaren aus dem Grund des Bewusstseins. Ziel ist es, die Kantische Unterscheidung zwischen formaler Logik als der Lehre von den reinen Formen des Denkens und der transzendentalen (vgl. H. Krings, Art. Logik, transzendentale, in: HWPh 5, Sp. 462–482, bes. 462–476) zu beheben. Die transzendentale Logik richtet sich in der metaphysikkritischen Absicht und in der konstruktiven Intention, die praktische Vernunft als die kanonische zu erweisen, auf die Möglichkeitsbedingungen letzter Prinzipien allen Wissens mit dem Ergebnis, dass von den obersten Vernunftideen kein objektiver, sondern nur ein regulativer Gebrauch zu machen sei. Hegel schließt an die Zielbestimmung der Fichteschen Wissenschaftslehre an, um die von dieser erstrebte Fundamentalwissenschaft explizit unter dem Titel ”Wissenschaft der Logik” zu entfalten. In dieser sollen die Gegenstände dem Denken nicht vorgegeben sein, sondern im Medium der Selbstbewegung des Begriffs generiert werden dergestalt, dass die Differenz von Denk- und Seinswissenschaften vergeht. Indem sich das Denken als Denken selbst bestimmt, gibt es sich seinen Inhalt, womit sich die Unterscheidung von formaler und materialer Logik erledigt und die transzendentale – jedenfalls dem Anspruch nach – ihre Erfüllung findet. Vgl. insgesamt St. Schick, Contradictio est regula veri. Die Grundsätze des Denkens der formalen, transzendentalen und spekulativen Logik, Hamburg 2010.

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in seiner ‚organischen Einheit‘ aufzufassen und zu durchdringen, auf seine Weise verwirklicht.”3 Für die Weise der Realisierung von Hegels enzyklopädischem Programm ist die „Wissenschaft der Logik“ von grundlegender Bedeutung, weil sie durch Bedenken des Denkens ein Wissen generiert, welches um sich weiß und so allererst einen wissenschaftlichen Umgang der Wissenschaft(en) mit sich selbst ermöglicht. Nicht von ungefähr bildet die Wissenschaft der Logik in allen Auflagen der Enzyklopädie den basalen ersten Teil, nachdem sie von Hegel zuvor schon in voller Breite monographisch entwickelt worden war. Auch in Hegels Vorlesungspraxis nehmen die Logikkollegs eine prominente Stellung ein. Dem entspricht die Bedeutung, die der Beschäftigung mit der Hegel’schen Logik bei Pannenberg und in seiner Schule von Anfang an beigemessen wurde und zwar sowohl in wissenschaftstheoretischer als auch in theologischer Hinsicht. Als exemplarischer Beleg sei die „Interpretation der Theologie G.W.F. Hegels nach seiner ‚Wissenschaft der Logik‘“ von Traugott Koch aus dem Jahr 1964 genannt, die zweite Dissertation nach der Untersuchung Ekkehard Mühlenbergs über „Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa“ (1963), welche unter der Anleitung Pannenbergs entstanden ist.4 Was ihn selbst und sein Werk über „Wissenschaftstheorie und Theologie“ betrifft, so beschließt er dessen ersten Teil zwar mit einem Kapitel über „Hermeneutik als Methodik des Sinnverstehens“ (157 ff.), weist aber zugleich nachdrücklich darauf hin, dass die Hermeneutik der Logizität der Dialektik nicht entbehren könne. Hermeneutik und Dialektik sind durch die gemeinsame Reflexion auf die Wechselbeziehung von Teil und Ganzem verbunden, heißt es. „Während aber die Herme-

3 W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973, 21. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Zum Verständnis des Titels der vorliegenden Studie, die, wie unschwer zu erkennen ist, eine (Hypo-) These enthält, vgl. aus der unüberschaubaren Sekundärliteratur zu Hegel vor allem zwei Sammelbände aus den 80er Jahren des vorherigen Jahrhunderts, in denen Pannenbergs Konzept von „Wissenschaftstheorie und Theologie“ seine Wirkung in einer größeren Öffentlichkeit entfaltet hat: 1. D. Henrich/R.-P. Horstmann (Hg.), Hegels Logik der Philosophie. Religion und Philosophie in der Theorie des absoluten Geistes, Stuttgart 1984; 2. D. Henrich (Hg.), Hegels Wissenschaft der Logik. Formation und Rekonstruktion, Stuttgart 1986. Im ersten Band ist Pannenberg mit einem eigenen Beitrag vertreten (151–159: Der Geist und sein Anderes). Der zweite bietet – in einer in mehrfacher Hinsicht grenzüberschreitenden Absicht – reichhaltige Belege dafür, dass Hegels Logik als eine Wissenschaftstheorie des Absoluten konzipiert ist; der Band ist aus einem Symposium hervorgegangen, welches das Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion gemeinsam mit der Internationalen Hegel-Vereinigung im Oktober 1980 veranstaltet hat. 4 T. Κoch, Differenz und Versöhnung. Eine Interpretation der Theologie G.W.F. Hegels nach seiner „Wissenschaft der Logik“, Gütersloh 1967. Vgl. G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“ – Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung. Eröffnung der Wolfhart PannenbergForschungsstelle an der Münchener Hochschule für die Philosophie, Philosophische Fakultät SJ, Göttingen 2015, 263.

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neutik das Ganze nur in Gestalt des Horizontes, der die Bedeutung aller Einzelheiten konstituiert und dessen Wandlungen den fortgehenden Prozeß der Interpretation veranlassen, in den Blick nimmt, die endgültige Gestalt dieses Ganzen aber dahingestellt sein lassen kann, reflektiert Dialektik auf die Totalität als solche, ohne die das einzelne gar keine definitive Bedeutung haben könnte. Weil die Dialektik die Gedankenbestimmungen selbst reflektiert, mit denen Hermeneutik in konkreter Anwendung arbeitet, muß sie die letztumfassende Totalität, die jene implizit voraussetzt und eben deshalb dahingestellt sein lassen kann, thematisieren.“ (189f.) Es ist interessant und verdient besonders bemerkt zu werden, wie zurückhaltend Pannenberg mit dem naheliegenden Vorwurf an die Adresse der Dialektik umgeht, „sie beanspruche ein Totalwissen, das die Endlichkeit menschlicher Erfahrung und menschlichen Wissens überspringe und daher nur ideologischer Natur sein könne“ (190). Zwar ist sein eigenes Verhältnis zur Hegel’schen Dialektik, die der Wissenschaft der Logik folgt, keineswegs unkritisch. Doch ist er, wie es scheint, der festen Überzeugung, dass die hermeneutische Methodik des Sinnverstehens ohne Dialektik keinen Bestand hat. Dies hat nicht nur mit der Einsicht zu tun, dass Verstehen von Sinn des begrifflichen Begreifens nicht entbehren kann, sondern auch damit, dass „das Unendliche und Absolute Bedingung der Erfahrung von irgend etwas als endlich“ (309) ist, wie Pannenberg im Anschluss an und mit Hegel sagt: „Im Bewußtsein des Endlichen sind wir schon über das Endliche hinaus und sind daher schon beim Gedanken des Unendlichen.“ (Ebd.) Es liegt in der Logik des Denkens, das Absolute zu denken und das reflexive Wissen spekulativ zu übergreifen, wie Pannenberg sagt, um hinzuzufügen, dass „faktisch auch in Hegels Verfahren die spekulative Anschauung hypothetische Funktion“ (343) gehabt habe: „Ihre dogmatische Verfestigung ist daher sogar auf dem Boden des Hegelschen Denkens selbst unangemessen.“ (Ebd.) Letzterer Annahme werden auch diejenigen zustimmen, die Pannenbergs hypothetischem Verständnis der Hegel’schen Spekulation und seiner Bestimmung des Begriffs als Vorgriff skeptisch begegnen. Unter der von allen Pannenbergschülern geteilten5 und generell plausiblen Prämisse, dass ein spekulativer Dogmatismus nicht im Sinne Hegels, sondern nach seinem Urteil im Gegenteil eine contradictio in adiecto darstellt, soll im Folgenden in den dialektischen Gang der Hegel’schen „Wissenschaft der Logik“ in Grundzügen und in der Absicht eingeführt werden, sie als ein keineswegs in sich geschlossenes, sondern offenes und selbsttranszendierendes Theoriesystem zu

5 Zur Diskussion der Hegelinterpretation Pannenbergs und seiner Schule vgl. G. Wenz, Im Werden begriffen. Zur Lehre vom Menschen bei Pannenberg und Hegel, Göttingen 2021, bes. 45ff. Aus dem näheren Umkreis der Pannenbergschule: B. Burkhardt, Hegels „Wissenschaft der Logik“ im Spannungsfeld der Kritik. Historische und systematische Untersuchungen zur Diskussion um Funktion und Leistungsfähigkeit von Hegels „Wissenschaft der Logik“ bis 1831, Zürich/New York 1993.

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erweisen, welches der realphilosophischen Durchführung bedarf, um zu sein, was es ist. Der Anfang (1.) wird, wenn man so will, mit dem Ende gemacht, nämlich mit der letzten Vorlesung, die Hegel im Jahr seines Todes zum Thema gehalten hat; zu ihr liegt eine Nachschrift seines Sohnes Karl vor, auf die wiederholt Bezug genommen wird. Alle Logikkollegs außer dem von 1831 hat Hegel unter dem Titel „Logik und Metaphysik“ angekündigt; dies will als ebenso programmatisch verstanden sein (2.) wie dasjenige, was über den Vorbegriff der Logik und ihr Verständnis als einer Wissenschaft des reinen Denkens gesagt ist (3.). Die „große“, monographisch entwickelte „Wissenschaft der Logik“ bietet ihren Stoff als objektive und subjektive Logik dar. Diese förmliche Zweiteilung wird in der enzyklopädischen Logik zugunsten der Trias von Seins-, Wesens- und Begriffslogik aufgegeben, die nun gliederungstechnisch alleinbestimmend wird. Die vorliegende Studie folgt dieser, ja auch in der monographischen Logik begegnenden Gliederung und bietet eine Skizze der Logik des Seins (4.), der Logik des Wesens (5.) sowie der egologischen Logik des Begriffs (6.), um schließlich von der begriffslogischen Egologie zur absoluten Idee (7.) fortzuschreiten, in der die bisherigen Momente im Gang der Logik aufgehoben, will heißen: bestimmt negiert, bewahrt und zur Vollendung gebracht sind. Zum Schluss (8.) wird auf Pannenbergs Hegelrezeption und diejenige Traugott Kochs Bezug genommen, der als einer der ersten Pannenbergschüler in seiner Doktorarbeit eine detaillierte Interpretation der „Wissenschaft der Logik“ vorgelegt hat.

1.

Letzte Gedanken. Hegels Logikvorlesung von 1831

Wie in jedem Sommersemester seiner Berliner Lehrtätigkeit hielt Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) auch in demjenigen seines Todesjahres 1831 ein Logikkolleg. Es ist in einer Nachschrift von Karl Hegel überliefert, dem ältesten Sohn aus der Ehe des Philosophen mit der Nürnberger Patriziertochter Marie von Tucher.6 Seit seiner Berufung an die Universität zu Berlin im Herbst 1818 las 6 G. W. F. Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Band 10: Vorlesungen über die Logik. Berlin 1831. Nachgeschrieben von Karl Hegel, hg. v. U. Rameil, Hamburg 2001 (=V 10). Zu Karl Hegel als dem Autor der Nachschrift vgl. die Einleitung von Udo Rameil in: V 10, VII–LI, hier: XLIII–XLIX; Karl Hegel (1813–1901) war vom Herbst 1856 bis zu seiner Emeritierung Geschichtsprofessor an der Universität Erlangen. Mängel seiner Nachschrift des Kollegs von 1831 sind im Wesentlichen auf Defizite der philosophischen Allgemeinbildung des damals 18–jährigen zurückzuführen. Zur fragmentarischen Nachschrift von Sigesmund Stern vgl. V 10, XLIX-LI. – Auch in den Kollegien über „Geschichte der Philosophie“ und „Philosophie des Rechts“, die sein Vater für das WS 1831/32 vorgesehen hatte, war Karl Hegel zweimal zugegen. Doch bereits am 15.11.31 musste er seiner Großmutter mütterlicherseits mitteilen: „Schon hatte der Vater angefangen, seine

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Hegel insgesamt dreizehnmal zum Thema. Angekündigt waren die Vorlesungen mit Ausnahme der letzten stets unter dem Titel „Logik und Metaphysik“; allein das Kolleg von 1831 wurde lediglich mit dem Titel „Logik“ versehen. Als Grundlage der Lehrveranstaltungen fungierten die entsprechenden Paragraphen des ersten Teils der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“: von 1819 bis 1826 die §§12–191 der Erstauflage von 1817; von 1827 bis 1829 die §§19–244 der Zweitauflage von 1827; 1830 und 1831 schließlich die entsprechend nummerierten Paragraphen der Drittauflage von 18307 . Wie die anderen Logikvorlesungen auch ist diejenige von 1831 mithin als „Erläuterung

beiden Vorlesungen zu halten, mit der größten Erwartung und Liebe ging ich daran – und nun ist es aus, alles aus.“ (G. Nicolin [Hg.], Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, Hamburg 1970, 462.) Tags zuvor, am 14. November, war Hegel gestorben, wahrscheinlich als Opfer einer in Berlin grassierenden Cholera-Epidemie. Nur noch zweimal konnte er im Wintersemester 1831/32 seine beiden – vom Sohn besuchten – Kollegien über „Geschichte der Philosophie“ und „Philosophie des Rechts“ abhalten. – Die äußeren Umstände von Hegels Tod (am Sterbetag von Leibniz) sind ebenso wie die Monate zuvor von seinem Schüler und Biographen Karl Rosenkranz ausführlich geschildert worden. (Vgl. K. Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben [1844], Darmstadt 1977, 419–428. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.) Im Sommer 1831 hatte Hegels Familie „vor der Stadt am Kreuzberg im Grunow‘schen Garten den oberen Stock eines anmuthigen Gartenhauses, des sogenannten Schlößchens“ (419), bezogen. „Die Verbindung mit der Stadt wurde so viel als möglich vermindert.“ (Ebd.) Als der Philosoph seine Lehrveranstaltungen des Sommersemesters 1831 am 26. August beendet hatte, musste auch er auf Betreiben seiner „sorgliche(n) Frau“ (ebd.). Berlin verlassen und „gänzlich in den Garten ziehen“ (ebd.), wo er, wie man erfährt, „ganz behaglich lebte“ (ebd.). Am 27. August wurde „in einem der weitläufigen Säle des in der Nähe des Kreuzbergs gelegenen Lustortes Tivoli“ (ebd.) im kleinen Freundeskreis Hegels 61. Geburtstag gefeiert. „Kaum war nach dem Champagner der Kaffe eingenommen, als ein furchtbares Gewitter heraufzog, welches“, wie es heißt, „die meisten zur schnellen Entfernung bestimmte; auch Hegel eilte nach seiner nahgelegenen Wohnung.“ (419f.) Nach einer anderen Version fand die gewittrige Tivolifeier erst einen Tag später am 28. August, also am 82. Geburtstag des Olympiers statt. Wie auch immer: Bis Ende Oktober harrte Hegel im Gartenhaus aus und wartete angesichts der langsam herankriechenden Seuche vergleichsweise guter Dinge ab, was da werden wird. Erst mit Beginn des Wintersemesters zog er wieder in die Stadt – über den Sommer und Spätsommer war der Philosoph nicht müßig; er hatte, wie Rosenkranz schreibt, „eine neue Ausgabe seiner Logik zu veranstalten angefangen und den ersten Theil beendigt, in welchem die Einleitung weiter ausgeführt und das Capitel vom Begriff Unendlichgroßen und Unendlichkleinen mit bestimmter Beziehung auf die Lehren der berühmtesten Mathematiker sehr vervollständigt ward. Am 7. November schloß er die Vorrede, in welcher er sich so deutlich als möglich über seinen Begriff des Logischen ausdrückte und am Schluß die Befürchtung aussprach, ob in einer politisch so aufgeregten, so auf die Oberfläche des Tages hingerissenen Zeit für den Ernst mit der leidenschaftlosen Stille denkender Erkenntniß noch Raum übrig sein werde. Eine unendliche Wehmuth schleicht durch diese letzten Zeilen.“ (421) Zu den letzten Lebensmonaten Hegels vgl. auch die „dem kongenialen Hegel-Biographen Karl Rosenkranz“ gewidmete Biographie K. Viewegs, Hegel. Der Philosoph der Freiheit, München² 2020, 669–672. 7 G. W. F. Hegel, Hauptwerke in sechs Bänden. Band 6: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Hamburg/Darmstadt 1999 (=Enz.3 ).

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und Kommentierung“ (V10, IX) der enzyklopädischen Logik gestaltet und zwar derjenigen von 1830, deren Kenntnis der Philosoph bei seinen Hörern voraussetzte. Nicht selten wurde und wird die Meinung vertreten, die Darstellung, welche Hegel seiner Philosophie in Form akademischer Vorträge gegeben habe, sei im Vergleich zu ihrer diskursiven Explikation in Monographen minderwertig und daher vernachlässigbar. Doch verkennt diese Einschätzung mit der Tatsache, dass die Wirkungsgeschichte der Hegel’schen Philosophie wesentlich durch den Eindruck bestimmt war, den seine Vorlesungen vermittelt haben, auch die hermeneutischen Potentiale, die in der Wechselbeziehung zwischen monographischer, kompendiarischer und kommentierender Explikation angelegt sind. Niemand wird so verwegen sein, die Nachschriften zu Hegels Vorlesungen mit einem Höchstgrad an Authentizität zu verbinden. Aber im Verein mit der Enzyklopädie und den ausgearbeiteten Monographien Hegels gelesen, leisten sie einen nützlichen und auch unentbehrlichen Dienst der Verständigung und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie in der Regel wegen des ursprünglich mündlichen Vortrags leichter verständlich sind als die von Anfang an auf Verschriftlichung angelegten Konzepte. Dies trifft auch für die Logikvorlesung von 1831 zu, die 2001 erstmals „gesondert als in sich zusammenhängender Text ediert“ (V 10, XVIII) wurde, nachdem sie „bei der Erstellung der Zusätze in der Werke-Ausgabe von 1840 keine Berücksichtigung gefunden“ (V 10, XVI) hatte. Karl Hegels Text ist kein genuines Produkt seines Vaters, sondern ein Erzeugnis aus zweiter Hand, aber möglicherweise gerade wegen des jugendlichen Alters und der noch nicht ausgereiften philosophischen Bildung seines Autors geeignet, einen ersten Zugang zu den Hegel’schen Produktionen im weiten und schwierigen Feld der spekulativen Logik zu erschließen. Um am Beispiel der Begriffe von Endlichkeit und Unendlichkeit aus dem ersten Abschnitt der Seinslogik auf entsprechend schülerhafte Weise in das methodische Vorgehen der Wissenschaft der Logik einzuführen: Die Logik des Seins bestimmt sich, wie im Einzelnen noch zu zeigen sein wird, nach Qualität, Quantität und demjenigen, was Hegel ab einem gewissen Zeitpunkt Maß zu nennen pflegte. Die Qualitätskategorie hinwiederum als erste der logischen Seinsbestimmungen wird in der Vorlesung von 1831 in dem Dreischritt von Sein, Dasein und Fürsichsein entwickelt. Nachdem der Anfang mit dem reinen Sein in seiner vermittlungslosen Unmittelbarkeit gemacht und mittels der Erkenntnis, dass das schlechterdings Unbestimmte als solches bestimmt bzw. zu bestimmen sei, die erste logische Operation vollzogen ist, geht aus Sein, Nichts und Werden logisch das Dasein hervor. Dasein wird von Hegel als Sein für Anderes qualifiziert. „Was da ist, tritt in mannigfaltige Beziehung mit Anderem, es ist so Sein für Anderes“ (V 10, 108), heißt es in der Vorlesung von 1831. Die Qualität des Daseins ist durch den Bezug zu Anderem als demjenigen vermittelt, was es nicht unmittelbar selbst ist. Das Etwas, welches es ist, ist durch Abgrenzung bestimmt. „Etwas ist nur durch [das] Moment der Negation, diese

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Negation gehört dem Ansichsein selbst an“ (V 10, 109) und bildet die Schranke, welche die Endlichkeit des Daseins ausmacht. Im Qualitätskapitel des Kollegs von 1831 hat Hegel dies bereits einleitend klargestellt: „Etwas mit seiner Bestimmtheit, das ist Negation. Etwas ist bestimmt, es hat damit eine Grenze, alles Dasein ist endlich; denn es [ist] bestimmt, Bestimmtheit ist Grenze, und dadurch endlich. Das Endliche ist Negation des Unendlichen.“ (V 10, 95) Wie aber verhält es sich mit diesem? Ist das Unendliche endlich? Nein, das ist offenkundig nicht der Fall! Bestimmt die Vorsilbe „Un-“ das Unendliche doch als das Nichtendliche und mithin als dasjenige, was das Endliche nicht ist. Das Unendliche ist durch die Negation des Endlichen bestimmt und durch den Gegensatz zu diesem definiert. Heißt das aber nicht, dass das Unendliche am Endlichen seine Grenze, sein Ende findet? Dann wäre das Unendliche nicht dasjenige, was es seinem Begriff nach zu sein beansprucht, sondern als das durch das Endliche Definierte und Begrenzte selbst endlich, nämlich dasjenige, was am Endlichen sein Ende findet. Genau so und nicht anders verhält es sich nach Hegel mit dem seinslogischen Begriff der Unendlichkeit. „Das Unendliche ist das negierte Endliche, aber das Endliche hat zur Qualität die Negation des Unendlichen.“ (Ebd.) Daraus ergibt sich, dass das das Endliche negierende Unendliche an sich selbst als vom Endlichen negiert erscheint mit der Folge, dass es selbst begrenzt, beschränkt, endlich bzw. unendlich nur im Sinne einer endlosen Reihung von Endlichem, also im Sinne dessen ist, was Hegel schlechte Unendlichkeit nennt: „(W)ir stellen uns etwa vor, wir haben eine unendliche Reihe, jedes in dieser Reihe ist ein Etwas oder ein Endliches, es wird negiert, diese Negation wird wieder negiert und wird wieder gesetzt [als] ein Anderes. Es geschieht da zweierlei; es wird über das Etwas hinausgegangen, wir haben bloß [die] Negation, aber das wird ein Anderes, das ist also [eine] Position, die Negation wird negiert, und es tritt wieder [ein] Positives ein, dadurch wird die Negation aufgegeben usw. Das ist die schlechte Unendlichkeit…“ (V 10, 114) Um wahrhaft unendlich zu sein und ihren Begriff realiter zu verwirklichen muss die Unendlichkeit den Gegensatz zum Endlichen umgreifen und als die differenzierte Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit gedacht werden, was unter seinslogischen Bedingungen nicht möglich ist, sondern erst im Zusammenhang der wesenslogisch vermittelten Logik des Begriffs und zwar in der Weise der Logizität der absoluten Idee. Die Rekonstruktion der Entwicklung, vermöge derer sich das logische Denken zum Gedanken des wahrhaft Unendlichen und der Idee des Absoluten erhebt, gehört zu den schwierigsten Unternehmungen der Hegelinterpretation und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Hegel in seinen verschiedenen Logikentwürfen die Abfolge der logischen Gedankenschritte trotz Behauptung ihrer – der in Anschlag gebrachten Selbstbewegung des Begriffs entsprechenden – Notwendigkeit zum Teil sehr variabel handhabt. Konstatiert sei einstweilen nur Folgendes: Omnis deter-

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matio est negatio. „Die Bestimmtheit eines Begriffs liegt lediglich in der Negation, d. h. im negativen Bezug auf sein Anderes. Um einen Begriff zu denken, darf man nicht im Gedanken bei ihm stehenbleiben, bei seiner bloßen Identität mit sich, sondern muß notwendig zu seinem Negativen übergehen. Dadurch wird die negative Beziehung auf sein Anderes einem Begriff immanent, und somit wird sie zu einem konstitutiven Moment des ersten Begriffs selbst.“8 Bleibt dies unbegriffen, dann kann, um es beim gewählten Beispiel zu belassen, der Gedanke des Unendlichen nicht wahrhaft gedacht werden. Das wahrhaft Unendliche fixiert sich nicht auf den Gegensatz zum Endlichen, verliert sich auch nicht im Endlichen einer infiniten Kette endlicher Momente, sondern umfasst die Differenz zum Endlichen, um dieses in sich zu integrieren. Im wahrhaft Unendlichen ist das Endliche aufgehoben, will heißen: bestimmt negiert, bewahrt und zur Vollendung gebracht. Weitere Beispiele, die der Realphilosophie näherstehen, ließen sich zur Plausibilisierung der logischen Grundoperation

8 W. Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart/Weimar 2 2010, 230. Weitere Werke vom selben Autor: Die Religionsphilosophie Hegels, Darmstadt 1983; Die Vernunft der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart/Bad Cannstatt 1986; Hegels Philosophie, Hamburg 2020. – Eine zusammenfassende Übersicht über Grundkategorien und -begriffe der Seins-, Wesens- und Begriffslogik, die für einen systematischen Einstieg hilfreich sind, bietet P. Stekeler-Weithofer in seinem Aufsatz „Verstand und Vernunft. Zu den Grundbegriffen der Hegelschen Logik“, in: Chr. Demmerling/F. Kambartel (Hg.), Vernunftkritik nach Hegel. Analytisch-kritische Interpretationen zur Dialektik, Frankfurt 1992, 139–197, hier: 187 ff. Als Motto vorangestellt ist ein Postulat, das an den berühmten Schlusssatz der „Thesen über Feuerbach“ von Karl Marx erinnert: „Die meisten Interpreten haben Hegel nur paraphrasiert. Es kommt darauf an, ihn zu begreifen.“ Die nachfolgenden Paraphrasen bemühen sich darum zumindest ansatzweise. – Zu Widerspruch und Antinomie als Geburtsort logisch-dialektischer Spekulation und zur Reflexion als absoluter Negativität vgl. etwa die instruktiven Ausführungen in Chr. Hackenesch, Die Logik der Andersheit. Eine Untersuchung zu Hegels Begriff der Reflexion, Frankfurt 1987 sowie U. Guzzoni, Werden zu sich. Eine Untersuchung zu Hegels „Wissenschaft der Logik“, Freiburg i. Br./München (1963)³ 1982. Die dialektische Progression der Logik folgt der Methode selbstangewandter Negation. So wird Sein, „indem es als Unbestimmtes begriffen wird, fortbestimmt zu Bestimmtheit. Bestimmen bestimmt sich weiter durch Opposita, durch ein Negat des Bestimmten.“ (K. Hartmann, Die ontologische Option, in: ders. (Hg), Die ontologische Option. Studien zu Hegels Propädeutik, Schellings Hegel-Kritik und Hegels Phänomenologie des Geistes, Berlin/New York 1976, 1–30, hier: 11. Indes darf die dialektische Bestimmtheitsprogression nicht als einlinig missverstanden werden, insofern der durch Negation des je anfänglichen motivierte Fortgang mit zurückgreifendem Begründen untrennbar verbunden ist, ohne das es kein vernünftiges Vorwärtskommen geben kann. Vgl. dazu U. Guzzoni, a. a. O., 48–51, hier: 50: „Der Fortgang ist in einem und zugleich Rückgang, Rückbeugung in sich, Reflexion. Die Bewegung verlässt den Anfang nur, um zu ihm zurückzukehren, zu ihm aber als dem gewordenen, an und für sich Bestimmten.“ Zum Zusammenhang von dialektischem Progress und Regress in Hegels Logik vgl. auch die Abhandlung von B. Lakebrink zu „Causalität und Finalität bei Hegel“, in: ders., Studien zur Metaphysik Hegels, Freiburg i. Br. 1969, 58–74; Der Text schließt mit einer „Zahmen Xenie“ Goethes: „Wo käme denn ein Ding sonst her,/Wenn es nicht längst schon fertig wär’?“

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anführen, etwa das berühmte Exempel von Herr und Knecht: Ein Herr, der sein Herrsein der Knechtung des Knechtes verdankt, ist in Wahrheit dessen Knecht, weil er ohne diesen seines Herrseins verlustig ginge. Ein vermeintlich Gebildeter, welcher der Selbstabsetzung vom angeblich Ungebildeten bedarf, um als gebildet zu erscheinen, ist allenfalls eingebildet, ohne echter Bildung teilhaftig zu sein. Wahrhaft gebildet kann der Gebildete nur auf jene uneingebildete Weise sein, welche die Differenz von gebildet und ungebildet transzendiert. Damit steht fest: „Dasjenige, was die Negation eines Begriffs ist, muß in diesen Begriff selbst hineingedacht werden; ein Begriff enthält somit sich und zugleich sein Negatives in sich, Identität und Nichtidentität.“9 Mit dem Hinweis, dass zur Bestimmtheit des Begriffs die Negation, der Gegensatz und Widerspruch gehört, was je und je zu bedenken ist, wenn der Begriff als bestimmter gedacht werden soll, ist die methodische Grundoperation der dialektischen Wissenschaft spekulativer Logik, aber noch nicht hinreichend ihr konkretes Vorgehen in der fortschreitenden begrifflichen Entwicklung bezeichnet, die von seins- über wesens- zu begriffslogischen Denkbestimmungen führt. Diese Entwicklung vollzieht sich – im Verein mit der stetigen Einsicht, dass zu jedem Begriff zugleich Selbstbezug und Beziehung auf sein anderes als dasjenige gehört, was er nicht ist – in der Weise einer progressiven Abstraktion von Abstraktionen, die zu immer gehaltvolleren Begriffsformationen führt, bis sich die Logizität des Denkens im Begriff des Begriffs erfüllt und vollendet. Erst im Begriff des Begriffs ist nach Hegel das wahrhaft Unendliche als die absolute Idee gedacht, deren Selbstbewegung das Denken aller Gedanken bestimmt, um zu einem Resultat zu gelangen, welches sein Gesamtbeginnen verstehen lässt.10

9 W. Jaeschke, Hegel-Handbuch, 230f. 10 Die Folgerichtigkeit und Kontinuität in der Sequenz der logischen Bestimmtheitsweisen, welche die Struktur und den Aufbau der Logik prägen, erschließen sich m. E. am leichtesten in phänomenologischer Perspektive und dadurch, dass man ihnen Gestalten erscheinenden Wissens (bewusstes Sein, Bewusstsein und Selbstbewusstsein als sich wissendes Bewusstsein) zuordnet. Vgl. dazu bes. J. Heinrichs, Die Logik der „Phänomenologie des Geistes“, Bonn 1974, wo ausführlich auf die Frage struktureller Entsprechungen zwischen der Phänomenologie als eine Lehre der Gestalten des Bewusstseins und den reinen Begriffen der Wissenschaft eingegangen wird, wie die Logik sie entfaltet. Sie fungiert auf die eine oder andere Weise als das Fundament der Bewusstseinsphänomene, steht aber zu ihnen zugleich in einem Verhältnis der Interferenz, ohne welches ihre Basisfunktion nicht erfüllt werden könnte. Dazu auch: L. B. Puntel, Darstellung, Methode und Struktur. Untersuchungen zur Einheit der systematischen Philosophie G. W. F. Hegels, Bonn 1973; H. F. Fulda, Zur Logik der Phänomenologie von 1807 (1964), in: I. Fetscher (Hg.), Hegel in der Sicht der neueren Forschung, Darmstadt 1973, 3–34. (Besonderer Aufmerksamkeit empfohlen seien zwei weitere Beiträge in dem Sammelband: 1. E. J. Fleischmann, Hegels Umgestaltung der Kantischen Logik [1965], a. a. O., 129–160 sowie D. Henrichs berühmte Abhandlung „Hegels Theorie des Zufalls“ [1958/59], a. a. O., 161–187, die mit der These einer Notwendigkeit des Zufälligen bzw. einer Notwendigkeit des Seinsganzen und der Kontingenz des Seienden auf eine Interpretation der Logik zielt, „die sich auf das

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Logik und Metaphysik

Abgesehen von der Vorlesung des Sommersemesters 1831 hat Hegel seine Logikkollegien stets unter dem Titel „Logik und Metaphysik“ angekündigt.11 Damit ist kein Doppelthema benannt, sondern programmatisch zum Ausdruck gebracht,

kritische, das skeptische Element in ihr zu beschränken“ (187) und eine Lesart zu befördern sucht, die durch Anleitung zum Seinlassen des Zufälligen eine Gelassenheit zu erschließen verspricht, die nach Urteil sowohl der praktischen als auch der theoretischen Vernunft wahrhaft vernünftig genannt zu werden verdient.) – Wichtige Anstöße für die Ausgestaltung seiner Wissenschaft der Logik hat Hegel von Aristoteles empfangen (vgl. dazu etwa A. Ferrarin, Hegel and Aristotle, Cambridge 2001, bes. 105–197 sowie T. Dangel, Hegel und die Geistmetaphysik des Aristoteles, Berlin/Boston 2013; zu Hegels Aristotelesrezeption speziell in der Wesens- und Modalargumentation vgl. F. -P. Hansen, Ontologie und Geschichtsphilosophie in Hegels „Lehre vom Wesen“ der „Wissenschaft der Logik“, München 1991, 39–77). In die Nähe von Fichtes später Wissenschaftslehre wird Hegels Logik von H.- P. Falk, Das Wissen in Hegels „Wissenschaft der Logik“, Freiburg i. Br./München 1983 gerückt, der sie als transzendentalphilosophische Theorie der Subjektivität zu verstehen sucht (vgl. bes. 164 ff.). Die auch bei Pannenberg begegnende Annahme, Hegel habe Subjektivität zu einer Art von metaphysischem Substrat hypostasiert, wird in diesem Zusammenhang entschieden zurückgewiesen. 11 Hegels Logik ist als Metaphysik der Vernunft konzipiert. Das ist der Grund, warum der Philosoph die ursprüngliche Doppeldisziplin von Logik und Metaphysik „zu einer einzigen verschmolz“ (H. F. Fulda, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, München 2003, 95). „Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik“ hat Fulda ausführlich in seiner gleichnamigen Monographie behandelt (Frankfurt a. M. 1965², 1975). Bemerkenswert sind die kritischen Anfragen, die Fulda und R. P. Horstmann gegenüber Michael Theunissens Deutung der Logik vorgetragen haben, der diese im Sinne einer Sozialtheorie der Intersubjektivität interpretiert hat (M. Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt a. M. 1978; H. Fulda/R. -P. Horstmann/M. Theunissen, Kritische Darstellung der Metaphysik. Eine Diskussion über Hegels „Logik“ (Frankfurt 1980). Sehr aufschlussreich für das Gesamtverständnis der Logik sind die Beiträge in dem Sammelband „Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels“ (Frankfurt a. M. 1978), den R.-P. Horstmann herausgegeben hat; bes. lesenswert ist darin H. F. Fuldas Beitrag zu „Hegels Dialektik als Begriffsbewegung und Darstellungsweise“ (124–174). Von Horstmann vgl. ferner: Wahrheit aus dem Begriff. Eine Einführung in Hegel, Königsstein/Taunus 1990; es handelt sich bei dem Text um das erste Kapitel der Monographie „Ontologie und Relationen“ (Frankfurt 1984). Zur programmatischen Einheit von Logik und Metaphysik vgl. ferner F. Schick, Hegels Wissenschaft der Logik – metaphysische Letztbegründung oder Theorie logischer Formen?, Freiburg/München 1994. Signifikant ist in diesem Zusammenhang das Diktum von G. Rohrmoser, Glaube und Vernunft am Ausgang der Moderne. Hegel und die Philosophie des Christentums. Hg. v. H. Seubert, St. Ottilien 2009, 162: „Hegel ist heute erledigt, weil er Metaphysiker war.“ Dass der Satz nur bedingt richtig ist, zeigen u. a. die aktuellen Bemühungen um eine Renaissance philosophischer Theologie im Anschluss an Hegel. Dazu etwa: H. G. Melichar, Die Objektivität des Absoluten. Der Ontologische Gottesbeweis in Hegels „Wissenschaft der Logik“ im Spiegel der kantischen Kritik, Tübingen 2020 oder B. Nonnenmacher, Hegels Philosophie des Absoluten. Eine Untersuchung zu Hegels „Wissenschaft der Logik“ und reifem System, Tübingen 2013.

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dass Logik als Metaphysik und Metaphysik als Logik betrieben werden soll.12 Das

12 Hegels Monographie zur „Wissenschaft der Logik“ (vgl. G. W. F. Hegel, Hauptwerke in sechs Bänden. Band 3: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik. Erstes Buch: Die Lehre vom Sein [1832]. Zweites Buch: Die Lehre vom Wesen [1813], Hamburg/Darmstadt 1999 [=WL I]. Band 4: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff, Hamburg/ Darmstadt 1999 [= WL II]. Sperrungen werden durch Kursivierungen wiedergegeben.) erschien nach Urteil ihres Autors in einer Zeit, da die Metaphysik seit knapp einem Vierteljahrhundert aus der philosophischen Wissenschaft verschwunden und „mit Stumpf und Styl“ (WL I, 5) ausgerottet war. Psychologie, Kosmologie und Theologie entbehrten ihrer ontologischen Basis; Beweise vom Dasein Gottes, vom Ursprung der Welt und der Immaterialität der Menschenseele würden nur noch historisches, kein sachliches Interesse mehr auf sich ziehen. Ursächlich für diese Entwicklung ist nach Hegel die Kantische Philosophie und ihre Lehre, dass das theoretische Erkennen an Sinnesdaten gebunden und damit das Endliche zu transzendieren nicht in der Lage sei. Daraus entwickelte sich die Überzeugung, dass allein das Praktische wesentlich sei, wohingegen die Metaphysik nur Fiktionen zu erzeugen vermöge. Auf ihre Weise teilt nach Hegel das Schicksal der Metaphysik auch die Logik, wenngleich in abgemilderter Form. Zwar werde sie wie bisher schulmäßig weiterbetrieben, doch lediglich in der Weise eines leeren Formalismus. Dem setzt Hegel sein in der Durchführung zu entwickelndes Logikprogramm entgegen, demzufolge die Methode der Logik keine andere sei als diejenige der Selbstbewegung des Begriffs, dem sein Inhalt niemals äußerlich sei, sondern der an sich selbst als begriffener Inhalt gelten könne. Es kann daher, mit Hegel zu reden, „nur die Natur des Inhalts seyn, welche sich im wissenschaftlichen Erkennen bewegt, indem zugleich diese eigne Reflexion des Inhalts es ist, welche seine Bestimmung selbst erst setzt und erzeugt.“ (WL I, 7f.) Dieser Begriffsaufgabe nicht gerecht geworden zu sein, sondern ihre Erfüllung systematisch verstellt zu haben, ist Hegels schwerwiegender Vorwurf an die Adresse Kants, in dessen Philosophie der reflektierende Verstand die Herrschaft über das Denken gewonnen und dieses um seine Vernunft gebracht habe. „Gegen die Vernunft gekehrt beträgt er sich als gemeiner Menschenverstand und macht seine Ansicht geltend, daß die Wahrheit auf sinnlicher Realität beruhe, daß die Gedanken nur Gedanken seyen, in dem Sinne, daß erst die sinnliche Wahrnehmung ihnen Gehalt und Realität gebe, daß die Vernunft, insofern sie an und für sich bleibe, nur Hirngespinnste erzeuge. In diesem Verzichtthun der Vernunft auf sich selbst geht der Begriff der Wahrheit verlohren, sie ist darauf eingeschränkt, nur subjective Wahrheit, nur die Erscheinung zu erkennen, nur etwas, dem die Natur der Sache selbst nicht entspreche; das Wissen ist zur Meynung zurükgefallen.“ (WL I, 29) Kant habe es verabsäumt, die Formen des Verstandes vernünftig fortzuentwickeln und sie über ihre Beschränktheit hinauszuführen, und sich stattdessen mit dem kritischen Resultat begnügt, dass die Verstandesformen keine Anwendung auf die Dinge an sich finden können, die damit gänzlich unbegriffen bleiben. „Jene Kritik hat also die Formen des objectiven Denkens nur vom Ding entfernt, aber sie im Subject gelassen, wie sie sie vorgefunden. Sie hat dabey nemlich diese Formen nicht an und für sich selbst, nach ihrem eigenthümlichen Inhalt, betrachtet, sondern sie lemmatisch aus der subjectiven Logik geradezu aufgenommen; so daß von einer Ableitung ihrer an ihnen selbst, oder auch einer Ableitung derselben als subjectiv-logischer Formen, noch weniger aber von der dialectischen Betrachtung derselben die Rede war.“ (WL I, 31) Ein um mehr Konsequenz bemühter transzendentaler Idealismus, wie er bei Fichte begegne, habe dann zwar dem zurückgebliebenen Gespenst des Ding-an-sich den Garaus gemacht, die Nichtigkeit dieses „von allem Inhalt abgeschiedenen Schattens“ (ebd.) erkannt und damit begonnen, „die Vernunft aus sich selbst ihre Bestimmungen darstellen zu lassen. Aber die subjective Haltung dieses Versuchs ließ ihn nicht zur Vollendung kommen“ (ebd.).

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Wort Metaphysik leitet sich vom Griechischen ta meta ta physika her, was so viel bedeutet wie: dasjenige, was hinter der Physik (sc. im Buchregal) steht. Konkret bezieht sich die Wendung auf die Anordnung, die der Peripathetiker Andronikos von Rhodos im 1. Jahrhundert den Büchern der ersten Aristotelesausgabe zuteil werden ließ. Inhaltlich umschreibt sie sonach jene aristotelischen Philosopheme, die auf die Ausführungen über die Natur folgen und sie transzendieren. Statt die weitere Entwicklung des Begriffs terminologiegeschichtlich zu verfolgen, muss der Hinweis genügen, dass in der Tradition die Unterscheidung zwischen einer metaphysica generalis und einer metaphysica specialis üblich geworden ist. Die allgemeine Metaphysik erörtert als Ontologie das Sein des Seienden und das Wesen, das alles, was ist, kategorial bestimmt. Die spezielle Metaphysik umfasst erstens die rationale Kosmologie als die Lehre von Welt als dem integralen Inbegriff des Seienden in seinem materialen Sein und im Zusammenhang des weltlichen Ganzen, zweitens die rationale Psychologie als Lehre von der Seelensubstanz bzw. vom Wesen selbstidentischer Geistentitäten sowie drittens die rationale Ontotheologie als Lehre vom fundierenden Grund und von der Erstursache alles Seins bzw. von demjenigen höchsten Sein, das als das Sein selbst allem Seienden sein Sein gibt und erhält. Durch Immanuel Kant ist die traditionelle Metaphysik in der konstruktiven Absicht einer Fundamentalkritik unterzogen worden, die theoretische Philosophie auf den praktischen Gebrauch der Vernunft umzustellen, den er den kanonischen nennt.13 An diese Kritik schließt Hegel an, ohne die Kant‘schen Konsequenzen zu ziehen, sondern mit der Intention, die Metaphysik unter erkenntniskritischen Bedingungen zu erneuern und zwar in Gestalt einer „Wissenschaft der Logik“, welche die ontologischen Seinsbestimmungen als Denkbestimmungen begrifflich erfasst, ohne eine beständige Differenz von Denken und Sein zu etablieren, die es vielmehr spekulativ zu beheben gelte. Nach Hegel ist die Logizität der Denkbestimmungen an sich selbst von ontologischer Relevanz dergestalt, dass im Verlauf ihrer begrifflichen Entwicklung die anfänglich in Anschlag zu bringende bzw. zu genetisierende Differenz von Sein und Denken aufgehoben wird. Dass dieser Aufhebungsprozess die Notwendigkeit einer erneuten Differenzierung, nämlich derjenigen von Logik und sog. Realphilosophie mit sich führt, liegt in der Logizität seines Verlaufs selbst begründet, demzufolge die Logik als Logik die Aufhebung der Differenz von Denken und Sein zwar an sich, aber noch nicht in Form jener Absolutheit vollzieht, die erst im Durchgang durch die Naturphilosophie und die Philosophie des Geistes als Resultat des Gesamtsystems in ihrer absoluten Vollendung offenbar wird.

13 Vgl. G. Wenz, Theoretische Vernunftkritik in praktischer Absicht. Eine unparteiische Erinnerung an Immanuel Kants Philosophie, in: W. Thiede (Hg.), Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionsphilosophie und die Theologie, Göttingen 2004, 11–66.

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Von der Realphilosophie isoliert und abgehoben wäre die Wissenschaft der Logik (noch) nicht, was sie zu sein bestimmt ist. Nur im Verein mit ihr und im Modus ihrer naturphilosophischen, subjektivitäts- und absolutheitstheoretischen Explikation entspricht sie der ihr eigenen Logizität. Ihr Übergang zur Philosophie der Natur und zur Philosophie des subjektiven, des objektiven und des absoluten Geistes ist ihr mithin nach Hegels Verständnis nicht äußerlich, sondern gehört ihrer internen Verfasstheit insofern an, als die innere Vollendung der Logik zu einer Freiheit des Denkens geführt hat, die den Übergang in die Realität nicht als Sprung erscheinen lässt, sondern als freie und in sich stimmige Entäußerung. Die mit dem Begriff des Begriffs erreichte absolute Idee entlässt sich selbst ohne jeden Zwang und in vollkommener Freiheit, um ihrer Logizität logosgemäß jene externe Gestalt zu geben, die als ihre freie Selbstentäußerung zu verstehen ist. Trifft dies zu, dann wäre die Wissenschaft der Logik von sich aus im Übergang zur Realphilosophie begriffen und nur als im Übergang begriffene recht zu begreifen mit der Folge, dass ihre fundamentale Bedeutung für das Gesamtsystem erst von dessen Ende her völlig einzuleuchten vermag.14 Auch wenn die Entstehungsgeschichte der „Logik“ Hegels in Jenaer und Bamberger Zeit zurückreicht15 , bilden die Nürnberger Jahre die für ihre Genese „entscheidende Phase“ (204). Die sich im Jenaer Systementwurf von 1804/05 abzeichnenden Themenbestände der seins-, wesens- und begriffslogischen Gedankenfolgen werden ausdifferenziert, die bislang zumindest formaliter in Anschlag gebrachte Unterscheidung von Metaphysik und Logik, ontologischen Seinsbestimmungen und logischen Denkbestimmungen behoben. Details zu dem an das Anfangsstadium der Logik anschließenden Überarbeitungsprozess hat W. Jaeschke in dem von ihm verantworteten Hegel-Handbuch beigebracht. Es zeigt sich, dass zwar die Grundstruktur der logischen Gedankenbestimmungen und ihrer Abfolge zeitig feststeht und sich weitgehend kontinuierlich durchhält, dass aber die Einzelanordnung und Verteilung des, wenn man so sagen darf, Materials vielfältig variiert wurden. Solche Varianten begegnen bemerkenswerterweise auch noch nach Abschluss der sozu-

14 Zur Methode der Logik und zu ihrem Zusammenhang mit der Metaphysik sowie zum Übergang von ihr zur Realphilosophie vgl. die Ausführungen von W. Jaeschke, a. a. O., 221–232 und 252–254. Die nachfolgenden Seitenverweise in diesem Abschnitt beziehen sich auf die zitierte Zweitauflage von Jaeschkes Hegel-Handbuch. Vgl. ferner die einschlägigen Artikel in dem von P. Cobben u. a. hg. Hegel-Lexikon, Darmstadt 2006. 15 Vgl. C. Goretzki, Die Selbstbewegung des Begriffs. Stufen der Realisierung der spekulativen Metaphysik Hegels in den Jahren 1801–1804/05, Hamburg 2011. Die weitere Entwicklung ist detailliert dargestellt in: R. Schäfer, Die Dialektik und ihre besonderen Formen in Hegels Logik. Entwicklungsgeschichtliche und systematische Untersuchungen, Hamburg 2001. Zur Jenaer Konzeption vgl. bes. W. Bonsiepen, Der Begriff der Negativität in den Jenaer Schriften Hegels, Bonn 1977.

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sagen klassischen Gestalt der Hegel‘schen Logik, die im zweiten Jahrzehnt der 19. Jahrhunderts bei Johann Leonhard Schrag in Nürnberg erschienen ist. Was die sog. Nürnberger Logik im Einzelnen betrifft, so ist ihr erstes Buch, die Seinslogik, im Frühjahr 1812 in ihrer Erstfassung, dreißig Jahre später, 1832, im Jahr nach Hegels Tod in einer Zweitfassung erschienen. Nachdem ihr Anfang mit der Trias von Sein, Nichts und Werden gemacht ist, werden, wie angedeutet, die Kategorien der Qualität und der Quantität bedacht, die „das begriffliche Gerüst der Seinslogik“ (234) bilden, um an ihrem Schluss in ein seit 1810/11 „Maaß“ genanntes Drittes aufgehoben und in die werdende Logik des Wesens überführt zu werden. Einen der wesenslogischen Schwerpunkte bilden sodann „die Relationsund Modalkategorien“ (ebd.), ohne für die Themenorganisation eine vergleichbare Bedeutung zu haben wie Qualität und Quantität für die seinslogische. Insgesamt ist die Disposition der Wesenslogik weitaus variabler und komplexer als diejenige nicht nur der Seinslogik, sondern auch der Logik des Begriffs, die „einen Fixpunkt in der Urteils- und Schlußlehre“ (237) findet. Ist das Denken der Seinslogik noch ganz und ohne sich eigens selbst zu bedenken seinem Gegenstand hingegeben, was in der Philosophie der Natur eine realphilosophische Entsprechung finden wird, so nimmt es in der Wesenslogik explizit auf sich Bezug, um als Reflexion in sich das Sein in seinem Gewesensein zu erinnern und so seines Wesens inne zu werden. In der Begriffslogik schließlich wird nach vollzogenem Übergang von der objektiven zur subjektiven Logik durch Begreifen dessen, was es mit Begriff, Urteil und Schluss auf sich hat, der Begriff des Begriffs und die absolute Idee entwickelt, welche der „Wissenschaft der Logik“ als treibendes Motiv zugrunde liegt, um an ihrem Schluss zu offenbarer Einsicht gebracht zu werden. Mit dem anfänglichen Sein identifizieren oder als axiomatisches Prinzip der Ontologie fassen lässt sich die absolute Idee nicht; um sie zu begreifen, bedarf es des logischen Durchgangs durch alle Denkbestimmungen und schließlich auch der Bereitschaft, sich auf die Realphilosophie einzulassen, damit sich an deren Ende mit der differenzierten Einheit von Denken und Sein auch diejenige von Logik und Metaphysik in vollendeter Weise bewahrheite. Neben der sog. großen Logik von 1812–1816 (1832) hat Hegel eine sog. kleine Logik entworfen und zwar in den drei Auflagen der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriß“ der Jahre 1817, 1827 und 1830. Die enzyklopädische Logik stimmt in ihren drei Fassungen mit der monographisch explizierten „im Ansatz und in den Grundlinien der Ausführung“ (327) „fraglos“ (ebd.) überein und zwar auch, was das Programm einer differenzierten Einheit von Logik und Metaphysik anbelangt. Es zeigen sich aber auch einige signifikante Unterschiede. Diese betreffen nicht nur Umfang und Ausführlichkeit der Darstellung. Die enzyklopädische ist nicht nur eine Miniatur der großen Logik, sondern eine „eigene Grundform der Logik“ (328) mit „eigenständige(n) Ableitungszusammen-

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hängen“ (ebd.). Die Differenzen betreffen neben dem der enzyklopädischen Logik eigentümlichen „Vorbegriff “ die Gesamtarchitektur. Die in der ausgearbeiteten „Wissenschaft der Logik“ begegnende Untergliederung in objektive und subjektive Logik entfällt in der Enzyklopädie, die allein die Roheinteilung in Seins-, Wesens- und Begriffslogik beibehält. Was die Abweichungen der beiden Grundfassungen in den einzelnen Abteilungen der Logik angeht, so sind sie in der Seinslogik „gering“ (ebd.), in der Wesenslogik hingegen erheblich und zwar insbesondere in deren erstem Teil, der vom Wesen als Reflexion in ihm selbst, so die „große“, bzw. als Grund der Existenz handelt, so die enzyklopädische Logik. Die Lage kompliziert sich weiter dadurch, dass Hegel auch im Zusammenhang der Neuauflagen der Enzyklopädie Ausgestaltungen und Neuordnungen vornimmt. „Während sich … die enzyklopädische Fassung der Wesenslogik (1817) insgesamt dem letzten Bearbeitungsstand vor der Wissenschaft der Logik annähert, greifen die beiden späteren Fassungen auch auf Gehalte und Strukturen der Wissenschaft der Logik zurück. Und auch die Überlieferung seines letzten Logik-Kollegs entwirft kein anderes Bild“ (329), wie in Jaeschkes Hegel-Handbuch unter Verweis auf die Passagen der Nachschrift Karl Hegels zu den Abschnitten über Wesen und Erscheinung geltend gemacht wird (vgl. V 10, 137–159). Bemerkenswert ist ferner der Hinweis auf die wechselnden Explikationsverhältnisse von Relations- und Modalkategorien in der Lehre von der Wirklichkeit, in der sich die Wesenslogik vollendet. Die Ausarbeitung der enzyklopädischen Form der Wesenslogik greift „erheblich“ (330) in die Gestalt ein, welche diese in der „Wissenschaft der Logik“ gefunden hat. Zu registrieren ist eine „erstaunliche Freiheit in der Disposition der logischen Elemente“ (ebd.) und ein hohes Maß an „Flexibilität in der Formulierung des … Zusammenhangs der Denkbestimmungen“ (ebd.), was angesichts der Methodenstrenge, die Hegel sich gerade in logischer Hinsicht verordnet, erstaunlich ist. Dies gilt umso mehr, als sich die zu konstatierenden Veränderungen und Modifikationen in der Strukturierung der Gedankenfolgen keiner genealogischen Erklärung fügen.

3.

Vorbegriff und Einteilung der Logik

Gegenstand der Wissenschaft der Logik ist das Denken und zwar nicht als eine geistige Tätigkeit neben anderen oder in seiner Beziehung auf sinnliche Erfahrung, sondern in seiner Idealität und Reinheit, als „die reine Idee“ (vgl. V 10, 3; vgl. 238): „Das Denken ist über dem sinnlichen Gegenstande; bei ihm muß einem Sehen und Hören vergehen; man hat da keinen festen Halt, nicht an den gewöhnlichen Vorstellungen, die uns geläufig sind; von allem diesen soll abgesehen werden, wenn wir das reine Element des Denkens betrachten.“ (V 10, 3) Abzusehen ist auch von Bewusstseinsgehalten, welche die Realphilosophie thematisiert, oder von

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individuellen Selbstbewusstseinsvollzügen jedweder Art. Die Logik thematisiert nicht dieses oder jenes Wissen, die eine oder die andere Wissenschaft; sie ist als Wissenschaftslehre Wissenschaft der Wissenschaft und darin als Logik Metaphysik: „die beiden Wissenschaften fallen zusammen.“ (V 10, 4). Nach breiten Ausführungen zum „Unterschied von Sinnlichem, Vorstellung und Gedanke“ (V 10, 11) und anderen Einleitungsfragen zur Logik wendet sich Hegel in der Vorlesung von 1831 im Anschluss an die enzyklopädische Vorlage den, wie er sagt, drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität zu, um auf diese Weise den sog. Vorbegriff der Logik zu profilieren sowie in diese und mit ihr in das spekulative Gesamtsystem einzuleiten. Wie in der Kollegvorlage, der Drittauflage der Enzyklopädie, geschieht dies in „große(r) Ausführlichkeit“ (V 10, XXIII) und unter Heranziehung spezieller Notizen. Die Stellung des Gedankens zur Objektivität ist förmlich betrachtet zum ersten diejenige der unmittelbaren Identifizierung von Denken und Gegenstand, zweitens diejenige ihrer Trennung und drittens die „Rückkehr zum ersten, aber mit [dem] Bewußtsein, daß das Denken überhaupt oder [das] Subjekt allerdings unmittelbar mit dem Gegenstande verknüpft sei, [daß] das Subjekt nicht sei ohne das Wissen des Gegenstandes, und wie es so wisse den Gegenstand, das sei wahr“ (V 10, 23). Hinzuzufügen ist, dass die durch Trennung von Denken und Gegenstand charakterisierte Stellung des Denkens zu sich zwiespältig ist, nämlich geschieden in die empiristische, welche das Objekt denkvergessen hinnimmt, als sei es ohne Wissen gegeben, und die sog. kritische, welche die Formen des Denkens ohne ihren gegenständlichen Gehalt, also so in Betracht zieht, dass „die Sache … draußen“ (ebd.) bleibt. Hinzuzufügen ist des Weiteren, dass Hegel die drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität typisierend mit drei philosophiegeschichtlichen Phasen in Verbindung bringt, und zwar just mit jenen, die auch in seiner Gegenwart noch Relevanz beanspruchen, so dass gilt: „Das Interesse jetziger Zeit dreht sich um diese Verhältnisse.“ (Ebd.) Für die „vormalige Metaphysik, wie sie vor der Kantischen Philosophie bei uns beschaffen war“, ist nach Maßgabe von §27 der Drittauflage der Enzyklopädie „die bloße Verstandes-Ansicht der Vernunftgegenstände“ (Enz.3 §27) kennzeichnend gewesen. Der Gedanke habe keine differenzierte Stellung zur Objektivität eingenommen. So sei unbedacht geblieben, um die Kollegnachschrift von 1831 zu zitieren, „daß das Denken verschieden sei von der Sache, dem Objekt“ (V 10, 23). Als Ontologie habe die überkommene Philosophie das allgemeine Wesen des Seins in vorstellungshafter Weise vergegenständlicht, als Metaphysik im Speziellen von rationaler Kosmologie, Psychologie und Theologie einen objektiven Gebrauch gemacht, ohne dessen erkenntnistheoretische Möglichkeitsbedingungen kritisch zu sondieren (vgl. V 10, 24–31). Dies sei erst durch Kant geschehen (vgl. V 10, 37–70), dessen kritische Philosophie nicht nur den Dogmatismus der überkom-

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menen Metaphysik, sondern auch den Empirismus (vgl. V 10, 32–37) durch eine transempirische Theorie der Erfahrung überwunden habe. Kants Kritik ist nach Hegels Urteil die Elementarvoraussetzung allen modernitätsspezifischen Philosophierens; sie sei aber ihrerseits zu kritisieren, damit es zu einer konstruktiven Fortentwicklung in diejenige Richtung komme, die mit der programmatisch als Metaphysik bzw. als Meta-Metaphysik konzipierten Wissenschaft der Logik angestrebt werde. Die von Denkern der Zeit wie Jacobi und Schleiermacher in Form unmittelbaren Wissens bzw. unmittelbaren Selbstbewusstseins eingenommene Stellung zur Objektivität wertet Hegel als transitorisches Moment auf dem Weg zum angestrebten Ziel, womit ein Insistieren des Wissens auf seiner Unmittelbarkeit ausgeschlossen und der Vermittlungszusammenhang eröffnet ist, den die Logik bedenkt und durch Denken in seiner Seinshaftigkeit erschließt (vgl. V 10, 70–84). Hegels Einleitung zur Logik ist seit der Zweitauflage der Enzyklopädie sehr ausführlich gestaltet und hat im Kolleg von 1831 einen so großen Umfang wie Seinsund Wesenslogik zusammen. Diese Feststellung zieht Fragen nach sich, die für die Systematik des Gesamtsystems in hohem Maße bedeutsam sind. Welcher Vorbegriff der Logik ist nötig, um ihr Beginnen zu erschließen? Wie verhalten sich die typisierten philosophiegeschichtlichen Ausführungen bzgl. der dreifachen Stellung des Gedankens zur Objektivität zur historischen und systematischen Funktion, welche der Phänomenologie des Geistes für das Gesamtsystem zukommt? Wie ist diese Funktion und der Bezug der Phänomenologie der Wissenschaft der Logik und zum spekulativen Gesamtsystem zu bestimmen? Ist ihr in Bezug auf die „große“ Logik eine analoge Aufgabe zuzuerkennen wie dem Vorbegriff der Logik in ihrer enzyklopädischen Fassung?16 Die Interpreten sind untereinander uneins, was 16 Vgl. im Einzelnen B. Bowman, Zum Verhältnis von Hegels Wissenschaft der Logik zur Phänomenologie des Geistes in der Gestalt von 1807. Ein Überblick, in: M. Quante/N. Mooren (Hg.), Kommentar zu Hegels Wissenschaft der Logik, Hamburg 2018, 1–42. Unter den weiteren Kommentarwerken seien auswahlsweise folgende benannt: A. F. Koch/F. Schick (Hg.), Wissenschaft der Logik, Berlin 2002. Aufschlussreich darin u. a. der Beitrag von H.-P. Falk, Die Wirklichkeit (163–179; vgl. ders., Das Wissen in Hegels „Wissenschaft der Logik“, Freiburg/München 1983); H. Rademaker, Hegels „Wissenschaft der Logik“. Eine Darstellung und erläuternde Einführung, Wiesbaden 1979. Zur enzyklopädischen Logik vgl. B. Lakebrink, Kommentar zu Hegels „Logik“ in seiner „Enzyklopädie“ von 1830. Band 1: Sein und Wesen, Band 2: Begriff, Freiburg/München 1979/85. Eine, wie es im Untertitel heißt „operationale Rekonstruktion“ von Hegels „Wissenschaft der Logik“ bietet Chr. G. Martin, Ontologie der Selbstbestimmung, Tübingen 2012; entwickelt die Seinslogik die Logik der Bestimmtheit (Qualität: unmittelbare Bestimmtheit; Quantität: vermittelte Bestimmtheit; Maß: selbstvermittelte Bestimmtheit), die Wesenslogik die Logik des Bestimmens, so thematisiere die Begriffslogik die Logik der Selbstbestimmung. Als Schlüssel zur „Wissenschaft der Logik“ fungiere die selbstbezügliche Negation. – Zur Stellung der Logik „als Darstellung des sich-selbst-bestimmenden Denkens, das sich als Gegenstandsbeziehung unter deren Bedingungen selber zu seinem Gegenstand macht“, vgl. auch M. Wetzel, Reflexion und Bestimmtheit in Hegels Wissenschaft der Logik,

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immerhin eines beweist, nämlich dass Hegels System systematisch nicht derart in sich geschlossen ist, wie es gelegentlich dargestellt wird. Um das vorläufige Ergebnis der Einleitung in die Logik noch einmal bündig zu umschreiben und einen Vorbegriff ihrer Logizität zu geben: Die Wissensbestände, welche die Logik expliziert, sind nicht gegenständlich, sondern allein durch Denken bestimmt. Logik ist Denken des Denkens, Wissen des Wissens und mithin ein Erkennen, das ohne „Selbsterkenntnis“ nicht zustande kommt. Wie die gesamte Philosophie, deren Grundlage sie bildet, ist die Logik selbstreferentiell und durch nichts bestimmt, was ihr bloß äußerlich ist. Ihre Denkentwicklung ist allein durch den freien Vollzug gedanklicher Selbstbestimmung bestimmt. Die Hegel‘sche Logik verfolgt das Programm, in dessen Realisierung sie ihre eigentümliche Gestalt annimmt, durch Explikation der Denkformen zugleich deren inhaltliche Bestimmtheit zu erfassen. In sich gekehrt ist der Geist in ihr dergestalt mit sich selbst beschäftigt, dass er selbstbestimmend all seiner Internbestimmungen inne zu werden sucht. Von der traditionellen allgemeinen Logik weiß sich die Hegel‘sche u. a. darin unterschieden, dass sie sich nicht in abstrakter Weise auf inhaltsneutrale Formen des Denkens besinnt, sondern in, mit und unter der Denkform zugleich des Gehalts des Gedankens ansichtig zu werden bestrebt ist, der von seiner Gestalt nicht getrennt werden kann. Auch einer transzendentalen Logik gegenüber verhält sie sich kritisch. Zwar werden die Kategorien als die grundlegenden Bestimmtheitsweisen des Denkens nicht wie in der vorkritischen Metaphysik ontologisch aufgefasst. Doch sollen sie ebensowenig lediglich als unabdingbare Möglichkeitsbestimmungen von Objekterkenntnis in Betracht kommen, sondern den Gedankengehalt denkend an

Hamburg 1971, 1–49, hier: 24. – Zu Hegels Begriff einer spekulativen Logik und zur sprachlichen Darstellung der Spekulation vgl. G. Wohlfart, Der spekulative Satz. Bemerkungen zum Begriff der Spekulation bei Hegel, Berlin/New York 1981, 225 ff. sowie die sieben eindrucksvollen Bände zu „Sprache und Bewusstsein“ von B. Liebrucks (Frankfurt a. M. 1964–1979). Ferner: J. Simon, Das Problem der Sprache bei Hegel, Stuttgart/Berlin/Mainz 1966 und die Beiträge in: R. Buchner/G. Hindrichs (Hg.), Von der Logik zu Sprache, Stuttgart 2007. Zur spezifischen Nähe der Hegelschen Logik „zur Bewegtheit von in sich über sich hinausweisenden Sätzen“ und zu ihrer eigentümlichen Sprachbezogenheit überhaupt ferner: J. Ringleben, Hegels sprachliche Logik. Ein Versuch, in: Th. S. Hoffmann/H. Neumann (Hg.), Hegel und das Projekt einer philosophischen Enzyklopädie, Berlin 2019, 111–129, hier: 127 sowie ders., Das philosophische Evangelium, Tübingen 2014. Dass der spekulative Satz samt den Sätzen der Spekulation über die Alltagssprache hinausweist, widerlegt die Nähe der Logik zur Sprache nicht, da diese nicht nur über dieses oder jenes zu sprechen, sondern sich auch über sich selbst zu verständigen vermag und insofern „in sich dialektisch“ (128) ist. Zum gesamten Problemkomplex aufschlussreich ist des Weiteren: A. F. Koch/F. Schick/K. Vieweg/C. Wirsing (Hg.), Hegel – 200 Jahre Wissenschaft der Logik, Hamburg 2014. In der Einleitung von K. Vieweg „Goethe und Hegel in Weimar“ ist folgende Episode mitgeteilt: Hegel hatte Goethe im Haus am Frauenplan besucht, woraufhin der Olympier seine Schwiegertochter Ottilie fragte, wie ihr der Gast gefallen habe: „Eigen! Ich weiß nicht, ist er geistreich oder wirr.“ (14).

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sich selbst erfassen. Weder im abstrakten Sinne der überkommenen allgemeinen Logik noch im transzendentallogischen Sinne lassen sich die Formen des Denkens von ihrer inhaltlichen Bestimmtheit ablösen. Form und Inhalt logisch zu trennen ist im schlechten Sinn des Wortes abstrakt.17 Denn in der immanenten Entwicklung des Begriffs, wie sie in der Erkenntnismethode der Logik Hegel zufolge statthat, wird begriffen, was ein Inhalt in Wahrheit beinhaltet. Aus dem skizzierten Verständnis der logischen Wissenschaft erhellt, dass sie nach Hegel nicht im Sinne einer bloß instrumentellen Funktion in Gebrauch zu nehmen ist, da sie ihrem Wesen nach metaphysische Basiswissenschaft in der Philosophie zu sein hat, freilich nach Weise einer Metaphysik, welche die Kritik der traditionellen Ontologie in sich aufzunehmen vermag. Um das Programm einer logisch entwickelten Fundamentalmetaphysik zu realisieren und den Gehalt der Gedanken in deren immanenter Vollzugsform darzustellen, muss die logische Natur, die den Geist beseelt, so zu Bewusstsein gebracht werden, dass die Denkformen als Manifestationen des bedachten Inhalts selbst erkannt werden. In seiner Vorrede zur zweiten Ausgabe der großen Logik von 1831 unterstreicht Hegel dies ebenso wie in den einleitenden Bemerkungen zum allgemeinen Begriff der Logik, die deren Durchführung vorangehen. Für die Ausführungen des Kollegs von 1831 zum Vorbegriff der Logik auf der Basis ihrer enzyklopädischen Endfassung gilt Entsprechendes. Nach Maßgabe von Hegels „großer“ Logik zerfällt diese „zwar überhaupt in objective und subjective Logik; bestimmter aber hat sie drey Theile: I. die Logik des Seyns, II. die Logik des Wesens und III. die Logik des Begriffs“ (WL I, 49). Publiziert worden ist die monographische Wissenschaft der Logik in zwei Bänden: der erste ist der objektiven Logik gewidmet und umfasst die Lehre vom Sein und vom Wesen; er erschien 1812/13. Die Seinslogik erhielt 1832 eine Neuauflage. Der zweite Logikband, der die subjektive Logik des Begriffs behandelt, wurde 1816 veröffentlicht, also im Vorjahr der Erstausgabe der Enzyklopädie. In der enzyklopädischen Logik wird, um auch dies zu wiederholen, die förmliche Zweiteilung in objektive und subjektive

17 Inhalt der Erkenntnis und Form der Erkenntnis lassen sich nach Hegel nicht sondern. Vielmehr müsse die Grundannahme einer solchen Sonderung, dass nämlich der Stoff des Erkennens außerhalb derselben, also außerhalb des Denkens als eine an und für sich vorhandene Welt gegeben sei, als irrig durchschaut werden. Nicht als ob der Gegenstand des Denkens ein dem Denken jenseitiges Ding an sich sei, dem sich der Gedanke äußerlich anzubequemen habe – eine solche Abstraktion endet in völliger Unbestimmtheit und verliert mit dem gedanklich bestimmten Inhalt diesen selbst. Zwar leugnet Hegel nicht, dass das Alltagsbewusstsein durch eine Subjekt-Objekt-Spaltung bestimmt sei dergestalt, dass die Gegenstandswelt dem subjektiven Bewusstsein als unvermittelt gegenüberstehend erscheine. Doch sei es nicht nur naiv, sondern für das logische Denken ruinös, diese Gegenüberstellung in unbedachter Selbstverständlichkeit zur Voraussetzung der Philosophie zu erklären. Denn deren Aufgabe sei es zu begreifen, dass alle Gegebenheit gedanklich vermittelt und Gedanken nur dann nicht gehaltlos sind, wenn sie Inhalte bewegen.

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Logik aufgegeben und die Dreiteilung in die Lehre von Sein, Wesen und Begriff für die Gliederung alleinbestimmend. Die Seinslogik soll den Gedanken in seiner Unmittelbarkeit, den Begriff an sich entwickeln, die Wesenslogik als Logik der Reflexion und Vermittlung das Fürsichsein des Begriffs, die Begriffslogik schließlich sein An-und-Für-sich-sein, sein Bei-sich-sein als vollendetes Zurückgekehrtsein in sich bedenken. In ihr, der Begriffslogik, erfüllt sich die spekulative Logik und gelangt im Ausgang von ihrer abstrakt-verständigen und im Durchgang durch die dialektische oder negativ-vernünftige in ihre positiv-vernünftige Gestalt (vgl. Enz3 §79–82). Das Spekulative in seiner positiven Vernünftigkeit ist, mit der Kollegnachschrift Karl Hegels zu reden, kurzum dies: „Es ist nicht Einheit allein, nicht Entgegensetzung allein, sondern beides zusammen, das Affirmative, das in dieser Auflösung zugleich enthalten ist. Das Affirmative ist affirmativ durch Negation des Negativen.“ (V 10, 87) Damit der Begriff als Begriff erfasst werde, ist die wesentliche Negation, welche die Reflexion dem Sein in seiner Unmittelbarkeit bereitet, ihrerseits zu negieren. Die Logizität der Logik ist diejenige konsequenter Negation von Negationen.

4.

Die Logik des Seins

Womit soll der Anfang der Logik gemacht werden? Antwort: Mit dem Anfang, womit sonst! Das ist leichter gesagt als getan. Mit Hegels Einleitung in die Seinslogik zu reden: „In neuern Zeiten erst ist das Bewußtseyn entstanden, daß es eine Schwierigkeit sey, einen Anfang in der Philosophie zu finden, und der Grund dieser Schwierigkeit so wie die Möglichkeit, sie zu lösen, ist vielfältig besprochen worden. Der Anfang der Philosophie muß entweder ein Vermitteltes oder Unmittelbares seyn, und es ist leicht zu zeigen, daß es weder das Eine noch das Andre seyn könne; somit findet die eine oder die andre Weise des Anfangens ihre Widerlegung.“ (WL I, 53) Aller Anfang ist nicht nur schwer, sondern leer. Er entzieht sich der Differenz von Vermittlung und Unmittelbarkeit und ist in seiner Leere nichts als schiere Indifferenz ohne jede Bestimmung bzw. lediglich dazu bestimmt, bestimmt zu werden, damit das anfängliche Beginnen seinen Fortgang nehme und der logische Begriff sich in Bewegung setze.

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Hegel nennt den Anfang der Logik in seiner bloßen Anfänglichkeit Sein.18 Als reines Beginnen ist das Sein aller Inhalte ledig; denn Inhalte beinhalten ihrem Begriff nach Unterscheidungen und Beziehungen von Verschiedenem aufeinander. Nicht so das Sein in seiner Blöße. Es ist Sein und sonst nichts, nichts als Nichts, nämlich einfache Gleichheit mit sich ohne Unterschiedenheit in ihm selbst. Sein ist der leerste Begriff, ja die Begriffsleere reiner Anfänglichkeit als solche. Erst im Vollzug und im Fortgang logischen Beginnens stellen sich Gedanken ein; der logische Anfang in seiner schieren Anfänglichkeit hingegen ist gedankenlos: Sein gleich Nichts.19 Sein ist Nichts. Am logischen Anfang herrscht absolute Leere, unterschiedslose Indifferenz bar jeder reflexen Bestimmtheit. Dabei kann es nicht bleiben. Die Logik kann Hegel zufolge bei dem leeren Gedanken des Seins, der schlechterdings nichts denkt, nicht verweilen; sie hat ihn vielmehr durch Erkenntnis seiner Nichtigkeit im-

18 Hierzu und zur Seinslogik insgesamt vgl. die Beiträge in A. Arndt/Chr. Iber (Hg.), Hegels Seinslogik. Interpretationen und Perspektiven, Berlin 2000; darin bes. A. Arndt, Die anfangende Reflexion. Anmerkungen zum Anfang der Wissenschaft der Logik, a. a. O., 126–139, hier: 126: „Die ‚anfangende Reflexion‘ bezeichnet diejenige Reflexion, die den Anfang der Hegelschen Wissenschaft der Logik macht, und zugleich auch diejenige Reflexion, mit welcher der Anfang gemacht wird.“ Für die Begriffslogik aufschlussreich sind die Artikel in A. Arndt/Chr. Iber/G. Kruck (Hg.), Hegels Lehre von Begriff, Urteil und Schluss, Berlin 2006. – Zu neueren Versuchen der Aufhebung einer zweiwertigen Logik der Dualitäten in eine triadische bzw. mehrwertige Logik vgl. etwa die Arbeiten von G. Günther (Idee und Grundriss einer nicht- Aristotelischen Logik, Hamburg² 1978; Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. 3 Bde., Hamburg 1976–1979), für die Hegels Logik einen wichtigen Anstoß gab (vgl. G. Günther, Grundzüge einer neuen Theorie des Denkens in Hegels Logik (1933), Hamburg² 1978). Zur Frage, „[w]as die analytische Philosophie von Hegel lernen könnte“ vgl. den – originalen und originellen – Schlussbeitrag von P. Stekeler-Weithofer, Die Frage nach dem Begriff, in: R. Hiltscher/St. Klingner (Hg.), Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2012, 233–252. 19 Liegt es in der Natur des Anfangs selbst, dass er das reine Sein sei und sonst nichts, so muss es der logischen Entwicklung des Begriffs überlassen bleiben, zu differenzierten inhaltlichen Bestimmungen fortzuschreiten. Gedankenlos und inhaltsleer wäre hingegen in Wahrheit der Anspruch, den entwickelten Begriff als Prinzip und auf uranfängliche Weise zu haben. Unter dem Gesichtspunkt, dass der Anfang als Anfang nichts als ununterschiedene Einheit sein könne, setzt sich Hegel u. a. mit dem Versuch auseinander, das Ich als unmittelbares Selbstbewusstsein an den logischen Anfang zu stellen und mit ihm den Gedankengang beginnen zu lassen. Zwar wird diesem Ansatz seine Originalität nicht bestritten. Tatsächlich muss das Ich als alle Vorstellungen denkend begleitend gedacht werden. Dieser Gedanke ist aber nicht anfänglich, sondern erst auf einer fortgeschrittenen Stufe begrifflicher Entwicklung zu fassen. Dies gilt nach Hegel umso mehr für den Gottesgedanken und für die Idee des Absoluten, welche verkannt werden, wenn man sie mit dem Sein in seiner Anfänglichkeit prinzipiell gleichsetzt. Zum Denken des Nichts in Hegels Logik vgl. u. a. A. Schäfer, Der Nihilismus in Hegels Logik. Kommentar und Kritik zu Hegels Wissenschaft der Logik, Berlin 1992: „Können wir ‚Nichts‘ denken, oder ist ‚Nichts denken‘ = nicht denken?“ (7).

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mer schon überschritten, um vom Sein über das Nichts zum Werden zu gelangen.20

20 Wie es aus Sein und Nichts zum Werden kommen soll, war, wenn man so will, von Anfang an umstritten. „Schon zu Hegels Lebzeiten gerieten seine Schüler mit seinen Gegnern in einen Streit über die Frage, welches der Sinn der befremdlichen Rede sei, daß das Sein, als unbestimmte Unmittelbarkeit, ebenso als Nichts gedacht werden müsse und daß beide, insofern sie jeweils in ihrem Gegenteil verschwinden, ihre Wahrheit im Gedanken des Werdens haben.“ (D. Henrich, Anfang und Methode der Logik, in: H.-G. Gadamer [Hg.], Heidelberger Hegel-Tage 1962. Vorträge und Dokumente, Bonn 1964, 19–35, hier: 19) Mag es zunächst so erscheinen, als sei der Übergang vom Sein zum Nichts und damit das Werden reflexiv vermittelt, so zeigt sich Henrich zufolge bei genauerem Zusehen, dass Hegel ihn unvermittelt in Anschlag bringt, was u. a. „aus der lapidaren Kürze (hervorgeht), in der er vollzogen wird“ (20). Es sei „nicht leicht, die Natur des Übergangs richtig zu fassen und die Mittel zu verstehen, mit denen Hegel ihn begründet hat“ (ebd.). Sind Sein und Nichtsein einander entgegengesetzt und in, mit und durch ihren Gegensatz aufeinander bezogen? Dann handelt es sich bei ihnen um wesenslogische Bestimmungen und gerade nicht um Anfangsmomente der Seinslogik, als welche sie namhaft gemacht werden. Daraus scheint zu folgen, dass sich die Logik des reinen Seins „überhaupt nur via negationis …, in der Unterscheidung von Logik und Reflexion“ (24) explizieren lässt. Doch bleibt auch diese Folgerung problematisch, insofern sie den nicht anders als reflexionslogisch zu gewinnenden Bezug von Seinslogik und Wesenslogik voraussetzt, um ihn negieren zu können. Wird nicht auch auf diese Weise das rein anfängliche Sein in seiner unbestimmten Unmittelbarkeit und Gleichheit mit sich selbst verfehlt, welches keinerlei Anderssein in sich bergen und nichts sein soll als reines Nichts? – Weil Hegel nach Henrichs Urteil keine andere Methode anfänglicher Seinsexplikation als diejenige via negationis – der Negation wesenslogischer Bestimmungen – zur Verfügung steht, lasse sich „der Anfang der Logik nicht zureichend aus ihm selbst verstehen“ (29). Müsse doch der Übergang von Sein und Nichts „in der gleichen Unmittelbarkeit erfolgen, die ihnen selbst eigentümlich ist“ (30), was reflexionslogisch nicht zu erfassen sei. Der seinslogische Anfang müsse von der Reflexion als unvordenkliches Faktum hingenommen bzw. als nichtgesetzt vorausgesetzt werden. Auch sei er nie vollends in den Fortgang der logischen Gedankenentwicklungen aufzuheben: „Der Schluß des Systems soll vielmehr die Einsicht in die Notwendigkeit eines Anfangs von unaufhebbarer Unmittelbarkeit begründen.“ (34) – Aus seinen Thesen über „Anfang und Methode der Logik“ ergeben sich für Henrich „zwei Konsequenzen für jede mögliche Hegelinterpretation“ (ebd., Anm. 25): Zum einen lasse sich Hegels Denken „weder aus der Unüberholbarkeit des Anfangs noch aus der Bewegung, die von ihm ausgeht, für sich allein hinreichend interpretieren, sondern nur im Blick auf beides zugleich“ (ebd.) zum andern bleibe auf jeder Systemstufe die Unüberholbarkeit des Anfangs dergestalt gegenwärtig, dass keine von ihnen bloß transitorisches Durchgangsmoment, sondern an sich selbst durch vermittelte Unmittelbarkeit als ein je eigenes gekennzeichnet sei. (Zur „Darstellung des Anfangs der Seinslogik mithilfe der Reflexionsbestimmungen“ vgl. M. Wetzel, Zum Verhältnis von Darstellung und Dialektik in Hegels Wissenschaft der Logik. Ein Beitrag zur Strukturanalyse der Hegelschen Logik, in: D. Henrich (Hg.), Die Wissenschaft der Logik und die Logik der Reflexion [Hegel-Studien Beiheft 18], Bonn 1978, 143–169, hier: 157ff. Eine eindringliche Analyse der Hegel‘schen Reflexionslogik bietet a. a. O., 203–324, D. Henrich. Er sieht in ihr das Wesen der Logik als eines fortlaufenden Strukturprozesses bestimmter Negation inbegriffen, jedoch so, dass die Reflexionslogik ohne protologischen Rückbezug auf die Seinslogik in ihrer Prä- und ohne Antizipation der Begriffslogik in ihrer Transreflexivität keinen strukturellen Bestand hätte. Die Unbestimmtheit des Anfangs, von dem die Logik ihren Ausgang zu nehmen hat, lässt sich spekulativ nicht beheben; das logische Beginnen muss als immer schon gemacht vorausgesetzt werden, ohne dass diese Voraussetzung in etwas anderem

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Mittels der Einsicht, dass das anfängliche Sein in Wahrheit nichts ist, erfasst das logische Denken sich selbst als im Werden begriffen und bringt dies dadurch zur Geltung, dass es Unbestimmtheit als die Qualität qualitätslosen Seins bestimmt, um eben dadurch das reine, in Wahrheit nichtseiende Sein, vermittels der gedachten Einheit von Sein und Nichts, wie sie durch Entstehen und Vergehen im Werden inbegriffen ist, ins Dasein aufzuheben. Nicht Sein als solches, sondern erst Dasein ist bestimmtes Sein, das sich vom unbestimmten unterscheidet, um es auf diese Weise als unbestimmtes zu bestimmen und mitsamt dem Unterschied von Sein und Nichts in sich aufzuheben. Erst im Dasein werden der Unterschied von Sein und Nichts real und Sein und Nichts zu bestimmtem Sein und bestimmtem Nichts im Unterschied zum reinen Sein als reinem Nichts, mit welchem die Logik ihren Anfang macht. Hegel sucht, was am Anfang der Logik über Sein, Nichts und Werden in ihrer Unsagbarkeit (vgl. V 10, 100) gesagt ist, am Beispiel der Schau reinen Lichts und vollkommener Finsternis zu illustrieren: „was sehe ich im reinen Licht? gar nichts, ebensowenig als in der reinen Finsternis“ (V 10, 100f.). Erst wenn Licht und Finsternis ineinander übergehen, dämmert es und im laufenden Übergang von Entstehen und Vergehen, in dem zunächst alles wie im Nebel verschwimmt, treten allmählich rudimentäre Daseinsstrukturen hervor. Dasein ist – aus dem Sein und Nichts in sich aufhebenden Werden geworden – „Sein und Nichts in ruhiger Einheit“ (V 10, 106), anfänglich bestimmtes Sein. Um Missverständnisse fernzuhalten, muss eigens vermerkt werden, dass die Seinsbestimmtheit des Daseins logisch abstrakt und ohne vorstellungshafte Assoziationen von Dinghaftigkeit oder gar von demjenigen zu denken ist, was bei Heidegger die Existenz in ihrer Jemeinigkeit heißt. Um das Dasein überhaupt als Etwas zu qualifizieren, bedarf es weiterer logischer Zwischenschritte, wobei auch unter Etwas nichts dinghaft Bestimmtes, sondern lediglich dasjenige zu denken ist, was seinslogisch als Qualität, will heißen: als Bestimmtheit zu bestimmen ist. „Qualis“ fragt als Interrogativpronomen nach der „Qualitas“, nach dem Wassein von Sein und seiner Grundbeschaffenheit. Die Qualität des Seins als Sein ist es, da zu sein und als Daseiendes etwas zu sein. Etwassein ist mithin die Elementarbestimmtheit des Seins des Daseins. „Kurz, das Dasein hat keine Qualität, sondern ist die Qualität, ist das logische Quale.“21

bestünde als in der Faktizität, dass der gemachte Anfang unvordenkliches, wenngleich auf Denken ausgerichtetes Faktum ist.) 21 A. F. Koch, Das Sein. Erster Abschnitt. Die Qualität, in: M. Quante/N. Mooren (Hg.), Kommentar zu Hegels Wissenschaft der Logik, 43–144, hier: 77. Dort finden sich auch Erwägungen zur Frage, warum Hegel die Kategorie der Qualität in Abweichung von der Tradition derjenigen der Quantität seinslogisch vorordnet (vgl. 130 ff.). Zum Hintergrund der Argumentation vgl. ders., Die Evolution des logischen Raumes. Aufsätze zur Hegels Nichtstandard-Metaphysik, Tübingen 2014 und darin

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Indem das Dasein logisch dazu qualifiziert ist, etwas zu sein, ist es zugleich dazu bestimmt, als Etwas etwas Bestimmtes im Unterschied zu etwas anderem zu sein. Wird vom Bezug auf Anderes abstrahiert, dann ist dem Etwas seine Qualität genommen und es ist nicht mehr etwas, nichts mehr, was da ist. Differenzbestimmtheit gehört mithin konstitutiv zum Etwas als daseiendem Dasein. Etwas ist etwas, indem es etwas (anderes) nicht ist, also im Unterschied zu einem Anderen. Wird dies logisch begriffen, dann geht aus dem für daseiendes Etwas konstitutivem Bezug auf anderes Etwas der Begriff der Endlichkeit hervor. Etwas ist, weil an sich selbst differenzbestimmt, als etwas endlich. Endlichkeit ist die Bestimmtheitsweise all dessen, was etwas und als etwas da ist. Erst indem es den Unterschied zum Anderen in sich begreift, ist etwas, was es ist: ein von anderem Endlichen unterschiedenes Endliches, mit einer ihm eigenen Bestimmung, Beschaffenheit und Grenze. Endliches endet. So besagt es sein Begriff. Als endliches Etwas, das konstitutiv auf das andere seiner selbst bezogen ist und ohne diesen Bezug nicht wäre, was es ist, ändert sich das Endliche nicht nur, sondern vergeht. Enden gehört zu seinem Begriff. Wird dies begriffen, dann ist nach Hegel zugleich der Begriff des Unendlichen gesetzt. Indem das Ende des Endlichen als in seinem Begriff inbegriffen begriffen wird, ist das Endliche über sich und seine Begrenztheit hinaus. Über seine Schranke durch begriffene Beschränktheit erhoben geht das Endliche ins Unendliche über. Die Möglichkeit dieses Übergangs zu bestreiten, ist Hegel zufolge nichts als Gedankenlosigkeit bzw. Indiz eines Denkens, welches sich – sich selbst zuwider – auf Endliches fixiert und dieses eben dadurch zum Ein und Alles verklärt. Gedankenlos wäre es freilich ebenso, mit dem seinslogischen Begriff der die Endlichkeit aufhebenden Unendlichkeit sogleich die Idee des Absoluten zu verbinden. Um zu ihr zu gelangen, bedarf es nicht nur des Durchgangs durch Sein- und Wesenslogik, sondern auch der entwickelten Logik des Begriffs, als deren Resultat sich allererst die absolute Idee ergibt, die als das A und O des Denkens gelten kann, welches mit der Differenz von Denken und Gedanken auf diejenige von Denken und Sein in sich aufgehoben hat. Als das in seiner momentanen Begrifflosigkeit Begriffene ist das endliche Dasein über seine Grenze logisch hinausgeführt, um im Unendlichen sein Ende und damit seine Bestimmung zu finden. Als Widerspruch seiner in sich hebt sich das Endliche auf und geht ins Unendliche über. Im Unendlichen überhaupt, sofern dieses nichts als die Negation des Endlichen ist, ist das Endliche verschwunden und was ist, ist nur das Unendliche und sonst nichts. Doch ist das Unendliche, sofern es nichts als v. a. die Beiträge zur Wissenschaft der Logik (61–184). Das Telos des Hegelschen Systems, welches die Logik fundiert, ist, wie Koch zurecht konstatiert, kein äußeres Ziel im Sinne einer letzten Entwicklungsstufe, mit welcher die vorhergehende Verlaufsgeschichte endet, „sondern das immanente Ziel der Evolution des logischen und physikalischen Raumes“ (239).

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abstrakte Negation des Endlichen ist, an sich selbst durch den Gegensatz zu diesem bestimmt. Es findet am Endlichen sein Ende und erweist sich als verendlichtes, in seiner Abstraktheit verendendes Unendliches, dem ein verunendlichtes Endliches korrespondiert. Wahrhaft unendlich und damit seinem Begriff entsprechend ist das Unendliche nur, wenn es die Differenz zum Endlichen umfasst. Während das Schlecht-Unendliche oder das Unendliche des Verstandes, wie Hegel es nennt, den Gegensatz von Endlichem und Unendlichem sistiert und damit den absoluten Widerspruch verewigt, wird er im wahrhaft Unendlichen prozessual aufgehoben, um das Dasein ins Fürsichsein zu entlassen. Sein, Dasein, Fürsichsein: Durch Sein und Nichts ist das Werden, durch das Werden das Dasein geworden als Etwas, was in seiner Endlichkeit ein Unendliches ergibt, dessen begriffliche Bestimmung es ist, nicht ins Leere anfänglichen Seins zurückzulaufen, um sich als nichts zu erweisen, sondern sich zur Einheit des Fürsichseins zusammenzuschließen, in der die Differenz abstrakter Endlichkeit und Unendlichkeit behoben ist. Im Fürsichsein ist das qualitative Sein vollendet bzw. das Sein als dasjenige qualifiziert, was es zu sein bestimmt ist: Dasein, das als es selbst für sich ist. Auch in diesem Zusammenhang müssen naheliegende Missverständnisse abgewehrt werden. Das als Fürsichsein qualifizierte Sein des Daseins hat noch keineswegs die „Qualität“, die dem seiner selbst bewussten Ich oder gar dem Absoluten in seinem absoluten An-und-Für-sich-Sein eignet. Das seinslogische Fürsichsein ist gemäß der entwickelten Logizität der Qualitätskategorie zunächst nichts weiter als „das Eins“ (V 10, 123), das in seiner „trockenen Punktualität“ (ebd.), wie Hegel sagt, nichts ist als die abstrakte Grenze seiner selbst, der zu unmittelbarer Identität aufgehobene Gegensatz, der sich aber sogleich wieder bemerkbar macht, sofern dasjenige, was im numerischen Sinne eins ist, ohne das Viele nicht zu denken ist.Das eine Eins in seiner leeren Sichselbstgleichheit wird, wenn man so will, zu vielen Eins, die in ihrer Vielheit indes so viel sind wie eins, weil eines wie das andere ist. Sind die Vielen sonach ihrem unmittelbaren Begriff nach alle eins, so lässt sich die Identität dessen, was eines unter vielen zu sein bestimmt ist, nur unter der Voraussetzung festhalten, dass Einheit und Vielheit in ihm vermittelt sind dergestalt, dass es als eines mehreres bzw. mehr oder weniger zu sein vermag. Mit dieser Überlegung ist der seinslogische Übergang von der Qualität zur Quantität angesagt. Dasein ist bestimmtes Sein. Im Unterschied zur Unbestimmtheit bloßen Seins ist es, was es ist. Als bestimmtes Sein bzw. seiende Bestimmtheit ist Dasein negationsbestimmt. Geht diese Negationsbestimmtheit ins Dasein ein, ergibt sich die Bestimmtheitsweise des Fürsichseins. Daseiend zu etwas geworden nimmt das Sein das Verhältnis von Etwas und Anderem in sich auf, um für sich zu sein: Fürsichseiendes Sein ist reine Bezogenheit auf sich. In seiner ausschließlichen Selbstbezüglichkeit ist für sich seiendes Sein reine numerische Einheit. Um zu

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quantitativen Bestimmungen der Teilung zu gelangen, bedarf es der Aufhebung bloßen Fürsichseins. Sind im logischen Zusammenhang der Qualität Sein und Bestimmtheit noch unmittelbar eins, so treten sie im Quantitätszusammenhang fortschreitend auseinander, um erst dort ihr rechtes Maß zu finden, wo die innere Differenziertheit von Quantität und mit ihr die Differenz von Quantität und Qualität aufgehoben ist. Es ist nicht möglich, die seinslogische Lehre der Quantität und des Maßes auch nur annähernd so ausführlich darzustellen wie diejenige der Qualität. Auch Hegel fasst im Kolleg von 1831 seine Ausführungen zur Logik der Quantität und des Maßes vergleichsweise kurz. Deutlich geworden sein dürfte, dass sich seine Wissenschaft der Logik nach Maßgabe des „wichtige(n) Satz(es)“ (V 10, 106) „Omnis determinatio est negatio“ durch fortschreitende Abstraktion von Abstraktionen fortentwickelt, um zu immer konkreteren Bestimmtheitsweisen zu gelangen. Das Fürsichsein nimmt konkrete logische Form dadurch an, dass es im Ausgang von dem, was Hegel reine Qualität nennt, zu einer realen Größe im Sinne eines bestimmten Quantums wird, das sich durch numerisches Zählen rechnerisch fortbestimmen lässt. Die Mathematik schließt entsprechend als Arithmetik an diese Grundlage an. Als zahlenmäßige Größe ist das fürsichseiende Dasein sodann dazu bestimmt, extensiv und intensiv quantifiziert zu werden. Extensiv ist dasjenige Quantum zu nennen, nach dem sich die Zahl ein und derselben Einheit von Fürsichsein bemisst, intensiv das Maß des Grades, der einer Einheit innerlich ist. In ersterem Fall geht es um äußere Mehrung oder Verminderung einer Größe, im zweiten um ihre graduelle Intensivierung, wobei in beiden Fällen die Identität des Fürsichseienden vorausgesetzt ist und erhalten bleibt: „Z. B. Rot ist ein intensives Rot, wenn ich diesen Grad verändere, schwaches Rot wegnehme, so bleibt es doch noch Rot, wenn ich aber die Qualität verändere, so bleibt es nicht Rot, verändere ich also hier die Bestimmtheit in der Quantität, so macht das nichts aus.“ (V 10, 125f.) Nach Maßgabe seiner Qualität ist das Daseiende innig mit seiner Bestimmung verbunden: „Etwas ist so und so beschaffen, wenn es diese Beschaffenheit verliert, so fällt auch das Sein weg.“ (V 10,95) Anders verhält es sich bei der seinslogischen Kategorie der Quantität: „das Sein ist da mit einer Bestimmtheit, die gleichgültig ist.“ (Ebd.). An eine Grenze ihrer selbst gerät die Quantifizierungslogik allerdings dort, wo der Intensivierungsgrad der Quantifizierung ins Unendliche gesteigert wird – sei es durch indefinite Maximierung, sei es durch unendliche Diminuierung. Soll die Quantitätskategorie im Zuge dieser Entwicklung nicht im Maßlosen vergehen und durch abstrakte Negation aller qualitativen Bezüge sich selbst zersetzen, muss ihr Gegensatz zur Bestimmtheitsweise der Qualität behoben und die Einheit des

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Qualitativen und Quantitativen in demjenigen gefunden werden, was Hegel Maß nennt.22 „Das Maß ist Quantum, woran Qualität ist.“ (V 10, 132) Was damit gesagt ist, sucht Hegel an einer Reihe von Beispielen zu verdeutlichen, etwa demjenigen von Wasser, dessen quantitative Temperaturveränderung unterschiedliche Aggregatszustände bewirkt, ohne dass durch die bewirkte Erscheinungsdifferenz (fest, flüssig, gasförmig) das Wesen des Wassers tangiert würde (vgl. V 10, 133f.). Durch die Annahme eines den wechselnden Zuständen zugrundeliegenden Substrats, welches die Bemessungsbasis von Wasser und das ihm eigene Maß benennt, ist der Übergang zur Wesenslogik vorbereitet, in deren Zusammenhang u. a.

22 Zur Logizität des Quantum vgl. im Einzelnen und zu Rezeptionszwecken St. Houlgate, Das Sein. Zweyter Abschnitt. Die Quantität, in: M. Quante/N. Mooren (Hg.), a. a. O., 145–218. Eine Größe oder Quantität ist das reale Fürsichsein, das keine weitere Bestimmtheit an sich hat, als sich selbst gleiche Einheit des fürsichseienden Eins zu sein, das sich in allem in kontinuierlicher Stetigkeit durchhält. Zum bestimmten Quantum wird die reine Quantität erst durch zahlenmäßige Bestimmung, in der das Eins als sich auf sich beziehende, umschließende und ausschließende Grenze gesetzt ist. Quantum ist das Eine als Zahl, deren Bestimmtheit hinwiederum der qualitative Unterschied von Einheit und Anzahl ausmacht. Am Zählen und Nummerieren sowie an den Rechnungsarten versucht Hegel dies zu plausibilisieren. – Als bloß zahlenmäßige Größe ist die Eins als das lediglich auf sich Bezogene und im übrigen schlechterdings Beziehungslose aufzuschließen für Beziehung und in sein ihm Entgegengesetztes zu überführen. Besteht doch logisches Denken im Erfassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit. Um sein Gegenteil an ihm selbst zu haben und in diesem mit sich zusammenzugehen, muss das zahlenmäßige Quantum sich fortentwickeln und als extensives und intensives Quantum Form annehmen. Extensives Quantum ist die Anzahl einer und derselben Einheit, intensives Quantum der Grad, nach dem sich eine Einheit bemisst. Als der gesetzte Widerspruch von intensiv und extensiv Großem geht das Quantum als das an sich selbst äußerlich Gesetzte in die, wie Hegel sagt, quantitative Unendlichkeit über. Der quantitativ unendliche Progress, in dem die Kontinuität des Quantums in sein Anderes statthaben soll, ist zunächst nicht die Auflösung des am Quantum offenbaren Widerspruchs zwischen dem, was selbst und nicht unmittelbar selbst ist, sondern dessen Ausdruck und Iteration im Sinne schlechter Unendlichkeit. In den Begriffen eines Unendlichgroßen und Unendlichkleinen ist der fortdauernde Widerspruch umschrieben, insofern sie jeweils ein Quantum bezeichnen und zugleich negieren, ohne den Gegensatz aufzuheben. Der Annahme, die schlechte Unendlichkeit in Form des Progresses des Quantitativen ins Unendliche sei für etwas Erhabenes zu erhaben, tritt Hegel dezidiert entgegen. So sei, um ein Beispiel zu geben, die Astronomie nicht um der Unmenge und der Unermesslichkeit ihrer Gegenstände willen zu bewundern, bei derem Verfolg einem nicht nur Hören und Sehen, sondern auch das Denken vergehe, sondern im Gegenteil wegen der Maßverhältnisse und Gesetzlichkeiten, welche die Vernunft in astronomischen Zusammenhängen entdecke. – Die Einsicht, dass das Quantum nicht nur ins Unendliche vermehrt oder vermindert werden kann, sondern seinem Begriff nach das ständige Hinausschicken über sich ist, bietet Hegel nicht nur die Lösung der ersten der vier kosmologischen Antinomien Kants und damit der Frage nach der Begrenztheit oder Unbegrenztheit der Welt in Raum und Zeit, sie führt ihn auch zum Begriff des unendlichen Quantums als Unendlichgroßem und Unendlichkleinem, in dem Quantität und Quantum sich aufheben und in das quantitative Verhältnis übersetzen, um zum Potenzverhältnis entwickelt und in dasjenige überführt zu werden, was Hegel Maß nennt.

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die Substanzkategorie und ihr Verhältnis zu akzidentellen Bestimmtheitsweisen erörtert wird.23

5.

Die Logik des Wesens

Qualität (poion) und Quantität (poson) als Bestimmungsschemata der Beschaffenheit und des Bestandes24 gehören nach Aristoteles zum Katalog der Kategorien

23 Zur Logik des Maßes vgl. im Einzelnen P. Stekeler-Weithofer, Das Sein. Dritter Abschnitt. Das Maass, in: M. Quante/N. Mooren (Hg.), a. a. O., 219–273. Ferner: A. v. Pechmann, Die Kategorie des Maßes in Hegels „Wissenschaft der Logik“, Köln 1980; U. Ruschig, Hegels Logik und die Chemie. Fortlaufender Kommentar zum „realen Maß“, Bonn 1997 sowie P. Stekeler-Weithofer, Hegels Wissenschaft der Logik. Ein dialogischer Kommentar, Hamburg 2020, 1080–1247 (vgl. ders., Hegels Analytische Philosophie. Die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung, Paderborn/München/Wien/Zürich 1992, 192–224. Im Entwicklungsfortschritt des Begriffs, wie er in der Seinslogik statthat, ist zunächst die Qualität in die Quantität, die Quantität sodann in die Qualität übergegangen. Beide sind damit als Negationen aufgezeigt, deren Negativität ins Maß eingegangen und darin aufgehoben ist. Als das qualitative Quantum ist das Maß unmittelbar ein Quantum, an welches die Qualität gebunden ist. Vereint sind Qualität und Quantum im Maß also zunächst nur als Unterschiedene und vermittels ihrer Unterschiedenheit. Erst durch Aufhebung der Abstraktheit ihres gegenseitigen Unterschieds wird die unmittelbare Einheit von Qualität und Quantität im Maß gesetzte Einheit, nämlich einfache Beziehung auf sich, womit der Seinsbegriff unter bestimmter Negation und gleichzeitiger Bewahrung all seiner bisher durchlaufenen Formen sich vollendet und der Fortgang vom Sein zum Wesen seinen Anfang nimmt. Die Bestimmungsmomente des Maßes in seiner Entwicklung zum Wesen sind im einzelnen folgende: 1. spezifische Quantität a) als spezifisches Quantum, demzufolge alles was ist, sein eigentümliches Maß, jede Entität die ihrer Natur angemessene Größe etc. hat, b) als spezifizierendes Maß und c) als in sich spezifiziertes Maß, vermittels dessen die spezifische Quantität sich vollendet und aufhebt; 2. Reales Maß a) als Verhältnis selbstständiger Maße im Sinne einer Verbindung zweier Maße, einer Reihe von Maßverhältnissen sowie von Verhältnismaßen, die ihre Bestimmtheit allein im Verhalten zu anderen haben (Hegel verwendet in diesem Zusammenhang den Ausdruck Wahlverwandtschaft, den er an Beispielen vornehmlich aus der Chemie erläutert.), b) als Knotenlinie von Maßverhältnissen, schließlich c) als das Maßlose im Sinne der Unendlichkeit des Maßes, welches – selbst als Maß begriffen – nichts anderes ist als die im Wechsel ihrer Maße sich in sich selbst kontinuierende Einheit, womit der Begriff der wahrhaft beständigen, selbständigen Sache im Sinne des absolut Indifferenten, rein in sich Bestehenden erreicht ist. Hinzuzufügen ist, dass der mit dem entwickelten Begriff realen Maßes erreichte Indifferenzbegriff nicht die abstrakte Gleichgültigkeit leeren Seins bezeichnet, an der noch keinerlei Art von Bestimmtheit ist, auch nicht die aller Bestimmungen entäußerte Indifferenz bloßer Fähigkeit, bestimmt zu werden; bei dem erreichten Indifferenzbegriff handelt es sich vielmehr um denjenigen absoluter Indifferenz, der seine Wahrheit und sein Wesen als Reflexion in sich selbst finden wird. 24 Vgl. im Einzelnen die Artikelreihen zu den Begriffen Qualität und Quantität in: HWPh 7, Sp. 1748–1780 und Sp. 1792–1828.

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als der grundlegenden Strukturierungsmodi sinnvoller Aussagen.25 Zehn Prädikatsgattungen zählt der Stagirite: Am Anfang steht die Kategorie der Substanz als des ursprünglichsten und letzten „Substrat(s) aller Prädikationen“26 , das sich im akzidentiellen Wechsel identisch durchhält. Sie ist „der Grund der Möglichkeit aller Prädikate und der Einheit ihrer Zuordnung, grammatikalisch repräsentiert im Satzsubjekt. Dass trotz Veränderung und Bewegung in der Welt ‚etwas ist so und so‘ gesagt werden kann, beruht auf der substantialen Struktur des Seienden“27 , wobei das grammatische Kriterium dem konkreten Individuum den Vorrang als substantia prima insofern gibt, „als das Individualnomen nur als Subjekt fungieren kann, während die definible, zweite S(ubstanz) auch Prädikatsnomen werden kann“28 . Auf die Kategorie der Substanz folgen nach aristotelischer Zählung Quantität, Qualität, Relation, Wo (pou, ubi), Wann (pote, quando), Lage (keisthai, situs), Haben (echein, habitus), Wirken (poiein, actio), und Leiden (paschein, passio). Maß gilt nicht als eigene Prädikatsgattung, fungiert aber als Medium der Vermittlung von Zuviel und Zuwenig in einer Weise, die mit der Stellung des Maßbegriffs in Hegels Logik vergleichbar ist.29 Welcher Stellenwert in ihr den anderen kategorialen Bestimmtheitsweisen des Aristoteles zugedacht wird, wäre einer eigenen Untersuchung wert, die stets die Neufassung mitzubedenken hätte, die Begriff und Zählung der Kategorien bei Kant gefunden haben. Kants „Kritik der reinen Vernunft“ entwickelt die Tafel der Kategorien am Leitfaden der Urteilslehre und verbindet sie mit dem Anspruch „sowohl der Vollständigkeit wie der systematischen Deduzierbarkeit“30 : „Die K. der Quantität – Einheit, Vielheit, Allheit – korrespondieren der Einteilung der Urteile nach ihrer Quantität in allgemeine, besondere, einzelne; die K. der Qualität – Realität, Negation, Einschränkung – der Einteilung in die bejahenden, verneinenden, unendlichen Urteile der Qualität; die K. der Relation – Substanz, Ursache, Gemeinschaft – der Einteilung der Urteile nach der Relation in kategorische, hypothetische, disjunktive; und die K. der Modalität – Möglichkeit, Dasein, Notwendigkeit – der modalen Einteilung der Urteile in problematische, assertorische und apodiktische.“31

25 26 27 28 29 30 31

Vgl. im Einzelnen die Artikelserie zu „Kategorie, Kategorienlehre“, in: HWPh 4, Sp. 714–776. J. Halfwassen, Art. Substanz; Substanz/Akzidens, I. Antike, in: HWPh 10, Sp. 495–507, hier: 498. H. Blumenberg, Art. Substanz, in: RGG³ 6, Sp. 456–458, hier: 457. Ebd. Vgl. H. Ottmann, Art. Maß (1–6), in: HWPh 5, Sp. 807–811, hier: 809. H. M. Baumgartner u. a., Art. Kategorie, Kategorienlehre (IV f.), in: HWPh 4, Sp. 727–776, hier: 728. Ebd.

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Auch Hegels „Wissenschaft der Logik“ erhebt den Anspruch einer systematischen Entwicklung der Kategorien,32 die als Strukturmomente eines auf Absolutheit angelegten Wissens begriffen werden, wobei im Unterschied zu Kant die Differenz zwischen Denken und Sein als aufzuhebende in Anschlag gebracht wird. Denken ist nach Hegel stets seinsbezogen und macht sich in der Logik in seiner Seinsbezogenheit selbst zum Gegenstand dergestalt, dass die Seinslogik das Denken in seiner Seinsbestimmtheit denkt, wo hingegen die Wesenslogik es in seiner reflexen Beziehung auf sich zum Gegenstand hat, um in der Logik des Begriffs das Verhältnis von Seinsbeziehung und Selbstbeziehung des Denkens im absoluten Wissen zu vollenden, was mit dem Prozess der Subjektwerdung der Substanz koinzidiert. Damit ist bereits auf den Übergang von der Wesens- in die Begriffslogik vorgegriffen, welcher Vorgriff nur verständlich wird, wenn man die Logik des Wesens zugleich rückbindet an diejenige des Seins, von welcher sozusagen ihre Substanzialität abhängt. In der Seinslogik werden die kategorialen Bestimmtheitsweisen von Qualität, Quantität und Maß bedacht, ohne dass das Denken sich dabei ausdrücklich selbst thematisch geworden wäre. Seine Vollzüge bleiben, wenn man so will, unbedacht. Dem Sein als dem anderen seiner selbst hingegeben entäußert sich das Denken gleichsam seines Wesens, um sich demjenigen hinzugeben, was auch ohne Gedanken zu sein scheint. Dieser Schein ist dazu bestimmt, wesenslogisch durchschaut und aufgehoben zu werden. In der Logik des Wesens wird erkannt, dass das Sein an sich selbst nicht gedankenlos zu erfassen ist. Seine anfängliche Unmittelbarkeit erweist sich als vermittelt und darauf angelegt, verstanden zu werden. Zu Verstand und verständigem Wissen wird die Seinslogik dadurch gebracht, dass ihre Logizität eigens bedacht wird. Dies geschieht auf reflexive Weise. Wesenslogik ist demgemäß Reflexionslogik und als Reflexionslogik Verstandeslogik, welche die Kategorien bedenkt, die für jede verständige Ontologie in Anschlag zu bringen sind.33

32 Zu Hegels Bemerkung über die Kontingenz der Kategorienkombination und die Gleichgültigkeit der Kategorienzahl vgl. A. Roser, Ordnung und Chaos in Hegels Logik. 2 Teile, Frankfurt a. M. 2009, bes. I 136 ff. sowie II 869 ff. 33 Wesen ist das gewesene, erinnerte, in sich gegangene, reflexive Sein. In der Reflexionslogik des Wesens ist die sinnliche Gedankenlosigkeit, alles Seiende als unmittelbar gegeben hinzunehmen, aufgehoben und verständig geworden. In der Logizität seiner Entwicklung fungiert das Wesen als Medium zwischen Sein und Begriff, wobei die Bestimmungsmomente des Entwicklungsprozesses des Wesens die folgenden sind: Scheinen in sich oder das Wesen als Reflexion in ihm selbst, Erscheinen und Wirklichkeit. Als Reflexion in ihm selbst entwickelt das Wesen nach Maßgabe der Wesenslogik sich selbst dergestalt, dass es durch den Schein über die Reflexionsbestimmungen oder Wesenheiten, wie Hegel sagt, zu Grunde geht, um auf diese Weise zur Erscheinung zu gelangen. Das Beginnen des Wesens ist durch einen anfänglichen Gegensatz zum Sein, von dem es herkommt, bestimmt. Unmittelbar ist das Wesen das bloße Andere des Seins. Das Unwesentliche dieses unmittelbaren Beginnens gibt sich als bloßer Schein zu erkennen, der – als dem Wesen selbst zugehörig – als

Wissenschaftstheorie als Theologie

Man hat festgestellt, dass in Hegels Wesenslogik die „konstitutiven Subjektivitätsleistungen explizit werden“34 , die in der Logik des Seins implizit am Werke sind und in „(e)liminative(n) oder reduktionalistische(n) Konzeptionen“35 wie des Naturalismus oder des Materialismus notorisch und prinzipiell verkannt werden. Diese Feststellung ist zutreffend, wenn ein subjektivistisches Missverständnis ferngehalten und realisiert wird, dass die reflexive Verstandeslogik des Wesens nach Maßgabe ihrer monographischen Ausarbeitung der objektiven Logik zugehört. Wichtiger als diese – später aufgegebene – Klassifizierung ist die Einsicht, dass die reflexe Selbstbeziehung des Denkens, wie sie die Wesenslogik kennzeichnet, nicht auf eine von konkreten Inhalten abgelöste formale Logik, sondern auf gehaltvolle Formen des Denkens und auf Gedanken ausgerichtet ist, die Objektivität für sich beanspruchen können. Nicht von ungefähr trägt der dritte Abschnitt der Lehre vom Wesen, der ihre Vermittlungsstellung vollendet und zur Logik des Begriffs überleitet, die Überschrift „Die Wirklichkeit“. Unter Wirklichkeit versteht Hegel eine Einheit, die alles umfasst und der gegenüber nichts äußerlich ist. Sie ist daher nicht gleichzusetzen mit dem, was er als seiend, daseiend, für-sich-seiend oder auch als existent bezeichnet, sondern „Begriff einer in sich differenzierten und dadurch bestimmten Totalität“36 . Was

Schein des Wesens in ihm selbst, als Reflexion zutage tritt, die setzend durch Aufhebung ihrer vorausgesetzten Unmittelbarkeit sich zur bestimmenden Reflexion fortentwickelt. Den Schein nicht als das Scheinen des Wesens in ihm selbst begriffen zu haben, wird in diesem Zusammenhang nicht nur dem Skeptizismus, sondern auch den diversen Formen eines subjektiven Idealismus zum Vorwurf gemacht. 34 M. Quante, Die Lehre vom Wesen. Erster Abschnitt. Das Wesen als Reflexion in ihm selbst, in: ders./ N. Mooren (Hg.), a. a. O., 275–324, hier: 276. Zur Entwicklung des Wesens als Reflexion und zur Logik der Reflexionsbestimmungen vgl. die große Monographie von Chr. Iber, Metaphysik absoluter Relationalität. Eine Studie zu den beiden ersten Kapiteln von Hegels Wesenslogik, Berlin/New York 1990. 35 Ebd.; vgl. dazu auch M. Quante, Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel, Berlin 2011. 36 D. Emundts, Die Lehre vom Wesen. Dritter Abschnitt. Die Wirklichkeit, in: M. Quante/N. Mooren (Hg.), a. a. O., 387–456, hier: 451. Wie sich der logische Begriff von Wirklichkeit zum realphilosophischen und die in der Realphilosophie begriffene Realität zu derjenigen verhält, welche die Wesenslogik bedenkt, thematisiert D. Emundts unter Rückbezug auf die „Phänomenologie“ in: ders., Erfahren und Erkennen. Hegels Theorie der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2012; Vgl. zum Thema auch den von Chr. Jamme und Y. Kubo herausgegebenen Sammelband: Logik und Realität. Wie systematisch ist Hegels System?, München 2012. – Zur „Integration, Transformation und Kritik der Positionen Spinozas und Leibnizes“ im Wirklichkeitskapitel von Hegels Wesenslogik vgl. G. M. Wölfle, Die Wesenslogik in Hegels „Wissenschaft der Logik“. Versuch einer Rekonstruktion und Kritik unter besonderer Berücksichtigung der philosophischen Tradition, Stuttgart/Bad Cannstatt 1994, 445–458; ferner: H. Sharp/J. E. Smith, Between Hegel and Spinoza. A Volume of Critical Essays, London/New York 2012. Nach Wölfles Verständnis ist die Logik Hegels als „eine kategoriale Ontologie in der Gestalt eines notwendigen Systems des sich selbst begründenden Absoluten“ (507) konzipiert. Diesem konzeptionellen Anspruch werde die Wesenslogik allerdings nur bedingt gerecht,

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sein Sein und die Einheit seiner selbst, vermöge derer es sich selbst gleich ist, nur im Unterschied zu anderem hat, erfüllt den Begriff der Wirklichkeit nur zum Teil und nicht ganz. Die ganze Wirklichkeit ist eine Totalität, die alles, was ist und seinslogisch erfasst werden kann, transzendiert. Ihr Wesen übersteigt alles Sein und hebt es in sich auf. Es ist objektiv, aber doch nicht auf gegenständlich gegebene oder auf gleichsam subjektlose Weise, wie der Materialismus und der Naturalismus, aber auf ihre Art auch die traditionelle Metaphysik es insinuieren. „Die Wirklichkeit ist nur von geistigen Wesen zu erfassen und diese Verhältnisse von geistigen Wesen gehören mit zum Begriff der Wirklichkeit.“37 Anderes zu behaupten, müsste nach Hegel als geistlos, ja als geistwidrig gelten. Denken gehört zur Wirklichkeit, und ohne Reflexivität ist nicht zu begreifen, was ist. Die Logizität der Seinslogik hat entsprechend ohne die Logik des Wesens, welches die äußere Faktizität dessen, was ist, er-innernd aneignet, keinen Bestand, weil die Objektivität der Wirklichkeit nicht gedankenlos, sondern nur in, mit und unter dem Denken und seinen Gedanken begriffen werden kann. Die Wesenslogik ist deshalb von Anfang an darauf ausgerichtet, die im Denken des Seins wirkenden Gesetze reflexiv zu erfassen. Als erste Reflexionsgesetze ergeben sich der Identitätssatz A = A und der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, wonach A ≠ Non A zu sein hat, welche Sätze indes beide auf eine nichtssagende Tautologie hinauslaufen, wenn sie nicht dialektisch mit dem Differenzprinzip und dem Prinzip vom nicht zu vermeidenden Widerspruch verbunden werden.38 Aus der Einsicht, dass reflexives

da sie „keinen notwendigen, kohärenten Zusammenhang“ (ebd.) darstelle. „Dadurch ist auch die Notwendigkeit des Zusammenhangs der gesamten Logik nicht gegeben.“ (509) Hegels Systemanspruch einer dialektischen Letztbegründung aller ontologisch-kategorialen Bestimmtheitsweisen von der Idee des Absoluten her bzw. auf sie hin werde „nicht erfüllt“ (519). Speziell zum vierten Abschnitt der Lehre vom Wesen vgl. ferner: T. Yamane, Wirklichkeit. Interpretation eines Kapitels aus Hegels „Wissenschaft der Logik“, Frankfurt a. M./Bern/New York 1983. 37 A. a. O., 453. 38 Zum Begriff seiner selbst gelangt ist das Wesen bestimmte Reflexion, bestimmtes Wesen oder Wesenheit geworden, deren Bestimmung es ist, erstens einfache Beziehung auf sich, reine Identität, welche in Wahrheit Bestimmungslosigkeit ist, zweitens eigentliche Bestimmung als Unterschied, Verschiedenheit und Gegensatz zu sein, um als im Widerspruch sich in sich selbst reflektierender Gegensatz in seinen Grund zurückzugehen und als manifeste Einheit von Identität und Differenz in Erscheinung zu treten. Im Grunde eingekehrt ist das Wesen die Einheit seiner selbst als Reflexion in sich und seines Gegensatzes, Identität des inneren und äußeren Scheins und damit Bedingung möglicher Erscheinung. Der Grund als die letzte der in ihn eingegangenen Reflexionsbestimmungen, der mit diesen auch sich selbst als Reflexionsbestimmung aufhebt, ist die reale Vermittlung des Wesens mit sich, insofern er die Reflexion als aufgehobene Reflexion enthält: er ist das sich setzende Wesen. Als absoluter Grund das in seiner Negativität unmittelbar mit sich identische Wesen und als formlose Identität bestimmt nichts als Urstoff oder Materie differenziert er sich in sich selbst zur Grundlage oder zum Substrat der Form einerseits und zu der Materie formierenden Form andererseits. Dabei sind Form und Materie in direktem Wechselspiel begriffen. Indem er durch Form

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Identifizieren ohne Unterscheiden und Unterscheiden ohne Identifizieren nicht möglich ist, geht hervor, was Hegel Grund nennt. Im Grunde sind Identitätsgedanke und Differenzdenken eins. Die Reflexionstätigkeit des Begründens hinwiederum zielt auf das Wesen der Sache als eines existenten Dinges an sich, welches in seiner bloßen Noumenalität und ohne Phänomen zu werden indes abstrakt bleibt, was vom Wesen (als dem Grund der Existenz) mit wesenslogischer Konsequenz zur Erscheinung führt.39

und Materie sich inhaltlich zu bestimmen beginnt, hebt der absolute Grund sich in den bestimmten auf, um als solcher sich einen bestimmten Inhalt zu geben. Als bestimmter ist der Grund zunächst formeller oder zureichender Grund, sofern nichts im Grunde, was nicht im Begründeten, und nichts im Begründeten, was nicht im Grunde ist. In seiner reinen Form durch den Unterschied von Grund und Begründetem noch nicht real bestimmt, weil beide keinen verschiedenen Inhalt haben, realisiert sich der bestimmte Grund durch Beziehung auf Anderes. Damit ist zwar der tautologische Charakter der bloß formellen Grundbeziehung, die für Grund und Begründetes nur einen Inhalt enthält, überwunden; zugleich aber mit der Verschiedenheit des Inhalts eine deren Notwendigkeit problematisierende Zufälligkeit der Grundbeziehung eingetreten. Bewältigt wird dieses Problem durch Überführung von formellem und realem Grund in den vollständigen Grund, der sich als Grund im Begründeten auf das andere seiner selbst bezieht und in die bedingende Vermittlung übergeht. Was bei Hegel stricte dictu Existenz heißt, geht daraus hervor. Existent ist eine Sache nicht auf vermittlungslos unmittelbare Weise, nicht in seinshafter, sondern in wesentlicher Unmittelbarkeit. Denn erst wenn alle ihre Bedingungen vorhanden sind, stellt sich die Existenz der Sache heraus, und sie tritt in Erscheinung. 39 Existenz ist wesentliches Sein. Im existierenden Ding ist das Wesen, welches als reflexe Beziehung in sich das Sein aufgehoben hatte, aus seiner Negativität und Innerlichkeit herausgetreten und selbst Sein geworden, ohne deshalb aufzuhören, Wesen zu sein. Zwar scheint in der durch das Aufheben der Vermittlung mit sich identischen Unmittelbarkeit, welche die Existenz ist, Reflexivität erloschen; doch da Existenz nicht die erste Unmittelbarkeit des Seins, sondern wesentliches Sein ist, verflüchtigt sich der Schein vermittlungsloser Unmittelbarkeit, und das Ding erweist sich in Wahrheit als ins Anderssein reflektierte Existenz, als Erscheinung. Statt an dem abstrakten und unbestimmten Dingan-sich als einer letzten Bestimmung festzuhalten und die Reflexion demselben entgegenzusetzen mit der Folge, dass die Bestimmtheit und Mannigfaltigkeiten dem Ding an sich äußerlich und einem bloß subjektiven Bewusstsein überlassen bleiben, ist zu begreifen, dass das Ding-an-sich als wesentliche Existenz Reflexivität und die Bestimmung, durch Eigenschaften bestimmt zu sein, in sich enthält. Ist die Bestimmung des Dinges als reines Ding an sich abstrakt und unwahr, so ist die wahre Bestimmtheit des Dinges an sich seine Eigenschaft, durch welche das Ding sich von anderen Dingen unterscheidet, um schließlich aus der Nichtigkeit bloßen Insichbestehens gänzlich über sich hinausgeführt zu werden und zur Erscheinung zu gelangen. In ihr, der Erscheinung, ist das existierende Ding aufgehoben, so dass rückblickend zu sagen ist: in Wahrheit ist das Ding nichts außer Erscheinung. Das Wesen west in der Erscheinung. – Zur Logik des Begründens als Vermittlung von Sein und Form und zum absoluten Grund (Form und Wesen; Form und Materie; Form und Inhalt), bestimmten Grund (der formelle, der reale und der vollständige Grund) sowie zur Bedingung (das relative und das absolute Unbedingte und der Hervorgang der Sache in die Existenz) vgl. P. Rohs, Form und Grund. Interpretation eines Kapitels der Hegelschen Wissenschaft der Logik, Bonn 1969, bes. 122 ff.

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Das Gesetz der Erscheinung als das erste seiner Bestimmungsmomente erfasst das in ihrem Wechsel sich selbst gleich Bleibende. Das Gesetz ist die einfache Identität der Erscheinung mit sich. Vom Erscheinen wechselhafter Mannigfaltigkeiten, deren Einheit sie ist, unterschieden, hebt sich die gesetzliche Erscheinung als eine übersinnliche Welt von der sinnlich existierenden ab, um sich ihr gegenüberzustellen. Der sinnlichen Welt entgegengesetzt ist die übersinnliche Welt indes durch den bloßen Gegensatz zu dieser bestimmt und somit die – der von ihr unterschiedenen im Widerspruch entsprechende – verkehrte Welt. In das wesentliche Verhältnis als der Wahrheit der Erscheinung hebt sich besagte Verkehrtheit durch bestimmte Vereinigung von Wesen und Existenz auf. Unmittelbar ist das wesentliche Verhältnis, in dem sich Wesen und Existenz bestimmt vereinigen, dasjenige des Ganzen und der Teile, welches in das Verhältnis von Kraft und Äußerung bzw. in die Äußerung der Kraft übergeht, damit ihre Äußerlichkeit mit ihrer Innerlichkeit identisch sei. Die noch vorhandene Ungleichheit der Beziehung von Kraft und Äußerung ist im Verhältnis des Inneren und Äußeren aufgehoben, in deren ganz formell gewordenem Unterschied das wesentliche Verhältnis selbst zu Grunde geht, um das Wirkliche als die absolute Einheit der unmittelbaren und der reflektierten Existenz hervortreten zu lassen. Die Wirklichkeit ist die manifeste Einheit von Wesen und Erscheinung. In der Wirklichkeit haben das gestaltlose Wesen und die haltlose Erscheinung oder, wie Hegel auch sagt, das bestimmungslose Bestehen und die bestandlose Mannigfaltigkeit zu ihrer Wahrheit im Sinne der Aufhebung gefunden. Als bloße Einheit des Inneren und Äußeren, in welcher deren Unterschied zu einem leeren gemacht ist, ist die Wirklichkeit indes noch nicht eigentliche Wirklichkeit geworden. Als solche ist sie zwar bereits die Einheit von Wesen und Existenz, doch lediglich so, dass das Wesen Existenz unmittelbar in sich schließt, ohne diese zu wirklicher Eigenständigkeit zu entlassen. Eigentlich wirklich wird die Wirklichkeit, wenn sich die Einheit von Wesen und Existenz nicht in ihrer Unmittelbarkeit zurückhält, sondern manifestiert. Die Bestimmungsmomente der eigentlichen Wirklichkeit sind Zufälligkeit oder formelle Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit, reale Notwendigkeit oder reale Wirklichkeit sowie absolute Notwendigkeit, welch letzteres Bestimmungsmoment sich selbst und mit sich die Wirklichkeit in das absolute Verhältnis aufhebt.40

40 Die komplexen modallogischen Ausführungen Hegels zu Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit sind vergleichsweise verständlich zusammengefasst bei Ch. Taylor, Hegel. Übersetzt von G. Fehn, Frankfurt 1978, 369 ff. Entsprechendes gilt für die sowohl der enzyklopädischen, als auch der großen Logik gemeinsame „zweite Dialektik“ (366) der Wirklichkeitskategorie, nämlich Substanz-Akzidenz bzw. Zufall, Ursache-Wirkung und Wechselwirkung (vgl. a. a. O., 374 ff.). Signifikant in diesem Kontext ist Hegels Auseinandersetzung mit Spinoza, der das Absolute lediglich als Substanz und nicht als Subjekt denke. Gott ist anderes als die natura naturans. Zur „Dialektik der Kategorien“ in

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Seinem unmittelbaren Begriff nach ist das absolute Verhältnis dasjenige der Substantialität. Die Aktuosität der Substanz erweist sich im Hervorgehen akzidenteller Bestimmungen, die sie aus sich entlässt, ohne von ihnen im Eigenen recht eigentlich tangiert zu werden. Die Akzidenzien sind widerstandlose Modi der Substanz als einer absoluten Macht, die im Schaffen zerstört und im Zerstören schafft. Der akzidentelle Wechsel begründet keinen realen Unterschied zur Substanz. Die Akzidenzien sind nur an dieser, so wie die Substanz ihrerseits nur als das Innere der Akzidenzien fungiert, ohne sie recht eigentlich extern zu fundieren. Real wird die für das absolute Verhältnis in Anschlag zu bringende Differenz erst im Kausalitätsverhältnis, in welches das Substanzverhältnis sich auflöst, indem die Substanz sich zum Fürsichsein gegen ein Anderes bestimmt. Das formelle Kausalitätsverhältnis ist das Verhältnis von Ursache und Wirkung, welches sich indifferenziert und in das bestimmte Kausalitätsverhältnis übersetzt, das als Wirkung und Gegenwirkung sich realisiert, um in die Wechselwirkung als den vollendeten Begriff des absoluten Verhältnisses überzugehen. In der Wechselwirkung sind das Substantialitäts- und Kausalitätsverhältnis aufgehoben, und Reflexivität ist als die vollendete negative Beziehung auf sich offenbar. Damit ist das Wesen realisiert und der Begriff mitsamt dem Reich der Subjektivität und Freiheit zutage getreten. Noch einmal: Das Wesen west. Es ist das Wesen des Wesens, sich zu verwirklichen, um Aktuosität und nicht bloße Sich-selbst-Gleichheit zu sein. Die Wesenswirklichkeit mit Aristoteles energeia zu nennen, liegt daher auch von Hegel her nahe. Die wesentliche Wirklichkeit ist nicht dieses oder jenes, sondern die energetische Essenz, die das All durchwirkt, um sich überall und in jedem zu manifestieren. Ohne Erscheinung ist das Wesen nicht, was es ist. Es ist wesentlich ein Sich-Offenbaren. Daraus folgt u. a., dass das Verhältnis von Substanz und Akzidenz nicht als äußerlich, sondern als ein Wechselverhältnis von Momenten gleichen Rangs zu denken ist, wie denn auch das Verhältnis von Grund und Wirkung als ein substantielles Wechselverhältnis zu gelten hat, wenn Kausalität real sein soll. Aus den Bestimmungen von Substanzialität, Kausalität und Wechselwirkung, die Kant nach Quantität und Qualität der Relationskategorie zugeordnet hatte, ergibt sich der vollentwickelte Begriff der Wirklichkeit, der absolut insofern zu Hegels Logik überhaupt vgl. 297–456, hier: 199: „Hegel wird eine transzendentale Logik entwickeln, die auch eine Ontologie ist. … Indem die notwendigen Beziehungen zwischen den Kategorien einer transzendentalen Logik entdeckt werden, wird auch die notwendige Struktur der Wirklichkeit erkennbar.“ Taylor konstatiert mit Recht, dass die Übergänge in der Kategorienreihe, die in einer Kette dialektischer Begriffsbildungen konstituiert werden sollen, um Wirklichkeit zu strukturieren, „nicht immer zwingend sind“ (305). Zum „Schluss“, zu welchem Taylor am Ende seiner Interpretation der Hegelschen Logik gelangt, vgl. 456. Speziell zu Hegels Modallogik vgl. ferner T. Rossi Leidi, Wirklichkeit und Notwendigkeit. Die hegelsche Lehre der Modalitäten und Hegels Auseinandersetzung mit Aristoteles und Kants Auffassung der Modalbegriffe, in: W. Neuser/S. Roterberg (Hg.), Systemtheorie, Selbstorganisation und Dialektik, Würzburg 2012, 143–157.

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nennen ist, als er seine Realität in sich trägt, statt bloße Idee zu sein. Gemäß ihrer Logizität ist die Wirklichkeit ein sich selbst bestimmendes Ganzes, welches indes weder an sich noch für sich zu denken ist ohne jene Totalität, die mit dem Ich als Negationsfähigkeit überhaupt kategorial gesetzt ist. Denn alles, was ist, steht unter der Bedingung, gedacht und gewusst werden zu können, und wäre ohne Erfüllung dieser Bedingung nicht, was es ist.

6.

Die egologische Logik des Begriffs

Nach Maßgabe der Seinslogik ist alles, was Etwas ist, durch den externen Bezug zu anderem bestimmt, im Unterschied zu dem es ist, was es ist. In der Wesenslogik als der Logik der Reflexion wird Beziehung hingegen als Beziehung auf sich, als Selbstbezüglichkeit, als ein internes Einssein von Einem und Anderem gedacht. Als Reflexion in ihm selbst ist das Wesen ganz bei sich, um sich seiner Bestimmung gemäß in der Erscheinung zu entäußern. In dem, was Wirklichkeit genannt wird, sind sonach Wesen und Erscheinung auf differenzierte Weise eins. Vermittelt ist der Dreischritt von Wesen durch die Erscheinung hindurch zur Wirklichkeit durch die anfängliche Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem bzw. Wesen und Schein, aus deren Aufhebung die Logizität der Reflexion als eines Scheinens seiner in sich selbst hervorgeht. Bestimmtheit gewinnt die bloße Selbstreferenz der Reflexivität durch das, was Wesenheiten zu nennen ist. Wesenheiten oder Reflexionsbestimmungen lassen aus reiner Reflexion bestimmte Reflexion werden, die auf etwas reflektiert, was hinwiederum möglich ist nur, wenn sich dafür Gründe angeben lassen. Hegel unterscheidet zwischen absolutem, bestimmtem Grund und demjenigen, was er Bedingung nennt. Als absoluter Grund setzt sich das Wesen aller Erscheinung gegenüber, als bestimmter bezieht es sich auf sie etwa durch die Unterscheidung von formierender Form und zu formender Materie, um schließlich als Möglichkeitsbedingung existenter Dinghaftigkeit zu fungieren. Existenz ist die erste Gedankenbestimmung von Erscheinung. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass einem Ding Eigenschaften zuerkannt werden. In Gestalt von Merkmalen, die ihm eigen sind, existiert Existierendes. Zur wesenslogischen Existenz gelangt ist Etwas nicht nur für Anderes wie in der Seinslogik, sondern als es selbst und für sich selbst. Als solches gedacht wird das Existierende als Existierendes offenbar. Es ist zur Erscheinung gekommen. Um die Logizität der Erscheinung zu ergründen, bedarf es der Einsicht in ihre Gesetzmäßigkeit. Diese Einsicht bringt es mit sich, dass der sinnlichen Welt eine übersinnliche gegenübertritt. Doch kann es bei der Gegenüberstellung einer verständigen Gedankenwelt und einer kontingenten Welt momentaner Erfahrungen nicht bleiben. Erst wenn der Gegensatz gedanklich behoben ist, erschließt sich

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wesenslogisch, was Wirklichkeit heißt. Sie verwirklicht sich in der differenzierten Einheit von Teil und Ganzem, Kraft und Äußerung, Externem und Internem. Wirklich ist die Wirklichkeit als aufgehobene Differenz von Innen und Außen, als das offenbare Wesen, in dem das Sein im Begriff steht, zur Vernunft gebracht zu werden. Absolut genommen scheint die Wirklichkeit nichts zu sein als sie selbst, nämlich ein Verhältnis von Verhältnissen, das in seiner Totalität vollkommen ist in sich selbst. Doch lässt sich der wesenslogische Anspruch der Wirklichkeit auf Absolutheit nicht halten, weil sie objektiv real nicht losgelöst von Subjektivität ist. Der Gedanke subjektloser Realität ist nicht zu denken, sondern ein Ungedanke, der überwunden werden muss. Der Übergang von der Wesenslogik zur Begriffslogik ist damit angezeigt. Vermittelt wird er durch den Gedanken der Wechselwirkung, der nicht eine Relation zweier Relate, sondern eine absolute Bezogenheit meint, in der Substanz und Akzidenz, Ursache und Wirkung etc. nicht länger geschieden, sondern zu einer manifesten Welt im umfassendsten Sinne des Begriffs zusammengeschlossen sind. Was Welt heißt, ist der Inbegriff alles Wirklichen und in seiner Totalität keiner Ergänzung bedürftig. Allein das Ich, welches die Begriffslogik denkend zu erfassen sucht, geht nicht in der Welt auf, sondern steht als eine ebenfalls sich auf sich beziehende Totalität ihr extramundan gegenüber, bis am Ende der Logik ein absolut Absolutes offenbar wird, in der die Differenz beider Totalitäten behoben und die absolute Wirklichkeit der Welt und die Absolutheit des Ichs übereinkommen, sodass objektive und subjektive Logik sich vollenden. Die Wesenslogik stellt nach verbreiteter, von Hegel selbst geteilter Auffassung den schwierigsten Part der an Schwierigkeiten reichen Wissenschaft der Logik dar. Dies ist wesentlich dadurch bedingt, dass in ihr das Problem besonders virulent wird, einen hermeneutischen Schlüssel zur Gesamtrekonstruktion des Werkes zu finden. Nach dem Urteil von Dieter Henrich ist ein solcher Schlüssel weder bis heute gefunden worden noch wird er sich künftig finden lassen. Auch das Prinzip der negierten Negation könne „kein Schlüssel zur Rekonstruktion der ganzen Logik sein. Zwar beruht sie auf einer formalen Operation und erlaubt auch eine rein formale Entwicklung über mehrere Schritte. Sie treibt aber zugleich in Konsequenzen, die sich aus dem einfachen Begriff der selbstbezüglichen Negation allein heraus nicht mehr beherrschen lassen. Dazu sind neue Einheitsbegriffe der Negativität erforderlich, die deduktiv nicht gewonnen werden können, wenn auch die deduktive Entfaltung des Gedankens der Negativität Anweisungen dafür gibt, welche Form sie haben müssen.“41 Die Selbstbewegung des Denkens, in deren Fortgang sich die

41 D. Henrich, Hegels Logik der Reflexion. Neue Fassung, in: ders. (Hg.), Die Wissenschaft der Logik und die Logik der Reflexion, Bonn 1978 (Hegel-Studien Beiheft 18), 203–324, hier: 319. Die „reine Struktur der negierten Negation“ (322) ist nach Henrich Thema der Logik der Reflexion und tritt in dieser identifizierbar und erkenntlich zutage, aber nicht ohne seinslogische Prämissen, die ihre unableitbare Voraussetzung bilden, und nicht ohne jene Bedeutungsverschiebungen, die

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Logik entwickelt, um zu immer bestimmteren Gedankenbestimmungen bzw. gedanklichen Bestimmtheitsweisen zu gelangen, stellt nach Henrich keinen linearen Progress, sondern ein Vorgehen unter ständigem Rückgriff auf Vorangegangenes dar dergestalt, dass in der Wesenslogik seinslogische und in der Begriffslogik wesenslogische Bezüge erhalten bleiben. Weder kann das Wesen das Sein, noch der Begriff das Wesen zum bloß transitorischen Moment herabsetzen. Hegels Anweisung am Übergang von der Wesens- zur Begriffslogik lautet, „daß die Substanz zugleich als Subjekt zu denken sei“42 . Die begriffliche Fortbestimmung der wesenslogischen Substanz durch Subjektivität und auf Subjektivität hin folgt aus den vorhergehenden Denkoperationen und liegt in ihrer logischen Konsequenz. Die ontologische Verfestigung der Indifferenz des logisch Anfänglichen zu einem Seinsprinzip hätte demnach als ebenso denkwidrig zu gelten wie die Fixierung des Begriffs auf ein substantialisiertes Wesen. Doch spricht Hegels Wendung, wonach die Substanz „zugleich“ als Subjekt zu denken sei, eindeutig gegen eine Verflüchtigung von Substanzialität in Subjektivität. Sein und Wesen sind nicht lediglich Durchgangsstationen des Begriffs, sondern von eigener Wertigkeit, die

über einen einsinnigen Begriff selbstbezüglicher Negation hinaustreiben. Der Fortgang zu immer reicheren Bestimmungen bzw. Bestimmtheitsweisen kann „nur realisiert, aber nicht durch formales Operieren erzwungen werden“ (321). Das Ende des Realisierungsprozessses hinwiederum, den die Logik denkend generiert, lässt sich „nicht als Manifestation eines Prinzips verstehen, vor dem alles Vorhergehende zu einem vorläufigen und in Wahrheit von ihm Abhängigen würde“ (323). Ist doch das Resultat nur im Vollzug des Resultierens das Ergebnis, welches es zu sein beansprucht. Der am Ende der Logik entwickelte absolute Begriff weist von sich aus auf den Anfang seiner Entwicklung zurück, nämlich auf das Sein in seiner Gedankenblöße, das in schierer Anfänglichkeit reines Sein ist und sonst nichts. „Daraus könnte man“, so Henrich, „die Konsequenz ziehen, dass das Faktum des Anfangs seinerseits zum Prinzip gesteigert werden muß. Dann wäre zu sagen, daß der logische Prozeß von einer ihm unverfügbaren Voraussetzung dependiert, die sich in der Unmittelbarkeit des Anfangs geltend macht und die nie wieder eingeholt werden kann.“ (Ebd.) Für einen solchen Versuch spricht nach Urteil Henrichs viel, gegen ihn und gegen die Ontologisierung der anfänglichen Indifferenz zum absoluten Faktum allerdings die Einsicht, dass auf diese Weise die Bedeutungsentwicklung, die auf ihn folge, nicht nur nicht verständlich gemacht werden könnte, sondern unverständlich bleiben müsste. Möglich sei ein Verständnis nur, wenn der Anfang nicht zum axiomatischen Prinzip verklärt werde, sondern als ein immer schon gemachter in die Sequenz eingehe, die auf ihn folge. Nur ein solches Verfahren entspreche der Methode der Hegel’schen Logik sowie ihrem thematischen Programm. 42 A. a. O., 218. Die Logik des Wesens hat es ihrem Titel zufolge primär mit demjenigen zu tun, was man ousia, essentia oder Substanz nennt. Doch konnte es bei dem substantiellen Ansichsein in der Ununterschiedenheit seines sich selbst gleichen Wesens nicht sein Bewenden haben. Um zu Erscheinung zu gelangen und wirklich zu werden, musste sich das Wesen seiner Sich-selbstGleichheit entäußern und seine Identität im Differenten explizieren. Damit nicht genug: um einen entwickelten Begriff seiner selbst als substantielle Wirklichkeit zu generieren, muss das Wesen aus der kategorialen Form der Substanz in diejenige der Subjektivität treten, weil ohne die Ich-Förmigkeit der Wirklichkeit ihr reales Wesen nicht bestünde.

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in diesem logisch erhalten bleiben, um realphilosophisch expliziert zu werden. Es wäre deshalb auch kontraproduktiv, die „subjektive“ Logik des Begriffs lediglich subjektivitätstheoretisch aufzufassen, weil dadurch der Subjektivitätsbegriff tendenziell resubstanzialisiert und zuletzt seinslogisch ontologisiert würde. Die subjektive Logik des Begriffs ergibt sich nicht anders als im Prozess des Resultierens, der begriffslogisch an ein Ende, nicht aber zum Stillstand kommt. Das Wesen muss erscheinen, um wirklich zu sein, wurde gesagt. Um in ihrer Totalität nicht totalitär zu entarten, ist die wesenslogisch erfasste Wirklichkeit in die Sinnsphäre der Freiheit zu erheben, in welcher das Wesen auf den Begriff und der Verstand zur Vernunft gebracht wird.43 Scheint Sein anfänglich gedankenlos und ohne Bewusstsein gegeben zu sein, so verflüchtigt sich dieser Schein im Laufe der seinslogischen Entwicklung, um in der Logik des Wesens durchschaut zu werden. Sein bedarf des Bewusstseins, um als Sein erkannt zu werden. Die Logik des Wesens bringt diese Einsicht durch verständige Reflexion zur Geltung, bleibt aber an sich selbst durch ihren Unterschied zur Seinslogik bestimmt und wie das Bewusstsein gegenständlich bzw. objektbezogen. Erst in der Begriffslogik weiß das Bewusstsein dergestalt um sich selbst, dass alle Differenz im sich wissenden Wissen aufgehoben zu werden vermag. Hegels Formel für den Inbegriff sich wissenden Wissens lautet: Negationsfähigkeit überhaupt44 , will heißen: Der Begriff ist in seinem Anderen schlechterdings nur als identisch mit sich gesetzt. Wenn Hegel das Ich den zum Dasein gekommenen und zu freier Existenz gediehenen Begriff nennt, dann ist diese Wendung nicht mit der Vorstellung eines sinnlich in Erfahrung zu bringenden Individualsubjekts zu assoziieren,

43 Im freien Begriff ist der Standpunkt der Substanz, wie er beispielhaft das System des Spinoza bestimmt, aufgehoben. Aufgehoben heißt, dass das Verhältnis substanzieller Notwendigkeit nicht der höchste Standpunkt sein kann. 44 Zu „Hegels Logik des Begriffs“ vgl. einführend etwa den gleichnamigen Beitrag von R. Bubner, Zur Sache der Dialektik, Stuttgart 1980, 70–123. Hegels Begriffslogik ist keine formale oder sprachanalytisch substituierbare, aber auch keine „spekulativ verschleierte Sozialphilosophie“ (72), als deren verschlüsselte Weisheit „die ideale Lebensform des herrschaftsfreien Einsseins mit dem Alter Ego“ (87 gegen M. Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt a. M. 1978) zu gelten hätte, sondern „eine ursprüngliche Struktur der auf sich selbst bezogenen und deshalb von sich nicht mehr unterscheidbaren, mithin ganz einheitlichen Negativität“ (89). Der Begriff entwickelt sich aus Sein und Wesen als den Momenten seines Werdens, um mittels Urteil und Schluss seine Genese zu vollenden und die Wissenschaft der Logik zum Abschluss zu bringen, in der die Einheit aller ihrer Differenzmomente hergestellt ist. „Der abstrakte Verstand hält gegebene Unterschiede einfach fest. Der Begriff hingegen als die totale Vermittlung unterwirft sich die Unterschiede; denn seine Einheit, anstatt ihrerseits im äußeren Kontrast zu allem Unterschied zu stehen, erwächst vielmehr aus der Negation oder dem zu sich selbst in ein Verhältnis gebrachten Unterscheiden.“ (91 f.) Vgl. hierzu die Ausführungen zu Adäquationstheorie der Wahrheit (92ff.) sowie zum spekulativen Satz (98f.). Zum Problem des Abschlusses der Logik, dem dasjenige ihres Anfangs sowie ihres Übergangs zur sog. Realphilosophie korrespondiert vgl. bes. 113ff.

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sondern mit dem Gedanken des Ich-denke zu verbinden, von dem Kant gesagt hat, es müsse alle meine Vorstellungen begleiten können. Beim bloßen Ich-Gedanken kann es aber ebensowenig wie bei demjenigen der Negationsfähigkeit überhaupt sein Bewenden haben. Das selbstbestimmende Selbstbewusstsein als Negationsfähigkeit überhaupt (Ichheit, Bestimmen, Denken), das als solches unmittelbar sich selbst will, muss sich in seiner Unmittelbarkeit negieren und an ein anderes (Ich-Bestimmung, Bestimmtes, Gedanke) entäußern. Das bedeutet nach Hegel indes keine Veräußerung, vielmehr kommt die Subjektivität in der Entäußerung an ein anderes erst wirklich zu sich, da sie die Entäußerung als ihre Entäußerung, die Negation ihrer allgemeinen Negationsfähigkeit als ihre Negation weiß, somit am anderen das andere ihrer selbst hat und an ihm zum wirklichen Begreifen ihrer selbst kommt (Ich, Bestimmendes, Denkendes). Damit – und erst damit – ist die strukturelle Verfassung des Begriffs umschrieben. Die strukturelle Verfassung des Begriffs, wie er an sich selbst ist, exemplifiziert Hegel anhand der logischen Abfolge von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, um sie über die Formen des Urteils und des Schlusses zum Begriff des Begriffs als der vollentwickelten Logizität dessen fortzubestimmen, was er Subjektivität nennt. Die in der monographischen Darstellung subjektive Logik genannte Logik des Begriffs endet indes nicht mit der Subjektivitätslogik, an die sich vielmehr die begriffslogische Objektivitätslehre anschließt. Erst aus der Aufhebung der Differenz beider ergibt sich die absolute Idee bzw. die Idee des Absoluten, in welcher sich die Begriffslogik vollendet. Nimmt man dies zur Kenntnis, dann lässt sich der Begriff des Absoluten im Sinne der Hegel’schen Logik keinesfalls mit demjenigen gleichsetzen, den das Ich von sich selbst hat. Absolutheitstheorie und Subjektivitätstheorie sind logisch zu unterscheiden. Um unter dieser Prämisse die elementaren Bestimmungsmomente des Begriffs noch einmal egologisch ins Auge zu fassen: Die Allgemeinheit des Ich ist bestimmt als Negationsfähigkeit überhaupt, als Negation jeder möglichen Negation. Denn jedwede Bestimmtheit (Negation) steht unter der Bedingung des Wissen-Könnens und ist somit dem Ich als dem Ort allgemeinen Wissen-Könnens aller Bestimmtheit zugehörig erwiesen. Im Wissen der Bestimmtheit hebt das Ich jede Bestimmtheit in sich auf oder – was dasselbe ist – das Ich negiert die Bestimmtheit und macht sie mit sich identisch. Das Ich weiß im Wissen der Bestimmtheit mithin sich selbst. Jede mögliche Bestimmtheit ist demnach als Gesetztsein des Ich zu begreifen, das Ich selbst hingegen als das Setzen überhaupt, was nichts anderes ist als allgemeine Negationsfähigkeit, mit sich identische Negation. Ich als Setzen überhaupt ist ein Setzen, das sich über sein Gesetztsein setzt, ohne selbst je Gesetztsein zu sein. Denn auch den ausdrücklichen Gedanken Ich negiert das Ich – als Setzen überhaupt, als Denken seiner selbst – als sein Negat wieder; im Gedanken „Ich“ nämlich denkt das denkende Ich eben sich, womit der Gedanke „Ich“ zugleich negiert ist. Da aber der Ich-Gedanke der Ort des Gedachtwerdens

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von Bestimmtheit ist, ist mit seiner Negation durch Ich schon die Möglichkeit der Negation von Bestimmtheit überhaupt gegeben. Die Bestimmung des Ich als Negationsfähigkeit überhaupt ist wieder erreicht. Die Gleichheit des Ich im Denken, Fühlen und Handeln besteht einzig in der Funktion, alle möglichen Negationen (Bestimmtheiten) negieren zu können. Damit entspricht die Allgemeinheit des Begriffs, das Ich als Negationsfähigkeit überhaupt freilich genau dem, was Fichte als absolutes Ich, Kant als transzendentale Einheit der Apperzeption beschrieben hat. Einen wirklichen Fortschritt der Hegel‘schen Logik der Transzendentalphilosophie der Genannten gegenüber bezeichnet demnach im Grunde erst der zur Besonderheit des Begriffs führende Gedanke. Die Leere des transzendentalen Subjekts ist nach Hegel nur zu vermeiden, wenn das Ich nicht in seiner bloßen Allgemeinheit verweilt, sondern in der Weise der Selbstapplikation seine allgemeine Negationsfähigkeit auf sich selbst bezieht. Ich als Negationsfähigkeit überhaupt muss sich selbst dieser Negationsfähigkeit unterstellen und seine absolute Negativität auf sich selbst anwenden. Die Allgemeinheit des Ich hat somit zur Besonderheit zu werden, das Ich muss sich an Bestimmtes (Gedanken, Gefühle, Taten) entäußern, etwas sein. Das Ich muss Negation der allgemeinen Negationsfähigkeit werden. Dies ist für das Ich als Allgemeinheit freilich nicht bloße Forderung, sondern interne Notwendigkeit. Indem es sich nämlich über das Setzen und Negieren der Bestimmtheit hergestellt hat, trug es immer schon eine Differenz in sich, denn es blieb als Negation aller Bestimmtheit (Unbestimmtheit) negativ auf Bestimmtheit bezogen. Diese Differenz nimmt das Ich als Besonderes „wahr”. Indem das Ich durch die Negation seiner allgemeinen Negationsfähigkeit anerkennt, dass es im Negieren der Negation von dieser negativ abhängig und als Bestimmen der Bestimmtheit von dieser bestimmt bleibt, gibt es dem anderen seiner selbst recht und hört auf, abstrakt selbstbestimmend, bloß aktiv zu sein. Damit hat Hegel der Philosophie seiner Zeit gegenüber eine radikale Wende vollzogen. Das Bestimmte tritt in seinem Denken offenbar logisch gleichwertig neben das Bestimmen, die Differenz wird nicht zum bloßen Akzidens in sich identischer Identität herabgesetzt, das Nicht-Ich ist nicht weiter rein passiv-ohnmächtiges Material unmittelbar selbstmächtiger Tätigkeit des Ich. Das Ich bedarf des anderen; es ist, was es ist, nur im anderen seiner selbst. Die Selbstentäußerung des Ich führt nach Hegel nicht zur Selbstveräußerung, da das Ich im anderen eben sich selbst vorfindet. In der Einzelheit schließen sich Allgemeinheit und Besonderheit, Bestimmen und Bestimmtes, Identität und Differenz, Ich und Nicht-Ich zu manifester Einheit zusammen. Die Negation seiner Negationsfähigkeit und die damit gegebene Entäußerung zum Besonderen weiß das Ich als sein eigenes Tun. Das Ich weiß somit, dass die Bestimmtheit, als die es sich setzt, sie selbst ist; über seine Bestimmtheit bezieht sich das Ich somit auf sich selbst zurück. Damit ist nach Hegel alles Außen eingeholt, die Einzelheit als

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die vollendete Entwicklung des Ich offenbar. Ich ist nunmehr Bestimmendes als Einheit von Bestimmen und Bestimmtem, Denkendes als Einheit von Denken und Gedanke, Handelndes als Einheit von Tätigkeit und Tat, Ich als Einheit von Ich und Nicht- Ich, Ichheit und Ichbestimmung – lebendige Identität von Identität und Differenz. Die Beziehung auf sich schließt den Gedanken einer Beziehung auf anderes und die Beziehung auf anderes den Gedanken der Beziehung auf sich ein. Der Begriff bedingungsfrei sich produzierender Selbstbeziehung ist erreicht. In der Einzelheit hat das andere aufgehört Fremdes zu sein, es ist als anderes wahrhaft angeeignet. Damit ist das Ich Selbstbestimmendes geworden. Es expliziert im anderen sich selbst. Es bezieht sich im Negieren nur noch auf sich selbst, ist somit absolute Negativität. Sonach ist die Struktur der Selbstexplikation im anderen entwickelt und der volle Begriff der Subjektivität erfasst. Über die Bestimmungsmomente Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit zu seiner begriffslogischen Vollentfaltung gelangt, lässt das Urteil den Begriff der Subjektivität, der in seiner Einzelheit unmittelbar er selbst in der Totalität seiner Bestimmungsmomente ist, sich selbst äußerlich werden, um ihn auf diese Weise mit dem Anderssein seiner selbst zusammenschließen zu können. Ziel der begriffslogischen Bewegung des Urteilens45 in seinen verschiedenen Formen ist es, dem vollentwickelten Begriff der Subjektivität im Durchgang durch die Differenz seiner Prädikate jene in sich differenzierte Identität zu verschaffen, wie sie im Schluss als der Einheit von Begriff und Urteil manifest ist.46

45 Im Urteil des Daseins und seinen Momenten des positiven, negativen und unendlichen Urteils wird der Begriff in seiner Einzelnheit als Einzelner gesetzt, nämlich als sich in sein Prädikat, das mit ihm identisch ist, kontinuierendes Subjekt. Durch das Urteil des Daseins ein Einzelnes oder gesetztes Allgemeines geworden bestimmt das Urteil der Reflexion den Begriff zur gesetzten Besonderheit. Dies geschieht in der Weise des singulären, partikulären und universellen Daseins dadurch, dass das Prädikat dem Subjekt nicht mehr bloß inhäriert, sondern als Ansichseiendes fungiert, dem das Subjekt in seiner Einzelnheit subsumiert wird. Daseinsurteile sind sonach Urteile der Inhärenz, Reflexionsurteile Urteil der Subsumtion. Das zunächst eher äußerliche Subsumieren des Einzelnen unter bestimmte Bestimmungen geht im Verlauf des Urteilens in die wesentliche Identität eines substantiellen Zusammenhangs über: im Urteil der Notwendigkeit ist, wie Hegel sagt, die anundfürsichseiende oder objektive Allgemeinheit gesetzt. Vermittels des kategorischen, das es vollendet, hebt sich das Urteil der Notwendigkeit in dasjenige des Begriffs auf, in welchem alle bisherigen Urteile enthalten und ihrer Bestimmung zugeführt sind. In seiner unmittelbaren Form ist das Begriffsurteil assertorisch versichernd. Die Problematik der Versicherung des assertorischen Urteils wird im problematischen manifest, um im apodiktischen zu seiner Wahrheit zu finden. In ihm vollendet sich das Urteilen und kommt zum Schluss als der realisierten Einheit von Begriff und Urteil. 46 Der Schluss des Daseins als der erste oder der formelle Schluss, nach dessen erster Figur sich die Einzelnheit durch die Besonderheit mit der Allgemeinheit zusammenschließt, leistet auch in seinen weiteren Figuren (B-E-A; E-A-B) nicht mehr als der mathematische Schluss (A-A-A) als eine vierte Figur, dass nämlich die Beziehung eines Subjekts auf ein Prädikat in einer gegen Inhalte

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7.

Von der begriffslogischen Egologie zur absoluten Idee

Die Lehre vom Begriff als der dritten Abteilung der Hegel’schen Logik ist nach Maßgabe der Drittauflage der Enzyklopädie dreigeteilt in die Lehre vom subjektiven Begriff, von der Objektivität als dem zur Unmittelbarkeit bestimmten Begriff und von der Idee als „dem Subject-Objecte, der Einheit des Begriffs und der Objectivität, der absoluten Wahrheit“ (Enz.3 § 162), worin das Vernünftige wirklich und das Wirkliche vernünftig ist. Die Lehre vom subjektiven Begriff wird im Dreischritt von Begriff als solchem, Urteil und Schluss entwickelt. Der Begriff als solcher enthält die Bestimmungsmomente der Allgemeinheit, der Besonderheit und der Einzelheit47 , in welcher die Differenz von Allgemeinheit und Besonderheit aufgehoben und der Begriff, wie es heißt, in seiner Totalität gesetzt ist (vgl. Enz.3 § 163), jedoch erst unmittelbar und noch nicht in jener Bestimmtheit, die erst durch das Urteil zustande kommt.48 Im Urteil werden die Begriffselemente durch Unterscheidung aufeinander bezogen und als vermittelte gesetzt mit dem Ziel, sie im Schlussverfahren auf der Höhe des zu sich selbst gelangten entwickelten Begriffs dergestalt wiederzuvereinen, dass begriffliche Identität und Differenz vollendet vereint sind. Als Einheit des Begriffs als solchen und des Urteils ist der Schluss im Vollzug seiner Momente (qualitativer Schluss, Reflexionsschluss und Schluss der Notwendigkeit)

schlechterdings gleichgültigen Weise mediatisiert werden kann. Ist die Form des formalen Schlusses völlig abstrakt, so behebt sich die Abstraktheit des ersten Schlusses durch dessen Übergang in den Schluss der Reflexion, der durch seine drei Unterarten, den Schluss der Allheit, der Induktion und der Analogie, im Schluss der Notwendigkeit seine Erfüllung findet. Im Schluss der Notwendigkeit schließlich schließt sich der Begriff mit sich selbst dergestalt zusammen, dass das Schließen überhaupt endet und die Subjektivität des Begriffs sich in dessen Objektivität aufhebt. Die letzten Stationen dieses Aufhebungsprozesses sind durch den kategorischen, den hypothetischen und den disjunktiven Schluss markiert. Sie wie alle vorhergehenden Schlussarten sind Stufen der Erfüllung des Mediums, vermittels dessen im Schließen geschlossen wird. 47 „Individuelles und Individuationsprinzip in Hegels Wissenschaft der Logik“ ist thematisiert in F. Unglers gleichnamiger Studie, die von M. Gottschlich und Ph. S. Hoffmann herausgegeben wurde (Freiburg/München 2017). Hoffmann selbst hat „Eine Propädeutik“ zu Georg Wilhelm Friedrich Hegel vorgelegt, Wiesbaden² 2012, die sich als Einführung auch in die Wissenschaft der Logik eignet (vgl. 289–394). Die „spekulativ logische Erkenntnis des Einzelnen in Hegels Wissenschaft der Logik“ ist ferner eingehend analysiert in: Th. Auinger, „Individuum est effabile“. Spekulativ logische Erkenntnis des Einzelnen in Hegels Wissenschaft der Logik, Hamburg 2021, bes. 392 ff.: „Die Einzelheit als der vollendete Begriff in seiner Rückkehr zu sich.“ Ferner: H. Schmitz, Hegel als Denker der Individualität, Meisenheim/Glan 1957; vgl. vom selben Autor: Hegels Logik, Bonn/ Berlin 1992. 48 Zum Urteil in der Einteilung seiner Formen als Urteil des Daseins (positiv; negativ; unendlich), der Reflexion (singulär; partikulär; universell), der Notwendigkeit (kategorisch; hypothetisch; disjunktiv) und des Begriffs (assertorisch; problematisch; apodiktisch) sowie zum Übergang vom Urteil zum Schluss vgl. im Einzelnen L. Eley, Hegels Wissenschaft der Logik, München 1976, 161–188.

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der realisierte Zusammenschluss des Begriffs mit sich selbst, in dem alles ihm andere aufgehoben und beschlossen ist. Der in der differenzierten Einheit von Begriff, Urteil und Schluss mit sich selbst zusammengeschlossene Begriff ist in seiner Totalität vollkommen in sich und keiner Ergänzung bedürftig. Die Bezeichnung der Begriffslogik als subjektive Logik unterstreicht die integre Ganzheit des erreichten Begriffs der Subjektivität als des Begriffs des Begriffs. Es mag daher auf den ersten Blick überraschen, dass auf die Begriffslogik der Subjektivität ein Abschnitt folgt, der begriffslogisch von Objektivität handelt. Erst nach erfolgtem Durchgang durch ihn und nicht schon in der Subjektivitätslogik selbst wird die Logizität dessen erreicht, was Hegel die absolute Idee oder die Idee des Absoluten nennt. Ihre Logizität mit derjenigen von Subjektivität gleichzusetzen erscheint mithin als abwegig, jedenfalls nicht im Sinne der Hegel’schen Logik zu sein.49 Abwegig wäre es freilich auch, die Begriffslogik von Objektivität gegen diejenige von Subjektivität auszuspielen. Was Hegel begriffslogisch Objektivität nennt, ist weder mit Sein, Dasein oder Fürsichsein im seinslogischen Sinne, noch mit demjenigen gleichzusetzen, was die Wesenslogik Realexistenz und Wirklichkeit nennt. Als Realität des Begriffs ist Objektivität zwar das Andere von Subjektivität, doch als solches dasjenige, in dem sich diese als sie selbst aufzufinden und zu explizieren vermag. Objektivität im begriffslogischen Sinne ist absolut wissensförmig, kurzum: das wissenschaftlich Objektive.

49 Die Begriffslogik bedenkt das Denken, das sich denkend auf sich selbst bezieht, ohne konstitutiv auf anderes bezogen zu sein. Wenn sie subjektive Logik genannt wird, bedeutet dies keinen Verzicht auf Objektivität, wie aus den begriffslogischen Überlegungen zu diesem Thema unschwer zu ersehen ist. Eingesehen werden muss aber, dass es subjektlose Objektivität ebensowenig gibt wie ein Objekt ohne Gedankenbestimmungen. Gleichwohl bleiben Fragen, die sowohl den begriffslogischen Übergang von Subjektivität zu Objektivität als auch das Problem betreffen, ob die Kapitel über Mechanismus, Chemismus und Teleologie überhaupt in die Begriffslogik gehören. (Vgl. hierzu und zu den Makrostrukturen der Hegelschen Logik sowie zum Verhältnis ihrer verschiedenen Entwürfe untereinander u. a. V. Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. Band 1: Systementwicklung und Logik, Hamburg 1987, 155–275; Ferner: G. Römpp, Hegel leicht gemacht. Eine Einführung in seine Philosophie, Köln/Weimar/Wien 2008, 180–197.) „Begeht Hegel hier (sc. in den Kapiteln über Mechanismus, Chemismus und Teleologie) einen Missgriff “, indem er die Logik verlässt und auf realphilosophische Themen vorgreift? (A. F. Koch, Subjektivität und Objektivität: Die Unterscheidung des Begriffs, in: ders. u. a. (Hg.), Hegel – 200 Jahre Wissenschaft der Logik, Hamburg 2014, 209–2021, hier: 2012) Passt die mechanische, chemische oder teleologische Objektivität, wie sie für die Logizität von Organismen kennzeichnend ist, zur subjektivitätslogischen Abfolge von Begriff, Urteil und Schluss? Als kontinuierlich begreifen lässt sich der begriffslogische Übergang von Subjektivität zur Objektivität und damit die Kontinuität der Begriffslogik gewiss nur von der „Idee als Einheit von Begriff und Objektivität“ her bzw. auf sie hin (vgl. Chr. G. Martin, Die Idee als Einheit von Begriff und Objektivität, in: a. a. O., 223–242).

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Seiner unmittelbaren Verfassung gemäß hat das wissenschaftlich Objektive Hegel zufolge den Charakter des Mechanismus. Dessen Bestimmungsmomente sind folgende: 1. Das mechanische Objekt, welches die Bestimmtheit seiner selbst in anderen Objekten hat, die ihm äußerlich sind und ins Unendliche hin äußerlich bleiben; es entbehrt daher jeder Selbstbestimmung und erweist sich durchgängig als äußerlich determiniert. Sein Universum ist dasjenige des Determinismus. 2. Der mechanische Prozess als das Setzen des im Begriff des Mechanismus enthaltenen Widerspruchs, wie er u. a. als Macht des Zufalls und des blinden Schicksals wirksam ist, denen die mechanischen Objekte ausgesetzt sind. 3. Das Resultat des mechanischen Prozesses, das seine Wahrheit und konkrete Grundlage ist, manifestiert sich im absoluten Mechanismus, in welchem das Objekt sich zentriert und zum Zentralkörper wird, dessen Bestimmtheit nicht länger nur äußerlich bleibt, sondern zur inneren Mitte, zum Mittelpunkt, zum Zentrum geworden ist. Vermittels des mechanischen Prozesses in sich gegangen kann das Objekt in seiner einfachen Zentralität in den Gegensatz zu der als seine Äußerlichkeit bestimmten Äußerlichkeit treten. Das Objekt ist so in seiner Existenz gegen sein anderes different gesetzt, womit zugleich das Gesetz des Mechanismus umschrieben ist. Der Übergang des Mechanismus in den Chemismus ist durch das Bestreben des Objekts initiiert, sich als das gegen sein anderes Differente auf sein anderes zu beziehen und die ihm unter mechanischen Bedingungen äußerliche Differenz zu seinem anderen fortschreitend in sich zu begreifen. Das chemische unterscheidet sich also vom mechanischen Objekt dadurch, dass Beziehung auf anderes seine eigentümliche Objektivität ausmacht. Zu ergänzen ist, dass mit dem Ausdruck Chemismus, mit welchem das zweite Kapitel des Objektivitätsabschnitts der Begriffslogik überschrieben ist, das gesamte Verhältnis der Differenz der Objektivität oder anders: das Moment des Urteils im Ganzen der Objektivität und nicht nur jener natürliche Zusammenhang benannt ist, welcher üblicherweise chemisch heißt. Die Logizität des Chemismus betrifft nach Hegel etwa auch das animalische Geschlechtsverhältnis, ja sie macht sogar die formale Grundlage für die geistigen Verhältnisse der Liebe und Freundschaft aus. Als das seiner Natur nach auf ein anderes sich Beziehende vermag das chemische im Unterschied zum mechanischen Objekt den Prozess der Aufhebung seiner abstrakten Selbstständigkeit selbstbestimmend anzufangen, um im Verlauf des chemischen Prozesses die Äußerlichkeit und Unmittelbarkeit seiner Objektivität zu negieren und sich als frei und für sich gegen dieselbe, kurzum: als Zweck zu setzen. Damit ist der Chemismus als Reflexionsverhältnis der Objektivität in die Teleologie übergegangen, in welcher die Objektivität zum Begriff und zur Wahrheit ihrer

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selbst gelangt.50 Zweck ist der existente Begriff der Objektivität, Zweckmäßigkeit die ihr eigentümliche Bestimmung. Als das konkrete Allgemeine, welches das Moment der Besonderheit in sich enthält, ist der Zweck das Streben des Objekts, von sich aus aus zu sein auf die Realisierung seines Begriffs. An sich selbst der Trieb seiner Realisierung entwickelt sich der anfänglich subjektive, will heißen: implizite, noch nicht zur Explikation seiner selbst gelangte Zweck vermöge des Mittels als des Mediums seiner Reflexion zum ausgeführten Zweck, womit der Begriff des Zwecks sich vollendet und sich auf die Idee hin überschreitet, in der subjektiver und objektiver Begriff sich zusammenschließen und ihre Wahrheit erlangen. Als Inbegriff begriffslogisch verfasster Subjektivität und Objektivität ist die Idee der vollentwickelte Begriff, der Begriff des Begriffs, der absolute Begriff bzw. der Begriff des Absoluten, welches die Absolutheit der Wirklichkeit, mit der die Wesenslogik endet, umfasst und in sich begreift. Die Idee ist die Wahrheit selbst. Erst in ihr ist das realiter Wirkliche als vernünftig und das Vernünftige als wahrhaft wirklich begriffen, die Logik vollendet und durch Aufhebung alles Bedingten zur Unbedingtheit, zum wahrhaft Unendlichen, zum Absoluten gelangt. Die Absolutheit der absoluten Idee ist absolut nicht im Sinne einer Loslösung von Realität, nicht als bloße Idee, die der Welt des Seins, des Wesens und der Erscheinung äußerlich gegenübersteht. In ihrer Absolutheit ist vielmehr die Differenz von Idealität und Realität behoben. Die Idee transzendiert alles Bedingte, aber nicht im Sinne einer Transzendenz, die dem Immanenten entgegensteht, sondern als das Immanenz und Transzendenz in sich Begreifende. Als abstrakt Transzendentes wäre die absolute Idee nicht absolut und nicht als jene Absolutheit begriffen, welche jeden Gegensatz in sich begreift und als Inbegriff aller Bedingungen wahrhaft unbedingt ist. Auch von einer stets nur approximativen Annäherung des Begriffs an die Idee kann vernünftigerweise nicht die Rede sein, wenn diese wirklich als realisierter Begriff begriffen wird. Sie ist nicht als jenseitiges Ziel zu betrachten, dem sich das Begreifen stets nur annähere, sondern als Resultat, in dem Begriff und Realität kongruieren: vollendete Teleologie. 50 Warum Hegel „komplexere teleologische Ereignisse für real und besser bestimmt hält als elementare Mechanismen“, zeigt D. Moyar, Die Lehre vom Begriff. Zweyter Abschnitt. Die Objectivität, in: M. Quante/N. Mooren (Hg.), a. a. O., 559–650. Zum Zweck als Einheit von Mechanismus und Chemismus und zur teleologischen Idee des organischen Lebens vgl. Chr. Spahn, Lebendiger Begriff – Begriffenes Leben. Zur Grundlegung der Philosophie des Organischen, Würzburg 2007, bes. 150 ff.; A. Sell, Der lebendige Begriff. Leben und Logik bei G. W. F. Hegel, Freiburg/München² 2014. Ferner: Hegel-Jahrbuch (Berlin) 2006/2007: Das Leben denken. Erster und zweiter Teil. – Zu Hegels Philosophie der Chemie und ihrer Vorgeschichte vgl. im Einzelnen D. v. Engelhardt, Hegel und die Chemie. Studie zur Philosophie und Wissenschaft der Natur um 1800, Wiesbaden 1976. Der Schlüssel für das Hegelsche Verständnis der Chemie bietet deren Stellung zwischen Physik und Organik (vgl. 98 ff.).

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Die näheren Bestimmungen der Idee als des zu seiner Realität entwickelten Begriffs sind folgende: 1. Ihrem unmittelbaren Begriff nach ist die Idee die identische Einheit des Begriffs und der Objektivität und darin vollständige Gleichheit mit sich selbst. Als solche ist sie die Idee des Lebens. 2. Im Leben existiert die Idee lediglich im Allgemeinen. Sie ist erst an sich ihr Begriff und noch nicht existenter Begriff für sich selbst. Zu diesem wird sie als Idee des Wahren und Guten, als Erkennen des Wahren und Wollen des Guten. 3. Die endgültige Wahrheit ihrer selbst, in der sie weder nur an sich, noch nur für sich, sondern an und für sich ist, ist die Idee schließlich als absolutes Wissen ihrer selbst, als reines Denken des Denkens, in welcher alles Erkennen und Wollen sich vollendet. Die Idee des Lebens, die in der Logik nicht als realphilosophische Größe im Sinne natürlichen oder geistigen Lebens zu nehmen, sondern für sich, will heißen: in ihrer reinen Logizität zu denken ist, enthält in sich Bestimmungsmomente lebendiger Individualität, des Lebensprozesses und der Gattung. Als lebendiges Individuum ist die Idee des Lebens einfache, aber negative Identität mit sich, also freie Einheit mit sich selbst, nämlich erstens beseelte Leiblichkeit im Sinne organischer, innerer Zweckmäßigkeit und eines nach außen gerichteten Triebes, sich zu realisieren. Zunächst noch ganz innerhalb lebendiger Individualität beschlossen, bestimmt der bezeichnete Prozess dieselbe zweitens exzentrisch, welche Exzentrizität des lebendigen Individuums drittens die Momente der Allgemeinheit im Sinne von Sensibilität und einfachem Selbstgefühl, der Besonderheit im Sinne der Irritabilität sowie der Endlichkeit im Sinne wirklicher Individualität als eines in sich reflektierten Einzelnen an sich hat. In seiner Bestimmtheit als wirkliches Individuum ist die Idee des Lebens im Lebensprozess begriffen, welche ihre zweite Bestimmung ausmacht, durch dessen Vermittlung sich das lebendige Individuum ebenso lustvoll wie schmerzlich in die Gattung aufhebt, in der die Idee des Lebens, nicht aber die Idee als Idee zur Vollendung gelangt. Um die Idee als Idee zu realisieren, bedarf es des Übergangs vom Gattungsprozess, in dem sich die Idee des Lebens ihrem Begriff entsprechend verwirklicht, zur Idee des Erkennens. Die Idee des Erkennens ist im Unterschied zu der des Lebens begriffslogisch differenziert und in sich zwiefach, nämlich Idee des Wahren, die sich kognitiv erschließt, und Idee des Guten, die willentlich zu verfolgen ist. Die Idee des Wahren wird begriffslogisch der Theorie, diejenige des Guten der Praxis zugeordnet, wobei die Logizität von letzterer als fortgeschrittener anzusehen ist, insofern sie das theoretisch Erkannte durch willentliche Praxis zu tatsächlicher Wirkung kommen und somit real werden lässt. Doch bleibt die Idee des Guten mit einem ständigen Mangel behaftet, solange sie das Gute als ein unerreichtes Sollen vorstellig macht, statt es als reales Sein des Begriffs zu begreifen. Zur Behebung dieses Mangels bedarf es einer theoretischen Rückbesinnung und der Einsicht, dass das dem Wollen des Guten Entgegengesetzte und ihm Hinderliche entweder nicht wirklich, sondern nur Schein, oder ein In-sich-Verkehrtes ist, das in seinem Unwesen zum Verschwinden

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bestimmt und keinen dauerhaften Gegensatz zum Guten zu begründen in der Lage ist. Stellt sich diese Einsicht ein, dann sind Denken und Wollen dem Progress schlechter Unendlichkeit entnommen und der wahren Unendlichkeit der absoluten Idee zugeführt. Als abstrakte hört die Idee auf, ein gesuchtes Jenseits und unerreichtes Ziel zu sein; sie ist vernünftiger Begriff geworden, der als sich wissendes Wissen das unvergängliche Leben des Geistes ist. In der absoluten Idee vollendet sich der Entwicklungsgang der Logik, indem deren vorhergehende Schritte in ihrer Vorläufigkeit erkannt, insofern bestimmt negiert, aber zugleich bewahrt und zur Erfüllung gebracht sind. Die Methode der Logik erweist sich zuletzt als der in seine Vollendung eingegangene Weg, als die Bewegung des Begriffs selbst, der im Durchgang durch seine Bestimmungsmomente seiner selbst als wissendes Wissen und denkendes Denken inne wird. Kurzum: die absolute Methode ist der Hervorgang der absoluten Idee, die als absolute Idee alle vorhergehenden Gedankengänge und damit den gesamten methodischen Gang der Logik in sich enthält und in seiner Wahrheit offenbart. Hinzuzufügen ist, dass der Fortgang der Logik mit einer Rückwärtsbewegung stets verbunden ist, insofern im vorwärtsgehenden Weiterbestimmen des Denkens ein rückwärtsgehendes Begründen der vorhergehenden Gedanken statthat, so dass das Anfängliche recht eigentlich erst im Resultat seinen fundierenden Grund findet und zu seiner Wahrheit gelangt. In der absoluten Idee hat die Wissenschaft der Logik ihren eigenen Begriff erfasst sowie ihren gesamten Entwicklungsgang aufgehoben und mit ihm die Differenz von Sein, Wesen und Begriff. Im Begriff des Begriffs ist das Absolute als non aliud erkannt, welches durch keinen ihm äußerlichen Unterschied bedingt ist. Auch der Unterschied von Vernunft und Wirklichkeit gehört endgültig der Vergangenheit an. Indes erschließt sich diese Einsicht nicht anders als in der Konsequenz logischen Denkens, womit zugleich die hermeneutische Grundmaxime für das Verständnis der Wissenschaft der Logik benannt ist: nichts ist als in Wahrheit wirklich anzuerkennen, was nicht durch Gedanken gerechtfertigt ist. Anderes zu behaupten, hieße die Wahrheit zu verkennen und in ihr widriges Gegenteil zu verkehren. Man kann das auch theo-logisch sagen und so formulieren: wer die Einheit von Sein, Wesen und Begriff in der absoluten Idee leugnet, der leugnet ihre Absolutheit und versündigt sich damit unbedacht oder absichtlich gegen die Gottheit Gottes, der als Herr seiner Schöpfung und als die Vernunft zu denken ist, die ihre Wirklichkeit durchwaltet.51

51 „Das freie Sich-Entlassen der logischen Idee in die Natur in Hegels Wissenschaft der Logik“ (und damit das Beginnen dessen, was die theologische Tradition Schöpfung nennt) ist thematisiert in dem gleichnamigen Buch von G. Oswald, Hamburg 2020. Zentral geht es um die Frage, wie sich logikexterne Äußerlichkeit auf der Basis logischer Begriffe begreifen lässt. Als möglich erscheint dies nur, wenn die prozessuale Entwicklung der Wissenschaft der Logik an sich selbst im Sinne eines

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Die Einheit von Vernunft und Wirklichkeit für undenkbar zu erklären, wäre wider den Gottesgedanken, welcher nach Hegel notwendigerweise und so zu denken ist, dass er als von dem im Gedanken Gedachten selbst erschlossen ist. Nicht das denkende Ich ist Primärsubjekt des Gottesgedankens, sondern Gott selbst in seiner Absolutheit. Gott selbst ist offenbarer Wirkgrund des Gottesgedankens, zu dem als dem Resultat der Logik sich zu erheben Sinn und Ziel der Realphilosophie ist. Wie Hegel nach Maßgabe der Nachschrift seines Sohnes Karl im Schlusssatz seines Logikkollegs vom Sommersemester 1831 sagt: „Die Natur ist aber selbst dieses …, sich zum Geiste aufzuheben, an ihr selbst die Vernichtung zu haben, zur Wahrheit überzugehen, aber zunächst zum endlichen Geist, welcher sich dann zum unendlichen Geist erhebt.“ (V 10, 226) Begonnen hatte die logische Begriffslehre der Vorlesung von 1831 in mehr oder minder direktem Anschluss an die einschlägigen Passagen der Drittauflage der Enzyklopädie, in deren Drucktext die Begriffslogik „recht genau denselben Umfang beansprucht wie Seins- und Wesenslehre zusammen“ (V 10, XXXVIII). Im Vergleich hierzu fällt die Nachschrift Karl Hegels „proportional deutlicher kürzer aus“ (ebd.), was allerdings „keine Eigenart speziell der Logikvorlesung vom Sommersemester 1831“ (V 10, XXXIX) gewesen zu sein scheint, sondern auch bei anderen Logikkollegs zu beobachten ist. In Anbetracht dieser durch aktuelle Zeitknappheit am jeweiligen Semesterende sicher mitbedingte Tendenz sind die Stellen umso bemerkenswerter, in denen Hegels Vorlesung über den Text der Enzyklopädie hinausgeht. Dies ist insbesondere dort der Fall, wo er die Logik des Begriffs explizit mit der Trinitätstheologie in Verbindung bringt und eine Begriffslogik ausdrücklich als Theo-Logik zu erkennen gibt. Bereits ganz am Anfang der Kollegausführungen zur Lehre vom Begriff wird der Hinweis, dass jedes der Momente im Begriff „zugleich das Ganze, der ganze Begriff “ (V 10, 177) sei trinitätstheologisch und mit der Feststellung erläutert, es sei die „hohe Bestimmung der Dreieinigkeit“ (ebd.), in jeder Hypostase die ganze Gottheit des einen Gottes gegenwärtig zu haben: „der Vater ist Gott, der Sohn ist Gott und der Geist: Wenn man zählt, sind [es] drei, aber das ist das Eine; hier ist in der Absolutheit, was der Begriff ist: Hier ist [der] Begriff an und für sich, jedes ist Totalität …“ (Ebd.) Der logisch entwickelte Begriff ist, wie Hegel sagt, der Begriff dessen, „was wir Gott heißen“ (ebd.). Gemeint ist der trinitarische Gott: „[Der] Begriff ist Dreieinigkeit, Einheit von Dreien…“ (V, 10, 179) Hinzugefügt wird: „und unter diesen ist das Eine selber Einheit von Zweien.“ (Ebd.) Wie dies zu verstehen ist, verdeutlicht Hegel in der Vorlesung von 1831 im Zusammenhang seiner spekulativen Lehre „logische(n) Konkretismus“ verstanden wird (vgl. L. Heckenroth, Konkretion der Methode. Die Dialektik und ihre teleologische Entwicklung in Hegels Logik, Hamburg 2021, 407 ff.) Dazu grundlegend: K. Utz, Die Notwendigkeit des Zufalls. Hegels spekulative Dialektik in der „Wissenschaft der Logik“, Paderborn/München/Wien/Zürich 2001, bes. 284 ff.

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vom logischen Schließen, wo erneut auf die Trinitätslehre rekurriert wird: „Gott“, so heißt es dort, „ist ein ewiger Schluß“ (V 10, 191), sein Begriff derjenige der alle ur-teilenden Unterscheidungen in sich aufhebenden absoluten Idee, die in der Totalität ihrer Momente als Identität von Identität und Differenz an und für sich erschlossen ist. Ob man die trinitätstheologischen Bezugnahmen, die Hegel im Zuge seiner spekulativen Begriffslogik vornimmt, lediglich als vorstellungshafte Illustrationen bzw. Akkommodationen an das beschränkte Fassungsvermögen seiner Hörerschaft zu bewerten hat, scheint immerhin fraglich. Denn zum einen dürfte der Trinitätsgedanke das Vorstellungsvermögen kaum weniger übersteigen als dies bei der Logik des Begriffs der Fall ist; zum anderen aber ist die Annahme nicht abwegig, die Genese nicht nur der Hegel’schen Begriffslogik, sondern seiner spekulativen Philosophie überhaupt sei ohne theologische Bezugnahmen kaum denkbar. Die Berufung auf Aristoteles an prominenter Stelle der Lehre von der absoluten Idee gegen „Ende der Logik“ (V 10, 222; vgl. 330f.) steht dazu nicht im Widerspruch. Sie stellt aber vor die theologisch entscheidende Frage, ob theoria der Inbegriff göttlicher Vollkommenheit ist: Hegel bejaht dies im Verein mit dem Stagiriten, wenn er konstatiert: „Aristoteles sagt von Gott, die Theorie ist das Vortrefflichste, und wenn Gott immer so [wohl] ist, so ist [er] der Seligste, Vortrefflichste; er ist es aber immer so, wir sind es zuweilen.“ (V 10, 222)

8.

Differenz und Versöhnung

Explizit wird in Pannenbergs „Wissenschaftstheorie und Theologie“ nur wenige Male auf Hegel Bezug genommen, und eine Auseinandersetzung mit der als metaphysische Theorie der Wissenschaft konzipierten Logik Hegels fehlt ganz. Implizit ist sie aber durchweg präsent und zwar insbesondere in dem Kapitel über „Hermeneutik als Methodik des Sinnverstehens“, mit dem der grundlegende wissenschaftstheoretische Teil der Monographie schließt, um zum Verständnis der Theologie als Wissenschaft von Gott überzuleiten. Sinn erschließt sich, so Pannenberg im Anschluss an die von Schleiermacher initiierte und von Wilhelm Dilthey entwickelte Hermeneutik, aus dem Kontext des jeweiligen Bedeutungsganzen, welches wiederum auf eine Sinntotalität verweist, deren Antizipation die Möglichkeitsbedingung jedweden Sinnverständnisses auch dann ist, wenn die Prolepse nicht ausdrücklich wird. Ohne direkten oder indirekten Vorgriff auf universalen Sinn ist weder sinnvolles Denken noch sinnvolles Tun möglich. Denn wie sinnvolle Tätigkeit ein Verstehen von Sinn voraussetzt, das sich nicht auf Handlungsintention reduzieren lässt, weil es für deren Bedeutung konstitutiv ist, so bedarf alles Begreifen eines Vorgriffs auf das Sinnganze, um sinnvoll und bedeutsam zu sein.

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Es ist durch die nachhegelsche Wende zur Empirie und zur Erfahrungswelt des Menschen verursacht, dass Pannenberg in der Monographie von 1973 die wissenschaftliche Grundlegung beim Positivismus und beim kritischen Rationalismus beginnen lässt, um von dort her den Prozess der Emanzipation der Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften zu verfolgen und ein aktuelles Verständnis von Hermeneutik und Dialektik zu entwickeln. Mit der Strukturierung eines kontextuellen Sinnbegriffs und dem Gedanken eines für jede Bedeutungszuweisung nötigen Vorgriffs aufs Sinnganze ist das vorläufige Ziel der wissenschaftstheoretischen Argumentation und zugleich das Problemniveau erreicht, welches durch die klassische Philosophie des Deutschen Idealismus und namentlich durch Hegels Theorie des Absoluten vorgegeben ist, welche auf seiner „Wissenschaft der Logik“ basiert. Pannenberg teilt seit Heidelberger Studienjahren mit Hegel die Überzeugung, dass Wissenschaft ohne Metaphysik nicht denkbar sei. In seinem programmatischen Vortrag auf dem Stuttgarter Hegel-Jubiläumskongress 1970 über „Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels“52 hat er dies mit Nachdruck deutlich gemacht, aber zugleich und nicht weniger nachdrücklich betont, dass „der Begriff nicht die höchste Form des Gedankens“ (108) sei, da die Freiheit der Liebe, aus deren absoluter Zukunft sich das Wesen Gottes zu verstehen gebe, als „unvorgreiflich“ (111) zu gelten habe: „(S)ie übersteigt alle vorgegebenen Identitäten, und die Identität, die sie selbst hervorbringt, ist zwar ihr Ausdruck, aber nie schon ihr voller Begriff, so dass sie auch nicht eingeholt werden kann durch den Begriff. Aller Begriff bleibt hier bloßer Vorgriff.“ (Ebd.) Zu der von ihm postulierten „Herabsetzung des Begriffs zum Vorgriff “ (111 Anm. 96) hat Pannenberg anmerkungsweise notiert, dass sie „nicht etwa nur eine äußerlich gegen das Denken Hegels vorzubringende Antithese“ (ebd.) bilde. So lasse sich an der Gedankenentwicklung der „Wissenschaft der Logik“ zeigen, dass die logischen Bestimmungen der Idee des absoluten Wissens über sich selbst hinaustreiben, weil sie das Absolute nicht einzuholen vermögen, sondern dieses bereits zur unvordenklichen Voraussetzung haben. Das Denken hat mithin selbst durchweg antizipatorischen Charakter und ist „auf eine Zukunft seiner Wahrheit bezogen, aus der es entspringt, indem es auf sie vorgreift“ (ebd.). Entsprechend gelte es, mit Hegel über Hegel hinauszudenken. Diese Forderung findet sich in Pannenbergs Schriften wiederholt und verbunden mit Variationsformeln der skizzierten Argumentation.53

52 W. Pannenberg, Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels, in: ders., Gottesgedanke und menschliche Freiheit, Göttingen 1972, 78–113. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 53 Vgl. im Einzelnen G. Wenz, Im Werden begriffen, 14–18; 45–50; 65–70. Ferner: J. Rohls, Pannenberg und Hegel: Anknüpfung und Widerspruch, in: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“, 177–202.

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Pannenbergs Grundannahme eines antizipatorischen Charakters der Gedankenbestimmungen in Hegels „Wissenschaft der Logik“ ist in der eingangs erwähnten Mainzer Dissertation seines Schülers Traugott Koch auf breiter Basis entfaltet worden; die Arbeit wurde 1964 zum Abschluss gebracht und 1967 veröffentlicht.54 Hegels Philosophie, so konstatiert Koch in seinen einleitenden Erörterungen, ist ihrem Selbstverständnis gemäß „Philosophie des Denkens Gottes“ (9) und damit als „‚spekulative Theologie‘ zu begreifen“ (15). Um die Aufgabe, „Gott zu denken“ (13), unter nachkantischen Bedingungen angemessen anzugehen, bedürfe es nach Urteil Hegels „einer neuen Logik“ (17), die als metaphysische Basis der Gesamtphilosophie zu fungieren sowie eine kategoriale Erhebung von differenzbestimmten und damit endlichen Gedankenbestimmungen zur Idee des Unendlichen und Absoluten zu vollbringen habe. Zu prüfen sei, so Koch, ob es Hegel gelinge, den Prozess der Erhebung und der Aufhebung endlicher Gedanken im Sinne von bestimmter Negation, Bewahrung und Erfüllung „in einem endgültigen Resultat zu vollenden“ (24). Dass Hegel eine entsprechende Vollendung intendiere, darauf deute u. a. „das Fehlen der Eschatologie“ (21) im Lehrsystem hin. Nachdem Koch im ersten Teil seiner Arbeit (vgl. 29–77) den genuin theologischen Sinn der Hegel’schen Logik unter Bezug auf die intendierte Einheit von Denken und Sein (vgl. 29–50) und die Inhaltlichkeit der logischen Formen (vgl. 50–77) im Detail erhoben und unterstrichen hat, schreitet er in einem zweiten, umfänglicheren Teil (vgl. 78–174) zur kritischen Interpretation einiger logischer Bestimmungen „als Definitionen des Absoluten“ (78), wie es in der Überschrift heißt. Der Anfang wird mit der „Dialektik der ersten vier Kategorien“ (ebd.) gemacht; gemeint sind das anfängliche Sein, welches in seiner Unbestimmtheit nichts ist als Nichts, mit welcher logischen Bestimmung die Bestimmungslosigkeit des abstrakten Seins erhoben ist, um im Durchgang durch seine Nichtigkeit zum Werden fortbestimmt zu werden, aus dem ein Etwas hervorgeht, so dass gilt: „Das Werden ist Gewordenes.“ (106) Dass mit dem seinslogischen Gewordensein eines Etwas, welches da ist, der Begriff des Absoluten noch längst nicht erreicht ist, versteht sich nach Maßgabe der Hegel’schen Logik von selbst. Nicht in dieser Feststellung, sondern in der These, dass das logische Beginnen das Sein als ein unvordenkliches Datum schon in Anspruch nehmen muss, um überhaupt in Gang zu kommen, ist die eigentliche

54 Vgl. oben Anm. 4; die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Zu Studium, akademischer Laufbahn und Werkgeschichte Kochs vgl. die Einführung des Herausgebers in dem Aufsatzband: T. Koch, Freiheit in Gemeinsamkeit. Beiträge zu einer gegenwärtigen Theologie. Hg. v. K. Tetzlaff, Tübingen 2021, 1–33. Zu Genese und Rezeption von Kochs Dissertation und zur ebenfalls bei Pannenberg angefertigten Hegelarbeit von Kochs späterem Hamburger Kollegen Peter Cornehl (Die Zukunft der Versöhnung. Eschatologie und Emanzipation in der Aufklärung, bei Hegel und in der Hegelschen Schule, Göttingen 1971) vgl. G. Wenz, Im Werden begriffen, 50–59.

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Pointe der Koch’schen Ausführungen zur Dialektik der ersten vier seinslogischen Entwicklungsmomente zu suchen. Denn damit ist behauptet, dass die Bewegung des Begreifens keine Selbstläufigkeit darstellt und der Begriff von seinem jeweils erreichten logischen Resultat her auf den Anfang des Resultierens zurückkommen muss, sodass zielgerichteter Fortschritt des Denkens stets mit Rückgang in einen unvordenklichen Grund verbunden ist. Nur wenn die Logizität der Hegel‘schen Logik in diesem Sinne verstanden wird, kann nach Kochs Auffassung dem Logismusvorwurf gegen sie mit Gründen widersprochen werden. Ansonsten habe er als berechtigt zu gelten. Das Etwas, zu dem das Werden geworden ist, ist, was es ist, durch die Negation dessen, was es nicht unmittelbar selbst ist. Aus dieser Differenzbestimmtheit ergibt sich seine Endlichkeit mit seinslogischer Konsequenz. „Das Etwas als Einheit ist Beziehung seiner Grenze, dessen, was sein Ende ist, auf sich selbst.“ (108f.) Zugleich treibt der Begriff des Endlichen dieses über sich selbst hinaus und zwar nach Hegel mit logischer Notwendigkeit. Koch bestreitet dies nicht, wohl aber, dass es die Bestimmung des Endlichen sei, zu einem lediglich transitorischen Moment des Prozesses des Begreifens herabgesetzt zu werden, den eine präsziente Vernunft vorherweiss. Wäre dem so, dann müsste das Endliche in einem infiniten Pro- bzw. Regress im Endlosen vergehen. Es käme zu demjenigen, was Hegel schlechte Unendlichkeit nennt. Vom wahrhaft Unendlichen hingegen hat Koch zufolge zu gelten, dass es das Endliche „als Endliches sein“ (129) lässt und ihm einen unveräußerlichen Bestand in ihm selbst gewährt. „Das Unendliche ist das wahrhaft Andere des Endlichen und zugleich kein Anderes, wie es das Endliche ist.“ (130) Nach Koch stellt sich das seinslogische Problem der Aufhebung des Endlichen ins Unendliche in der Logik des Wesens als der Wahrheit des Seins „erneut, verwandelt und verschärft“ (ebd.). Als in sich reflektiert transzendiert das Wesen die Unmittelbarkeit des Seins, die sie als gewesen erinnert. Dennoch ginge seine Reflexivität ins Leere, wäre das Wesen nicht immer schon bei sich und zur Realisierung seines Begriffs gelangt. Koch folgert daraus: „Darum wird das Wesen nicht erst, indem es sich setzt, sondern, indem es sich setzt, setzt es sich voraus“ (148) bzw. muss es sich „als eingesetztes begreifen“ (150). Auch die Wesenslogik bedarf daher Koch zufolge der beständigen Einkehr in einen ihr zuvorkommenden Grund, um sich reflexiv fortentwickeln zu können. Was schließlich die Logik des Begriffs als der Wahrheit des Seins und des Wesens angeht, so verfolgt Koch ihre prozessuale Entwicklung unter Bezug auf die Trias Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit. Stelle doch die „Selbstvermittlung des Begriffs in seinen drei ersten Momenten … die Grundform für die ganze subjektive Logik dar“ (171). Einen absoluten Begriff des Absoluten vermag nach Koch indes auch sie nicht zu erlangen, solange sie Gott nicht in seiner Unbegreiflichkeit begreift und als den Unvordenklichen denkt, der „das Differente sein läßt und dessen Widersprüchlichkeit löst“ (173). Koch kommt zu folgendem Schluss: „Das Nichtgelingen,

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das Absolute als versöhnende Synthesis im logischen Denken einzuholen, ist nicht sinnlos, sondern gewährt die gewisse Einsicht, daß alle Differenz umgriffen und gehalten ist von der einen, identischen, uns unerreichbaren Wahrheit Gottes, die nicht wir selbst, auch nicht in unserem logischen Denken sind. Diese Wahrheit als das uns Unbegreifbare zu denken und zu denkender Erfahrung zu bringen – darin, meine ich, besteht die konkrete Sache der Theologie.“ (174) Das wahrhaft Unendliche bleibt, gerade indem es das Endliche sein lässt und in seiner Differenz anerkennt, ja sogar seinen Widerspruch erträgt und behebt, transzendent und unvordenklich. „Die Unendlichkeit, die das für sich Endliche und Begrenzte zusammenhält und versöhnt, ist nicht in die Unendlichkeit eines logischen Begriffs zu bannen.“55 So hat Peter Cornehl in seiner (ebenfalls unter Anleitung Pannenbergs angefertigten) Dissertation von 1966 „Die Zukunft der Versöhnung. Eschatologie und Emanzipation in der Aufklärung, bei Hegel und in der Hegelschen Schule“ die Hegelkritik Kochs zusammengefasst und konstruktiv mit dem Gedanken einer Vergegenwärtigung des Absoluten durch proleptische Antizipation des Eschatons verbunden, die zugleich eine protologische Anamnese der Ursprungsbestimmung von Menschheit und Welt erschließt. Dieser konstruktive Skopus der Cornehl’schen Kritik ist ganz im Sinne der Koch’schen Dissertation, deren Inspiration durch Pannenberg’sche Gedanken offenkundig ist.56 Um so überraschender muten die scharfen Vorhaltungen an, die Koch später gegen die Verbindung des Gedankens proleptischer Antizipation mit der Annahme eines hypothetischen Charakters aller theologischen Satzaussagen richtete, wie Pannenberg sie in „Wissenschaftstheorie und Theologie“ programmatisch vorgenommen hatte. Systematisch betrachtet ist dieses Verbinden ja alles andere als inkonsequent. Habe doch, wie Pannenberg konstatiert, „faktisch auch in Hegels Verfahren die spekulative Anschauung hypothetische Funktion“57 . Was also veranlasste Koch zu seiner massiven Kritik an dem Pannenberg’schen Hypothesentheorem und dem Gedanken „der fortdauernden Strittigkeit der Wirklichkeit Gottes in der Geschichte“58 ? Antwort: Das theologische Problem des Bösen! In einer ihm gewidmeten Studie, die erstmals 1978 in der Zeitschrift „Kerygma und Dogma“ erschienen ist, hat Koch seine Bedenken in die Frage gefasst, wie man wissen und gewiss sein könne, dass das Böse samt dem ihm zugehörigen Übel „je aufgehoben sein und Gottes Gottheit sich je durchsetzen wird“59 , wenn die endzeitliche Zukunft wegen ihrer Ausständigkeit lediglich hypothetisch antizipiert werden könne. „Die Zukunft ist auch von Pannenberg vorgestellt als das Offene, noch Unbekannte. Folglich 55 56 57 58 59

P. Cornehl, a. a. O., 298. Vgl. im Einzelnen G. Wenz, Im Werden begriffen, bes. 54f. W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, 343. A. a. O., 402 Anm. 741. T. Koch, Das Böse als theologisches Problem, in: ders., Freiheit in Gemeinsamkeit, 51–85, hier: 58.

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kann sie jene Aufhebung (sc. des Bösen) bringen oder nicht; denn anders wäre diese Zukunft nicht offen. Mithin kann ich unter der Prämisse der noch offenen Zukunft und der ‚fortdauernden Strittigkeit‘ lediglich sagen: Die eschatologische Zukunft wird vermutlich die Überwindung des Bösen durch Gott bringen – das ist die eine hypothetische Möglichkeit – oder sie wird sie auch nicht bringen – das ist die ebenso anzunehmende andere hypothetische Möglichkeit. Das aber heißt nichts anderes als: ich weiß nicht, ob das Böse in Gott aufgehoben ist oder nicht; ich weiß nicht, ob Gott ist oder nicht.“60 In ihrer formalen Struktur gleicht Kochs Kritik auch all jener, die von hegelianischer Seite zum einen an seiner eigenen Dissertation und analog an Pannenbergs Transformation des Hegel’schen Begriffs (des Begriffs) zum Vorgriff geübt wurde. Um in letzterer Hinsicht lediglich zwei Beispiele aus neuerer Zeit zu geben: Michael Schulz, ehemaliger Professor für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und seit seiner – wegen Heiratswunsch erfolgten – Suspendierung als Priester an der Philosophischen Fakultät der Bonner Universität tätig, hat 1992 in einem Aufsatz in der Münchner Theologischen Zeitschrift „Zur Hegelkritik Wolfhart Pannenbergs und zur Kritik am ‚Antizipationsgedanken‘ Pannenbergs im Sinne Hegels“ die These vertreten, die Herabsetzung des Begriffs zum Vorgriff laufe auf eine „grundlegende Revision“61 des Hegel’schen Denkens hinaus, welche dieses nicht über-, sondern unterbiete und der kritischen Selbstanwendung nicht fähig sei. Ähnlich urteilt unter affirmativer Berufung auf Schulz Christoph Glimpel in seiner Dissertation „Gottesgedanke und autonome Vernunft. Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundlagen der Theologie Wolfhart Pannenbergs“, die 2007 erschienen ist. Beide attestierten Pannenberg einen Rückfall in die Reflexionsphilosophie und eine zuletzt seinslogische Konzeption des Gottesgedankens, der gegenüber der begriffslogischen Theorie bei Hegel der eindeutige Vorzug gebühre. Antizipiert ist die auf den Antizipationsgedanken konzentrierte Kritik Schulzes und Gimpels an der Hegelkritik Pannenbergs bereits bei dessen Schüler Falk Wagner. Nach Wagners Urteil ist Pannenbergs geschichtstheologisches Vernunftkonzept in konstitutiver Weise durch die Differenz von Vernunft und offener Geschichtswirklichkeit bestimmt mit der Folge, „daß die geschichtlich gekennzeichnete Vernunft nicht bloß endlich ist, sondern auch über einen mit Elementen der Vernunft

60 Ebd. 61 M. Schulz, Zur Hegelkritik Wolfhart Pannenbergs und zur Kritik am „Antizipationsgedanken“ Pannenbergs im Sinne Hegels, in MThZ 43 (1992), 197–227, hier: 219. Vgl. ders., Sein und Trinität. Systematische Erörterungen zur Religionsphilosophie G. W. F. Hegels im ontologiegeschichtlichen Rückblick auf J. Duns Scotus und I. Kant und die Hegelrezeption in der Seinstheologie und Trinitätstheologie bei W. Pannenberg, E. Jüngel, K. Rahner und , St. Ottilien 1997.

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versetzten Begriff des Verstandes nicht hinaus kommt.“62 Das Pannenberg’sche Vernunftverständnis sei reflexionsphilosophisch-antispekulativ und unterbietet „bereits den Anspruch der spekulativen Vernunft“63 , insofern diese geschichtlich relativiert und „auf die faktisch gegebene Differenz von Vernunft und Wirklichkeit, Vorgriff und antizipierter Zukunft der Wahrheit festgelegt wird“64 . Wende man die Theoreme von Antizipation, Vorgriff und Prolepse auf sich selbst an, werde man der entscheidenden Systemaporie rasch gewahr. Mit M. Schulz zu reden: Es ist unmittelbar evident, „daß eine antizipatorische Wahrheitstheorie hinsichtlich ihres eigenen Wahrheitsanspruchs nicht mehr behaupten darf, als sie selber als Theorie zu behaupten erlaubt – andernfalls wäre sie selbstwidersprüchlich.“65 Daraus folge mit logischer Notwendigkeit, dass der Antizipationsgedanke selbst als antizipatorisch und das Hypothesentheorem als hypothetisch zu denken sei. In der Konsequenz ergebe sich ein infiniter Progress schlechter Unendlichkeit, der grundsätzlich zu keinem Vollendungsziel führen könne, weil er sich im Endlosen verlaufe. Das Antizipationsmodell zersetze sich somit selbst. Analog argumentiert Chr. Glimbel: „Indem Pannenberg die Eigenbestimmtheit des Denkens auf zukünftige Bewährung hin relativiert, definiert er das Denken als ein Seiendes, Endliches.“66 Auch die Gehalte der Religion würden so zwangsläufig als endliche gedacht. Der Anspruch, das Absolute zu denken, sei somit aufgegeben, weil der Absolutheitsgedanke als ein von einem endlichen Denker gedachter und nicht so gedacht werde, dass der in dem Gedanken Gedachte selbst als der Logos dieses Gedankens erkennbar wird. Der Begriff der Theologie als Wissenschaft von Gott, wie er für die Pannenbergsche Wissenschaftstheorie verbindlich sein soll, werde so verfehlt. Über dieses Verdikt ließe sich trefflich streiten; wir sollten es tun!

62 F. Wagner, Vernünftige Theologie und Theologie der Vernunft. Erwägungen zum Verhältnis von Vernunft und Theologie, in: KuD 24 (1978), 262–284, hier: 279. 63 A. a. O., 281. 64 Ebd. 65 M. Schulz, Zur Hegel Kritik Wolfhart Pannenbergs, 220. 66 Chr. Glimbel, Gottesgedanke und autonome Vernunft. Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundlagen der Theologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2007, 19.

Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Dirk Ansorge, Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen, Offenbacher Landstraße 224, 60599 Frankfurt a. M. Prof. DDr. Felix Körner SJ, Humboldt-Universität zu Berlin, Zentralinstitut für Katholische Theologie IKT, Unter den Linden 6, 10099 Berlin Dr. Thorsten A. Leppek, Ziehenschule. Gymnasium der Stadt Frankfurt a. M., Josephskirchstraße 9, 60433 Frankfurt a. M. Prof. DDr. Winfried Löffler, Universität Innsbruck, Institut für Christliche Philosophie, Karl-Rahner-Platz 1, 6020 Innsbruck, Österreich Dr. Harald Matern, Reformierte Kirchengemeinde Gundeldingen-Bruderholz, Im tiefen Boden 75, 4059 Basel, Schweiz Prof. Dr. Friederike Nüssel, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Theologische Fakultät, Ökumenisches Institut, Plankengasse 1–3, 69117 Heidelberg Dr. Thomas Oehl, Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München Dr. Christoph Poetsch, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Philosophisches Seminar, Schulgasse 6, 69117 Heidelberg Dr. Matthias Ruf, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Institut für Hermeneutik und Dialog der Kulturen, Liebermeisterstraße 12, 72076 Tübingen Prof. Dr. Georg Sans SJ, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstraße 31/33, 80539 München Prof. Dr. Josef Schmidt SJ, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstraße 31/33, 80539 München Dr. Paul Schroffner SJ, Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen, Offenbacher Landstraße 224, 60599 Frankfurt a. M.

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Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Dr. h.c. Gunther Wenz, Hochschule für Philosophie München (Pannenberg-Forschungsstelle), Kaulbachstraße 31/33, 80539 München Prof. Dr. Jürgen Werbick, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Seminar für Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie, Johannisstraße 8–10, 48143 Münster