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German Pages 273 [275] Year 2011
Sascha Windholz, Walter Feigl (Hrsg.) Wissenschaftstheorie, Sprachkritik und Wittgenstein In memoriam Elisabeth und Werner Leinfellner
Die Herausgeber widmen dieses Buch, zum Andenken an ihre Großeltern, Úna Elisabeth Ann Coleman-Leinfellner, geb. am 6. Mai 2006.
Elisabeth Leinfellner 2006 mit Enkelin Úna, die dem Ehepaar Leinfellner viel bedeutete.
Sascha Windholz, Walter Feigl (Hrsg.)
Wissenschaftstheorie, Sprachkritik und Wittgenstein In memoriam Elisabeth und Werner Leinfellner
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2011 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 978-3-86838-117-7 2011 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work. Printed on acid-free paper ISO-Norm 970-6 FSC-certified (Forest Stewardship Council) This hardcover binding meets the International Library standard Printed in Germany by CPI buch bücher.de
Inhalt Vorwort ................................................................................................................. 5 Zu Elisabeth und Werner Leinfellners Werk
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Johann Götschl Zu Werner Leinfellners Weltanschauung: Denkwege zu einer „Allgemeinen stochastischen Theorie der Evolution“ .................................... 11 Franz M. Wuketits Ontologie, Sprache und Ethik – einige Perspektiven zu Elisabeth und Werner Leinfellners Werk........................................................ 29 Sprachkritik Mary Snell-Hornby Linguistik und Translationswissenschaft: eine schwierige Verwandtschaft ..................................................................... 45 Camilla R. Nielsen Das Problem der (Un-)Übersetzbarkeit Philosophischer Terminologie: einige sprachkritische Positionen um 1900..................................................... 57 Marco Bastianelli Wittgensteins Sprachkritik … „allerdings nicht im Sinne Mauthners“ .......... 75 Wittgenstein Ilse Somavilla „Für das Leben in der Gegenwart gibt es keinen Tod“ – Wittgenstein über Zeit und Ewigkeit .................................................................................... 99 Christian Kanzian Philosophie, Musik, und vor allem Wittgenstein .......................................... 113 Peter Keicher „So ist also dieses Buch eigentlich nur ein Album.“ Bemerkungen zu Wittgensteins Photoalbum ............................................... 127
Christian Erbacher Unser Denken bleibt gefragt: Web 3.0 und Wittgensteins Nachlass ............ 135 Joseph Wang Implizites Wissen der Editorinnen und Editoren. Die neue Auflage des Gesamtbriefwechsels Wittgensteins als Beispiel für Datenmodellierung in Geisteswissenschaften ..................... 147 Anja Weiberg „Die Emphase des Muß“ – Rechnung und Experiment ................................ 177 Klaus Puhl Wittgenstein und der Modernismus .............................................................. 189 Klaus Puhl „Die seltsame Ähnlichkeit einer philosophischen Untersuchung mit einer ästhetischen“ – Wittgenstein und die Wissenschaften .................. 197 Paul Weingartner Wittgensteins Bedeutung von „Bedeutung“ PU43 ...................................... 209 Biografisches zu Elisabeth und Werner Leinfellner Peter Kampits Die Wittgenstein Gesellschaft und die „Leinfellners“ .................................. 231 Sascha Windholz Die Leinfellners und „ihre“ Wittgenstein Gesellschaft................................. 233 Eckehart Köhler Erinnerungen an die Zeit mit Elisabeth und Werner Leinfellner München, Wien, Lincoln und Kirchberg am Wechsel.................................. 241 Wissenschaftliche Lebensläufe des Ehepaares Leinfellners ............................. 265 Autorenverzeichnis ............................................................................................ 269 Fotonachweise ................................................................................................... 273
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Vorwort Anfang des Jahres 2010 verstarben in kurzer Abfolge Elisabeth und Werner Leinfellner. Für viele mit Philosophie befasste Wissenschaftler sind beide untrennbar mit dem Internationalen Wittgenstein Symposien in Kirchberg am Wechsel (IWS) verbunden. Elisabeth war Linguistin, Werner studierter Chemiker und nach seinem Philosophiestudium Wissenschaftstheoretiker. Da Werner Leinfellner in Österreich, in den 1960er Jahren, aufgrund seiner analytischen Ausrichtung eine akademische Laufbahn versagt blieb, machte er eben Karriere fernab der Heimat. Die Universität von Nebraska in Lincoln wurde für fast zwei Jahrzehnte, dass Betätigungsfeld von Werner. Hier wuchs auch ihre gemeinsame Tochter Ruth auf. Elisabeth arbeitete in den Jahren in den USA meist an eigenen Publikationen, aber auch an der Zeitschrift Theory and Decision von Werner mit. Nach Werners Emeritierung im Jahre 1986 zog das Ehepaar wieder zurück nach Wien und Elisabeth konnte sich nun an der Wiener Universität einer wissenschaftlichen Laufbahn widmen. Beide blieben jedoch auch während der Jahre in Amerika immer dem Wissenschaftsbetrieb in Österreichs verbunden. Insbesondere durch ihre langjährige Organisation des Internationalen Wittgenstein Symposiums (1. IWS 1976) traten sie hier an die Öffentlichkeit. Und die Österreichische Ludwig Wittgenstein Gesellschaft (ÖLWG) in ihrer heutigen Form wäre ohne Elisabeth und Werner wohl nicht das was sie ist. Vielleicht wurde ihre Bedeutung nicht immer angemessen gewürdigt. Das ist wohl einerseits der geistigen Situation im Nachkriegsösterreich zuzuschreiben andererseits trifft hier wohl auch die Metapher des „Propheten im eigenen Lande“ zu. Der Hintergrund für die Entstehung des vorliegenden Buches ist ein „Memorial-Symposium“ der Plattform Bibliotheksinitiativen Wien, welches am 13. und 14. November 2010 in Wien, den beiden Leinfellners zu Ehren, abgehalten wurde. Der Titel lautete: „Linguistik und Wissenschaftstheorie im Kontext. Der Abschluss eines 50jährigen Seminars – eine Festveranstaltung in memoriam Elisabeth und Werner Leinfellner“.
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Der Band beginnt mit zwei Beträgen „Zu Elisabeth und Werner Leinfellners Werk“. Der em. Grazer Ordinarius für Philosophie und Wissenschaftstheorie Johann Götschl war ein langjähriger Wegbegleiter von Werner Leinfellner und publizierte gemeinsam mit ihm seit den 1990er Jahren. Götschl bringt einen Überblick über Werners Werk bis hin zur „allgemeinen stochastischen Theorie der Evolution“. Der Biologe und Philosoph Franz M. Wuketits (Wien) kannte die Leinfellners seit den 1980er Jahren und zeigt in seinem Beitrag auf, wie ihr Denken eine Vielfalt an Wissensgebieten abdeckte, wovon „Ontologie, Sprache und Ethik“ wichtige Bestandteile sind. Drei Beiträge sind dem Spezialgebiet Elisabeth Leinfellners, der „Sprachkritik“ gewidmet. Die em. Ordinaria für Translationswissenschaft an der Universität Wien Mary Snell-Hornby, die Elisabeth Leinfellner und ihr Werk gut kannte, war sie doch in deren Habilitationskommission, stellt eine moderne Sicht des Zusammenhanges zwischen ihrem Fachgebiet, der Translationswissenschaft und der Linguistik dar. Camilla R. Nielsen (Wien) beleuchtet das Problem der „philosophischen Terminologie“ unter anderem am Beispiel des Sprachphilosophen Fritz Mauthners, mit dem sich auch Elisabeth Leinfellner eingehend beschäftigte. Der Artikel „Wittgensteins Sprachkritik … allerdings nicht im Sinne Mauthners“ von Marco Bastianelli (Perugia, Italien) stellt einen Übergang von der Sprachwissenschaft zur Philosophie Wittgensteins dar. Die nun folgenden Beiträge über die Person und Philosophie Ludwig Wittgensteins geben einen Einblick in die aktuelle Forschung. Dem Anlass gemäß der Titel zu Beginn dieses Teiles „Für das Leben in der Gegenwart gibt es keinen Tod – Wittgenstein über Zeit und Ewigkeit“ von Ilse Somavilla (Brenner-Archiv, Innsbruck). Christian Kanzian (Professor für Philosophie an der Universität Innsbruck) beschäftigt sich mit Wittgensteins Verhältnis zur Musik. Diese Arbeit wurde erstmals als Festvortrag anlässlich der Uraufführung der Vertonung des Tractatus – Komponist Balduin Sulzer – 2007, im Linzer Brucknerhaus gehalten und Kanzian trug diese Referat auch 2008 auf dem von Elisabeth organisierten Symposium „Wittgenstein im Kontext“ am 14. November 2008 vor. Auf einen interessanten Beitrag zu dem ein wenig in Vergessenheit geratenen „Photoalbums Wittgensteins“ von Peter Keicher (Karlsruhe/Wien) folgen zwei faszinierende Beiträge über computergestützte Arbeitsweisen zur Wittgensteinforschung. Unter „Web 3.0 und Wittgensteins Nachlass“ berichtet Christian Erbacher
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über die Arbeit an der Universität Bergen mit Wittgensteins Nachlass (Bergen Electronic Edition). Und anhand des „Gesamtbriefwechsels Wittgensteins als Beispiel für Datenmodellierung in Geisteswissenschaften“ zeigt Joseph Wang (Brenner-Archiv, Innsbruck), welche Möglichkeiten aber auch Grenzen die Computertechnik und unser Denken setzen. Über beide Artikel würden sich Elisabeth und Werner sicher besonders freuen, da sie kritische Enthusiasten der Elektronik waren. Die exzellenten Vorträge von Anja Weiberg (Universität Wien) „Emphase des Muß – Rechnung und Experiment“ und der erste Beitrag von Klaus Puhl (Universität Wien) „Wittgenstein und der Modernismus“ sind für das Symposium 2008 erarbeitet worden. Der zweite Beitrag Puhls ist der Vortrag „Wittgenstein und die Wissenschaften“, dieser Vortrag sorgte am Symposium 2010 für bewegte Diskussionen. Den Abschluss des Wittgensteinkapitels bildet der Beitrag eines der Doyens der österreichischen Analytischen Philosophie und Mitbegründer der ÖLWG, des em. Salzburger Ordinarius für Philosophie Paul Weingartner über „Wittgensteins Bedeutung von ‚Bedeutung‘ PU 43“. Danach folgt Biografisches zu Elisabeths und Werners Leben. Der em. Wiener Ordinarius für Philosophie Peter Kampits schreibt über die Verdienste der beiden Leinfellners in der ÖLWG und im Wissenschaftsbetrieb in Österreich. Über die Gründung und das Werden der ÖLWG berichtet einer der Herausgeber – zum Teil in Elisabeths eigenen Worten. Den Abschluss bildet ein Beitrag des wohl längsten Begleiters des Ehepaars, Eckehart Köhler, der in Lincoln einige Zeit Assistent bei Werner war. Seine recht emotionell geschriebenen „Erinnerungen an die Zeit mit Elisabeth und Werner Leinfelllner“ bilden unserer Meinung nach auch einen aufschlussreichen Einblick in die Zeitgeschichte der Wiener Universität. Am Ende des Buches finden sich (wissenschaftliche) Lebensläufe des Ehepaars, die Elisabeth Leinfellner 2007 selbst verfasste.
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Die Symposien und diese Publikation wären nicht möglich gewesen ohne die sofortige und begeisterte Zusage aller Autoren einen Vortrag zuhalten, bzw. ihre Genehmigung ihn als Beitrag für diese Publikation zur Verfügung zu stellen. Ein Dankeschön an dieser Stelle auch an den ontos-verlag, Verlagsleiter Rafael Hüntelmann, der bereit war diese Schrift in sein Verlagsprogramm aufzunehmen. Auch möchten sich die Herausgeber bei Christian Kanzian, Ruth Leinfellner, Camilla R. Nielsen, Alois Pichler, Ilse Somavilla und Joseph Wang für die freundschaftlichen Anregungen und Ideen bedanken. Das Zustandekommen dieses Projektes war nur möglich durch die gute Zusammenarbeit mit der Österreichischen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft, sowie der Plattform Bibliotheksinitiativen Wien, hierfür sei allen Dank gesagt. Natürlich müssen wir uns auch herzlichst für die finanzielle Unterstützung der Symposien und des Bandes bedanken: beim Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Abteilung III/2), beim Amt der Niederösterreichischen Landesregierung (Abteilung Kultur und Wissenschaft), bei der Stadt Wien (Magistratsabteilung 7), beim Kulturreferat des 16. Wiener Gemeindebezirks (Ottakring) und beim Wittgenstein-Archiv der Universität Bergen (Norwegen) – hier ad personam nochmals bei Alois Pichler. Zu guter Letzt bedanken wir uns bei Ihnen liebe Leserin, lieber Leser – für Ihr Interesse an Elisabeth und Werner Leinfellner und an aktuellen philosophischen Diskursen. Baden und Wien im Juni 2011
Zu Elisabeth und Werner Leinfellners Werk
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Werner Leinfellner 1961 in München.
Elisabeth Leinfellner 1968 in Lincoln.
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Zu Werner Leinfellners Weltanschauung: Denkwege zu einer „Allgemeinen stochastischen Theorie der Evolution“ Johann Götschl „Was es nicht-zufällig macht, kann nicht in der Welt liegen, denn sonst wäre dies wieder zufällig.“ Wittgenstein, Tractatus Logico Philosophicus 6.41 „Die Rechtfertigung durch die Erfahrung hat ein Ende. Hätte sie keins, so wäre es keine Rechtfertigung.“ Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen §485
I: Philosophische „Zusammenschau“ von menschlichen und außermenschlichen Realitätsbereichen Werner Leinfellners philosophische Entwicklung zerfällt in vier systematisch zusammenhängende Perioden.1 Die erste handelt vorwiegend von der 1
Anlässlich der Verleihung des Ehrendoktorates der Universität Graz an Werner Leinfellner habe ich versucht, eine Art „Gesamtschau“ seines enormen Schaffens in eine gewisse Struktur zu bringen. Ich folge hier in dieser Arbeit im Teil I in wichtigen Aspekten meinen damaligen Analysen mit darauffolgender Fokussierung auf seine neueren Zugänge zum Menschen- und Gesellschaftsbild in evolutionär-komplexdynamischen Systemen in den Teilen II und III, vgl. Götschl, J: „Laudatio für Werner Leinfellner“, in: Grazer Universitätsreden, Graz, 1994 - Wuketits, F.M.: „Ontologie, Sprache und Ethik – einige Perspektiven zu Elisabeth und Werner Leinfellners Werk“ (in diesem Band) - Windholz, S.: „Laudatio auf Elisabeth und Werner Leinfellner” in Kanzian, Christian et al. (Hrsg.): Wir hofften jedes Jahr noch ein weiteres Symposium machen zu können – Zum 30. Internationalen Wittgenstein Symposium in Kirchberg am Wechsel, Heusenstamm, 2007 - Leinfellner, W.: Die Entstehung der Theorie: eine Analyse des kritischen Denkens in der Antike, Freiburg-München, 1966 - Leinfellner, W.: Struktur und Aufbau wissenschaftlicher Theorien: eine wissenschaftstheoretisch-philosophische Untersuchung, Wien-Würzburg, 1965 - Leinfellner, W.: Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Mannheim, 1967
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Johann Götschl
Dynamik des Erkenntnisfortschritts, die zweite von der Rolle des Sprachverstehens oder der Semantik, die dritte von der Wissenschaft als Weltverwirklichung und die letzte vom schöpferischen, rational-intelligenten Denken. Seine ersten drei Bücher „Die Entstehung der Theorie im antiken Denken“, „Struktur und Aufbau wissenschaftlicher Theorien“ und „Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie“ behandeln die Wissenschaft- und Erkenntnisdynamik. Die „Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie“ erschien in drei Auflagen mit über 65.000 verkauften Exemplaren und wurde das meistgelesene deutsche wissenschaftstheoretische Buch. Heute hat der Erkenntnisfortschritt den Rahmen der traditionellen Disziplinen wie Physik, Ökonomie etc. gesprengt: Man entwickelt große interdisziplinäre Modelle und Theorien, in denen die empirischen Strukturen von Teilgebieten der Welt auch immer besser in mathematischer Formulierung repräsentiert werden und dort gewissermaßen „überleben“, solange sie durch die Erfahrung bestätigt werden können. Eine dieser Theorien ist Leinfellners Theorie eines evolutionären Verständnisses von komplexen und dynamischen Systemen mit starker Einbeziehung von evolutionärentscheidungstheoretischen Erkenntnissen.2 Das gemeinsam mit seiner Frau, der Linguistin Elisabeth Leinfellner, verfasste Buch „Ontologie, Semantik und Systemtheorie“ (1978) steht im Banne der „Wende zur Semantik“3. Logik allein, wie bis dahin angenommen, kann Erkenntnis nicht erklären, sondern es bedarf dazu primär eines rational-intelligenten Sprachverständnisses, das durch eine dafür entworfene neue rekursive Semantik geleistet wird. Wissenschaftliche Modelle und Strukturen erhalten spezifische Bedeutung durch die semantischen und mathematischen Funktionen der wissenschaftlichen Sprache. Dies gestattet es, die Modelle immer genauer zu überprüfen, nach der Art etwa, wie man sich nach einem Plan in einer Stadt zurechtfindet und den Plan selbst empirisch überprüfen kann. Das dabei verwendete Semantiksystem wird für die Theorie der Intelligenz bzw. evolutionären Rationalität wichtig. Eine entscheidende Wende im wissenschaftlichen Schaffensprozess von Werner Leinfellner besteht darin, dass die wissenschaftlichen Modelle 2
Leinfellner, W.: „Towards a Bayesian Theory of Self-Organization. Societal Evolution, Creativity, and the Role of Randomizers in the Societal Evolution“, in: Götschl, J. (ed.): Evolution and Progress in Democracies. New Foundations of a Knowledge Society, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London, 2001 3 Leinfellner, Werner und Elisabeth: Ontologie, Systemtheorie und Semantik, Berlin, 1978
Denkwege zu einer „Allgemeinen stochastischen Theorie der Evolution“
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bzw. Theorien nicht, wie üblich, als Mittel zur passiven Erkenntnis der Welt angesehen werden, sondern als ein Mittel zur Verwirklichung, ähnlich den Plänen in der Technik oder den sozialwissenschaftlichen Modellen und Maßnahmen in der Gesellschaft, wenn Probleme bzw. Konflikte dazu zwingen, die Verwirklichung von marktwirtschaftlichen und wohlfahrtsstaatlichen Strukturen sensitiver voranzubringen. Erst durch die Verwirklichung der Modelle können wir ihren Nutzen, Schaden und die Risiken für die Gesellschaft und Umwelt bewerten und die ethische Verantwortung dafür tragen.4 Die Schöpfungen von Begriffen, Ideen, Modellen und Theorien, des weiteren von Technik bzw. Technologien, die die revolutionäre Umgestaltung von Gesellschaft und Umwelt erzeugen, können als Suche nach optimalen Lösungen und so nach Verringerung oder auch Beendigung von immer wieder auftauchenden politischen, sozialen, ökonomischökologischen, kulturellen und gesellschaftlichen Konflikten angesehen werden. Die Zusammenführung von wissenschaftlichen Modellen mit gesellschaftlich-demokratischen Regeln sollten immer begründeter helfen, Konflikte theoretisch zu erfassen und optimale Lösungen zu finden und wann immer möglich auch zu berechnen.5 Ein wichtiger Beitrag dazu ist u.a. „Recent Development in the Methodology of Social Sciences“.6 Zentral dabei ist: Lösungen von Problemen bzw. Konflikten können zunehmend trotz Unsicherheit, Zufall und des immer wichtiger werdenden, zum Teil auch bedrohenden Risikos erreicht werden. „Optimal“ ist dabei das Zauberwort für komplexe und dynamische Prozesse: Es bedeutet nicht das „egoistisch“ Beste, sondern das unter den gegebenen Umständen hinsichtlich der anderen in der Gesellschaft altruistisch Bestmögliche, so z. B. bei fairen Kooperationen und Kompromissen.7 Etwa ab 1983 stellt sich Werner Leinfellner die Frage, ob den entscheidungstheoretischen Modellen und ihren Lösungsalgorithmen eine Art Lernprozess, eine bis dahin zu wenig untersuchte Art des Denkens, die er 4
Leinfellner, W.: „Towards a Bayesian Theory of Self-Organization. Societal Evolution, Creativity, and the Role of Randomizers in the Societal Evolution“, in: J. Götschl (ed.): Evolution and Progress in Democracies. New Foundations of a Knowledge Society, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London, 2001 5 Leinfellner, W.: „Game Theorie, Sociodynamics and Cultural Evolution“, in: Leinfellner, W./Köhler, E. (eds.): Game Theory, Experience and Rationality, Boston, 1998 6 Leinfellner, W./Köhler, E./Berghehl, H. (eds.): Recent Developments in the Methodology of Social Sciences, Boston, 1974 7 Leinfellner, W.: „Risk in Serial Conflicts, Evolution, Intelligence and Chaos“, in: Munier, B. (ed.): Essays in Honour of Maurice Allais, Boston, 1995
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„Intelligenz“ nennt, zugrunde liege. Dazu erhält er 1985 vom amerikanischen „Research Council“ einen Forschungsauftrag, der in 25 Arbeiten in Deutsch, Englisch und Französisch zu seiner Theorie der Intelligenz und ihrer Neudefinition als historisch evolutionärer Prozess führt, woraus sich ihre gesellschaftliche und individuelle Funktion ergibt. Aufbauend u.a. auf Arbeiten des Nobelpreisträgers H. Simon8 über Problemlösungen weist Werner Leinfellner das erste Mal nach, dass optimale Lösungen von Serien von Konflikten und die daraus folgenden Realisierungen in hohem Grade ähnlich bis identisch sind mit den schöpferischen Prozessen bzw. Tätigkeiten, d. h. im Grunde mit Selbstorganisation.9 Alle Prozesse sind nur in der Komplexität verschiedene Interpretationen einer von Leinfellner weit vorangetriebenen neuen Interdisziplin, der stochastischen Theorie evolutionärer Prozesse.10 Werner Leinfellner konnte nachweisen, dass die Grundstrukturen seiner neuen Theorie der stochastischen Evolution auf alle bereits bekannten evolutionären Prozesse anwendbar sind, die trotz ihrer ansteigenden hierarchischen Komplexität grundlegend dieselben evolutionären, selbstorganisatorisch-schöpferischen Grundstrukturen besitzen, die qualitativ Neues bedeuten und zu Naturgesetzen in strukturelle Kopplungen gebracht werden können. Die Evolution als Schöpfung relativ stabiler, geordneter Systeme wird zur historischen Evolution der Intelligenz bzw. evolutionären Rationalität. Solche Prozesse mit ansteigender Komplexität und evolutionärer Dynamik sind: (1) die physikalisch-chemische (kosmologische) Evolution; (2) die präbiotische Evolution der Nukleotide und Proteine; (3) die Darwinsche und Neodarwinsche Evolution; (4) die molekulargenetische 8
Simon, H.: „The Theory of Scientific Discovery“, in: J. Götschl (ed.): Revolutionary Changes in Understanding Man and Society, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London, 1995 9 Götschl, J.: „Self organization: Epistemological and Methodological Aspects of the Unity of Reality“ – „Auto-organizzazione: aspetti epistemologici e metodologici dell'unità della realtà“, in: Cuccurullo, L./Mariani, E. (eds.): Contesti e validità del discorso scientifico, Rom, 2005 - Kinsbourne, M.: Dynamic Self-Organization of the Cerebral Network; Evidence from Neuropsychology, in: J. Götschl (ed.): Evolution and Progress in Democracies. New Foundations of a Knowledge Society, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London 2011 10 Leinfellner, W.: „Towards a Bayesian Theory of Self-Organization. Societal Evolution, Creativity, and the Role of Randomizers in the Societal Evolution“, in: J. Götschl (ed.): Evolution and Progress in Democracies. New Foundations of a Knowledge Society, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London, 2001
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und genetische Evolution; (5) die Funktion und Evolution der animalischen Intelligenz; (6) die soziobiologische Evolution von Früh- und Spätkulturen; (7) schließlich die schöpferische Dynamik innovativ-gesellschaftlicher und individueller Intelligenz des Menschen als die Evolution von Mentifakten und Artifakten in intelligenten Kulturen. Werner Leinfellner zeigte, dass menschlich-intelligentes Denken komplexer ist, als man annahm, da es durch das Gehirn und Nervensystem untrennbar mit seiner Umwelt in einer spezifischen dynamischen Interaktion von semantisch ablaufendem Erkennen und durch die Verwirklichungen verbunden ist. Zwar sind wir Katastrophen und Zufällen unserer Umwelt ausgeliefert, können aber durch schöpferische Realisierungen diese, sind sie nicht zu gewaltig, kompensieren. Im Gegensatz zum rein rationalen, deduktiv-logischen, monotonen Denken kann intelligentes Denken als „evolutionäre Rationalität“ chaotische Phasen, den Zufall durch optimale Lösungen von Konflikten aller Art schöpferisch bewältigen und so zum Urkonflikt allen Lebens und der Gesellschaften, dem Überleben und der Lebensentfaltung beitragen. Werner Leinfellner hat die Fragen nach individuellen Zielen und Hoffnungen umformuliert: Wie löst man die fortwährend peinigenden gesellschaftlichen Konflikte? Die von ihm ausgearbeiteten und weiterentwickelten Theorien, Modelle und Methoden, wie das Wert – oder Präferenzmodell, die Ökonometrie, die Spieltheorie in ihrer dynamischen Form, die Stochastik, haben hier für Werner Leinfellners Philosophie als reflexive Zusammenschau wichtige Grundlagen geliefert.11 Für Werner Leinfellner ist die menschliche Gesellschaft eine spezifische Institution, deren Aufgabe darin besteht, Konflikte optimal zu lösen, wobei diese Konflikte alle möglichen Formen annehmen können: Sie können ökonomisch, sozial, politisch, ökologisch, kulturell, ethisch usw. sein. Die neuen Theorien sind in der Tendenz zunehmend mathematischstochastische Nachkonstruktionen solcher Konflikte. Die traditionelle Entscheidungstheorie hatte aber nach Leinfellner ein Defizit: Sie zog bei Konfliktlösungen wohl die Unsicherheit in Betracht, aber zu wenig den Zufall selbst, die Quelle aller Dynamik, denn es ist immer der Zufall, der die meisten Konflikte erzeugt.12 Dies führt zu einer Dynamisierung des Weltbildes wie auch der Wissenschaften. Neue „dynamische“ Wissenschaften, 11
Leinfellner, W.: „The New Theory of Evolution – A Theory of Democratic Societies, in: J. Götschl (ed.): Revolutionary Changes in Understanding Man and Society, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London, 1995 12 Leinfellner, W.: „Risk in Serial Conflicts, Evolution, Intelligence and Chaos“, in: Munier, B. (ed.): Essays in Honour of Maurice Allais, Boston, 1995
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wie die Chaostheorie, die Theorie der Selbstorganisation und insbesondere die moderne Evolutionstheorie rücken nunmehr den Zufall stärker in den Mittelpunkt. Die neue evolutionäre Rationalität, die Leinfellner mit seinen Forschungen zu Intelligenz vertieft, verlangt also ganz generell, dass das den jeweiligen Situationen gemäße Risiko berücksichtigt wird, indem erwartete Verluste oder Vorteile von Maßnahmen, Projekten, Strategien, Erfindungen und Produkten durch Berücksichtigung von Risiko modifiziert werden und man sich so optimalen Lösungen nähern kann. Eine endgültige Lösung ist also die durch das Risiko veränderte Lösung. Die Veränderung durch das Risiko besteht in Versuchen einer Maximierung der individuellen und der gesellschaftlichen Sicherheit. Eine Maximierung nur des Nutzens führt allerdings meistens zur Instabilität der Gesellschaftsform, Maximierung der Sicherheit erhöht dagegen ihre Stabilität. Damit liefert der zutiefst auch psychologisch basierte Risikofaktor der individuellen und kollektivengesellschaftlichen Sicherheit zugleich eine humantheoretische Erklärung und Begründung in der stochastischen Denkweise.
II: Evolution als Symbiose von Erkennen und Humanisieren Werner Leinfellners Suche nach einem umfassenden holistischen Verständnis der tieferen Zusammenhänge zwischen menschlichen und außermenschlichen Realitäten wird vor allem vorangetrieben von einer spezifischen Form der Zusammenschau von Philosophie und Wissenschaft: Es geht bei Werner Leinfellners Zugang im Kern darum, das dynamische Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft eher als Kontinuum zu konzipieren, innerhalb dessen es zu variationsreichen, sich immer wieder voneinander ablösenden Entwicklungen kommt.13 Die menschlichen und außermenschlichen Realitätsebenen können in ihrer innersten Ontologie nur über komplexe dynamische Wissenschaften erfasst werden. Zentral geht es um die Zusammenhänge von zuerst scheinbar unterschiedlichen Realitätsschichten, um deren evolutionär-komplex-dynamische Einheit letztlich modellieren zu können. Auf diesem Wege versuchte Werner Leinfellner unser Wissen von der internen und externen Welt, von der Entstehung des Universums bis hin zu individuellem und sozialem Dasein, in eine konsistente Ganzheit zu transformieren. 13
Leinfellner, W.: „Evolutionäre Erkenntnistheorie und Spieltheorie“, in: Riedl, R./Wuketits, F. M. (eds.): Die Evolutionäre Erkenntnistheorie, Hamburg, 1987
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Für Werner Leinfellner findet man insbesondere in Bezug auf Humanismus und Renaissance einerseits und der Aufklärungsphilosophie andererseits schon jene begrifflichen Gestalten bzw. Muster, innerhalb deren neben Philosophie, Literatur, Musik, Malerei u.a.m. das eigentlich Neue in Form der modernen Wissenschaft angelegt ist. Im Kern sind es insbesondere die bekannten Kerncharakteristika von Wissenschaft: Universalität und Transkulturalität. Diese beiden Charakteristika fokussiert und vertieft Werner Leinfellner in seinem Aufbau eines modernen Weltbildes, innerhalb dessen die Wissenschaften von der Natur und die Wissenschaften vom Menschen in eine einheitlichere, umfassendere theoretische Gestalt gebracht werden sollten. Die moderne Wissenschaft konstituiert sich als ein immer dominanteres Kulturphänomen, zunehmend auch dadurch, dass sie zwar anfangs dominant als Naturwissenschaft bzw. als Wissenschaft von der Materie entwickelt wurde, gleichzeitig aber etwas wie eine neue strukturelle Grundlage für den Aufbau moderner Wissenschaften vom Menschen darstellt. Das Wissen von der extern-materiellen Welt wird durch die Entwicklung der modernen Systemwissenschaften wie Evolutionstheorie, Theorie der Selbstorganisation, evolutionäre Entscheidungstheorie mit Stochastik u.a.m. zu neuem, vernetztem Wissensgefüge von der Menschenwelt herausgebildet. Werner Leinfellner geht hierbei davon aus, dass sich durch die modernen Wissenschaften erzeugten sozialen, insbesondere sozio-ökonomischen und sozio-technischen Realitäten neue Möglichkeiten der Erkennbarkeit einer nichtkategorialen Trennung zwischen Wissenschaften vom Menschen einerseits und Wissenschaften von der Natur andererseits ergeben. In einer dominanten Suchrichtung in Werner Leinfellners Beiträgen zur Theorienbildung geht es um Zusammenhänge zwischen „Eigenevolution“ einerseits und „Koevolution“ (Eingriffsevolution) andererseits, wobei Koevolution die bewussten Eingriffe in die Eigenevolution bedeutet. In Werner Leinfellners Vorstößen zu einer „Allgemeinen stochastischen Theorie der Evolution“ wird davon ausgegangen, zentrale Erkenntnisse vor allem des 20. Jahrhunderts mit den neueren Erkenntnisinnovationen zu symbiotisieren. Als theoretische Postulate („Quasi-Axiome“) kann man in Bezug auf Werner Leinfellner die folgenden vier herausheben, ohne hier Vollständigkeit beanspruchen zu können: 1. Anstieg von Komplexität und Dynamik der „Kulturalisierung der Natur“ und „Naturalisierung der Kultur“ durch neue Einsichten in die Kopplungen zwischen Eigenevolution und Koevolution (Eingriffsevolution). Ein entscheidender Punkt im Denken von Werner Leinfellner
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ist hier, dass die Unterschiede zwischen Innenwelt und Außenwelt dominant funktional und nicht klassisch ontologisch konzipiert werden; 2. Anstieg von Komplexität und Dynamik durch die adäquatere Durchdringung von Naturprozessen und Kulturprozessen mittels neuer Denkkategorien, die auf der Basis neuer Wissenschaften gegeben sind: Insbesondere Evolutionstheorie, Theorie der Selbstorganisation, Wissenschaften der Unbestimmtheiten (Unschärfen), evolutionäre Entscheidungstheorie u.a.m.; 3. Neue Einsichten in Zusammenhänge von Erkenntnis- und Realisierungspotentialen sowohl in den Wissenschaften der Naturdynamik als auch in den Wissenschaften der Kulturdynamik. Zentral für Werner Leinfellner hierbei ist, dass Bedeutung und Funktion von Wertungen (Ethiken) eben erst über die Realisierung von Erkenntnissen adäquater behandelt werden können: Erkenntnispotentiale und Humanisierungspotentiale sind nicht mehr voneinander trennbar; 4. Neue erkannte Zusammenhänge zwischen Erkenntnispotential und Realisierungspotential führen zu einer Anhebung der begrifflichen Niveaus auch der „Wissenschaften vom Menschen“ bzw. der Soziodynamik. An den modernen evolutionär ausgerichteten Sozial- und Wirtschaftswissenschaften lässt sich eine Art Symmetrie zwischen realisierbaren Erkenntnispotentialen einerseits und Konfliktlösungspotentialen andererseits vermuten.14 Über die transformierte Realisierung von Wissenschaft in Form von Technologie, Ökonomie und Soziologie bis hin zur Philosophie ergeben sich nach Leinfellner zumindest zwei aufeinander bezogene Einsichten, durch die sich neue Zusammenhänge zwischen Erkennen und Humanisieren verdeutlichen: (i) Universalistisches Wissen (insbesondere wissenschaftliche Wissensformen) enthält das Potential für innerhalb bestimmter Kategorien vollziehbare infinite Anwendungen; d.h. die Zusammenhänge zwischen Denken und Handeln sind zumindest in dieser Hinsicht „unbegrenzt“; (ii) die zunehmende „Kulturalisierung der Natur“ und „Naturalisierung der Kultur“ sind zentrale Quellen für das evolutive Ansteigen der Komplexität und Dynamik bzw. der Wissenschaften von der Komplexität und Dynamik, wodurch eben nicht die maximalen, sondern die optimalen Lösungen die neuen Grundkategorien der menschlichen 14
Leinfellner, W./Götschl, J.: „Erwin Schrödinger's World View: The Role of Physics and Biology in his Philosophical System“, in: Gnaiger, E. et al. (eds.): What ist Controlling Life?, Innsbruck, 1994
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Existenz darstellen. Die neuen Wissenschaften von Komplexität und Dynamik zeigen, unter welchen Voraussetzungen sich Humanisieren zunehmend in empirischen Kontexten vollzieht.
III: Werner Leinfellners Vorstöße zu einer „Allgemeinen stochastischen Theorie evolutionärer Prozesse“ Die Funktionalitäten von Wissenschaft und Technologie werden von Werner Leinfellner in mannigfaltiger Weise in die evolutionärselbstorganisatorischen Begriffsysteme positioniert. Zentral dabei ist die evolutionär-stabilisierende Funktionalität von Wissenschaft sowohl in makrosozialen wie auch in mikrosozialen Prozessen: Dies gilt es immer aufs Neue zu rekonstruieren, um auch zu optimal-strategischen Problemlösungen zu gelangen. Untrennbare Zusammenhänge von Erkennen und Humanisieren manifestieren sich in Emergenzen in Verbindung mit evolutionärer (bounded) Rationalität. Diese Rationalitätsform – dominant auf Wissenschaft und Technologie bezogen – begünstigt die erkennbaren und zunehmend gestaltbaren Übergänge von stabilisierenden Bedingungen des Überlebens hin zu evolutionären Stabilitätsbedingungen für Lebensentfaltung. Zur Vertiefung der Zusammenhänge zwischen makrosozialen und mikrosozialen Prozessen kann man in Bezug auf Werner Leinfellners Zugänge zumindest auf die folgenden vier Erkenntnisebenen zurückgreifen:15 1. Es vollzieht sich ein Anstieg der Bedeutung bzw. Adäquatheit der induktiv-statistisch-stochastischen Formen der Theorienbildung, insbesondere in Verbindung mit der Methodologie der Rückführbarkeit von infiniten Ereignisklassen auf finite Wahrscheinlichkeiten. Die beiden Kontexte „context of justification“ und „context of discovery“ rücken strukturell näher zusammen. Die klassische Psychologisierung des „context of discovery“ wird zurückgedrängt; 2. Wissenschaftliche Theorien und wissenschaftliche Methoden erweisen sich als die stabilsten Regelsysteme (Trajektorien). Diese Regelsysteme zeigen insbesondere in ihrer Integration mit sozialen Interaktionssystemen eine bemerkenswerte Eigenschaft: Selbst als finite Regelsysteme gedacht, lassen sie „im Prinzip“ auf bestimmten Ebenen infinite An15
Leinfellner, W.: „Towards a Bayesian Theory of Self-Organization. Societal Evolution, Creativity, and the Role of Randomizers in the Societal Evolution“, in: J. Götschl (ed.): Evolution and Progress in Democracies. New Foundations of a Knowledge Society, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London, 2001
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wendungen zu. Darüber hinausgehend kommt, dass statistische Kausalitäten „Regeln – generierende Regeln“ ermöglichen; 3. Die Zusammenhänge zwischen makrosozialen und mikrosozialen Prozessen manifestieren etwas wie einen spezifischen „sozialen Organismus“, innerhalb dessen sich Transformationen von vertikalsequentieller Kommandostruktur hin zu horizontal-distribuierter Kompetenz vollziehen. In solchen Prozessen realisieren sich erhöhende Differenzierungen und Integrationen, die eine dominante Basis für die Konstitution von demokratischen Prinzipien darstellen; 4. Komplexität und Einfachheit als generierende und strukturierende Kategorien helfen, die Zusammenhänge bzw. Interdependenzen zwischen sozialen Systemen und den je einzelnen Individuen besser zu identifizieren. Ein Kernaspekt liegt hier darin, dass insbesondere mit Hilfe von Theorien der Komplexität und Dynamik, auch des „neuronalen Systems“ immer besser ausgewiesen werden kann, wie auch Individuen ohne externe Faktoren kreativ sein können. Die scheinbare Dominanz allein des systemischen Denkens wird damit zumindest eingeschränkt. Werner Leinfellners stark modelltheoretische Zugänge zum Menschen und seiner Gesellschaft zielen darauf ab, die Entstehung und den Wandel von dynamischen Ungleichgewichten und dynamischen Gleichgewichten zwischen Individuum und Kollektiv zu rekonstruieren. Es geht um die individuelle Adäquatheit von kollektiv-systemischen Konzepten und um die kollektiv-systemische Adäquatheit von individuellen Konzepten. In diesen Kontrast- bzw. Spannungsfeldern konstituieren sich sowohl für die Individuen als auch für die Sozietäten die evolutionär gangbaren Entwicklungspfade (Trajektorien). In diesen Kontrastfeldern muss man nach Werner Leinfellner zumindest zweierlei in Bezug auf deren inneren Zusammenhang in neuer Weise beachten: (i) Eine im gewissen Ausmaß gegebene Umwelt; (ii) eine im gewissen Ausmaß erzeugte Umwelt. Beide Umwelttypen bedingen sich in hoch differenzierten wechselseitigen DekodierungsÜbertragungs- und Austauschprozessen. Diese beiden Umwelten werden zunehmend als spezifisch verschränkte Systeme identifiziert, was dazu führt, dass Kontraste, Konflikte und Probleme nur aus dieser Verschränkung heraus generiert, funktionalisiert und gelöst werden können. Diese Verschränkungen – insbesondere weil immer stärker wissenschafts- und technologiebasiert – bedeuten geordneten Informationszuwachs, eine zentrale Quelle auch für das immer raschere Auftauchen von neuen wissenschaftlich-technologischen Alternativen, wie z.B. in Form der Methodologie der Computersimulation, was zum Anstei-
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gen von optimalen Problemlösungspotentialen führt. Anstieg und Verteilung von sich verändernder wissenschaftlicher Universalität liefern tiefere Einsichten in die strukturellen Zusammenhänge zwischen individuell- und kollektivorientierten Problemlösungen. Dazu hat Werner Leinfellner entscheidende Einsichten beigetragen, wie stark individuell-personale Entscheidungsstrukturen den Mehrheitsentscheidungen in demokratischen Sozietäten ähneln.16 Erkennen und Humanisieren, modelliert als Ganzheit evolutionärdynamischer Selbstorganisation, bedeutet für Werner Leinfellner auch, dass die wissenschaftlich-technologischen Begriffsysteme und deren Realisierungen immer weitere Möglichkeitsräume eröffnen sowohl für die Eigenevolution als auch für die Koevolution (Eingriffsevolution). Erkennen und Humanisieren ist ein gekoppelter Prozess einer selbstorganisierenden Symbiotisierung bzw. Hybridisierung, worin sich die transformierenden Übergänge von Überlebensbedingungen zu Entfaltungsbedingungen finden lassen. Werner Leinfellners Vorstöße zu einer „Allgemeinen stochastischen Theorie evolutionärer Prozesse“ sind insbesondere dadurch charakterisierbar, dass ein solcher Theorietypus in seiner Basisstruktur ein stochastisches Begriffssystem sein muss. Ein solches stochastisches Begriffssystem nimmt vor allem fundamentale Kategorien in sich auf, die innerhalb hoch qualitativer wissenschaftlicher Theorien des 20. Jahrhunderts operationalisiert worden sind. Ohne hier das riesige wissenschaftliche Werk von Werner Leinfellner vollständig heranziehen zu können, ist doch eine Fokussierung hilfreich, indem man die folgende Begriffsklasse (K1 bis K5) hervorhebt: (K1) Unschärfe; (K2) statistische Kausalität; (K3) chaotischer Determinismus; (K4) Unsicherheit (Risiko); (K5) Zufall. Diese Begriffsklasse (K1 bis K5) charakterisiert die neue Qualität von Zusammenhängen zwischen der Eigenevolution und der Koevolution (Eingriffsevolution). Eine „Allgemeine stochastische Theorie evolutionärer Prozesse“ wird eine außerordentlich starke bzw. umfangreiche Theorie darstellen müssen, die zumindest den Zusammenhang von Erkennen und Humanisieren besser als bisher erfassen lässt. Die Kategorien (K1 bis K5) lassen u.a. folgende Aspekte erkennen:17
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Leinfellner, W.: „Evolutionary Causality, Theory of Games and Evolution of Intelligence“, in: Wuketits, F.M. (ed.): Concepts and Approaches in Evolutionary Epistemology“, Boston 1984 17 Leinfellner, W.: „Towards a Bayesian Theory of Self-Organization. Societal Evolution, Creativity, and the Role of Randomizers in the Societal Evolution“, in: J. Götschl
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1. Sie verdrängen platonistisch idealistische Überhöhungen in Bezug auf die untrennbaren Vernetzungen der Eigenevolution und der Koevolution und ersetzen diese durch statistisch-stochastisch basierte Realitätskonzeptionen; 2. Man ist den Realitäten näher, d.h. die klassisch-ontologische Separation von Eigenevolution und Koevolution wird tendenziell aufgehoben bzw. tendenziell homogenisiert: Es ist eine besondere Form einer Theorienbildung, in der es zu einer gewissen Entsubstantialisierung kommt, durch die die klassische Trennung von Innenwelt und Außenwelt des Menschen zurückgedrängt wird; 3. Als besonders relevant gilt für den Aufbau einer „Allgemeinen stochastischen Theorie der Evolution“, die Zusammenhänge zwischen statistischen Kausalitäten und Zufällen im Kontext von Linearitäten und Nicht-Linearitäten besonders zu beachten, einem Kontext, in dem Werner Leinfellner die zentrale Quelle für das Auftreten von evolutionären Entwicklungslinien (Trajektorien) sieht. Realisierungen solcher Trajektorien konstituieren in besonderer Weise die Relationen zwischen mikro- und makrosozialen Realitäten. Die Variationsspektren von Problem- bzw. Konfliktgenerierungen und deren Lösungen sind zumindest in zweierlei Hinsicht deutlicher als je zuvor: (i) statistische Kausalitäten und Zufälle ermöglichen serielle Problem- bzw. Konfliktlösungen innerhalb der sozialen Mikrowelten und (ii) diese Lösungen werden über Generationen hindurch transportiert, transformiert und gewichtet. Statistische Kausalitäten – zentrale Bedingungskategorien für das Auftreten von Zufällen – verbessern das Verständnis für die Zusammenhänge zwischen sozialen Mikro- und Makrowelten. Nach Werner Leinfellners Intention ist es ein Modell einer eher gleich verteilten Wertigkeit von individueller und kollektiver Kreativität bis hin zu Innovationen. Kreativität ist tendenziell stärker im Vorstellungsraum von völlig Neuem zu positionieren, Innovationen dagegen sind näher dem Vorstellungsraum von Realisierung zu positionieren.18 Aber im evolutionären soziokulturellen Organismus sind die beiden Vorstellungsräume quasi gleichwertig, sie sind ver(ed.): Evolution and Progress in Democracies. New Foundations of a Knowledge Society, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London, 2001 18 Götschl J.: „On Evolutive Dynamics of Knowledge Production. Some Implications for Democracy, in: J. Götschl (ed.): Evolution and Progress in Democracies. New Foundations of a Knowledge Society, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London, 2001
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schränkte Systeme. Nach Werner Leinfellner ist in dieser Verschränkung die stochastische Einheit von Erkennen und Humanisieren höchstwahrscheinlich substantiell angelegt. Denn der stochastische Kerncharakter in Richtung einer allgemeinen Theorie der Evolution führt auch zur Verdeutlichung der in einer solchen Theorie stärker als je zuvor enthaltenen Wissenstypologie: (i) Wissen über Prozesse, aber auch (ii) Wissen darüber, was man über Prozesse nicht wissen kann. Hier geht Werner Leinfellner offensichtlich davon aus, dass unterstützt durch die Theorie der Selbstorganisation (TSO) die Verbindungen zwischen anorganischer, biologischer, genetischer, neuronaler Evolution bis hin zu Bewusstseins- und Sprachevolution homogener repräsentiert werden können. Eine Annäherung in Richtung einer dynamischen Einheit von Erkennen und Humanisieren wird in diesem Typus von Theorienbildung möglicher. All dies ist im abendländischen Denken bereits im gewissen Ausmaß vorhanden. Neu aber ist, dass die stochastisch-modellierbaren Interaktionsformen Entwicklungsdeterminanten von Sozietäten als evolutive Trajektoren erkennen lassen. Deren entscheidendes Charakteristikum besteht im tendenziellen Ansteigen von Freiheitsgraden sowohl von Individuen als auch von Sozietäten. In den Realisierungen von Kreationen und Innovationen sind die Prozesse des Erkennens und Humanisierens kaum voneinander zu separieren. Aber schrittweise expliziter gemacht ist für Werner Leinfellner ausweisbar, dass die Inhalte dieser anwachsenden Freiheitsgrade mit den Inhalten von demokratischen Prinzipien bzw. Regelsystemen konvergieren. All dies liefert wichtige Einsichten dahingehend, dass die klassische Unüberbrückbarkeit zwischen „Sein und Sollen“ evolutionsphilosophisch und evolutionswissenschaftlich überbrückt werden kann.19 Vor diesem Hintergrund kann mit den Zugängen von Werner Leinfellner zu einer „Allgemeinen stochastischen Theorie evolutionärer Prozesse“ festgehalten werden, dass also grundlegende demokratische Prinzipien stark gekoppelt sind mit genetisch-neuronalen bzw. kybernetischinformatorischen Prozessen bis hin zu gegenwärtigen Modellierungen, wonach auch versucht wird, das neuronale System als „social brain“ adäquater darzustellen. Demokratische Prinzipien sind offensichtlich intrinsischevolutive Charakteristika in den mikro- und makrosozialen Netzwerken. Obwohl die Rekonstruktion dieser evolutionär-intrinsischen Demokratie19
Leinfellner, W.: (a) „The Brain-Wave-Model as a Protosemantic Model“, in: Bazar, E.: (ed.): Dynamics of Sensory and Cognitive Processing in the Brain, New York, 1988; (b) „The Change of the Concept of Reduction in Biology and in the Social Sciences“, in: Radnitzky, G. (ed.): Centripedal Forces in the Sciences, New York, 1988
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muster („evolutionary units“) noch nicht sehr weit fortgeschritten ist, so ist doch evident: Eigenevolution und Koevolution als gekoppelte Systeme begünstigen die Emergenz in Richtung eines Ansteigens von Freiheitsgraden von Individuen. An diesem Punkt verweist Werner Leinfellner immer wieder darauf, dass die bisherigen Verläufe demokratisch strukturierter Soziodynamiken die empirisch belegbaren Erkenntnisse repräsentieren, wonach die Semantik von Evolutionstheorie und Demokratietheorie die stärksten Isomorphien zwischen mikrosozialen und makrosozialen Prozessen erkennen lassen. Diese Isomorphien sind zentrale Muster für die hoch aggregierten evolutionären Stabilitäten von demokratischen Sozietäten. Dieses Geschehen verdeutlicht sich in den gegenwärtigen sozialen Realitäten in Gestalt der digitalen Globalisierung, wodurch es ebenfalls zu einer Aufwertung des Individuums kommt. Dies z.B. unter anderem dadurch, dass Ideen, Kreationen und Innovationen von Individuen schneller als in aller Menschheitsgeschichte bisher die Ebenen kollektiven Bewusstseins (Wissens) erreichen können. Dies bedeutet auch, dass einerseits der Umfang an Information gewaltig ansteigt, gleichzeitig aber auch das Komplexitätsniveau für die Ausdifferenzierung zwischen irrelevanten und relevanten Informationen größere individuelle und kollektive Mehrwerte darstellt. Solche Freiheitsgrade, eben als individuelle Entwicklungspfade verstanden, sind nach Werner Leinfellner nur über Kreationen und Innovationen erreichbar.20 Entscheidend dabei ist, dass die digitale Globalisierung eine neue Form der Distribution aller Inhalte ermöglicht und damit wird auch die Bedeutung von Transparenz in evolutionär-demokratischen Entwicklungen stärker explizit gemacht. Die Vorstöße von Werner Leinfellner zu einer „Allgemeinen stochastischen Theorie evolutionärer Prozesse“ rücken also den Zufall in differenzierter Form ins Zentrum einer modernen Theorienbildung. Bei dieser Theorienbildung wird eine Ausgewogenheit zwischen holistischer und partikularistischer Begriffsbildung einerseits und Erfahrungs- bzw. Datenbasierung andererseits vollzogen. Zentral in diesem Vorgehen ist auch die Sicht von Werner Leinfellner bezüglich der Zusammenhänge zwischen Kreativität und neuronalen Systemen, weil für die Zusammenhänge von 20
Leinfellner, W.: (a) „Towards a Bayesian Theory of Self-Organization. Societal Evolution, Creativity, and the Role of Randomizers in the Societal Evolution“, in: J. Götschl (ed.): Evolution and Progress in Democracies. New Foundations of a Knowledge Society, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London, 2001; (b) Leinfellner, E.: „The New and the Old: Roles and Randomizers, and the Evolutionary Aspects of a Cognitive Text Linguistics“, in: La Nuova Critica, Rom, 2001
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Erkenntnis und Humanisierung entscheidend ist herauszufinden, wie Kreativität funktioniert. Durch extensive Heranziehung des Zufalls verlagert Werner Leinfellner den Prozess der Theorienbildung, vor allem betreffend den Zusammenhang zwischen Kreation, Erkennen und Humanisieren. Zwei Charakteristika werden dafür geltend gemacht: Charakteristikum 1: Empirisch-evolutionäre Netzwerke – wie auch das mental-neuronale Netzwerk – haben weder (i) rein deterministisch-kausale, noch (ii) vollständig chaotische Strukturen, sondern statistisch-kausale Strukturen, die Ausnahmen erlauben (Default-Regeln). Charakteristikum 2: (i) die neuronale Aktivität wird von Zufallsgenerierungen (randomizers) unterbrochen; (ii) diese Zufallsgenerierungen sind nicht „gleichwahrscheinlich“, dies erklärt z.T. die nicht-kalkulierbare, nicht-lineare, höchst probabilistische Eigenschaft von Kreativität und „Wissensproduktion“, dass also auch ohne externe „agents“ Wissensproduktion stattfinden kann. Neuronale Systeme generieren unbegrenzt neue kombinatorische Möglichkeiten, die alle unsere Erfahrungen der Vergangenheit überschreiten. Nach Werner Leinfellner kommen – hier etwas summarisch zusammengefasst – zumindest drei Bedingungen zur näheren Betrachtung: (i) die Kreation von neuen Kombinationen erhält den eigentlichen Wert erst durch linguistisch-symbolisch und technologisch basierte Gedächtnisleistungen; (ii) neuronale Systeme können unentwegt sowohl mögliche, wie auch unmögliche Kombinationen von alten und ganz neuen Inhalten generieren; (iii) aus den unzähligen Kombinationen erfolgen Auswahlverfahren. Solche Auswahlprozesse vollziehen sich nach Werner Leinfellner zumindest über drei Dimensionen: (i) Die Auswahl von Kombinationen erfolgt auf der Basis empirischer Realisierungen (empirischer Testverfahren); (ii) ein weiteres Auswahlkriterium liegt in der Vorteilhaftigkeit und (iii) die Auswahl erfolgt auf der Basis demokratisch begründeter Akzeptanz. Diese drei Verfahren transformieren gewissermaßen „theoretische Realitäten“ in „pragmatische Realitäten“, wobei die letzteren wieder Potentiale für neue Theorienbildungen liefern.21 In den Beiträgen von Werner Leinfellner zum Aufbau einer „Allgemeinen stochastischen Theorie der evolutionärer Prozesse“ finden sich also jene Erkenntnisse, wonach es nur auf der Grundlage einer spezifischen Symbiose aus Theoretizität und Empirizität Fortschritte geben kann, Fort21
Leinfellner, W.: „Towards a Bayesian Theory of Self-Organization. Societal Evolution, Creativity, and the Role of Randomizers in the Societal Evolution“, in: J. Götschl (ed.): Evolution and Progress in Democracies. New Foundations of a Knowledge Society, (Kapitel 10 und 11), Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London, 2001
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schritte, die dann als Einheit von Erkennen und Humanisieren verstanden werden können. Die evolutionsphilosophischen und evolutionswissenschaftlichen Erkenntnisse konvergieren also mit den Grundprinzipien von Demokratie bis hin zu den Menschenrechten. Präferenzen, Entscheidungen und Bewertungen werden also in komplexen, dynamischen und vernetzten Realitätsebenen gesucht, die geprägt sind vom genetischen Erbe und den Zufällen, verbunden mit permanenten Versuchen, Realisierungen als Bestätigung und Prüfinstanz für die Lebensentfaltung zu begreifen. Die im Aufbau befindliche „Allgemeine stochastische Theorie evolutionärer Prozesse“ geht also von einem monistisch-realistischen Bild des Menschen aus, in dem die evolutionär-stabilen und in evolutionär-instabilen Phasen auf je höheren Ebenen als Normalverteilung charakterisiert werden. All dies führt zur Anhebung von verteilter Kompetenz in demokratisch offenen Sozietäten, wodurch die Relationen zwischen Eigenevolution und Koevolution eine Neubestimmung erhalten. Diese Zugänge von Werner Leinfellner zu einem neuen Verständnis von Evolution liefern immer besseres Wissen darüber, wo Abweichungen von den evolutionären Stabilitäten Gefahrenräume öffnen und damit individuelle und kooperative Lernprozesse stören oder auch zerstören können. Obwohl beide Möglichkeiten der Störung als auch der Zerstörung von Lernprozessen in vielfältigster Weise analysiert und interpretiert werden, so kann man mit Werner Leinfellners Erkenntnissen auch seine weltanschauliche Perspektive in manifeste Konturen bringen. In einem Gespräch mit Werner Leinfellner diskutierte ich mit ihm verschiedene Grenzfragen, wie z.B. jene nach den Grenzen von Wissenschaft und Grenzen von Demokratie, über Chancen und Gefahren der Menschheitsentwicklung, über Zusammenhänge von optimistischen und pessimistischen Weltanschauungen. „Aber ich würde lieber sagen, angesichts der Tatsache, dass wir schon Tausende und Millionen Jahre gesellschaftlicher Evolution ohne Schaden hinter uns gebracht haben, und angesichts der relativen Stabilität unseres Planetensystems können wir hoffen, noch tausende Jahre ohne kosmische Katastrophen vor uns zu haben. Aber jede gute Erwartung kann auch in ihr Gegenteil umschlagen. Der Zufall schläft nicht. In der Wahrscheinlichkeitstheorie ist ja das Gegenteil nie ausgeschlossen. Popper sagte immer, es ist unglaublich, wie viel wir nicht wissen. Aber immerhin, rückblickend ist es auch unglaublich, wieviel wir schon wissen. Jedenfalls scheint unsere Hauptthese bezüglich der Wissenschaft, dass der Fortschritt der Wissenschaft, und hier dürfen wir die Technologie nicht vergessen, was zumindest relativen Fortschritt unserer Gesellschaft bedeutet, immer wahrscheinlicher wird, trotz temporärer Rück-
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schläge, durch die wir momentan hindurchgehen“.22 Werner Leinfellner stößt mit seinen Forschungsarbeiten in neue Richtungen vor, er hat neue Facetten zu einer modernen Aufklärung beigetragen. Seine Vorstöße münden darin, nicht nur neue Inhalte mit den klassischen Wahrheitsbegriffen zu bewerten – logische semantische, pragmatische und konsensuelle Wahrheit – sondern eine ganz neue Wahrheitskonzeption zu erarbeiten, die man als „evolutionäre Wahrheit“ wird weiter ausarbeiten müssen. In Kontrast zu bekannten Sichtweisen zeigt Werner Leinfellner, dass der Mensch sehr wohl aus der Geschichte lernen kann, wenn die Rekonstruktion der Geschichte mit statistisch-stochastisch-evolutionären Kategorien vorgenommen wird, wodurch neue Möglichkeitsräume für die Entwicklung des Menschen gleichsam realistischere Antizipationen von Zukunftsräumen ermöglichen. „One lesson to be learned is: Whenever we gamble for creation and truth or begin to play the „creative evolutive lottery“, we should never forget to store each of our past historical experiences. Contrary to Hegel’s view that history teaches us that we did not learn anything from it, evolution will continue as long as we learn our lessons by evolutive screening and processing, and storing all past solutions and empirical realizations of all our problems and societal conflicts as living history ... If any last lottery and probing are negative, we can stop the creative process and begin the gambling anew with another initial evolutive randomizer. Repeating the process with a new randomizer, new evolutive processing, and playing new evolutive lotteries in mente and in practice may be the only heuristics to arrive at creative solutions – this we know today.“23
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Götschl, J./Wuketits, F. M. (eds.): Erkenntnis und Humanität. Werner Leinfellner in realen und virtuellen Gesprächen mit Johann Götschl und Franz M. Wuketits, Wien, 1998 23 Leinfellner, W.: „Towards a Bayesian Theory of Self-Organization. Societal Evolution, Creativity, and the Role of Randomizers in the Societal Evolution“, in: J. Götschl (ed.): Evolution and Progress in Democracies. New Foundations of a Knowledge Society, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London, 2001 - Götschl, J.: Wege zur Integration? Dynamische Zusammenhänge zwischen Disziplinarität und Interdisziplinarität. Wissenschaftsphilosophische Zugänge, in: Integrative Therapie. Zeitschrift für vergleichende Psychotherapie und Methodenintegration, Krammer-Verlag, Vol. 34, No. 1/2, Wien, 2008 - Götschl, J.: „Zum dynamischen Menschenbild der Gegenwart: Wissenschaftsphilosophische Erkundungen“, in: Petzold, H.G. (Hrsg.): Die Menschenbilder in der Psychotherapie. Interdisziplinäre Perspektiven und die Modelle der Therapieschulen, Krammer Verlag Wien, 2011 (Im Erscheinen)
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Ontologie, Sprache und Ethik – einige Perspektiven zu Elisabeth und Werner Leinfellners Werk Franz M. Wuketits 1. Einleitung Vorliegender Beitrag soll – wie sein Titel bereits anzeigt – nur einige Perspektiven auf Elisabeth und Werner Leinfellners Werk werfen. Es geht also keineswegs um eine Gesamtwürdigung. Ich werde schwerpunktmäßig einiges aus diesem Werk hervorkehren, wobei meine eigenen Interessen sicher eine gewisse Rolle spielen. Elisabeth und Werner Leinfellner waren an vielen philosophischen Problemen interessiert und behielten dabei die Resultate der jeweiligen empirischen Wissenschaften stets im Auge. In diesem Beitrag spanne ich einen weiten Bogen und versuche dem wissenschaftlichen Vermächtnis dieses bemerkenswerten Gelehrtenehepaares exemplarisch Rechnung zu tragen. Ein ausführlicher Nachruf erfolgte bereits an anderer Stelle (Carsetti und Wuketits 2010), und Werner Leinfellners Arbeiten und ihre Rezeption bis 1990 habe ich in einem Artikel zu einem enzyklopädischen Werk zusammenfassend dargestellt (Wuketits 1991). Würdigungen beider Persönlichkeiten erfolgten – aus gegebenem Anlass – von Kampits (2007) und Windholz (2007). Wenn im vorliegenden Beitrag Werner Leinfellners Werk größere Berücksichtigung findet als das von Elisabeth Leinfellner, dann hat das den einfachen Grund, dass deren sprachwissenschaftliche Arbeiten – nicht zuletzt in Verbindung zu Fritz Mauthner und Ludwig Wittgenstein – in anderen Beiträgen dieses Bandes diskutiert und gewürdigt werden. Weil es mich aber sehr beeindruckt hat, möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich auf ein Buch über Wittgenstein hinweisen, welches Elisabeth Leinfellner gemeinsam mit Sascha Windholz verfasste (Leinfellner und Windholz 2005). In diesem Buch geht es nicht um Wittgensteins Sprachkritik und all das, wofür er in der Philosophie nunmehr seit Jahrzehnten für Diskussionen sorgt, sondern um den „einfachen“ niederösterreichischen Volksschullehrer. Wer sich für Wittgensteins Philosophie überhaupt nicht interessiert, ist dennoch gut beraten, dieses Buch zur Hand zu nehmen, weil es ein Re-
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sultat bemerkenswerter biographischer Forschung darstellt und das Kolorit einer Zeit vermittelt, die uns allmählich fremdartig anmutet. Als persönliche Anmerkung darf ich vorausschicken, dass ich Elisabeth und Werner Leinfellner anlässlich des 5. Internationalen Wittgenstein Symposiums (1980) in Kirchberg/Wechsel kennenlernte. Aus dieser ersten Begegnung entwickelte sich bald eine freundschaftliche Verbundenheit, die drei Jahrzehnte währen sollte. Ich verdanke beiden viele Anregungen. Beide waren – und jeder, der sie kannte, wird dies bestätigen – eine Quelle intellektueller Inspiration; sogar wenn sich das Gespräch um triviale Alltagsangelegenheiten drehte, entwickelte sich mancher Gedanke, den weiterzuführen sich lohnte. Und es ist überflüssig zu bemerken, dass man mit beiden selbst höchst umstrittene Auffassungen in aller Offenheit diskutieren konnte.
2. Ontologie, Systemtheorie und Semantik Dies ist der Titel eines umfangreichen Werkes, welches Elisabeth und Werner Leinfellner in den späten 1970er Jahren gemeinsam veröffentlichten, das in vielerlei Hinsicht den Kristallisationspunkt ihres (gemeinsamen) Schaffens bildet (Leinfellner und Leinfellner 1978) und zu dessen Thematik sie schon Vorfeld einschlägig publiziert hatten (vgl. Leinfellner und Leinfellner 1977). Im Vorwort skizzieren die Autoren ihr Anliegen wie folgt: „Dieses Buch soll ein altes und traditionelles Gebiet der Philosophie, die Ontologie, wieder in den Mittelpunkt philosophischer und wissenschaftstheoretischer Analysen rücken, vor allem auch aus dem Grunde, weil die Frage nach einer generellen Semantik der Wissenschaften unlösbar mit der Ontologie wissenschaftlicher (Kon-)Texte verbunden ist. Ontologie und Semantik reichen aber weit über die Wissenschaften hinaus, denn sie beruhen auf allgemeinen ontologischen und semantischen Untersuchungen bereits der vorwissenschaftlichen (Kon-)Texte und Sprachen. Aus dem semantischen und ontologischen Vorverständnis der vorwissenschaftlichen Sprachen kann ein allgemeines System der Ontologie und Semantik entwickelt werden, das in seiner Anwendung auf wissenschaftliche Theorien als Texte und Kontexte seinen präzisen Abschluß findet, aber auch die vorwissenschaftlichen Sprachen immer noch mit einschließt“ (Leinfellner und Leinfellner 1978, S. 5).
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Ontologie, Systemtheorie und Semantik ist ein grundlegendes Werk, das die inneren Verflechtungen dieser drei Disziplinen verdeutlicht (vgl. Wuketits 1981) und der Ontologie, die traditionsgemäß nicht selten vom Hauch von Obskuranten umwölbt war (und ist), neue Wege weist und sie auch für die empirischen Wissenschaften als fruchtbar herausstellt. Ausdrücklich distanzieren sich die Autoren denn auch von der Auffassung, dass Ontologie ein Teil der Metaphysik sei: „Eine strukturelle Ontologie kann … keine Unterdisziplin der Metaphysik sein, in dem Sinne, in dem die traditionelle Kosmologie und die traditionelle rationale (metaphysische) Psychologie Unterdisziplinen der Metaphysik sind. Kosmologie und Psychologie haben sich schon längst zu theoretischen Naturwissenschaften entwickelt und sind der traditionellen Metaphysik entwachsen. Es ist einsichtig, daß eine Ontologie wie die hier aufgebaute, die vor allem eine Ontologie der Wissenschaften sein soll, nicht in den Schoß der Metaphysik zurückkehren kann“ (Leinfellner und Leinfellner 1978, S. 209). Elisabeth und Werner Leinfellner vertraten eine dynamische Ontologie und wandten sich damit gegen das in der abendländischen Tradition tief verwurzelte statische, streng typologische Denken, das von Popper (z. B. 1960) als „Essentialismus“ einer harschen – und berechtigten – Kritik unterzogen wurde. Ihrer Vorstellung von Ontologie zufolge ist die Welt als Netzwerk von Systemen, als Hierarchie von Systemen zu begreifen. Grundsätzlich wollten sie nicht nur die Ontologie, sondern die Philosophie insgesamt in die Nähe der (empirischen) Einzelwissenschaften bringen. In diesem Sinne leitete Werner Leinfellner schon eines seiner frühen Werke mit folgenden Worten ein: „Die Philosophie benötigt heute mehr denn je einen Zugang zur Wissenschaft, erstens, um die Grundlagen der Einzelwissenschaften wie auch ihre philosophischen Voraussetzungen zu behandeln, zweitens, um Erkenntnistheorie betreiben zu können, und drittens, um den logischen und formalen Aufbau der Einzelwissenschaften zu untersuchen“ (Leinfellner 1965, S. 1). Indem Ontologie, Systemtheorie und Semantik ausdrücklich auf die Systemtheorie (vgl. Bertalanffy 1973) rekurriert, ist das Werk denn auch dazu angetan, verschiedene der klassischen Dichotomien auf unterschiedlichen Gebieten – von der Erkenntnistheorie über die Physik und die Biologie bis zu den Sozialwissenschaften und der Linguistik – aufzulösen. Das betrifft vor allem die Dichotomien Empirismus – Rationalismus, Atomismus – Ho-
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lismus und (in der Sprachwissenschaft bzw. Sprachphilosophie) Umgangssprache – Wissenschaftssprache. Was Letzteres betrifft, zeigt das Buch auf, dass der oft stillschweigend angenommene Gegensatz zwischen der Umgangssprache und der Sprache der (wissenschaftlichen) Theorien nicht haltbar sei, weil beide denselben semantischen Regeln gehorchen. Die Erwähnung der Sprache bringt uns nun zu Elisabeth Leinfellners eigentlichem Gebiet, zur Linguistik und Sprachphilosophie, wo sie sich mit einer Fülle von Arbeiten zu einer Vielfalt von Themen hervorgetan hat, die das Phänomen Sprache in zahlreichen Facetten beleuchten. Arbeiten über politische Linguistik (z. B. Leinfellner 1984, 1986), über kausale und diagnostische Textinterpretationen (Leinfellner 2010) gehören ebenso dazu wie eine lange Reihe anderer Publikationen, von denen ich hier repräsentativ eine besonders herausgreifen möchte.
3. Sprache und Euphemismus Bekanntlich ist die menschliche Sprache bestens dazu geeignet, „objektive“ Gegebenheiten der realen Außenwelt genauso wie „subjektive“ Befindlichkeiten in sehr vielen Schattierungen wiederzugeben, auch zu verzerren, zu verschönern oder zu verschlechtern. Man muss nicht der (konstruktivistischen) These anhängen, wonach die Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation sei (Watzlawick 1977), um zu erkennen, dass sich mittels der Sprache – salopp gesagt – gar manches anstellen lässt. Im Jahr 1971 veröffentlichte Elisabeth Leinfellner ein Buch über den Euphemismus in der politischen Sprache (Leinfellner 1971). Das Buch ist eine praktische Anwendung der Linguistik auf die Analyse der öffentlichen politischen Redeweisen – und mithin nach wie vor von großer Aktualität. Freilich folgt die politische Sprache nur den alltagssprachlichen Usancen, unangenehme, ungünstige Ereignisse sprachlich so zu verschleiern, dass sie nicht als so schlimm erscheinen wie sie wirklich sind. Diese Tendenz liegt in der menschlichen Psychologie begründet, worauf hier aber nicht eingegangen werden kann. Euphemismen sind daher nicht zuletzt im Zusammenhang mit Sterben und Tod sehr beliebt. Leinfellner (1971, S. 112) führt dazu verschiedene Beispiele aus dem Deutschen und Englischen an: „Zur ewigen Ruhe eingehen“, „Gott rief ihn zu sich“, „sanft (im Herrn) entschlafen“, „to pay one’s debt to nature“, „to leave this world“, „to be asleep in the Lord“ usw. Natürlich klingt das irgendwie besser als einfach zu sagen, dass jemand gestorben sei.
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Besonders reichhaltig sind die Euphemismen der (politischen) Sprache dort, wo es um Okkupation, Krieg usw. geht. Aber auch in der Wirtschaft sind Wortschöpfer am Werk, um die jeweils tatsächlich herrschenden Zustände zu verschleiern. Leinfellner (1971) führt zahlreiche Beispiele dazu aus, wobei vor allem die Amerikaner seinerzeit unter dem Eindruck des Vietnam-Kriegs besonders einfallsreich waren. Da sprach man nicht mehr von „to kill“, vom Töten, sondern von „to neutralize“, vom „Neutralisieren“, und die „mass destruction weapons“ (Massenvernichtungswaffen) verwandelten sich sprachlich in „special purpose weapons“ (Waffen für besondere Zwecke). Besonders grausame politische Aktionen wurden aber in verschiedenen Epochen unserer Geschichte sprachlich verschönert, Leinfellner (1971) erinnert dabei an Ausdrücke wie „Endlösung“, „Sonderbehandlung“, „Arbeitseinsatztransport“, „auswandern“ und andere mehr. Die Autorin konnte damals freilich nicht ahnen, welche bis ins unerträglich Ironische gesteigerten Euphemismen den in Politik und Wirtschaft Verantwortlichen (?) noch einfallen werden, um von ihnen produzierte Schweinereien zu verschleiern. Man denke nur (im militärischen Kontext) an Ausdrücke wie „chirurgisch sauberer Krieg“ und „Kollateralschaden“ oder (im Bereich der Wirtschaft) an Begriffe wie „Gesundschrumpfung“ und „Strukturbereinigung“. Damit einher geht die politisch korrekte Neusprache, die immer seltsamere Blüten treibt und zumindest sprachlich alles ausrotten will, was irgendwie negative Assoziationen hervorruft. (So gibt es bekanntlich z. B. keine aggressiven Kinder mehr, sondern nur noch „verhaltensoriginelle“.) Der Euphemismus in der politischen Sprache ist ein nach wie vor sehr aktuelles Buch; scharf in der linguistischen – aber auch soziologischen – Analyse, ist es ein Musterbeispiel für angewandte Sprachwissenschaft. Das Buch müsste, ergänzt um aktuelle Beispiele, neu aufgelegt werden. Es enthält in seinem Schlusskapitel auch einige – nach wie vor aktuelle – moralische Überlegungen und gleichsam einen Appell an den mündigen Staatsbürger: „Euphemismen … sind gewissermaßen politische Strategien, Finten, die der politische Gegner, resp. der Staatsbürger im allgemeinen zu durchschauen hat, und die er im Rahmen der Demokratie auch durchschauen kann. Selbst geheiligte Begriffe wie Moral, Recht, Wahrheit, Freiheit nehmen euphemistische Züge an, wenn sie aus dem Rahmen der politischen Strategien im allgemeinen, nämlich dem alltäglichen Leben der Demokratie, entfernt und auf ein womöglich metaphysisches Piedestal gestellt werden“ (Leinfellner 1971, S. 154).
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Diese kritischen Bemerkungen leiten wieder nahtlos über zum Werk von Werner Leinfellner, dem ein umfassendes Demokratieverständnis auf der Basis einer realistischen Ethik ein großes Anliegen war.
4. Vom Spiel zur Moral Anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Werner Leinfellner schloss Johann Götschl seine Laudatio mit folgenden Worten: „Professor Leinfellner hat in seinem Zugang zu Natur, zu Mensch und Gesellschaft faszinierende wissenschaftliche Beiträge zum Fortschritt eingebracht. Seine Philosophie der Wissenschaften und seine Beiträge zur Entscheidungstheorie haben sowohl den Begriff der Philosophie selbst wie auch unser Verständnis von Rationalität einer neuen Bestimmung zugeführt, um damit unsere dynamische und komplexe Welt in einem Gesamtzusammenhang verstehend einordnen und damit uns aneignen zu können“ (Götschl 1994, S. 34 f.). Damit ist schon Leinfellners umfassendes Verständnis von Philosophie klar umrissen. Er verstand Philosophie stets als eine Disziplin, die eng mit den empirischen Wissenschaften zusammenarbeiten müsse und keine Luftschlösser bauen dürfe. „Meine Meinung ist, daß Philosophie und Wissenschaft auch heute noch sich komplementär ergänzen und uns zu neuen Erkenntnissen und Entdeckungen verhelfen“ (Leinfellner in Götschl und Wuketits 1998, S. 15). Götschl führt in seinem Beitrag zum vorliegenden Band aus, dass Leinfellner – zumal in seinem späteren Werk – sich um eine universelle Theorie der Evolution bemüht habe. In der Tat war Leinfellner, wovon man sich jederzeit auch in persönlichen Gesprächen mit ihm überzeugen konnte, fasziniert vom Wandel, von der Dynamik der Systeme in verschiedenen Bereichen der realen Welt – vom Urknall (und „davor“) (Leinfellner 1988) bis zu (menschlichen) Gesellschaften und Kulturen (Leinfellner 1998) – und verstand eine umfassende Evolutionstheorie letztlich als eine neue Theorie demokratischer Gesellschaften (Leinfellner 1995). Es kam daher nicht überraschend, dass er die evolutionäre Erkenntnistheorie, die – in den 1970er und 1980er Jahren große Kontroversen auslöste und vor allem der idealistischen Tradition verpflichtete Philosophen irritierte – sofort begeistert aufnahm, wobei die Theorie von ihm eine große Stütze auf spieltheoretischer Grundlage erhielt (vgl. Leinfellner 1983, 1987).
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Die Spieltheorie analysiert das Verhalten von Menschen („Spielern“) in Entscheidungssituationen und ist mithin mit der Entscheidungstheorie eng verknüpft. Wie Leinfellner selbst in einem knappen Handbuchbeitrag ausführt, besteht das Grundanliegen der Spiel- bzw. Entscheidungstheorie darin, „menschliche Konflikte, die bei Handlungen und Entscheidungen auftreten können, zu lösen“ (Leinfellner 1980, S. 160). Konflikte sind in zwischenmenschlichen Beziehungen geradezu unvermeidlich, denn es ist, wie ich an anderer Stelle bemerkte, ziemlich gleichgültig, „ob zwei oder mehrere Individuen dasselbe wollen oder jedes etwas anderes will – beides kann zu Konflikten führen“ (Wuketits 2010, S. 30). Weitere Bemerkungen dazu erübrigen sich hier. Aber ohne die Omnipräsenz von Konflikten – zwischen Einzelindividuen und zwischen Gruppen bis hin zu Staaten – wäre die Grundfrage der Ethik (im Sinne von Kant) „Was soll ich tun?“ eigentlich obsolet; denn die Frage stellt sich nur deshalb, weil sich Menschen oft so verhalten, dass sie anderen Menschen in die Quere kommen oder ihnen Schaden zufügen. Aber das Verhalten und Handeln von Menschen ist auch eine Frage von Lebensbedingungen. Territorialität, Armut, Hunger und Ungerechtigkeit haben die Menschheitsgeschichte praktisch immer begleitet und waren Ursachen von Konflikten (vgl. z. B. Crozier 1974); und daran hat sich bis heute nichts geändert. Es ist daher klar, dass die Frage „Was soll ich tun (um moralisch richtig zu handeln)?“ nicht beantwortet werden kann, bevor erkannt ist, was Menschen in ihrer jeweiligen Lebenssituation überhaupt zu tun imstande sind; und es ist ebenso klar (oder sollte es zumindest sein), dass die menschliche Moralfähigkeit begrenzt ist (vgl. z. B. Wuketits 2010). Dieser Umstand war Werner Leinfellner voll bewusst, und er strebte daher einen „Realismus“ in der Moralphilosophie an: Nicht um abgehobene, „ewige“ Werte kann es gehen, sondern darum, wie Menschen in konkreten Lebenssituationen tatsächlich handeln, was sie jeweils als Werte empfinden. In Anknüpfung an Moritz Schlick verteidigte er Ethik als Sozialethik (vgl. Leinfellner 1985a, b). Man mag fragen, was denn dabei besonders sei: Ethik ist ja immer Sozialethik, denn moralische Probleme ergeben sich erst aus dem Zusammenleben von Menschen; würde jeder Mensch für sich allein leben, ohne Berührung mit anderen Menschen, dann hätte ja nie jemand Moral und Ethik erfunden. Doch bleibt zu bedenken, dass die meisten der traditionellen Moralsysteme auf das reale Zusammenleben der Menschen kaum Rücksicht genommen und sich in einer Pflicht- bzw. Sollensmoral erschöpft haben. Ethik war – und ist teils heute noch – bloß eine Sache von „Moralisten“, die mahnend ihre Zeigefinger erheben und sich
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nicht um reale Lebenssituationen ihrer Mitmenschen kümmern. In Anlehnung an Schlick konnte Leinfellner jedoch verdeutlichen, dass Menschen in ihrem Handeln – und somit auch in ihren moralischen Urteilen – stets von Präferenzen geleitet sind, Lust gewinnen und Unlust vermeiden wollen (siehe auch Wuketits 2000). Das entspricht natürlich auch der evolutionstheoretischen und verhaltensbiologischen Erwartung. Und die Spiel- bzw. Entscheidungstheorie ist dabei eine Hilfestellung. Menschen sind, so lässt sich verkürzt sagen, Spieler, die aus jeder Situation ihren optimalen Nutzen herausholen möchten. Moralische Entscheidungen sind daher maßgeblich situationsabhängig. Der von Schlick angestrebte Neuansatz in der Ethik wurde von Leinfellner erfolgreich weitergeführt, was ihm umso mehr gelungen ist, als er (wie schon Schlick) die Ethik auf das Fundament der empirischen Wissenschaften stellte. Die Frage „Was soll ich tun?“ kann sinnvoll erst beantwortet – ja, sinnvoll nur dann gestellt – werden, wenn die moralischen Möglichkeiten des Menschen überhaupt und grundsätzlich einmal ausgelotet sind. Jedes Moralsystem, das an den Grundbedingungen der menschlichen Existenz, der menschlichen Natur vorbeigeht, ist daher mittel- bis langfristig zum Scheitern verurteilt. Ethik hat auf die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften Rücksicht zu nehmen und ist überhaupt als angewandte Wissenschaft zu betreiben (siehe hierzu z. B. auch Ruse und Wilson 1986). Einen solchen Ansatz zur Ethik hätte Leinfellner wohl kaum entwickelt, wenn er nicht schon früh Werttheorien einer formalen Behandlung unterzogen hätte (Leinfellner 1964) und von vornherein nicht davon überzeugt gewesen wäre, dass Werte und Normen ganz einfach von Menschen erfunden, konstruiert werden, um mit deren Hilfe konkrete gesellschaftliche Probleme zu lösen. Das mag auch an Viktor Kraft erinnern, der Ethik als eine „technische Wissenschaft“ sah, die sich nicht auf die Erkenntnis absoluter Werte und kategorischer Imperative zurückziehen kann, weil es diese (objektiv) gar nicht gibt (Kraft 1968). So wie in der Erkenntnistheorie, griff Leinfellner auch in der Ethik auf den Evolutionsgedanken zurück und kann als Vertreter einer evolutionären Ethik gelten (vgl. Leinfellner (1993, 2000). Werte und Normen sind zwar nicht aus der Natur „ableitbar“, aber die menschliche Moralfähigkeit kann nur aus der Naturgeschichte des Menschen heraus hinreichend verstanden werden, was selbstverständlich wesentliche Konsequenzen für die Ethik hat (siehe auch Wuketits z. B. 1993, 2010). Leinfellner (1974) betonte, dass die menschliche Fürsorge tiefe Wurzeln habe, die stärker seien als der Eigennutz. Dem entspricht beispielsweise auch die Vermutung von Ri-
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chards (1986), wonach der Mensch dazu selektiert wurde, nicht nur für das Wohlergehen seiner eigenen Nachkommen zu sorgen, sondern auch die Schwachen zu verteidigen und anderen bei Schmerz und Leid zu helfen. Ich bin dabei etwas skeptisch. Zwar ist es richtig, dass Menschen oft spontan zu Kooperation und gegenseitiger Hilfe tendieren, aber das tun sie vor allem dann, wenn sie sich selbst Vorteile aus ihrem kooperativen und helfenden Handeln versprechen. Doch das wäre bereits ein eigenes Thema. Leinfellner jedenfalls war, in vieler Hinsicht, ein unverbesserlicher Optimist. So meinte er beispielsweise: „Angesichts der Tatsache, daß wir schon Tausende und Millionen Jahre gesellschaftlicher Evolution hinter uns gebracht haben, und angesichts der relativen Stabilität unseres Planetensystems können wir hoffen, noch Tausende Jahre ohne kosmische Katastrophen vor uns zu haben. Aber jede gute Erwartung kann auch in ihr Gegenteil umschlagen. Der Zufall schläft nicht… Jedenfalls scheint unsere Hauptthese bezüglich der Wissenschaft, daß der Fortschritt der Wissenschaft, und hier dürfen wir die Technologie nicht vergessen, auch zumindest relativen Fortschritt unserer Gesellschaft bedeutet und immer wahrscheinlicher wird, trotz temporärer Rückschläge, die wir momentan durchgehen“ (Leinfellner in Götschl und Wuketits 1998, S. 85). Aber selbstverständlich war Leinfellner nicht von einem naiven Glauben an den guten Menschen beseelt, sondern schöpfte seine Hoffnung aus bewährten Verhaltensmustern: „Ich glaube, daß das Ausmaß an Kooperation und Hilfsbereitschaft größer war (und ist) als man gemeinhin annimmt. Nicht, weil der Mensch in einem idealistischen Sinne gut ist, sondern – hier spricht der Spieltheoretiker – weil sich Kooperation und Hilfsbereitschaft mittelbis langfristig auszahlen. Hier haben wir eine Evolutionsstabile Strategie vor uns“ (Leinfellner in Götschl und Wuketits 1998, S. 93). (Diese Sätze habe ich ihm in einem fiktiven Interview in den Mund gelegt, aber sie entsprachen seiner Überzeugung. Das hätte er tatsächlich so gesagt, meinte er, als er das „Interview“ las.) Leinfellners spätere Beiträge zur Ethik kommen, wenn man das Gesamtwerk überblickt, keineswegs überraschend. Denn auch wenn Leinfellner anfänglich in den Naturwissenschaften tätig war – und sein Interesse an diesen stets lebendig erhielt –, befasste er sich von vornherein auch mit sozialwissenschaftlichen Problemen und war stets an den Möglichkeiten, gesellschaftliche Zustände zu verbessern, in hohem Masse interessiert. Davon
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legt eine seiner frühen Veröffentlichungen über Revolutionen (Leinfellner 1967) Zeugnis ab. Seine schrecklichen Erfahrungen des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs bildeten den biographischen Hintergrund für jenes Interesse. Später war er, wie bereits gesagt wurde, um eine allgemeine Evolutionstheorie bemüht, die auch den gesellschaftlichen Wandel beschreibt – und worauf er seinen bereits angedeuteten Optimismus, und insbesondere seine Hoffnung auf die Demokratie, gründete: „Die kulturelle Evolution wird nicht durch die egoistische Maximierung meines Nutzens angetrieben … Die evolutionäre Spieltheorie erweist, daß die Maximierung der individuellen Sicherheit, wenn sie nicht auf Kosten der anderen geht …, zugleich die Optimierung der relativen Stabilität der Gesellschaft ist. Das kann aber nur in Demokratien funktionieren. Nur sie können die soziale Gerechtigkeit, den sozialen Wohlfahrtstaat, eine der größten Errungenschaften westlich demokratischer Gesellschaften, verwirklichen. Der Attraktor nach größerer Sicherheit und nach relativer Stabilität treibt unsere gesellschaftliche Entwicklung … nur in demokratischen Gesellschaften effektiv weiter“ (Leinfellner in Götschl und Wuketits 1998, S. 39). Was die Philosophie betrifft, ist zu betonen, dass Leinfellner maßgeblich an ihrer Erneuerung gearbeitet hat und sich vor allem gegen die verkrusteten Lehren der idealistischen Philosophie zur Wehr setzte. Er sah in der Philosophie einen veritablen Beitrag zu unserem Weltbild und zu unserem Selbstverständnis, vorausgesetzt, dass sie stets in Verbindung zu den empirischen Wissenschaften betrieben wird. In der Evolutionstheorie sah er einen neuen Zugang zu alten philosophischen Problemen und war absolut damit einverstanden, „daß die gesamte Philosophie nach dem Auftreten der Evolutionstheorie niemals mehr das sein kann, was sie vorher war. Das betrifft alle Probleme und Grundbegriffe der Philosophie, nicht nur die erkenntnistheoretischen, sondern auch die praktischen Probleme der Moral und Ethik“ (Oeser 1987).
5. Zum Abschluss Wie ich in der Einleitung bemerkte, wollte ich das Werk von Elisabeth und Werner Leinfellner hier nur perspektivisch beleuchten; andernfalls wären noch viele Seiten zu füllen gewesen.
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Trotz ihrer unterschiedlichen fachspezifischen Ausbildung hegten beide lebenslang viele gemeinsame intellektuelle Interessen, und ihr Zusammenleben war tatsächlich ein ständiges Seminar (wovon man bei jeder Begegnung mit beiden auch einen lebhaften Eindruck vermittelt bekam). Das von ihnen gemeinsam verfasste Opus Ontologie, Systemtheorie und Semantik ist ein eindrucksvolles Zeugnis ihrer gemeinsamen intellektuellen Bestrebungen. Natürlich hätte dieses Werk nie entstehen können, wenn sich die geistige Symbiose nicht früh entwickelt hätte. Beide waren sehr liberale Denker und zeigten das auch in ihrem Umgang mit anderen Menschen. Zwar waren sie ständig beschäftigt, aber auch stets zugänglich. „Der Rat der beiden Leinfellners ist nie rein theoretisch und passiv, sondern immer begleitet durch konkrete Bereitschaft zum Engagement“ (Windholz 2007, S. 77). Dieses Engagement lässt sich natürlich auch aus ihren Schriften ablesen. Dabei sind meiner Meinung nach die folgenden „Punkte“ besonders hervorzuheben: • Elisabeth und Werner Leinfellner traten stets für intellektuelle Offenheit und Redlichkeit ein, hatten Freude am Diskurs (auch an Kontroversen), respektierten die Meinungen anderer, konnten diesen aber auch vehement widersprechen. • Beide wandten sich stets gegen jeden philosophischen und theologischen Obskurantismus und ließen nur gelten, was aus der Evidenz des menschlichen Lebens erwiesen werden kann. • Für beide war Philosophie eine große intellektuelle Herausforderung, aber beide bekämpften philosophische Absolutheitsansprüche und ließen Dogmatismus nicht zu. • Elisabeth und Werner Leinfellner waren – in ihren Schriften, aber auch im persönlichen Leben – Vertreter eines säkularen Humanismus, eines Humanismus, der Menschlichkeit ohne Rückgriff auf obskure Entitäten fördert. In seiner Gesamtheit betrachtet steht das Werk der Leinfellners – mit vielen Hunderten Einzelpublikationen – in der Tradition der Aufklärung, die wir heute wie ehedem dringend nötig haben.
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Literatur Bertalanffy, Ludwig von 1973 General System Theory – Foundation, Development, Application, Harmondsworth: Penguin Books. Carsetti, Arturo und Wuketits, Franz M. 2010 „In Memoriam Elisabeth Leinfellner (1938-2010) and Werner Leinfellner (1921-2010)“, La Nuova Critica 53-54, 5-8. Crozier, Brian 1974 A Theory of Conflict, London: H. Hamilton. Götschl, Johann 1994 „Laudatio auf Werner Leinfellner“, Grazer Universitätsreden 51, 27-35. Götschl, Johann und Wuketits, Franz M. 1998 Erkenntnis und Humanität – Werner Leinfellner in realen und virtuellen Gesprächen mit Johann Götschl und Franz M. Wuketits, Wien: Literas-Universitätsverlag. Gottinger, Hans W. und Leinfellner, Werner (Hrsg.) 1978 Decision Theory and Social Ethics: Issues in Social Choice, Dordrecht: Reidel. Kampits, Peter 2007 “Laudatio auf Elisabeth und Werner Leinfellner” in Kanzian, Christian et al. (Hrsg.) Wir hofften jedes Jahr noch ein weiteres Symposium machen zu können – Zum 30. Internationalen Wittgenstein Symposium in Kirchberg am Wechsel, Heusenstamm: Ontos (S. 71-74). Kraft, Viktor 1968 Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral, Berlin: Duncker & Humblot. Leinfellner, Elisabeth 1971 Der Euphemismus in der politischen Sprache, Berlin: Duncker & Humblot. Leinfellner, Elisabeth 1984 „Politikolinguistik und die Wertfreiheit der Wissenschaften“, politicum 5, 32-34. Leinfellner, Elisabeth 1986 “Values in Politics and the Analysis of Political Texts”, Wiener Linguistische Gazette 38/39, 5-20. Leinfellner, Elisabeth 2010 „Causal and Non-Causal (Diagnostic) Interpretations of Written Texts” La Nuova Critica 53-53, S. 79-99. Leinfellner, Elisabeth und Leinfellner, Werner 1978 Ontologie, Systemtheorie und Semantik, Berlin: Duncker & Humblot. Leinfellner, Elisabeth und Windholz, Sascha 2005 Ludwig Wittgenstein –Ein Volksschullehrer in Niederösterreich, Erfurt: Sutton Verlag. Leinfellner, Werner 1964 „Werttheorien und ihre formale Begründung“, Wissenschaft und Weltbild 3/64, 195-214. Leinfellner, Werner 1965 Struktur und Aufbau wissenschaftlicher Theorien, Wien: Physica-Verlag. Leinfellner, Werner 1967 „Zur Theorie der Revolutionen”, Sonderdruck des Instituts für Wissenschaft und Kunst 22 (3), 3-15.
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Leinfellner, Werner 1974 „A New Epitheoretical Analysis of Social Theories: A Reconstruction of their Background Knowledge including a Model of Statistical Decision Theory” in Leinfellner, Werner und Köhler, Eckehart (Hrsg.) Developments in the Methodology of Social Science, Dordrecht: Reidel (S. 3-43). Leinfellner, Werner 1980 „Entscheidungstheorie” in Speck, Josef (Hrsg.) Handbuch Wissenschaftstheoretischer Begriffe, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (S. 160-165). Leinfellner, Werner 1983 „Das Konzept der Kausalität und der Spiele in der Evolutionstheorie“ in Lorenz, Konrad und Wuketits, Franz M. (Hrsg.) Die Evolution des Denkens, München: Piper (S. 215-260). Leinfellner, Werner 1985a „Eine Rekonstruktion der Schlickschen Sozialethik“ in McGuiness, Brian (Hrsg.) Zurück zu Schlick – eine Neubewertung von Werk und Wirkung, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky (S. 57-84). Leinfellner, Werner 1985b „A Reconstruction of Schlick’s Psychosocial Ethics“, Synthese 64, 317-349. Leinfellner, W. 1987 „Evolutionäre Erkenntnistheorie und Spieltheorie“ in Riedl, Rupert und Wuketits, Franz M. (Hrsg.) Die Evolutionäre Erkenntnistheorie – Bedingungen, Lösungen, Kontroversen, Berlin: Paul Parey (S. 195-210). Leinfellner, Werner 1988 „Before the Big Bang“ Austria Today 4/88, 15-17. Leinfellner, Werner 1993 „Ein Plädoyer für die Evolutionäre und die Sozialethik” in Lütterfelds, Wilhelm (Hrsg.) Evolutionäre Ethik zwischen Naturalismus und Idealismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (S. 32-64). Leinfellner, Werner 1995 „The New Theory of Evolution – A Theory of Democratic Societies” in Götschl, Johann (Hrsg.) Revolutionary Changes in Understanding Man and Society, Dordrecht: Kluwer Academic Publishers (S. 149-189). Leinfellner, Werner 1998 „Game Theory, Sociodynamics, and Cultural Evolution” in Leinfellner, Werner und Köhler, Eckehart (Hrsg.) Game Theory, Experience, Rationality, Dordrecht: Kluwer Academic Publishers (S. 197-210). Leinfellner, Werner 2000 „The Role of Creativity and Randomizers in Societal Human Conflict and Problem Solving”, La Nuova Critica 36 (1), 5-27. Leinfellner, Werner und Leinfellner, Elisabeth 1977 „Ontologie, Semantik und Struktur in den Wissenschaften“ in Marek, Johann Christian et al. (Hrsg.) Österreichische Philosophen und ihr Einfluß auf die analytische Philosophie der Gegenwart, Bd. I, Innsbruck: Conceptus (S. 160-174). Oeser, Erhard 1987 Psychozoikum – Evolution und Mechanismus der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, Berlin: Paul Parey. Popper, Karl R. 1960 The Poverty of Historicism, London: Routledge & Kegan Paul. Richards, Robert 1986 “A Defense of Evolutionary Ethics”, Biology & Philosophy 1, 265-293.
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Ruse, Michael und Wilson, Edward O. 1986 „Ethics as Applied Science“, Philosophy 61, 173-192. Watzlawick, P. 1977 Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen, München: Piper. Windholz, Sascha 2007 „Laudatio auf Elisabeth und Werner Leinfellner“, in Kanzian, Christian et al. (Hrsg.) op. cit., (S. 77-79). Wuketits, Franz M. 1981 „Rezension von Elisabeth Leinfellner und Werner Leinfellner: Ontologie, Systemtheorie und Semantik“, Philosophischer Literaturanzeiger 34, 23-27. Wuketits, Franz M. 1991 „Werner Leinfellner“ in Nida-Rümelin, Julian (Hrsg.) Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen von Adorno bis v. Wright, Stuttgart: Kröner (S. 320-323). Wuketits, Franz M. 1993 “Moral Systems as Evolutionary Systems: Taking Evolutionary Ethics Seriously”, Journal of Social and Evolutionary Systems 16, 251-271. Wuketits, Franz M. 2000 „Social Behavior, Morality, Pleasure, and Reward: Ethics as Social Ethics“, La Nuova Critica 36 (1), 109-128. Wuketits, Franz M. 2010 Wie viel Moral verträgt der Mensch? Eine Provokation, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
Sprachkritik
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Elisabeth und Werner Leinfellner 1997 in Ann Arbor, anlässlich der Gastprofessur von Elisabeth an der Universität von Michigan.
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Linguistik und Translationswissenschaft: eine schwierige Verwandtschaft Mary Snell-Hornby „Die Sprachwissenschaft ist eine Wissenschaft ohne Sprache“: So sprach Fritz Paepcke, Romanist, Übersetzer und hermeneutisch orientierter Übersetzungswissenschaftler in Heidelberg am Anfang der 1980er Jahre (vgl. Paepcke 1986: 102 und Snell-Hornby 2006: 32). Mit „Sprachwissenschaft“ meinte er damals den Strukturalismus nach Saussure und vor allem Chomskys Generative Transformationsgrammatik, mit der sich die Studierenden am Heidelberger Institut für Übersetzen und Dolmetschen in einer Lehrveranstaltung „Sprach- und Übersetzungswissenschaft“ herumplagen mussten, und sie verstanden nicht, was das mit ihrem künftigen translatorischen Beruf zu tun haben sollte. Zum Curriculum gehörte dieses Fachgebiet, weil das Übersetzen damals als Teilbereich der Linguistik verstanden wurde (das Literaturübersetzen wurde wiederum als Teilbereich der Vergleichenden Literaturwissenschaft aufgefasst), und die Materie und Methoden der linguistischen Lehre galten automatisch auch für das Übersetzen (das Dolmetschen war damals noch „mitgemeint“). Solche Ansichten sind natürlich längst überholt, und der Paradigmenwechsel vollzog sich vor allem im Laufe der 1980er Jahre1. In der Sprachwissenschaft wurden pragmatische und holistische Ansätze wie in der Textlinguistik und der Diskursanalyse immer wichtiger, und in diesem Bereich habilitierte sich Elisabeth Leinfellner im Jahr 1990 zur Thematik der semantischen Netze im Textzusammenhang. Ich war damals Mitglied ihrer Habilitationskommission, und ich war sehr erfreut, dass ihre Ansichten mit meinen eigenen harmonierten. Während der 1980er Jahre musste ich nämlich eher um einen holistischen, interdisziplinären Zugang kämpfen – nicht im Bereich der Linguistik, sondern in der damals neuartigen Übersetzungswissenschaft, die sich immer mehr zu einer selbstständigen Disziplin (Translationswissenschaft) entwickelte und vor allem durch funktionale, zieltext1
Maßgebend waren in Deutschland die funktionalen Ansätze der Skopostheorie (s. vor allem Reiß und Vermeer 1984) und des translatorischen Handelns (Holz-Mänttäri 1984) und in den Niederlanden die Descriptive Translation Studies (DTS) (s. Hermans 1985).
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orientierte Ansätze (vgl. Snell-Hornby 1990) von der Linguistik einerseits und von der Literaturwissenschaft andererseits emanzipierte (Snell-Hornby 1988).
Transkodierung und Translation Beim vorliegenden Thema wollen wir aber eher unseren Blick in Richtung Linguistik lenken, zu der für viele außerhalb der Translationswissenschaft das Übersetzen immer noch gehört, zum Teil sogar im Sinne der Transkodierung wie in der oft zitierten Definition von Werner Koller aus dem Jahr 1972: Linguistisch kann die Übersetzung als Umkodierung oder Substitution beschrieben werden: Elemente a1, a2, a3 des Sprachzeicheninventars L1 werden durch Elemente b1, b2, b3 des Sprachzeicheninventars L2 ersetzt (1972:69 f.). Nach diesem linearen Vorgang der Transkodierung fungiert allenfalls die Maschinenübersetzung, die menschliche Übersetzer längst überflüssig gemacht hätte, wenn damit alle Bereiche des Übersetzens erfasst wären. Im Mittelpunkt einer solchen linguistisch orientierten Übersetzungstheorie stand damals das Prinzip der Äquivalenz, ein heiß umstrittener Begriff, der trotz langjähriger Debatten niemals vollständig, geschweige denn endgültig definiert wurde. Aus unserer Sicht gilt sie bestenfalls für Bereiche der Fachterminologie, die aber nicht zu unserem Thema gehört. Der linguistischen Definition Kollers stellen wir vielmehr die funktionale Definition von Hans Vermeer aus dem Jahr 1986 gegenüber; Eine Translation ist nicht die Transkodierung von Wörtern oder Sätzen aus einer Sprache in eine andere, sondern eine komplexe Handlung, in der jemand unter neuen funktionalen und kulturellen und sprachlichen Bedingungen in einer neuen Situation über einen Text (Ausgangssachverhalt) berichtet, indem er ihn auch formal möglichst nachahmt. (1986: 33) In dieser Definition der Translation, die als Oberbegriff für das Übersetzen und Dolmetschen zu verstehen ist, gehen wir weit über die Grenzen der Linguistik hinaus: wesentlich sind hier nicht nur die Wörter oder sprachlichen Elemente, sondern auch die außersprachliche Situation und vor allem die Funktion der Übersetzung in der Zielkultur.
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Den Unterschied zwischen diesen beiden Auffassungen des Übersetzens möchte ich mit einem authentischen Beispiel veranschaulichen (vgl. Snell-Hornby 1996: 64). Vor vielen Jahren war ich in Kerala/Südindien unterwegs und habe mich gewundert, dass ich immer wieder von Einheimischen sehr freundlich gefragt wurde „Where are you going?“ Ich war etwas verblüfft, aber da ich nicht unhöflich sein wollte, habe ich darauf geantwortet „I’m going to the temple“ oder „To the bus station“ oder „I’m just off to the bazaar“ oder was auch immer der Fall war. Daraufhin starrten mich die Inder verständnislos an und gingen wortlos davon. Offensichtlich hatte ich mich irgendwie daneben benommen. Die Erklärung brachte mir ein Muttersprachler der Ortssprache Malayalam. Wenn sich zwei Personen dort auf der Straße treffen, begrüßen sie einander wie folgt: A zu B: Wo gehst du hin? B. Nur bis dahin. A. Wozu? B. Nur so. Mit anderen Worten: es handelte sich in Kerala um eine kommunikative Handlung (bzw. einen Sprechakt) und zwar um eine Begrüßung, die nach einem bestimmten Wortlaut verläuft. Der indische Sprecher hatte die Elemente seiner Sprache – ganz im Sinne Kollers – wörtlich transkodiert (dabei die Normen der transkulturellen Kommunikation aber nicht beachtet). Diese sprachlichen Elemente hat die Angesprochene jedoch in Unkenntnis der lokalen Normen als Frage verstanden, die sie als solche beantwortete und damit ungebeten Sachinformationen weitergab. In der betreffenden indischen Kultur (und auch anderswo in asiatischen Ländern) funktioniert eine Begrüßung eben nach anderen sprachlichen und kommunikativen Regeln als in Europa. Bei der oben zitierten deutschen Version handelt es sich hingegen nicht um eine Begrüßung, sondern um eine Erklärung des sprachlichen Inhalts, zunächst im Rahmen des Vortrags beim Symposium für Elisabeth und Werner Leinfellner im November 2010 und hier für die Leser der diesbezüglichen Publikation, daher ist die wörtliche Fassung in der neuen Situation und für die intendierten Rezipienten zielorientiert und funktionsgerecht.
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Nachbarbereiche und übersetzungsrelevante Linguistik Selbstverständlich sind Linguistik und Translationswissenschaft miteinander verbunden, aber zwischen ihnen besteht ein wesentlicher Unterschied: für die Linguistik ist die Sprache der Gegenstand der Forschung, für die Translationswissenschaft hingegen ist Sprache als Werkzeug oder Instrument zu betrachten, das einen Zweck erfüllen soll, der außerhalb der Sprache liegt. Somit ist die Sprache Teil einer Kultur oder „eine Erscheinungsform von Kultur“ (vgl. Witte ²2007). Das hat dazu geführt, dass sich die Translationswissenschaft inzwischen als Interdisziplin – wie sie in den 1990er Jahren bezeichnet wurde – inhaltlich und methodisch erheblich weiter entwickelt hat und mit anderen Fachgebieten außerhalb der Linguistik zusammenarbeitet. Der oben zitierte, im Februar 2010 verstorbene große Translationswissenschaftler Hans J. Vermeer, der früher auch im Bereich der Historischen und Vergleichenden Sprachwissenschaft eine führende Kapazität gewesen war, hat immer wieder betont, dass die Anthropologie, die Philosophie, die Soziologie und die Kulturwissenschaften für die Translationswissenschaft wesentlicher wären als die Linguistik. Das ist auch in der Entwicklung der Translationswissenschaft über die letzten zwanzig Jahre erkennbar, und zwar ganz besonders in der Dolmetschwissenschaft, die in den 1980er Jahren noch eine Randexistenz führte und wie eingangs erwähnt unter der Rubrik Übersetzungswissenschaft nur „mitgemeint“ war. Inzwischen liegen neben Untersuchungen zu Prozessen des Simultandolmetschens (in Zusammenarbeit mit der Neurophysiologie) (z.B. Kurz 1996) zahlreiche empirischen Studien nicht nur zum Konferenzdolmetschen vor, sondern auch im früher vernachlässigten Bereich des Behörden- und Gerichtsdolmetschens (in Zusammenarbeit mit verschiedenen KollegInnen aus juristischen, kulturwissenschaftlichen und soziologischen Disziplinen, vgl. Kadric 2006 und 2011 und Pöchhacker 2000). Auch die Übersetzungswissenschaft hat sich aus der Zweiteilung in Fach- und Literaturübersetzen gelöst und sich in mittlerweile unzähligen Publikationen mit multimedialen Bereichen wie Presse, Film und Fernsehen, aber auch mit der Werbung, den modernen Technologiesystemen und den Auswirkungen der Globalisierung befasst. Selbstverständlich sind aber für solche Studien gewisse sprachwissenschaftliche Kenntnisse Voraussetzung. Beim jetzt ausgelaufenen „alten“ Diplomstudium der „Übersetzer- und Dolmetscherausbildung“ in Wien war eine linguistische Vorlesung „Grundfragen der Sprachwissenschaft“ von Prof. Wolfgang Dressler eine Pflichtveranstaltung, die zu Beginn des Studiums besucht werden musste. Bei meiner späteren „Einführung in die
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Translationswissenschaft“ habe ich den Studierenden aus dem Inhaltsverzeichnis des Skriptums zu Dresslers Vorlesung (Ruprecht 2004) diejenigen Kapitel genannt, deren Kenntnisse für meine Lehrveranstaltung wesentlich waren und vorausgesetzt wurden. Insbesondere wurden genannt: Funktionen der Sprache, Kommunikationstheorie/Pragmatik, Semantik, Textlinguistik, Soziolinguistik, Kontrastive Linguistik und ausgewählte Bereiche der Geschichte der (modernen) Sprachwissenschaft. Dazu folgte der Hinweis, dass bei gewissen Grundtermini die translationswissenschaftliche Definition nicht mit der dort angegeben Definition aus der Linguistik übereinstimme. Ein gutes Beispiel ist der Textbegriff: in der Translationswissenschaft geht dieser über den sprachlich-verbalen Bereich hinaus und kann durchaus nonverbale Elemente wie Typografie und Layout, Bild und Ton einbeziehen (vgl. Göpferich 1998: 61).
Texttyp und Textsorte Auch die Begriffe Texttyp und Textsorte sind in den zwei Disziplinen nicht identisch: eine ausführliche Diskussion zu dieser Problematik findet sich in Göpferich 1998. Für den vorliegenden Beitrag möchte ich mich auf die Unterscheidung zwischen Texttyp und Textsorte aus der Sicht der Translationswissenschaft beschränken. Der Begriff Texttyp bezieht sich auf die drei Grundfunktionen der Sprache nach dem Organon-Modell von Karl Bühler, das 1971 in einer Pionierarbeit von Katharina Reiß für das Übersetzen nutzbar gemacht wurde. Nach ihrem Konzept hängt die Übersetzungsstrategie von der dominanten Funktion des Textes ab, d. h. ob er informativ bzw. inhaltsbetont ist wie z.B. ein medizinischer Bericht (bei Bühler Darstellung), expressiv bzw. formbetont wie z.B. ein lyrisches Gedicht (bei Bühler Ausdruck) oder operativ bzw. appellbetont wie in der Werbung (bei Bühler Appell). Die meisten Texte sind in Wirklichkeit Mischformen (v a. in der Werbung und der politischen Propaganda werden zum Beispiel sowohl informative als auch expressive Mittel eingesetzt), aber die grundsätzliche Unterscheidung von Reiß hat noch heute Gültigkeit. Die Definition einer Textsorte stammt aus dem wegweisenden Buch Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie von Reiß und Vermeer (1984): demnach sind Textsorten (in Anlehnung an Uwe Pörksen): „überindividuelle Sprech- und Schreibakttypen, die an wiederkehrende Kommunikationshandlungen gebunden sind und bei denen sich auf-
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Mary Snell-Hornby
grund ihres wiederholten Auftretens charakteristische Sprachverwendungs- und Textgestaltungsmuster herausgebildet haben“ (1984:177). Typische Beispiele wären Gebrauchsanweisungen, medizinische Beipackzettel, Touristenprospekte oder Kochrezepte. Wesentlich für die Translation ist es, dass die „Sprachverwendungs- und Textgestaltungsmuster“, sonst „Textsortenkonventionen“ genannt, kulturspezifisch sind. Das heißt, neben Sprachkompetenz sind vor allem Kulturkenntnisse (bei medizinischen Beipackzetteln sogar juristische Kenntnisse) notwendig. Als bekanntes Beispiel hat Katharina Reiß bereits 1978 die Todesanzeige (österr. Partezettel) analysiert, die im deutschen Sprachraum als Mitteilung mit der Post versandt wird (bzw. damals noch versandt wurde). Nonverbale Textgestaltungsmuster sind hier der schwarze Rand, Typografie und Layout, Sprachverwendungsmuster sind festgelegte Wendungen wie etwa „in tiefer Trauer geben wir bekannt“ oder expressive Mittel wie ein biblisches oder literarisches Zitat. (Als Texttyp ist eine Todesanzeige demnach sowohl informativ als auch expressiv, ggf. auch operativ.) In Großbritannien wird ein Todesfall heute noch häufig als Kleinanzeige unter der Rubrik „Births, Marriages and Deaths“ in einer Zeitung bekannt gegeben, aber auch hier nicht ohne festgelegte, oft expressive sprachliche Wendungen wie etwa „passed peacefully away“. Es muss in diesem Zusammenhang betont werden, dass solche Textsortenkonventionen dynamischer Natur sind, d.h. sie sind nicht nur kulturspezifisch, sondern ändern sich mit der Zeit: heutzutage erfolgen derartige Mitteilungen nämlich oft mit weniger förmlichen Formulierungen und per e-Mail. Für die Translation besteht die Frage: Wann würde eine Todesanzeige übersetzt werden? Und wie müsste diese gegebenenfalls gestaltet werden? Auch hier sind Situation und Funktion maßgeblich. In manchen Fällen kommt es vor, dass die Mitteilung zweisprachig verfasst wird, wobei die Konventionen der einen Sprache in die zweite wörtlich übernommen werden. Bei einem Kriminalroman von Agatha Christie hingegen, in dem die britischen Konventionen für die Erzählung maßgebend sind, müssten diese in einer deutschen Fassung beibehalten werden, vor allem wenn sie einen allfälligen versteckten Hinweis zur Aufklärung des Mordes enthalten.
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Multimediale Texte In ihrer Texttypologie von 1971 hat Katharina Reiß auf einen möglichen vierten Texttyp hingewiesen, den sie damals „audio-medial“ nannte. Diese Texte definierte sie wie folgt: Es handelt sich bei ihnen jeweils um Texte, die zwar schriftlich fixiert, aber mit Hilfe eines nicht-sprachlichen Mediums in gesprochener (oder gesungener) Form an das Ohr des Empfängers gelangen, wobei in unterschiedlich großem Ausmaß außersprachliche Hilfsmittel zur Realisierung einer literarischen Mischform beitragen (1971: 34). Und weiter:
(Sie)… leben nicht vom Sprachgeschehen allein, sondern sie sind lediglich mehr oder weniger wichtige Elemente eines größeren Ganzen. Kennzeichnend für sie ist ihr Angewiesensein auf außersprachliche (technische) Medien und nichtsprachliche Ausdrucksformen graphischer, akustischer und optischer Art. Erst im Verein mit ihnen ergibt sich das Ganze der zu realisierenden literarischen Mischform (1971: 49). Beispiele für solche Texte wären Filmdrehbücher, Textvorlagen zu Bühnenstücken und Hörspielen, sowie Opernlibretti und Liedertexte, aber auch Comics und Werbematerial, bei dem zum Textganzen neben sprachlichen Mitteln auch andere Elemente wie Bild und Ton gehören. Nach einer Anregung von Bernd Spillner (1980: 75) änderte Reiß die Bezeichnung „audio-medial“ in „multi-medial“ um, und mit den rasanten technologischen Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre haben vor allem Filme im Fernsehen und sonstigen elektronischen Medien enormes Interesse in der Translationswissenschaft gefunden – sowohl im Bereich der Untertitelung als auch in der Synchronisation. Es handelt sich hier um so genannte „constrained translation“, wie Christopher Titford es bereits 1982 formulierte: weil vor allem das visuelle Element bereits feststeht, unterliegt die Übersetzung extremen Zwängen (vom meist erforderlichen Zeitdruck ganz abgesehen). Aber auch hier kommen kulturelle Faktoren hinzu. Gute Beispiele liefert eine Masterarbeit von Rita Ponweiser (2010) über die deutsche Synchronfassung der amerikanischen Fernsehserie „Buffy the Vampire Slayer“, wobei ausschließlich die Strategien analysiert werden, die bei der Übertragung von Kulturspezifika und Anspielungen verwendet wurden. Die ganze Problematik des amerikanischen Teenagerjargons ist natürlich ein anderes Forschungsgebiet, das sehr wohl zur Linguistik gehört und in
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dieser Arbeit nicht untersucht wurde. Relevant ist aber die Tatsache, dass solche Soziolekte in der Synchronfassung der Serie, wie auch sonst üblich, als eher neutrale – bundesdeutsche – Umgangssprache wiedergegeben werden, was zu ihrer Verständlichkeit, aber auch ihrer Verflachung beiträgt. (Ponweiser 2010: 61) Wie problematisch aber allein die Kulturspezifika sind, wird in der Masterarbeit sehr deutlich gezeigt. Hier zum Beispiel zwei Sätze über den Ort der Handlung, die Kleinstadt Sunnydale (2010: 64): Giles: What do you know about this town? Buffy: It’s two hours on the freeway from Neiman Marcus. In der deutschen Synchronfassung heißt es: Giles: Was weißt du über diese Stadt? Buffy: Sie liegt zwei Autostunden von allen guten Boutiquen entfernt. Dass „Neiman Marcus“ eine amerikanische Nobelkaufhauskette ist, dürfte dem deutschen Publikum unbekannt sein: die Übersetzungsstrategie war hier, den Eigennamen zu tilgen und den Sinn der Aussage durch einen Oberbegriff zu geben. Als weiteres Beispiel dient ein Satz aus einer Unterhaltung zwischen High-School-Schülern (2010: 72); Willow: (…) As Seniors, we can go off-campus now for lunch. In der deutschen Synchronfassung: Willow: (...) Als Schüler der Abschlussklasse dürfen wir jetzt auch draußen essen gehen. „Seniors“ – nicht mit „Senioren“ zu verwechseln – wurden hier richtig interpretiert und durch eine Erläuterung wiedergegeben: die zusätzliche Länge wurde durch „draußen“ für „off-campus“ (d.h. „außerhalb des Schulgeländes“), was im Bild gezeigt wird, kompensiert. Mit solchen Problemen, die eher Kulturkenntnisse als Sprachwissen voraussetzen, wird der Übersetzer in dieser Fernsehserie immer wieder konfrontiert. Das Urteil der Verfasserin der Masterarbeit variiert von Fall zu Fall, aber insgesamt stellt sie fest, dass „Buffy“ durch die deutsche Synchronisation verflacht und entgegen der Intention des amerikanischen Erfinders lediglich „einer von vielen Teenagerserien“ wird (Ponweiser 2010:119).
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Erzählprosa: Übersetzungskritik nach dem funktionalen Modell Etwas anders sind die Probleme bei der Übersetzung von Erzählprosa, auch wenn wir im US-amerikanischen Bereich bleiben. In einer Masterarbeit von Johanna Haydn (2010) werden zwei deutsche Übersetzungen des 1957 erschienenen Klassikers On the Road von Jack Kerouac nach Margret Ammanns funktionalem, zieltextorientiertem Modell analysiert. Hier ein kurzes Textbeispiel aus der ersten, bereits 1959 erschienenen Übersetzung: Das war die Nacht, in der Dean Carlo Marx kennenlernte. Eine tolle Sache war das, als Dean Carlo Marx traf. Beide waren kluge Köpfe und waren einander im Handumdrehen sympathisch. Zwei durchdringende Augen sahen in zwei durchdringende Augen – der heilige Hochstapler mit dem glitzernden Verstand und der traurig-poetische Hochstapler mit dem düsteren Verstand: Carlo Marx. (2010: 56) Wir wollen uns hier auf die kursiv gedruckte Stelle konzentrieren, wobei der Leser sich fragt, was mit dem „glitzernden Verstand“ gemeint ist. Zum Vergleich hier die gleiche Textstelle in der zweiten Übersetzung (1998): der heilige Schwindler mit dem hellen Verstand und der kummervolle Dichter-Schwindler mit dem düsteren Verstand. (zit. Haydn, 2010: 80) Problematisch sind auch die Begriffe „Hochstapler“ und „Schwindler“, vor allem wenn man die Übersetzungen mit dem amerikanischen Ausgangstext vergleicht: A tremendous thing happened when Dean met Carlo Marx. Two keen minds that they are, they took to each other at the drop of a hat. Two piercing eyes glanced into two piercing eyes – the holy con-man with the shining mind, and the sorrowful poetic con-man with the dark mind that is Carlo Marx. (2010: 102) Im Kontext des gesamten Romans versteht man, dass diese beiden Figuren keine Hochstapler sind, sondern eher intelligente Personen, die „andere Menschen manipulieren, ohne dass diese es merken“ (Haydn 2010: 127). Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, auf die Problematik einzugehen, die auch, vor allem was die erste Übersetzung betrifft, auf der semantisch-linguistischen Ebene diskutiert werden könnte (z. B. glitzern kann mit Verstand nicht kollokieren). Allerdings sieht die Verfasserin der
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Masterarbeit das Problem der ersten, zum Teil kaum kohärenten Übersetzung eher auf der Verständnisebene: Die meisten ungewöhnlichen Ausdrücke und Formulierungen sind aber weniger auf die Tatsache zurückzuführen, dass sich die Sprache in den letzten fünfzig Jahren verändert hat, sondern darauf, dass sich der Übersetzer nicht vom Ausgangstext lösen konnte oder diesen nicht verstanden hat (2010:147, Hervorhebung MSH) Damit kehren wir nicht nur zum Problembereich der wörtlichen Transkodierung zurück, sondern thematisieren den zentralen Begriff der Hermeneutik, das Verstehen. Dieses hat der eingangs zitierte Gelehrte Fritz Paepcke für das absolut wesentliche Element des Übersetzens gehalten und in einem Aufsatz „Textverstehen – Textübersetzen – Übersetzungskritik“ folgendermaßen beschrieben: Verstehen ist die allmähliche Hinordnung des Bewusstseins auf einen Sachverhalt und zugleich die intuitive Erfassung seiner Eigentümlichkeiten. Einen Text versteht, wer durch die Oberfläche des Textes auf dessen Grund gestoßen ist. Wer durch den Text hindurchblickt, nimmt das DAS des Sachverhalts sowie das WIE der Darstellungsweisen entgegen. Bei einem solchen Vorgehen ist die Thema-Rhema-Folge, die den Ablauf eines Textes durchsichtig macht, wie ein Halteseil für das Verständnis des Textes: Zunächst wird das Thema genannt, die Ausführungen zu diesem Thema sind das Rhema oder das Dazugesagte, bis das Rhema seinerseits zum Thema für eine neue rhematische Progression wird. Im Idealfall ereignet sich der Thema-Rhema-Ablauf in der Weise, dass die Kenntnis, die der Leser/Übersetzer am Textschluss gewonnen hat, seinerseits den Textbeginn verdeutlicht, weil nun der Textanfang mit den Erfahrungen einsetzt, die der Leser/Übersetzer im Verlauf des Textes gewonnen hat. (1986: 160) Somit schließt sich der Kreis, und die Sprachwissenschaft trifft, nicht als Wissenschaft ohne Sprache, sondern als Wissenschaft der Sprache und des Verstehens mit der Übersetzungswissenschaft wieder zusammen. Das Werk Elisabeth Leinfellners befasste sich unter anderem mit Bereichen, die eng mit dem Übersetzen verknüpft sind: mit der Textlinguistik, der Semantik und Rhetorik, der Anwendung der Sprache in der Literatur und der – ebenfalls vom Übersetzungswissenschaftler Fritz Paepcke vertretenen – Sprachphilosophie, die im Kontext der Wissenschaftstheorie Elisabeth Leinfellners einen verdienten zentralen Platz einnimmt.
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Literatur Göpferich, Susanne 1998 “Text, Textsorte, Texttyp”, in: Mary Snell-Hornby, Hans G. Hönig, Paul Kußmaul und Peter A. Schmitt (eds.), Handbuch Translation, Tübingen: Stauffenburg, 61-64. Haydn, Johanna 2010 Jack Kerouacs On the Road in zwei deutschen Übersetzungen. Eine funktionale Übersetzungskritik nach Margret Ammann. Wien: unveröffentlichte Masterarbeit. Hermans, Theo (ed.) 1985 The Manipulation of Literature. Studies in Literary Translation. London: Croom Helm. Holz-Mänttari, Justa 1984 Translatorisches Handeln. Theorie und Methode. Helsinki: Suomalainen Tiedekatemia. Kadric, Mira ²2006 Dolmetschen bei Gericht. Anforderungen, Erwartungen, Kompetenzen. Wien: facultas. Kadric, Mira. 2011 Dialog als Prinzip. Für eine emanzipatorische Praxis und Didaktik des Dolmetschens. Tübingen: Narr. Koller, Werner 1972 Grundprobleme der Übersetzungstheorie. Unter besonderer Berücksichtigung schwedisch-deutscher Übersetzungsfälle. Bern: Francke. Kurz, Ingrid 1996 Simultandolmetschen als Gegenstand der interdisziplinären Forschung. Wien: WUV Universitätsverlag. Paepcke, Fritz 1986 Im Übersetzen leben. Übersetzen und Textvergleich. Tübingen: Narr. Pöchhacker, Franz 2000 Dolmetschen. Konzeptuelle Grundlagen und deskriptive Untersuchungen. Tübingen: Stauffenburg. Ponweiser, Rita. 2010. Kulturspezifika und Anspielungen in der multimedialen Übersetzung am Beispiel der amerikanischen Fernsehserie „Buffy the Vampire Slayer“. Wien: unveröffentlichte Masterarbeit. Reiß, Katharina 1971 Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik. Kategorien und Kriterien für eine sachgerechte Beurteilung von Übersetzungen. München: Hueber. Reiß, Katharina 1978 „Textsortenkonventionen. Vergleichende Untersuchungen zur Todesanzeige“, Le Langage et l’Homme 36, 60-68. Reiß, Katharina und Hans J. Vermeer 1984 Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie. Tübingen: Niemeyer. Ruprecht, A. 2004 Grundlagen der Sprachwissenschaft. Nach Prof. Wolfgang U. Dressler vidiertes Skriptum. Wien: facultas. Snell-Hornby, Mary. 1988. Translation Studies. An Integrated Approach. Amsterdam. Benjamins.
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Das Problem der (Un-)Übersetzbarkeit Philosophischer Terminologie: einige sprachkritische Positionen um 1900 Camilla R. Nielsen Die hier dargestellten sprachkritischen Positionen lassen sich einer Tradition zuordnen, welche die Aufgabe und die Tätigkeit der Philosophie in der Klärung der Begriffe und Sätze der Wissenschaft sieht und keine strikte Trennung zwischen Philosophie und wissenschaftlichem Denken macht. Es ist vielleicht auch kein Zufall, dass es zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Bestrebungen in verschiedenen Ländern Europas (und auch in den Vereinigten Staaten) gab, die Verwirrung und Unklarheit der Terminologie zu bekämpfen. Die terminologiekritische Bewegung in Frankreich (André Lalande, Louis Couturat, etc.), verschiedene Versuche, eine gemeinsame (internationale) Universalsprache und Zeichentheorie zu entwickeln, umfangreiche Wörterbuchprojekte – sie alle könnten in diesem Zusammenhang genannt werden.1 Die Diskussionen und die sich daraus entwickelnden Ansätze thematisierten auch die Übersetzung philosophischer Terminologie. Zuerst ging es um die prinzipielle Frage der Übersetzbarkeit von Begriffen. Ließen sich Begriffe aus der psychologischen Sprache in einer physikalische Sprache ausdrücken? Ist Übersetzung überhaupt möglich, wenn Bedeutungen grundsätzlich als verschwommen gelten, wenn jeder Begriff für jeden Menschen etwas anderes bedeuten kann und es keine wirklich zuverlässige intersubjektive Grundlage der Sprache gibt? Konnten diese Probleme der Übersetzbarkeit mit Hilfe einer ideellen Universalsprache überwunden werden? Wie könnte man eine klare, einheitliche philosophische Terminologie schaffen, wenn selbst diese Terminologie das Ergebnis von Übersetzungen war? Und welchen neuen Zugang konnten philosophische Wörterbücher zur Klärung der philosophischen Terminologie in unterschiedlichen Kulturen machen? 1
Siehe auch Gerhard Budin 2007 für einen guten Überblick über den Beitrag der österreichischen Philosophie zur Terminologiewissenschaft im 20. Jahrhundert. In der Einleitung zu seiner Abhandlung (1906) beschreibt Ferdinand Tönnies die Auseinandersetzung mit terminologischen Fragen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
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Ferdinand Tönnies’ kleine, aber sehr dichte Abhandlung zu philosophischer Terminologie aus dem Jahr 1896 bildete den Auftakt zu einer Debatte über die Möglichkeit einer einheitlichen Nomenklatur in der Philosophie und Wissenschaft und über die Tauglichkeit der Sprache für wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt. Es ist gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts auffallend, dass die Philosophie und die Psychologie immer mehr gemeinsam auftraten, wie etwa im Titel von Tönnies kleiner Schrift angedeutet wird.2 Die philosophische und die psychologische Sprache hatten jedenfalls gemeinsam, dass die Grenzen zwischen Alltagssprache und der wissenschaftlichen Sprache bzw. zwischen der bildhaften Sprache und der formalen Sprache verwischt waren. Während das Neulateinische bis zum 18. Jahrhundert die verschiedene Kulturen verbindende Sprache des Denkens war, so ist bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine philosophische Terminologie in einer Reihe von Nationalsprachen entstanden. In den Beiträgen Fritz Mauthners, eines der radikalsten Vertreter der Sprachkritik wurde das philosophische und wissenschaftliche Erbe Europas einer strengen Überprüfung unterzogen.3
Angewandte Sprachkritik: Der Kampf gegen die Scheinbegriffe und den Wortaberglauben Die Sprachkritik hat eine Tradition, die auf die Aufklärungsphilosophie zurückgeht. Anfang des 20.Jahrhunderts wird diese Tradition von Denkern wie Michel Bréal, Lady Victoria Welby, Ferdinand Tönnies und Fritz Mauthner in Diskussionen über die Sprache der Wissenschaft wieder auf2
Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht. Interessant ist auch, dass James Mark Baldwins Wörterbuch seinen Schwerpunkt auf Begriffe der Philosophie und Psychologie legt. 3 Fritz Mauthner erlebte in den letzten Jahrzehnten eine Renaissance – es erschienen eine Reihe von Studien über seine Sprachkritik, von denen hier nur einige genannt werden können: Gershon Weiler, Mauthner’s Critique of Language, London: Cambridge at the University Press 1970; Joachim, Kühn, Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk, Berlin: Walter de Gruyter & Co.; Elizabeth Bredeck, Metaphors of Knowledge. Language and Thought in Mauthner’s Critique, Detroit: Wayne State University Press, 1992. 1995 erschien ein ausgezeichneter Band zu Fritz Mauthner, das von Elisabeth Leinfellner zusammen mit Hubert Schleichert herausgegebene Das Werk eines kritischen Denkers (Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag), das jedem Leser empfohlen ist, der sich näher mit den Gedanken des Sprachkritikers auseinandersetzen will.
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gegriffen. Ihre Überlegungen gelten den beliebigen und konventionellen Charakter der Begriffsbildung, die Unbestimmtheit von Bedeutung und den Einfluss anderer Sprachen auf den Prozess des Bedeutungswandels, die Rolle der Übersetzung in der Entstehung von Terminologie und die Möglichkeit einer universellen künstlichen Sprache, die alle Barrieren der Verständigung überwinden könnte. Vorrangiges Ziel von Mauthners sprachkritischem Projekt ist es, alle Scheinbegriffe von den trügerischen und brauchbaren Begriffen zu scheiden. Auch bei der Gründerin der significs-Bewegung Victoria Lady Welby4 findet man einen sprachkritischen Ansatz – Zielscheibe ihrer Kritik sind die sogenannten falschen Analogien und Metaphern. Die Sprachkritik spielt ebenfalls eine Rolle im Antimetaphysik-Programm des Wiener Kreises, auch wenn der Schwerpunkt ein wenig anders gesetzt ist. Es geht Mauthner nicht darum, einen Begriff aus der Sprache verbannen, nur weil dieser nicht empirisch ist. Auch wenn für ihn alle Substantiva trügerisch sind, so gibt es auch trügerische Substantiva, die nicht Scheinbegriffe sind, also doch als brauchbar gelten können. Somit ist der Status „Scheinbegriff“ relativ, d.h. von der Zeit und von sozialen Faktoren abhängig. Trügerisch und zugleich als Scheinbegriff (also unbrauchbar) zu betrachten, sind für Mauthner alle Substantiva, die keine adjektivische (= sensualistische) Wirkung mehr haben oder nie gehabt haben.5 Die Brauchbarkeit eines Begriffs gründet letztlich ganz im pragmatischen Sinne auf seiner Funktionalität – folglich würden Begriffe erst dann zu Scheinbegriffen erklärt werden, wenn sie ihre Funktion verlieren – Funktion im Sprachgebrauch (was in etwa der synchronen Ebene oder der Parole Saussures entspricht) oder in der Sprache, die diachron als überindividuelles, kollektives Gedächtnis verstanden wird. Auch die Etymologie, die Geschichte eines Wortes lasse sich, so wieder Mauthner, bewusst verfälschen und Begriffe können bewusst falsche übersetzt werden, um einen bestimmten Standpunkt zu stützen, was er am 4
Victoria Lady Welby (bzw. Lady Welby-Gregory) (1837-1912) war eine britische Sprachphilosophin (die sich wie Fritz Mauthner sämtliche Wissenschaftsbereiche in Selbststudium angeeignet hat), Musikerin und Künstlerin. Am bekanntesten ist sie wohl für die von ihr gegründeten „Significs“-Bewegung, zu deren Mitglieder auch die Holländer Gerrit Mannoury und Frederik van Eeden zählten. Sie hat auch einen Preis für einen Beitrag zur Terminologiereform gestiftet, der Ferdinand Tönnies aufgrund seiner oben genannten Abhandlung zugesprochen wurde. 5 Vgl. Mauthners ausführliche Darstellungen zu ‚Grammatik’ in Beiträge zu einer Kritik, Bd. 2, 1923-1924
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Beispiel des chinesischen Tao aufzeigte. Der Begriff sei im Chinesischen nie klar definiert worden und sei dann je nach Bedarf als „logos“, „Vernunft“, „Natur“, sogar als „Energie“ übersetzt worden. Hier wird die angewandte Sprachkritik als Kritik des Sprachgebrauchs praktiziert.6 In seinen terminologischen Reflexionen kam Otto Neurath, ein Vertreter des Wiener Kreises, Mauthners sprachkritischen Gedanken vielleicht am nächsten.7 Mit Ausnahme des Konzepts der Wahrheit geht Neurath vom Wort aus, d.h. er betont immer wieder den Wert der Terminologie. Neurath besteht auch auf dem sozialen Charakter der Sprache und der Unbestimmtheit der Bedeutungen. In seiner „Liste der verbotenen Worte“ – er erstellte sie als einen Beitrag zur Sprachkritik – findet man auch Begriffe, die auch für Mauthner zentral sind: absoluter Raum, Begriff (sic!), Ding, Ding an sich, Erscheinung, Existenz, Fortschritt, Ganzheit, Geist, geistige Welt, immanent, Intuition, kategorischer Imperativ, Seele, Sinn, transzendental, wahr, Wahrnehmung, Wert, Wirklichkeit usw. Neurath ist aber über diese Aufzählung nicht wirklich hinausgekommen. Für ihn gilt, was man vom ganzen Wiener Kreis sagen kann: obwohl die Sprache in der Philosophie eine zentrale Rolle spielt, wird die natürliche Sprache ausgeklammert. Hier zeigt sich ein erkenntnistheoretisch begründetes Misstrauen gegenüber der natürlichen Sprache. Der Sprachkritiker Mauthner teilt dieses Misstrauen, aber das hält ihn nicht davon ab, die Begriffe der natürlichen Sprache als Grundlage des Denkens zu sehen und ebenfalls einer genauen Analyse und Kritik zu unterziehen.8
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Ein kleines Buch, das Mauthner diesem Thema gewidmet hat (Die drei Bilder der Welt: Ein sprachkritischer Versuch), erschien erst 1925 nach seinem Tod. Die Vorstellung, dass die Welt substantivisch, adjektivisch und verbal aufgefasst werden kann, findet man aber bereits in seinen Beiträgen zu einer Kritik der Sprache und in seinem Wörterbuch der Philosophie. 7 In seinem Aufsatz über Tönnies Zeichentheorie zwischen Signifik und Wiener Kreis (1985) zeigt H. Walter Schmitz auch die Konvergenzen zwischen den terminologischen Diskussionen Anfang des 20. Jahrhunderts und den Grundideen einiger Vertreter des Wiener Kreises (Otto Neurath, Rudolf Carnap) auf. 8 Vgl. Elisabeth Leinfellners Aufsatz zu Mauthner in Das Werk eines kritischen Denkers. (1995). Hier zeigen sich auch Parallelen und Überschneidungen bei Mauthner und anderen Denkrichtungen auf.
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Drei Bilder der Welt: eine metaphorische Einteilung der Welt Neben seiner Einsicht in die Zufallssinne (unsere Sprache sei ein rein zufälliges Produkt unserer Zufallssinne) ist ein ganz wesentlicher Beitrag von Mauthners angewandter Sprachkritik seine „drei Bilder der Welt“9, d.h. die drei Kategorien des Adjektivischen, des Substantivischen und des Verbalen. Es handelt sich hier, wie Elisabeth Leinfellner sehr treffend aufzeigte, um kognitive Grundfunktionen aller Sprachen und nicht um grammatische Kategorien, die sich in den verschiedenen Sprachen gar nicht decken können (Leinfellner 1995, 62). Mauthner liefert auch eine Reihe von Beispielen, wo grammatische und kognitive Kategorien schon innerhalb ein und derselben Sprache nicht übereinstimmen – so z.B. die Substantiva (das) Blitzen und Blitz gehören ebenso der kognitiven Kategorie des Verbalen an wie das Verb blitzen. Mit seinen drei Kategorien oder Bildern, will Mauthner keineswegs die Existenz einer universellen Grammatik postulieren, sondern nur festhalten, dass jeder Sprache folgendes gemeinsam ist: (a) Sinneswahrnehmungen und Empfindungen (adjektivische Welt); (b) das Werden, die Veränderung und zweckgerichtetes Handeln (verbale Welt); (c) Ursachen-Wirkungen, Dinge, Substanzen (substantive Welt).10 All dies ließe sich in jeder Sprache metaphorisch abbilden. Oder um es anders zu formulieren: ein Bündel von Adjektiven, das einem Bündel von empirischen Eigenschaften entspricht, könnte durch ein Substantiv ersetzt werden, das dann in die Wirklichkeit zurückprojiziert wird und nun dort Dinge, Substanzen vortäuscht. Wie lässt sich diese sprachkritische Sicht auf die philosophische und psychologische Terminologie anwenden? Bleibt nach Mauthners sprachkritischer Revision überhaupt etwas davon über? Denn schließlich gehört ein nicht unbeachtlicher Teil der Wissenschaft der substantivischen Welt an. Dies ist nicht nur die unwirkliche Welt des Raumes und des Seins, die Welt der Dinge, sondern auch die Welt der in der Wissenschaft personifizierten Ursachen und Kräfte. Ferner handelt es sich nicht nur um die Welt 9
Hier geht es Mauthner auch darum, auf den grundsätzlich metaphorischen Charakter der Sprache hinzuweisen. Mit den drei Bildern der Welt zeichnet er den Weg von der unmittelbaren Erfahrung über das bildhafte Denken zu den abstrakten Begriffen der Wissenschaft. 10 Elisabeth Leinfellner hat in zahlreichen Aufsätzen die Beiträge Fritz Mauthners zur Sprachwissenschaft analysiert und die Aktualität seiner Gedanken für Diskussionen in der Linguistik (z.B. Universalgrammatik, Spracherwerb, Semantik) aufgezeigt.
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der metaphysischen Dinge, der personifizierten -heiten, -keiten, und -schaften, sowie der personifizierten Kausalursachen, sondern auch um diejenigen Dinge, die oft (und nach Mauthner fälschlicherweise) als „empirische Dinge“ bezeichnet werden. Erkenntnistheoretisch hielt Mauthner die Kategorie des Substantivs für überflüssig, doch gleichzeitig hat er eingesehen, dass man die Alltagssprache nicht gänzlich reformieren kann. Die angewandte Sprachkritik könne daher bestenfalls eine aufklärende Rolle spielen und darauf aufmerksam machen, dass gewisse Begriffe den falschen kognitiven Kategorien zugeordnet sind. Wenn also Wörter wie Geist und Seele schon verwendet werden müssen, dann sollten sie der verbalen Kategorie zugewiesen und als Tätigkeiten, Funktionen, Beziehungen verstanden werden und nicht als Dinge. Dies entspricht seinem Verständnis von Sprache: Sprache als Tätigkeit, eben als Sprachgebrauch (Mauthner 1925, 24).
Die „latenten Begriffe“ als Gedächtnis der Sprache Ein bekannter Spruch Fritz Mauthners lautet: „Nichts ist im Intellekt, was nicht in den Sinnen ist. Die Sprache ist kein Erkenntnismittel, erkannt wird nur, was neu wahrgenommen wird.“ (Landauer 1903, 42) Gustav Landauer, einer der engsten Mitarbeiter Fritz Mauthners,11 fragte darauf, wie Begriffsbildung aus Erfahrung überhaupt möglich sei, da für Erfahrung schon Begriffe bzw. eine a priori gegebene Sprache Voraussetzung sei. Die Antwort findet er in Mauthners Vorstellung von „ererbten Metaphern“, die nicht nur Begriffsbildung ermöglichen, sondern der Sprache eine intersubjektive Grundlage geben (Landauer 1903, 42). Landauer sieht in dieser Einsicht eine Fortsetzung des kantschen Denkens: „Anschauungsformen der reinen Verstandes, die a priori, vor aller Erfahrung mit uns sein sollen und – trotzdem oder darum – sich mit der Wirklichkeitswelt decken. Zeit, Raum und Kausalität sind nur insofern a priori, als sie uns ‚angeboren‘, also vererbt sind. Es handelt sich bei Zeit, Raum und Kausalität um ererbte Dispositionen zur Orientierung ... um ererbte Metaphern.“ (Landauer 1903, 43)
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Gustav Landauer (1870-1919) ist vor allem als Theoretiker und einer der Aktivisten des Anarchismus in Deutschland bekannt. Er war aber auch ein enger Freund und Mitstreiter Fritz Mauthners und widmete seine Skepsis und Mystik den Grundgedanken der Sprachkritik.
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So haben die Menschen nicht nur die Zufallssinne durch Vererbung gemeinsam, sondern auch das Gedächtnis (Mauthner beschreibt die Sprache nicht nur als Tätigkeit, sondern auch als Gedächtnis!) und seine „Formen“. Ein Blick auf die sprachwissenschaftlichen Diskussionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, vor allem im Gefolge des französischen Semantikers Michel Bréal12 ist hier aufschlussreich. Das von Mauthner verwendete Wort Gedächtnis umfasst nicht nur den überlieferten Sprachschatz früherer Generationen, sondern lässt sich auch mit Humboldts Begriff der ‚inneren Sprachform’ in Verbindung bringen. Nach Michel Bréals Verständnis ist mit innerer Sprachform nichts anderes als das Gedächtnis einer Muttersprache gemeint (Bréal 1964). Der erworbene und vererbte „Sprachschatz“ sei aber so Mauthner nicht gleich in jeder Sprache. Bréal führt den Begriff der „latenten Konzepte“ ein, und meinte etwas ähnliches wie Mauthner mit dem Gedächtnis der Sprache: Begriffe werden durch den Gebrauch konsolidiert und im Denken so fest verankert, dass man sich derer meistens gar nicht bewusst ist (Bréal 1964). Wort und Begriff sind also nicht gleichzusetzen, denn Begriff drückt schon eine Abstraktion aus, die dadurch entstehe, dass man bei Wörtern von ihrer lebendigen, fließenden Bedeutung absehe, dass etwas schon in der Sprache verfestigt hat. Dass der Unterschied zwischen Wort und Begriff mitunter verwischt ist, erfasst Mauthner in der folgenden Aussage: „Man wird und man mag aber weiterhin ein Wort einen Begriff nennen, sobald einem daran liegt, Inhalt und Umfang des Wortes genauer zu untersuchen, das Wort auf seine Berechtigung hin zu prüfen; hat der Begriff die Prüfung überstanden, so wird er wieder zum Worte, zum brauchbaren Worte der Wissenschaft.“ (Mauthner 1923/24, Bd.1)
Die Mannigfaltigkeit von Bedeutung Eine einfache Betrachtung von Bedeutung wäre laut Ferdinand Tönnies die Auffassung von Bedeutung als „Gleichung“: das Wort ist „gleich“ einem oder mehreren Worten, durch die es erklärt wird und ist so, mittelbar oder unmittelbar, gleich dem Gegenstande einer Wahrnehmung oder einer Erinnerung. „Diese Gleichungen aber werden im Allgemeinen nicht als etwas 12
Michael Bréal (1832-1915), der als Begründer der Semantik in modernem Sinn gilt, hat Mauthners Auseinandersetzung mit dem Bedeutungswandel maßgeblich beeinflusst und wird auch in den Beiträgen der Sprachkritik und Wörterbuch der Philosophie mehrmals genannt.
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Gewolltes gedacht, sondern als etwas Wirkliches.“ (Tönnies 1906) Man rüttelt nicht mehr an der Bedeutung, denn der Name wird automatisch als Teil einer Sache gedacht. Dies entspricht natürlich der wortrealistischen Betrachtungsweise. Anfang des 20. Jahrhunderts löste sich die Sprachwissenschaft allmählich von der rein formbezogenen Betrachtung der Sprache und wandte sich hin zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der Frage des Wortinhaltes, der Bedeutung zu (Bréal 1964). Es war auch ein Hauptverdienst des Semantikers Michel Bréals, die Untersuchung der Formaspekte der Sprache durch die Hervorhebung der sprachlichen Funktion oder der Bedeutung zu ergänzen. So lagen für ihn die Ursachen des Sprachwandels nicht in den Formen der Sprache, sondern im menschlichen Denken. Als die „dem Denken zugrundeliegenden Gesetze des Sprachwandels“ nannte er die Umverteilung (rédistribution) und die Analogie (analogie). So können ursprünglich synonyme Zeichen unterschiedliche Bedeutungen annehmen oder in ähnlichen Fällen auf ein Zeichen zurückgegriffen werden, nachdem sich dieses im Sprachgebrauch etabliert hat (Bréal. 1964: 48). Bedeutung wird nun als etwas Komplexes erkannt, das nicht nur objektive, sondern auch subjektive Momente umfasst. Die Tatsache, dass zwei Menschen dieselbe Sprache reden, ist jedenfalls nicht mehr Garantie dafür, dass sie einander verstehen. In wissenschaftlichen Diskussionen ist die Fähigkeit zu Wahrnehmungen, Abstraktionen nicht ausreichend, man benötigt auch technische und wissenschaftliche Begriffe. Ferdinand Tönnies13 interessiert vor allem die Bildung dieser letzten Begriffe. Die Wissenschaft spiele, so seine Einsicht, eine gesetzgebende Rolle bei der Festlegung von Begriffen, die sie für ihre bestimmten Zwecke aus dem Sprachgebrauch ablöse und definiere. „Die Bedeutungen selber kann sie wiederum entweder durch eben solche Kunstwörter oder durch natürliche Wörter ausdrücken, denen sie ihren gebräuchlichen Sinn gelassen oder einen neuen verliehen hat.“ (Tönnies 1906, 34f) Die Wissenschaft könne aber auch neue Gegenstände konstruieren und diesen alte oder neue Namen geben, wodurch die Worte der Wissenschaft eine besondere Bedeutung annehmen. Tönnies wählt als Beispiel das Wort „Kreis“, um diesen Prozess der Begriffsbildung zu veranschaulichen. Kreis habe im Sprachgebrauche „mannigfache“ Bedeutung – als Name eines künstliche abgegrenzten Verwaltungsbezirkes (Gesetzgebung) und zugleich als Begriff einer geschlos13
Ferdinand Tönnies (1855-1930), deutscher Soziologe, Nationalökonom und Philosoph, verfasste die eingangs erwähnte Abhandlung zur philosophischen Terminologie (1906).
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sen Linie, die in jedem ihrer Punkte gleich entfernt von einem Mittelpunkt ist. Hierin sieht Tönnies ein Beispiel der wissenschaftlichen Freiheit, Begriffe zu bilden und zu klassifizieren. Auch zeige dieses Wort „Kreis“ sehr klar wie ein und dasselbe Wort zwischen umgangssprachlichem und wissenschaftlichem Sprachgebrauch wechseln kann (Tönnies 1906, 36). Ferdinand Tönnies unterscheidet zwischen subjektiver und objektiver Bedeutung: „Die Mannigfaltigkeit des Sinnes, worin man von einem Worte oder anderen Zeichen sagen kann, dass es Bedeutung habe, lässt sich auf folgende Weise klassifizieren: “1. Bedeutung nach der Absicht des Individuums, das sich des Wortes oder anderen Zeichens bedient (subjektive Bedeutung, die also hineingelegt wird); 2. Diese aber ist wesentlich bedingt hinsichtlich des Wortes, wie aller sozial gültigen Zeichen, durch die Bedeutung, welche sie im regelmäßigen Gebrauche haben (objektive Bedeutung).“ (Tönnies 1906, 38) Er unterscheidet auch weiter zwischen natürlicher Bedeutung und künstlicher Bedeutung, womit er spätere Diskussionen im Wiener Kreis vorwegnimmt. Für Rudolf Carnap bezeichnet ein Wort einen „Begriff“, wenn es innerhalb einer bestimmten Sprache eine Bedeutung hatte (von einem „Scheinbegriff“ sollte man hingegen sprechen, wenn es keine Bedeutung hat). Wie schon Tönnies, Mauthner und Bréal beobachteten, ändert ein Wort im Lauf der geschichtlichen Entwicklung häufig seine Bedeutung. Und nun kommt es zuweilen vor, dass ein Wort seine alte Bedeutung verliert, ohne eine neue zu bekommen, wodurch ein Scheinbegriff entsteht (Carnap 1926, 221). Mit der Einsicht in die Mannigfaltigkeit der Bedeutung und die verschwommenen Grenzen zwischen Worten der Alltagssprache und den Begriffen der Wissenschaft wurde der Ruf nach einer einheitlichen Terminologie auf der Grundlage einer Universalsprache laut.
Universalsprache als lingua franca der Wissenschaft Um 1900 entfachte sich auch eine rege Diskussion über die Schaffung einer Universalsprache (Esperanto, Volapük), die als Mittel gegen die begriffliche Unklarheit und Verwirrung dienen sollte. Auch der Wiener Kreis versuchte mit der physikalischen Sprache eine lingua franca der Wissenschaft zu schaffen. Man wollte damit zum Beispiel von der Theorie des Verhaltens (Behaviorismus) zur Geologie, Biologie und Mechanik und da-
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rüber hinaus von der Alltagssprache zur Sprache der Wissenschaft übergehen können. Gerade in Europa hat die Suche nach einer universellen Sprache eine lange Tradition, die auf das 17. Jahrhundert zurückging. Philosophen wie Bischof John Wilkins, René Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz schlugen die Schaffung einer „philosophischen Sprache“ vor, welche die menschliche Rede durch eine logische Klassifikation ersetzen sollte. Ziel einer solchen Sprache konnte zumindest eines von drei sein: als internationale Hilfssprache Menschen mit unterschiedlichen Muttersprachen zu helfen, sich zu verständigen; als einheitliche wissenschaftliche Sprache zu dienen; und als logischer Kalkül dazu beizutragen, Widersprüche nachzuweisen und neue Wahrheiten zu entdecken. John Wilkins (1614-1672) wird nicht nur von Mauthner, sondern auch von Jorge Luis Borges als vorbildlichen Wegbereiter einer solchen Universalsprache hervorgehoben. In dessen Werk „An Essay Towards a Real Character and A Philosophical Language“ bemüht er sich um eine philosophische Sprache, die eine genaue Übereinstimmung zwischen Wort und Objekt ermöglicht. Voraussetzung für eine Universalsprache wäre es nach Mauthner einen Weltkatalog aufzustellen und dann diese Ordnung in eine einheitliche Sprache zu übersetzen. Mit Hilfe einer Systematik könnte man dann jeden Gegenstand, jedes Individuum durch eine Gruppierung von Begriffen bezeichnen. Der von Mauthner lobend erwähnte Bischof Wilkins hatte mit seiner philosophischen Sprache versucht, ein Verständigungsmittel für die Gelehrten aller Völker zu finden. Wie Tönnies richtig beobachtet, fielen diese ersten Versuche einer Universalsprache in eine Zeit, in der das Latein als internationale Gelehrtensprache immer mehr in den Hintergrund rückte. Wilkins wollte Dinge und Begriffe durch besondere Zeichen ausdrücken, um die Grundlage für eine internationale Sprache zu schaffen. Doch schließlich muss auch Wilkins einsehen, dass eine schier unendliche Anzahl von Zeichen nötig wäre, um alle Dinge und Begriffe zu bezeichnen. Abgesehen davon, gründet das Modell einer Universalsprache auf eine logische Relation zwischen Wort und Zeichen, also müsste es sich auch um eine logische Idealsprache handeln. Mauthner bemängelt hier, dass die Einsichten der Sprachwissenschaft seiner Zeit, vor allem was den zufälligen Charakter des Bedeutungswandels betrifft, nicht berücksichtigt wurden (Mauthner 1923/24, Bd.3 495). Jede Veränderung in der Bedeutung, jede Erweiterung der Erkenntnis müsste das System und damit den Wert dieser künstlichen Idealsprache untergraben. So würde selbst die anspruchsvollste Universalsprache das Schicksal einer natürlichen Sprache
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teilen und mit der Erkenntnis neuer Zeiten nicht mehr übereinstimmen. Mauthner verweist auf die Klasse der chemischen Begriffe und fragt, was wäre, wenn sie heute nach Bischof Wilkins System von 1668 gebraucht werden müsste. Sein Fazit ist entsprechend resignierend: „Um die Sprache der jeweiligen Welterkenntnis anzuschmiegen, müsste alljährlich an der wissenschaftlichen Terminologie herumgeflickt werden, und jeder Flicken wäre ein Fehler im System.“ (Mauthner 1923-24, Bd. 3 496) Das Problem der universellen Sprache bringt auch Borges auf den Punkt. Es gibt überhaupt keine Klassifizierung des Universums, die nicht beliebig und voller Spekulationen wäre, da wir letztendlich mit Hilfe unserer „armseligen Sprache“ (so Mauthner) die Wirklichkeit gar nicht ergründen können (Borges 1952). Angesichts der Schwierigkeiten einer Universalsprache schlug Tönnies vor, eine existierende natürliche Sprache zum Range eines internationalen Verständigungsmittels zu erheben. Für den allgemeinen geschäftlichen Sprachgebrauch plädierte er für Englisch, während er für das geistige, kulturelle Leben eine Rückkehr zu einer alten „Weltsprache“, nämlich dem Lateinischen wünschte (Tönnies 1906, 79). Auch Michel Bréal setzt sich für eine internationale Gelehrtensprache ein, die allerdings mehr die Rolle einer wissenschaftlichen Hilfssprache anstelle einer Universalsprache übernehmen sollte (Bréal 1964, 69f).
Philosophische Terminologie und die Übersetzung In der Einleitung zu seinem Wörterbuch streicht Mauthner heraus, dass die Sprache der Philosophie durch Übersetzungen entstanden ist (Mauthner 1923/24, Bd.1, Xf.). Und wenn er von der Rolle der Übersetzung für den Bedeutungswandel innerhalb einer Sprache spricht, so meint er nicht nur die Sprache der Wissenschaft, sondern auch die natürliche Sprache des Alltags. Eine Schlüsselfunktion nimmt hier die sogenannte Lehnübersetzung ein: „Durch Lehnübersetzung kamen die Vorstellungen aller Denkgebiete von Volk zu Volk, Erscheinungen und anthropomorphe Vorstellungsgruppen, Beobachtungen von Nützlichkeiten und Schädlichkeiten, von Zusammenhängen und Naturgesetzen. Durch Lehnübersetzung kamen
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von einem Volk zum anderen die Namen von Krankheiten und von heilenden Zaubersprüchen der Pflanzen, die Namen von Göttern und die Worte von wirksamen Gebeten (...) und die Termini von Natur- und Geisteswissenschaften.“ (Mauthner 1906, 61) Nicht nur der Einfluss der Fremdwörter, sondern auch der Einfluss der Lehnübersetzung müsse in jeder Betrachtung von Terminologie mit berücksichtigt werden. Die Lehnübersetzung beschreibe nicht nur die Wanderung einzelner Worte von einer Sprache zur anderen, sondern auch die Übernahme von „Redensarten und Fabeln, aber auch ausgedehnten Fabeln epischer und dramatischer Kunstwerke.“ Ursprünglich hat Fritz Mauthner den Plan, ein großes begriffsgeschichtliches Wörterbuch zu verfassen. Es soll international sein, um den Gang der wissenschaftlichen Ausdrücke aus dem Orient, aus Griechenland, über Rom, aus Arabien über Spanien zu den anderen abendländischen Völkern aufzuzeigen – und dies sprachgeschichtlich und sprachkritisch. Da er bald einsehen muss, dass ein solches Projekt nicht von ihm alleine getragen werden kann, beschränkt er sich darauf, eine Reihe von Stichproben vorzulegen, womit er veranschaulichen will, wie „bastardierter Bedeutungswandel und Bastardübersetzung imstande wäre, ideenträchtige Begriffe über die Jahrtausende, über Aufgang und Niedergang der Völker hinweg, bis zu uns zu schleppen.“ (Mauthner 1906, 61-63) In dieser kleinen Schrift Die Sprache greift er zwei Beispiele heraus – Element und Gegenstand. Wie er treffend beobachtet, hat die philosophische Terminologie die Eigenheit, eine Mischung von beiden – einer Art Kunstsprache und der Alttagssprache – zu sein. Auch Theodor Adorno weist auf die Bedeutung der „Übersetzung“ für das Verständnis von philosophischer Terminologie. Er sieht in der Übersetzung eine Art Dechiffrierung der geschichtlichen Sprachgebrauchs der Philosophie, eine Dechiffrierung der geschichtlichen Terminologien (Adorno 1979, Bd.2 56). Wichtig ist es nach ihm von einer „metaphorischen“ Übersetzung auszugehen, die selbst von der philosophischen Tradition geprägt ist. Man dürfe deshalb diese Übersetzung nicht als einen index veri, als einen unmittelbaren Ausdruck der Wahrheit ansehen (Adorno Bd. 1, 1979). In den Diskussionen zu philosophischer Terminologie um 1900 spielt die Verständigung nicht nur in der eigenen Sprache, sondern auch in anderen Sprachen eine zunehmend wichtige Rolle. Die Zunahme des wissenschaftlichen Austausches zwischen verschiedenen Ländern, auch die Ab-
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haltung von internationalen Konferenzen trug dazu bei, das Bewusstsein für die Bedeutung von Übersetzungen zu schärfen.14 Lady Victoria Welby, Stifterin eines Preises zur Förderung terminologischer Forschung, leistet selbst einen wertvollen Beitrag zur Terminologie (What is Meaning? 1903). In diesem Werk ist Übersetzung, das „translative Denken“ ein zentrales Thema, da sie diese zur Grundmethode ihrer Bedeutungsanalyse macht. Unter „Translation“ versteht sie aber mehr als Übersetzung in landläufigem Sinne. Es geht hier um: 1) Übersetzung wortwörtlich, d.h. die Übertragung einer Sprache in die andere; 2) Die Überführung einer Argumentationslinie in einen anderen Bereich (Analogiebildung); 3) Die Benutzung einer Reihe von Fakten, um eine andere Reihe von Fakten zu beschreiben (Welby 1903, 57). Übersetzung im Zusammenhang mit philosophischer Terminologie findet nicht nur zwischen den Sprachen statt; sie kann auch innerhalb einer Sprache als Instrument zur begrifflichen Klärung eingesetzt werden. Erweist es sich als unmöglich, einen Begriff (oder ein „Scheinbegriff“) auf etwas Gegebenes zurückzuführen, so ist er bedeutungslos. Ein bekanntes Beispiel von Übersetzung als Zurückführung eines Begriffs aus einem Bereich in einen anderen, die im Wiener Kreis heftig diskutierte physikalische Sprache. Rudolf Carnap versteht unter Übersetzung eine Regel zur Umformung in eine andere Sprache (in diesem Fall in eine physikalische Sprache) und unterscheidet dabei zwischen inhaltlicher Sprechweise und formaler Sprechweise. Der Versuch, jeden Satz in eine physikalische Sprache zu übersetzen und jeden Sachverhalt in ihr auszudrücken, stößt bald an seine Grenzen. Gibt es bei den anorganischen Naturwissenschaften keinen Zweifel an der Anwendbarkeit der physikalischen Sprache, so kommen erste Bedenken bei der Biologie auf.15 Carnap versucht diese Zweifel aus dem Weg zu räumen, indem er darauf hinwies, dass es nicht um die Zurückführbarkeit der biologischen Gesetze auf die physikalischen, sondern um die Zurückführbarkeit der biologischen Begriffe auf die physikalischen. Doch in den „Geisteswissenschaften“ gab es heftigen Widerspruch gegen die Anwendung der These von der Übersetzbarkeit der psychologischen Sätze in die physikalische Sprache. Letzten Endes konnte sich die 14
Sowohl Ferdinand Tönnies als auch Michel Bréal hielten fest, dass die mehrsprachige Verständigung um 1900 hatte aufgrund der vielen internationalen Kongressen und des Austausches zwischen Wissenschaftern verschiedener Kultur- und Sprachkreise an Brisanz gewonnen hatte. 15 So vor allem im Zusammenhang mit den Diskussionen im Wiener Kreis um den Vitalismus (Hans Driesch).
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physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft nicht durchsetzten, doch leisteten einzelne Vertreter des Wiener Kreises, allen voran Otto Neurath, in diesem Zusammenhang wertvolle sprachkritische Beiträge, etwa gegen die Gefahr sorgloser Terminologie. Fritz Mauthners engster Mitarbeitet Gustav Landauer hingegen will ernst machen mit der Zurückführung der Sprache auf die Psychologie; alles Räumliche zum Beispiel soll also subjektiv als Zeitliches gedeutet werden. Hier geht es aber nicht um Klärung von Begriffen, sondern ganz im Sinne deutschen Mystikers Meister Eckhart um die Aufhebung des Unterschieds zwischen dem Subjekt, welches erkennt, und dem Objekt, das erkannt wird (Landauer 1903, 63). Allerdings wendet sich Landauer mit diesem Schritt immer mehr von der Wissenschaft ab und nähert sich dem Bereich der Mystik.
Philosophische Wörterbucher und die intraduisibles Oft wird übersehen, dass die modernen Nationalsprachen Europas erst im Laufe des 18. Jahrhunderts ihre eigene philosophische Terminologie hervorbrachten. Latein war noch die Sprache von Leibniz und Descartes gewesen und bekanntlich hat Kant den deutschen Begriffen noch oft ein klärendes lateinisches Wort beigefügt. In den Übersetzungen seiner Predigten aus dem Lateinischen in eine für das Volk eher verständliche mittelhochdeutsche Version hat Meister Eckhart scholastische Ausdrücke wortwörtlich übersetzt: aus essentia wurde zum Beispiel Wesen, aus accidens Zufall. Dieser Ansatz setzte sich auch im 17. und 18. Jahrhundert fort: Einbildungskraft (via imaginationis), Gegenstand (objectum), Vorurteil (preajudicium), Begriff (conceptus). Wie Barbara Cassin beobachtet, haben diese Übersetzungen gerade der deutschen philosophischen Terminologie eine besondere Allüre verliehen, denn die Wörter klangen nicht fremd. (Cassin 2004) Die eingedeutschten Fremdwörter – oder wie Fritz Mauthner sagen würde: Lehnwörter – hatten im Gegensatz zu den anderen Sprachen eine alltägliche Bedeutung, die in anderen Sprachen nicht zu finden ist. Ein schönes von Cassin genanntes Beispiel ist folgende Redesituation: Ein Deutscher würde fragen: „Ist das für Sie ein Begriff?“, wenn er jemanden nach dem Namen einer Straße fragt. (Der Franzose würde aber nur sagen: „Ca vous dit quelque chose?“) Hinzu kommt, dass die germanischen Sprachen, vor allem das Englische, oft zwei Parallelbegriffe für ein und dieselbe Vorstellung haben – ein gehobenes, dem Lateinischen entlehntes Wort und ein Wort aus der Alltagssprache. Erst in relativ junger Zeit sind deutsche
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Grundbegriffe entstanden, die nicht auf eine Übersetzung oder Entlehnung aus dem Lateinischen oder Griechischen zurückgehen (Cassin 2004). Die Nationalsprachen Europas standen schon immer in Interaktion miteinander, wobei der Einfluss oder gar Vorherrschaft des Französischen sich in Entlehnungen wie Fortschritt (progrès) oder Gesichtspunkt (point de vue) zeigt. Um 1900 war es einigen Denkern wie Ferdinand Tönnies, Michel Bréal, André Lalande und einer Reihe von anderen bewusst geworden, dass die Sprachen einen Ort des beständigen Handels und Austausches in Raum und Zeit bilden. Da aber Worte nur selten ihren exotischen Geschmack beibehalten, und meistens so gut einverleibt werden, dass man ihre Geschichte kaum bemerkt, ist es den begriffskritischen und -historischen Wörterbuchprojekten wie Fritz Mauthners Wörterbuch der Philosophie und Barbara Cassins Dictionnaire de Philosophie zu verdanken, dass die Rolle der Übersetzungen in der philosophischen Terminologie immer deutlicher hervortrat. Um 1900 wurde die Arbeit an drei umfangreichen philosophischen Wörterbüchern in drei Sprachen aufgenommen. Neben Fritz Mauthners bereits erwähntem Wörterbuch, erschienen zu der fast selben Zeit James Mark Baldwins Dictionary of Philosophy and Psychology und André Lalandes Vocabulaire technique et critique de la philosophie.16 Diese Wörterbücher reflektierten nicht nur die unterschiedliche Auslegung von Begriffen innerhalb einer bestimmten Sprache, sondern auch die unterschiedliche geschichtliche Entwicklung, die sich im Denken, im Denkstil eines Landes zeigte. Nachdem man die Grenzen der „nationalsprachlichen“ Terminologie erkannt hatte, waren die Versuche gefolgt, eine einheitliche Universalsprache der Wissenschaft zu bilden. Es gab auch die Idee, eine „internationale Akademie“ zu gründen, die ein System von Begriffen entwickeln sollte, deren wechselseitigen Beziehungen, Unterschiede, Verwandtschaften und Abhängigkeiten es aufzuzeigen galt (Tönnies 1906, 65). Da sich keine dieser sprachreformerischen Initiativen mit Erfolg durchsetzen ließ, verlagerte sich die kritische Auseinandersetzung mit Fragen der wissenschaftlichen Begriffsbildung in die philosophischen Wörterbücher. Die Verfasser und Herausgeber dieser Nachschlagwerke erkannten, dass psychologischen und philosophischen Begriffen eine Unklarheit inhärent
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Diese drei genannten Wörterbuchprojekte waren alle von einem Bewusstsein für die Klärung von terminologischen Fragen getragen. Eine um 1900 geplante internationale ‚Akademie’ ist aber nie zustande gekommen, da sich das vorrangige Ziel, nämlich eine „einheitliche Sprache“ zu entwickeln, als unerreichbar erwies.
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ist, die nicht durch Wörterbuchdefinitionen alleine aus dem Wege geräumt werden konnten. James Mark Baldwins Dictionary of Philosophy and Psychology war das Ergebnis einer kollektiven Arbeit von über sechzig Wissenschaftlern und Denkern – in erster Linie aus dem englischsprachigen Raum. Sie beschränkten sich nicht nur darauf, Begriffe zu definieren, sondern zeichneten den genauen Sprachgebrauch, die Verwendungen der einzelnen Begriffe nach und schlugen äquivalente Begriffe in drei anderen Sprachen vor. In diesem Nachschlagwerk tritt aber die Geschichte der Begriffe in den Hintergrund, der Fokus liegt auf den damals aktuellen Gebrauch der Terminologie in der Wissenschaft. In Mauthners Wörterbuch der Philosophie findet man ausführliche historische Darstellungen von einzelnen Begriffen, wobei es ihm vor allem darum geht, aufzuzeigen, wie die wissenschaftliche Terminologie aus der Wanderung und dem Austausch von Wörtern und Begriffen anderer Sprachen entstand, also das Ergebnis einer ständigen, nicht immer geglückten Übertragungsarbeit ist. Durch die Übersetzung kann sich die Bedeutung eines Wortes bis zur Unkenntlichkeit ändern. Mit dem Beispiel eines historischen Sprachgebrauchs – Gegenstand bzw. Objekt – geht Mauthner nicht nur dem Bedeutungswandel eines gebräuchlichen Wortes nach, sondern auch der Geschichte einer Verwechslung zweier Begriffe, nämlich Objekt und Subjekt. In seiner Darstellung stammt der Begriff Gegenstand vom griechischen Wort upokeimonon, das dann im Mittelalter in der lateinischen Lehnübersetzung zu „subjektum“ wurde. An der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert war es dann in Deutschland zu einem allmählichen Vertauschung der beiden Begriffe Objekt und Subjekt gekommen. Kant hatte gezeigt, dass hinter der objektiven Welt der Gegenstände noch etwas liegt, das upokeimonon, das subjectum, für das der Begriff Ding-an-sich geprägt wurde. Durch die Vertauschung von subjektiv und objektiv war es auch notwendig geworden, ein gutes deutsches Wort für die Sache zu finden. Gegenstand, ein technischer Ausdruck der Erkenntnistheorie, sei durch populäre Schriften in die Alltagssprache gewandert und zu einem Synonym von Ding oder Sache geworden (Mauthner 1923/24, Bd.1). Auf Mauthners sprachkritisches, historisches Wörterbuch der Philosophie folgte das begriffgeschichtliche Archiv Rothackers ein halbes Jahr-
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hundert später.17 Doch erst 2004 erschien ein Wörterbuch in französischer Sprache, welches den Grundgedanken von Fritz Mauthners Begriffsgeschichte, nämlich die Betrachtung der philosophischen und wissenschaftlichen Terminologie als eine Geschichte der „Übersetzungs“-probleme, fortsetzt. Ausgangspunkt des jüngsten Wörterbuchunternehmens (zu dem mehr als 150 Mitarbeiter in jahrzehntelanger Recherche beitrugen) war die Reflexion über die Schwierigkeit bzw. die Unmöglichkeit, Philosophie zu übersetzen. Das anspielungsreiche Wort intraduisibles im Untertitel des Werkes soll aber nicht heißen, dass sich die Begriffe der Philosophie gar nicht übersetzen lassen, sondern, dass die Übersetzung der Terminologie der Philosophie weiterhin ein komplexes, vielschichtiges Thema darstellt. Anschaulich wird hier anhand von über 400 Einträgen gezeigt, dass sich die begrifflichen Netzwerke nicht immer von einer Sprache auf eine andere übertragen lassen. Fällt das Fazit von Fritz Mauthners Sprachkritik – Sprache sei als Erkenntnismittel völlig unzulänglich – oder die Conclusio von Ludwig Wittgenstein („worüber man nicht sprechen kann, sollte man schweigen“) eher resignierend aus, so ist das Wörterbuch der unübersetzbaren Begriffe von größerer Zuversicht getragen. Anstelle einer lingua franca (das global vorherrschende Angloamerikanische unserer Zeit) plädiert Cassin für die Beibehaltung und Stärkung der sprachlichen Vielfalt. Hatte Leibniz die Zerstörung des Turm von Babel und die Schaffung einer Universalsprache eingefordert, so könnte man zu Beginn des 21. Jahrhunderts Babel als Chance sehen, vorausgesetzt, die Vielfalt der Sprachen nicht auf eine Vielzahl von Bezeichnungen für einen Gegenstand oder Sachverhalt reduziert wird, sondern als Potential für verschiedene (neue) Perspektiven gesehen wird.
Literatur Adorno, Theodor W. 1979 Philosophische Terminologie, Band 1-2, Frankfurt: Suhrkamp. Baldwin, James Mark (Hrsg.) 1901-1905 Dictionary of Philosophy and Psychology in Three Volumes, New York/London.
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Das 1955 von Erich Rothacker begründetet Archiv für Begriffsgeschichte (AfB) sollte laut Selbstbeschreibung „Bausteine zu einer historischen Wörterbuch sammeln“ und die „wachsende Einsicht in der Bedeutung von Sprache und Sprachwandel für alle Wissenschaften“ tragen.
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Borges, Jorge Luis 1952 „El idioma analítico de John Wilkins“, in Otras Inquisiciones, Buenos Aires: Sur. Bréal, Michel 1964 Semantics: Studies in the Science of Meaning, New York: Dover Publications. Budin, Gerhard 2007 „L’apport de la philosophie autrichienne au développement de la théorie de la terminologie: ontologie, théories de la connaissance et de l’objet“. In: Genèses de la terminologie contemporaine (sources et réception, Langages, revue trimestrielle 168, Dezember 2007, Paris: Larousse. Carnap, Rudolf 1926 Physikalische Begriffsbildung. (Wissen und Wirken. Einzelschriften zu den Grundlagen des Erkennens und Schaffens), Karlsruhe: Braun. Cassin, Barbara (Hrsg.) 2004 Vocabulaire Européen des Philosophies. Dictionnaire des Intraduisibles, Paris: Éditions de Seuil. Kühn, Joachim 1975 Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk, Berlin: Walter de Gruyter & Co. Landauer, Gustav 1903 Skepsis und Mystik, (1978 Nachdruck der Ausgabe von 1903), Wetzlar: Büchse der Pandora. Leinfellner, Elisabeth; Schleichert, Hubert 1995, Das Werk eines kritischen Denkers, Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar. Mauthner, Fritz 1906 Die Sprache (= Die Gesellschaft: Sammlung sozialpsychologischer Monographien, hrsg. von Martin Buber, Bd. 9), Frankfurt a. Main: Rütter & Löning. Mauthner, Fritz 1906-13 Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1-3, 2.Aufl., Stuttgart/Berlin: Cotta. Mauthner, Fritz 1923-1924 Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1-3, 2. Aufl., Wien: Böhlau (1996). Mauthner, Fritz 1925 Die drei Bilder der Welt. Ein sprachkritischer Versuch. Aus dem Nachlass (Hrsg. von Monty Jacobs). Erlangen: Verlag der philosophischen Akademie. Neurath, Otto 1948 „Universal Jargon and Terminology.“ Proceedings of the Aristotelian Society, N. S. 41: 127-148. Schmitz, H. Walter 1985 „Tönnies’ Zeichentheorie zwischen Signifik und Wiener Kreis“, Zeitschrift für Soziologie, Jg. 14, Heft 5, Oktober 1985, S. 375-385, Stuttgart: F. Enke Verlag. Tönnies, Ferdinand 1906 Philosophische Terminologie in psychologischsoziologischer Ansicht, Leipzig: Verlag von Theod. Thomas. Welby, Victoria Lady 1903 What is Meaning? Studies in the development of significance. Nachdruck 1983 der Edition von 1903, London) mit einem einleitenden Aufsatz von Gerrit Mannoury und einem Vorwort von Achim Eschbach, Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publishing Company.
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Wittgensteins Sprachkritik … „allerdings nicht im Sinne Mauthners“ Marco Bastianelli Im Satz 4.0031 des Tractatus logico-philosophicus schreibt bekanntlich Wittgenstein, dass alle Philosophie »Sprachkritik« ist, was allerdings »nicht im Sinne Mauthners« zu verstehen ist. Die Präzisierung ist bemerkenswert, weil man die Frage stellen kann, in welchem Sinne dann die Sprachkritik zu verstehen ist, und sie regt dazu an, eine Antwort per viam negationis zu suchen. Die Aufgabe wird jedoch dadurch erschwert, dass der Ausdruck Sprachkritik nur im Satz 4.0031 des Tractatus und auf keiner anderen Stelle der tausenden Seiten Wittgensteins vorkommt. Er schlägt eine universale These vor, d.h. alle Philosophie ist „Sprachkritik“, aber merkwürdigerweise wiederholt er sie nicht mehr. Die Frage ist allerdings noch interessanter, weil der Satz 4.0031 etwas behauptet, was »alle Philosophie« betrifft. Es handelt sich klarerweise um eine philosophische These, und dies ist zumindest überraschend, weil Wittgenstein im Tractatus behauptet, dass die Philosophie »keine Lehre«, sondern »eine Tätigkeit« ist, deren Resultat nicht »philosophische Sätze«, sondern »das Klarwerden von Sätzen« ist (TLP 4.112). Letztlich, soweit Wittgenstein sich auf „alle Philosophie“ beruft, muss man annehmen, dass diese These auch für seine eigene Philosophie gilt; versteht man daher den Sinn des Hinweises auf Mauthner, dann könnte man auch einige Aspekte der Philosophie Wittgensteins erklären. Mit dieser Absicht wird nämlich in der Literatur der Satz 4.0031 erwähnt, um den Übergang vom sogenannten frühen zum späten Wittgenstein zu erläutern. Elisabeth Leinfellner zählt man zu den ersten Interpreten, die bemerkt haben, dass Wittgensteins Präzisierung „nicht im Sinne Mauthners“ wichtig ist, weil er »seine Meinung zugunsten einer anderen revidierte, die zum Schluss doch „im Sinne Mauthners“ war« (Leinfellner 1969, 212). Sie meint natürlich die Philosophischen Untersuchungen, in den Wittgenstein eine Auffassung der Sprache und der Philosophie vertritt, die der Sprachkritik Mauthners und nicht dem Tractatus ähnlicher zu sein scheint. Insbesondere, behauptet Leinfellner, ist
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»der grundlegende Unterschied zwischen dem „Tractat“ und den „Beiträgen zu einer Kritik der Sprache“ […] demjenigen zwischen der Philosophie des frühen Wittgenstein und der Philosophie des späten Wittgenstein außerordentlich verwandt« (Leinfellner 1969, 212). Auf den ersten Blick scheint eine solche These plausibel zu sein. In den üblichen Auslegungen soll nämlich Wittgenstein im Tractatus der Meinung sein, dass es ein Wesen der Sprache gibt, das sich in der logischen Form der Darstellung zeigt, und dass die Bedeutung eines Wortes der ihm entsprechende Gegenstand ist; in den Philosophischen Untersuchungen meint er dagegen, dass es kein Wesen der Sprache gibt, weil die Sprache eine Lebensform, d.h. eine komplexe Wechselwirkung von Sprachspielen ist, so dass die Bedeutung eines Wortes im Bezug auf dessen Anwendung in der Sprache beschrieben werden kann. Wenn man sich auf eine solche Schilderung beschränkt, dann ergibt es sich, dass Mauthner, soweit er ein Wesen der Sprache leugnet, ein negatives Vergleichselement für den Tractatus ist, während seine soziale Auffassung der Sprache einen Einfluss auf die Philosophischen Untersuchungen hätte haben können. Rudolf Haller ist allerdings der Meinung, dass, wenn man die Sprachkritik der Philosophischen Untersuchungen unmittelbar zur Sprachkritik Mauthners (also gegen den Tractatus) gleich stellt, man einen »Interpretationsirrtum« zu begehen riskiert, »so als hätte sich Wittgensteins programmatische Erklärung: „Alle Philosophie ist ‚Sprachkritik‘“ im Dunste des Weihrauchs der gewöhnlichen Sprache menschlicher Kommunikation ins Nichts aufgelöst« (Haller 1974, 42). Anders gesagt würde sich die logische Strenge der Sprachkritik des Tractatus in eine reine Beschreibung der alltäglichen Sprachgewohnheiten wandeln. Eine solche Gefahr ist jedoch möglich und nicht zu unterschätzen, da Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen die Idee des Tractatus bekräftigt, dass die Philosophie keine Thesen oder Lehren aufstellen kann. Die Philosophie, meint er, »darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten«, sie kann ihn »nur beschreiben. Denn sie kann ihn auch nicht begründen. Sie lässt alles, wie es ist« (PU §124). In diesem Sinne hat also Elisabeth Leinfellner Recht, wenn sie befürchtet, dass, wenn die einzige Aufgabe der Philosophie »darin bestünde, die Sprache so zu beschreiben, wie sie ist, […] dieselbe Aufgabe wie die Linguistik« hätte, was natürlich zurück zu weisen ist (Leinfellner 1969, 215).
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Um ein solches Ergebnis zu vermeiden, scheint es mir wichtig, auf den zweiten Teil des Satzes 4.0031 aufmerksam zu machen, in dem Wittgenstein präzisiert: »Russells Verdienst ist es, gezeigt zu haben, dass die scheinbare logische Form des Satzes nicht seine wirkliche sein muss«. Wenn man den ganzen Satz liest, dann gewinnt man eine positive Anweisung, die zur oben schon erwähnten positiven hinzukommt: Philosophie ist Sprachkritik nicht im Sinne Mauthners, sondern in einem Sinne, der etwas mit dem „Verdienst“ Russells zu tun hat. Insbesondere hat Russell gezeigt, dass man zwischen einer scheinbaren und einer realen logischen Form des Satzes unterscheiden muss, und dass daher die Sprachkritik eine Analyse der scheinbaren Form des Satzes ausführt, um seine reale logische Form ans Licht bringen zu können. Die Frage, die nun wichtig zu stellen ist, ist, ob der Verzicht auf diese Perspektive in den Philosophischen Untersuchungen zu einer Zurückführung der Sprachkritik zu einer bloßen Beschreibung der alltäglichen Sprachgewohnheiten führt, und ob eine solche Zurückführung, in der Tat, sich nun dem Skeptizismus und dem Nominalismus zuwendet. Neben diesen Fachfragen gewinnt aber der Satz 4.0031 in der Sekundärliteratur eine weitere und besonders wichtige Bedeutung, soweit manche Forscher ihn als ein nützliches Dokument betrachten, um die Entwicklung der sogenannten „linguistischen Wende“ in der Philosophie zu vertiefen. Es ist bedeutungsvoll, den Sinn der Sprachkritik Wittgensteins und Mauthners zu verstehen, z.B. bei Rudolf Haller, das uns erlaubt, »aus größerer Distanz die Geschichte eines Kapitels der Philosophie zu sehen, von dem viele überzeugt sind, dass es in einer Revolution der Philosophie kulminierte« (Haller 1974, 41). Ähnlicher Meinung ist Elisabeth Leinfellner, die Mauthner für einen »der Väter der später so populär gewordenen sprachanalytischen Philosophie« (Leinfellner 1995b, 10) hält, und die überzeugt ist, dass er nicht nur ein »Vorgänger Wittgensteins« ist, sondern auch »zu einem Ahnherrn einer der heute auf den ganzen Welt dominierenden philosophischen Richtungen, der Analytischen Philosophie«, wurde (Leinfellner 2000). Der wichtigste Beitrag Leinfellners besteht allerdings meines Erachtens in der Präzisierung, dass »der terminologische Wandel von der Kantschen „Kritik der reinen Vernunft“ zu dem Mauthnerschen „Beiträgen zu einer Kritik der Sprache“ […] ein Stück Philosophiegeschichte, den Weg vom Idealismus zur Analytischen Philosophie [spiegelt]« (Leinfellner-Rupertsberger 1986, 174).
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Gerade im Lichte einer solchen Perspektive zeigt sich, dass der Vergleich zwischen Wittgenstein und Mauthner besonders fruchtbar ist. Er kann nämlich in einem breiten Kontext betrachtet werden, wo die Kritik der Sprache sich als Entwicklung der Kritik der Vernunft erweist, und sie letztlich zu einem Synonym für die Analyse der Sprache wird. Nun ist bei Mauthner die Beziehung zu Kant offenkundig, soweit er behauptet, dass es eine »überaus wichtige Parallele zwischen der Sprachkritik und der Kritik der reinen Vernunft« gibt: »Da für uns Vernunft nichts anderes ist als Sprache – schreibt Mauthner –, so hätten wir im Voraus wissen müssen, dass die Kritik der einen wie der anderen zu dem gleichen Ergebnisse führen würde« (B1 300). Die Erkenntnistheorie, meint er, »lehrt uns seit hundert Jahren nichts anderes, als was wir eben durch sprachliche Untersuchungen gewonnen haben, dass nämlich wir anstatt der Dinge nur ihre Erscheinungen kennen« (B1 299-300). Kant hat also laut Mauthner verstanden, dass »unser Wissen von der Wirklichkeitswelt subjektiver Natur« ist, und dies bedeutet, dass wir nur »etwas von der Erscheinung der Welt« wissen, und »das Ding-an-sich, das als ihre Ursache hinter den Erscheinungen steckt, kennen wir nicht« (B1 299). Deswegen, schließt Mauthner, hatte Kant »vollkommen recht, wenn er […] den Anteil hervorhob, den das Denken an jeder Erfahrung hat«; er hatte allerdings »unrecht, wenn er ein reines, ein apriorisches Denken aufstellte, zu welchem Erfahrung nicht notwendig sei. Er hatte noch nicht erkannt, dass Erfahrung und Denken, beides, nur Gedächtnis oder Sprache sein« (B2 699). Soweit Kant an eine reine Vernunft glaubte, macht er für Mauthner den Fehler, dass er »die Vernunft als eine mythologische Person, als ein personifiziertes Seelenvermögen aufgefasst« hat, und darum hat er »das logische Denken in menschlicher Sprache von der menschlichen Vernunft unterschieden und hat nicht bemerkt, dass es über unsere Kraft geht, über die Vernunft oder Sprache zu sprechen oder zu denken« (B2 477). Für Mauthner besteht Kants »Sündenfall« darin, »dass er nach zehnjähriger Vorarbeit nicht die Grenzen der Vernunft überhaupt, sondern die Grenzen einer reinen Vernunft kritisierte, dass
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er eine reine Vernunft, das heißt eine Vernunft vor aller Erfahrung der anderen Vernunft gegenüber stellte« (B2 477). In diesem Sinne war die reine Vernunft »die Glaubenssache und die große Metapher Kants«, die er mit dem Wort „intelligibel“ bezeichnete. Mauthner ist aber der Meinung, dass im Verstande nichts ist, »was nicht vorher in den Sinnen war, in der Erfahrung«, und deswegen »kann im Verstande nichts Intelligibles sein, nichts Unerfahrenes, nach Kants Sprachgebrauch«, und »so ist alles Intelligible nicht nur unvorstellbar und unverständlich, sondern undenkbar« (B2 477-478). Kant hat daher laut Mauthner »einen groben Schnitzer gemacht« (B1 690), weil »er die objektive Wirklichkeitswelt, die er Ding-an-sich nannte, als eine notwendige Voraussetzung unserer subjektiven Welterkenntnis hinstellte. Dieses Ding-an-sich sollte die Ursache der Erscheinung sein, die das Weltbild in unserem Gehirn ist. Ist aber die Kausalität, das ist der Begriff von Ursache und Wirkung, nur subjektiv, nur dem Weltbilde in unserem Gehirn, nur der Welt als Erscheinung angehörig, so war es falsch, den Begriff der Ursache auf dieses Weltbild selbst anzuwenden, dieses Weltbild die Wirkung von irgendetwas sein zu lassen« (B1 690). Aus diesen Zitaten ergibt es sich, dass der Übergang von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der Vernunft überhaupt unumgänglich ist. Der Ausdruck „Vernunft überhaupt“ bedeutet bei Mauthner, dass, was wir Vernunft nennen, in der Tat kein reines Wesen ist, sondern immer von unserer Erfahrung abhängig ist. Laut Mauthner hat also Kant »die Welt bis zur Gegenwart geführt« (B2 476), denn, »trotz allen scholastischen Wortaberglaubens«, hat er erkannt, »wir vermögen unser Seelenleben gar nicht in seine subjektiven und objektiven Elemente zu trennen, weil in unserer Seele gar nichts vorhanden ist als die objektive Welt, diese aber nicht an sich, sondern als Erscheinung, weil also die ganze objektive Welt in unsere Seele nur unter der Form einzieht, welche sie durch unser subjektives Denken erhalten hat, das wieder von den Sinnen abhängt« (B1 338). Um den Übergang von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der Vernunft überhaupt zu tun, legt Mauthner den Kantianismus unter einer persönlichen Interpretation des Phänomenismus Machs aus:
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»In Deutschland hat die an Kant geschulte Physik und Physiologie von Helmholtz und Mach […] derselben Lehre zum Siege verholfen: was wir für objektiv gehalten haben an unserer Welterkenntnis, das ist erst recht subjektiv; was wir von der Außenwelt wissen, ist niemals objektive Kenntnis, sondern immer ein Symbol, eine Metapher« (B1 338-339). Dies bedeutet für ihn, dass der Mensch eine Kenntnis der Wirklichkeit immer durch die Sinne bekommt; die Sinne treffen jedoch eine Auswahl aus dem Rohmaterial der Erfahrung, so dass die Welt der Erscheinungen immer partiell und veränderlich ist. Deswegen sind sie Filter der Wirklichkeit, weil sie die Wirklichkeit auf keinen Fall objektiv, sondern immer subjektiv und willkürlich wiedergeben. Aus diesem Grund bezeichnet sie Mauthner als „Zufallssinne“, und er versteht die Erscheinung nicht als die objektive Gegebenheit, sondern als ihren subjektiven Überrest im Gedächtnis. Er ist nämlich der Meinung, dass, was wir Sprache und Vernunft heißen, gerade mit einem solchen Überrest identifizierbar ist: »Wir haben ja bisher geglaubt, der Sinn, der Satz, der Gedanke entstehe oder besser bestehe aus dem logischen Gefüge von Worten oder Begriffen. Wir haben doch der Sprache die Fähigkeit zugeschrieben, das Denken zu vermitteln oder gar zu bereichern« (B1 93). Während also für die Logiker der Satz der sprachliche Ausdruck für das logische Urteil ist, meint Mauthner dagegen, dass »das Wort nicht der sprachliche Ausdruck für den Begriff ist, sondern nur eben ein Synonym für Begriff«, so dass er »in Satz und Urteil dasselbe« sieht (B3 311). Es handelt sich nun offenbar um eine strenge nominalistische Auffassung der Sprache, soweit die Wörter nur die abstrakte Bezeichnung im Gedächtnis für eine mittlerweile verlorene Erfahrung sind. Da die Sinne Zufallssinne sind, hat also das Wort keine Beziehung zur Welt, und »jedes einzelne Wort trägt in sich eine endlose Entwicklung von Metapher zu Metapher« (B1 115). Diesbezüglich bemerkt Elisabeth Leinfellner, dass »in diesem Falle […] es sich um metaphorisch im funktionalen Gegensatz zu strukturell oder isomorph« handelt (Leinfellner 1995b, 59). Aus diesem Grund, meint nämlich Mauthner, zeugen die Worte »nie Erkenntnis […]; sie geben keine reale Anschauung und sind nicht real« (B1 151). Was mir nun philosophisch bemerkenswert scheint, ist, dass es laut Mauthner möglich ist, »Sprachkritik und Erkenntnistheorie einander gleich [zu] setzen«, aber nur
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»wenn wir die Kantsche Erkenntnistheorie […] so verstehen, wie sie gerade durch die neuere Auffassung der Sinnesorgane, die evolutionistische, uns allein noch vorstellbar geworden ist« (B1 687). Wie schon gesagt wurde, bedeutet dies für Mauthner nicht eine Abwendung von der Kritik Kants, sondern deren weitere Entwicklung, oder deren Verbesserung durch die Einfügung der Psychologie Machs. Auf diese Weise wird sie aber eine Kritik der unreinen Vernunft oder der Vernunft überhaupt, die Mauthner im psychologischen Sinne kennzeichnet: »Ich glaube fest auf dem Boden von Locke und Kant zu stehen, die beide, Kant so viel tiefsinniger als Locke, schon alle Philosophie zu menschlicher Psychologie umgewandelt haben« (B3 x). Kant hat daher laut Mauthner eine Kritik der Sprache nicht ausüben können, weil ihm, soweit er an eine reine Vernunft glaubte, den Begriff von Entwicklung fehlte, d.h. »die fast mystische Einsicht, dass Sprache und Gedächtnis der Organismen, dass Sitte und Vernunft nicht sind, sondern geworden sind« (B1 33). Kants Erkenntnislehre ist darum »gealtert«, weil »er von der Entwicklung der einzelnen Sinnesorgane und sonach auch von der Entwicklung des menschlichen Verstandes […] noch keine Vorahnung hatte, noch keine Vorstellung haben konnte« (B1 687). Man könnte also behaupten, dass Mauthners Kritik der Sprache durch die Einführung des Begriffs von Entwicklung in die Kantsche Kritik der reinen Vernunft entsteht. Auf diese Weise ist es allerdings klar, dass Mauthner gerade auf die wichtigste Voraussetzung des Kantianismus, nämlich auf das Apriori, verzichtet, zugunsten einer Humeschen empirischen Nominalismus: »Lassen wir den alten Begriff der Apriorität aber fallen, bescheiden wir uns, nichts im Intellekt zu suchen, was nicht vorher in den Sinnen war und dann im Gedächtnisse oder in der Sprache« (B1 342). Wenn es jedoch so ist, dann hätte laut Mauthner Kant »die erste Frage seines Werkes, wie synthetische Urteile a priori möglich seien, damit beantworten sollen, dass synthetische Urteile a priori eben nicht möglich seien«. Für Mauthner ist also die »Apriorität kein scholastischer Begriff mehr«; »für uns«, schreibt er weiter, wird sie »einen neuen Sinn bekommen, für uns ist die Apriorität etwas Relatives: das Gedächtnis des Menschengeschlechtes oder die Sprache ist für uns das relative Apriori geworden […]. In unserer Sprache müssten wir
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sagen: es ist die Hauptmasse unserer Begriffe, die der überkommenen Sprache, apriorisch, relativ apriorisch, und da in den Begriffen schon die Urteile stecken, so sind auch die Urteile relativ apriorisch« (B1 337). Wenn man daher Mauthners Sprachkritik als Fortsetzung der Kantschen Kritik der Vernunft auffasst, dann kommt es sofort eindeutig hervor, dass die Frage nach dem Wesen des Denkens oder, was dasselbe ist, nach dem Wesen der Sprache zu stellen, unsinnig ist. Er ist nämlich der Ansicht, dass, wenn die Kritik, die als »die scheidende oder unterscheidende Tätigkeit des menschlichen Verstands« bezeichnet werden kann, an einer Erscheinung geübt wird, es sich daher um »eine gewissenhafte Beobachtung oder Untersuchung dieser Erscheinung« handelt (B1 3). Wenn allerdings das Objekt der Kritik die Sprache ist, dann muss man annehmen, dass es die Sprache nicht gibt, denn »das Wort ist ein so blasses Abstraktum, dass ihm kaum mehr etwas Wirkliches entspricht« (B1 4). Genauso wie die Vernunft an sich, ist auch die Sprache an sich »ein wesenloses Unding« (B1 181). Aus diesem Grund können Logik und Grammatik bei Mauthner keine Untersuchung zum Wesen der Sprache sein, da es kein Wesen zu entdecken gibt; sie sind dagegen beschränkt, nur eine Beschreibung des effektiven Operierens der Sprache zu liefern: »Die Logik lehrt nun ebenso, nicht wie man denken soll oder wird, sondern nur wie man denkt oder gedacht hat, was doch nur den Logiker interessiert« (B3 261). Das bedeutet jedoch nicht, dass die Aufgabe der Kritik der Sprache sich auf die Abfassung eines Wörterbuches oder auf die grammatikalische Analyse verschiedener Satzformen oder auf die Zusammenstellung einer Geschichte der Sprache beschränkt. Es handelt sich vielmehr um eine Befreiung, die Mauthner schon am berühmten Anfang der Beiträge so beschreibt: »Mit dem Worte stehen die Menschen am Anfang der Welterkenntnis und sie bleiben stehen, wenn sie beim Worte bleiben. Wer weiter schreiten will, auch nur um den kleinwinzigen Schritt, um welchen die Denkarbeit eines ganzen Lebens weiter bringen kann, der muss sich vom Worte befreien und vom Wortaberglauben, der muss seine Welt von der Tyrannei der Sprache zu erlösen versuchen« (B1 1). Um diese Befreiung zu verstehen, ist noch einmal die Auseinandersetzung Mauthners mit der Kantschen Kritik der reinen Vernunft heranzuziehen,
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wobei beide Erkenntnistheorien sind. Diesbezüglich präzisiert Elisabeth Leinfellner: »Wenn die Sprache Denken (Gedächtnis) ist, dann müssen auf irgend eine Weise die Grundfunktionen aller Sprachen mit erkenntnistheoretisch relevanten oder kognitiven Funktionen verknüpft sein, bzw. mit den Bedeutungen« (Leinfellner 1995b, 71). Das heißt allerdings nicht, dass die Sprache den transzendentalen Strukturen oder Funktionen des Verstandes bzw. des Subjekts entspricht; es heißt hingegen, dass laut Mauthner die Sprache auf die Welt projiziert wird und sie Weltbilder herstellt, die nichts Objektives haben, sondern irreführend sind. Insbesondere erkennt Mauthner drei kognitive Funktionen der Sprache, die ebenso vielen Weltbildern entsprechen: das adjektivische, das verbale und das substantivische. Das adjektivische Bild bezieht sich auf die sinnliche Erfahrung, die immer etwas Punktuelles und Verschiedenes ist, da sie von den menschlichen Sinnenorganen abhängig ist. Das adjektivische Bild der Welt, obwohl es ein direktes Gegenstück in der empirischen Welt hat, ist nicht objektiv: es ist eine Metapher, ein Symbol, weil es aus den Zufallssinnen, aus den im Gedächtnis bewahrten sinnlichen Eindrücken, hergestellt wird. In dem verbalen Weltbild wird das adjektivische Weltbild geordnet, so dass man die Begriffe von Veränderung, Werden und Vergehen, der Zeit, der Kausalität, usw. herstellen kann. Das verbale Weltbild ist deshalb Bild eines Bildes, Metapher einer Metapher (Mauthner 1925, 1-5. Vgl. auch Mauthner 21923-1924: „adjektivische Welt“, Bd. 1, 17-19; „substantivische Welt“, Bd. 3, 262-267; „verbale Welt“, Bd. 3, 359-366). Die Projektion der sprachlichen Funktion in die Welt, und daher die Entstehung des entsprechenden Weltbildes, ist besonders klar im Falle des Substantivs. Durch das Substantiv bezeichnet man nämlich ein Bündel von Adjektiven, durch welches, wenn man es wieder in die Welt projiziert, die Begriffe von Ding, Substanz, usw. bildet. Das Bild der substantivischen Welt präzisiert Elisabeth Leinfellner, »ist die unwirkliche Welt des Raumes und des Seins; sie ist die Welt der Dinge und der im Alltagsleben, aber oft auch in der Wissenschaft personifizierten Ursachen und Kräfte. Die substantivische Welt ist die mythologische Welt, die Welt der Metaphysik, die Welt der Götter und der Geister, und letztlich auch die „ehrliche substantivische Scheinwelt“ der Mystik« (Leinfellner 1995b, 72). Aus dem substantivischen Weltbild entsteht nun laut Mauthner auch den irreführenden Begriff von „Ding an sich“, als etwas, was hinter den Er-
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scheinung und den Sinneseindrücken steckt. Seines Erachtens ist nämlich das Ding an sich »gar nichts anderes als unser den Schuljungen so wohlbekanntes, dem letzten Denken so unbekanntes Substantiv« (B1 299). In diesem Sinne entwickelt sich der Parallelismus zwischen Kritik der Vernunft und Kritik der Sprache, weil die Voraussetzung, laut welcher »wir anstatt der Dinge nur ihre Erscheinungen kennen« bedeutet, dass es »in der Wirklichkeitswelt kein Substantiv gibt, dass es also in der von uns wahrgenommenen Wirklichkeitswelt noch weniger ein Wirken der Dinge aufeinander, ein Wirken der Substantive aufeinander geben kann« (B1 300). Für die Kritik der Sprache, die bei Mauthner eine Kritik der unreinen Vernunft ist, »nur Kennzeichen, nur adjektivisch zu bezeichnende Empfindungen entsprechen unseren Sinnen [und] sind natürlich; Substantive und Verben entsprechen der menschlichen Vernunft, sind menschlich« (B1 300). Elisabeth Leinfellner fasst daher die Aufgabe der Kritik der Sprache mit folgender Formel zusammen: »Sprachkritik gegen die Substantivierung als Verdinglichung« (Leinfellner 2000, 6). Diese Formel drückt die Idee aus, dass die Aufgabe der Kritik der Sprache eine negative ist, soweit sie kein anderes Ziel außer der Befreiung vom „Wortaberglaube“ hat. Im Übrigen besteht laut Mauthner keine Möglichkeit, sich mit der Sprache jenseits der Sprache zu setzen, da es weder einen Isomorphismus zwischen Welt und Sprache noch eine logische Form oder ein logisches Wesen der Sprache gibt. Die Kritik der Sprache kann nämlich nichts außer der Befreiung verlangen, weil sie selbst in der Sprache und durch die Sprache geübt wird; als solche ist sie »selbstmörderisch, weil Kritik aus der Vernunft, also aus der Sprache stammt« (B1 177). In diesem Sinne führt Mauthner das berühmte Leiterbild: »Will ich empor klimmen in der Sprachkritik, die das wichtigste Geschäft der denkenden Menschheit ist, so muss ich die Sprache hinter mir und vor mir und in mir vernichten von Schritt zu Schritt, so muss ich jede Sprosse der Leiter zertrümmern, indem ich sie betrete. Wer folgen will, der zimmere die Sprossen wieder, um sie abermals zu zertrümmern« (B1 1-2). Dennoch, wie jede Befreiung, erreicht die sprachkritische Tätigkeit auch ein positives Ergebnis. Sie befreit nämlich von den irreführenden Bildern, und führt die Sprache auf ihr natürliches Funktionieren zurück. Vom die-
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sem Standpunkt aus kann man behaupten, dass Mauthner eine Art Naturalisierung der Kritik der reinen Vernunft unternimmt; auf diese Weise ist er sich aber bewusst, ihre objektive Geltung verloren zu haben: »Nicht eine Kritik der reinen Vernunft kann da helfen, sondern nur die Kritik der Vernunft überhaupt, die Kritik der Sprache. Denn der Mensch hat keine andere Vernunft als seine Sprache. […] Was der Mensch mit übermenschlicher Kraft auch wagen mag, um Wahrheit zu entdecken, er findet immer nur sich selbst, eine menschliche Wahrheit, ein anthropomorphisches Bild der Welt« (B2 479). Aus diesem Grunde kann man nicht von einem Wesen der Sprache bzw. von „der“ Sprache sprechen, weil es in der Tat nur verschiedene Einzelsprachen und soziale sprachliche Phänomene gibt, die tief mit den Lebensformen und mit den menschlichen Gesellschaften verbunden sind. In diesem Sinne ist also eigentlich die Sprache „das Sprachvermögen“, und es ist »ein Unsinn« nach ihrem Ursprung zu fragen, denn »wir müssen eben die Sprache unter die übrigen Tätigkeiten des Menschen rechnen als wie das Gehen, das Atmen« (B1 15). Sprache ist also »Gebrauch« (B1 25), und sie hat keine systematische Natur; vielmehr ist die Sprache »geworden wie eine große Stadt. Kammer an Kammer, Fenster an Fenster, Wohnung an Wohnung, Haus an Haus, Straße an Straße, Viertel an Viertel« (B1 27). Im Grunde ist die Sprache »nur ein Scheinwert wie eine Spielregel, die auch umso zwingender wird, je mehr Mitspieler sich ihr unterwerfen die aber die Wirklichkeitswelt weder ändern noch begreifen will« (B1 25). Nun ist es offensichtlich, wie solche Metaphern in fast derselben Formulierung in den Philosophischen Untersuchungen Wittgensteins auftreten: das Bild der Sprache als Werkzeug ist im §11; das der Sprache als Tätigkeit, wie das Gehen, das Trinken und das Essen, im §25; die These, dass die Bedeutung Gebrauch ist, ist bekanntlich im §43 dargelegt; die Metapher, dass die Sprache wie eine große alte Stadt ist, befindet sich im §18; der Regelbegriff ist überall zentral um den Begriff von Sprachspiel zu verstehen. Diese Bemerkung ist wichtig, denn sie bringt die angenommene Ähnlichkeit zwischen dem „späten“ Wittgenstein und Mauthner ans Licht, und gleichzeitig erklärt sie den Unterschied zwischen Mauthner und dem „jungen“ Wittgenstein. Meines Erachtens gibt es allerdings eine Kontinuität in den Werken Wittgensteins, die, wenn man die Ähnlichkeiten mit Mauthner betont, unterschätzt werden könnte. Um diese Behauptung zu beweisen, scheint die bis jetzt angewandte Methode wieder fruchtbar zu sein. Auch im Falle Wittgensteins ist es näm-
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lich möglich, eine Kantsche Einstellung zu erkennen, obwohl seine Auseinandersetzung mit Kant nur angedeutet und nicht direkt ist. Im Vorwort des Tractatus schreibt er insbesondere, dass »die Fragestellung« der philosophischen Probleme »auf dem Missverständnis der Logik unserer Sprache beruht«, und dass das Buch, um solche Probleme zu vermeiden, »dem Denken eine Grenze zu ziehen« versucht. Und die Grenze kann nur in der Sprache gezogen werden, so dass, »was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein« (TLP Vorwort). Genauso wie bei Mauthner wird auch bei Wittgenstein die Kritik der Sprache gegen eine unvermeidbare Tendenz zum Missverständnis der Sprache geübt; allerdings, im Gegensatz zu Mauthner, handelt es sich für Wittgenstein um ein Missverständnis der Sprachlogik, d.h. der Logik, die so zu sagen als Bedingung der Darstellung der Welt durch die Sprache gilt. Er ist der Meinung, dass im Satz »sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar« ausdrückt (TLP 3.1), und dass der Satz »ein Bild der Wirklichkeit […] ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken«, ist (TLP 4.01). Aber der Satz kann ein solches Bild bzw. Modell der Wirklichkeit sein, denn er »hat mit dem Abgebildeten die logische Form der Abbildung gemein« (TLP 2.2). Die Beziehung zwischen Denken, Sprache und Wirklichkeit ist also bei Wittgenstein, im Gegenteil zu Mauthner, ein echter Isomorphismus: »Wir benützten das sinnlich wahrnehmbare Zeichen […] des Satzes als Projektion der möglichen Sachlage. Die Projektionsmethode ist das Denken des Satz-Sinnes« (TLP 3.11). Aus diesem Grunde ergibt sich die logische Form als das, was gemeinsam zwischen Welt und Sprache ist, d.h. als die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass man durch die Sprache über die Welt sprechen kann. In diesem Sinne behauptet Wittgenstein, dass die Logik »ein Spiegelbild der Welt« ist, dass sie »transzendental« ist (TLP 6.13). Man kann also bemerken, dass, während bei Kant die formale und die transzendentale Logik getrennt sind, bei Wittgenstein der ersten die Funktion der zweiten zugeschrieben wird. Dies heißt natürlich nicht, dass Wittgenstein einfach ein Kantianer ist, denn im Tractatus findet man weder eine Spur von Kategorien und Ich-Denken, noch eine Unterscheidung der Vernunftvermögen usw., sondern dass die Möglichkeit besteht, die Sprachwende als eine Entwicklung des Kantschen Kritizismus zu verstehen. Im Unterschied zu Mauthner wird jedoch in dieser Entwicklung die Reinheit der Vernunft als Reinheit der Logik aufgehoben: »Die Logik muss für sich selber sorgen«, schreibt Wittgenstein im TLP 5.473, und das heißt, dass, »jede Frage, die sich überhaupt durch die Logik entscheiden
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lässt, sich ohne weiteres entscheiden lassen muss«, ohne die Welt an zu sehen (TLP 5.551). Im Tractatus gibt es daher keine Spur einer Psychologie der Erfahrung. Die Logik ist also die Bedingung der Darstellung, und es besteht ein Isomorphismus zwischen Denken, Sprache und Wirklichkeit, der »auf dem Prinzip der Vertretung von Gegenständen durch Zeichen« beruht (TLP 4.0312). Wittgenstein nennt solche Zeichen Namen und behauptet, dass im Satz ein Name »für ein Ding« steht, »ein anderer für ein anderes Ding und untereinander sind sie verbunden, so stellt das Ganze – wie ein lebendes Bild – den Sachverhalt vor« (TLP 4.0311). Es ist gerade solcher Isomorphismus zwischen Denken, Sprache und Wirklichkeit, der bei Wittgenstein die Kritik der Sprache ermöglicht, soweit sie eine Begrenzung im Kantschen Sinne ist, denn »am Satz muss gerade so viel zu unterscheiden sein, als an der Sachlage, die er darstellt« (TLP 4.04), und »es gibt eine und nur eine vollständige Analyse des Satzes« (TLP 3.25). Wittgensteins Sprachkritik verfolgt ein Verständnis der Sprachlogik, d.h. der Bedingung dafür, dass der Satz ein lebendes Bild der Wirklichkeit sein kann. Durch die Untersuchung der logischen Form der Sprache gelangt also die Sprachkritik zu einem Verständnis des logischen Aufbaues der Welt: »Das Wesen des Satzes angeben, heißt, das Wesen aller Beschreibung angeben, also das Wesen der Welt« (TLP 5.4711) Auch für Wittgenstein ist die Aufgabe der Sprachkritik, die Missverständnisse bzw. die Verwechslungen zu vermeiden: »In der Umgangssprache kommt es ungemein häufig vor, dass dasselbe Wort auf verschiedene Art und Weise bezeichnet […], oder, dass zwei Wörter, die auf verschiedene Art und Weise bezeichnen, äußerlich in der gleichen Weise im Satze angewandt werden« (TLP 3.323). Durch solche Prozesse »entstehen leicht die fundamentalsten Verwechslungen (deren die ganze Philosophie voll ist)« (TLP 3.324). Laut der Kritik der Sprache, die in diesem Sinne eine logische Analyse der Sprache ist, muss man eine Zeichensprache verwenden, um solche Verwechslungen und Irrtümern zu entgehen, »die der logischen Grammatik – der logischen Syntax – gehorcht. (Die Begriffschrift Freges und Russells ist eine solche, Sprache, die allerdings noch nicht alle Fehler ausschließt)«, (TLP 3.325). Es kommt eindeutig heraus, wie fern dies von der Perspektive Mauthners ist; aber der Unterschied ergibt sich noch klarer, wenn man den Begriff von Entwicklung betrachtet, der zentral ist, wie oben gezeigt wurde, um den Übergang von der Kantschen Kritik der Vernunft zu der Sprachkri-
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tik im Sinne Mauthners zu verstehen. Wittgenstein ist sich der Komplexität und Verschiedenheit der Umgangssprache zwar bewusst, die er als »ein Teil des menschlichen Organismus und nicht weniger kompliziert als dieser« beschreibt. Dennoch heißt das für ihn, dass es »menschenunmöglich« ist, die Sprachlogik aus der Sprache unmittelbar zu entnehmen. Wittgenstein meint nämlich: »Die Sprache, verkleidet den Gedanken. Und zwar so, dass man nach der äußeren Form des Kleides nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann; weil die äußere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach, die Form des Körpers erkennen zu lassen. Die stillschweigenden Abmachungen zum Verständnis der Umgangssprache sind enorm kompliziert« (TLP 4.002). Nicht an der Entwicklung ist daher Wittgenstein interessiert, sondern an deren logischen Bedingung. Ähnlich, wie bei Mauthner, mündet auch bei ihm die Sprachkritik ins Problem der Selbstreferenz, da sie selber Sprache ist. Und wenn er sich dessen bewusst wird, benutzt er auch die Metapher der Leiter, die wahrscheinlich von Mauthner inspiriert wurde: wer ihn versteht, erkennt nämlich am Ende seine Sätze als »unsinnig«, »wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist)« (TLP 6.54). Dieser vorletzte Satz des Tractatus ist bekanntlich schwer zu interpretieren. Hier möchte ich nur bemerken, dass er im Unterschied zu Mauthner keine skeptische Geltung hat, weil Wittgenstein der Meinung ist, dass der Skeptizismus »offenbar unsinnig« ist, »wenn er bezweifeln will, wo nicht gefragt werden kann« (TLP 6.51). Jedoch ist es nicht klar, ob Wittgenstein sich auf all die Sätze des Tractatus bezieht, oder nur auf die über das Ethische und das Mystische; außerdem ist zu bemerken (vgl. Conant 2000, 198), dass er nicht die Sätze sondern deren Verfasser (»der, welcher mich versteht…«) zu verstehen ermahnt; endlich führt er ein, dass, wenn der Leser seine Sätze überwunden hat, »dann sieht er die Welt richtig«. Hier ist es freilich nicht möglich, dieses Problem zu betrachten. Ich möchte mich nur darauf beschränken, dass, obwohl Wittgenstein und Mauthner von ganz verschiedenen Perspektiven die Sprache und die Sprachkritik betrachten, beide zum Problem der Selbstreferenz kommen. Und ich finde es philosophisch merkwürdig zu betonen, dass dieses Pro-
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blem schon bei Kant vorkommt, soweit die Vernunft »sich selbst zu Gericht sitzt«. Der Unterschied zu Mauthner besteht aber in den Voraussetzungen, die Wittgenstein zu diesem Schluss bringen, und in den Ergebnissen seiner Sprachkritik. Aus dem letzten Teil des Satzes 6.54 ergibt sich nämlich klar, dass Wittgensteins Sprachkritik darauf zielt, dem Leser ein korrektes Weltbild mitzuteilen. Anders gesagt, zwar ist die Logik die Bedingung der Sprache, aber es gibt noch eine tiefere Bedingung, die man zum Verständnis der Logik braucht, nämlich »die „Erfahrung“ […] dass etwas ist«. Das ist jedoch »eben keine Erfahrung« (TLP 5.552), und deswegen kann sie nicht von der Sprache dargestellt werden, sondern nur in der Sprache oder durch die Sprache gezeigt. Es handelt sich also eigentlich nicht um eine Erfahrung, sondern um ein „mystisches Gefühl“, »das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes« (TLP 6.45). Die Tore des Dings an sich, könnte man also sagen, öffnen sich nicht der Vernunft, sondern dem Gefühl. Wenn man nun die Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der Sprachkritik Wittgensteins legt, dann muss man bemerken, dass er in einer Notiz von 1930, d.h. gerade am Anfang der sogenannten zweiten Phase seiner Philosophie, die Metapher der Leiter wieder benutzt, allerdings in einem ganz anderen Sinne als im Tractatus: »Ich könnte sagen: Wenn der Ort zu dem ich gelangen will nur auf einer Leiter zu ersteigen wäre, ich gäbe es auf dahin zu gelangen. Denn dort wo ich wirklich hin muss, dort muss ich eigentlich schon sein. Was auf einer Leiter erreichbar ist, interessiert mich nicht« (6.11.1930; MS 109, 207-208). Wenn man diesen Satz in direkter Verbindung mit dem vorletzten Satz des Tractatus liest, dann scheint es, dass Wittgenstein eben auf das korrekte Weltbild als letztes Ergebnis der Sprachkritik verzichtet. Gegen diesen Eindruck spricht allerdings, dass er präzisiert »dort wo ich wirklich hin muss, dort muss ich eigentlich schon sein«, was meines Erachtens bedeutet, dass das Problem nicht im Ziel sondern in der Methode der Untersuchung liegt. Anders gesagt, die Welt als begrenztes Ganzes zu sehen, ist nicht das Ergebnis der Sprachkritik, sondern ihr Hintergrund. Darin besteht nun die Kontinuität zwischen dem Tractatus und den Philosophischen Untersuchungen, die, wenn man nur auf den Ähnlichkeiten mit Mauthner besteht, nicht klar ans Licht gebracht werden kann. Zuerst möchte ich allerdings noch die Elemente der Diskontinuität betrachten, die oben zum Teil schon erwähnt worden sind und die These der
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Ähnlichkeit mit Mauthner stützen. Der wichtigste Unterschied ist, dass Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen die Idee ablehnt, dass das Ziel der Sprachkritik die Erklärung des logischen Wesens der Sprache ist. Wenn man nach dem Wesen des Satzes, der Sprache oder des Denkens fragt, dann sucht man nicht etwas, »was schon offen zutage liegt und was durch Ordnen übersichtlich wird. Sondern etwas, was unter der Oberfläche liegt. Etwas, was im Innern liegt, was wir sehen, wenn wir die Sache durchschauen, und was eine Analyse hervor graben soll« (PU §92). Der aus dieser Bemerkung zu ziehende Schluss ist wohl der, dass auch Wittgenstein wie Mauthner den Übergang von der Kritik der reinen Vernunft zu der Kritik der Vernunft überhaupt durch die Sprache tut. Er bemerkt nämlich, dass man in der Perspektive des Tractatus von der Idee geleitet wird, »das Denken ist mit einem Nimbus umgeben. – Sein Wesen, die Logik, stellt eine Ordnung dar, und zwar die Ordnung a priori der Welt, d.i. die Ordnung der Möglichkeiten, die Welt und Denken gemeinsam sein muss. Diese Ordnung aber, scheint es, muss höchst einfach sein. Sie ist vor aller Erfahrung; muss sich durch die ganze Erfahrung hindurch ziehen; ihr selbst darf keine erfahrungsmäßige Trübe oder Unsicherheit anhaften. – Sie muss vielmehr vom reinsten Kristall sein« (PU §97). Eine genauere Betrachtung der tatsächlichen Sprache zeigt aber laut Wittgenstein, dass die Kristallreinheit der Logik sich uns »ja nicht ergeben« hatte, »sondern sie war eine Forderung« (PU §107). Das Ideal solcher Reinheit ist wie eine »Brille auf unsrer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie« (PU §103). Anders gesagt, »man prädiziert von der Sache, was in der Darstellungsweise liegt« (PU §104). Der Hinweis ist natürlich auf die Auffassung des Tractatus, und insbesondere auf die Suche nach der allgemeinen Form des Satzes bezogen. In solcher Suche, schreibt Wittgenstein, glaubt man »wieder und wieder der Natur nachzufahren, und fährt nur der Form entlang, durch die wir sie betrachten« (PU §114). Das Problem ist also folgendes: »Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen« (PU §115). Hier liegt meines Erachtens die echte Ähnlichkeit mit Mauthner: genauso wie im Tractatus auch in den Philosophischen Untersuchungen beruht die
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Fragestellung der philosophischen Probleme auf der Sprache; aber es ist nicht mehr so, dass der ordentliche Gebrauch der Sprache ein vermutliches logisches Wesen verbirgt, sondern dass man in der Philosophie von der Sprache irregeführt wird, da man gewisse Bilder, die ihren Ursprung in der Sprache selbst haben, in die Wirklichkeit projiziert, statt die Sprache wirklich zu verstehen. In dieser Hinsicht ist die Philosophie, als Kritik der Sprache, »ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache« (PU §109). Die philosophische Probleme sind nämlich »keine empirischen, sondern sie werden durch eine Einsicht in das Arbeiten unserer Sprache gelöst, und zwar so, dass dieses erkannt wird: entgegen einem Trieb, es mißzuverstehen« (PU §109). Sie entstehen »durch ein Missdeuten unserer Sprachformen«, aber sie haben »den Charakter der Tiefe«, da sie »tiefe Beunruhigungen« sind, denn »sie wurzeln so tief in uns wie die Formen unserer Sprache« (PU §111). Ein bedeutsames Beispiel hierfür ist das sogenannte Augustinische Bild der Sprache im §1 der Philosophischen Untersuchungen, das Wittgenstein durch ein Zitat aus der Confessiones des Augustinus darstellt1. Es handelt sich um ein Bild der Sprache, die sehr ähnlich zu Mauthners substantivischem Bild ist, da sie ein Bild »von dem Wesen der menschlichen Sprache« ist, nach dem die Wörter »Gegenstände« benennen, und die Sätze »Verbindungen von solchen Benennungen« sind. In diesem Bild, bemerkt nun Wittgenstein, »finden wir die Wurzeln der Idee: Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht« (PU §1). Gerade von so einem Bild wurde Wittgenstein im Tractatus gefangen gehalten (vgl. PU §23). Dieses Bild der Sprache ist irreführend, denn es bringt die Funktion der Sprache auf die Benennung zurück, ohne zu beachten, wie verschieden die Möglichkeiten des Sprachgebrauchs sind. Wer die Sprache im Lichte dieses Bildes beschreibt, denkt laut Wittgenstein »zunächst an Hauptwörter, wie „Tisch“, „Stuhl“, „Brot“, und die Namen von Personen, erst in zweiter Linie an die Namen gewisser Tätigkeiten und Eigenschaften, und an die übrigen Wortarten als etwas, was sich finden wird« (PU §1). 1
Es ist bekannt, dass Wittgenstein sich nicht auf Augustinus Auffassung der Sprache bezieht (die man nicht in den Confessiones, sondern im De magistro und im De doctrina christiana tiefer und genauer finden kann), vielmehr benutzt er die Erinnerung Augustinus als Beispiel, um das Bild des Tractatus zu kritisieren.
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Diese Auffassung, die Wittgenstein als »seltsame« qualifiziert, »rührt von einer Tendenz her, die Logik unserer Sprache zu sublimieren« (PU §38). Dagegen muss man erkennen, »dass, was wir „Satz“, „Sprache“, nennen, nicht die formelle Einheit ist, die ich mir vorstellte, sondern die Familie mehr oder weniger miteinander verwandter Gebilde«. Daher, fragt sich Wittgenstein: »Was aber wird nun aus der Logik?«. Auf die Frage kann man jedoch keine Antwort geben, weil »das Vorurteil der Kristallreinheit […] nur so beseitigt werden [kann], dass wir unsere ganze Betrachtung drehen« (PU §108), d.h. nur wenn man die Methode der Untersuchung ändert. Aus diesem Grund handelt es sich nicht mehr um eine Untersuchung nach dem Wesen der Sprache oder nach deren reinen logischen Form. Das Bedürfnis einer solchen Untersuchung entsteht nämlich, weil man von einem irreführenden Bild, das in den Formen der Sprache selber wurzelt, gefangen gehalten wird. In einer Notiz von 1931 schreibt Wittgenstein: »Man hört immer wieder die Bemerkung, dass die Philosophie eigentlich keinen Fortschritt mache, dass die gleichen philosophischen Probleme, die schon die Griechen beschäftigten, uns noch beschäftigen«. Der Grund dafür ist jedoch, »dass unsere Sprache sich gleich geblieben ist und uns immer wieder zu denselben Fragen verführt. Solange es ein Verbum „sein“ geben wird, das zu funktionieren scheint wie „essen“ und „trinken“, solange es Adjektive „identisch“, „wahr“, „falsch“, „möglich“ geben wird, solange von einem Fluss der Zeit und von einer Ausdehnung des Raumes die Rede sein wird, usw., usw., solange werden die Menschen immer wieder an die gleichen rätselhaften Schwierigkeiten stoßen, und auf etwas starren, was keine Erklärung scheint wegheben zu können« (24.08.1931; MS 111, 133-134). Die philosophischen Probleme entstehen also durch eine Art magischen Einfluss oder magischer Stärke der Sprachformen auf unseren Verstand. Es ist eben eine Verführung, aber eine sehr tiefe und gefährliche, denn »sie befriedigt im Übrigen ein Verlangen nach dem Überirdischen (Transzendenten) denn, indem [die Menschen] die „Grenze des menschlichen Verstandes“ zu sehen glauben, glauben sie natürlich, über ihn hinaus sehen zu können« (24.08.1931; MS 111, 133-134). Wenn man nun wieder die oben erwähnte Interpretation Elisabeth Leinfellners betrachtet, dann kann man behaupten, dass laut Wittgenstein die Philosophie gegen eine Tendenz zur Substantivierung oder zur Verdinglichung ankämpft, weil durch sie ein falsches Bild der Sprache verur-
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sacht wird. Diese Idee findet man schon in einer bekannten Passage des Blue Book eindeutig geäußert: »Die Fragen „Was ist Länge?“, „Was ist Bedeutung?“, „Was ist die Zahl eins?“ etc. verursachen uns einen geistigen Krampf. Wir spüren, dass wir auf nichts zeigen können, um sie zu beantworten, und dass wir gleichwohl auf etwas zeigen wollen. (Wir haben es hier mit einer der großen Quellen philosophischer Verwirrung zu tun: ein Substantiv lässt uns nach einem Ding suchen, das ihm entspricht)« (BlB 15). Wie schon gesagt wurde, ist es klar, dass es sich um einen Vorgang handelt, der sehr ähnlich zu dem ist, welcher laut Mauthner von dem substantivischen Bild der Welt hergestellt wird. Wenn man diese Ähnlichkeit bestätigt, muss man jedoch auch bemerken, dass zwischen diesen beiden Auffassungen ein tiefer Unterschied besteht, weil bei Wittgenstein die Kritik der Sprache nie in einen Skeptizismus mündet. Hier, meines Erachtens, kommt man zum Schwerpunkt der Beziehung zwischen Mauthner und Wittgenstein. Der Übergang von der Kritik der Vernunft zu der Kritik der Sprache, auch im Sinne der unreinen Sprache der Sprachspiele, ist bei Wittgenstein von keiner skeptischen Natur. Auch in den Philosophischen Untersuchungen, wie im Tractatus, findet man außerdem keinen Hinweis auf die Erfahrung oder auf die Sinnendaten.2 Wenn Wittgenstein behauptet, dass die Aufgabe der Kritik ist, »die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück« zu führen (PU §116), sollte man auch bedenken, dass sich »eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen« (PU §19), und dass das Sprechen der Sprache »ein Teil […] einer Tätigkeit, oder einer Lebensform« ist (PU §23). Zwar heißt das, dass Wittgenstein das Augustinische oder substantivische Bild ablehnt, weil es keine natürliche Beziehung zwischen Wörtern und Welt gibt, so dass der Sprachgebrauch irgendwie konventionell ist (vgl. PU §355); dennoch hat eine solche Auffassung keine skeptische oder relativistische Kennzeichnung, wie es sich eindeutig aus folgender Passage ergibt: »„So sagst du also, dass die Übereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und was falsch ist?“ – Richtig und falsch ist, was Men2
Diesbezüglich ist es zu bemerken, dass Wittgenstein zwischen 1929 und 1930 einen Versuch machte, die Beziehung zwischen Sprache und Welt durch eine phänomenologische Analyse der Erfahrung zu erklären. Hier kann man dieses Problem nur erwähnen, zumal es sich nur um einen Versuch handelt, der bald zugunsten des Begriffs von Sprachspiel fallen gelassen wurde.
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schen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform« (PU §241). Die Beziehung zwischen Sprache und Welt ist daher nicht, oder nicht immer, eine Darstellung. Sie ist zwar konventionell, jedoch heißt es gar nicht, dass Wörter einfach flatus vocis sind. In diesem Bezug hat Elisabeth Leinfellner darauf aufmerksam gemacht, dass Wittgenstein klarerweise gegen ein solches Ergebnis der Sprachkritik war, und, um das zu beweisen, betont sie folgenden Paragraph: »Wir analysieren nicht ein Phänomen (z.B. das Denken), sondern einen Begriff (z.B. den des Denkens), und also die Anwendung eines Worts. So kann es scheinen, als wäre, was wir treiben, Nominalismus. Nominalisten machen den Fehler, dass sie alle Wörter als Namen deuten, also ihre Verwendung nicht wirklich beschreiben, sondern sozusagen nur eine papierene Anweisung auf so eine Beschreibung geben« (PU §383). Mit Recht also bezeichnet Leinfellner Wittgensteins Nominalismus als operativ (Leinfellner 1969, 211), denn die Bedeutung eines Wortes hängt von den Regeln ab, welche jedes Sprachspiel kennzeichnen. Im selben Text meint jedoch Leinfellner, dass Wittgenstein, soweit er Sprache und Denken miteinander gleich stellt (vgl. PU §329, 501), einen »radikalen Nominalismus« vertritt (Leinfellner 1969, 217). Operativer Nominalismus und radikaler Nominalismus sind jedoch eindeutig nicht dasselbe; im Lichte der obigen Zitate bin ich der Meinung, dass Wittgenstein kein radikaler Nominalist ist, weil auf keinen Fall bei ihm die Kritik der Sprache heißt, dass man nur von flatus vocis spricht. Es scheint mir, dass Wittgenstein sich sehr klar darüber ist: »Nicht, was Vorstellungen sind, oder was da geschieht, wenn man sich etwas vorstellt, muss man fragen, sondern: wie das Wort „Vorstellung“ gebraucht wird. Das heißt aber nicht, dass ich nur von Worten reden will. Denn soweit in meiner Frage vom Wort „Vorstellung“ die Rede ist, ist sie’s auch in der Frage nach dem Wesen der Vorstellung« (PU §370). Der Unterschied zu Mauthner zeigt sich noch deutlicher, wenn man wieder zum Thema des Übergangs von der Kritik der Vernunft, durch die Kritik der Sprache zur Analyse der Sprache kommt. Auch in den Philosophischen Untersuchungen scheint nämlich Wittgenstein eine transzendentale Einstellung zur Sprache zu haben, weil die Analyse der Sprachformen nicht
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einfach eine Beschreibung des Sprachgebrauchs ist. Wittgenstein schreibt nämlich: »Es ist uns, als müssten wir die Erscheinungen durchschauen: unsere Untersuchung aber richtet sich nicht auf die Erscheinungen, sondern, wie man sagen könnte, auf die „Möglichkeiten“ der Erscheinungen. Wir besinnen uns, heißt das, auf die Art der Aussagen, die wir über die Erscheinungen machen« (PU §90). Und solche Betrachtung räumen Missverständnisse aus, die den Gebrauch von Worten betreffen. Hier findet man den Übergang zur Analyse der Sprache, die eindeutig nicht einfach eine Kritik im Sinne Mauthners ist. Manche von diesen Missverständnissen »lassen sich beseitigen, indem man eine Ausdrucksform durch eine andere ersetzt; dies kann man ein „Analysieren“ unsrer Ausdrucksformen nennen, denn der Vorgang hat manchmal Ähnlichkeit mit einem Zerlegen« (PU §90). Zum Schluss möchte ich noch einmal betonen, dass die Analyse der Sprache nicht nur eine Beschreibung des Sprachgebrauchs sein kann, sondern sie zielt auf ein Verständnis von Erscheinungen und Vorgängen ab, die eng mit dem Leben des Menschen verbunden sind. Man spricht also nicht nur von Worten. Hier liegt meines Erachtens auch der Grund dafür, dass Wittgenstein die Metapher der Leiter nicht im Sinne Mauthner anwendet. Die ursprüngliche Beziehung zwischen Sprache und Welt, obwohl sie ein nicht beschreibbarer und nicht sagbarer Hintergrund der Untersuchung bleibt, ergibt sich jedoch nicht am Ende der Leiter bzw. als Ergebnis der Untersuchung selber, sondern als derer unvermeidbare Grund (durch das Gefühl der Welt „als begrenztes Ganzes“ im Tractatus, und durch den Begriff von Lebensform in den Philosophischen Untersuchungen). Die Bedeutung eines Wortes ist also nicht einfach die Darstellung eines Gegenstandes, aber nicht einmal ein konventionelles flatus vocis. Es handelt sich um etwas, was tief mit den konkreten Lebensformen verbunden ist, so dass auf einem gewissen Punkt die Analyse selbst bestehen muss: »Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: „So handle ich eben“« (PU §217).
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„Für das Leben in der Gegenwart gibt es keinen Tod“ – Wittgenstein über Zeit und Ewigkeit Ilse Somavilla Am 8.7.1916 schreibt Wittgenstein: „Nur wer nicht in der Zeit sondern in der Gegenwart lebt ist glücklich. Für das Leben in der Gegenwart gibt es keinen Tod.“ (MS 106, 18r) Abgesehen von der hier zur Diskussion stehenden philosophischen Relevanz kann Wittgensteins Eintragung auch aus existentieller Sicht gesehen werden – aus der Grenzsituation des Ersten Weltkriegs, in der Begriffe wie Leben, Tod und damit verbunden Zeit und Ewigkeit von besonderer Bedeutung für ihn waren. Doch auch in späteren Jahren setzte er sich, wie viele Andere, immer wieder mit der Problematik von Zeit auseinander. Die Art seiner Auseinandersetzung – mit Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft und Ewigkeit – änderte sich jedoch im Laufe seiner philosophischen Tätigkeit, d.h. es ist in dieser Hinsicht wie in manch anderer zwischen dem Verfasser des Tractatus (und der Tagebücher 1914-1916) und dem Autor der späteren Schriften zu unterscheiden. Darüber hinaus sind Wittgensteins Aufzeichnungen über das Problem der Zeit auf zwei Ebenen zu untersuchen – in Hinblick auf die „Welt der Tatsachen“ bzw. aus analytischer Sicht und in Hinblick auf die „Welt außerhalb der Tatsachen“ bzw. im metaphysischen Sinn gesehen. Beide Ebenen sind hinsichtlich des Phänomens der Zeit im Grunde nicht zu trennen, sondern fließen ineinander über. Der Unterschied liegt nur in der Betrachtungsweise und in den damit verbundenen Annahmen und Erklärungsversuchen. Der „Welt der Tatsachen“, unter der Wittgenstein bekanntlich den Bereich des klar Sagbaren und wissenschaftlich Erklärbaren verstand, begegnete er als rationaler Denker und versuchte, sich mit den Problemen auf analytische Weise auseinanderzusetzen. Dem Bereich außerhalb der Welt der Tatsachen – dem Bereich des Nicht-Fassbaren, nicht rational Erklärbaren – näherte er sich in einer teils mystischen, teils ethisch-religiösen Haltung, wobei er sich von detaillierten Erklärungsversuchen distanzierte. Während er in früheren Jahren sich mit Zeit auf metaphysischer Ebene auseinandersetzt, kommt er in späteren Jahren zu einer kritischen Untersu-
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chung des Zeitbegriffs, wie er im alltäglichen Leben verwendet wird. Dabei stellt er irreführende Metaphern fest, wie z.B. „die Gegenwart schwindet in die Vergangenheit“ oder das Gleichnis vom „Fließen der Zeit“ – Redewendungen, die uns im gewöhnlichen Sprachgebrauch geläufig und vom sogenannten „common sense“ als etwas Selbstverständliches angenommen, verstanden und im alltäglichen Leben verwendet werden, insofern korrekt sind, aus philosophischer Sicht jedoch angezweifelt und hinterfragt werden müssen. Denn Zeit „fließt“ nicht durch den Raum wie ein Fluss durch die Landschaft, noch kann man von einem „Entschwinden“ oder „Vergehen“ der Zeit sprechen. Zeit erweist sich vielmehr als etwas letztlich nicht Fassbares, nicht Erklär- und Definierbares – als etwas, das Philosophen vor unlösbare Probleme stellt. In seinen Reflexionen über die Probleme der Phänomenologie hinsichtlich der Beschreibung eines gegenwärtigen Phänomens kommt Wittgenstein zu dem Schluss: Was wir die Zeit im Phänomen (specious present) nennen können liegt nicht in der Zeit (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) der Geschichte, ist keine Strecke dieser Zeit. Während der Vorgang der „Sprache“ in der homogenen Geschichtlichen Zeit abläuft. (Denke an den Mechanismus zur Beschreibung der unmittelbaren Wahrnehmung.) (MS 113, 123v) Wittgenstein fragt sich, von welcher Wichtigkeit denn diese Beschreibung des gegenwärtigen Phänomens sei, die für uns gleichsam zur fixen Idee werden kann. Dass wir „darunter leiden dass die Beschreibung nicht das leisten kann, was beim Lesen der Beschreibung vor sich geht.“ (ebenda) Es scheint als wäre die Beschäftigung mit dieser Frage geradezu kindisch und wir in eine Sackgasse hineingeraten. Und doch ist es eine bedeutungsvolle Sackgasse, denn in sie lockt es alle zu gehen, als wäre dort die letzte Lösung der philosophischen Probleme zu suchen. – Es ist als käme man mit dieser Darstellung des gegenwärtigen Phänomens in einen verzauberten Sumpf, wo alles Erfassbare verschwindet. (ebenda) Man könnte zahlreiche Vergleiche mit anderen Philosophen anführen, die in dem Versuch, das Phänomen der Zeit zu fassen, an die Grenzen philosophischer Erklärung stießen, in dieselbe Sackgasse, in den selben Sumpf gerieten (um mit Wittgenstein zu sprechen). So stellt Aristoteles die Frage, ob Zeit zum Seienden oder vielmehr zum Nichtseienden gehöre, da das eine Teilstück vorübergegangen und soweit nicht mehr ist, das andere Teilstück noch bevorstehe und soweit
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noch nicht ist. Weiters sei es nicht leicht zu sehen, ob das Jetzt, welches augenscheinlich Vergangenes und Zukünftiges trennt, die ganze Zeit hindurch immer ein und dasselbe sei oder immer wieder ein anderes werde. Auch die Bestimmung von Zeit als eine Art Bewegung sei problematisch, da Bewegung und Wandel eines jeden Gegenstandes an dem SichWandelnden stattfinden oder dort, wo das in Bewegung Befindliche gerade ist; die Zeit dagegen sei in gleicher Weise sowohl überall als auch bei allen Dingen.1 Das Wesen der Zeit bleibe also unklar, so Aristoteles, doch ist der Zeitbegriff für ihn untrennbar mit Veränderungen verbunden. Obwohl Zeit selbst keine Bewegung ist, so ist sie das Maß jeder Bewegung: „Wir messen nicht nur die Bewegung mittels der Zeit, sondern auch mittels der Bewegung die Zeit und können dies, weil sich beide wechselseitig bestimmen.“2 In seiner umfassenden Auseinandersetzung mit Zeit unterscheidet Augustinus zwischen Zeit und Ewigkeit, wobei er bei Ewigkeit zwei Begriffe nennt: „unendliche Dauer” als quanitative Zeit und „Unzeitigkeit” als qualitative Zeit. Nur der qualitative Zeitbegriff bedeutet ein sinnvolles Leben, ist also, wie wir noch sehen werden, dem glücklichen Leben in der Gegenwart bei Wittgenstein zu vergleichen. Abgesehen von den zwei Ewigkeitsbegriffen weist Augustinus auf die Problematik einer Unterteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hin. Da die Vergangenheit nicht mehr und die Zukunft noch nicht ist, seien beide nicht, somit existiere nur die Gegenwart als Augenblick des Umschwungs von Vergangenheit in Zukunft. Die Unterscheidung in drei Zeiten sieht Augustinus als sprachliche Verirrung; seiner Ansicht nach müsste man vielmehr die Gegenwart in drei Teile aufteilen und zwar in die vergegenwärtigte Vergangenheit in Form der Erinnerung, in die vergegenwärtigte Zukunft in Form der Voraussicht und in die Gegenwart als solche. Die Zeit könne nur existieren, wenn man Vergangenheit und Zukunft im gegenwärtigen Bewusstsein hat. Trotz aller Überlegungen bleibt auch für Augustinus Zeit ein Rätsel: „Was also ist Zeit? Wenn mich niemand fragt, weiß ich es, soll ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.”3 Trotz Gemeinsamkeiten in der Unlösbarkeit des Phänomens Zeit unter den Philosophen gibt es Unterschiede – sowohl in der philosophischen Erörterung als auch in der Konsequenz des Scheiterns. Dies betrifft auch die 1
Vgl. Aristoteles, Physik, IV, 101-14. Physik, IV, 12, 220b 14-16. 3 Augustinus: Confessiones. 11. Buch, 397-400. 2
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Veränderung des Zugangs und der Art der Darstellung jedes einzelnen Philosophen, so auch Wittgensteins, wie eingangs erwähnt. Was jedoch Wittgensteins innere Haltung gegenüber Zeit, im genaueren gegenüber dem Leben in der Gegenwart – in Hinblick auf die Ewigkeit bzw. aus metaphysischer Sicht – betrifft, so geht aus seinen frühen und späteren Aufzeichnungen im wesentlichen eine Art Übereinstimmung hervor. Dies betrifft meines Erachtens neben dem Bewusstsein der Unfassbarkeit des Phänomens Zeit das sogenannte „glückliche Leben“ in der Gegenwart, wie er es in den Tagebüchern 1914-1916 definiert, und das „Aspektsehen“, womit er sich später in den Philosophischen Untersuchungen auseinandersetzt. Meine Absicht ist es, das „Verbindende“ in Wittgensteins früheren und späteren Schriften hinsichtlich der Problematik von Zeit und Gegenwart zu untersuchen. Das heißt, der Frage nachzugehen, wie der Gedanke des „Lebens in der Gegenwart“ (und damit in der Ewigkeit) auf das Aspektsehen in den Philosophischen Untersuchungen anwendbar ist, wie er sich dort zeigt, ohne dass über den Zeitbegriff selbst diskutiert wird. Es geht mir nicht darum, hinsichtlich der Thematisierung von Zeit eine Parallele zwischen den Tagebüchern und den Philosophischen Untersuchungen zu ziehen, sondern nachzuspüren, inwieweit Wittgensteins Auffassung von einem Leben in der Gegenwart auch später noch zum Ausdruck kommt, welche Bedeutung dieses Leben in der Gegenwart für ihn hatte – im Leben wie im Philosophieren. Anders ausgedrückt: wie ist der zu Beginn dieses Beitrags zitierte Satz aus Wittgensteins frühen Tagebüchern mit seinen späteren philosophischen Aufzeichnungen zu vergleichen? Hat dieser Satz später noch seine Gültigkeit in Wittgensteins Einstellung gegenüber Zeit und Gegenwart? Gibt es in dieser Hinsicht grundlegende Gemeinsamkeiten?
I. Wittgensteins Tagebücher 1914-1916 und der Tractatus Das von Wittgenstein angesprochene „glückliche Leben in der Gegenwart“, das in Harmonie mit der Welt besteht, zeigt unverkennbare Parallelen zu Schopenhauer: in dessen Darstellung des „reinen Subjekts des Erkennens“, das sich durch Enthebung über Irdisches und damit über Raum und Zeit dem Augenblick hingibt – sei es in der ästhetischen Kontemplation oder in der Askese. Entscheidend für das Glücklichsein ist dabei nicht nur die Transzendierung von Zeit und Raum, sondern die Hinwendung zum Geistigen: bei
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Schopenhauer das Vorherrschen des Intellekts über den triebbetonten, nach Erfüllung seiner Wünsche strebenden, blinden Willen, bei Wittgenstein das Leben im Geist, befreit vom „Fleisch“, wie er es sich nach der Lektüre von Tolstois Schrift Kurze Darlegung des Evangelium immer wieder vorsagt und in seinem persönlichen, codierten Tagebuch notiert, gleichsam als Stärkung, um in dem Grauen des Krieges auszuharren, sowie als anzustrebendes Ziel in moralischer Hinsicht im persönlichen Leben. Es ist das Leben der Erkenntnis, das auf die Annehmlichkeiten der Welt verzichten kann, die nur als „Gnaden des Schicksals“ empfunden werden (vgl. TB, 13.8.16). Die Frage, warum man glücklich leben solle, betrachtet Wittgenstein als eine tautologische Fragestellung; das glückliche Leben rechtfertige sich von selbst, da es das einzig richtige Leben sei (vgl. TB, 30.7.16). Derjenige, der nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, lebt in der Ewigkeit, so Wittgenstein – vorausgesetzt, dass man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht (TLP, 6.4311), wobei die Parallele zu Augustinus erkennbar ist. Der Glückliche hat auch keine Angst vor dem Tode, da er anstatt in der Zeit im Ewigen lebt. Er kennt weder Furcht noch Hoffnung, da diese sich auf die Zukunft beziehen, der Glückliche aber nur im Gegenwärtigen lebt, konzentriert auf den Augenblick, offen für die vielfältigen Aspekte der ihn unmittelbar umgebenden Dinge – die „durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit“ verborgen sind und von den meisten Menschen übersehen werden, wie es später in den Philosophischen Untersuchungen heißt (PU, § 129). Er lebt in Übereinstimmung mit der Welt und jenem „fremden Willen“, von dem er abhängig erscheint (TB, 8.7.16). Das Merkmal des glücklichen Lebens könne kein physisches, sondern nur ein metaphysisches, ein transzendentes sein, schreibt Wittgenstein und unmittelbar danach, dass die Ethik transcendent sei (TB, 30.7.16). Das Gemeinsame zwischen Ethik und Ästhetik (TLP, 6.421: „Ethik und Ästhetik sind Eins“) findet zudem in dem Satz „Die Welt und das Leben sind Eins“ (TLP, 5.621) eine Entsprechung und verweist damit auf seine Notizen über das glückliche Leben, das in Harmonie bzw. Übereinstimmung mit der Welt besteht. Wittgensteins Reflexionen über das glückliche Leben werden in den Tagebüchern immer wieder in Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit ethischen Fragen thematisiert. Das glückliche Leben ist das gute Leben, ein ethisches Leben, ein Leben der Erkenntnis – der „Not der Welt zum Trotz“ (TB, 13.8.16). In Anlehnung an Dostojewski meint er, dass derjenige, der glücklich ist, den Zweck des Daseins erfülle (TB, 6.7.16), da er keinen Zweck außer dem Leben mehr brauche. Darun-
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ter ist das ethisch gute Leben zu verstehen, das sich vom schlechten und unglücklichen Leben grundlegend unterscheidet, wie es Wittgenstein im Tractatus auf einen Punkt bringt: „Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen“ (TLP, 6.43). Nicht-wollen bedeutet ein glückliches Leben, da nur durch das wollende Subjekt Gut und Böse in die Welt eintritt. Dieser, wie bei Schopenhauer wunschlosen, nur auf das Geistige bezogenen Haltung, ist Raum und Zeit entzogen. Im Hang zur Enthebung über Leid und Triebhaftigkeit durch die Befreiung von Wünschen und Hinwendung zum Geistigen, in der Erkenntnis des wahren Seins durch das Überschreiten von Raum und Zeit, in der Ausrichtung auf den Bereich „außerhalb der Welt der Tatsachen“, auf das Ewige, sind (abgesehen von Schopenhauer) auch Parallelen mit Spinoza unübersehbar. In seiner Anlehnung an Spinozas Betrachtung „sub specie aeternitatis“ ist Wittgenstein vermutlich von Schopenhauer inspiriert worden, der sich in seiner Darstellung der ästhetischen Kontemplation ausdrücklich auf Spinoza beruft.4 Das daraus resultierende glückliche Leben birgt insofern noch den Aspekt der Freiheit: Freiheit zum einen durch Loslösung von Triebhaftigkeit bzw. von den Affekten (Spinoza), Freiheit aber auch dadurch, dass man das Schicksal wie alle Geschehnisse in der Natur als notwendig akzeptiert und dabei zu einer gelassenen Haltung dem persönlichen Leben wie dem Weltgeschehen an sich gegenüber gelangt. Dies schließt die Furchtlosigkeit vor dem Tode mit ein, der dem Leben erst seine eigentliche Bedeutung verleiht. Am 4.5.1916, ungefähr zwei Monate vor seiner Auseinandersetzung mit dem Leben in der Gegenwart in den philosophischen Aufzeichnungen, schreibt Wittgenstein im verschlüsselten Teil der Kriegstagebücher: „[…] Dann wird für mich erst der krieg anfangen. Und kann sein – auch das leben! Vielleicht bringt mir die Nähe des todes das licht des lebens! […]“ Und ein paar Tage später notiert er, dass der Tod dem Leben erst seine Bedeutung gebe (9.5.16). Auch aus den verschlüsselten Tagebucheintragungen geht deutlich hervor, dass Wittgenstein unter einem Leben in der Gegenwart ein Leben im Geiste versteht – enthoben dem Sinnlichen, gelassen gegenüber dem irdischen Leben (vgl. u.a. MS 101, 12.10.14): Diese an das reine Subjekt des Erkennens anmutende Haltung, wie sie Schopenhauer beschreibt, ist bei Wittgenstein zu dieser Zeit, wie erwähnt, wohl unter dem Einfluss von 4
Vgl. Arthur Schopenhauer, WWV I, Erster Teilband, S. 232.
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Tolstoi zu sehen, der auf die Wichtigkeit eines Lebens im Geiste hinweist, das im Gegensatz zu einem „Leben in Sinnlichkeit“ als gutes und glückliches Leben geschildert wird. Da Wittgenstein jedoch gerade in der Kriegszeit Gefühle wie Furcht, Hoffnung, Todesangst und dergleichen nicht immer abwehren konnte und somit in Raum und Zeit lebte, schreibt er in einer Art Selbstanklage in sein Tagebuch: „…es gibt zeiten wo ich nicht blos in der gegenwart und für dem geiste leben kann. Die guten stunden des lebens soll man als gnade dankbar geniessen und sonst gegen das leben gleichgültig sein.“ (MS 101, 12.10.1914) Im Streben nach Gelassenheit angesichts der Nähe des Todes und in dem Wunsch, in „jedem Augenblick zu bestehen“, ermahnt er sich, im „guten & schönen zu leben bis das leben von selbst aufhört.“5 Der in den philosophischen Tagebüchern und im Tractatus thematisierte Zusammenhang zwischen Ethik und Ästhetik wird also bereits vorher – in existentieller Hinsicht – angesprochen. Die Aufforderung, dem Tod ohne Furcht ins Auge zu sehen, bedeutet aber nicht, Trost in der Unsterblichkeit der Seele zu finden. Im Gegenteil, Wittgenstein betont, dass die zeitliche Unsterblichkeit der Seele des Menschen nicht das Entscheidende ist.6 Entscheidend wäre, das „Rätsel zu lösen“, doch stelle sich die Frage, ob dieses ewige Leben nicht ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige sei. Trotzdem beharrt Wittgenstein darauf, dass die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit außerhalb von Raum und Zeit, also im Ewigen, liege (TLP, 6.4312). Dieser scheinbare Widerspruch lässt vermuten, dass er die „Lösung des Rätsels“ nur durch den „Sinn der Welt“, der außerhalb der Welt liegt und den er mit dem ebenso rätselhaften und unfassbaren Gott verband, gewährleistet sah, nicht durch die zeitliche Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Ein glückliches Leben in der Gegenwart, so scheint er jedoch anzudeuten, könne dem Rätsel des Lebens näher kommen, da es anstatt innerhalb der Grenzen von Raum und Zeit in „Unzeitlichkeit“ erfolgt.
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Vgl. MS 101, 7.10.1914. Vgl. TLP, 6.4312
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II. Philosophische Untersuchungen: der Aspektwechsel In seinen Dialogen mit einem fiktiven Du versucht Wittgenstein, den Leser zum eigenen Denken anzuregen, dies durch aufmerksame Betrachtung der Phänomene bzw. Objekte seines Philosophierens. Diese Haltung kann als eine wache, staunende, ganz auf den Augenblick konzentrierte gesehen werden und entspricht demnach dem „Leben in der Gegenwart“. Der philosophierende Mensch vergisst Zeit und Raum, indem er die vielfältigen Aspekte eines Gegenstandes wahrnimmt; er ist in seiner Betrachtungsweise dermaßen absorbiert, dass er subtile Nuancen erfasst, die er als ständige Veränderungen erfährt, so dass er das Objekt seiner Betrachtung sozusagen fortwährend in Variationen wahrnimmt. Er sieht den Aspektwechsel, der gleichsam „aufleuchtet“. Dieser Aspektwechsel bewirkt jedoch nur eine scheinbare Veränderung am Objekt; die Änderung geht eigentlich nur im Betrachter vor sich, der durch die genaue Beobachtung aller Facetten des Gegenstandes – aus unterschiedlichen Perspektiven – die Dinge so oder so zu sehen lernt. Folglich ändert sich nur die Wahrnehmung des Betrachters durch die Genauigkeit seiner Beobachtung, durch seine Fähigkeit, derart auf den Gegenstand seiner Betrachtung und damit auf das Objekt seines Philosophierens einzugehen. Der Aspektwechsel wird als Folge des Staunens mit Ausrufen wie „So ist es hier“, „so ist es dort“ begleitet, oder „Dasselbe – und doch nicht dasselbe“ (LSPP, § 517). Insofern als der Aspektwechsel ein Staunen hervorruft, wird die Nähe zu einer ethischen Haltung deutlich: Staunen als Denken (LSPP, § 565), d.h. als ein nicht voneinander zu trennendes Denk- und Seherlebnis ist für Wittgensteins Philosophieren von unschätzbarer Bedeutung. Darüber hinaus nennt er im Vortrag über Ethik das Staunen (obgleich ein Staunen anderer Art als das beim Erkennen des Aspektwechsels) als erstes der drei Schlüsselerlebnisse – als sein „Erlebnis par excellence“ – für das Verständnis von dem, was Ethik bedeuten könne. Das Staunen, dem, wie dem Gefühl der absoluten Sicherheit, eine Art mystische Erfahrung zugrunde liegt, entzieht sich jedoch einer Verbalisierung bzw. wissenschaftlichen Erklärung, und führt zum Schweigen – wie bereits aus dem Tractatus bekannt. In diesem Sinne sei eine Stelle aus Wittgensteins späteren Reflexionen über Zeit und Gegenwart zitiert, die die Verbindung zwischen metaphysischer und analytischer Betrachtungsweise deutlich macht und die Nähe zu der in den frühen Tagebüchern und im Vortrag über Ethik dargestellten ethischen Betrachtungsweise aufweist:
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„Es kommt mir so vor als wäre die Gegenwart wie sie in dem Satz ‚der Himmel ist Blau’ steht keine Form der Zeit. Als ob also die Gegenwart in diesem Sinne unzeitlich wäre.“ (MS 109, 128) Das Erlebnis der Gegenwart unter ethischer Betrachtung wird also auch später als Erfahrung von Unzeitlichkeit gesehen – als „qualitative Zeit“ im Gegensatz zu „quantitativer Zeit“, um mit Augustinus zu sprechen. Dabei weist diese Betrachtungsweise auf den Aspekt des Nicht-Analysierbaren, des „Unsagbaren“ hin – als etwas, worüber wir an die Grenzen unserer Sprache stoßen. Indem Wittgenstein in dem Satz „der Himmel ist blau“ die Gegenwart als keine Form der Zeit sieht, liegt eine Nähe zu Augustinus’ Auffassung von Gott, auf den keine Zeit zutrifft, da er „im Sein verharrt.“ (Genesis 1, 1 (17)). Die Jahre bestehen bei ihm zugleich, sie gehen nicht vorüber, sondern „stehen.“ Sein „Heute ist die Ewigkeit“ (Genesis 1, 1 (16)).7 Auf die phänomenale Welt bezogen, so Wittgenstein, sei es problematisch, nur der Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks Realität zuzuschreiben. Dies könnte heißen, vergangene Ereignisse hätten nicht stattgefunden. Allerdings gehe die Verifikation der Sprache – also der Akt, in dem sie ihren Sinn erhalte – in der Gegenwart vor sich (vgl. MS 105, 120). Trotzdem sieht er die Betrachtung der Gegenwart als des einzig Realen (ausgehend von der Behauptung, dass die Verifikation der Sprache in der Gegenwart vor sich geht) als eine Betrachtungsweise, die „gleichsam in einen Talkessel hinunter führt“, aus dem kein Weg in die freie Landschaft weist. Denn diese „Gegenwart in ständigem Fluß oder vielmehr in ständiger Veränderung begriffen läßt sich nicht fassen. Sie verschwindet ehe wir daran denken können sie zu erfassen. In diesem Kessel bleiben wir in einem Wirbel von Gedanken verzaubert stecken.“ (MS 107, 1) Den Fehler sieht Wittgenstein in dem Versuch, „die fliehende Gegenwart mit der wissenschaftlichen Methode zu erfassen.“ Das müsse so sein als wolle man die Festigkeit eines Balkens losgelöst von ihm erfassen. Sie gleichsam aus ihm „herausdestillieren“. Dieses Unmögliche zu versuchen, davor müsse uns die Erkenntnis retten, „daß wir Unsinn reden wenn wir versuchen unsere Sprache in diesem Unternehmen zu verwenden“ (MS 107, 2). Was man nicht denken dürfe, könne die Sprache nicht ausdrücken. Das sei unsere Beruhigung. „Wenn man aber sagt: Der Philosoph muß aber eben in diesen Kessel hinuntersteigen und die reine Realität selbst erfassen und ans Tageslicht ziehen, so lautet die Antwort, daß er dabei die Sprache
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hinten lassen müßte und daher unverrichteter Dinge wieder heraufkommt.“ (ebenda) Zeit erweist sich also als etwas jenseits des Erklärbaren, damit dem Bereich des Unaussprechbaren, durch Sprache und Wissenschaft nicht Fassbaren, zugehörig. Die tiefere Bedeutung von Zeit wird uns am ehesten in der Anahme eines Bereichs außerhalb von Zeit und Raum bewusst – also dort, wo die Kategorien von Raum und Zeit nicht mehr zutreffen. Immanent betrachtet – in der Erfahrung des Aspektwechsels durch die Wahrnehmung der Vielzahl an Aspekten aller Phänomene der sichtbaren Welt – begegnet man der Schwierigkeit des „Alles fließt“, mit der laut Wittgenstein „vielleicht überhaupt erst anzufangen“ sei (VB, 33). Dieser „Strom des Lebens, oder der Welt, fließt dahin“, und unsere Sätze werden, sozusagen, nur in Augenblicken – also nur von der Gegenwart – verifiziert, schreibt Wittgenstein. Daher müssen diese so gemacht sein, dass sie von ihr verifiziert werden können. (TS 211, 756f.) Das Sehen in Aspekten kann in Hinblick auf den Zeitbegriff aus sprachanalytischer Sicht, in Hinblick auf Wittgensteins Reflexionen über die Gegenwart, auch auf metaphysischer Ebene betrachtet werden. D.h., dieser Vorgang erfolgt immer in Zeit, erkenntlich bereits durch die Veränderung bzw. auch „Bewegung“, die der Aspektwechsel bewirkt. Andererseits hat der Vorgang mit Zeit, d.h. hier mit Gegenwart im metaphysischen Sinn zu tun, wie es Wittgenstein in den frühen Schriften beschreibt: als ein Vorgang außerhalb von Zeit, gleich einem Stillstehen von Zeit, einem Vorgang gleichsam in Unzeitlichkeit. Dieser konzentrierte Vorgang lässt keinen Raum und keine Zeit, über andere Dinge nachzudenken, die den Betrachter sonst bewegen; im Augenblick der aufmerksamen Haltung gegenüber einem bestimmten Objekt existiert nur mehr dieses für ihn: es kommt nahezu zu einer Art Verschmelzung, wie sie Schopenhauer in der ästhetischen Kontemplation beschreibt, in der der ästhetische Betrachter, wie erwähnt, zum „reinen zeitlosen Subjekt des Erkennens“ wird und sich mit dem Objekt seiner Betrachtung, jenseits des Satzes vom Grunde, auf einer Ebene befindet. Da er dabei dem eigenen Wollen sowie dem Weltgetriebe mit all seinen Negativitäten enthoben ist, verspürt er jene glücklichen Augenblicke, die nur selten im Leben zu erfahren sind. Es ist kaum anders als die von Wittgenstein in den frühen Tagebüchern beschriebene „künstlerische Betrachtungsweise“, die die „Welt mit glücklichem Auge betrachtet“ (20.10.16). Der von Wittgenstein erörterte Zusammenhang zwischen Ethik und Ästhetik besteht darin, dass das Kunstwerk der „Gegenstand sub specie aeterni-
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tatis“ gesehen, das gute Leben die „Welt sub specie aeternitatis“ gesehen ist. Daraus ergibt sich, dass die gewöhnliche Betrachtung die Gegenstände in Raum und Zeit, die Betrachtung sub specie aeternitatis die Gegenstände mit Raum und Zeit, die Dinge sozusagen von außerhalb sieht. (TB, 7.10.16) Obwohl das Aspektsehen auf einer anderen Ebene als die Betrachtung sub specie aeternitatis liegt, so kann man doch von Gemeinsamkeiten sprechen – insofern als der ästhetischen Erfahrung eine ethische Komponente innewohnt, und sofern das Aspektsehen als ein Sehen in der Gegenwart, nicht in der Zeit, zu begreifen ist. Allerdings ist zu betonen, dass in den Tagebüchern der Schwerpunkt auf der ethischen Haltung liegt, in den Philosophischen Untersuchungen das ästhetische Element vorherrscht, im einen Fall es sich um eine kontemplative Betrachtung, eine Art mystisches Sich-Versenken in der Anschauung des Objekts handelt, im anderen um ein bewegtes Eingehen auf die Gegenstände der Betrachtung. Außerdem ist anzunehmen, dass beim Aspektsehen der einzelne, konkrete Gegenstand – trotz der Befindlichkeit des Betrachters in der Gegenwart im Sinne von „Unzeitlichkeit“ – in Raum und Zeit wahrgenommen wird, nicht das Allgemeingültige, Zeitunabhängige des Gegenstandes. Bei der Beschreibung der Wahrnehmung der verschiedenen Aspekte durch aufmerksame Betrachtung wird man jedoch an das Beispiel des kontemplierten Ofens erinnert, das Wittgenstein in den Tagebüchern bringt, des Ofens, der für den Betrachter zu „seiner Welt“ wird. Der scheinbar unbedeutende Gegenstand wird zu etwas Besonderem: er steht dermaßen im Zentrum der Betrachtung, dass er zur Welt des Betrachters wird, während alle anderen Gegenstände in seinem Umfeld verblassen. In der „zeitlichen Welt“ wäre der Ofen nicht mehr als ein nichtiges momentanes Bild, in der Betrachtung sub specie aeternitatis wird er jedoch zur „wahren Welt unter Schatten“ (TB, 8.10.16). Zieht man dazu eine Parallele zu den fiktiven Beispielen in den Philosophischen Untersuchungen, so kann man auch dort behaupten, dass die Art der Betrachtung eines Phänomens dieses je nach Betrachtungsweise formt, in unterschiedlichen Bedeutungen erscheinen lässt, gemäß der individuellen Sicht des Betrachters, seiner Art, die Dinge so oder so zu sehen – je nach Perspektive. So mag einem die Zeichnung eines Hasenkopfes einmal als Hasen-, ein anderes Mal als Entenkopf erscheinen, die Illustration eines Glaswürfels einmal als Drahtgestell, dann wieder als umgestülpte offene Kiste (PU II, xi, S. 519-529).
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Der Betrachter bzw. das philosophierende Subjekt formt sich also aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedliche Objekte, die ein Anderer auf andere Weise wahrnehmen würde. Doch wie beim Beispiel des kontemplierten Ofens wird das jeweilige Objekt des Philosophierens dabei zur spezifischen „Welt“ des Betrachters, einer ganz in der Gegenwart erlebten Welt, denn jeder neue Perspektivenwechsel bringt eine Änderung in der Betrachtungsweise mit sich, hervorgerufen durch das „Aufleuchten“ des „Aspektwechsels“. Der Prozess der Wahrnehmung der wechselnden Aspekte erfordert eine Befindlichkeit, die gewissermaßen dem Zustand eines „Lebens in der Gegenwart“ entspricht. Der Betrachter erfährt zwar eine Bewegung, eine Veränderung in seiner Wahrnehmung, seinem Denken, andererseits aber befindet er sich dermaßen in der Gegenwart, dass „Zeit“ auf ihn nicht mehr zutrifft. Indem er in der Entdeckung und Beobachtung der verschiedenen Facetten eines Gegenstandes völlig absorbiert ist, transzendiert er ähnlich dem von Schopenhauer beschriebenen „reinen Subjekt des Erkennens“ Zeit und Raum; im Sinne Wittgensteins ist er der glückliche Mensch, der in der Gegenwart lebt. Mit der Äußerung, dass die „Welt des Glücklichen eine andere als die des Unglücklichen“ (TLP, 6.43) ist, verweist Wittgenstein wohl u.a. auf den Unterschied zwischen dem im Geistigen lebenden bzw. philosophierenden wie auch künstlerischen Menschen und dem in Zeit und Raum lebenden und dabei auf persönliche Probleme konzentrierten Menschen, der sich von seinem persönlichen Ich mit seinen Wünschen und Nöten, damit auch von der Sorge der Endlichkeit nicht befreien kann, daher auch unfähig bleibt, so im Gegenwärtigen zu leben, dass er in der Betrachtung eines vor ihm unmittelbar befindlichen Phänomens sich zu vergessen vermag. Mit der Reflexion auf die Zeit wird einem hingegen unweigerlich ihre Problematik bewusst – dies nicht nur als Unmöglichkeit einer philosophischen Definition, sondern vor allem auch aus existentieller Sicht des Einzelnen: im Bewusstsein der Begrenztheit, der Geworfenheit in die Unabänderlichkeit, der Unmöglichkeit, Zeit zu entkommen. Dies führt zur Furcht vor der Zukunft, zum Bewusstwerden des Versäumnisses, der Nichtwiederholbarkeit von Vergangenem, damit Unmöglichkeit der Wiedergutmachung falsch getroffener Entscheidungen. Zuletzt zum Wissen um das Ende der persönlichen Zeit durch den Tod.
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Im MS 106, vermutlich im Jahre 1929, notiert Wittgenstein: „Ist es möglich sich die Zeit mit einem Ende zu denken; oder mit zwei Enden? Kann ich mir nicht den Tod als Ende meiner Zeit denken? Oder müßte ich sagen daß mein primäres Leben eine Insel in der Zeit ist?“ (MS 106, 31)
Konklusion Trotz unterschiedlicher Herangehensweisen an das Problem von Zeit, Gegenwart und Ewigkeit – einer anfangs zu einer mystischen Haltung tendierenden, später einer sprachanalytischen Auseinandersetzung – hat der hier zur Diskussion stehende Satz vom „Leben in der Gegenwart“ auch in späteren Jahren seine Gültigkeit nicht verloren: im Gegenteil, gerade in dem in seinen philosophischen Untersuchungen stillschweigend enthaltenen Appell an den Leser bzw. philosophierenden Menschen, den Erscheinungen der sichtbaren Welt mit Achtung und Aufmerksamkeit zu begegnen, zeigt sich durchgehend, welche Bedeutung Wittgenstein einer wachen, offenen, ganz in der Gegenwart befindlichen Haltung zumisst, ja, dass er diese als wesentliche Voraussetzung für die Wahrnehmung der subtilen Facetten jedweder Phänomene und damit Entwicklung eigener Gedankengänge betrachtet, ohne die ein Philosophieren nicht möglich ist. Zugleich geht daraus hervor, dass dieses sich ganz in der Gegenwart und im Geistigen Befinden einen Zustand gewährt, der die Grenzen von Zeit und Raum überschritten hat – sozusagen ein Leben im Ewigen, wo der Tod nicht mehr von Bedeutung ist. Die Ehrfurcht vor diesem aber bleibt bestehen – geprägt vom Bewusstsein der eigenen Endlichkeit, die in der Erkenntnis „sub specie aeternitatis“ eine andere Dimension erhält: Wer von der Majestät des Todes ergriffen ist, kann dies durch so ein Leben zum Ausdruck bringen. – Dies ist natürlich auch keine Erklärung sondern setzt nur ein Symbol für ein anderes. Oder: eine Zeremonie für eine andere.8
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Vgl. Wittgensteins Bemerkungen über das Leben des Priesterkönigs von Nemi in seinen Bemerkungen über Frazers Golden Bough, MS 110, 181/4; 19.6.1931, zit. nach Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften (Frankfurt: Suhrkamp, 1989), S. 31.
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Literatur Augustinus, Aurelius 2000, Was ist Zeit? (Confessiones XI / Bekenntnisse 11). Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Norbert Fischer. Lateinisch – deutsch. Hamburg: Felix Meiner Verlag. Des Heiligen Augustinus Bekenntnisse 1921, übertragen und eingeleitet von Herman Hefele. Jena: Eugen Diederichs. Aristoteles, Physik IV 1958, in: Aristoteles. Die Lehrschriften. Hg. und in ihrer Entstehung erläutert von Paul Gohlke. Paderborn: Schöningh. Schopenhauer, Arthur 1977, Die Welt als Wille und Vorstellung I, II, Zürich: Diogenes. Somavilla, Ilse 2005, „Zeit und Gegenwart bei Wittgenstein“. In: Zeit und Geschichte. Time and History. Beiträge des 28. Internationalen Wittgenstein-Symposiums in Kirchberg am Wechsel. Band XIII. Hg. von Friedrich Stadler und Michael Stöltzner. Kirchberg am Wechsel: Österr. Ludwig Wittgenstein Gesellschaft. S. 282-284. Spinoza, Baruch de 1955, Die Ethik. Schriften und Briefe, Stuttgart: Kröner Verlag. Wittgenstein, Ludwig 2000, Nachlass. The Bergen Electronic Edition, Bergen, Oxford: Oxford University Press. Wittgenstein, Ludwig 1994, Vermischte Bemerkungen, eine Auswahl aus dem Nachlaß. Frankfurt: Suhrkamp. Wittgenstein, Ludwig 1991, Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie, Frankfurt: Suhrkamp. Wittgenstein, Ludwig 1990, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt: Suhrkamp. Wittgenstein, Ludwig 1990, Tagebücher 1914-1916, Frankfurt: Suhrkamp. Wittgenstein, Ludwig 1990, Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt: Suhrkamp. Wittgenstein, Ludwig 1989, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften. Hg. und übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt: Suhrkamp.
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Philosophie, Musik, und vor allem Wittgenstein Christian Kanzian Vorbemerkung Dieser Band ist Elisabeth und Werner Leinfellner gewidmet. Zur Zeit der Publikation der Edition wird es schon ein gutes Jahr her sein, dass die beiden von uns gegangen sind. Die dankbare Erinnerung an sie ist nicht abgebrochen. Eigentlich würde man es von einem Funktionär der Österreichischen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft erwarten, dass er bei einem solchen Anlass ausdrücklich über die beiden schreibt. Besonders naheliegend wäre eine ausführliche Darlegung der großen Verdienste von Elisabeth und Werner Leinfellner für die Wittgenstein Gesellschaft, das internationale Symposium in Kirchberg am Wechsel, für die ganze Wittgenstein Forschung, ja für Philosophie und Wissenschaft insgesamt. Da gibt es in der Tat viel zu sagen. Diese Erwartung hat umso mehr Berechtigung als der Verfasser dieser Zeilen ungemein vom Engagement, vom Wissen und von der Freundlichkeit der beiden profitieren durfte, als Geschäftsführer und Präsident der ÖLWG, aber auch als Philosoph und, so darf ich sagen, als Weggefährte. Warum ich diese Erwartung hier nicht erfüllen möchte, hat zunächst den Grund, dass in diesem Buch bereits ausführlich und in einer mir nicht nachahmbaren Weise über Elisabeth und Werner Leinfellner geschrieben wird. Von Kollegen, die ich in der Tat für besser geeignet halte das zu tun, als mich selbst. Besonders freut mich, dass „ihre Wittgenstein Gesellschaft“ dabei nicht zu kurz kommt. Danke dafür auch im Namen dieser, ihrer Gesellschaft an die Autoren. Elisabeth und Werner Leinfellner waren Menschen des Tuns, nicht des Redens über das Tun. So denke ich, dass ich sie einfach dadurch ehren kann, indem ich etwas mache, nämlich philosophieren. Ich möchte das tun durch die Aufbereitung eines bislang unveröffentlichten Manuskripts. Ganz herzlich widme ich es ihnen. Das Manuskript liegt einem Vortrag zugrunde, den ich am 18. Oktober 2007 im Linzer Brucknerhaus halten durfte, zur
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Uraufführung der Vertonung des Tractatus logico-philosophicus durch Balduin Sulzer.1 Es ist zu einem Thema verfasst, das besonders Elisabeth ein wichtiges Anliegen war: Philosophie, Musik, und, allem voran: Wittgenstein.2 Elisabeth Leinfellner hat in persönlichen Gesprächen immer wieder hervorgehoben, wie wichtig ihr die Kunst, insbesondere in ihrer Verbindung mit der Philosophie sei. Und es war ihr klar, dass ein Schlüssel des Verständnisses Wittgensteins in dieser Verbindung gefunden werden kann, vielleicht sogar muss. So hat sie Künstler immer wieder gefördert, nicht zuletzt durch Einbindung in die Arbeit der Wittgenstein Gesellschaft. Elisabeth und Werner Leinfellner waren Wissenschaftler von Weltformat. Sie haben sich aber auch nie davor gescheut, immer wieder Beiträge zu verfassen, die nicht dem speziellen Fachdiskurs gewidmet waren, sondern einem breiteren Bildungspublikum. Auch das hat mich, der ich sicherlich kein Wissenschaftler ihres Ranges bin, ermutigt, zu ihren Ehren den folgenden Beitrag zu machen. Er wird die Wittgenstein-Fachdiskussion nicht weiterbringen, vielleicht aber die eine oder den anderen anregen, bei echten Wittgensteinianern nachzublättern, am besten gleich hier in diesem schönen Band.
1. Philosophie und die Musik Balduin Sulzer zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten, nicht nur Österreichs, sondern auch international. Seine Vertonung des Tractatus ist ein ganz besonderes Stück Gegenwartskunst, das nicht nur musikalisch Geschulten, sondern auch den FreundInnen Wittgensteins viel Freude bereitet. Es gibt Berufenere dies auszuführen. Dem Schreiber dieser Zeilen ist jedoch die Bemerkung eines Sachkundigen im Ohr geblieben, der Sulzers Kompositionen als „zum Klingen gebrachte Philosophie“ be1
Nicht alle Stilelemente der mündlichen Rede habe ich für diesen Artikel entfernt, insbesondere nicht jene, die auf die besagte Komposition und ihren Komponisten Bezug nehmen. 2 Besonders bedanken möchte ich mich für sachliche Hinweise zum Thema „Wittgenstein und die Musik“ bzw. zum Werk Balduin Sulzers nach den Leinfellners bei Volker Munz (Geschäftsführer der Österr. L. Wittgenstein Gesellschaft, Universität Klagenfurt), Joseph Wang (Mitarbeiter am Brenner-Archiv, Universität Innsbruck), bei Johannes Leopold Mayer, der mich anlässlich eines Rundfunkinterviews zu diesem Thema gebracht hat, bei Anna Maria Pammer für die Einladung zu besagtem Vortrag. Höchsten Respekt bekunde ich vor der Komposition und ihrem Komponisten.
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zeichnet hat. Er hat damit nicht nur Sulzers Interpretation des frühen Wittgenstein gemeint. Aber sicherlich auch. Wie auch immer: Mit dem Stichwort „Philosophie“, die zum „Klingen“ gebracht wird, ist jedenfalls das Themenfeld angesprochen, mit dem ich mich an dieser Stelle beschäftigen möchte: Philosophie, Musik, Philosophie und Musik. Das Verhältnis der Philosophie zur Musik ist so wenig auf den Punkt zu bekommen, wie das mit jeder lebendigen Beziehung geschehen kann. Für manche Philosophen ist die Musik das höchste: jene Harmonie, welche den ganzen Kosmos verbindet und in seinem Wesen beschreibt. Philosophie ist die Deutung dessen, was den Kosmos verbindet und in seinem Wesen, vielleicht besser in seiner Natur ausmacht. Also ist Musik Philosophie. Das sagen die einen. Nachzulesen etwa bei Phythagoras und seinen älteren Schülern (Mansfeld 1983, 145, 163, 183). Und dann gibt es auch die anderen, wie beispielsweise Immanuel Kant, welcher den Stellenwert der Musik für die Welterklärung wie folgt zum Ausdruck bringt, ich zitiere aus seiner Kritik der Urteilskraft: „Die Musik hat unter den schönen Künsten den untersten Platz, weil sie bloß mit Empfindungen spielt. … Außerdem hängt der Musik ein gewisser Mangel an Urbanität an, da sie … ihren Einfluss weiter als man ihn verlangt (auf die Nachbarschaft) ausbreitet; … … Es ist hiemit fast so, wie mit der Ergötzung durch einen sich weit ausbreitenden Geruch bewandt: Der, welcher sein parfümiertes Schnupftuch aus der Tasche zieht, traktiert alle um und neben sich wider ihren Willen.“ (Kant 1963, 271.272) Philosophie spielt nicht mit Empfindungen, außerdem breitet sich der Einfluss des Philosophierenden wohl nur in den seltensten Fällen auf die unbeteiligte Nachbarschaft aus. Die Musik tut das. Also hat Musik mit Philosophie nichts zu tun. Kein Wunder könnte man sagen: Pythagoras hat auf Sizilien vermutlich nur die besten Musiker um sich gehabt; Kant in Königsberg neben dem Zuchthaus gewohnt, in dem von den Häftlingen zur sittlichen Läuterung das Absingen religiöser Lieder zwangsweise verlangt wurde. Aber, im Folgenden soll es nicht um Pythagoras, zum Glück auch nicht um Kant gehen, sondern, wie im Titel vermerkt, vor allem um einen anderen, nicht minder bedeutenden Philosophen: Ludwig Wittgenstein. Wie aber ist das mit ihm? Wo steht er in seiner Einschätzung der Musik, nahe dem Pythagoras oder gar im Verbund mit Immanuel Kant? Dieser Frage gehe ich in der Folge nach. Ich möchte dazu kurz den Menschen Ludwig Wittgenstein vorstellen, den Philosophen, und den Autor des berühmten
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Tractatus, der in Sulzers Komposition zum Klingen gebracht wird (Abschnitt 2). Dann versuche ich etwas zu sagen über Wittgenstein und die Musik, insbesondere über die Bedeutung der Musik für sein Philosophieren (Abschnitt 3). Von da aus werde ich vorschlagen, ihn in die Nähe des Pythagoras zu rücken. Musik ist für Wittgensteins Leben und Denken unverzichtbar, mehr noch: vielleicht sogar ein viel zu wenig beachteter Schlüssel, sein Leben und Denken überhaupt zu verstehen. Aber langsam, Schritt für Schritt.
2. Ludwig Wittgenstein: Leben – Philosophie – der Tractatus3 Ludwig Josef Johann Wittgenstein wird am 26. April 1889 in Wien geboren, als jüngstes Kind von Karl und Leopoldine Wittgenstein. Seine Familie ist wohlhabend und bedeutend, auch und v.a. könnte man sagen, für das kulturelle Leben Wiens. Ich werde darauf noch zurückkommen, wenn ich das Thema Wittgenstein und die Musik beleuchte. Zunächst wird Ludwig, wie es sich geziemt, privat zu Hause unterrichtet. Seine erste öffentliche Schule besucht er in Linz, und zwar die Oberrealschule (heute FadingerSchule) von 1903-06. In der Folge studiert Wittgenstein Ingenieurwissenschaften, u.a. in Berlin. Das ist für das Verstehen seines Denkens durchaus maßgeblich. Erst über Grundlagenprobleme der Mechanik kommt er auf die Mathematik, über die Mathematik zu Logik und Philosophie. Das wird ihn prägen und macht seine Schriften, v.a. seine früheren wie den Tractatus, nicht einfacher, sprich allgemein verständlicher. Aber immerhin, er kommt zur Philosophie, ging 1911 nach Cambridge, wo er sich bald einen hervorragenden Ruf erwirbt. Der erste Weltkrieg unterbricht seine beginnende akademische Laufbahn in England. Er tritt freiwillig in die k.u.k. Armee ein, wird gar Leutnant, kommt in italienische Gefangenschaft. 1919 kehrt Wittgenstein nach Wien zurück – und tut etwas kaum Vorstellbares: Er gibt sein (beträchtliches) Vermögen auf, sowie seine (erfolgversprechende) akademische Karriere; und wird Lehrer, Volksschullehrer im Niederösterreichischen Feistritztal. Seine Tätigkeit hat dort bis heute deutlich wahrnehmbare Spuren hinterlassen. Sie können Wittgenstein-Museen und Dauerausstellungen besuchen, in Trattenbach und Kirchberg am Wechsel, wo sich auch der Sitz der Österreichischen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft befindet und seit 1976 jährlich die großen „Wittgenstein 3
Als Hauptquellen dieses biografischen Überblicks führe ich Leinfellner & Windholz 2005 bzw. Schulte 1989, Abschnitt I.1, an.
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Symposien“ veranstaltet werden.4 Und das, obwohl Wittgenstein Erfolg als Pädagoge nicht wirklich beschieden ist, wie die jungen Leute heute sagen würden. Konsequenterweise gibt er den Lehrberuf wieder auf und beschäftigt sich, nach einem mehrmonatigen Intermezzo als Hilfsgärtner bei den Barmherzigen Brüdern in Wien 1926, mit Architektur. So baut er für eine seiner Schwestern in Wien ein Haus, das Sie in der Kundmanngasse im 3. Wiener Gemeindebezirk auch heute noch besichtigen können. Es ist gegenwärtig der Sitz des Kulturinstituts der Bulgarischen Botschaft. Die Philosophie erhält Wittgenstein jedoch wieder, zum Glück. 1929 kehrt er nach Cambridge zurück, macht weiter Karriere, die in der Übernahme einer Professur gipfelt. Auf äußere Ehren und Postensicherheit hat Wittgenstein nie Wert gelegt: Während des zweiten Weltkriegs arbeitet er in Spitälern, geht nach dem Krieg nach Irland, gibt 1947 seinen Lehrstuhl auf. Weitere Reisen, u.a. in die USA folgen. Er arbeitet in dieser Zeit intensiv philosophisch, auch hinein in die Zeit seiner Krankheit zum Tode, etwa an einem Buch Über Gewissheit, die er auch über sich selbst hat, als er kurz vor seinem Tode am 29. April 1951 bemerkt: „Sage ihnen, dass ich ein wunderbares Leben gehabt habe.“5 So unorthodox, unkonventionell und in keine der gängigen Schubladen passend sein äußeres Leben war, so kann man wohl auch seinen Charakter beschreiben. Wittgenstein konnte äußerst hart, ja zynisch sein; wohl nicht nur anderen, sondern auch sich selbst gegenüber. Aber Wittgenstein hatte auch sehr herzliche Seiten, fähig zu äußerst sensiblem und fürsorglichem Umgang mit anderen. Das bezeugen seine Briefe, aber auch Zeugnisse seiner Freunde. Manche erlebten ihn furchteinflößend, nannten ihn „Nervensäge“ und „Besserwisser“. Andere sind gebannt von seinem beeindruckenden Charisma, das in der Lage war, Menschen, die mit ihm verbunden waren, zu begeistern. Wittgenstein ist ein unglaublich wortreicher Mensch, mit viel Gefühl für die Sprache, hatte aber auch Respekt vor dem, was man nicht sagen kann. Derlei Spannungen in seinem persönlichen Charakter und seinem Umgang mit Menschen lassen sich beliebig fortsetzen.
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Einen Überblick über die Tätigkeiten der Wittgenstein Gesellschaft in Kirchberg gibt die Festschrift anlässlich des Jubiläums 30. Internationales Wittgenstein Symposium: Kanzian & Munz & Windholz 2007. Aktuelle Informationen zur Gesellschaft: http://www.alws.at . Dort finden sich auch weiterführende Links zu Leben und Werk Wittgensteins. 5 Zitat übernommen aus: Leinfellner & Windholz 2005, 27.
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Wittgenstein war Ingenieur, Architekt, Krankenpfleger, nicht zu vergessen Hilfsgärtner, Volksschullehrer, etc. Er war aber auch, in erster Linie, Philosoph. Und so möchte ich versuchen, auch etwas über seine Philosophie zu sagen. (Beiseite lasse ich die schulmäßige Gliederung seines Schaffens in ein Früh- und ein Spätwerk, eine Erörterung des Problems, wie sich diese zueinander verhalten; ob es einen Philosophen Wittgenstein gibt, zwei, gar mehrere; ob man den Mono-Wittgensteinianismus, wie unsere Freunde aus Übersee sagen, „mild“ oder „hard“ auffassen könne6, etc. etc. etc. Auch eine einfache Auflistung seiner Schriften erspare ich mir, das können Sie in jeder Standardbiografie nachlesen.) Wie aber kann man nun seine Philosophie verstehen? Ich möchte mich auf drei Aspekte konzentrieren: Wittgensteins Philosophie ist beschreibend. – Was heißt das, mag die ein oder andere fragen, beschreiben ist nichts großmächtig Aufschlussreiches. Das kann jedes Kind. – Doch, würde ich der fiktiven Gegnerin erwidern: Für Philosophen ist das etwas sehr Aufschlussreiches: Beschreiben. Einfach Beschreiben. „Alle Erklärungen müssen fort und nur Beschreibungen an ihre Stelle treten“ (Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (PU) §109) Viele Philosophen fassen ihre Tätigkeit so auf, dass sie denken, grübeln, und, so unglaubliche spekulative Gedankenwelten entwickeln, ohne dass diese einen erkennbaren Zusammenhang hätten mit der Welt, die sie eigentlich erklären wollen. Andere Kollegen verstehen Philosophie so, dass sie warten, was andere hervorbringen, etwa die Naturwissenschaftler. Sie greifen z.B. physikalische Erklärungen auf, und machen daraus eine Philosophie, eine (schlechte) MetaPhysik. Wittgenstein hält davon nichts. Die Philosophie ist keine Naturwissenschaft. Wittgenstein beschreibt, akribisch, genau. „Denk nicht schau!“ sagt er einmal und, so könnte man ergänzen, beschreibe das Gesehene. Was beschreibt er? – Die Antwort führt uns in ein zweites Merkmal der Philosophie Wittgensteins: Er beschreibt die menschliche Praxis. Bevorzugtes Interesse hat für Wittgenstein zunächst die menschliche Sprechpraxis. Wir reden miteinander. Wir äußern Sätze. Und mit diesen Sätzen verbinden wir Wahrheitsanspruch, und dieser Wahrheitsanspruch hat damit zu tun, dass wir mit diesen Sätzen die Wirklichkeit abbilden wollen. Die Wahrheit von komplexen Sätzen hängt nun ab von der Wahrheit ihrer Teilsätze, letztlich von der sogenannter Elementarsätze. Wittgenstein versucht dieses Phänomen zu beschreiben. So klar es nur geht. Im Laufe seines 6
Siehe den Vortrag von James Conant während des Kongresses der Internationalen Wittgenstein Gesellschaft, Leipzig, 27. September 2007: „Mild Mono-Wittgensteinianism“.
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Schaffens hat dann Wittgenstein die menschliche Sprechpraxis als immer komplexeres Phänomen in den Blick bekommen: Wir bilden mit Sprache nicht nur etwas ab, wir scherzen auch, befehlen, tragen Gedichte vor etc. Wir spielen mit Sprache, in verschiedener Weise. Und diese verschiedenen „Sprachspiele“ sind Ausdruck weiterer Handlungs- und Lebenskontexte, deren Vielfalt das ausmacht, was wir auch Kultur nennen können. Wittgenstein beschreibt unsere Sprechpraxis in ihrer ganzen Komplexität. Er beschreibt ihre Regeln, ihre Strukturen, ihre Chancen auf Erfolg, ihre Risken auf Misserfolg. Wozu tut er das? – Die Antwort darauf lässt uns auf ein drittes Merkmal seines Philosophierens stoßen: Wittgensteins Philosophie ist therapierend. Therapierend, nicht moralisierend – wohlgemerkt. Durch das klare Beschreiben unserer Sprechpraxis lösen sich Missverständnisse bzgl. unseres Sprechens auf. Lösen sich Missverständnisse bzgl. unseres Sprechens auf, so auch Missverständnisse beim Sprechen, im miteinander-Reden. Und Lösen sich Missverständnisse beim Sprechen, lösen sich auch DenkProbleme. „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“ (PU §109). Wittgensteins Philosophie ist eine Beschreibung unserer Sprechpraxis zur Therapie von Denk-, aber auch von Lebensproblemen, wie ich ergänzen möchte. Besonders angetan hat es Balduin Sulzer (und auch anderen Künstlern) aber offensichtlich besonders der Tractatus logico philosophicus (TLP). Es ist ein Frühwerk. Ab 1913 arbeitet Wittgenstein daran, also als 24-Jähriger. Abgeschlossen ist es vor der erwähnten italienischen Kriegsgefangenschaft. Worum geht es im Tractatus? - Lassen wir seinen Autor selbst zu Wort kommen. In einem Vorwort, verfasst im Wien des Jahres 1918, schreibt er: „Das Buch behandelt die philosophischen Probleme und zeigt … dass die Fragestellung dieser Probleme auf dem Missverständnis der Logik unserer Sprache beruht. Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen oder vielmehr nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken.“ Ich wende die allgemeinen Merkmale des Philosophierens Wittgensteins auf den Tractatus an und weise auf wichtige Besonderheiten hin: Wittgenstein will in diesem Werk beschreiben, und zwar unsere Sprechpraxis. Und zwar möchte er beschreiben, was sich überhaupt sagen lässt und zeigen, wie klar sich das, was sich überhaupt sagen lässt, sagen lässt.
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Das entspricht den allgemeinen Merkmalen der Philosophie Wittgensteins. Wittgenstein geht es aber auch um besondere Sprechpraktiken. An dieser Stelle sei an die Errungenschaften im Bereich der Logik erinnert: Wittgensteins Wahrheitswerttabellen, welche die Wahrheitsmöglichkeiten von (komplexen) Sätzen aus der Kombination der Wahrheitswerte ihrer Elementarsätze darstellen. Aber auch daran, dass der Tractatus eine differenzierende Wissenschaftstheorie bietet: Logik (und Mathematik) werden von den „informativen“ Wissenschaften unterschieden. Alle zusammen jedoch von der Philosophie und ihren Anliegen. Vielen sehen jedoch das Besondere im Tractatus darin, dass es Wittgenstein bei der Beschreibung unserer Sprechpraxis auch, ja vor allem um die Grenzen, nicht des Denkens, sondern das Sagbaren geht: das wahrhaft Ästhetische und Ethische (TLP 6.421), die Frage nach dem Sinn, das Mystische liegen außerhalb des Sagbaren. Wichtig: Das ist keine Negierung dieses Bereichs. TLP 6.522: „Es gibt Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische“. Möglicherweise hat dieser Aspekt auch unseren Komponisten nach seiner Beschäftigung mit Augustinus und Bernhard von Clairvoux auf Wittgenstein kommen lassen. Um dem Unaussprechlichen Raum zu geben, beschreibt Wittgenstein exakt und präzis das Sagbare, seine Wahrheitsbedingungen und seine Grenzen. Worin aber besteht das Therapeutische? – könnte man im Hinblick auf den dritten erwähnten allgemeinen Aspekt seines Philosophierens fragen. Philosophische Probleme entstehen durch Missverständnisse unserer Sprache. Viele Philosophen gehen deshalb in die Irre, weil sie das Instrument des Denkens nicht verstehen: die Sprache. Was kann man sprachlich aussagen, was aber zeigt sich an den Grundstrukturen der Wirklichkeit? Was unterscheidet die in der Logik unserer Sprache eröffneten Räume von den raum-zeitlich und kausal verfassten Bereichen der Naturwissenschaften? Versteht man die Sprache nicht, bekommt man diese Unterscheidungen nicht in den Blick und verheddert sich in Scheinprobleme. Auch das Missverstehen von Ethik, Ästhetik, ja dem Mystischen beruht nicht selten darauf, dass man es verwechselt mit dem, was man exakt – etwa im Sinne der Naturwissenschaften – sagen kann; oder (deshalb) irrigerweise sogar negiert. Wittgenstein will die Leserin von derartigen Irrtümern heilen. Er will dem Nicht-Sagbaren Raum geben, in dem er das Exakt-Sagbare umgrenzt. Soweit zum Menschen Wittgenstein, dem Philosophen, dem Autor des Tractatus. Ich komme nun zum dritten Teil meines Beitrags:
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3. Wittgenstein und die Musik Wie erwähnt, spielt die Familie Ludwig Wittgensteins im kulturellen Leben Wiens eine hervorragende Bedeutung. Und diese Bedeutung verdankt sie vor allem ihrer verständnisvollen Neigung zur Musik und zu Musikern. Der Vater Ludwig Wittgensteins, Karl, spielt Geige, für die Mutter, Leopoldine, ist das Klavierspiel nicht Hobby, sondern Lebensinhalt. Alles, was im musikalischen Leben des vorletzten Jahrhunderts in Wien Rang und Namen hat, verkehrt im Hause Wittgenstein, darunter Gestalten von unbestrittener Größe, wie Johannes Brahms. Besondere Verehrung fand u.a. der blinde Organist und Komponist Joseph Labor. Bekannt ist das musikalische Genie von Paul Wittgenstein, Ludwigs älterem Bruder. Selbst der Verlust des rechten Armes durch eine Kriegsverletzung hindert nicht seine Karriere als Pianist. Ravel komponierte eigens für Paul Wittgenstein ein Stück für den linkshändigen Pianisten. Man könnte fast sagen, dass Ludwig in diesem Umfeld gar nichts anderes übrig bleibt als eine innige Beziehung zur Musik zu entwickeln. Und er tut dies auch. Besonderen Enthusiasmus hegt Ludwig Wittgenstein für die Musik des 19. Jahrhunderts: über allen Beethoven, Wertschätzung bekundet er für Schubert, Schumann, Mendelssohn, Brahms natürlich und Bruckner. Nahe liegend ist die Frage, ob Ludwig Wittgenstein wie seine Eltern und seine Geschwister auch selbst die so sehr geliebte Musik machte. Praktisch nicht, könnte man sagen. Er nimmt zwar in seiner Kindheit Klavierunterricht. Allerdings führt dieser nicht zu künstlerischer Praxis im Klavierspiel. Im Erwachsenenalter ist von Ludwig Wittgenstein sicher keine Klaviermusik zu hören. Während der Ausbildung zum Volksschullehrer muss er Geigenunterricht nehmen. Auch dieser lässt unseren Philosophen weitgehend unberührt. Allerdings spielt Wittgenstein während seiner Lehrerzeit Musik, nicht auf der Geige freilich – wie man das mitunter liest – sondern auf einer Klarinette, einer B-Klarinette genauerhin, die er zum Erstaunen der Leute in einem alten wollenen Strumpf transportierte. Wittgensteins Klarinette ist übrigens zu besichtigen in einer Dauerausstellung im Gemeindezentrum von Kirchberg am Wechsel. Gesungen hat Ludwig Wittgenstein nie, auch nicht während des Musikunterrichts. Allerdings, und allein darin hat er es zu echter Virtuosität gebracht: Er konnte hervorragend pfeifen. Wollte er Tonfolgen exemplarisch darstellen, nicht nur den Volksschülern, sondern auch Freunden im gehobenen Gespräch über musikalische Themen, tat er das pfeifend: präzis, tonsicher, klar verständlich. Wittgenstein war, ohne ein Instrument wirklich zu beherrschen, ein hervorragender Kenner von Musik. Mehr noch: Musik bestimmt sein Le-
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ben, somit auch sein Denken. Und Wittgenstein war natürlich Philosoph. Da liegt es nahe zu fragen, ob und wie die lebensbestimmende Musik sein philosophisches Denken beeinflusst und geprägt hat. Den Gefallen, ein Buch zu verfassen, etwa „Ich und die Musik“ oder „Meine Philosophie und die Tonkunst“ hat er uns nicht getan, auch keinen Essay, nicht einmal mehrere zusammenhängende Anspielungen hat er derartigen Themen gewidmet. Was wir über seine Einstellung zur Musik wissen, verdanken wir Gesprächszeugen, Briefen, allen voran seinem Briefwechsel mit Rudolf Koder7, fragmentarischen Bemerkungen in Tagebüchern, seinen Vermischten Bemerkungen, aber auch seltenen Randbemerkungen in monographischen Schriften. Wenn ich nun der Frage nach Philosophie und Musik bei Ludwig Wittgenstein nachgehe, kann ich damit beginnen, mögliche Erklärungen dieses doch paradox anmutenden Faktums zu suchen. Warum sagt er nichts über etwas, das ihm offensichtlich so wichtig ist? Ein erster Zugang mag darin bestehen, dass Wittgenstein grundsätzlich Scheu hat, über Dinge zu reden, die ihm nicht nur theoretisch wichtig sind, sondern auch persönlich. Besonders dann, wenn er wenig Hoffnung hegt, dass das, was er zu diesen persönlichen Dingen zu sagen hat, auch wirklich verstanden wird. Und die Musik ist so ein Thema: Musik betrifft Wittgenstein persönlich, und was er zur Musik denkt, fühlt, an ihr leidet und an ihr liebt, kann er nicht mitteilen ohne Gefahr zu laufen, missverstanden zu werden. Ich zitiere eine Bemerkung aus dem Jahre 1949: „Ich finde es unmöglich … auch nur ein einziges Wort zu sagen über all das, was die Musik für mich in meinem Leben bedeutet hat. Wie kann ich dann darauf hoffen, dass man mich versteht“.8 Ein zweiter Zugang, warum Wittgenstein keine expliziten Abhandlungen zu Musik und zur Wirkung von Musik auf sein Denken verfasst, mag darin bestehen, dass seine vorliegenden Schriften ohnehin implizit oder von innen her deutlich geprägt sind davon, wie er zur Musik steht. Möglicherweise erachtet es Wittgenstein für überflüssig, noch etwas darüber zu sagen, was ohnehin vorliegt: zwar nicht offenkundig zur Schau gestellt, aber doch wahrnehmbar. In diesem Sinne möchte ich versuchen, solche Wahrnehmungen zu beschreiben. Da ist zunächst die Weise wie Wittgenstein denkt, seine „forma mentis“ sozusagen. Wittgenstein nimmt bezüglich musikalischer Werke und deren Aufführung die Position des scharfen, klaren Analytikers ein. Er ist in der Lage, äußerst intensiv zuzuhören. Dabei spricht er immer wieder davon, dass nicht das viel-Hören, sondern das gut-Hören entscheidend ist. In Ber7 8
Quelle: Alber 2000, 9-89. Zitiert nach Alber 2000, 151.
Philosophie, Musik, und vor allem Wittgenstein
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lin hört er gut 30 Mal die Meistersinger Wagners (man möchte fragen, was er dort sonst noch gemacht hat). Das, was vorliegt, sehen, analysieren, beschreiben – Denk nicht schau! – ist, wie wir schon gesehen haben, ein wesentliches Merkmal seines philosophischen Denkens. Es ist eins zu eins in seiner Einstellung zur Musik umzulegen, möglicherweise auch umgekehrt: Seine Einstellung zur Musik hilft uns, ein wesentliches Merkmal seiner Philosophie zu verstehen. Aufschlüsse über das Verhältnis von Musik und Philosophie ergeben sich aber nicht nur aus der Weise, wie er wahrnimmt und denkt. Auch manche inhaltliche Aspekte sind zu finden. In einer Tagebucheintragung aus dem Frühjahr 1915 (7 . Februar) finden wir zum Beispiel den Hinweis, dass die Kenntnis des Wesens der Logik zur Kenntnis des Wesens der Musik führe. Möglicherweise auch umgekehrt: die Kenntnis des Wesens der Musik zur Kenntnis dessen, was Wittgenstein unter dem „Wesen der Logik“ versteht? Im Tractatus, in die Zeit seiner Abfassung fällt die angeführte Notiz, wird Wittgenstein an einer Stelle jedenfalls konkret, und zwar in Satz 4.014: Dort spricht er vom Verhältnis von musikalischem Gedanken und Notenschrift, die man exemplarisch für das Verhältnis zwischen gedanklichem Inhalt und sprachlichem Ausdruck verstehen kann. Alle sind in gewissem Sinne eins, weil ihnen ihre logische Struktur gemeinsam ist. Versteht man, warum ein musikalischer Gedanke durch eine Notensequenz abgebildet werden kann, ich wiederhole: weil ihnen ihre logische Struktur gemein ist, versteht man auch, warum überhaupt Gedanken sprachlich formuliert werden können. Der Punkt: Musikalische Notation-Verstehen ist Sprache-Verstehen. Sprache-Verstehen ist im Mittelpunkt von Wittgensteins Philosophie, also führt uns das Verstehen von musikalischer Notation, von Musik könnte man einfacher sagen, in den Mittelpunkt von Wittgensteins Philosophie, hier die des Tractatus. In seinen späteren Werken, in denen Wittgenstein die menschliche Sprechpraxis als komplexes Phänomen in den Blick bekommt, nicht nur im Hinblick auf ihre Abbildfunktion, finden sich punktuell bemerkenswert deutliche Spuren, wie Musik-Verstehen Sprachverstehen in einem philosophischen Sinn bedingt. Etwa Punkt 527 in den Philosophischen Untersuchungen: „Das Verstehen eines Satzes der Sprache ist dem Verstehen eines Themas in der Musik viel verwandter, als man etwa glaubt“. Warum? – Weiter mit einem Zitat, diesmal aus den Bemerkungen zur Philosophie der
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Psychologie II, 503f:9 „Man kann auch vom Verstehen einer musikalischen Phrase sagen, es sei das Verstehen einer Sprache“. Wann versteht man ein Thema der Musik, einen sprachlichen Ausdruck? – Wenn man seine Bedeutung kennt. Wann kennt man die Bedeutung eines musikalischen Themas, eines sprachlichen Ausdrucks? „Nur im Fluss der Gedanken und des Lebens“ (Ebd.) Musikalische Themen haben Bedeutung im Kontext des Flusses von Gefühlen, Gedanken, lebendigen Einstellungen, könnte man Wittgenstein frei interpretieren. Versteht man das, versteht man auch, wie Sprache allgemein zu Bedeutung kommt: im Fluss der Gedanken und des Lebens; in Sprachspielen, wie Wittgenstein sagt, das sind nichts anderes als verschiedene lebendige Einstellungen, Handlungs- oder kurz Lebenskontexte, wie Abbilden, Scherzen, Befehlen, Rezitieren, etc. Worauf ich hinaus will: Das Verstehen von Musik, oder wie Musik Bedeutung haben kann, ist ein Weg in Wittgensteins Philosophie, auch in seine späte Philosophie, der es um das Verstehen und Bedeutung von Sprache in ihrer ganzen Vielfalt geht. Ich komme zum Schluss: nach meinen kurzen Schlaglichtern auf Leben, Philosophie, den Tractatus Wittgensteins, auf seine Einstellung zur Musik, und dem Verhältnis Musik – Philosophie bei ihm, wende ich mich nochmals der Eingangsfrage zu: Wo steht Wittgenstein in seiner Einschätzung der Musik, nahe dem Pythagoras oder doch im Verbund mit Immanuel Kant? – Mein bescheidener Beitrag verfolgt das Ziel, diese Frage als rein rhetorische auszuweisen. Musik ist, wenn schon nicht Philosophie, so doch geradezu paradigmatischer Ausdruck dessen, worum es der Philosophie eigentlich geht. So gesehen ist Wittgenstein ein „klassischer Pythagoräer“. Musik ist ein Schlüssel zum Verstehen der Philosophie Wittgensteins, nicht von außen vielleicht, sondern von innen her. Damit möchte ich auch schließen, allerdings nicht ohne nochmals auf jene zu verweisen, die an dieser Stelle wohl noch wesentlich mehr zu sagen hätten, sowohl zu Philosophie als auch zu Musik, vor allem aber zu Wittgenstein … Danke Elisabeth und Werner! Ihr seid unvergessen.
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Zitate aus den Bemerkungen zur Philosophie der Psychologie übernehme ich aus Alber 2000, hier: 157.
Philosophie, Musik, und vor allem Wittgenstein
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Literatur Alber, Martin (Hrsg.) 2000 Wittgenstein und die Musik. Ludwig Wittgenstein – Rudolf Koder: Briefwechsel. Hrsg. v. M. Alber in Zusammenarbeit mit B. McGuiness und M. Seekircher. Brenner Studien Band XVII. Haymon, Innsbruck. Kant, Immanuel 1963 Kritik der Urteilskraft. Zitiert nach der Edition von G. Lehman bei Reclam, Stuttgart. Kanzian, Christian & Munz, Volker & Windholz, Sascha (Hrsg.) 2007 Wir hofften jedes Jahr noch ein weiteres Symposium machen zu können. Ontos, Kirchberg. Leinfellner, Elisabeth & Windholz, Sascha 2005 Ludwig Wittgenstein. Ein Volksschullehrer in Niederösterreich. Sutton, Erfurt. Mansfeld, Jaap 1983 Die Vorsokratiker I, Griechisch / Deutsch. Auswahl der Fragmente, Übersetzung und Erläuterung von J. Mansfeld. Reclam, Stuttgart. Schulte, Joachin 1989 Wittgenstein. Eine Einführung. Reclam, Stuttgart.
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„So ist also dieses Buch eigentlich nur ein Album.“ Bemerkungen zu Wittgensteins Photoalbum Peter Keicher Einleitung Die philosophischen Schriften Wittgensteins enthalten mehrere Erörterungen zur Photographie. Wittgensteins praktische Betätigung als Photograph wurde in der Forschung jedoch bislang noch kaum zur Kenntnis genommen, seine photographischen Arbeiten sind noch immer weitgehend unbekannt. Die wenigen vor allem in Ludwig Wittgenstein. Sein Leben in Bildern und Texten (Nedo, 1983) veröffentlichten Beispiele vermitteln zwar einen vagen, aber keinesfalls vollständigen Eindruck seines photographischen Werkes. Der Verbleib der von Wittgenstein aufgenommenen Photos ist bislang nur teilweise bekannt, der Umfang seines photographischen Werkes ist noch kaum abzuschätzen. Eine der zweifellos bedeutendsten photographischen Arbeiten Wittgensteins ist ein Photoalbum aus den dreißiger Jahren. Dieses prominente Stück des Nachlasses befindet sich derzeit am Wittgenstein Archiv in Cambridge. Mit diesem Beitrag sollen der Forschung einige Informationen zur Form und zum Inhalt dieses Photoalbums zur Verfügung gestellt werden. Die folgenden Angaben beruhen teilweise auf Beschreibungen in der bislang seltenen einschlägigen Fachliteratur, vor allem bei Michael Nedo (Nedo, 1989) und Bernhard Leitner (Leitner, 2001). Durch meine frühere Arbeitstätigkeit am Wittgenstein Archiv in Cambridge konnte ich außerdem spezifische Sachkenntnisse bezüglich des Photoalbums und einiger weiterer photographischer Arbeiten Wittgensteins erwerben.
1. Beschreibung des Photoalbums Wittgensteins Photoalbum ist ein Notizbuch, dessen Form jenen ‚Taschennotizbüchern’ entspricht, die Wittgenstein auch für seine philosophischen Aufzeichnungen verwendet hat. Dieses Notizbuch hat einen kartonierten
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grünen Einband, die Rückenverstärkung ist aus rotem Leinen, die blau linierten Blätter sind in Fadenbindung geheftet. Das Stück mißt 10 x 16 cm, es ist etwa 3 cm dick und umfaßt 150 Seiten (Nedo, 1989, 155). Möglicherweise wählte Wittgenstein dieses kleine Format, um das Album ähnlich wie seine pocket notebooks leicht mit sich führen zu können (Leitner, 2001, 49). Das Notizbuch enthält ausschließlich Photos und keinerlei schriftliche Aufzeichnungen, d.h. auch keine Bildunterschriften, Namen, Jahreszahlen oder Datierungen, die Seitenzahlen in Bleistift stammen offenbar nicht von Wittgenstein. In gewisser Weise handelt es sich also um ein reines ‚Bilddokument’. Das Album enthält mehr als 100 Photographien, die sich fast ausschließlich auf den jeweiligen recto Seiten des Bandes finden. Von den 75 Doppelseiten sind etwa 60 einseitig recto und nur wenige beidseitig verso und recto mit Photos gefüllt (Nedo, 1989, 155). Auf jeweils einer Seite finden sich bis zu acht Bilder. Die Proportionen der Photos wurden von Wittgenstein häufig durch entsprechenden ‚Zuschnitt’ bearbeitet. Viele, aber weitaus nicht alle der Photos wurden von Wittgenstein selbst aufgenommen. Die nicht von ihm selbst aufgenommenen Photos stammen größtenteils aus der Sammlung der Schwester Margarete Stonborough, darunter auch mehrere von Moritz Nähr und weiteren Personen aufgenommene Photos. Einige Photos könnten von Freunden Wittgensteins aufgenommen worden sein, einige wenige stammen offenbar von Straßenphotographen. Vermutlich entstand dieses Album in den dreißiger Jahren, doch wann genau Wittgenstein es begonnen hat und wie lange er daran gearbeitet oder Photos ergänzt hat, ist schwierig zu bestimmen. Manche Bilder stammen aus den zwanziger Jahren, andere, im letzten Drittel des Albums, können nicht vor 1937 entstanden sein. Fania Pascal zufolge erwarb Wittgenstein etwa Mitte der dreißiger Jahre oder früher eine Kamera bei Woolworth in Cambridge (Pascal, 41); mit dieser Kamera ist Wittgenstein auf einigen von Gilbert Pattison 1936 in Frankreich aufgenommenen Photos zu sehen (Nedo, 1983, 280). Es kann bislang nicht ausgeschlossen werden, daß Wittgenstein das Album erst nach 1937 angelegt hat, und falls diese Vermutung zutreffen sollte, könnte eine Verbindung bestehen zwischen der Besatzung Österreichs im Jahr 1938 und der persönlichen Erinnerungsfunktion des Photoalbums. Der größte Teil der Photos zeigt Familienmitglieder und Wittgenstein persönlich nahestehende Personen in Wien, Wittgensteins Mutter, seine Geschwister, Onkel und Tanten, offenbar auch einige Bedienstete der Familie, Freunde Wittgensteins in Wien, sowie Freunde und Schüler aus sei-
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ner Zeit als Lehrer in Niederösterreich. Das Album enthält auch Aufnahmen von Gebäuden und Interieurs in Wien, mehrere Photos zeigen das ‚Wittgensteinhaus’ in der Kundmanngasse. Die Landschaftsaufnahmen zeigen vor allem die Gegend um das Familiengut der Hochreith und norwegische Landschaften am Sognefjord. Zwischen den Familienphotos aus Österreich finden sich häufig Photos des engsten Freundeskreises und Wittgenstein nahestehender Personen in England, Irland und Norwegen. Wittgensteins Photoalbum ist somit ein besonders persönliches Dokument.
2. Bemerkungen zur Methode Die offenbar früheste Studie zu Wittgensteins Photoalbum wurde 1989 von Gerd Walden veröffentlicht. Für Walden ist Wittgensteins Album gleichzeitig „Belegstück der Erinnerung, Experimentierfeld der Methodik und Mittel zur Fixierung seines persönlichen Lebensbereichs“ (Walden, 159). Auch Wittgensteins Geschwister legten Photoalben an, wobei vor allem die Alben der Schwester Margarete Stonborough zu nennen sind, die sich heute an der Österreichischen Nationalbibliothek befinden. Walden benennt kenntnisreich die Unterschiede zu diesen teils auch repräsentativen Zwecken dienenden Alben der Familie. Fotografie als Medium der Erinnerung wird [bei Wittgenstein] unter der Prämisse der Authentizität gesehen. Darüber hinaus ergeben sich aber auch narrative, formale und literarische Bezüge, die das Subjektive Wittgensteins vermitteln. Eine referentielle Gegenposition ergibt sich somit zu den übrigen erhaltenen Fotoalben seiner Familie durch die Auswahl, Anordnung und Bestimmung der Ausschnitte in den Bildern, obwohl teilweise dieselben Aufnahmen verwendet wurden. (Walden, 159f.) Das Photoalbum enthält Bilder unterschiedlicher Autoren und Genres; die Autorschaft Wittgensteins besteht Walden zufolge hierbei vor allem in der methodischen Auseinandersetzung mit dem Medium der Photographie. Wittgenstein analysierte und benutzte spezifische Eigenschaften des Mediums, das seinem Streben nach Klarheit entgegenkam. (…) Aus diesem Grund finden sich in Wittgensteins Fotoalbum – einem Konzentrat seines Umgangs mit Fotografie – Fotos, die er selbst gemacht hat, Aufnahmen, die nach seiner Anleitung entstanden sind, neben Bildern von Freunden, Familienangehörigen sowie anonymen Straßen-
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fotografen. Sie werden zu einem Zeichensystem geordnet, dessen Arrangeur Wittgenstein ist. (Walden, 159) Betrachtet man Wittgensteins Photoalbum, so überwiegt trotz heterogener Bildautoren und Genres doch eindeutig der Eindruck einer spezifischen formalen Kohärenz, die wohl kaum zufällig entstand, sondern als das Ergebnis sehr sorgfältiger methodischer Überlegungen zu interpretieren ist. Die Erforschung dieser Methoden steht im Grunde genommen noch an ihrem Anfang. Michael Nedos diesbezügliche Beschreibung erscheint hier besonders treffend. Ein ungewöhnliches Album, in dem die Anordnung der Bilder keinem einfachen chronologischen, personenbezogenen oder sonst üblichen formalen Prinzip folgt, sondern eher in der Art komplexer Geschichten angelegt ist, wobei das Format, die Größe und die Tönung der einzelnen Bilder eine ebenso gewichtige Rolle spielen wie die Bildinhalte selbst: gewissermaßen Familienähnlichkeiten in der Praxis der Philosophie. (Nedo, 1989, S. 153) Die von Michael Nedo und Michele Ranchetti herausgegebene Bildbiographie Ludwig Wittgenstein. Sein Leben in Bildern und Texten enthält auch einige Beispiele serieller Collagen kleiner Photos auf losen Blättern, die teils mehr als 20 Bilder pro Seite umfassen (Nedo, 1983, 281, 293). Diese offenbar zur weiteren Verwendung nur ‚punktgeklebten’ Photos zeigen vor allem Familienmitglieder und Freunde Wittgensteins. Auch wenn diese Collagen nicht von Wittgenstein selbst ausgeführt wurden, sondern erst nachträglich von Ben Richards, dem er offenbar zahlreiche Photos überließ, zeigen diese Photos doch sehr anschaulich Wittgensteins Methode, mit einer Woolworth-Kamera kleinere und größere Bildserien zu knipsen, die teils auch filmische Aspekte beinhalten. Dominiert in Wittgensteins Photoalbum der Eindruck einer komplexen Gesamtschau, bei der gleichzeitig die einzelnen oder nur wenigen Photos pro Seite in ihrer besonderen Eigenart individuell zur Geltung kommen, so haben Wittgensteins serielle Photographien eher experimentellen Charakter.
3. Das Vorwort der Philosophischen Untersuchungen Wittgenstein verfaßte seine philosophischen Texte bekanntlich in Form von durch Leerzeilen voneinander getrennten Bemerkungen. Im Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen vergleicht er diese Bemerkungen
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mit ‚Landschaftsskizzen’, sein Buch, so meint er, sei „eigentlich nur ein Album“. Im folgenden seien einige Passagen aus diesem Vorwort zitiert, um den Leser auf eine besondere Formulierung aufmerksam zu machen, die sich zusätzlich zu Wittgensteins allgemeinem Vergleich der Untersuchungen mit einem Album als eine indirekte, eher arbeitstechnische Bezugnahme auf das Photoalbum interpretieren läßt. Die philosophischen Bemerkungen dieses Buches sind gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen (…). Eine Unzahl dieser war verzeichnet, oder uncharakteristisch, mit allen Mängeln eines schwachen Zeichners behaftet. Und wenn man diese ausschied, blieb eine Anzahl halbwegser übrig, die nun so angeordnet, oftmals beschnitten, werden mußten, daß sie dem Betrachter ein Bild der Landschaft geben konnten. – So ist also dieses Buch eigentlich nur ein Album. (TS 227, S. 2) Wenn Wittgenstein seine „Bemerkungen“ mit „Skizzen“ vergleicht, so ist dies intuitiv verständlich, und es erscheint auch bildlogisch folgerichtig, wenn er von den „Mängeln eines schwachen Zeichners“ spricht, und von zahlreichen verzeichneten Skizzen, die eine Auswahl „halbwegser“ erforderten, die neu angeordnet werden mußten. Ungewöhnlich ist nun jedoch die Formulierung, daß die gezeichneten Skizzen „oftmals beschnitten“ werden mußten, und genau diese Formulierung legt Parallelen zu einer Arbeitstechnik nahe, die Wittgenstein bei der Arbeit mit Photographien angewendet hat. Fania Pascal, bei der Wittgenstein in den dreißiger Jahren gemeinsam mit Francis Skinner Russisch-Unterricht nahm, bemerkte hierzu: Francis erzählte mir, daß Wittgenstein Stunden darauf verwandte, von seinen kleinen Fotografien winzige Stücke abzuschneiden, ehe er mit dem dann irgendwie erzielten Gleichgewicht zufrieden war. Als er mir dann meine Abzüge schenkte, waren sie in der Tat viel kleiner, als sie ursprünglich gewesen waren; eines der Bildchen war kaum größer als zwei Zentimeter im Quadrat. (Pascal, 56) Auch Wittgensteins Photoalbum enthält Photos, die vermutlich in der Weise bearbeitet wurden, wie Francis Skinner dies Fania Pascal berichtete. Die zitierte Beschreibung betrifft somit entweder die Arbeit an Wittgensteins Photoalbum oder an weiteren seiner Photographien aus den dreißiger Jahren. Diese Photographien hat Wittgenstein tatsächlich „oftmals beschnitten“, um hierduch den Bildausschnitt stimmiger erscheinen zu lassen, oder um die Proportionen der Abmessungen für ein einzelnes Bild oder für die Kombination mehrerer Bilder harmonischer zu gestalten. Da der Zuschnitt
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einer Landschaftsskizze eher ungewöhnlich erscheint, liegt die Vermutung nahe, daß Wittgenstein im Vorwort zu den Untersuchungen indirekt auf seine Arbeit mit Photographien oder auf die Erarbeitung seines Photoalbums Bezug nimmt.
Zusammenfassung Wittgensteins Photoalbum ist nicht nur ein autobiographisches Zeugnis ersten Ranges, es dokumentiert auch seine methodische Auseinandersetzung mit dem Medium der Photographie. Wittgensteins Arbeit mit Photographien beinhaltet erstaunliche methodische Ähnlichkeiten mit der Komposition seiner Bemerkungen in Textform, die Wittgenstein ebenfalls häufig ausgeschnitten und in Form von Zetteln neu arrangiert hat. Auf die Bedeutung dieser ‚Arrangements’ für die Komposition philosophischer Werke Wittgensteins habe ich bereits in einer früheren Veröffentlichung hingewiesen (Keicher, 2008). Die durch formale Mittel wie Auswahl, Zuschnitt und Anordnung der Photographien angestrebte Kohärenz des Photoalbums beinhaltet gleichzeitig ein Netz wechselseitiger Beziehungen zwischen einzelnen oder kleineren Serien von Photographien. Die methodische Verbindung serieller Aspekte und eigenständiger Sinneinheiten ist auch für Wittgensteins Bemerkungen in Textform kennzeichnend. Wie in Wittgensteins philosophischen Schriften fehlen auch im Photoalbum thematische ‚Kapitelüberschriften’ oder sonstige Spezifizierungen für einzelne Bilder. Dies läßt sich als ein offenbar bewußt intendiertes Spiel mit unterschiedlichen Möglichkeiten der relationalen Entsprechung interpretieren, wie z.B. narrative, formale oder strukturelle Entsprechungen einzelner Photos. Während Wittgenstein beim Photographieren kleinerer oder größerer Bildserien offenbar nur mit einer jeweils begrenzten Anzahl an ‚Lesarten’ experimentiert, entfaltet das Photoalbum als Ergebnis einer Komposition in Buchform einen besonderen Reichtum verschiedener Interpretationsmöglichkeiten. In der Forschung hat Michael Nedo bezüglich der Verbindungen zwischen Wittgensteins Philosophie und seiner methodischen Auseinandersetzung mit dem Medium der Photographie bereits auf Bezüge zwischen einer Kompositphotographie der Geschwister Wittgenstein und dem philosophischen Begriff der ‚Familienähnlichkeit’ hingewiesen (Nedo, 1989). Daß solche Bezüge nicht nur von außen an Wittgensteins Philosophie herangetragen werden, zeigt besonders deutlich der ‚Vortrag über Ethik’, in dem Wittgenstein Galtons Verfahren der Kompositphotographie explizit als ein
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anschauliches Beispiel für seine Darstellungsmethode der Bedeutungsaspekte des Begriffs der ‚Ethik’ verwendet. Eine genauere Erforschung des Photoalbums als „Konzentrat seines Umgangs mit Fotografie“ (Walden, 159) läßt sicher noch weitere Zusammenhänge zwischen Wittgensteins Philosophie und seiner praktischen Beschäftigung mit der Photographie erkennen. Solche Verbindungen zwischen Philosophie und Praxis könnten auch wichtige Anregungen für die Bildwissenschaften beinhalten. Durch Wittgensteins Vergleich der Philosophischen Untersuchungen mit einem Album erhält indirekt auch sein Photoalbum philosophische Bedeutung. Auf wichtige methodische Aspekte des Albumbegriffs für Wittgensteins Schreibweise hat bereits Alois Pichler hingewiesen (Pichler, 2004). Ohne dabei auf Wittgensteins Photoalbum einzugehen, vertritt Pichler die These, daß der Begriff des Albums für Wittgenstein besonders seit den dreißiger Jahren an Bedeutung gewinnt, und das heißt offenbar in etwa zeitgleich zur Erstellung des Photoalbums. Für ein angemessenes Verständnis vor allem der literarischen, methodischen und ästhetischen Aspekte der Philosophischen Untersuchungen erscheint eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Wittgensteins Photoalbum unverzichtbar. Es wäre deshalb wünschenswert, daß Wittgensteins Photoalbum der wissenschaftlichen Forschung durch eine für das Bildmedium naheliegende FaksimileEdition zugänglich gemacht wird. Dieses besonders wertvolle Stück des Wittgenstein-Nachlasses sollte außerdem langfristig sicher an einer traditionsreichen Bibliothek verwahrt werden, wie z.B. an der Wren Library des Trinity College Cambridge oder an der Österreichischen Nationalbibliothek.
Literatur Keicher, Peter, „Wittgensteins Bücher“, S. 193-233 in Thomas Fries, Peter Hughes, Tan Wälchli (Hg.), Schreibprozesse, Wilhelm Fink Verlag, München 2008. Leitner, Bernhard, The Wittgenstein House, Princeton Architectural Press, New York 2001. Nedo, Michael, „Familienähnlichkeit: Philosophie und Praxis“, S. 147-158 in Wiener Secession (Hg.), Wittgenstein. Biographie, Philosophie, Praxis. Eine Ausstellung der Wiener Secession, 13. Sept.-29.Okt.1989, Band 1, Wiener Secession, Wien 1989. Nedo, Michael, „Familienähnlichkeit: Philosophie und Praxis. Eine Collage“, S. 163178 in Matthias Kroß, Günter Abel, Michael Nedo (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Ingenieur, Philosoph, Künstler, Parerga Verlag, Berlin 2007. Nedo, Michael, Ranchetti, Michele (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Sein Leben in Bildern und Texten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1983.
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Pascal, Fania, „Meine Erinnerungen an Wittgenstein“, S. 35-83 in Rush Rhees (Hg.), Portraits und Gespräche. Hermine Wittgenstein, Fania Pascal, F.R. Leavis, John King, M. O’C. Drury, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1992. Pichler, Alois, Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Vom Buch zum Album, Rodopi Verlag, New York Amsterdam 2004. Walden, Gerd, „Fotografie als Beschreibung“, S. 159-164 in Wiener Secession (Hg.), Wittgenstein. Biographie, Philosophie, Praxis. Eine Ausstellung der Wiener Secession, 13. Sept.-29.Okt.1989, Band 1, Wiener Secession, Wien 1989. Wittgenstein, Ludwig, Tractatus Logico-Philosophicus, Tagebücher 1914-1916, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe, Band 1, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1984. Wittgenstein’s Nachlass, The Bergen Electronic Edition, Oxford University Press, Oxford 2001.
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Unser Denken bleibt gefragt: Web 3.0 und Wittgensteins Nachlass Christian Erbacher Die Bergen Electronic Edition hat sich etabliert Das Wittgenstein-Archiv an der Universität Bergen (WAB) ist vor allem für die Veröffentlichung der Bergen Electronic Edition (BEE) bekannt.1 Die BEE ist eine umfangreiche digitale Version von Wittgensteins Nachlass mit einer diplomatischen und einer normalisierten Transkription. Zu jeder transkribierten Seite bietet die Ausgabe außerdem das entsprechende Faksimile.2 Die Auswirkungen der BEE auf die Wittgensteinforschung zeichnen sich mittlerweile deutlich ab: an zahlreichen Universitäten in der ganzen Welt ist die BEE zugänglich und wird dort von Nachlassforschern geschätzt und zunehmend verwendet; für die fortlaufende Edierung von Wittgensteins Schriften in Buchform bietet sie einen stabilen Referenzpunkt3; und beim Forschungsnachwuchs befördert sie die Einsicht, dass der Nachlass für die Erforschung bereit steht und man ihn auch dann gewinnbringend zur Kenntnis nehmen kann, wenn man sich primär mit der Logisch-philosophischen Abhandlung oder den Philosophischen Untersuchungen beschäftigt. Letzteres zeigt z.B. ein Blick in die Beiträge des Internationalen Wittgenstein Symposiums in Kirchberg von 2010. Durch die Einbeziehung vieler Nachwuchsforscher fühlt das Symposium in Kirchberg immer am „Puls der Zeit“. Im Jahr 2010 erwähnt eine signifikante Anzahl der Beiträge des Forschungsnachwuchses Wittgensteins Nachlass und nimmt Stellung zu den in der BEE enthaltenen Dokumenten. Das legt die Vermutung nahe, dass sich die Beschäftigung mit Wittgensteins Nachlass momentan von einem kleinen Kreis Experten auf eine breite Rezeption ausweitet. Wie sich dadurch unser Bild von Wittgensteins Denken und Arbeiten verändern wird, ist heute noch nicht abzusehen. Fest steht aber bereits, dass die BEE an diesem Prozess beteiligt und als Quelle
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Wittgensteins Nachlass – the Bergen electronic edition 2000 vgl. Huitfeldt 2004, S. 113-127 3 vgl. Wittgenstein 2009, Seite ix 2
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und Referenzsystem aus der Erforschung von Wittgensteins Schriften nicht mehr wegzudenken ist. Ein Grund für den Erfolg der BEE mag sein, dass die elektronische Ausgabe von Wittgensteins Nachlass nicht als unabänderliches Produkt angesehen wird. Vielmehr wird am WAB stetig an ihrer Verbesserung und Erweiterung gearbeitet. Die heutige Ausrichtung der Arbeit am WAB ergibt sich dabei aus der Geschichte des Archivs. Auf sie möchte ich kurz eingehen, um die gegenwärtigen Projekte einzurahmen und schließlich eine Frage näher zu behandeln, die mich persönlich während meiner dreijährigen Arbeit am WAB begleitet hat. Es wird dabei erklärt, warum ich das WAB ein philosophisches Archiv nennen möchte und warum ich diesen Zusatz für erforderlich und nützlich halte.
Philosophischer Nachlass trifft elektronische Datenverarbeitung Seit Beginn des Archivs besteht sein besonderes Merkmal in der Nutzung digitaler Technologien zur Präsentation und Erschließung von Wittgensteins Nachlass. Schon in den Dokumenten zur Projektgründung heißt es dementsprechend: The main objectives of the Wittgenstein Archives at the University of Bergen are: - to produce a complete machine-readable version of Ludwig Wittgenstein's unpublished manuscripts - to develop software for the presentation and analysis of the texts - to give visitors and scholars at the University of Bergen access to the machine-readable transcriptions Since the texts are being transcribed for computer use, it will be possible to use programs for computer-assisted text analysis. It will therefore be easy to present the texts in various formats and to make rapid searches through the material for various purposes.4 Mit dieser Agenda zur computerbasierten Edierung und Erforschung von Wittgensteins Nachlass kann man auch noch nach 20 Jahren den Kurs des WAB treffend beschreiben. An den 3 Zielen: 1) maschinenlesbare Transkription, 2) Software zur Präsentation und Analyse und 3) Zusammen-
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The Wittgenstein Archives 1991, S.29
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arbeit mit Gästen und Forschern kann sich so auch die folgende Darstellung der Arbeit am WAB orientieren. Das erste und vornehme Ziel des WAB war die Erstellung einer vollständigen maschinenlesbaren Transkription von Wittgensteins Nachlass in dem Umfang wie er damals vorlag. Um das Ausmaß dieses Vorhabens einschätzen zu können, sind die Begriffe „maschinenlesbar“ und „vollständig“ zu erläutern. Maschinenlesbar wird die Transkription dadurch, dass die Texte nicht bloß abgetippt werden. Vielmehr werden auch sozusagen die phänotypischen Eigenschaften der Manuskripte und Typoskripte in eine Computersprache übersetzt. Das heißt, dass Eigenschaften wie etwa einfache und doppelte Durchstreichungen, einfache und doppelte, gerade und wellenförmige Unterstreichungen, Varianten, Ergänzungen und Verbesserungen und (neuerdings zunehmend) Zeilenumbrüche und Nummerierungen usw. durch einen Computercode in der Transkription gekennzeichnet sind. Wer die Aufzeichnungen und die Arbeitsweise Wittgensteins kennt, kann sich vorstellen, wie komplex eine solche maschinenlesbare Transkription schon von einer einzelnen Bemerkung aussehen kann.5 Um diesen speziellen Gegebenheiten von Wittgensteins nachgelassenen Schriften Rechnung tragen zu können, wurde am WAB eine eigenes Codierungssystem namens MECS (Multi-Element-Code-System) und dazu ein auf Wittgensteins Nachlass zugeschnittenes Vokabular MECS-WIT geschaffen.6 Zu der Komplexität der einzelnen Bemerkungen kommt nun noch der Umfang von Wittgensteins Nachlass hinzu. Der derzeitige Direktor des Archivs Alois Pichler spricht von 140 Manuskripten und Typoskripten, die sich auf rund 18.000 Seiten summieren.7 Auch die kleinste systematische Maßnahme in der Transkription wirkt sich so mindestens mit dem Faktor 18.000 zu einem enormen Arbeitsaufwand aus. Angesichts dieser Tatsache kann man es ohne Übertreibung als Herkules-Arbeit bezeichnen, die das WAB mit seiner zehnjährigen Arbeit an der Transkription zwischen 19902000 vollbracht hat. Die maschinenlesbare Transkription ist allerdings nicht identisch mit der BEE. Sie ist die Basis, aus der die BEE hergestellt wird. Oder anders ausgedrückt: die diplomatische und normalisierte Version der BEE sind lediglich zwei spezielle Konkretisierungen der maschinenlesbaren Transkription. Sie verhalten sich zu der Basis etwa wie eine Datenbankausgabe zu der Datenbank selbst. Dementsprechend sind auf Grundlage der Transkrip5
vgl. Pichler 1995; Pichler 2002; Pichler und Erbacher 2008 Huitfeldt 1994; The Wittgenstein Archives 1995, S.24-28; Huitfeldt 1998 7 Pichler 2000, S.38 6
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tion sehr unterschiedliche Darstellungen möglich.8 Man könnte sich so neben den bereits vorliegenden elektronischen Darstellungen auch Leseund Studienausgaben mit unterschiedlich detaillierter Abbildung der Phänotypen der Originale vorstellen ebenso wie entsprechende Druckausgaben oder Online-Editionen. Besonders transparent werden die Möglichkeiten zu mehr oder weniger reichhaltigen Darstellungen bei den Anwendungen, die am WAB als Interactive Dynamic Presentation of Wittgensteins Nachlass bezeichnet werden.9 Dabei kann sich jeder Benutzer bis zu einem gewissen Grad über das Internet Versionen von Wittgensteins Nachlass nach seinen speziellen Interessen und Bedürfnissen darstellen lassen. Die editorischen Entscheidungen über Hinzunahme oder Nichtbeachtung bestimmter Aspekte (deren Rahmen vom „Herausgeber“ allerdings schon vordefiniert ist) liegen so bei dem Forscher selbst. – Mit dieser Anwendung greife ich allerdings etwas vor. Denn hier befinden wir uns bereits im Bereich von Projekten, die nach der Veröffentlichung der BEE entwickelt worden sind, also in das zweite Jahrzehnt des WAB zwischen 2000-2010 fallen. Diese Phase bleibt der Grundausrichtung der Nutzung digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien zur Präsentation und Erschließung von Wittgensteins Nachlass treu. Entsprechend der allgemeinen Entwicklungen auf diesem Gebiet spielt hierbei aber das Internet (WWW) eine immer bedeutendere Rolle.
Von der Ur-Transkription zur Website Die grundlegende Aufgabe bei dem Vorhaben, die Bergener Transkription von Wittgensteins Nachlass „fit fürs Internet“ zu machen, setzt wieder bei der Basisversion an. Es ist zweckmäßig, die in MECS-WIT verfasste Version von Wittgensteins Nachlass zunächst in eine andere Sprache zu übersetzen, nämlich XML (Extensible Markup-Language). XML kann als Lingua franca des WWW bezeichnet werden. Die Übersetzung ermöglicht nicht nur eine einfachere Darstellung der Transkriptionen im WWW, sondern auch ihre Bearbeitung mit vielfältiger Software. Die eben angesprochene benutzergesteuerte Darstellung ist ein Beispiel hierfür. Ein wesentlicher zweiter Entwicklungsschritt in der Geschichte der BEE besteht also in der Übersetzung der Basistranskription in XML. Spätestens mit dem Pro8
Pichler 2002 Eine Modellversion hiervon ist abrufbar unter: http://wab.aksis.uib.no/transform/wab.php?modus=opsjoner 9
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jekt DISCOVERY wurde dieses Vorhaben am WAB systematisch in Angriff genommen.10 Ziel von DISCOVERY war es, Originaltexte von antiken, modernen und zeitgenössischen Philosophen über eine im WWW frei zugänglichen Web-Infrastruktur zusammenzubringen. Außerdem sollte die inhaltliche Erschließung der Texte mit hilfreicher Software unterstützt werden.11 Das WAB war sowohl inhaltlich als auch technisch an diesem Projekt beteiligt. Als Ergebnis sind heute 5000 Seiten von Wittgensteins Nachlass frei auf der Internetseite Wittgensteinsource zugänglich.12 Aber neben der konkreten Präsentationsweise im Internet ist, wie gesagt, die Veränderung der Basisversion von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der BEE. Für das DISCOVERY-Projekt wurde am WAB eine weitgehend automatische Übersetzung erarbeitet, die die MECS-WIT Transkription in eine XML-TEI Codierung überführen lässt. Damit ist die BEE im Prinzip bereit für eine Internetedition, die mit vielfältiger Software bearbeitet und mit anderen Internetdaten verknüpft werden kann.13 Mit der Übersetzung in XML spricht Wittgensteins Nachlass jetzt sozusagen die Sprache des WWW. Damit ist nicht zuletzt auch dem zweiten der anfangs genannten Grundsatzziele des WAB gedient: der Entwicklung von Software zur Präsentation und Analyse von Wittgensteins Nachlass. Auf einen speziellen Fall, mit dem ich während des DISCOCERY-Projektes zu tun hatte, möchte ich im Folgenden eingehen.
Eine Ontologie für Wittgensteins Nachlass? Unter dem Begriff des Semantic Web wird eine Vision von der zukünftigen Entwicklung des WWW zusammengefasst. Im Sinne der Grundidee des Semantic Web sollen im Internet nicht nur Dokumente dargestellt und miteinander verbunden werden können, sondern auch die Daten in diesen Dokumenten für die computergestützte Verarbeitung aufbereitet und miteinander verknüpft werden. Manchmal wird davon gesprochen, dass der Computer also sozusagen die Inhalte der Dokumente verrechnen können soll. Diese Vorstellung einer Weiterentwicklung vom WWW wird von den Vordenkern des Internets als eine Erweiterung des bereits bestehenden 10
http://wab.aksis.uib.no/wab_discovery.page http://www.discovery-project.eu/home.html 12 http://www.wittgensteinsource.org 13 Pichler 2010, S. 157-172 11
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Netzes angesehen.14 Sie soll komplexe Suchanfragen ermöglichen können, wie z.B: „Welches Getränk passt zu Wiener Schnitzel?“ und automatische Schlussfolgerungen ermöglichen (z.B. „Welche Getränke sollte ich vermeiden, wenn ich Wiener Schnitzel esse?“). Eine zentrale Rolle bei diesem Zukunftsszenario des Semantic Web spielen sogenannte Ontologien. Darunter kann man die formale Explizierung von Begriffen eines Wissensbereichs und von deren Beziehungen zueinander verstehen („explicit formal specifications of the terms in the domain and relations among them“)15. Eine Ontologie im Sinne des Semantic Web spezifiziert also die Elemente eines bestimmten Bereichs und definiert ihre Relationen zueinander. Ein solcher Bereich wäre im oben genannten Beispiel etwa die österreichische Küche, deren Unterklassen Speisen und Getränke sein könnten, welche wiederum in Vor-, Hauptund Nachspeisen sowie alkoholische und nicht-alkoholische Getränke gegliedert sein könnten, usw. Die Elemente der Unterklassen werden dann in interessierenden Hinsichten zueinander in Beziehung gesetzt, etwa ob sie als Gericht miteinander harmonieren. Die Ontologie formuliert diese Beziehungen in einer maschinenlesbaren Sprache. Ein Beispiel für eine solche Sprache ist OWL (Ontology Web Language). Sie verwendet logische Ausdrücke, um die Beziehung zwischen Begriffen einer Domäne formal zu explizieren. Dieses logische Netz oder Gitter wird dann mit den Inhalten einer Datenbank verbunden. Die Inhalte werden dadurch geordnet oder strukturiert, so dass Suchanfragen entlang der Gitterlinien effizienter zu einzelnen Dokumenten der Datenbank führen. Der Datenwust im WWW wird durch Ontologien sozusagen in Schubladen aufgeräumt. Ist dies geschehen und sind solche Beziehungen definiert, so kann der Computer im Prinzip auch alle Implikationen des so entstandenen Netzes errechnen. In diesem Sinn zieht der Computer Schlüsse aus den Daten: er expliziert die Implikationen der Ontologie, durch die die Daten miteinander verbunden werden. Eine entsprechende Fantasie für die Domäne „Wittgensteins Nachlass“ könnte darin bestehen, die Grundbegriffe eines Manuskriptes aufzulisten und die Beziehungen zwischen ihnen zu formalisieren. Am Horizont dieser Tätigkeit könnte die automatische Beantwortung von Fragen stehen wie etwa: „Was versteht Wittgenstein unter Bedeutung?“, „Welche Bemerkungen handeln von Bedeutung?“, „Welche Rolle spielt das Regelfolgen für 14
vgl. Berners-Lee, Hendler und Lassila 2001; The World Wide Web Consortium (W3C) 2011 15 Noy und McGuinness 2006, S.1
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Wittgensteins späte Auffassung von Bedeutung?“ Um die automatische Bearbeitung solcher Fragen zu erreichen, ist es notwendig, zu explizieren, wovon die Elemente von Wittgensteins Nachlass (etwa die Bemerkungen oder Paragrafen) jeweils handeln und wie diese Themen miteinander verbunden sind. Führt man sich dieses Szenario vor Augen, so wird der Eingeweihte schnell stutzig. Wittgensteinforscher wissen, wie schwierig es ist, festzustellen, was das Thema einer Bemerkung ist, ganz zu schweigen von der Verbindung von Themen und Kernbegriffen. Man kann sogar sagen, dass der Diskurs der Wittgensteinforschung wesentlich in der Identifizierung von Grundbegriffen von Wittgensteins Philosophie und deren Beziehungen zueinander besteht. Gelänge deren Formalisierung, so wäre also dieser Diskurs im Grunde beendet: der Nachlass wäre inhaltlich erschlossen und die Erkenntnisse formalisiert festgehalten. Das mit den eben beschriebenen Mitteln einer Web-Ontologie zu erreichen, erscheint mir allerdings nur schwer möglich. Zumindest ließen sich die Erfolgsaussichten für eine zufriedenstellende Realisierung einer so aufgefassten Ontologie von Wittgensteins Denken mit Blick auf die Frühgeschichte der Analytischen Philosophie bestimmen. Denn eine Ontologie in diesem Sinne ist im Grunde die Reformulierung philosophischer Inhalte mit logischen Zeichen. Doch um das Prinzip dieser technischen Anwendung noch klarer zu sehen, sei für einen Moment angenommen, dass eine solche Ontologie hergestellt werden könnte. Es sei angenommen, dass die Forschungsliteratur zu hundert Paragrafen von TS227 ausgewertet und die Ergebnisse im Sinne einer Ontologie formuliert werden könnten. Würde man diese inhaltliche Strukturierung der Beantwortung von Suchanfragen zugrunde legen, so würde die Ontologie entsprechend ihrer Bestimmungen die möglichen Suchergebnisse reduzieren. Gerade in dieser Filterung mit Hinsicht auf den Inhalt der Dokumente besteht die Steigerung der Effizienz durch die Implementierung von Ontologien. Soweit klingt das gut; formulieren wir das soeben Gesagte doch etwas anders: Die Effizienzsteigerung durch eine Ontologie besteht im Grunde darin, dass die im Hintergrund der Suchanfrage wirksame Ontologie den Raum möglicher Antworten reduziert. Die Ontologie hat das zu durchsuchende Material eben vorsortiert. Diese Vorsortierungen sind aber immer das Ergebnis von inhaltlichen Interpretationen derer, die die Ontologie formuliert haben. Diese Interpretationen würden also immer schon angenommen, sobald man die Technologie verwendete. Man würde immer nur innerhalb einer Interpretation von Grundbegriffen und ihren Beziehungen
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zueinander suchen. Die Interpretation, die jemand in der Ontologie expliziert hat, würde also bei jeder Benutzung implizit verwendet. Für mich liegt es auf der Hand, dass ein solches Szenario für eine freie philosophische Forschung Bedenken hervorrufen sollte. Sofern die philosophische Forschung aus dem Diskurs über Grundbegriffe und ihren Beziehungen zueinander besteht, nimmt die Implementierung einer Ontologie diesen Diskurs vorweg und untergräbt ihn geradezu. Eine die Suchanfragen leitende Ontologie würde in diesem Sinn als ein scholastisches Dogma wirken.
Ontologie-Kritik! Mit dem Thema Ontologien befindet man sich klar im Überschneidungsbereich von Digitalisierung/Präsentation auf der einen Seite und inhaltlicher Interpretation von Dokumenten auf der anderen Seite. Diese Sphären sind nie ganz voneinander zu trennen. Aber hier greifen sie deutlich ineinander über; und diese Überschneidung bedarf der Reflexion. Damit kommt die dritte Grundsatzsäule des WAB ins Spiel: die Zusammenarbeit und der Austausch des WAB mit der Wittgensteinforschung. Das WAB funktioniert neben seinen stärker Technologie-orientierten Aufgaben auch als ein Knotenpunkt in einem Netzwerk der Wittgensteinforschung. Es nimmt an zahlreichen internationalen Projekten teil und hat aus einer Serie publizierter Arbeitspapiere die Herausgeberschaft einer Buchreihe zur Nachlassforschung entwickelt.16 Nach meiner Erfahrung inspiriert diese enge Verzahnung von Technologie-Entwicklung, Philologie und Philosophie eine außergewöhnlich produktive und kooperative Atmosphäre. Die aktive Beteiligung an der Diskussion über Inhalte ist dabei Ausdruck der Überzeugung, dass Wittgenstein nicht nur beschriebene Seiten, sondern auch Gedanken hinterlassen hat. Ein Wittgenstein-Archiv, das mit seinen Editionen Wittgensteins Denken Rechnung tragen will, kann deshalb mit den Texten auch nicht unabhängig von deren Inhalt umgehen. In diesem Sinn möchte ich das WAB ein philosophisches Archiv nennen. Im Fall der Ontologien kann das Nachdenken von Wittgensteins Gedanken zu der Einsicht führen, dass die Ontologien des Semantic Web für unser Denken nicht so harmlose Anwendungen sind wie häufig von Entwicklern der Informationstechnologie vorausgesetzt wird. Im DISCOVERY-Projekt 16
vgl.: http://wab.aksis.uib.no/wab_goingon.page; http://wab.aksis.uib.no/wab_workingpapers.page
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wurde häufig darauf hingewiesen, dass Web-Ontologien grundverschieden von Ontologien in der Philosophie seien. Das scheint beinahe ein Allgemeinplatz der Web-Ontologie-Entwicklung zu sein. Aber wie ich eben angedeutet habe, kann eine implementierte Web-Ontologie den Raum möglicher Suchergebnisse bestimmen und eingrenzen. In diesem Sinn ist sie die Summe und Ordnung dessen, was in der Datenbank ist. Damit wird sie aber zur philosophischen Ontologie par excellence: sie ist eine Lehre vom Seienden, eine Lehre dessen, was es im WWW zu finden gibt. Für Suchanfragen, die mit ihrer Hilfe beantwortet werden, gibt es jenseits der ontologischen Kategorien nichts. Die Ontologie bestimmt, was man bei Suchanfragen finden kann. Als Philosoph und gerade als Wittgensteinleser ist man vielleicht für die damit verbundenen Gefahren besonders sensibel. Man ist gewohnt, kritisch gegenüber grundlegenden Festschreibungen zu sein, die unser Denken leiten. Gerade im Gegensatz zu solchen festen Bestimmungen sehe ich Wittgensteins Philosophie häufig der Offenheit von Bedeutungen, von Grundbegriffen und deren Beziehungen zueinander verschrieben. Setzt Wittgenstein sich nicht dafür ein, die Unsicherheiten zu ertragen – und sich unter Umständen sogar an ihnen zu erfreuen – die mit vagen Begriffen einhergehen? Diesen Unsicherheiten gegenüber stellt er den Wert von begrifflichen Spielräumen, die unsere Sprache lebendig und flexibel halten. Die Unbestimmtheit ist ein Wert, nicht ein Mangel unserer Sprache. Und das scheint mir bisweilen auch für Wittgensteins eigene Bemerkungen zu gelten. Angesichts dieser Spannung von technischer Erschließung, Darstellung und philosophischer Interpretation nimmt es nicht Wunder, dass die Ontologisierung von Wittgensteins Nachlass im DISCOCERY-Projekt intensiv diskutiert wurde. Am WAB gibt es hierzu verschiedene Meinungen. Neben der gerade vorgestellten gibt es auch optimistischere Positionen, die diese Technologie für weniger bedenklich halten.17 Die am WAB stattfindende offene Diskussion über die Bewertung neuer Möglichkeiten der WWW-Technologien erscheint mir über das Aufgabenfeld des WAB hinaus höchst wünschenswert und erforderlich. Denn die hier aufgeworfenen Fragen sind keineswegs auf das WAB beschränkt: Man führe sich vor Augen, wie sehr wir unser Denken schon heute den Suchergebnissen aus dem WWW anvertrauen. Wer kann heute sagen, wie diese Suchergebnisse zustande kommen und wie sie gefiltert werden? Wenn nun zusätzlich große Teile des WWW mit Ontologien hinterlegt 17
vgl. Zöllner-Weber und Pichler 2007, S. 248-250
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werden, um die Suchanfragen „effizienter“ zu verarbeiten, so gelten die Bestimmungen einer solchen impliziten Lenkung eben für große Teile unseres öffentlichen Bewusstseins. Möchten wir diesen bedeutenden Teil unserer Gedanken der Leitung durch Ontologien überlassen? Geben wir hier nicht unbemerkt etwas ab, das wir bedacht nicht abgeben wollen würden? – Dass diese Entwicklung nicht nur auf Konzeptpapieren von Internet-Entwicklern stattfindet, sondern bereits gesellschaftliche Realität wird, zeigt zum Beispiel das Programm „Theseus“, in dem die deutsche Bundesregierung seit 2007 die semantische Erschließung des WWW mit 100 Mio. Euro finanziert.18 Vor dem Hintergrund der breiten gesellschaftlichen Veränderungen durch technologische Entwicklungen eröffnet sich eine Perspektive für die Rolle der Geisteswissenschaften und der Philosophie: Sie besteht darin, nicht ausschließlich die neuen technischen Möglichkeiten für den philosophischen Diskurs zu nutzen – das sicherlich auch; die Aufgabe von Philosophie und Geisteswissenschaften sehe ich aber zudem in der kritischen Auseinandersetzung mit den technischen Entwicklungen der Zeit und ihren Folgen für unser Denken. Das ist sicher nicht neu. Technologiekritik und Fortschrittskritik haben eine lange Tradition in der Geschichte der abendländischen Philosophie. Sie sind auch in Wittgensteins Gedanken prominent.19 Diese Kritik für die heutigen Bedingungen neu, scharf und wirkungsvoll zu formulieren scheint mir ein wichtiger Teil der Aufgaben für Philosophie im 21. Jahrhundert. Das Thema der Web-Ontologien ist hier nur ein Beispiel. Grundlegend problematisch scheint mir vielmehr das Ausmaß, in dem wir zum Abtreten unseres Denkens an Rechenmaschinen bereit zu sein scheinen, und das Bild vom Denken, das zu dieser Bereitschaft führt. Philosophie im 21. Jahrhundert hat meines Erachtens demgegenüber Denken als menschliches Verhalten und Kulturtechnik in Abgrenzung zum Technologie-Gebrauch darzustellen. Es gilt, das Denken als Tätigkeit wieder attraktiv zu machen.
18 19
siehe: http://theseus-programm.de/home/default.aspx vgl. von Wright 1978, 1995
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Überlegenheit statt Maschinensturm Ich habe zu zeigen versucht, dass die drei Grundsatzziele des WAB, die vor 20 Jahren formuliert worden sind, noch immer die Besonderheit dieses Archivs einfangen. Alle drei Zielbereiche spielen dabei zusammen. Gerade die Bündelung von technologischer Kompetenz auf allen Ebenen der Computer-Technologie mit der philosophischen Reflexion führt zu einem sehr seltenen Mehrwert. Das freie Denken grenzt dabei den Einsatz technischer Möglichkeiten ein, und nicht umgekehrt. Mit dieser Verbindung kann ein philosophisches Archiv zukunftsorientierte Produkte schaffen. Denn nicht (nur) der Maschinensturm scheint mir eine richtige Schlussfolgerung der vorgebrachten Ontologie-Kritik. Vielmehr ermächtigt uns das Wissen um die mit Technologien verbundenen Gefahren erst dazu, uns vor diesen zu schützen und die Technologien in unserem Sinn zu instrumentalisieren. Wir können sie als Instrumente für unser Denken gebrauchen. Für Wittgensteins Nachlass könnte das bedeuten, sich bei der elektronischen Strukturierung stärker an den empirischen und philologischen Eigenschaften der Dokumente zu orientieren, die die Nachlassforschung zutage fördert. Daran wird am WAB bereits gearbeitet. Wittgensteins hinterlassene Gedanken laden außerdem dazu ein, bei der Implementierung von Ontologien sehr viel behutsamer vorzugehen als die weitreichenden Visionen des Semantic Web versprechen und das Vokabular und die Auswirkungen des Semantic Web kritisch zu hinterfragen.
Literatur: Berners-Lee, Tim, Hendler, James und Lassila, Ora 2001: „The Semantic Web“, Scientific American Magazine; Online unter: http://www.scientificamerican.com/ article.cfm?id=the-semantic-web&print=true Huitfeldt, Claus 1994: „Multi-Dimensional Texts in a One-Dimensional Medium”, in Computers and the Humanities, 28, 4/5, Dordrecht: Kluwer, S. 235-241. Huitfeldt, Claus 1998: MECS – A Multi-Element Code System, Online unter: http://www.hit.uib.no/claus/mecs/mecs.htm Huitfeldt, Claus 2004: „Editorial Principles of Wittgenstein’s Nachlass: The Bergen Electronic Edition“, in: Dino Buzzetti, Giuliano Pancaldi, Harold Short (Hrsg.), Augmenting Comprehension: Digital Tools and the History of Ideas, London: Office for Humanities Communication Publication, S. 113-127.
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Noy, Natalya and McGuinness, Deborah 2006: Ontology Development 101: A Guide to Creating Your first Ontology, S. 1, Online unter: http://protege.stanford.edu/ publications/ontology_development/ontology101.pdf, S. 1. Pichler, Alois 1995: „Transcriptions, Texts and Interpretation“, in: Kjell S. Johannessen und Tore Nordenstam (Hrsg.), Culture and Value, Beiträge des 18. Internationalen Wittgenstein Symposiums, Kirchberg am Wechsel: ALWS, S. 690-695, Online unter: http://wab.aksis.uib.no//alois/pichler-kirchb95a.pdf Pichler, Alois 2000: Vom Buch zum Album, Bergen: Universität Bergen, S.38. Pichler, Alois 2002: „Encoding Wittgenstein Some remarks on Wittgenstein's Nachlass, the Bergen Electronic Edition, and future electronic publishing and networking“, TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 10, Online unter: http://www.inst.at/trans/10Nr/pichler10.htm Pichler, Alois und Erbacher, Christian 2008: „Das „Wittgenstein MS 101 from September 1914-Projekt und das Wittgenstein Archiv an der Universität Bergen“ in: J. Bremer/J. Rothhaupt (Hrsg.): Ludwig Wittgenstein: „przydzielony do Krakowa“/“Krakau zugeteilt“, Krakau: Ignatianum. Pichler, Alois 2010: „Towards the New Bergen Electronic Edition“, in: N. Venturinha (hg.), Wittgenstein After His Nachlass, London: Palgrave Macmillan, S. 157-172. The World Wide Web Consortium (W3C) 2011: http://www.w3.org/standards/semanticweb The Wittgenstein Archives at the University of Bergen 1991: The Wittgenstein Archives at the University of Bergen, Background, Project Plan, and Annual Report 1990, Working Papers from the Wittgenstein Archives at the University of Bergen No 2, Bergen: University of Bergen, Online unter: http://wab.aksis.uib.no/wp-no2.pdf The Wittgenstein Archives at the University of Bergen 1995: Project Report 1990-1993 and Critical Evaluation; Working Papers from the Wittgenstein Archives at the University of Bergen No 9; Online unter: http://wab.aksis.uib.no/wp-no9.pdf, S. 24-28. Wittgenstein, Ludwig 2009: Philosophical Investigations, revised 4th edition, hg. von P.M.S. Hacker und J. Schulte, Oxford: Wiley-Blackwell, Seite ix. Wittgensteins Nachlass – the Bergen electronic edition 2000, hrsg. von The Wittgenstein Archives at the University of Bergen, Oxford: Oxford University Press. von Wright, Georg Henrik 1978: „Wittgenstein in relation to his times“, in: E. Leinfellner, W. Leinfellner, H. Berghel, A. Hübner, Wittgenstein and his Impact on Contemporary Thought, Wien: Hölder Pichler Tempsky, S. 73-78. von Wright, Georg Henrik 1995: „Wittgenstein and the twentieth century“, in: R. Egidi, Wittgenstein: Mind and Language, Dordrecht: Kluwer, S. 1-19. Zöllner-Weber, Amelie und Pichler, Alois 2007: ”Utilizing OWL for Wittgenstein’s Tractatus”, in: H. Hrachovec, A. Pichler & J. Wang (Hrsg.), Philosophy of the Information Society, Kirchberg am Wechsel: ALWS, S. 248-250.
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Implizites Wissen der Editorinnen und Editoren. Die neue Auflage des Gesamtbriefwechsels Wittgensteins als Beispiel für Datenmodellierung in Geisteswissenschaften Joseph Wang Einleitung Computer sind heutzutage selbst in den Geisteswissenschaften nicht mehr wegzudenken. Bis in den 1990er Jahren diente der Computer hier zwar „bloß“ als bessere Schreibmaschine, mit deren Hilfe Manuskripte erstellt werden können. Dank des Internets (bzw. des World Wide Webs) ist der Computer heute eines der wichtigsten Forschungswerkzeuge v.a. für die Informationsrecherche. Spätestens mit der Einführung der XML/TEIRichtlinie in seiner vierten Auflage, der so genannten P4 (TEI 2002), können Computer auch als „Informationsdatenbank“, in der unterschiedliche Texte – einem Adressbuch gleich – aufbewahrt und durchsucht werden können, von den Geisteswissenschaftler/innen eingesetzt werden. Doch gerade mit der XML/TEI-Technologie ist eine enge Zusammenarbeit zwischen den Editorinnen der Geisteswissenschaften und den Techniker/innen aus der Computer-Wissenschaft unbedingt erforderlich. Und v.a. an den Problemen, die bei dieser Zusammenarbeit entstehen, zeigen sich, dass die Vorgehensweisen der beiden Disziplinen zum Teil stark voneinander unterscheiden und dass diese Unterschiede von den Forscher/innen nur selten reflektiert werden. Um einen besseren Überblick zu den unterschiedlichen Problemen geben zu können, möchte ich im ersten Kapitel zunächst die Editionsgeschichte der ersten Auflage des Gesamtbriefwechsels schildern. In dem zweiten Kapitel werde ich die XML/TEI-Technologie kurz vorstellen, diese Vorstellung dient dazu, um die notwendige Interdisziplinarität dieser Technik zu belegen. Das dritte Kapitel ist der zweiten Auflage des Gesamtbriefwechsels gewidmet, ich werde auch auf interdisziplinäre Herausforderungen eingehen, die uns während der Projektarbeit begegnet sind.
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Um die Entstehung dieser Herausforderungen begreiflich zu machen, soll in dem vierten Kapitel die Theorie des Impliziten Wissens geschildert werden. Im fünften Kapitel soll versucht werden, die interdisziplinären Herausforderungen anhand der Theorie des Impliziten Wissens zu erläutern.
1. Editionsgeschichte des Ludwig Wittgenstein: Gesamtbriefwechsel Wie in der Fachwelt bekannt, wurde der Gesamtbriefwechsel Ludwig Wittgensteins von Monika Seekircher, Brian McGuinness und Anton Unterkircher im Jahre 2004 bei dem in Charlottesville/VA ansässigen Verlag Intelex herausgegeben. Hier sollte nicht unerwähnt bleiben, dass diese Edition nur in Zusammenarbeit mit vielen anderen Kolleg/innen des Brenner-Archivs vollendet werden konnte. Intelex ist ein auf digitale Edition spezialisierter Verlag, in seinem Programm befinden sich zahlreiche Werke von Philosoph/innen, und diese werden über das Internet vertrieben.1 Im Zusammenhang mit dem Briefwechsel Wittgensteins ist besonders der Nachlass Wittgensteins, und zwar die Bergen Electronic Edition (BEE) in der normalisierten Fassung, aus dem Verlagsprogramm hervorzuheben. Nicht nur ist Wittgenstein der Urheber sowohl der BEE als auch des Gesamtbriefwechsels; BEE ist – wie das später ersichtlich wird – auch aus technischer Sicht der „große Bruder“ des Gesamtbriefwechsels. Dank der Natur solcher Art von Internet-Editionen, dass Benutzer/innen quasi über eine digitale Bibliothek verfügen und eine Suche über alle Bücher innerhalb der Bibliothek ausführen können, sind Leser/innen nun auch in der Lage, über alle edierten Nachlassschriften Wittgensteins zu suchen. Bevor die Editionsgeschichte des Gesamtbriefwechsels erläutert wird, soll zunächst näher auf jene der BEE eingegangen werden, da BEE eine große Rolle bei der Entstehung des Gesamtbriefwechsels spielt. Um die Geschichte der BEE verständlich machen zu können, muss kurz davor noch etwas zu der Codierungssprache MECS gesagt werden.
1
Das Verlag ist natürlich auch im Internet vertreten, siehe hierzu: http://www.nlx.com (Zugriff am 30.4.2011).
Implizites Wissen der Editorinnen und Editoren…
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1.1 SGML und MECS Die Standard Generalized Markup Language (SGML) ist ein Standard zur Text-Repräsentation, die von Computer-Wissenschaftler/innen in den 1980er Jahren entwickelt worden ist.2 Das Prinzip der SGML (eigentlich aller Auszeichnungssprachen, also auch der Extensible Markup Language, XML) ist, Teile eines Textes mit den so genannten tags zu kennzeichnen, um sie von den anderen Textteilen abzuheben. Diese als „Auszeichnung“ bezeichnete Tätigkeit erfolgt deswegen, damit der Computer anhand von tags später den Text verarbeiten kann. Ein einfaches Beispiel ist das Auszeichnen des Textteils als Absatz: Dank dieser Auszeichnung „weiß“ der Computer, dass er diesen Abschnitt des Textes durch Zeilenumbrüche von den anderen Texten getrennt darstellen soll. Hierzu werden am Anfang eines Absatzes ein starttag und am Ende eines Absatzes ein endtag angebracht. Das, was zwischen dem starttag und dem dazugehörigen endtag befindet, ist dann der Absatz.3 Hier ein Beispiel für die Codierung eines Absatzes: …
Das ist ein Absatz.
…13 (für paragraph, dieses Element codiert einen Absatz) nur Text und (für highlight, Hervorhebungen werden mit ihm ausgezeichnet) vorkommen 11
Zu den Unterschieden zwischen SGML und XML siehe Clark (1997). Für die Geisteswissenschaft ist es von Bedeutung, dass XML eine strengere Struktur fordert. Während in SGML verschachtelte Elemente möglich sind, müssen die Elemente in XML streng hierarchisch aufgebaut sein. Aber im Prinzip wird mit XML ein wichtiges Anliegen von SGML, ein systemunabhängiges Format für den Datenaustausch zwischen Rechnern zu entwickeln, verwirklicht. Siehe hierzu: Travis (1998). 12 In SGML ist die Zuweisung von Schema auch möglich. Dort wird es Doctype Definition (DTD) genannt. Während in SGML einer Datei nur eine DTD zugewiesen werden kann, kann man in XML unterschiedliche Schemas in einer Datei kombinieren. So kann beispielsweise in einem Brief der Text in TEI codiert sein, die logische und mathematische Formel in ihm werden aber mit MathML (siehe World Wide Web Consortium (2003)), einer XML-Spezifikation für die Auszeichnung von mathematischen Formeln, geschrieben. 13 Gemäß der üblichen Konvention in der einschlägigen Literatur (z.B. Tidwell (2008), xv f.) werden die Codes in der dickengleichen Schrift dargestellt. Elemente werden in spitzen Klammern (z.B.
oder ) wiedergegeben, während die Attribute mit einem vorangestellten Klammeraffen (z.B. @rend, @key) im Fließtext dargestellt werden.
Implizites Wissen der Editorinnen und Editoren…
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dürfen. Damit ist beispielsweise ausgeschlossen, dass in einem Absatz weitere Absätze enthalten sind. Die rigide Regelung des Dateiaufbaus und die Möglichkeit der Zuweisung eines Schemas bringen einige Vorteile mit sich. Zum einen begünstigt die rigide Struktur die Datenverarbeitung mittels des Computers; Softwares, die mit XML-Dateien arbeiten, können relativ einfach geschrieben werden. Zum anderen ist es möglich, mit einer geeigneten Software die (vermeintliche) XML-Datei auf ihre Wohlgeformtheit und ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. Ist eine Datei wohlgeformt, dann weist sie die Vorgabe der XML auf und kann problemlos mit einer XML-Software weiter bearbeitet werden. Ist sie zudem auch noch gültig, dann weist sie auch jene Struktur auf, welche in dem ihr zugewiesenen Schema festgehalten ist. Mit XML können neben Texte auch ganz unterschiedliche Inhalte festgehalten werden. Die XML schreibt nicht vor, was denn die einzelnen Elemente „bedeuten“ sollen. So „bedeutet“ ein Element in einem TEI-Dokument, dass in diesem Element ein Zeitpunkt festgehalten wird, während das gleichnamige Element in einem MusicXMLDokument14 die Taktangabe wiedergibt.
2.2 Die TEI-Richtlinie Dass Computer bei einer Edition von Primärtexten nicht nur als „Setzmaschine“ eingesetzt werden kann, hat die Text Encoding Initiative schon Ende der 1980er Jahre erkannt. 1987 wurde TEI gegründet, um die Möglichkeit einer systemunabhängigen Verarbeitung geisteswissenschaftlicher Texte mittels Computer zu entwickeln (TEI (o.J.)). Um dieses Ziel zu erreichen, gibt TEI die TEI Guidelines heraus, anhand derer die Geisteswissenschaftler/innen ihre Texte codieren sollen. Inzwischen liegen fünf Versionen vor, wobei man mit der im Jahre 2002 erschienenen vierten Version (die so genannte P4) zum ersten Mal den vollen XML-Standard integrierte. 2007 erschien dann die bislang letzte Fassung der TEI-Richtlinie P5, mit der der Wechsel zu XML vollzogen wurde.15 Was ist nun P5? Eine TEI-Richtlinie besteht aus zwei Teilen: Ein Schema, welches die Geisteswissenschaftler/innen einer XML-Datei zuweisen kann, und eine Menge von Anweisungen, welche den Editor/innen 14
Mit MusicML liegt ein Schema einer XML-Datei vor, welche Musiknoten zum Inhalt hat. Siehe hierzu Recordare (o.J.). 15 Siehe die verschiedenen Versionen der TEI-Richtlinie in TEI Consoritum (1998), TEI Consortium (2002) und TEI Consortium (2007).
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vorgeben, wann sie welches Element gebrauchen sollten. Den ersten Teil kann man als Software verstehen, während der zweite Teil als das ihr zugehörige Handbuch aufgefasst werden kann. Ein TEI-Dokument besteht in der Regel aus dem Wurzelelement . In ihm kommen zwei Elemente vor: ein so genannter TEI-Header () und ein Textbereich (). In dem TEI-Header sind Metadaten zu dem Text festgehalten, während im Textteil der eigentliche Fließtext codiert ist. Die Codierung soll kurz geschildert werden, weil das implizite Wissen der Geisteswissenschaftler/innen mit ihr besser verständlich gemacht werden kann. TEI stellt eine Menge von Elementen für die Codierung des Textes zur Verfügung. Neben jenen Elementen, die die Textstruktur (Überschriften , Absätze
, Hervorhebungen , Liste , Fußnoten , Tabellen