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German Pages 632 Year 2002
Andreas W. Daum Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert
Andreas W Daum
Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848-1914
2., ergänzte Auflage
R. Oldenbourg Verlag München 2002
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Daum, Andreas W.: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert: bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848 -1914 / Andreas W. Daum. - 2., erg. Aufl. - München : Oldenbourg, 2002 Zugl.: München, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-486-56551-6
© 2002 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: Falkner GmbH, Inning Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-56551-6
Inhalt Vorwort Einleitung I. II.
XI 1
Popularität, Popularisierung, Populärwissenschaft: Begriffsgeschichtliche Annäherungen
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Naturwissenschaften, Schulunterricht und öffentliche Meinung.
43
1. Naturwissenschaften als Unterrichtsfach am Beispiel Preußens
44
2. Die Auseinandersetzungen zwischen Humanisten und Realisten
51
3. Darwinismus und Biologie-Unterricht im Meinungsstreit.... a) Die Haeckel-Virchow-Kontroverse und die Grenzen des Erkennens 1872-1878 b) Der Darwinismus auf der politischen Bühne 1878-1883... c) Präsentation und Transformation der Streitfragen im öffentlichen Raum III. Vereine, Vorträge und Feste 1. Naturvereine und Vereinsnatur a) Strukturelle und funktionale Wandlungen bis 1914 b) Der Naturverein als Forum der Amateurwissenschaft . . . . c) Öffentlichkeitsarbeit, naturkundliche Vereinsmuseen und das Verständnis von Popularität 2. Die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte als nationales Forum der Naturwissenschaftler a) Strukturen und Funktionen b) Die Rhetorik der Allgemeinen Sitzungen c) Bürgerliche Geselligkeit, Selbstinszenierung und Festikonographie d) Die GDNA zwischen korporativer Verfestigung und Publikumsorientierung 3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste 1859-1864 a) Emil Adolf Roßmäßler und die Konzeption der Humboldt-Vereine
65 66 71 76 85 89 96 103 111 119 119 125 129 133 138 142
VI
Inhalt b) Roßmäßlers Bildungsverständnis und die soziale Frage zwischen Liberalismus und Arbeiterbewegung c) Humboldtianer und Nation in der Neuen Ära 4. Institutionalisierung und Kommerzialisierung der bürgerlichen Naturkunde a) Auf dem Weg zur Urania 1859-1888 b) Von der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde zur Kosmos-Gesellschaft 1894-1914 c) Generationswandel am Jahrhundertende eine Zwischenbilanz
IV. Naturwissenschaftliche Bildung als organisierte Weltanschauung 1. Lichtfreunde, Deutschkatholiken und die Naturwissenschaften 1841-1859 a) Die Herausbildung der freireligiösen Bewegung b) Konvergenzen von freireligiösem und naturwissenschaftlichem Denken c) „Natürliche Weltanschauung" und „Evangelium der Natur" - Wissenschaftspopularisierung aus dem freireligiösen Milieu 2. Die Weltanschauungsvereine a) Von den Materialisten zur ethischen Aufklärung b) Die monistische Mobilisierung 1900-1909 c) Der Keplerbund und die antimonistische Gegenoffensive seit 1907 3. Naturwissenschaften in der Deutungskonkurrenz vor dem Ersten Weltkrieg a) Der Jesuit Erich Wasmann und die Berliner Diskussion 1907 b) Johannes Reinke contra Ernst Haeckel 1905-1909 V.
154 161 168 168 184 188 193 195 195 198 203 210 210 214 220 226 226 229
Popularisierung auf dem literarischen Markt
237
1. Der Buchmarkt und die Naturkunde
238
2. Vertextung von Wissenschaft und die Herausforderung populärer Sprache a) Das Dilemma der Fachsprache und die Sachprosa als Textgenre b) Das „Geheimniss eines wirksamen Populär-Stiles": der Idealkatalog c) Das „platte Verständlichmachen": die Gefahren
243 243 249 255
Inhalt
VII
d) Die „kleinen Kniffe": Beispiele popularisierender Textgestaltung
257
3. Vorläufer und Wegbereiter a) Von der Frühen Neuzeit zu Alexander von Humboldt.... b) Humboldts Kosmos - ein populäres Werk?
265 265 273
4. Etablierung, Diversifizierung und Polarisierung nach 1848 .. a) Kosmos-Literatur und Humboldts Plan eines Micro-Kosmos b) Der neue Empirismus, die ältere Entwicklungsgeschichte und die naturkundlichen Briefe c) Die Polemiken um den Materialismus
280
5. Die Verweltanschaulichung der naturkundlichen Literatur bis 1914 a) Der Einzug des Darwinismus und Ernst Haeckels populäre Werke b) Einheit - Fortschritt - Harmonie: Die kosmische Entwicklungsgeschichte c) Versöhnung und Schönheit: Idealisierung und Poetisierung der Naturwissenschaft 6. Expansion und Marktorientierung im letzten Jahrhundertdrittel a) Buchserien und die Kommerzialisierung des naturkundlichen Literaturangebots b) Die Praxislektüre der Amateurwissenschaftler, Mikroskopier- und Aquarienkunde VI. Die populärwissenschaftliche Publizistik
280 286 293 300 300 309 316 324 324 331 337
1. Der Zeitschriftenmarkt und die Naturkunde
337
2. Die Anfänge bis zur Neuen Ära a) Kurzlebige Vorreiter b) Die Natur als Klassiker seit 1852 c) Popularisierungseifer und erste Gründungswelle 1852-1859
344 344 346 353
3. Konsolidierung, zweite Gründungs welle und der darwinistische Kosmos 1865-1890
359
4. Generationswechsel und dritte Gründungswelle seit 1900: Das naturkundliche Magazin und die „volkstümliche Wissenschaft"
370
VIII
Inhalt
VII. Die Vermittler: Biographien, Generationen und Gruppen
377
1. Die neuen „Volksnaturforscher" seit 1848
378
2. Professionelle Popularisierer a) Wege zur Populärwissenschaft als Beruf b) Tätigkeitsfelder und Erwerbschancen c) Krisenerfahrungen, Theoriebildungen und antiakademische Impulse
391 391 398
3. Okkasionelle Popularisierer a) Rekrutierung aus Lehrerschaft, Musealwesen, Zoologischen Gärten und Bildungseinrichtungen b) Pfarrer, Forschungsreisende und Postrevolutionäre c) Polygraphen als kulturgeschichtliche Chronisten
407
403
407 413 419
4. Universitäre Popularisierer a) Das konventionelle Bild: Die Verachtung der deutschen Gelehrten für die Populärwissenschaft b) Modifizierungen: Wissenschaftler als Vermittler c) Zum Verhältnis von Forschungsgeschichte und populärwissenschaftlichen Themen d) Die Tierseelenkunde und der Streit um die Renkenden Pferde'
422
5. Akademische Meinungsführer und Standespolitiker a) Justus Liebig und die Berliner Physiologen um Emil Du Bois-Reymond und Hermann Helmholtz b) Liberale Akzentsetzungen und ein Sonderfall: Rudolf Virchow, Wilhelm Foerster und Ernst Haeckel....
436
6. Ein erstes Fazit a) Soziale Interessen und soziale Diskrepanzen b) Generationenfolge, Milieubildungen und personale Vernetzungen
450 450
422 424 430 433
437 445
453
Zusammenfassung
459
Kurzbiographien
473
Anhang
519
Abkürzungen Verzeichnis der Tabellen Verzeichnis der Abbildungen
519 521 522
Inhalt
IX
Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Unveröffentlichte Quellen 2. Bibliographische und biographische Hilfsmittel 3. Veröffentlichungen vor 1914 a) Zeitschriften und Jahrbücher b) Stenographische Berichte c) Monographien und Aufsätze 4. Veröffentlichungen nach 1914
525 525 532 535 535 539 540 569
Ortsregister Personenregister Sachregister
599 602 609
Nachträge zur Literatur bis 2002 und Errata
618
Vorwort Die vorliegende Studie entstand am Institut für Neuere Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München und wurde im Sommersemester 1995 von der Philosophischen Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung habe ich den Text überarbeitet und gekürzt. Nachhaltiger Dank gilt meinem verehrten akademischen Lehrer Professor Dr. Thomas Nipperdey. Sein Plädoyer, das 19. Jahrhundert aus einer Vielzahl von politik-, sozial- und kulturgeschichtlichen Perspektiven zu betrachten und die Offenheit des Blicks zu wahren, der Rückhalt als Doktorvater und die Ermutigung, die Geschichte der Populärwissenschaft zum Thema einer wissenschaftlichen Untersuchung zu machen, haben die Arbeit lange begleitet. Professor Nipperdey hat zudem ihre materiellen Rahmenbedingungen geschaffen und mir mit einem hohen Maß an Vertrauen über viele Jahre hinweg ermöglicht, das Entstehen seiner ,Deutschen Geschichte' aus der Nähe zu verfolgen. All dies hat eine wichtige Lebensphase mitgeprägt. Nach dem Tod von Thomas Nipperdey haben Frau Professor Dr. Laetitia Boehm, Professor Dr. Wolfgang Hardtwig und Professor Dr. Dr. h.c. Gerhard A. Ritter nicht nur mit ihren Gutachten zum Abschluß der Promotion beigetragen, sondern mich mit fachlichem Rat, durch weitere institutionelle Absicherung und ihr menschliches Vertrauen sehr unterstützt; auch ihnen möchte ich besonders danken. Verschiedene Institutionen erleichterten den Fortgang der Arbeit auf einzelnen Wegstrecken: die Studienstiftung des Deutschen Volkes in den ersten Anfängen, die American Philosophical Society in Philadelphia, Pa. mit ihrem Mellon Resident Research Fellowship 1992, das Deutsche Historische Institut Washington, D.C. mit einem Promotionsstipendium im gleichen Jahr und nicht zuletzt die Gerda Henkel Stiftung, die mehrfach Stipendien bereitstellte. Der Förderungs- und Beihilfefonds der VG Wort hat die Publikation dankenswerterweise durch einen beträchtlichen Druckkostenzuschuß ermöglicht. Ermunterung und manche Anregung, wie eine Arbeit im Schnittfeld von Bürgertums-, Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte durchgeführt werden kann, verdanke ich den Gesprächspartnern in den USA und der Teilnahme am ersten Transatlantic Doctoral Seminar in Washington 1995. Namentlich seien Roy Goodman in Philadelphia, Professor Joseph Ewan (St. Louis), Professor Sally G. Kohlstedt (Minneapolis), Professor Arleen M. Tuchman (Vanderbilt University) und Dirk Bönker in Baltimore genannt. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der konsultierten Archive und Bibliotheken bin ich für ihre Hilfsbereitschaft verbunden.
XII
Vorwort
Vor allem möchte ich Katrin Lange, Johannes Paulmann, Margit Szöllösi-Janze und Helmut Zander, die Teile des Manuskripts gelesen und mit wertvollen Hinweise versehen haben, ebenso wie Thomas Hertfelder und Martina Kessel für ihre fachliche und persönliche Unterstützung danken. Daß sich zudem das Miteinander der Kolleginnen und Kollegen - allen voran Wilfried Rudioff und Stefan Fisch - in einer Zeit des Umbruchs am Institut für Neuere Geschichte solidarisch im besten Sinne des Wortes gestaltete, bedeutete mehr als nur eine Basis gemeinsamen Arbeitens und hat die Münchener Zeit wesentlich geprägt. Von Herzen danke ich meinen Eltern; ihnen ist dieses Buch gewidmet. Washington, D.C., im September 1997
Andreas Daum
Zur 2. Auflage Das Thema „Popularisierung" ist heute aktueller denn je. In Deutschland und vielen anderen Ländern wird intensiv über das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit und die Fluchtlinien der Wissensgesellschaft diskutiert. Zahlreiche Fragen, die sich aus naturwissenschaftlichen Forschungen für unsere Gesellschaft ergeben, werden als politische, kulturelle und ethische Herausforderungen aufgegriffen - in den Feuilletons der großen Zeitungen ebenso wie in Parlamentsdebatten. Zugleich mobilisieren Wissenschaftsverbände und die Industrie neue Ressourcen, um Forschung verständlich zu machen. So neuartig manche dieser Entwicklungen erscheinen, so sehr stehen sie doch in einer langen Tradition. Bereits im 19. Jahrhundert bildete die Wissenschaftspopularisierung einen zentralen Bestandteil der zeitgenössischen Kultur. Biologische Forschungen und ihre weltanschaulichen Auswirkungen erregten die Gemüter, der Wissenschaftsjournalismus blühte auf, und mit viel Phantasie wurden neue Vermittlungsformen von Wissenschaft entwickelt. Diese faszinierende Geschichte zum Bewußtsein zu bringen, sie erstmals auf einer breiten Quellenbasis zu erklären und in ihrer ganzen Reichhaltigkeit zu würdigen, ist das Ziel des vorliegenden Buches. Mein Dank gilt vor allem den Lesern, die mit ihrem anhaltenden Interesse diese zweite Auflage ermöglicht haben; sie enthält Nachträge zur jüngst erschienenen Literatur. Cambridge, Mass., im Oktober 2001
A.D.
Einleitung Thema, Eingrenzungen und Leitfragen Im Juni 1848 klopfte die Öffentlichkeit an das Portal der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Auf Initiative der Physikalischen Gesellschaft wurde der Akademieleitung eine Adresse übersandt, die einige Wochen Unter den Linden ausgelegen hatte und schließlich 106 Unterschriften aufwies. Überall, so setzte die Adresse ein, dringe in diesem Augenblick „neubefruchtend das Prinzip der Oeffentlichkeit", das seine Wirkungskraft der „Macht der öffentlichen Meinung" verdanke. Damit wurden Schlagworte aufgegriffen, die seit den Märztagen der Revolution als Fanal einer Neugestaltung von Staat und Gesellschaft galten. Ohne Zögern meldete die Adresse den Wunsch an, daß das Prinzip der Öffentlichkeit „auch auf dem Gebiete der Wissenschaft Platz greifen" möge, um jenes Vertrauen zu schaffen, „dessen eine Körperschaft bedarf, um mächtig zu sein in einem constitutionellen Staat". Die Unterzeichner forderten, die Scheidewand solle fallen, die zu lange zwischen der Akademie und dem „größeren Publikum" bestanden habe. Konkret wurde darum nachgesucht, sämtliche Akademiesitzungen, die wissenschaftliche Themen behandelten, öffentlich abzuhalten. Auch der Tagespresse sollte Gelegenheit gegeben werden, die Ergebnisse dieser Sitzungen „in weitern Kreisen durch Berichterstatter zu verbreiten, welche bemüht sind, sie allgemein verständlich und ihr Gewicht allen Theilen der Gesellschaft fühlbar zu machen." 1 Der Berliner Akademie gelang es trotz anhaltenden Drucks von außen, dieses Anliegen abzuschwächen und in bürokratische Bahnen zu lenken.2 Seiner Aktualität ließ es sich damit nicht berauben. Die Adresse hatte an symbolischer Stelle einen Anspruch in Worte gefaßt, der sich seit der Aufklärung andeutete, im Vormärz an Geltung gewann und nach 1848 seine eigentlich epochale Bedeutung entfaltete: die Ausweitung des Prinzips der Öffentlichkeit auf den Bereich von Wissenschaft und Bildung. Damit ist auch das Thema dieses Buches benannt. Während sich im 19. Jahrhundert ein Wissenschaftssystem institutionalisierte, das in professionellen Strukturen immer speziellere Kenntnisse hervorbrachte, verstärkte sich im gesellschaftlichen Raum das Bedürfnis, die Teilhabe am Wissen zu erweitern und die akademischen Erkenntnisse 1
2
„An die Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin", Acta betreffend die Adresse der hiesigen physikalischen Gesellschaft wegen Oeffentlichkeit der Gesammtsitzungen der Akademie 1848, AkW Berlin, II-V, 186, Akten der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1812-1945, Öffentliche Sitzungen 1848-1849. Siehe Kapitel VII.5.a).
2
Einleitung
transparent zu machen. Die Forderung, die entstehenden Fachwissenschaften auf ein größeres Publikum hin zu öffnen und allgemeinverständliche Informations- und Rezeptionsmöglichkeiten zu schaffen, wurde seit der Mitte des Jahrhunderts in allen Ländern Europas und Nordamerikas artikuliert und bildete vor allem in Deutschland ein Substrat demokratischpartizipatorischen Willens. Wissenschaft und Öffentlichkeit, Gelehrtentum und Publikum aufeinander zu beziehen, fand Ausdruck in der Vorstellung, Wissenschaft zu popularisieren. Popularisierung wurde nach 1848 in Deutschland zum inflationär gebrauchten Schlagwort. Während es für die einen zum emphatischen, oft weltanschaulich aufgeladenen Bekenntnis geronn, sprachen Kritiker schon 1856 von einer „Popularisirungsseuche" 3 . Tatsächlich blieb das Prinzip der Öffentlichkeit im wissenschaftlichen Bereich ebenso wie in der nachrevolutionären Politik umstritten und stieß auf zahlreiche Widerstände. Es warf unausweichlich die Frage nach der Legitimität von Gelehrtentum und der Reichweite gesellschaftlichen Räsonnements auf. Die Chancen seiner Verwirklichung mußten sich an den Spielräumen messen, die ein restriktives politisches System erlaubte und die von den etablierten gesellschaftlichen Mächten zugestanden wurden. Die Idee der Popularisierung zielte in erster Linie auf die Naturwissenschaften. Sie setzten sich seit dem Vormärz konsequent als analytisch-empirische Wissenschaften von der idealistischen Naturphilosophie ab. Das „glänzend ausgeputzte Schiff der Naturphilosophie" sei an dem „Felsen der Thatsache" zerschellt, formulierte 1847 Karl Vogt.4 Hinter dieser Polemik zeichnete sich ab, daß die Naturwissenschaften ein neues Selbstverständnis entwickelten als exakte Wissenschaften, die Messung und Experiment nutzten und physiologisch forschten. Die Harnstoffsynthese durch Friedrich Wöhler 1828 und das Gesetz von der Erhaltung der Energie, in den 1840er Jahren durch mehrere Forscher ermittelt, 5 markierten diese Wende und versetzten allen vitalistischen Lehren einen schweren Schlag. 3
4 5
Fabri: Briefe (1856), S. 126. Hier wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird bei Zitaten die zeitgenössische Orthographie, z.B. die Schreibweise ,Popularisirung', beibehalten. In den Anmerkungen werden alle Belegstellen, soweit sie im Literaturverzeichnis nochmals aufgeführt sind, in einer standardisierten Kurzform angegeben: Nachname des Autors oder der Autorin,Titelbeginn, Erscheinungsjahr in Klammern, gegebenenfalls um das Jahr einer Neuauflage ergänzt. Römische Ziffern nach dem Kurztitel spezifizieren eine Bandangabe. Titel, die nur als einmalige Belege dienen, z.B. einzelne Zeitschriftenbeiträge und Verweise auf die Forschungsliteratur, sind in den Fußnoten mit den erweiterten bibliographischen Angaben aufgeführt, aber nicht mehr gesondert in das Literaturverzeichnis aufgenommen. Bei historischen Persönlichkeiten, die zu Lebzeiten nobilitiert wurden, wird das Prädikat ,von' nicht aufgeführt. Vogt: Ueber den heutigen Stand (1847), S. 12. Robert Mayer, James Prescott Joule und Hermann Helmholtz.
Thema, Eingrenzungen und Leitfragen
3
Mit der aufstrebenden Physiologie, der modernen Embryologie und der Zelltheorie in Nachfolge von Matthias Schleiden und Rudolf Virchow wurde im besonderen aus den biologischen Wissenschaften heraus ein empirisch-reduktionistisches Erklärungsparadigma formuliert.6 Die empirischen Naturwissenschaften befanden sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts im epochalen Aufschwung zu akademischen Erfolgsdisziplinen und säkularen Deutungsinstanzen. Sie brachten jenes Wissen hervor, das die Erschließung der Welt und die Lebensprozesse in der Natur verstehen half. An ihnen beeindruckten die empirische Orientierung, die pragmatisch-rationale Methodik und vor allem der Gedanke der Evolution, der auf die Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts eine kaum zu überschätzende Faszination ausübte. Der Entwicklungsgedanke in seinen vielfältigen Varianten konnte zur Selbstvergewisserung ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und zur Bestätigung von Schöpfungs- und Entstehungsmythen eingesetzt werden. Nicht zuletzt schienen auch die technische Anwendbarkeit und der materielle Nutzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse verheißungsvoll. Das Schlagwort vom „naturwissenschaftlichen Zeitalter"7 bündelte später solche Erwartungen. Die Faszination für die Naturwissenschaften stieß indes bei Staat und Kirche auf erhebliche Vorbehalte, und sie rieb sich am dominierenden neuhumanistischen Bildungsbegriff, in dessen Mittelpunkt die philologisch-philosophische und die historische Bildung standen.8 Auf das Interesse für die Naturwissenschaften zu antworten und die naturkundliche Neugierde zu befriedigen, fiel daher primär außerstaatlichen Institutionen und solchen Medien zu, die im Zeichen freiheitlicher Selbstorganisation standen und sich ausdrücklich im Dienste der Wissenschaftspopularisierung konstituierten. Ihre Träger unternahmen zuvörderst den Versuch, die Naturwissenschaften in das zeitgenössische Bildungsverständnis zu integrieren. Das bedeutete vor allem, naturwissenschaftliches Denken mit dem bürgerlichen, zumal liberalen Verständnis von der Bildung als einem universalen Wert zu verknüpfen. Naturwissenschaften zu popularisieren hieß, der naturwissenschaftlichen Bildung eine zentrale Rolle zuzuweisen in dem Bestreben, über die Verbreitung von Bildung überhaupt eine fortschrittliche gesellschaftliche Entwicklung voranzutreiben und klassenübergreifend zur geistigen wie sozialen Emanzipation beizutragen. Dieses emphatische Verständnis von Popularisierung wurde aus dem deutschen Bürgertum heraus formuliert, für das die Konstituierung von 6
7 8
Vgl. zuletzt Coleman: Biology (1971), Jahn/Löther/Senglaub (Hg.): Geschichte (1982), S. 325ff.; Lenoir: The Strategy (1982), ders.: Politik (1982), S. 18-106; Nyhart: Biology (1995), S. 65fl Siemens: Das naturwissenschaftliche Zeitalter (1886). Vierhaus: Bildung (1972), Engelhardt: Der Bildungsbegriff (1990), Koselleck: Einleitung (1990), Bollenbeck: Bildung (1994).
4
Einleitung
Öffentlichkeit seit dem 18. Jahrhundert ein genuines Anliegen darstellte.9 Die Jahre nach 1848 stellten zudem für die Entwicklung des Bürgertums eine entscheidende Kulminationphase dar, die nicht mehr nur unter dem Vorzeichen einer Niederlage in der Revolution gesehen werden kann. Zwischen Revolution und Reichsgründung überlagerten sich in Deutschland vielmehr politische Reaktion und gesellschaftlicher Aufbruch. Erst allmählich wird diese spannungsvolle und gerade mit Blick auf die Bildungsgeschichte dynamische Zeit als eigene Formationsepoche der deutschen Geschichte und der bürgerlichen Gesellschaft gewürdigt.10 Daß sie mit der Pionierphase der Wissenschaftspopularisierung zusammenfällt, ist kein Zufall. Vielmehr treten zwischen 1848 und 1870 die engen Verknüpfungen zwischen bürgerlichem Selbstverständnis, latentem Demokratisierungswillen und Popularisierungsbereitschaft deutlich hervor. Naturwissenschaftliche Kenntnisse zu popularisieren, war in Deutschland mehr als in anderen Ländern eine postrevolutionäre Erscheinung mit deutlichen politischen Implikationen.11 Aus der Gleichzeitigkeit von bürgerlichem Verlangen nach Öffentlichkeit, politischem Emanzipationswillen, liberalen Bildungszielen und dem Aufschwung der empirischen Naturwissenschaften erwuchs seit 1848 in der bürgerlichen Gesellschaft das Bestreben, die Naturwissenschaften zur „Volkswissenschaft"12 und zum idealen „Volksbildungsmittel"13 zu erheben. Die Naturkunde wurde zum „Gemeingut des Volkes"14 erklärt und die „volksthümliche Verallgemeinerung der Naturwissenschaft"15 von manchen zu einer Aufgabe von höchster Priorität erhoben. Die Idee der Popularisierung war aber nicht ausschließlich auf den emanzipatorischen Impuls, der sich in der Revolution von 1848 verdichtete, und auf dessen liberale Anwendungen zurückzuführen. Das Prinzip der Öffentlichkeit entwickelte vielmehr auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen eine Eigendynamik, die zunehmend von divergierenden weltanschaulichen Positionen aus genutzt wurde und mit gegensätzlichen sozia9 10 11
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Koselleck: Kritik und Krise (1959/1989), Habermas: Strukturwandel (1962/1993), Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, I (1989), S. 303-331. Siemann: Gesellschaft (1990), Hardtwig: Der deutsche Weg (1993), S. 20-24; Kocka: Das europäische Muster (1995), S. 34f. Dieses Argument wird in der vorliegenden Arbeit erstmals systematisch entfaltet werden, alle Kapitel durchziehen und auch bei der Analyse der personellen Trägergruppen der Popularisierung eine wichtige Rolle spielen. Vgl. erste Hinweise bei Bröker: Politische Motive (1973), S. 162; Mendelsohn: Revolution (1974); Kelly: The Descent (1981), S. 17ff.; Weindling: Health (1991), S. 27-29; Junker: Darwinismus (1995) und in den Aufsätzen von Kurt Bayertz. O. Ule: Das Weltall, I (1850), S. 1,4; ebenso ders.: Die Natur (1851), S. 20. Spiller: Naturwissenschaftliche Streifzüge (1873), S. 1. O. Ule: Das Weltall, I (1850), S.4; vgl. Virchow: Über die Aufgaben (1871/1922), S.111. Klencke: Mikroskopische Bilder (1853), S. IX.
Thema, Eingrenzungen und Leitfragen
5
len Interessen aufgeladen werden konnte. Wissenschaftspopularisierung war ebenso ein Ferment wie eine Folge des Durchbruchs zur Kommunikationsgesellschaft16 in Deutschland. Die Ausdifferenzierung der Populärwissenschaft lag in der Logik des Fundamentalprozesses der Ausweitung der öffentlichen Sphäre in der bürgerlichen Gesellschaft, und sie trug zur kommunikativen Mobilisierung und medialen Infrastruktur dieser Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erheblich bei. Nach 1848 weitete sich ein riesiges Spektrum an Aktivitäten aus, um naturwissenschaftliche Bildung zu verbreiten und neue Möglichkeiten außerakademischer Beschäftigung mit der Natur zu schaffen: Aus Naturaliensammlungen und Raritätenkammern wurden öffentliche Naturkundemuseen; Zoologische und Botanische Gärten etablierten sich ebenso als Publikumsattraktionen wie öffentliche Sternwarten und Aquarien. Die Zahl der naturkundlichen Vereine nahm rasch zu, sie veranstalteten seit den 1850er Jahren öffentliche Vorträge und boten Exkursionen in die Natur an. Naturwissenschaftliche Wanderredner zogen mit Schaubildern und physikalischen Versuchsapparaturen durch Deutschland. Bildungs- und Unterhaltungszeitschriften sowie die Tagespresse führten naturwissenschaftliche Rubriken ein. Parallel dazu etablierten sich eine populärwissenschaftliche Literatur und eine entsprechende Publizistik als neue Textgattungen. Naturwissenschaftliche Begriffe gingen in die Alltagssprache ein, und es wurde immer wieder versucht, naturwissenschaftliche Texte zu literarisieren. Die Frage populärer naturwissenschaftlicher Bildung wurde auch zum Anliegen weltanschaulicher Vereinigungen, und sie beschäftigte Parteien und Parlamente; Wissenspräsentation und ideologische Interpretation waren nie zu trennen. Das Ziel dieser Untersuchung ist, die Entwicklung der Wissenschaftspopularisierung in Deutschland zwischen 1848 und 1914 als kulturelle Praxis eigener Art in der deutschen Bildungsgeschichte und als essentiellen Bestandteil der bürgerlichen Kultur zu profilieren. Diese Entwicklung soll zugleich in den weiteren politischen und intellektuellen Kontext der Bürgertumsgeschichte eingebettet und dabei verdeutlicht werden, daß die Mechanismen der Popularisierung einen bislang völlig unterschätzten Beitrag zur kulturellen Vergesellschaftung17 des deutschen Bürgertums darstellen. Es wird weniger darum gehen, einen genau festgelegten Wissenschaftsbereich auf seine Vermittelbarkeit für das bürgerliche Publikum hin zu überprüfen, sondern eher umgekehrt angestrebt, jene Wissensbestände in den Blick zu nehmen, die in den populären Medien auftauchten. Damit rücken zunächst die sogenannten beschreibenden Naturwissenschaften, die im wesentlichen den Fächern der alten Naturgeschichte entsprechen, in 16 17
Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, III (1995), S. 1232. Vgl. Lepsius: Das Bildungsbürgertum (1992/3) in Anlehnung an Max Weber und zuletzt Hübinger: Kulturprotestantismus (1994).
6
Einleitung
den Vordergrund. Für sie wird im folgenden auch öfters der Begriff Naturkunde verwendet werden.18 Es spricht vieles dafür, daß die an der lebensweltlichen Erfahrung orientierten, anschaulichen und der Laienpraxis aufgeschlossenen Themen der beschreibenden Naturgeschichte besonders leicht vermittelbar waren und vor 1914 bevorzugt als populäre Wissensgebiete definiert wurden.19 Mit den Leitwissenschaften vom Leben, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts aus der alten Naturgeschichte heraus zu eigenständigen Disziplinen entwickelten und unter dem Begriff Biologie gefaßt werden können, dominieren Themen der Zoologie, daneben kommen auch Themen der Botanik, Geologie und Astronomie zur Sprache.20 Daß sich die beschreibenden Wissenschaften - vor allem die Zoologie - im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ihrerseits zu experimentellen, mikrobiologischen Wissenschaften entwickelten, bedeutete für die Popularisierungsmöglichkeiten allerdings eine spezifische Herausforderung und wird besonders beachtet werden müssen. Der geographische Rahmen der Studie ist mit dem Gebiet des kleindeutschen Reiches von 1871 abgesteckt, wobei mit Ausnahme des höheren Schulwesens ausdrücklich von einer Preußenzentrierung abgesehen wird. Das chronologische Ende der Untersuchung wird klar mit 1914 gesetzt, dem Ausklang des langen 19. Jahrhunderts.21 Dafür spricht die Umbruchsituation, in der sich die populärwissenschaftlichen Bestrebungen angesichts
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21
Er kommt auch dem eigentlich treffenden, angelsächsischen Ausdruck .natural history' am nächsten. Drouin/Bensaude-Vincent: Nature (1996), S.408f.; Nyhart: Natural History (1996). Zur Nomenklatur siehe Günther Schmid: Über die Herkunft der Ausdrücke Morphologie und Biologie. Geschichtliche Zusammenhänge, in: Nova Acta Leopoldina NF. 2 (1935), H. 3/4, Nr. 8, S. 597-620; Walter Baron: Gedanken über den ursprünglichen Sinn der Ausdrücke Botanik, Zoologie und Biologie, in: Gernoth Rath/Heinrich Schipperges (Hg.): Medizingeschichte im Spektrum. Festschrift zum fünfundsechzigsten Geburtstag von Johannes Steudel. Wiesbaden 1966, S. 1-10; Freyer: Vom mittelalterlichen Medizin- zum modernen Biologieunterricht, I (1995), S. 36-53. Vgl. auch die Aufsätze von Ilse Jahn und Gottfried Zirnstein, in: Beiträge des Kolloquiums „Die Herausbildung wissenschaftlicher Disziplinen in der Geschichte". Rostock 1978, S. 59-67,69-75. Den besten Überblick zur Geschichte der Biologie geben Jahn/Löther/Senglaub (Hg.): Geschichte (1982) und Mayr: Die Entwicklung (1984). Vgl. neben der in Anm. 6 genannten Literatur auch Lepenies: Das Ende (1976) sowie allgemein Nordenskiöld: Die Geschichte (1926); Michael Nowikoff: Grundzüge der Geschichte der biologischen Theorien. Werdegang der abendländischen Lebensbegriffe. München 1949; Isaac Asimov: Geschichte der Biologie. Deutsche Ausgabe, Frankfurt/M. 1968; Krauße: Hauptrichtungen (1982); als hilfreiches Kompendium Gottfried Koller: Daten zur Geschichte der Zoologie. Zeittafel - Forscherliste - Artentabelle. Bonn 1949. Vgl. jetzt David Blackbourn: The Fontana History of Germany 1780-1918. The Long Nineteenth Century. London 1997.
Thema, Eingrenzungen und Leitfragen
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der Durchsetzung einer Massenöffentlichkeit und des nahenden Siegeszuges der audiovisuellen Medien vor dem Ersten Weltkrieg befanden, der dann viele Wissenschafts- und Technikerwartungen brechen sollte.22 Der zeitliche Beginn ist durchlässiger und wird immer wieder an die Anfänge des 19. Jahrhunderts zurückführen. Das Jahr 1848 ist somit als symbolische Vorgabe gesetzt und fungiert als ideengeschichtliches Scharnier; tatsächlich bündeln sich um 1848 die kulturellen, politischen und sozialen Bedingungen, aus denen heraus sich der populärwissenschaftliche Bildungssektor in aller Breite entwickeln konnte. In vielen Zusammenhängen, etwa der Geschichte der Vereine und des literarischen Marktes, empfiehlt sich aber der Rückgriff auf die Aufklärungszeit und den Vormärz. Ausgehend von diesen Eingrenzungen fragt die Untersuchung zum einen danach, auf welche Weise zwischen 1848 und 1914 im naturkundlichen Bereich der bürgerliche Anspruch auf Öffentlichkeit eingelöst und Informationsangebote für ein Publikum außerhalb des akademisch-wissenschaftlichen Lebens geschaffen wurden. Zum anderen wird in den Blick genommen, welchen Zugriff die bürgerliche Gesellschaft in ihren zentralen Organisationsformen, z.B. dem Vereinswesen, auf das naturkundliche Wissen nahm: - Von wem wurde die Idee, Wissenschaft zu popularisieren, entwickelt und ausgebildet? Welche Individuen und Gruppen waren daran beteiligt? In welchen geographischen Kontexten und welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen entstand die Vorstellung der Popularisierung? - Wer vermittelte naturkundliches Wissen? Lassen sich die Vermittler selbst ähnlich wie Lehrer oder Universitätsdozenten als soziale Gruppe fassen? Welche persönlichen Motive, fachlichen und sozialen Interessen und welche ideologischen Ziele verfolgten sie? - Welche Institutionen und Medien boten Möglichkeiten zur Popularisierung? Inwieweit prägten die Formen der Vermittlung deren Inhalte? Über welche Mechanismen und kommunikative Vernetzungen konnten sich populärwissenschaftliche Aktivitäten entfalten? - Auf welche Weise wurden die Popularisierungsbemühungen und ihre Legitimität in der deutschen Öffentlichkeit thematisiert und diskutiert? Wie wurde die Kategorie der Popularität konstruiert? Welche Bedeutungen und Konnotationen besaß dabei der Popularitätsbegriff selbst? - Welche Realitätsbilder 23 und Vorstellungen von Natur wurden über die populären Medien transportiert und auf den Erwartungshorizont der bürgerlichen Gesellschaft projiziert?
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Die These vom Niedergang der Wissenschaftspopularisierung um 1900 teile ich allerdings nicht, so für Frankreich La Science pour tous (1990), S. 14f. Vondung: Probleme (1976), S. 13-15.
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Einleitung
Problemdimensionen und Ausgangsthesen Es liegt nahe, den Hinweis Jacob Burckhardts aus den späten 1860er Jahren in Erinnerung zu rufen, wonach das „Vorwiegen" der Naturwissenschaften und deren „Popularisierung" im 19. Jahrhundert ein Faktum sei, „bei dem wir uns unwillkürlich fragen, worauf es hinauswühle, und wie es sich mit dem Schicksal unserer Zeit verflechte."24 Dieses elementare Erkenntnisinteresse wird im folgenden rückgebunden an ausgewählte Fragestellungen der neueren Historiographie, welche die Problemdimensionen des Themas schärfer fassen und die Ausgangsthesen spezifizieren. Spätestens mit den bahnbrechenden Arbeiten von Reinhard Koselleck und Jürgen Habermas zu Kritik und Krise im Ancien Régime und zum Strukturwandel der Öffentlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft ist die epochale Bedeutung, welche die öffentliche Sphäre für die Genese der modernen Gesellschaft besitzt, im Problembewußtsein der Geschichtswissenschaft verankert worden.25 Seit Koselleck kann man die Verselbständigung von Kritik nicht mehr von ihren politischen Bedeutungen lösen, die auf die gesamte Gesellschaft zurückwirkten. Seit Habermas kann die Geschichte der Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert nicht mehr getrennt werden von den Mechanismen der Marktgesellschaft, welche die Autonomisierung von Kultur erlaubten und die kulturellen Güter zu Waren werden ließen. Allerdings sind beide Modelle in den letzten Jahren einer eingehenden Kritik unterworfen worden. Dies gilt im besonderen für die Argumentation von Habermas, der die frühliberale Öffentlichkeit weitgehend idealisiert hat und ihr kritisches Potential mit dem Fortgang des 19. Jahrhunderts im enger werdenden Würgegriff einer manipulativen,,vermachteten' Öffentlichkeit degenerieren sah.26 24
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Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Über geschichtliches Studium [ca. 1868-1873]. (Jacob Burckhardt. Gesammelte Werke; IV) Darmstadt 1962, S. 24. Koselleck: Kritik und Krise (1959/1989), Habermas: Strukturwandel (1962/ 1993). Vgl. mit einer weit ausholenden Kritik an den Tendenzen zur Privatisierung und Entkräftung der öffentlichen Sphäre seit dem 19. Jahrhundert Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Deutsche Ausgabe, TB Frankfurt/M. 1986. Craig Calhoun (Ed.): Habermas and the Public Sphere. Cambridge, Mass., London 1992, darin besonders Eley: Nations (1992); Dena Goodman: Public Sphere and Private Life: Toward a Synthesis of Current Historiographical Approaches to the Old Regime, in: History and Theory 31 (1992), S. 1-20, die in der Aufnahme feministischer Kritik an Habermas ebenso eine vermittelnde Position einnimmt wie Davis: Reconsidering Habermas (1996); Andreas Gestrich: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994; Johannes Kunisch: Absolutismus und Öffentlichkeit, in: Der Staat 34 (1995), S. 183-198; Requate: Journalismus (1995). Siehe auch das Vorwort von Habermas zur Neuauflage, in: Habermas: Strukturwandel (1962/1990), S. 11-50.
Problemdimensionen und Ausgangsthesen
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Vor allem ist es lohnenswert, diese Überlegungen konsequent mit der neueren Bürgertumsgeschichte und der Naturwissenschaftsgeschichte zu verkoppeln. Aufgrund der Schwierigkeiten, das Bürgertum sozialgeschichtlich präzise zu fassen, hat die neuere historische Forschung,Bürgerlichkeit' als ein neues Erklärungskonzept entwickelt und damit den bürgerlichen Lebenszusammenhang ungleich stärker als zuvor über kulturelle Inhalte und Praktiken definiert. Bürgertum konstituiert sich in dieser Sicht nicht primär als Klasse oder Stand, zumal bei der Heterogenität der als bürgerlich faßbaren Berufe, sondern als ein „Insgesamt von Tugenden und Verhaltensweisen", von Kulturnormen, Lebensorientierungen und Werthaltungen, in denen auch der Wissenschaft und den Bildungsdiskursen jenseits der Hochkultur eine entscheidende Rolle zukommt.27 Bürgerlichkeit erscheint demnach als ein „Ensemble kultureller Momente und Lebensführungspraktiken". Das Bürgertum wird hier als gemeinsame „,Kultur' im Sinne von Lebensführung, Deutungsmustern, Symbolen, Wertungen und Mentalitäten"28 definiert. Dieser Ansatz bietet für die historische Erforschung der Wissenschaftspopularisierung einen sinnvollen Ausgangspunkt. Die Geschichte der Populärwissenschaft spiegelt deutlich kommunikative Verdichtungen und Formen der Soziabilität innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Die populärwissenschaftlichen Bemühungen lassen den Respekt vor der Wissenschaft wie den Anspruch auf Öffentlichkeit als zentrale Elemente bürgerlichen Bildungsverständnisses erkennen. Sie veranschaulichen die Gestaltungsmöglichkeiten der Schriftkultur als eines repräsentativen bildungsbürgerlichen Sektors. Die Vermittlungskanäle und Inhalte der Populärwissenschaft sind fest in die bürgerliche Selbstorganisation und Geselligkeit eingelagert, wie sie über Vereine, Feste und das Bildungswesen konstituiert wurden. Und die Populärwissenschaft konfrontiert die Historiker mit Bildern und Inszenierungen, in denen das intellektuelle Moment mit emotionalen und ästhetischen Elementen aufgeladen wurde, um dem bürgerlichen Publikum Identifikationsangebote zu vermitteln, etwa in der naturkundlichen Festkultur und Ikonographie. Die Naturwissenschaften gehören in ihrer populären Präsentation, dies möchte meine Untersuchung betonen, zentral in den Wirkungsbereich der bürgerlichen Deutungskultur, und damit rücken auch die Instrumentalisierungsmöglichkeiten naturkundlichen Wissens und die „Weltanschauungswirkungen der Naturwissenschaft" (Ernst Troeltsch)29 in das Blickfeld. 27 28 29
Nipperdey: Kommentar (1987), S. 143. Kocka: Obrigkeitsstaat (1993), S. 111,110; vgl. auch ders.: Das europäische Muster (1995), S. 17-22. Ernst Troeltsch: Das Neunzehnte Jahrhundert [1913], in: ders.: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Hg. v. Hans Baron. (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften; 4) Tübingen 1925, S. 626.
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Einleitung
Die Entwicklung eines öffentlichen Massenmarkts 30 , der den demokratischen Anspruch auf Partizipation verkörperte, verlief im 19. Jahrhundert synchron zur Verselbständigung von Wissenschaft. Daraus ergab sich ein ebenso fruchtbares wie spannungsreiches Beziehungsgefüge, zumal das deutsche Wissenschaftssystem staatlich fundiert war und in der zweiten Jahrhunderthälfte nicht nur eine beispiellose Expansion erlebte, sondern auch zum weltweiten Vorbild aufstieg.31 Universitäten und Technische Hochschulen, die nach 1877 ausgebaut wurden, errichteten für die naturwissenschaftliche Forschung eigene Institute und Studiengänge, und das späte Kaiserreich sollte zum goldenen Zeitalter der deutschen Naturwissenschaften werden. 32 Das Beispiel der Zoologie ist signifikant.33 Sie war als Themenbereich noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein auf zwei Fakultäten verteilt. In der Philosophischen Fakultät wurde sie als Teil der Naturgeschichte gelehrt, in der Medizinischen Fakultät gehörte sie zum Fach Anatomie. Nominelle Lehrstühle für Zoologie an der Philosophischen Fakultät wurden erstmals 1811 in Berlin und Breslau geschaffen, 1910 gab es dann 31 entsprechende Professuren. Die Gesamtzahl der naturwissenschaftlichen Ordinarien stieg zwischen 1864 und 1910 von 135 auf 241.34 Parallel dazu ist ein massives Anwachsen der Studentenschaft im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich zu verzeichnen. Sind hier für 1867/68 knapp 600 Studierende dokumentiert, so lag deren Zahl 1872 schon bei über 1000,1883 erstmals bei über 3 000,1902 bei mehr als 5100, und 1912 wurde der Höchststand vor dem Ersten Weltkrieg mit 8243 Studierenden erreicht. 35 Inzwischen entstanden auch eigene naturwissen30 31
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Dieser Begriff wird in Anlehnung an Hans Rosenbergs Ausdruck des politischen Massenmarkts' gebraucht. Im Überblick mit weiterführenden Hinweisen McClelland: State (1980); Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866 (1985), S. 470-533; ders.: Deutsche Geschichte 1866-1918,1 (1990), S. 568-691; Schubring (Hg.):,Einsamkeit und Freiheit' (1991); Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, III (1995), S. 1209-1232. Formulierung bei Burchardt: Naturwissenschaftliche Universitätslehrer (1988), S. 152. Vgl. am Beispiel Berlin Jahn: Zur Vertretung der Zoologie und zur Entwicklung ihrer institutionellen Grundlagen an der Berliner Universität von ihrer Gründung bis 1920, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Math.-Naturwiss. Reihe 34 (1985), S. 260-280. Unübertroffen ist die Fallstudie zur Institutionalisierung der Zoologie in Jena von Uschmann: Geschichte (1959). Lynn Nyhart: The Disciplinary Breakdown of German Morphology, 1870-1900, in: Isis 78 (1987), S. 365-389, hier S.371; Christian von Ferber: Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864-1954. Göttingen 1956, S. 209 und, auf der Basis der Angaben bei Ferber, Burchardt: Naturwissenschaftliche Universitätslehrer (1988), S. 172. Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte. Bd. I: Hochschulen, 1. Teil: Das Hochschulstudium in Preußen und Deutschland 1820-1944, von Hartmut Titze. Göttingen 1987. S. 87f.
Problemdimensionen und Ausgangsthesen
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schaftliche Fakultäten, erstmals in Tübingen 1863, dann in Straßburg 1872/73, in Heidelberg 1890 und in Freiburg 1910; gesonderte naturwissenschaftliche Sektionen innerhalb der Philosophischen Fakultäten wurden 1865 in München, 1873 in Würzburg und 1897 in Freiburg geschaffen. Daß die deutschen Hochschulen zum „wissenschaftlichen Großbetrieb"36 wurden, war vor allem eine Folge des Ausbaus der Naturwissenschaften zu forschungsintensiven Laboratoriumswissenschaften. Die naturwissenschaftlichen Fächer wurden zu eigenen Disziplinen, die immer mehr höher qualifizierte Techniker und Naturwissenschaftler ausbildeten. Die Absolventen erhielten berufliche Stellungen an den Universitäten, aber auch an außeruniversitären Forschungseinrichtungen, als Fachlehrer an den Schulen oder als Mitarbeiter von Museen. Naturwissenschaftliche Fachgesellschaften und Interessenorgansationen unterstützten diesen Professionalisierungsprozeß, und der personelle und fachliche Bedarf der Industrie wirkte als wichtiges Scharnier.37 Die Professionalisierungsprozesse führten zum korporativen Expertentum, zur Spezialisierung des Wissens und zu dessen Entfernung von der Alltagssprache. Darin lagen Tendenzen, die in Spannung zur Idee der Popularisierung geraten mußten und die Chancen öffentlicher Vermittlung von Wissen beeinträchtigten, sie aber auch um so nachdrücklicher als notwendig erscheinen ließen. Diese Tendenzen warfen immer wieder das Problem auf, wie in einem staatlich dominierten Wissenschaftssystem die außerprofessionelle Nachfrage nach naturkundlicher Information befriedigt werden konnte. Wo und auf welche Weise überlebten die private, nichtprofessionelle Beschäftigung mit Naturphänomenen und das naturkundliche Laientum?
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Reinhard Riese: Die Hochschule auf dem Weg zum wissenschaftlichen Großbetrieb. Die Universität Heidelberg und das badische Hochschulwesen 1860-1914. (Industrielle Welt; 19) Stuttgart 1977. Die Professionalisierungsgeschichte ist inzwischen zu einem breiten Sektor der neueren Bürgertumsgeschichte geworden, vgl. schon früh Everett Mendelsohn: The Emergence of Science as a Profession in Nineteenth-Century Europe, in: Karl Hill (Ed.): The Management of Scientists. Boston 1964, S. 3-48, dann vor allem Jarausch (Ed.): The Transformation (1983), McClelland: Zur Professionalisierung (1985), Hannes Siegrist (Hg.): Bürgerliche Berufe. Zur Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich. Göttingen 1988; Geoffroy Cocks/Konrad H. Jarausch (Eds.): German Professions, 1800-1950. New York Oxford 1990; Lundgreen: Akademiker (1992). Es fällt auf, daß die Professionalisierungshistoriographie die Naturwissenschaftler bislang deutlich weniger als etwa Techniker und Arzte berücksichtigt hat. Sie fehlen z.B. im Band von Cocks/Jarausch und im I. Teil der vierbändigen Geschichte des Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert. Vgl. inzwischen Hünemörder/Scheele: Das Berufsbild (1977), Kremer: Naturwissenschaftlicher Unterricht (1985) und Lothar Burchardt: Professionalisierung oder Berufskonstruktion? Das Beispiel des Chemikers im wilhelminischen Deutschland, in: GG 6 (1980), S. 326-348.
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Einleitung
Eine klare Dichotomie von Professionalisierung und Popularisierung läßt sich also kaum erstellen, eher wird man von einer dialektischen Beziehung sprechen können. Für die Untersuchung sind weniger die Idealtypen als die konkreten Varianten von Popularität und Wissenschaft interessant. Die möglichen intermediären Instanzen und jenes Zwischenspektrum, in dem die Grenzen zwischen dem professionellen und nichtprofessionellen, dem akademisch-wissenschaftlichen und außerakademisch-naturkundlichen Bereich durchlässig wurden, werden vorrangig thematisiert werden. Für einen Ausschnitt dieses heterogenen Zwischenspektrums wird auch die Kategorie der,Amateurwissenschaft' vorgeschlagen.38 Ein anderer Dualismus verlangt gleichfalls eine kritische Differenzierimg, da er der historischen Würdigung der Popularisierungsphänomene bislang im Wege steht. Gemeint ist die Vorstellung der „zwei Kulturen", die Charles P. Snow prägnant zugespitzt hat.39 Demnach steuerte die Bildungsgeschichte spätestens seit dem 19. Jahrhundert auf die Trennung der naturwissenschaftlich-technischen von der literarisch-künstlerischen Welt hin und begünstigte somit die wechselseitigen Mißverständnisse und intellektuellen Verhärtungen beider Sphären. Tatsächlich fällt es nicht schwer, im 19. Jahrhundert Indizien für das wachsende Selbstbewußtsein der neuen, naturwissenschaftlichen Bildungswelt zu finden und deren Herauslösung aus der alten, klassisch-humanistischen, literarisch-historischen Kultur zu folgern. Die Geschichte der Wissenschaftspopularisierung - dies kann schon hier angedeutet werden - entzieht sich jedoch diesem dichotomischen Modell. Wissenschaft zu popularisieren meinte bis 1914, einen Beitrag zur Integration der Naturwissenschaften in das bestehende kulturelle Gefüge, nicht zur Separierung der beiden Sphären zu leisten. Die Bedeutung der Naturwissenschaften für die bürgerliche Bildungswelt des 19. Jahrhunderts wurde von den Popularisierern keineswegs isoliert oder primär in Konkurrenz zur humanistisch-literarischen Sphäre gesehen - trotz aller Kontroversen zwischen den sogenannten Humanisten und Realisten. Die „Praxis einer kulturellen Selbstinszenierung der Naturwissenschaften"40 verstand sich als Beitrag zur kulturellen Einheit von positivem Wissen, Metaphysik und Kunst. Aus dieser Konvergenz schöpfte die Idee der Popularisierung einen erheblichen Teil ihrer Legitimation. Mit der Abkehr vom Zwei-Kulturen-Modell41 verbindet die vorliegende Arbeit eine modifizierte Sicht auf die kulturelle Wirkung, die die Natur38 39 40 41
Siehe Kapitel Ill.l.b). Kreuzer (Hg.): Die zwei Kulturen (1987) mit Abdruck der wichtiger Debattenschriften. Kolkenbrock-Netz: Wissenschaft (1991), S. 213. Zwei neue Versuche, die skizzierte Dichotomie begrifflich aufzubrechen bzw. zu erweitern, markieren Wolf Lepenies: Die Drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. München, Wien 1985, der die Sozialwissenschaften seit
Problemdimensionen und Ausgangsthesen
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Wissenschaften als Bildungsangebot während des 19. Jahrhunderts entfaltet haben. Die Historiographie hat diesen bewußtseinsgeschichtlichen Aspekt bislang äußerst selektiv behandelt. Er wurde fast ausschließlich im Spiegel weniger Einzelpersönlichkeiten - typischerweise Ludwig Büchner, Ernst Haeckel oder Karl Vogt - und weniger Leitideen, vor allem des Materialismus und des Darwinismus, gebannt.42 Die zeitgenössischen weltanschaulichen Auseinandersetzungen, primär die Polarisierung von apologetischer Kirche versus moderne Wissenschaft, führen bis heute ein Eigenleben in der deutschen Geschichtssschreibung. Sie sind kaum hinterfragt, sondern in ihren Argumentationsmustern weitgehend explizit oder implizit tradiert worden. Aus diesen Bewertungen wurden in erster Linie solche Umkehrschlüsse auf den Charakter der Naturwissenschaften als kultureller Bewußtseinsmacht gezogen, die eine liberal-fortschrittliche Aufklärungsgeschichte stärken. Demnach wandte sich das naturwissenschaftliche Denken vehement gegen alle Metaphysik und diente der Entwicklung einer rationalistischen, säkularisierten und technisierten Gesellschaft und eines entsprechenden Weltbildes. Die Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse fungierte somit aufgrund ihrer antireligiösen Stoßrichtung und der Grundlegung in einer mechanistischen Erklärungsweise als quasi natürlicher Katalysator im Prozeß der „Entzauberimg der Welt"43. Man wird nicht fehl gehen, diese Sicht wegen ihrer normativen Prämissen und des teleologischen Gepräges als Modernisierungstheorem zu bezeichnen. Es bewahrt für die Wissenschaftsgeschichte noch immer die Funktion einer Whig Interpretation, wonach der liberale Fortschrittsgedanke aus einem Aufklärungsideal heraus unausweichlich konkurrierende Weltbilder als vormodern disqualifiziert und verdrängt habe.44 Die Unter-
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dem 19. Jahrhundert als dritte Kultur mit eigenen Deutungs- und Analyseansprüchen faßt, und John Brockman: The Third Culture. Scientist on the Edge. New York 1995. Brockmann greift Snows 1963 formulierte Hoffnung auf, daß eine dritte Kultur die Trennung zwischen literarischem und wissenschaftlichem Denken überwinden könne, und sieht sie in dem öffentlichen Auftreten zeitgenössischer Naturwissenschaftler wie Richard Dawkins und Stephen Jay Gould eingelöst, die sich den zentralen Fragen nach der Definition von Leben widmen und direkt mit der Öffentlichkeit kommunizieren. Vgl. zuletzt Kelly: The Descent (1981). Max Weber: Wissenschaft als Beruf [1919], in: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Über das Studium der Geschichte (1990), S. 197-227, hier S. 226. Typisch in diesem Sinne die Darstellung bei Mommsen: Das Ringen (1993), S.777ff.; sowie exemplarisch Staudinger: Das Wilhelminische Deutschland (1982), S. 112-115. Vgl. jetzt kritisch Harrington: Reenchanted Science (1996), S.XVff. Vgl. Herbert Butterfield: The Whig Interpretation of History. London 1931, sowie im Zusammenhang mit der neueren Darwinismusforschung und Naturwissenschaftsgeschichte Bowler: The Non-Darwinian Revolution (1988), S. 16,199; Shapin/Thackray: Prosopography (1974), S. 2f.
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Einleitung
suchung wird eine alternative Auslegung versuchen. Sie kann sich dabei an die inzwischen weit ausgreifenden englischen und amerikanischen Forschungen anlehnen, die das auf Andrew D. White und John W. Draper zurückgehende Bild von der Feindschaft zwischen Wissenschaft und Religion historisiert und vielfach aufgelöst haben.45 In diesem Zusammenhang ist auch die Rolle Darwins als polarisierender Kraft zwischen beiden Sphären stark in Zweifel gezogen worden; neuere Deutungen, so hat Frank Turner zugespitzt, „forced Darwin out of his role as the white knight of positivistic science triumphing over the dark knight of natural religion"46. Die Whig Interpretation gerät beträchtlich ins Schwanken, wenn vom Telos der modernen, verwissenschaftlichten Welt abstrahiert wird. Schöpft man die populärwissenschaftlichen Quellen des 19. Jahrhunderts über bekannte Einzelfälle hinaus aus, so treten abweichende Deutungsentwürfe und Weltbilder hervor. In ihnen sind - wieder thesenhaft formuliert - die rationalistischen, utilitaristischen und antimetaphysischen Momente deutlich abgeschwächt. Hervor tritt ein Welt- und Naturverständnis, das in beträchtlichem Ausmaß von vorrationalen und antimaterialistischen, von idealistischen und ästhetischen Kategorien bestimmt wurde. Nicht der Widerspruch, sondern die Versöhnung von religiösem Bedürfnis und wissenschaftlichem Denken erscheint hier als Leitidee - und keineswegs nur als Ideologie. Weniger die Entzauberung, als eine Wiederverzauberung der Welt wird aus solcher Sicht zum Movens der Popularisierung.47 Forschungslage, Forschungsblockaden
und Quellen
Die Geschichte der Populärwissenschaft ist bislang kein Thema der deutschen Historiographie gewesen. Ihre konkreten Träger, Mechanismen, Formen und Inhalte, ja ihre Relevanz als historisches Phänomen überhaupt, liegen weithin im Dunkeln, will man sich nicht mit wenigen spektakulären Schlagworten und Namen wie Darwinismus und Materialismus, Haeckel oder Kraft und Stoff48 zufrieden geben.49 Diese Vernachlässigung fällt im
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Vgl. nur Wilkins: Science (1987); Ronald Numbers: Science and Religion, in: Osiris. Second Series 1 (1985), S. 59-80; Lindberg/Numbers (Eds.): God and Nature (1986), darin besonders die Beiträge von James R. Moore, A. Hunter Dupree und Frederick Gregory; John Hedley Brooke: Science and Religion. Some Historical Perspectives. Cambridge et al. 1991; Turner: Contesting Cultural Authority (1993), S. 1-37,171-200. Himer: Contesting Cultural Authority (1993), S. 19. Vgl. auch Weiß: Wiederverzauberung (1986), Bayertz: Die Deszendenz (1984). So die vielzitierte Schrift von Ludwig Büchner aus dem Jahre 1855. Erst langsam wird der Themenbereich in Gesamtdarstellungen und Handbüchern zur deutschen Geschichte gewürdigt, siehe Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866 (1985), S.448; ders.: Deutsche Geschichte 1866-1918, I (1990), S. 182-186,623-629. Mit berechtigten Hinweisen auf die nichtmateriali-
Forschungslage und Quellen
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internationalen Vergleich besonders auf. In England, Frankreich und den USA ist die Geschichte der Popularisierung inzwischen ein anerkanntes Forschungsfeld; die öffentlichen Auseinandersetzungen um die Newtonsche Physik und die Naturphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert in England50 sowie populäre Formen der naturkundlichen Betätigung im 19. Jahrhundert stehen dabei im Vordergrund. Daraus ergeben sich ebenso die Notwendigkeit wie die Chance, von englischen51, amerikanischen52 und französischen53 Vorbildern und Anregungen zu profitieren. Vor allem drei Aspekte formen bislang in Deutschland ein weitgehend negatives Vorverständnis von Populärwissenschaft, das deren historiographische Akzeptanz nicht nur blockiert, sondern griffige und häufig abwertende Kurzinterpretationen begünstigt hat. Erstens ist das Thema mit dem Hautgout der Trivialität behaftet. Daß sich die Ideen-, Geistes- und Kulturgeschichte einer Epoche primär über die Manifestationen der Hochkultur, vor allem die literarischen Erzeugnisse ihrer Intellektuellenschicht, definieren läßt, gilt zumeist als Prämisse bildungsgeschichtlicher Forschung.54
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stischen Weltbilder der Naturwissenschaft Sheehan: German History (1991), S. 810-820. Mommsen: Das Ringen (1993), S. 788-791 bewegt sich dagegen im Rahmen der an Max Weber angelehnten Whig Interpretation. Unübertroffen ist noch immer der III. Band von Franz Schnabels Deutscher Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Auf die einschlägigen Beiträge des Handbuchs der deutschen Bildungsgeschichte wird in den Kapiteln verwiesen. Steven Shapin/Simon Schaffer: Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life. Princeton, N.J. 1985; Larry Stewart: The Rise of Public Science. Rhetoric, Technology, and Natural Philosophy in Newtonian Britain, 1660-1750. Cambridge et al. 1992; Jan Golinski: Science as Public Culture: Chemistry and Enlightenment in Britain, 1760-1820. Cambridge et al. 1992. Vgl. auch Shapin: Science and the Public (1990) und John Money: From Leviathan's Air Pump to Britannia's Voltaic Pile: Science, Public Life and the Forging of Britain, 1660-1820, in: Canadian Journal of History 28 (1993), S. 521-544. In die Forschungsdiskussionen führen ein Cooter/Pumfrey: Separate Spheres (1994). Vgl. Allen: The Naturalist (1976), Hinton: Popular Science (1989), Barber: The Heyday (1980), Kitteringham: Studies (1981), Cooter.The Cultural Meaning (1984), Greg Myers: Nineteenth-Century Popularization of Thermodynamics and the Rhetoric of Social Prophecy, in: Victorian Studies 29,1 (1985), S. 35-66; Sheets-Pyenson: Popular Science Periodicals (1985), Lancashire: An Historical Study (1988). Vgl. Kohlstedt: The Nineteenth-Century Amateur Tradition (1976), Whalen/Tobin: Periodicals (1980), Kuritz: The Popularization (1981), Woodliff: Science (1981) mit zahlreichen weiterführenden Angaben, Cotkin: The Socialist Popularization (1984), Burnham: How Superstition Won (1987). Neben einzelnen Aufsätzen, auf die in den Kapiteln verwiesen wird, sind in den letzten Jahren drei überblickhafte Darstellungen erschienen - George: Popular Science (1974/75), La Science pour tous (1990) und Raichvarg/Jacques: Savants (1991). Zwei seltene Ausnahmen bilden die Untersuchungen von Kratzsch: Kunstwart (1969) und Schenda: Volk (1977). Vgl. Motte-Haber (Hg.): Das Triviale (1972).
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Einleitung
Populäre Schriften, journalistische Arbeiten und naturkundliche Gebrauchsliteratur ziehen gewöhnlich den Vorwurf der intellektuellen Dürftigkeit auf sich. Die bis heute andauernde Abwertung des Begriffs .populärwissenschaftlich'55 ist nur ein äußeres Zeichen der grundsätzlichen Negativbesetzung von popularisierenden Aktivitäten jenseits der Elitenkultur. Zweitens hat sich in Deutschland während des 19. Jahrhunderts ein eigentümliches Trauma des Defizitären im Bereich der Popularisierung ausgebildet und seither kaum an Geltung verloren. Die Klagen darüber, daß es im deutschen Kulturraum an populärwissenschaftlichen Darstellungsformen fehle, sind Legion. Ihnen ist zumeist reflexartig der Hinweis beigesellt, in anderen Ländern - im besonderen England und Nordamerika - sei die Bereitschaft zu publikumsnaher Wissenschaftsdarstellung ungleich breiter ausgebildet. 1853 kritisierte z.B. eine naturkundliche Zeitschrift, das deutsche Volk liege in der „populären Darstellung wissenschaftlicher Gegenstände noch weit hinter anderen Nationen" zurück und verhalte sich in diesem Bereich trotz der „Tiefe des deutschen Forschergeistes" teilnahmslos.56 Die Kritik am Mangel oder an der dürftigen Wertschätzung popularisierender Darstellungen in Deutschland und die Beschwörung der leuchtenden Vorbilder im Ausland sind seither eng aneinander gekoppelt. Die Ansicht vom massiven Defizit an populärwissenschaftlichen Traditionen in Deutschland ist drittens verstärkt worden durch die kritische Aufarbeitung der deutschen Wissenschaftskultur, wie sie seit den 1960er Jahren aus angelsächsischer Perspektive vorgenommen worden ist. Dabei wurden die illiberalen Traditionen unter Studenten und Professoren des Kaiserreichs und die Bewertung des deutschen Gelehrtentums als „Mandarine" (Fritz K. Ringer) zu einem einflußreichen Interpretationsansatz verdichtet.57 Die Frage nach einer deutschen Popularisierungsgeschichte wurde indes dadurch beiseitegeschoben, die Naturwissenschaften generell fanden allenfalls am Rande Erwähnung.58 Die Klagen über fehlende Brückenschläge zwischen Gelehrtentum und Publikum scheinen die Vorstellung von einer deutschen Öffentlichkeit zu bestätigen, die in ihrem kri55 56 57
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Vgl. Kapitel I. Die Natur 2 (1853), S. 68. Konrad H. Jarausch: Students Society and Politics: The Rise of Academic Illiberalism. Princeton 1982; ders.: Deutsche Studenten 1800-1970. Frankfurt/M. 1984, S. 59f£; Fritz K. Ringer: The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community, 1890-1933. Cambridge, Mass. 1969, in der deutschen Übersetzung ders.: Die Gelehrten (1969/1987). Eine differenzierte Betrachtung zum korporativen Selbstverständnis der deutschen Professoren gibt Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918,1 (1990), S. 590-601. Ringer: Die Gelehrten (1983/1987), S. 16. Ringer bezeichnet die „Ausschließung der Naturwissenschaftler" hier selbst als eine „Simplifizierung", die nicht sachlich begründet werden kann.
Forschungslage und Quellen
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tischen Potential eingeschränkt war und wenig Interesse an der modernen, nichthumanistischen Bildung aufwies. Das Verständnis dieser Bildung war demnach von den Universitätsprofessoren dominiert, für die Popularität etwas Minderwertiges darstellte und die an der Transparenz ihrer Forschungstätigkeit nicht interessiert waren - und aufgrund ihrer staatlich gesicherten beruflichen Stellung auch nicht interessiert zu sein brauchten. Ein solches Bild paßt zu der Vorstellung vom deutschen Obrigkeitsstaat im 19. Jahrhundert, der Bildung und Verbreitung von Wissen elitär, nicht demokratisch verstand, und dessen wissenschaftliche Führungsschichten nur unter sich, nicht aber mit einer breiten Öffentlichkeit kommunizierten. Man kann diese Negativurteile zuspitzen und sie damit um so nachdrücklicher der Überprüfung aussetzen, indem man sie jenem Theorem der Rückständigkeit zuordnet, das als Sonderwegsthese lange Zeit Gültigkeit für die Deutung der deutschen Geschichte besessen hat.59 Die deutsche Geschichte wies demnach bis in das 20. Jahrhundert hinein einen erheblichen Mangel an partizipatorischer Bürgerkultur auf Sie wich deutlich ab von der als ,Normalfall' angesehenen Entwicklung der westeuropäischen Staaten, im besonderen Englands, und blieb hinter deren Maß an Modernisierung, Bürgerlichkeit und demokratischer Verfassung zurück. Daß die deutsche Gesellschaft nur eingeschränkt Chancen besessen habe, Wissenschaft einem öffentlichen Diskurs auszusetzen und popularisierende Strategien zu entwickeln, bestätigt diese Sicht. Nachdem die Sonderwegsthese aber in den letzten Jahren von massiver Kritik eingeholt wurde und heuristisch als weitgehend unfruchtbar gelten darf,60 ist es ein lohnenswertes Unterfangen, auch die historischen Bezüge zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit einer Revision zu unterziehen. Wichtige Aufschlüsse sind bislang von solchen Autoren geleistet worden, die nicht monographischer Spezialisierung folgen, im besonderen von Dolf Sternberger und Hermann Lübbe.61 Dabei sind innerhalb der historischen Forschung zumindest vier Teilgebiete angesprochen.
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Die wichtigsten Argumente, der Stand der Debatte und die einschlägige Literatur lassen sich leicht erschließen bei Helga Grebing: Der „deutsche Sonderweg" in Europa 1806-1945. Eine Kritik. Stuttgart et al. 1986; Jürgen Kocka: Geschichte und Aufklärung. Aufsätze. Göttingen 1989, S. 101-113; Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, III (1995), S. 449-491. Die entscheidende Kritik, zumal im Kontext der Bürgertumsforschung und mit besonderem Bück auf die Dynamik der bürgerlichen Öffentlichkeit, haben Blackbourn/Eley: Mythen (1980) und in erweiterter Fassung Blackbourn/Eley: The Peculiarities (1984) eingeleitet. Das Interesse Blackbourns (ebenda, S. 195-205) für die Zoologischen Gärten als Institutionen der bürgerlichen Öffentlichkeit führt in das Zentrum auch unseres Themas; siehe auch Blackbourn: Kommentar (1987), ders.: The German Bourgeoisie (1991), Eley: Die deutsche Geschichte (1991) und Evans: The Myth (1987). Sternberger: Panorama (1938/1974), Lübbe: Politische Philosophie (1963/1974).
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Einleitung
- Die Forschung zu Bürgertum und Bürgerlichkeit in Deutschland hat in den letzten Jahren einen enormen Aufschwung genommen 62 und nicht zuletzt im Kontext von drei breit angelegten Projekten zur Geschichte des Bildungsbürgertums,63 zur Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums64 und zu Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert65 eindrucksvolle Ergebnisse vorgelegt. Um so erstaunlicher ist, daß dabei die wachsende Bedeutung der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert, das bürgerliche Verständnis von Natur und das Aufblühen naturkundlicher Vereine und Feste, Printmedien und Öffentlichkeitsformen - also originär bürgerlicher Repräsentationen - fast völlig unberücksichtigt geblieben sind. Die Geschichtschreibung der bürgerlichen Gesellschaft und Kultur hat die Naturwissenschaften, zumal in ihrer populären Präsentation, mit großer Souveränität ausgespart;66 Bürgertumsforschung und Naturwissenschaftsgeschichte haben sich bislang weitgehend verfehlt. Signifikant ist die Unsicherheit, die politische Bedeutung der deutschen Naturwissenschaftler zu beurteilen. Entweder wird ihre unpolitische Prägung betont67 oder umge62
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Im Überblick Gall: Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft (1993), Utz Haltern: Die Gesellschaft der Bürger, in: GG 19 (1993), S. 100-134; Jürgen Kocka: Obrigkeitsstaat (1993), ders.: Das europäische Muster (1995). Vgl. Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. Historische Einblicke, Fragen, Perspektiven. Frankfurt/M. 1990; David Blackbourn/Richard J. Evans (Eds.): The German Bourgeoisie. Essays on the Social History of the German Middle Class from the Late Eighteenth to the Early Twentieth Century. London, New York 1991. Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil I: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen. Hg. v. Werner Conze/Jürgen Kocka. 1985; Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen. Hg. v. Reinhart Koselleck. 1990; Teil III: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung. Hg. v. M. Rainer Lepsius. 1992; Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation. Hg. v. Jürgen Kocka. 1989 (alle Stuttgart). Vgl. Ulrich Engelhardt: „Bildungsbürgertum". Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts. Stuttgart 1986 und Herrmann (Hg.): „Die Bildung des Bürgers" (1989). So der Titel des 1986 eingerichteten Sonderforschungsbereiches an der Universität Bielefeld, siehe Kocka (Hg.): Bürger (1987); Hans-Jürgen Puhle (Hg.): Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Wirtschaft - Politik - Kultur. Göttingen 1991; Klaus Tenfelde/Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Wege zur Geschichte des Bürgertums. Göttingen 1994; sowie - hervorgegangen aus den Arbeiten einer Forschungsgruppe in Bielefeld - Jürgen Kocka, unter Mitarbeit von Ute Frevert (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich. Bd. I—III, München 1988,1995 in einer gekürzten Neuauflage erschienen. 1988 in Frankfurt am Main als Forschungsprojekt eingerichtet, siehe Lothar Gall (Hg.): Vom alten zum neuen Bürgertum. Die mitteleuropäische Stadt im Umbruch 1780-1820. München 1991; ders. (Hg.): Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft. München 1993; vgl. schon ders. (Hg.): Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert. München 1990. So auch zuletzt Hein/Schulz (Hg.): Bürgerkultur (1996). Aus den genannten Forschungsprojekten vgl. Koselleck: Einleitung (1990) und Engelhardt: Der Bildungsbegriff (1990). Burchhardt: Naturwissenschaftliche Universitätslehrer (1988), S. 21 Of.
Forschungslage und Quellen
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kehrt die Naturwissenschaftsgeschichte stark politisiert, wie die Behandlung des Darwinismus zeigt. - Ähnliches gilt für die Geschichte der Gelehrten und Intellektuellen in Deutschland. Die Forschung hat sich inzwischen auf die sozial- und staatswissenschaftlichen, die nationalökonomischen und - in gewissem Abstand - die geisteswissenschaftlichen und theologischen Disziplinen konzentriert. Dabei ist für die Zeit nach 1900 der kulturwissenschaftliche Diskurs hervorgehoben worden.68 Für diese Ausrichtung sprechen zweifellos gute Gründe.69 Aus der Sicht unseres Themas führt dieser Ansatz indes nur bedingt weiter, da er sich weithin auf die Höhenlinie der Geistesgeschichte bezieht, die Naturwissenschaften zumeist von den „Meinungsführerschaften"70 trennt und stillschweigend, vielfach auch explizit, Naturwissenschaftler ausschließt.71 Insbesondere bleiben die Deutungsangebote unterhalb des Intellektuellendiskurses oft außen vor. Um so mehr gewinnen jene Studien an besonderem Wert, die die Wissenschaftsgeschichte an die Ausbreitung der Öffentlichkeit rückbinden, wie es vor allem Rüdiger vom Bruch und zuletzt Gangolf Hübinger unternommen haben.72 - Ob Fragen der Popularisierung in die Zuständigkeit der Wissenschaftsgeschichte fallen, kann kontrovers diskutiert werden. Die konzeptionelle Ausweitung der Wissenschaftsgeschichte in den letzten Jahren legt eine Einbeziehung zu Recht nahe. Man bemüht sich verstärkt, die Wissen-
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Lees: Revolution (1974), Ringer: Die Gelehrten (1983/1987), vom Bruch: Wissenschaft (1980), ders.: Gelehrtenpolitik (1986), Schmidt/Rüsen (Hg.): Gelehrtenpolitik (1986), vom Bruch/Graf/Hübinger (Hg.): Kultur (1989), Hübinger/Mommsen (Hg.): Intellektuelle (1993), um nur die zentralen Werke zu nennen. Vgl. Gangolf Hübinger: Die europäischen Intellektuellen 1890-1930, in: NPL 39,1 (1994), S. 34-54. So das Auftreten der genannten Fächer unter der Maßgabe, meinungsbestimmende Diskussionstrends zu setzen, und deren gelehrtenpolitische Mechanismen, die Verflechtung mit dem staatlichen Beamten- und Gelehrtentum und die Thematisierung sozialer und nationalpolitischer Probleme der gesellschaftlichen Modernisierung. Bruch/Graf/Hübinger (Hg.): Kultur (1989), S.18. Nicht mehr ausgewertet werden konnte der jetzt erschienene Band von Gangolf Hübinger/Rüdiger vom Bruch/ Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. II: Idealismus und Positivismus. Stuttgart 1997. Wie erwähnt Ringer: Die Gelehrten (1983/1987), S. 16 und zur vorsichtigen Kritik an der Auswahl der beschriebenen Leitwissenschaft Schmidt/Rüsen (Hg.): Gelehrtenpolitik (1986), S. 230-233; vom Bruch/Graf/Hübinger (Hg.): Kultur (1989), S. 197ff. Zu den wenigen Naturwissenschaftlern, die von der Intellektuellengeschichte berücksichtigt werden, gehört Ernst Haeckel mit seinem Monismus. Bedauerlich ist die Mißachtung der Naturwissenschaftler bei Lees: Revolution (1974), siehe auch hier S. 193. Lees' Beobachtungen zu den 1850er Jahren liegen vielfach analog zur Geschichte der Popularisierung. vom Bruch: Wissenschaft (1980), ders.: Weltpolitik (1982), ders.: Kaiser und Bürger (1989), Hübinger: Kulturprotestantismus (1994).
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Einleitung
schaftsgeschichte aus ihrer Randlage herauszuführen, im Bereich der allgemeinen Geschichte anzusiedeln und den dort diskutierten Fragestellungen auszusetzen.73 Das gilt nicht zuletzt für das Zeitalter der industriellen Welt und die Professionalisierungsphase moderner Wissenschaft zwischen 1850 und 1930. Alte Kontroversen - etwa um externalistische versus internalistische Interpretation - treten zurück. Modifizierte Fragen, z.B. nach Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen von Forschung und nach deren sozialstrategischen Implikationen, nach wirtschafts- und politikgeschichtlichen Zusammenhängen, rücken in den Vordergrund.74 Angesichts dieses Trends gewinnen jene Einzelbeiträge wieder an Bedeutung, die schon früher Probleme der Präsentation von Naturwissenschaften in den Blick genommen haben. Hier ist nachdrücklich an Arbeiten von Dietrich von Engelhardt, Gunter Mann, Hans Querner und Heinrich Schipperges zu erinnern.75 Allerdings ist die deutsche Wissenschaftsgeschichte dieser Epoche bislang stärker auf Staat und Wirtschaft als auf Gesellschaft und Öffentlichkeit bezogen und nimmt erst allmählich außeruniversitäre und außerstaatliche Forschungseinrichtungen in den Blick.76 Sie argumentiert mithin, anders als die angelsächsische Forschung, noch primär ,von oben'. Die Wissenschaftsgeschichte befindet sich aber insgesamt auf dem Wege zu einer interdisziplinär angelegten Geschichte der Wissenschaften im Kontext der modernen Gesellschaft. Und darin wird die Frage nach dem historischen Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit und der daraus abgeleiteten Geschichte der Populärwissenschaft einen legitimen Platz beanspruchen dürfen. 73
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Eine Entsprechung erfährt dieses Bemühen darin, auch institutionell die Trennung der Wissenschaftsgeschichte von den historischen Fachbereichen zu überwinden, so zuletzt bei der Neustrukturierung der Humboldt-Universität in Berlin; vgl. Gerhard A. Ritter: Der Neuaufbau der Geschichtswissenschaft and der Humboldt-Universität zu Berlin - ein Erfahrungsbericht, in: GWU 44 (1993), S.226-238, hier S.230; ders.: Großforschung (1992), S.U. Siehe auch Helmuth Trischler: Wissenschaft und Forschung aus der Perspektive des Historikers, in: NPL 33 (1988), S. 393-417. Vgl. Schubring (Hg.):,Einsamkeit und Freiheit' (1991), darin besonders der Beitrag von Himer: German Science (1991), Lenoir: Politik (1992),Hichman: Science (1993). Vgl. die im Literaturverzeichnis aufgeführten Titel. vom Bruch/Müller: Formen außerstaatlicher Wissenschaftsförderung (1990); Bernhard vom Brocke/Rudolf Vierhaus (Hg.): Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/MaxPlanck-Gesellschaft. Stuttgart 1990; Dieter P. Herrmann: Wirtschaft, Staat und Wissenschaft. Der Ausbau der privaten Hochschul- und Wissenschaftsförderung im Kaiserreich, in: VSWG 77 (1990), S. 350-368; Ritter: Großforschung (1992); Margit Szöllösi-Janze: Geschichte der außeruniversitären Forschung in Deutschland, in: Christian Flämig et al. (Hg.): Handbuch des Wissenschaftsrechts. 2., völlig Überarb. u. erweit. Aufl., Bd. II, Berlin, Heidelberg 1996, S. 1187-1218; Nyhart: Natural History (1996).
Forschungslage und Quellen
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- Innerhalb der Naturwissenschaftsgeschichte sind seit langem die Wandlungen der Entwicklungslehre und der Darwinismus als epochales Wissenschaftsparadigma präferiert worden. 77 Mit den Studien Peter Bowlers und anderer angelsächsischer Forscher spitzt sich seit einiger Zeit eine revisionistische Interpretation zu; sie wird in Deutschland erst seit kurzem rezipiert. 78 Dieser Revisionismus relativiert in hohem Maße die Originalität und Dominanz Darwins für die Biologiegeschichte und zieht dessen ideologische Paßfähigkeit in das liberale Gesellschaftssystem des viktorianischen Englands in Zweifel. D i e zeitgenössische Polyvalenz darwinistischer Lehren, deren Vereinbarkeit mit christlichen Naturkonzepten und die nicht-darwinistischen Alternativen der Entwicklungslehre werden hervorgehoben. Die neue Sicht kann für die gängige, von Alfred Kelly noch bestärkte Annahme, naturwissenschaftliche Popularisierung sei an den Darwinismus gebunden gewesen, nicht folgenlos bleiben. 79 In dem Maße, wie der Kollektivbegriff Darwinismus an Erklärungskraft verliert, wird er auch als alleiniger Schlüssel zur Popularisierungsgeschichte unbrauchbar. 80 77
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Die einschlägige Literatur ist kaum mehr zu überschauen. Zur Geschichte der Entwicklungslehren siehe Manfred Briegel: Evolution. Geschichte eines Fremdworts im Deutschen. Phil. Diss. Freiburg i.B. 1963; Oswei Temkin: The Idea of Descent in Post-Romantic German Biology, in: Bentley Glass/Oswei Temkin/ William L. Straus, Jr. (Eds.): Forerunners of Darwin: 1745-1859. Baltimore 1959, S. 323-355; Wolfgang Lefevre: Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1984; Mayr: Die Entwicklung (1984) und Bowler: Theories (1986). Als Überblick zur neueren Darwinismusforschung vgl. Altner (Hg.): Der Darwinismus (1981), Bayertz: Darwinismus als Ideologie (1982), ders.: Darwinismus als Weltanschauung (1984), Baumunk/Rieß (Hg.): Darwin (1994), Engels (Hg.): Die Rezeption (1995) und die Auswahlbibliographie bei Regelmann: Darwin (1982). Zur deutschen Darwinismusrezeption siehe Montgomery: Germany (1974), Weindling: Darwinism (1985), Junker: Darwinismus (1989) und ders.: Zur Rezeption (1995). Peter J. Bowler: The Eclipse of Darwinism. Anti-Darwinian Evolution Theories in the Decades around 1900. Baltimore 1983; ders.: Theories (1986), ders.: The Non-Darwinian Revolution (1988), Jon H. Roberts: Darwinism and the Divine in America. Protestant Intellectuals and Organic Evolution, 1859-1900. Madison 1988; Adrian Desmond/James R. Moore: Darwin. New York 1991. Den vermeintlichen Siegeszug des Darwinismus hat schon früh Ellegard: Darwin (1958) aufgrund einer Auswertung der britischen Presse zwischen 1859 und 1872 relativiert. Vgl. jetzt Baumunk/Rieß (Hg.): Darwin (1994), besonders die Beiträge von Jürgen Rieß und Michael Weingarten, S. 66-81 und - in Auseinandersetzung mit den Thesen Bowlers - Engels: Biologische Ideen (1995). Kelly: The Descent (1981) erkennt durchaus die Widersprüchlichkeiten und Binnendifferenzierungen des Darwinismus, neigt aber im Detail und in der generellen Aussage dazu, das Phänomen Popularisierung über den darwinistischen Leisten zu schlagen. Teilweise vereinnahmt er unzulässigerweise Autoren für den Darwinismus, vor allem negiert er die nicht-darwinistischen Bemühungen als ernstzunehmenden Teil der Popularisierungsbewegung. Darauf hat schon Bowler: The Non-Darwinian Revolution (1988), im Kapitel „A Cultural Revolution?" hingewiesen.
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Einleitung
Damit verknüpft ist der Problemkreis Sozialdarwinismus. Er wurde in Deutschland seit den 1950er Jahren verschiedentlich aufgegriffen, 81 bevor seit einem Jahrzehnt in dichter Folge mehrere Untersuchungen das Feld zwischen politischem Darwinismus und Rassenhygiene um 1900 mit kritischer Sorgfalt neu ausgemessen haben. 82 Das historiographische Interesse für diese Themen ist angesichts der moralischen und politischen Implikationen von Biologismen bis hin zu den Verbrechen des Nationalsozialismus mehr als verständlich. Eingedenk dessen bemüht man sich heute verstärkt um eine Historisierung des Sozialdarwinismus und differenziert die disparaten Varianten sozialdarwinistischen und biologistischen Denkens. Daß das Verständnis von Darwinismus zumeist auf den Sozialdarwinismus und die einhergehende biologistische Ideenwelt reduziert wurde, ist zuletzt sogar als „Ausklammerung einer ganzen Diskussionskultur" 83 kritisiert worden. Auch die vorliegende Untersuchung sieht Populärwissenschaft als kulturelles Genre nicht in der Verbreitung von Biologismen aufgehen, sondern versteht sich als Komplement zur Erforschung des Sozialdarwinismus, um überhaupt erst ein weitgehend unerforschtes Feld zu erschließen. Die relevante Sekundärliteratur ist also insgesamt weit gestreut, aber nur selten auf die Popularisierungsgeschichte im engeren Sinne bezogen. U m so notwendiger ist es, auf Arbeiten anderer disziplinarer Provenienz etwa der Literaturgeschichte 84 und der historischen Erwachsenenbil81
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Hedwig Martius-Conrad: Utopien der Menschenzüchtung. Der Sozialdarwinismus und seine Folgen. München 1955; Hans Günther Zmarzlik: Der Sozialdarwinismus in Deutschland als geschichtliches Problem, in: VfZ 11 (1963), S. 246-273; Gasman: The Scientific Origins (1971); Hannsjoachim Koch: Der Sozialdarwinismus. Seine Genese und sein Einfluß auf das imperialistische Denken. München 1973; Gunter Mann (Hg.): Biologismus im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1973; HansUlrich Wehler: Sozialdarwinismus im expandierenden Industriestaat, in: ders.: Krisenherde des Kaiserreichs 1871-1918. Göttingen 1979, S. 281-289. Benton: Social Darwinism (1982), Marten: Sozialbiologismus (1983), Hans-Walter Schmuhl: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung ,lebensunwerten Lebens', 1890-1945. Göttingen 1987; Weingart/Kroll/Bayertz: Rasse (1988), Sieferle: Die Krise (1989), Peter Emil Becker: Zur Geschichte der Rassenhygiene. Wege ins Dritte Reich. Stuttgart, New York 1988; ders.: Wege ins Dritte Reich. Teil 2: Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und völkischer Gedanke. Stuttgart 1990; Sandmann: Der Bruch (1990); als Quellensammlung Jochen-Christoph Kaiser/Kurt Nowak/ Michael Schwartz: Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie". Politische Biologie in Deutschland 1895-1945. Eine Dokumentation. Berlin 1992; Rupp-Eisenreich: Le Darwinisme (1992); Richard Weikart: The Origins of Social Darwinism in Germany, 1859-1895, in: Journal of the History of Ideas 53 (1993), S. 469-488; Evans: In Search (1997). Engels: Biologische Ideen (1995), S. 14. Exemplarisch Gebhard: Der Zusammenhang (1984), Berentsen: Vom Urnebel (1986), Fick: Sinnenwelt (1993) sowie die Aufsätze des Linguisten Pörksen: Deutsche Naturwissenschaftssprachen (1986).
Forschungslage und Quellen
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dung85 - zurückzugreifen; die relevante Forschungsliteratur wird in den einzelnen Kapiteln vorgestellt werden. Erste Annäherungen erlauben einige kurze historische Überblicke und eine Edition von Quellentexten zur Volksaufklärung.86 Verschiedene Studien haben es unternommen, die Naturwissenschaften in die deutsche Bildungslandschaft der Nachreformzeit mit dem sie dominierenden Humboldtschen Bildungsbegriff einzuordnen und damit die zeitgenössische Diskussion um den Bildungswert der Naturwissenschaften nachzuvollziehen.87 Eine besondere Rolle spielen dabei traditionell die Auseinandersetzungen um die Realschulen und der Streit zwischen Humanisten und Realisten.88 Mit der Studie Alfred Kellys zur Popularisierung des Darwinismus liegt gerade eine Monographie zum engeren Themenkreis vor, die bezeichnenderweise nicht in Deutschland entstand. Kelly fächert in beeindruckender Dichte eine Phänomenologie des populären Darwinismus auf, analysiert aber kaum die konkreten Mechanismen und Kommunikationskanäle der Popularisierung.89 Kellys Studie können die wenig beachtete Dissertation von Hermann J. Dörpinghaus über die Perzeption von Materialismus und Darwinismus in katholischen Zeitschriften und vereinzelte Aufsätze zur Seite gestellt werden, darunter einige Beiträge aus der sogenannten Zeitgeistforschung der 1960er Jahre.90 Besondere Beachtung verdienen die Beiträge des Wissenschaftshistorikers Kurt Bayertz. Seine These, daß die Popularisierung von den sozialen Interessen der aufstrebenden professionellen Naturwissenschaftler geprägt worden sei, ist viel beachtet worden, wird aber in ihrer funktionalistischen Ausrichtung in unserer Untersuchung, die gerade die Spannungen zwischen naturwissenschaftlicher Profession und populärwissenschaftlichem Milieu herausarbeitet, allenfalls als partiell gültig angesehen und soll durch den Ausweis eines breiten sozialen
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Picht: Das Schicksal (1936), Baiser: Die Anfänge (1959), Vogel: Volksbüdung (1959), Dräger: Die Gesellschaft (1975), ders.: Volksbildung, I-II (1979-1984), Röhrig: Erwachsenenbildung (1987), ders.: Erwachsenenbildung (1991), Seitter: Volksbildung (1993). Vgl. auch Langewiesche: Zur Freizeit (1979) und ders.: Volksbildung (1989). Laming: The Origins (1952), Meadows: The Growth (1986), Dräger: Volksbildung, I-II (1879-1984). Brüggemann: Naturwissenschaft (1967), Blankertz: Bildung (1969). Eckert: Die schulpolitische Instrumentalisierung (1984), Hierdeis: Zur Auseinandersetzung (1988), Bonnekoh: Naturwissenschaft (1992); vgl. zu diesem Problemkreis Kapitel II. Kelly: The Descent (1981); zur Kritik an diesem Ansatz auch Evans: In Search (1997), S. 70. Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969), Bolle: Darwinismus (1962), Kupisch: Bürgerliche Frömmigkeit (1962), Sass: Daseinsbedeutende Funktionen (1968). Vgl. daneben die Aufsätze von Kurt Bayertz und Dietrich von Engelhardt, zuletzt knapp Orland: Reisen (1996).
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Einleitung
Interessenspektrums abgelöst werden. 91 Mit Ausnahme einer Studie über die Popularisierung der theologischen Forschung vor 191492 führen einige neuere Arbeiten wenig weiter.93 Dagegen kann die Erforschung der Volksaufklärung im späten 18. Jahrhundert und im besonderen der medizinischen Aufklärungsbewegung inzwischen reichhaltige Ergebnisse vorweisen.94 Im schroffen Gegensatz zu der unbefriedigenden Forschungslage steht der Umstand, daß eine immense Fülle an unveröffentlichten und veröffentlichten Quellen vorliegt, die in großer Dichte alle Aspekte der Popularisierungsgeschichte spiegeln. Während die bisherigen Studien zur Populärwissenschaft, auch jene aus dem angelsächsischen und französischen Bereich, archivalische Quellen kaum oder gar nicht berücksichtigt haben, erhalten diese in der vorliegenden Arbeit einen zentralen Stellenwert. Im besonderen die Privatkorrespondenzen der Vermittlerpersönlichkeiten, die weit verstreut sind, besitzen für die Frage nach Kommunikationszusammenhängen, Popularisierungsmotiven und -Strategien eine große Bedeutung und können durch Unterlagen naturkundlicher Vereine und Museen, in einigen Fällen auch durch staatliche Akten 95 ergänzt werden. Daneben ist es unumgänglich, als zentrale Quellengattung die in fast unüberschaubarer Vielfalt gedruckten populärwissenschaftlichen Flugschriften, Monographien, Aufsatzbände, Zeitschriften und publizistischen Beiträge des 19. Jahrhunderts zu erfassen, typologisch zu strukturieren und gezielt auszuwerten.96 Festschriften von Naturkundevereinen und die zeit91
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Siehe Kapitel VII. 6.a) und die im Literaturverzeichnis angegebenen Aufsätze von Bayertz. Janssen: Theologie (1993). Ischreyt: Der Arzt (1990), Päch: Von den Marskanälen (1980/81), Reinhard Junghans: Thomas-Müntzer-Rezeption während des „Dritten Reiches". Eine Fallstudie zur populärwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. Frankfurt/M. et al. 1990; Michael Hog: Ethnologie und Öffentlichkeit. Ein entwicklungsgeschichtlicher Überblick. Frankfurt/M. et al. 1990. Götze: Die Begründung (1932), Ruppert: Volksaufklärung (1980), Ueding: Popularphilosophie (1980), Holger Böning: Medizinische Volksaufklärung und Öffentlichkeit. Ein Beitrag zur Popularisierung aufklärerischen Gedankengutes und zur Entstehung einer Öffentlichkeit über Gesundheitsfragen. Mit einer Bibliographie medizinischer Volksschriften, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 15,1 (1990), S. 1-92; Böning/Siegert: Volksaufklärung (1990); Böning: Neues zur Popularisierung (1992). Letztere insbesondere für die nachrevolutionären Jahre, als einige Naturforscher überwacht oder als vermeintlich subversive Persönlichkeiten in staatlichen Akten erfaßt wurden. Hier wurde ein breiter Zugriff gewählt; z.B. fallen über 500 Jahrgänge der naturkundlichen Publizistik und etwa 300 Jahrgänge außernaturkundlicher Zeitschriften in den benutzten Quellenfundus. Über die Auswahlkriterien und den Umfang des Textkorpus informieren neben dem Quellenverzeichnis die Kapitel V . l - 2 und VI. 1.
Leitbegriffe und Methodik
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genössischen Dokumentationen der jährlichen Tagungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte bis 1914 ergänzen das heterogene Feld ebenso wie ausgewählte stenographische Berichte zu einschlägigen Parlamentsdebatten und biobibliographische Nachschlagewerke, die für kollektivbiographische Interessen elementar sind. Als hilfreich zur Eingrenzung der einschlägigen Literatur hat sich die Durchsicht von drei Privatbibliotheken erwiesen: der Sammlung Brehm in Renthendorf/Thüringen, die große Teile der Bibliothek des Zoologen Alfred Brehm aufbewahrt;97 der Bibliothek von Karl Krall, eines begeisterten Hobbyzoologen und -psychologen, die der Universität München vermacht wurde;98 und der Bibliothek von Emil Adolf Roßmäßler, des wohl wichtigsten naturkundlichen Popularisierers, die der Verfasser 1992 in den USA auffand.99 Idealtypischen Leitbegriffe und methodische
Vorüberlegungen
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das hat die Einleitung schon verdeutlicht, entwickelte sich aus dem Bedürfnis nach öffentlicher Teilhabe an naturwissenschaftlicher Bildung ein breites Ensemble von außerakademischen Kommunikations-, Darstellungs- und Themenformen. Diese Entwicklung kann als Entstehung populärwissenschaftlicher Genres verstanden und im Kollektivbegriff Popularisierung zusammengefaßt werden. Popularisierung - ein Singular, der eine Vielzahl von Prozessen begrifflich bündelt - läßt sich auf einer abstrakten Ebene definieren als eine spezifische Form der Wissensvermittlung und -Präsentation, d.h. den über sprachliche Manifestationen oder Organisationen und soziale Handlungen vermittelten Versuch bzw. Prozeß, aus den Naturwissenschaften stammende Inhalte sowie Fragen der Analyse von Naturphänomenen öffentlich an ein Publikum, das nicht selbst im Zentrum der Wissensproduktion steht, weiterzugeben oder in eigenständiger Form naturkundliche Themen diesem Publikum zu präsentieren. Dies kann als Weitergabe von Information und mit außerwissenschaftlichen Zielen, Inhalten und Bedeutungsaufladungen - z.B. unterhaltender Art - geschehen. In der Realität erweisen sich solche Trennungen weitgehend als künstlich. 97
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Der Bestand der Bibliothek Karl Vogts, eines der wichtigsten Popularisierers im 19. Jahrhundert, wurde 1896 der Senckenbergischen Bibliothek in Frankfurt/M. einverleibt, läßt sich aber nicht mehr rekonstruieren. Die Bibliothek umfaßt ca. 7000 Bände. Vgl. Universitätsbibliothek München, Repertorium 125; Ladislaus Buzás: Geschichte der Universitätsbibliothek München. Wiesbaden 1972, S. 212. Die Geschichte der Roßmäßler-Bibliothek, die bislang als verschollen galt, nachzuzeichnen, wird einer gesonderten Darstellung vorbehalten. Nach Roßmäßlers Tod im April 1867 zog dessen Witwe nach Quincy im Bundesstaat Illinois/USA und verkaufte die Bibliothek ihres Mannes an die St. Louis Public Library. Dort wurde die Sammlung im Winter 1869/70 in den Bestand eingeordnet, aber nicht in ihrer Gesamtheit gesondert aufgestellt.
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Einleitung
Der Begriff der Popularisierung beinhaltet, daß sich der Vermittlungsvorgang an der akademischen Erkenntnisproduktion orientiert, die in einer publikumsbezogenen Fassung dargestellt werden soll. Er kann damit nicht ganz seine Herkunft aus einem diffusionistischen Modell abstreifen. Popularisierung erscheint darin als Zwei-Phasen-Ablauf: Sie vermittelt das an ein Publikum, was zuvor und gänzlich außerhalb desselben erzeugt wurde. Danach ist die genuine, reine Wissensproduktion von den Rezipienten scharf getrennt, und zwischen beiden besteht ein klares Wissensgefälle, das durch die einseitige Vermittlung von Informationen verringert wird. Der kommunikative Prozeß besteht folglich aus der linearen Weitergabe von Wissen ohne Rück- oder Wechselwirkungen. Diese Vorstellung impliziert eine statische Rolle der Kommunikationsteilnehmer. Sie sieht Popularisierung als quasi minderwertigen, subsidiären Prozeß und begünstigt Werturteile wie das der Trivialisierung. Historisch ist der darin angelegte strenge Dualismus von Wissensproduzenten und -rezipienten zwar für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts elementar, wird aber dort an verschiedenen Stellen aufgebrochen. Im Gegensatz zu dem Zwei-Phasen-Modell fragt unsere Untersuchung danach, inwieweit der populärwissenschaftliche Kommunikationsraum selbst eigene Wissenstransformationen und -entwürfe hervorbrachte. Dem traditionellen Modell von Popularisierung wird seit einigen Jahren in der angelsächsischen Historiographie eine interaktionistische Vorstellung gegenübergestellt. Die Polarität von Wissensproduktion und -rezeption wird darin ganz aufgegeben. Am prägnantesten haben diese Neukonzeptualisierung Terry Shinn und Richard Whitley unter der Bezeichnung „expository science" formuliert. 100 Popularisierung wird von ihnen nicht nur verstanden als „process of communicating knowledge from the context of its production and validation to a wider, different context" 101 . Letztlich definieren Shinn/Whitley „exposition" als Summe der „instruments for communicating results and ideas, among an extended range of initiators and audiences", bzw. bestimmt als „a sort of continuum of methods and practices utilized both within research and far beyond, for purposes of conveying science-based information, whether as pure cognition, pedagogy, or in terms of social and economic problems."102
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Shinn/Whitley (Eds.): Expository Science (1985), darin vor allem Whitley: Knowledge Producers (1985) sowie schon früher mit entsprechenden Überlegungen Richard Whitley: The Intellectual and Social Organization of the Sciences. Oxford 1984. Vgl. Cloitre/Shinn: Enclavement (1986), Burnham: How Superstition Won (1987), S.272, Anm. 74; Lancashire: An Historical Study (1988), S. 3ff.; Hilgartner: The Dominant View (1990), Cooter/Pumfrey: Separate Spheres (1994), S. 239-243. Whitley: Knowledge Producers (1985), S. 16. Shinn/Whitley: Expository Science (1985), S. VIII.
Leitbegriffe und Methodik
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Popularisierung geht hier auf in der Vielfalt intra-, inter- und extrawissenschaftlicher Kommunikation und ist selbst relevant für die kognitiven Prozesse der Wissensproduktion. 103 Obwohl dieses Kommunikationsmodell derzeit eine starke Ausstrahlung besitzt, möchte ich es als solches nicht übernehmen. 104 Der Terminus Popularisierung verliert hier sein Spezifizierungspotential für das 19. Jahrhundert. Die historische Idee und Praxis der Popularisierung lebten bei allen Relativierungen doch von der Dialektik zwischen spezialisierter Wissenschaft und nichtspezialisiertem Publikum und nicht zuletzt wird diese Dialektik auch in den Diskursen des 19. Jahrhunderts immer wieder thematisiert. Insofern soll der Begriff der Popularisierung auch in dieser Untersuchung nicht aufgegeben, sondern im Bewußtsein gebraucht werden, daß er nicht auf das methodisch fragwürdige, diffusionistische Modell reduziert werden kann. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist getan, wenn die von zahlreichen angelsächsischen Studien inzwischen herausgearbeitete historische Pluralität von Wissenschaftsbegriffen und die Vielfalt der Kontexte, in denen Wissenschaft betrieben, verbreitet und formuliert wurde, akzeptiert werden.105 Die Geschiche der Wissenschaftspopularisierung gehört dann zweifellos in den Zusammenhang der Diskussion darüber, ob und wie Wissenschaft als Institution, als soziales System und als kognitiver Sektor historisch verortet und eine soziokulturelle Wissenschaftsgeschichte106 entworfen werden kann, welche bereit ist, die Erkenntnisse der neueren kulturhistorischen,107 kulturwissenschaftlichen und wissenschaftssoziologischen108 Forschungen und der Gender Studies109 aufzunehmen.
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Diese Interpretation pointiert auch bei Cloitre/Shinn: Enclavement (1986). Die Überlegungen sind für die historische Analyse des 19. Jahrhunderts schwerlich als Gesamtkonzept anwendbar. Sie mögen zutreffen auf die moderne Mediengesellschaft mit theoretisch allseits aktualisierbaren Informationen und Kommunikationsmöglichkeiten, die jeden Wissenschaftler jederzeit einem öffentlichen Diskurs aussetzen und in dessen Erkenntnisprozeß rückwirken können. Abgesehen davon dürfte es auch heute äußerst schwierig sein, das feedback von science exposition auf den wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß nachzuvollziehen. los vgl m jt zahlreichen weiterführenden Hinweisen Cooter/Pumfrey: Separate Spheres (1994) und exemplarisch Secord: Science (1994). 106 Dear: Cultural History (1995), S. 154. 107 Mit weiterführenden Hinweisen Lynn Hunt (Ed.): The New Cultural History. Berkeley, Los Angeles, London 1989; Nicholas B. Dirks/Geoff Eley/Sherry B. Ortner (Eds.): Culture, Power, History. A Reader in Contemporary Social Theory. Princeton, N.J. 1994; Christoph Conrad/Martina Kessel (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Stuttgart 1994; Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Kulturgeschichte heute. (Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft; 16) Göttingen 1996. 108 Zu den neueren Arbeiten von Roger Chartier, Robert Darnton, Bruno Latour, Steven Shapin, Simon Schaffer u.a. siehe im Überblick Steven Shapin: History of Science and its Sociological Reconstructions, in: History of Science 20 (1982),
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28
Einleitung
Langfristig dürfte es ertragreich sein, den linear angelegten Begriff der Popularisierung durch den von traditionellen Trivialitätsvorwürfen freien Begriff der Präsentation von Wissen abzulösen. 110 Vor allem scheint es angemessen, vermehrt den Begriff der Populärwissenschaft zu nutzen. Populärwissenschaft als Idealtypus - der Kollektivsingular ist wiederum nur mit Vorsicht zu gebrauchen 111 - umschreibt einen spezifischen Umgang mit Wissen über die Natur, der unter dem Primat des Publikumbezugs und unter der Maßgabe öffentlicher Vermittelbarkeit steht. Dieser Umgang verzichtet in abgestuftem Maße auf das Regelwerk des wissenschaftlichen Diskurses, versteht sich zunehmend als Alternative und Komplement dazu und erfolgt weitgehend außerhalb professioneller Forschung und institutionalisierter Wissenschaft. Die populärwissenschaftliche Praxis reduziert die Komplexität wissenschaftlicher Argumentation und orientiert sie auf außerakademische Erfahrungen hin, etwa auf physikalische Erscheinungen im Alltag oder Erlebnisse bei der privaten Tierhaltung. Sie stärkt den eidetischen und metaphorischen Charakter der naturkundlichen Sprache und überwindet tendenziell die Entgegensetzungen von Wissenschaftlichkeit und Fiktionalität, begrifflichem D e n k e n und erfahrungsbezogener Wahrnehmung; diese Problematik wird im Kapitel V.2 ausgeführt.
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S. 157-211; Dear: Cultural History (1995), Cooter/Pumfrey: Separate Spheres (1994) und Rupp: The New Science (1995). Vgl. zuvor Diana Crane: Invisible Colleges. Diffusion of Knowledge in Scientific Communities. Chicago, London 1972; Meadows: Communication (1974), insbes. S.66ff., 207ff.; Joseph Ben-David: Introduction, in: International Social Science Journal 22 (1970), S.7-27; ders.: The Scientist's Role in Society. A Comparative Study. Englewood Cliffs, N.J. 1971, S. 198-137. Vgl. als deutsche Beiträge Matthes: Popularisierung (1987), S. 37ff.; Bobrowsky/Duchkowitsch/Haas (Hg.): Medien- und Kommunikationsgeschichte (1987) und Heine von Alemann: Organisatorische Faktoren im Wissenstransfer. Eine exploratorische Untersuchung zur Situation in den Sozialwissenschaften, in: Nico Stehr/Rene König: Wissenschaftssoziologie. Studien und Materialien. (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 18/1975) Opladen 1975, S. 254-286, zu horizontalem und vertikalem Wissenstransfer. In die Diskussionen führen ein Barbara Laslett et al. (Eds.): Gender and Scientific Authority. Chicago, London 1996; Sally Gregory Kohlstedt: Women in the History of Science: An Ambigious Place, in: Osiris. Second Series 10 (1995), S. 39-58; Barbara Orland/Elvira Scheich (Hg.): Das Geschlecht der Natur. Feministische Beiträge zur Geschichte und Theorie der Naturwissenschaften. Frankfurt/M. 1995. Vgl. auch Louise Michele Newman: Men's Ideas/Women's Realities. Populär Science, 1870-1915. New York et al. 1985. Damit wird einerseits das Inszenatorische der Popularisierung angedeutet, andererseits die strenge Polarität zwischen Wissenschaft und Publikum abgeschwächt. Vgl. Lancashire: An Historical Study (1988), S. 2 mit Verweis auf Maurice Goldsmith und George Basalla. Der zweifellos schwierige Terminus meint weder eine Wissenschaft vom Populären noch überhaupt eine Form der Disziplinbildung. Die Problematik des Begriffs hat mich dazu geführt, ihn im Titel durch den konzeptionell weniger treffenden, aber auch weniger sperrigen Terminus Wissenschaftspopularisierung zu ersetzen.
Leitbegriffe und Methodik
29
Die populärwissenschaftliche Weise, mit Wissen umzugehen, war im 19. Jahrhundert nur bedingt selbstreflexiv,112 sie konkretisierte sich in erster Linie als darstellerische Praxis. Man braucht nicht von einer „reflexionslosen Aufklärungsmentalität"113 der Popularisierer zu sprechen, kommt aber nicht umhin einzugestehen, daß diese keine wirkliche Theorie oder Methodik der Popularisierung entwickelten. Die populärwissenschaftliche Praxis bewirkte zwischen 1848 und 1914 zugleich eine erstaunliche Konvergenz der kommunikativen Mittel, Präsentationsweisen und der Wahrnehmungen von Natur. Über alle Deutungsantagonismen hinweg kristallisierten sich gemeinsame Bilder von Wissenschaft und von der Natur heraus. Die Beharrungskraft naturphilosophischen Denkens, die Faszination für die Ganzheitsidee, wie sie der Entwurf der Natur als Kosmos durch Alexander von Humboldt verkörperte, und ausgeprägte Neigungen zur Moralisierung und Ästhetisierung können als Eigentraditionen des populärwissenschaftlichen Bildungsbereichs hervorgehoben werden. Zwei Aspekte kommen in dieser Perspektive verstärkt zu ihrem Recht. Zum einen die räumliche Dimension von Wissensvermittlung; der Blick wird in unserer Untersuchung immer wieder auf die geographischen Räume und gesellschaftlichen Milieus gelenkt, in denen populärwissenschaftliche Kommunikations- und Distributionsnetze besonders dicht geknüpft waren. Wodurch solche Bildungslandschaften entstanden und welche Umstände sie begünstigten, sind offene Fragen, die es nahelegen, volkskundliche Vorgehensweisen einzubeziehen.114 Dabei gewinnen die regionalen und lokalen Agenten und Institutionen der Bildungsvermittlung eine besondere Bedeutung. Zum anderen soll konsequent nach den relevanten Personen und Personengruppen gefragt werden. Die Arbeit greift dazu prosopographische und kollektivbiographische Ansätze aus der Wissenschaftsgeschichte auf, ohne sie im strengen Sinne, zumal statistisch-seriell, umzusetzen.115 Sie interessiert sich in erster Linie für Leitfiguren wie Emil Adolf Roßmäßler, für Gruppenbildungen und -profile sowie für personelle Vernetzungen im Sinne von persönlichen und sachlichen Verbindungen, Funktions- und Gesinnungsbündnissen.
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Vgl. Dräger: Volksbildung, I-II (1979-1984) und Röhrig: Erwachsenenbildung (1987), S. 348-352. Röhrig: Erwachsenenbildung (1987), S. 351. Hans-Heinrich Blotevogel: Die Theorie der Zentralen Orte und ihre Bedeutung für Volkskunde und Kulturraumforschung, in: Stadt-Land-Beziehungen. Verhandlungen des 19. Deutschen Völkskundekongresses in Hamburg [...]. Hg. v. Gerhard Kaufmann. Göttingen 1975, S. 1-19. Shapin/Thackray: Prosopography (1974), Pyenson: „Who the Guys were" (1977), Schröder: Lebenslauf (1985). Vgl. Kapitel VII.l.
30
Einleitung
Der Aufbau der Untersuchung Die Arbeit wird die unterschiedlichen kommunikativen Ebenen, Vermittlungswege, Darstellungsformen und Akteure der Populärwissenschaft systematisch erfassen und auf eine durchgehende Chronologie verzichten. Die Systematik hilft gerade, die Geschichte der Populärwissenschaft konsequent zu historisieren, indem sie zeigt, daß Wissenschaftspopularisierung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Wirkungszusammenhängen entstand und nicht durch vorschnelle Festlegungen auf wenige Leitideen und wenige Trägerschichten, die dann in einem scheinbar eindeutigen Narrativ chronologisch nachzuzeichnen wären, angemessen charakterisiert werden kann. Zudem erlaubt der systematische Zugriff, die wichtigsten Argumente und Thesen auch bei der Lektüre einzelner Kapitel, die untereinander durch Querverweise verbunden sind, zu erfassen. Das I. Kapitel gibt einen begriffsgeschichtlichen Überblick, der veranschaulicht, wie die Begriffe Wissenschaft und Popularität im 19. Jahrhundert aufeinander bezogen wurden. Dabei wird betont, wie sich die Begrifflichkeit der Popularität nach 1848 rapide verbreitete und doch stets über gegensätzliche Werturteile definiert und häufig negativ belastet blieb. Kapitel II skizziert die Stellung der Naturwissenschaften im höheren Schulwesen am Beispiel Preußens, um anschließend die Auseinandersetzungen um den Einzug des Darwinismus in den Schulunterricht nachzuzeichnen und zu untersuchen, wie naturwissenschaftliche Streitfragen politisch kontextualisiert wurden und der Dynamik öffentlicher Diskussionen unterlagen. Hier wird deutlich, wie das Bild von der unversöhnlichen Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft und Religion aus diskursiven Strategien und Debattenverläufen heraus konstruiert wurde. Im III. Kapitel werden das naturkundliche Vereinswesen mit seinen amateurwissenschaftlichen Freiräumen, das Vortragswesen und die bürgerliche Festkultur der Naturwissenschaftler sowohl auf nationaler als auch auf regionaler Ebene vorgestellt. Besonderes Augenmerk wird den seit 1859 entstehenden Humboldt-Vereinen geschenkt, da sie einen neuen Vereinstypus bildeten und über ihren Gründer Roßmäßler sowohl an den Diskussionen über eine liberale Arbeiterpolitik als auch an der nationalen Mobilisierung der Neuen Ära teilhatten. Ein eigener Teil geht auf die neuen Volksbildungseinrichtungen zwischen 1859 und 1914 ein, die in dem Massenerfolg der Berliner Urania und der Stuttgarter Kosmos-Gesellschaft kulminierten. Kapitel IV knüpft an die Vereinsgeschichte an und weitet sie auf den Bereich der sogenannten Weltanschauungsvereine aus. In diesem Teil wird verfolgt, wie und von wem naturwissenschaftliche Bildung zur Grundlage von weltanschaulichen Deutungsangeboten in organisierter Form gemacht wurde. Erstmals kann dabei nachgewiesen werden, daß eine Hauptwurzel der Wissenschaftspopularisierung im freireligiösen Milieu der Lichtfreun-
Aufbau der Untersuchung
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de und Deutschkatholiken um 1848 begründet liegt. Diese ideengeschichtliche Ableitung wird im folgenden immer wieder thematisiert und im ganzen als bedeutsamer eingestuft werden als die Wirkungen materialistischen und darwinistischen Denkens. Im Anschluß daran verfolgt das Kapitel, wie in der kulturellen Deutungskonkurrenz um 1900 das populärwissenschaftliche Instrumentarium auch von konfessionellen und konservativen Gruppierungen übernommen wurde. Welche darstellerischen und inhaltlichen Konsequenzen sich aus dem Primat des Öffentlichkeitsbezugs im Medium des Textes ergaben, untersucht das V. Kapitel. Die naturkundlichen Buchliteratur und - im anschließenden Kapitel VI - auch die entsprechende Publizistik lassen als Leitsektoren in besonderem Maße erkennen, wie die literarische Öffentlichkeit die Naturwissenschaften einbezog, sie Konjunkturen und Krisen in der Marktakzeptanz aussetzte und naturwissenschaftliche Versatzstücke in neue Weltbildentwürfe umgoß. Dazu gehört die Überlagerung des Materialismus durch ein empirisch-kosmisches Denken schon in den 1850er Jahren und, zum Jahrhundertende hin, die Umwandlung des darwinistischen Evolutionsgedankens in eine kosmische Entwicklungsvorstellung, der ein teleologisches Verständnis von harmonischer Natur zugrunde lag. Diese beiden Kapitel bilden auch insofern ein Herzstück der Untersuchung, weil hier die grundsätzlichen Probleme der Vertextung von Wissenschaft und eines populären Stils thematisiert sowie manche Mythen, etwa hinsichtlich der Bedeutung Alexander von Humboldts und Ernst Haeckels, hinterfragt werden. Im VII. Kapitel werden die personellen Trägerschichten der Popularisierung nach unterschiedlichen Typen und Generationen differenziert und die soziokulturellen, psychologischen und politischen Dispositionen dieser Vermittler aufgezeigt. Die beiden Gruppen der berufsmäßigen und okkasionellen Vermittler werden nochmals die enge Anbindung der Popularisierungsgeschichte an die politische Entwicklung nach 1848 verdeutlichen. Einen raschen Zugriff auf die behandelten Personen erlauben die Kurzbiographien auf den Seiten 473-518, die einen integralen Bestandteil der Arbeit bilden. Ein erstes Fazit am Ende des VII. Kapitels und die abschließende Zusammenfassung bündeln die Einzelergebnisse der Untersuchung nochmals in einem chronologischen Durchgang und deuten Untersuchungsfelder der zukünftigen historischen Forschung zur Populärwissenschaft an. Auch dafür bietet das Quellen- und Literaturverzeichnis eine breite bibliographische Basis.
I. Popularität, Popularisierung, Populärwissenschaft: B egriffsgeschichtliche Annäherungen „Wir wollen die Streitfrage hier nicht erörtern, ob die Wissenschaft an und für sich populär gemacht werden könne und dürfe, und nur bemerken, daß noch kein Begriff so vielsinnig gedeutet worden ist wie derjenige der Popularität. Je nach seiner Auslegung ist viel unter dieser Firma erreicht, mehr aber noch gesündigt worden." Anonym.: Die falsche Popularität der Naturwissenschaft, in: Die Grenzboten 14.1 (1855), S. 379-384, hier S. 380.
Die Begriffe Popularität und Wissenschaft wurden in der deutschen Sprache erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts zueinander in Beziehung gesetzt und in Wortverbindungen zusammengefügt.1 Diese Entwicklung verdichtete sich in den Jahren um 1848, und sie vermag als Einstieg in die Geschichte der Populärwissenschaft bereits verdeutlichen, daß die Verknüpfung von Wissenschaft und Popularität in Deutschland in gleichem Maße unaufhaltsam war wie sie spannungsgeladen blieb. Wenn sich die Bezeichnung ,populär' und ihre Varianten auch seit der Jahrhundertmitte geradezu inflationär ausbreiteten, so blieben sie doch stets mehrdeutig und sogar in sich widersprüchlich. Die Begrifflichkeit der ,Popularität' war durch auseinanderstrebende Konnotationen geprägt, die häufig gegeneinander ausgespielt wurden. Die Kategorien ,populär' und .populärwissenschaftlich' wurden in einer Weise diskursiv formiert, die sie hochgradig mit konflikthaften Werturteilen, im besonderen mit negativen Bewertungen, auflud. Popularität - abgeleitet vom lateinischen popularitas als Studium des placendi populo - war im 18. Jahrhundert primär politisch konnotiert. Der Begriff bezog sich auf die Geschichte der römischen Republik und auf das Bemühen aufstrebender Politiker, sich die Gunst der Plebejer nutzbar zu machen. Bezogen auf die Gegenwart meinte Popularität im politischen Sinne das Gewinnen der Volksgunst durch Fürsten und Staatsbeamte.2 1
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Wort- oder begriffsgeschichtliche Untersuchungen über ,Popularität', Popularisierung' oder populärwissenschaftlich' liegen bislang nicht vor; einige Hinweise gibt Schenda: Volk (1970), S. 32-34. Im folgenden wird ein erster Überblick anhand zeitgenössischer Wörterbücher, Lexika und der später ausführlich besprochenen Zeitschriften- und Buchliteratur vorgenommen. Die Nachschlagwerke sind in den Anmerkungen bei der ersten Nennung mit vollständigen bibliographischen Angaben, danach in Kurzform zitiert, jedoch nicht in das Literaturverzeichnis aufgenommen worden. [Zedlers] Grosses Universal-Lexikon Aller Wissenschaften und Künste, welche bisher durch menschlichen Verstand und Witz erfunden worden. Leipzig, Halle,
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I. Popularität, Popularisierung, Populärwissenschaft
Diese Bedeutung hielt sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, trat aber schon im Vormärz zurück und wurde seither der politischen Implikationen entkleidet. In den Vordergrund rückte nun die „oratorische Popularität", die Schriftsteller und Redner sich aneignen müßten, „welche dem sogenannten großen Publicum etwas zu sagen haben."3 Seit 1800 wurde es üblich, von populärer Sprache und populären Vorträgen zu sprechen, an die man besondere Forderungen der Anordnung, Sprache und Verständlichkeit erhob.4 Der rhetorische Sinngehalt verfestigte sich, für den Terminus populär traten jetzt Synonyme wie: leicht faßlich, gemeinverständlich oder volkstümlich hervor.5 Popularität wurde nach 1850 generell als Volksmäßigkeit, Gemeinfaßlichkeit oder Gemeinverständlichkeit umschrieben.6
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Bd. 28 (1741), Sp. 1542; Conversations-Lexikon oder encyklopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände. Leipzig, Altenburg, Bd. 7 (1816), S. 792; Enzyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, bearbeitet von mehreren Gelehrten, hg. v. H. A. Pierer. Altenburg, Bd. 16 (1831), S.587; Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. In Verbindung mit Staatsmännern, Gelehrten, Künstlern u. Technikern hg. v. J. Meyer. Hildburghausen, 2. Abteilung, Bd. 4 (1850), S. 558£ Die prononciert politische Deutung findet sich auch bei Anonym.: Popularität (1854). Conversations-Lexikon (1816), S. 792. Ebenda, S.792£ Vgl. auch Greiling: Theorie (1805), S.3; Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. 10., verbesserte u. vermehrte Aufl., Leipzig, Bd. 12 (1854), S. 274f.; Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 7, bearb. v. Matthias von Lexer. Leipzig 1889, S. 2002. Enzyclopädisches Wörterbuch (1831), S. 587; Fremdwörterbuch nebst Erklärung der in unserer Sprache vorkommenden fremden Ausdrücke. 14., stark vermehrte Aufl., Leipzig 1851, S.295; Handbuch der Fremdwörter in der deutschen Schriftund Umgangssprache. Mit einem Namendeuter und Verzeichnis fremder Wortkürzungen von Friedrich Erdmann Petri, bearb. v. Rochus Seibt. München 1909/10, Sp. 932. Zusammenfassend 1873: Daniel Sanders: Deutscher Sprachschatz geordnet nach Begriffen zur leichten Auffindung und Auswahl des passenden Ausdrucks. Ein stilistisches Hilfsbuch für jeden Deutsch Schreibenden. Hamburg (ND Tübingen), Bd. 1: Systematischer Teil, 1873 (ND 1985), S. 479. Taschenwörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der in der heutigen deutschen Sprache gebräuchlichen fremden Wörter, Redensarten, Vornamen und Abkürzungen, bearb. v. L. Kiesewetter. 2., vermehrte u. verbesserte Aufl., Glogau o.J. [ca. 1890], S. 241. Vgl. Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. 3., gänzlich umgearb. Aufl., Leipzig, Bd. 13 (1878), S. 113; Handbuch der Fremdwörter (1909/10), Sp.932; Fremdwörterbuch (1851), S.295; Neues vollständiges Fremdwörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der in der heutigen deutschen Schrift und Umgangssprache gebräuchlichen fremden Wörter, Redensarten, Vornamen und Abkürzungen mit genauer Angabe ihres Ursprunges, ihrer Rechtschreibung, Betonung und Aussprache. Bearb. v. L. Kiesewetter. 3., vollst, umgearb. u. vermehrte Aufl., Glogau, Leipzig 1855, S. 465; Handbuch der Fremdwörter (1909/10), S. 932; Meyers Konversations-Lexikon (1878), S. 113; Brockhaus Konversations-Lexikon. 14., vollst, neubearb. Aufl., Leipzig, Bd. 13 (1908/ND 1920), S.275.
B egriffsgeschichtliche Annäherungen
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Auch der Gegenstandsbereich verschob sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. In der Aufklärungszeit war Popularität vor allem auf das Predigen 7 , die Volksaufklärung 8 und Popularphilosophie 9 sowie die fiktionale Literatur 10 bezogen worden; allerdings sprach Johann Carl Wezel schon 1781 davon, daß der Grad der Nationalbildung sich auch daran messen lasse, ob die Nation Schriftsteller besitze, „die wissenschaftliche Gegenstände auf eine unterhaltende populäre Art behandeln". 11 Mit der Naturwissenschaft wurde der Begriff populär seit 1813 erstmals in den Titeln astronomischer Darstellungen verknüpft. 12 Nach 1849 etablierte sich der Ausdruck dann als typisches Titelattribut in der naturkundlichen Buch- und Zeitschriftenliteratur. 13 Einige Autoren differenzierten sprachlich zwischen populär und volkstümlich und glaubten, daß erst eine volkstümliche Literatur frei sei vom „sogenannten deutschen Kathedertone"14. Bezeichnenderweise erlebte das Attribut volkstümlich am Jahrhundertende eine Konjunktur, als sich eine neue Generation naturkundlicher Schriften für das Massenpublikum abzeichnete. Nun wurde über die „populäre Wissenschaft" 15 hinaus die „volkstümliche Wissenschaft" (Raoul France) und die „volkstümliche Naturwissenschaft" (Wilhelm Bölsche) propagiert. 16 Die Verknüpfung von Popularität und Wissenschaft fand ihren signifikanten Ausdruck im Neologismus populärwissenschaftlich'. Diese Wortverbindung ging erst in der zweiten Jahrhunderthälfte in die deutsche
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Exemplarisch ist Konrad Kenniger: Von der Popularität im Predigen. Zürich, Winterthur, Bd. I—III, 1777-1786, der davon spricht, daß der „gesunde Geschmack an populärer Simplicität und Deutlichkeit" inzwischen allgemein geworden sei, zitiert nach: Böning/Siegert: Volksaufklärung, I (1990), Sp. 606f. Auch Greiling: Theorie (1805), hier S. 42, hatte den „Stand der Volkslehrer" und den „Predigerstand" vor Augen. Vgl. Böning/Siegert: Volksaufklärung (1990), die allerdings den Begriff der Popularisierung unreflektiert auf das 18. Jahrhundert anwenden. Grimm: Deutsches Wörterbuch (1889), S. 2002. Vgl. Ueding: Popularphilosophie (1980). Charakteristisch hierfür das Conversations-Lexikon (1816), S. 793f. Johann Carl Wezel: Ueber Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen [1781], in: ders.: Kritische Schriften. Hg. v. Albert R. Schmitt. Bd. III, Stuttgart 1975, S. 53-396, hier S. 322. Fries: Populäre Vorlesungen (1813), Arago: Populaere Vorlesungen (1838), Diesterweg: Populäre Himmelskunde (1840/1876), Mädler: Der Wunderbau (1841/1879). Vgl. auch Bischof: Populäre Vorlesungen (1843) und ders.: Populäre Briefe, 1-11(1848/49). Im Verlauf dieser Arbeit und in der abschließenden Bibliographie werden zahlreiche Beispiele genannt werden. Michelsen: Schaffen wir uns Flugblätter (1862), S. 822. Meyer: Ueber populäre Wissenschaft (1890). France: Fachwissenschaft (1906), Bölsche: Volkstümliche Naturwissenschaft (1912). Vgl. Kapitel V.5 und VIA
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I. Popularität, Popularisierung, Populärwissenschaft
Sprache ein, zunächst zögerlich und in Schreibvarianten.17 So finden sich auch die Komposita „populär-naturwissenschaftlich" 18 und „wissenschaftlich-populär" 19 . Die früheste von mir in den Quellen nachweisbare Verwendung führt zu Wilhelm Jordan, den junghegelianischen Literaten und Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung. Jordans Blätter für wissenschaftliche Unterhaltung berichteten 1849 von den „schätzenswerthen populärwissenschaftlichen Aufsätzen" 20 in der zeitgenössischen Presse. Im folgenden Jahr empfahl der Hallische Theologe und Mitbegründer der freiprotestantischen Lichtfreunde Gustav Adolf Wislicenus den Gemeinden seiner Bewegung, Bibliotheken mit „populär-wissenschaftlichen Schriften" 21 anzulegen. Das neue Kompositum wurde bald vielseitig verwendet, als literarische Selbstbezeichnung ebenso wie bei der Namensgebung von Vereinen. Vor 1914 war auch das Substantiv „Populärwissenschaft" 22 nichts ungewöhnliches mehr. Deutlich früher tritt das Verb popularisieren' auf. Es wurde zunächst in einem weiten thematischen Spektrum gebraucht. So sprach Friedrich Schlegel in seinen romantischen Notizen davon, „die ganze Poesie soll popularisiert werden und das ganze Leben poetisiert." 23 1831 wurde dem bayerischen König Ludwig I. anläßlich der Feiern zur Grundsteinlegung der Walhalla die Absicht zugeschrieben, „die Geschichte durch die redende und bildende Kunst zu popularisiren" 24 . In der Tradition des politischen Popularitätsbegriffs steht die reflexive Form „sich popularisiren", die ein Herablassen zum Volk oder den Versuch, sich beim Volke beliebt zu machen, meinte.25 Diese Formulierung rückt im Vormärz allmählich in den 17
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Häufig wurden noch beide Wortteile als Adjektive nebeneinandergestellt oder zurückhaltend mit Bindestrich verknüpft; alle drei Varianten finden sich bei Reclam: Die Aufgabe (1857), S. 161,163 und 164. Roßmäßler: Das Wasser (1860), S. V, hier mit der Endung ,,[..]es" aus dem 1857 datierten Vorwort zur ersten Auflage; Jaeger: Die Darwinsche Theorie (1869), S. 134; Ule/Hummel: Physikalische und chemische Unterhaltungen (1870), S. VI; Foerster: Ueber die Ziele (1889), S. 18; Volkstümliche Wissenschaft (1913), S. 21. Meyer: Ueber populäre Wissenschaft (1890), S. 566, hier mit der Endung ,,[..]re". [Jordan:] Der wissenschaftliche Genuß (1849), S. 4. Wislicenus: Die freien Gemeinden (1850), S. 767. Bölsche: Volkstümliche Naturwissenschaft (1912), S. 239; Bölsche: Wie und warum (1913), S. 308, 320. Friedrich Schlegel: Literarische Notizen 1797-1801. Literary Notebooks. Hg., eingel. u. komment. v. Hans Eichner. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1980, S. 145. Ratisbona und Walhalla. Denkschrift auf die Festfeyer bey der höchst erfreulichen Anwesenheit Ihrer Koeniglichen Majestaeten von Bayern in Regensburg sowohl als bey der Grundsteinlegung der Walhalla nächst Donaustauf am löten bis 19ten Oktober 1830. Regensburg 1831, S. 93. Conversations-Lexikon für den Hausgebrauch oder Hülfswörterbuch für diejenigen, welche über die beim Lesen sowohl, als in mündlichen Unterhaltungen vorkommenden mannigfachen Gegenstände näher unterrichtet seyn wollen. Dritte Ausgabe, Leipzig 1834, S. 632.
Begriffsgeschichtliche Annäherungen
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Hintergrund und mit ihr auch die älteren Wendungen „populär werden"26 und „Popularmachen", ein Ausdruck, den Alexander von Humboldt immerhin noch 1841 gebrauchte.27 Die Bedeutung von popularisieren' blieb fortan im wesentlichen gleich; es ging darum, etwas dem Volk verständlich und gemeinfaßlich darzustellen.28 Popularisieren wurde in der zweiten Jahrhunderthälfte zum Alltagsbegriff.29 Der Begriff galt literarischen und philosophischen Themen,30 er bezeichnete medizinische und technische Inhalte,31 und er diente allgemein zur Bezeichnung von Volksbildungsbestrebungen.32 Das Verb, vor allem seine Substantivierung Popularisierung' - seltener findet sich „Popularisation"33 - wurde aber überwiegend an naturwissenschaftliche Themen gekoppelt. Ob 1863 vom „Wettlauf popularisirender Naturbeschreibung"34 gesprochen wurde, oder ob man sich noch 1890 von „dieser sonderbaren Popularisierung"35 distanzierte - fast ausnahmslos bezogen sich die Zuschreibungen auf den naturwissenschaftlichen Bereich. Der Berliner Botaniker und Geologe Henry Potonie brachte diesen Bezug 1913 auf den 26
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So bei Goethe, zitiert nach Mandelkow: Goethe, I (1980), S. 30. Das vollständige Zitat lautet in der Wiedergabe des Gesprächs mit Eckermann vom 11. Oktober 1828: „Meine Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas ähnliches wollen und suchen, und die in ähnlichen Richtungen begriffen sind." So Humboldt in einem Brief an Friedrich von Raumer am 6.1.1841 im Rückblick auf seine öffentlichen Vorträge in der Berliner Singakademie (1827/28), abgedruckt in: Raumer: Literarischer Nachlaß, I (1869), S. 22. Vgl. Kapitel V. 3-4.a). Enzyklopädisches Wörterbuch (1831), S. 587; Das große Conversations-Lexikon (1850), S. 558; Meyers Konversations-Lexikon (1878), S.113; Gedrängtes Handbuch der Fremdwörter (1852), S. 657; Brockhaus Konversations-Lexikon (1908), S. 275; Taschenwörterbuch (o.J./1890), S. 241; Brockhaus Enzyklopädie. 17. Aufl., Wiesbaden, Bd. 14 (1972), S. 812; Meyers enzyklopädisches Lexikon. 9. Aufl., Mannheim, Wien, Zürich, Bd. 19 (1977), S. 106 („gemeinverständlich darstellen"). Zusammenfassend zum semantischen Feld Sanders: Deutscher Sprachschatz, I (1873/ND 1985), S. 478 und II (1877/ND 1985), S. 1782. Michelis: Die Popularisirung der herbartschen Naturphilosophie durch H. Lotze, in: NuO 9 (1863), S. 556ff. Z.B. Die Popularisierung der Elektrifizierung. Berün 1909, ein Sonderdruck aus der Elektrotechnischen Zeitschrift. Zur Verbindung mit den populärwissenschaftlichen Bemühungen der liberalen religionsgeschichtlichen Schule jetzt Janssen: Theologie (1993). Der Ausdruck „Popularisirung der Baukunst" bei Körner: Der Mensch (1853), S.234. Albrecht: Die Popularisirung (1899). Aveling: Die Darwinsche Theorie (1891), S.VI; Sanders: Deutscher Sprachschatz, I (1873), S.478, der beide Varianten erwähnt; Volkstümliche Naturwissenschaft (1913), S. 16. NuO 9 (1863), S. 381, in einer Rezension zu Brehms Thierleben. Vgl. Meyer: Volksbildung (1869), S. 5,48. Diner: Volkstümliche Wissenschaft (1890), S. 720.
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I. Popularität, Popularisierung, Populärwissenschaft
Punkt: „Das ganz außerordentlich vorwiegende Gebiet des Popularisierens ist das der Naturwissenschaft." 36 Die Naturwissenschaften wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unübersehbar in der Begrifflichkeit der Popularität präsentiert; sie konnten im Sprachgebrauch populär werden, da sich eine „populäre Naturwissenschaft" 37 jenseits einer streng akademischen Wissenschaft abzeichnete und es wünschenswert erschien, wissenschaftliche Themen selbst in einer gemeinverständlichen Form darzustellen. „Wissenschaftlich dem Gehalt, populär der Form nach" - so lautete 1873 der typische Kommentar zu einem naturkundlichen Werk, das in gelungener Weise Allgemeinverständlichkeit mit wissenschaftlicher Gründlichkeit verbunden habe.38 Eine Generation später vermerkte ein Rezensent, der Autor des von ihm besprochenen Buches habe zu Recht das „Mass von Popularität" vom Thema abhängig gemacht, da sich nicht jede Materie gleich volkstümlich behandeln lasse.39 Die begriffsgeschichtliche Entwicklung gipfelte im affirmativen Bemühen, die Naturwissenschaft „von Haus aus" für „populär" zu erklären. 40 Jenseits des oratorischen Sinns gewann Popularität auf diese Weise eine Eigenbedeutung als Kennzeichnung eines besonderen Stils und eines eigenen thematischen Genres. Seit 1870 mehrten sich Vorstöße, die Popularisierung der Wissenschaft neben die „strenge, wir möchten sagen, die wissenschaftliche Wissenschaft" 41 zu stellen. Parallel zum Begriff populärwissenschaftlich etablierte sich nun der Terminus „Fachwissenschaft"42. Bereits um 1880 differenzierte Ernst Haeckel in einer Auflistung seines Schrifttums wissenschaftliche Publikationen und populärwissenschaftliche Schriften.43 Populärwissenschaft und Fachwissenschaft, bzw. „Fachforschung"44 wurden zu auseinanderstrebenden Begriffen 45 Einen ähnlichen Trennungsprozeß erlebten die Ausdrücke Wissenschaftlichkeit und Unwis36 37 38 39 40 41 42
43
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Potonie: Plauderei (1913), S. 38. Die Gartenlaube 15 (1867), S. 688; Die Natur 26 = N.F. 3 (1877), S. 527£; Die Natur 28 = N.F. 5 (1879), S. 22. Gaea 9 (1873), S. 64. HuE 9 (1897), S. 46f. AdH 5 (1863), Sp.24; Der Naturfreund 1 (1890), S. 2. Ratzel: Ein Beitrag (1868), S. 383. Volger: Das Freie Deutsche Hochstift (1859), S.3 und Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868), S. 3. Die illustrierte Monatsschrift Der Naturhistoriker (1879-1886) führte z.B. getrennte Rubriken „Populär-Wissenschaftliches" und „Fachwissenschaftliches" ein. Fragebogen, handschriftlich ausgefüllt von Haeckel ohne Datum, ca. 1880 (SB Berlin, Haus 1, Sammlung Darmstaedter, Lc 1875 (13), Ernst Haeckel, Bl. 183). Vgl. auch die unterschiedlichen Rubriken im Handwörterbuch der Zoologie (1887), S. V-XII. Bölsche: Wie und warum (1913), S. 308. Vgl. France: Fachwissenschaft (1906), Schalden: „Wissenschaftlich" (1907/8), S. 472.
Begriffsgeschichtliche Annäherungen
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senschaftlichkeit; sie bildeten in Deutschland stärker als in anderen Ländern einen kaum vereinbaren Dualismus. Vor diesem Hintergrund hielt ein Kommentator 1907/8 mit nur leichter Ironie fest: „Kritischere unterscheiden zwischen populärwissenschaftlich' und wissenschaftlich'. Zum ersteren gehört das, was man verstehen kann, was sich nett liest, den ,Erdgeruch' der Gelehrsamkeit mitbringt, nach ,Spänen' aus der ,Geisteswerkstatt' aussieht. Wissenschaftlich' ist das, was in langweiligen Zeitschriften steht und was man nicht kapiert."46 Schon in der Mitte der 1850er Jahre wurde die Personengruppe, die sich im besonderen Maße um Popularität bemühte und nicht vorrangig fachwissenschaftlich arbeitete, begrifflich eingegrenzt.47 Daraus entwickelten sich in sprachlicher Verknappung die Bezeichnungen Popularisierer48, häufiger noch: Popularisator; weniger gebräuchlich war der Begriff Populärwissenschaftler49. Im letzten Jahrhundertdrittel wurde der sogenannte Fachwissenschaftler konsequent dem „Popularisator der Wissenschaft"50 und den „Mode-Fach-Popularisatoren"51 gegenübergestellt. Die Terminologie des Populären blieb im Verlauf des 19. Jahrhunderts stets zwischen gegensätzlichen Wertungen eingespannt - und diese dichotomisch angelegten Werturteile haben sich tatsächlich bis heute kaum verändert. Schon Zedlers Universal-Lexikon beurteilte 1741 Popularität als entweder lobenswürdig oder strafbar.52 Wenn 1804 ein anderer Beobachter Popularität zwischen zwei Grundfehlern changieren sah, der gelehrten „Trockenheit" und einer ,,gemeine[n] Seichtigkeit",53 dann hatte er Topoi benannt, die von der späteren Kritik immer wieder aufgenommen wurden. Ein Wörterbuch von 1876 zitierte gar Fichte mit dem Ausspruch, das „elende Popularisiren" sei an die Tagesordnung gekommen.54 Aus antiliberaler Sicht fiel es nicht schwer, Popularität ebenso wie die Begriffe Publizität und öffentliche Meinung als Ausweis einseitiger Parteilichkeit zu diskreditieren.55 46 47 48 49 50
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Schalden: „Wissenschaftlich" (1907/8), S. 472. Vgl. Kapitel VII.l. Roßmäßler: Mein Leben (1874), S. 155,284. Bölsche: Wie und warum (1913), S. 309. Zacharias: Die Popularisirung (1878), S.380; siehe auch Hower: Bedeutung (1908), S. 6; France: Dr. M. Wilhelm Meyer (1911), S. 97; Bölsche: Wie und warum (1913), S. 305; Volkstümliche Naturwissenschaft (1913), S.36; Feißkohl: Ernst Keils publizistische Wirksamkeit (1914), S. 68. Potonie: Plauderei (1913), S. 40. Vgl. NwW 28 = N.F. 12 (1913), S. 777; Neue Weltanschauung 7 (1914), S. 118. Grosses Universal-Lexikon (1741), Sp. 1542. Greiling: Theorie (1805), S. 152,42, vgl. auch S. 39. Josef Kehrein: Fremdwörterbuch mit etymologischen Erklärungen und zahlreichen Belegen. O.0.1876, ND Wiesbaden 1969, S. 550. Bezeichnend ist die heftige Polemik bei August Reichensperger: Phrasen und Schlagwörter. Ein Noth- und Hülfsbüchlein für Zeitungsleser. 3., bedeutend vermehrte Ausgabe, Paderborn 1872, S. 104-106,108-110,83-91.
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I. Popularität, Popularisierung, Populärwissenschaft
In endlosen Variationen tauchten die angedeuteten Gefahren der „Plebeität" und „Künsteley"56, die populären Darstellungen ausgesetzt seien, fortan in der Diskussion auf. Im Kern läßt sich die Kritik in Deutschland fast ausnahmslos auf eine rigide Gegenüberstellung von Popularität und Wissenschaftlichkeit zurückführen. Es sei die „falsche Popularität, welche die Wissenschaft zur Spielerei herabwürdigt"57, bemerkte 1859 ein Schriftsteller. Typische Negativattribute bildeten gemein, trivial58 und oberflächlich59. Oft wurde popularisieren mit trivialisieren und profanisieren gleichgesetzt oder verglichen,60 lange blieb es mit dem „tadelhaften Begriff des Seichten"61 verbunden. Allerdings lassen sich auch eine begriffliche Neutralisierung und damit eine positive Aufwertung erkennen. 1873 ordnete die erste kumulative Synonymik des Deutschen die Schlüsselbegriffe Popularität, popularisieren und populär ausnahmslos dem semantischen Bereich „Deutlichkeit; Verständigkeit" zu; diesem Wortfeld wurden die negativ besetzten Komplementärwörter Unklarheit, verundeutlichen und „nicht verständlich"62 gegenübergestellt. Eine gelungene Popularisierungsleistung wurde zum Ende des Jahrhunderts hin nicht mehr nur als Künstelei angesehen sondern als Kunst gewürdigt.63 Tatsächlich schwächte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Wörterbüchern und Lexika die begriffliche Disqualifizierung von Popularität ab. Wenn die Aufnahme in Nachschlagewerken ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Bewertung von Begriffen und der durch sie bezeichneten Sachverhalte darstellt, so ist es noch heute um Popularisierung und Populärwissenschaft in Deutschland schlecht bestellt. Beide Begriffe fehlen in den größten deutschen Enzyklopädien aktuellen Datums.64 Diese Vernachlässigung muß angesichts der Wortgeschichte verwundern, bestätigt sie doch jene Kriterien, die Reinhart Koselleck für die Begriffsgeschichte mit 56 57 68 59 60 61 62 63 64
Greiling: Theorie (1805), S. 152f. Steinmann (Hg.): Volks-Kosmos, II (o.J./ca. 1859), S. 426. Conversations-Lexikon (1816), S.793. Vgl. Anonym.: Popularität (1854), S.86; Die Gartenlaube 15 (1867), S. 688. Raumer: Rede (1841/ND 1979), S.213. Vgl. Jahrbuch der Literatur und Kunst 1858, S. 96; Quenstedt: Sonst und Jetzt (o.J.), S. 1; NwW 24 = N.F. 8 (1909), S. 463. Anonym.: Popularität (1854), S. 86. Daniel Sanders: Wörterbuch der Deutschen Sprache. Mit Belegen von Luther bis auf die Gegenwart. Bd. 2,1. Hälfte, Leipzig 1863, S. 573. Sanders: Deutscher Sprachschatz, I (1873), S. 478f. NwW 18 = N.F. 2 (1902/3), S.564 in der Rezension eines Werkes von Max Wilhelm Meyer. Brockhaus Enzyklopädie (1992), Bd. 17, S. 363 (gegenüber der vorherigen Ausgabe wurde hier sogar das Verb popularisieren' ausgelassen); Meyers Enzyklopädisches Lexikon (1977), Bd. 19, S. 106. Das Fehlen deutet ebenso auf die Unterschätzung wie auf die fortdauernde Abwertung der populärwissenschaftlichen Tradition in Deutschland hin.
Begriffsgeschichtliche Annäherungen
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Blick auf den Umwandlungsprozeß zur Moderne ausgemacht hat: Die verdichtete Wandlung und Anreicherung eines Ausdrucks seit dem späten 18. Jahrhundert, eine Demokratisierung durch die Ausdehnung des Anwendungsbereichs und die Loslösung von standesspezifischen Ausdrucksfeldern, schließlich die Ideologisierbarkeit, gerade weil ein Ausdruck mehrdeutig und vielseitig interpretierbar blieb.65 In diesem Sinne wurden aus den Worten Popularität, Popularisierung und Populärwissenschaft nicht nur Begriffe der Moderne, sondern die vorgestellten Begriffe eröffnen auch einen Zugang zu bildungsgeschichtlichen Diskursen des 19. Jahrhunderts, die ebenso Prozesse der Demokratisierung wie der Ideologisierung spiegeln.
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Reinhart Koselleck: Einleitung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikort zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII-XXVII.
II. Naturwissenschaften, Schulunterricht und öffentliche Meinung Schulunterricht und Schullektüre werden gemeinhin nicht als populärwissenschaftlich bezeichnet, vielmehr gilt diese Zuschreibung außer- und nachschulischen Bildungsangeboten. Wenn auch im 19. Jahrhundert diese Differenzierung vorgenommen wurde, so ist doch für die Popularisierungsgeschichte der Stellenwert der Naturwissenschaften im Schulunterricht von herausragender Bedeutung. Ob naturwissenschaftliche Bildung in der Schule überhaupt, in welchem Umfang, mit welchen Inhalten und in welcher Gewichtung gegenüber den humanistischen Fächern vermittelt werden sollte - diese Fragen spitzten sich auf besondere Weise zu und wurden in der deutschen Öffentlichkeit bis in parlamentarische Auseinandersetzungen hinein heftig diskutiert. 1 Die Debatte um Humanismus versus Realismus, die sich an der Institutionalisierung der Realschulen und an der Berücksichtigung der Naturwissenschaften als Unterrichtsfächer entzündete, ging stets über die Schulproblematik im engeren Sinne hinaus. Den naturkundlichen Popularisierern bot der Streit um das Gewicht der Naturwissenschaften im Schulunterricht einen nachhaltigen Anlaß für ihr Engagement, er gab ihnen Leitmotive und Legitimationsmuster vor.
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Soweit nicht anders angemerkt vgl. unter den älteren Werken Norrenberg: Geschichte (1904), Pähl: Geschichte (1913), S. 268-327 und Paulsen: Geschichte (1920/1965); mit exemplarischer Vertiefung für das Mindener Gymnasium Kraul: Das deutsche Gymnasium (1984), insbes. S. 79ff; für die Volksschulen Schöler: Geschichte (1970); für das höhere Schulwesen Scheele: Von Lüben (1981), Gert Schubring: Mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, III (1987), S. 204-221 und Bonnekoh: Naturwissenschaft (1992).
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II. Schule und öffentliche Meinung
1. Naturwissenschaften als Unterrichtsfach am Beispiel Preußens „Als Wissenschaften in ihrer heutigen Gestalt zwar Kinder der neuen Zeit, ihrer hohen Ausbildung jedoch sich wohl bewußt, fordern die Naturwissenschaften Einlaß in die Bildungsstätten der Jugend, aber die Inhaber der letzteren tragen gerechtes Bedenken, dieser Forderung so ohne weiteres nachzukommen, sie wissen nicht, in wie weit die wohl durchdachte und längst bewährte Ordnung derselben durch die Eindringlinge gestört und ihre berechtigte Existenz dadurch gefährdet werden könne; [...]" Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens [...] Hg. v. K. A. Schmid. Gotha, Bd. 5,1864, S. 98.
Die Naturwissenschaften als Gesamtheit wurden in der Schule nie unterrichtet. Abgesehen von der Mathematik, die als selbständiges Fach galt, gab es in Nachfolge der Linneschen Systematisierung bis weit in das 19. Jahrhundert die Naturgeschichte. Sie umfaßte die Naturkörper, d.h. botanische, zoologische und mineralogische Themen, und wurde in Preußen seit 1882 als Naturbeschreibung bezeichnet; die Mineralogie war oftmals der Chemie zugeordnet. Physik und Chemie, mit den Naturerscheinungen beschäftigt, galten als Naturlehre in den Volksschulen und wurden an den höheren Schulen als eigene Fächer unterrichtet. Von Biologie-Unterricht wurde zwar seit ca. 1890 gesprochen, in die Lehrpläne ging der Ausdruck aber erst während der Weimarer Republik ein.2 In der zeitgenössischen Diskussion über die Schule wurde nicht immer solchermaßen differenziert. Man sprach oft allgemein von den Naturwissenschaften, bezog sich aber im engeren Sinne auf die Naturgeschichte; sie wird auch im folgenden besonders berücksichtigt. Während des 19. Jahrhunderts blieben die Naturwissenschaften im gesamten Schulwesen in der Defensive. Wer als Schüler, zumal an einem Gymnasium, naturwissenschaftliche Belehrung suchte, mußte rasch bemerken, daß zwischen diesem Wunsch und dem Unterrichtsangebot eine große Lücke klaffte. Im Denken der meisten Schulbürokraten3, in der Rangordnung der Unterrichtsinhalte und in der Stundenverteilung wurden die Naturwissenschaften deutlich benachteiligt. Ihr Stellenwert in den 2
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Schöler: Geschichte (1970), S. 240; Scheele: Von Lüben (1981), S. 1-3,102,107,143; Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, III (1987), S.212; Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, IV (1991), S. 263-265. Der Begriff Biologie findet sich deutlich früher schon in den Schriften Haeckels. Neben der dominierenden neuhumanistischen Lobby gab es auch Förderer der Naturkunde wie den preußischen Kultusminister Altenstein, vgl. Schubring: The Rise (1989).
1. Naturwissenschaften als Unterrichtsfach
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unterschiedlichen Schultypen läßt sich am Beispiel Preußens als des größten deutschen Einzelstaats überblicken. 4 Die Volksschulen waren im Entwurf eines allgemeinen Gesetzes über die Verfassung des Schulwesens von Johann W. Süvern aus dem Jahre 1819 als Teil des einheitlichen Schulsystems konzipiert. Die Naturlehre fand darin neben den anderen Realien (Erdbeschreibung, Geschichte) einen festen Platz. Sie unterlag in den Folgejahren allerdings den regionalen Ausgestaltungsmöglichkeiten, was Einschränkungen im Unterricht bewirken konnte, meist aber dazu führte, daß die Naturlehre fest im schulischen Lehrangebot verankert wurde.5 Im Zeichen der politischen Reaktion nach 1849 wurden die naturkundlichen Unterrichtsfächer massiv diskriminiert. Den Tiefpunkt stellten die sogenannten Stiehlschen Regulative vom Oktober 1854 dar. Sie versuchten, die Volksschulen von der Idee allgemeiner Menschenbildung zu lösen und stärker auf die Instanzen Kirche, Familie und Staat hin zu orientieren. Die Religionslehre und die Bindung an das kanonisierte Lesebuch wurden aufgewertet, Realienkunde war als eigenständiges Fach nicht mehr vorgesehen. 6 Erst der neue Kultusminister Adalbert Falk hob die Regulative 1872 auf und integrierte mit seinen Allgemeinen Bestimmungen vom 15. Oktober 1872 die Naturwissenschaften erneut und nunmehr endgültig in den Lehrplan der Volksschulen (sechs bzw. acht Wochenstunden Realienkunde). 7 In den preußischen Gymnasien waren die Naturwissenschaften zunächst durch Süvern 1812/16 mit je zwei Stunden in allen Klassen eingeführt und als Prüfungsfach anerkannt worden. Die Praxis blieb oft hinter dieser Norm zurück. Allein Latein besaß einen mehr als dreifach, Griechisch einen mehr als doppelt so großen Stundenanteil. 8 Auch das revidierte Abi4
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Auch die Sekundärliteratur konzentriert sich auf Preußen, betont aber zunehmend die regionale Vielfalt und die Ausgestaltungsmöglichkeiten der einzelnen Schulen, vgl. Scheele: Von Lüben (1981), Kuhlemann: Modernisierung (1992) sowie jetzt in extenso zu Bayern Freyer: Vom mittelalterlichen Medizin- zum modernen Biologieunterricht (1995). Schöler: Geschichte (1970), S. 138ff„ 174-193; Gerd Friederich: Das niedere Schulwesen, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, III (1987), S. 123-152, hier S. 132-135; Bonnekoh: Naturwissenschaft (1992), S. 17-23. Vgl. A. H. Tauberth: Einführung des naturhistorischen Unterrichts in die Volksschule, in: Allgemeine deutsche Naturhistorische Zeitung 2 (1847), S. 261-266.. Schöler: Geschichte (1970), S. 221-229; Karl-Ernst Jeismann: Die „Stiehlschen Regulative". Ein Beitrag zum Verhältnis von Politik und Pädagogik während der Reaktionszeit in Preußen [1966], in: Ulrich Herrmann (Hg.): Schule und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Sozialgeschichte der Schule im Übergang zur Industriegesellschaft. Weinheim, Basel 1977, S. 137-161. Daß die Umsetzung der Regulative ambivalent blieb, betont Kuhlenjann: Modernisierung (1992), S. 90f. Schöler: Geschichte (1970), S. 229-239. Die wichtigsten Bestimmungen sind das Edikt wegen Prüfung der zu den Universitäten abgehenden Schüler vom 25. Juli 1812 und Süverns unveröffentlichter Lehrplan von 1816.
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II. Schule und öffentliche Meinung
turreglement von 1834 und der verbindliche Normallehrplan von 1837, beide unter Johannes Schulze konzipiert, änderten daran nichts Wesentliches. Es gab eher geringfügige Verschiebungen zwischen Naturbeschreibung und Physik, der altsprachliche Stundenanteil wurde nochmals verstärkt. 9 Einen schweren Rückschlag erlebte der naturwissenschaftliche Unterricht durch das von Ludwig Wiese, dem Referenten im preußischen Kultusministerium, entworfene Zirkularreskript vom 7. Januar 1856. Die neuen Bestimmungen eliminierten die gesamte naturwissenschaftliche Fächergruppe aus der Abiturprüfung und behielten nur Physik mit einer respektive zwei Stunden in Prima und Sekunda bei. Die beschreibenden Naturwissenschaften bekamen zwei Stunden in der Tertia zugewiesen, die noch reduziert bzw. alternativ für Geschichte und Französisch genutzt werden konnten. In den beiden unteren Klassen sollte der naturgeschichtliche Unterricht ohnehin nur erteilt werden, wenn „eine völlig geeignete Lehrkraft" 10 vorhanden sei. Dies war eine singulare Bestimmung, die angesichts des noch mangelhaften naturwissenschaftlichen Lehrernachwuchses faktisch zur weiteren Reduzierung des Naturkundeunterrichts führte. Die Naturgeschichte wurde damit an den Rand des gymnasialen Fächerkanons gedrängt, bei ungünstigen lokalen Bedingungen sogar davon ausgeschlossen. Zwischen 1856 und 1882 war es in Preußen möglich, daß Gymnasiasten wenig, kaum oder gar nicht naturgeschichtlich unterrichtet wurden. Und dies in einem Zeitraum, in dem die Zahl der Schüler deutlich anstieg und sich allein an den Gymnasien mehr als verdoppelte. 11 Die äußerst ungünstige Situation änderte sich erst durch die Reform der Lehrpläne vom 31. März 1882. Sie sah einen zusammenhängenden naturgeschichtlichen Unterricht bis zur Obertertia vor, der dann von Physik abgelöst wurde.12 Die Änderungen von 1882 waren nur vordergründig ein Erfolg, im Ergebnis stellten sie sogar eine erhebliche Beeinträchtigung dar. Die Regelung wurde verbunden mit dem Ausschluß der Naturgeschichte und damit
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Reglement für die Prüfung der zur Universität abgehenden Schüler vom 12. Juni 1834 und Zirkularrescript vom 24. Oktober 1837. Überzogen argumentiert Norrenberg: Geschichte (1904), S. 43, wonach schon 1837 im Zusammenhang mit der Überbürdungsdiskussion dem naturwissenschaftlichen Unterricht „der Krieg erklärt" worden sei. Zitiert nach Scheele: Von Lüben (1981), S. 59. Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, III (1987), S. 176. Lokale Beispiele für die unterschiedliche Unterrichtspraxis gibt Scheele: Von Lüben (1981), S. 65-77, die auch erfreulichere Fälle nennt. Sie weist darauf hin (S. 101), daß einige Lehrer im Rahmen des Physikunterrichts einen naturgeschichtlichen Überblick in der Oberstufe gaben. Lehrpläne für die höheren Schulen nebst der darauf bezüglichen Circularverfügung vom 31. März 1882.
1. Naturwissenschaften als Unterrichtsfach
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weitgehend der forschungsgeschichtlich immer wichtiger werdenden entwicklungsgeschichtlichen, darwinistischen und biologischen Themen aus der Oberstufe aller höheren Schulen. Nach der Zirkularverfügung vom März 1882, die den Biologieunterricht ausschloß, wurden 1883 Änderungen in der Abgrenzung der Lehrpensa herausgegeben mit der Maßgabe: „Die Vermittlung der Bekanntschaft mit den neuen Hypothesen von Darwin u.s.w. gehört nicht zu den Aufgaben der Schule und ist darum vom Unterricht durchaus fernzuhalten." 13 Man hat dies nicht zu Unrecht als Biologieverbot bezeichnet.14 Die Curricula-Änderungen hingen mit der Zuspitzung der Darwinismusfrage zusammen. In den Vorjahren hatten zwei einschlägige Zwischenfälle die Öffentlichkeit erregt: die Kontroverse zwischen Rudolf Virchow und Ernst Haeckel auf der 50. VDNA in München 1877 und der Skandal um den Lippstädter Lehrer Hermann Müller 1877-79. Beide werden im folgenden Abschnitt II.3 gesondert erläutert. Parallel zu den Einschränkungen in Volksschulen und Gymnasien wurde der naturwissenschaftliche Unterricht seit den 1850er Jahren auf die Realschulen verlagert. 1832 war zunächst die Abschlußprüfung der Realschulen reglementiert, eine gewisse Latinisierung durchgesetzt und den Absolventen ermöglicht worden, den Einjährigen Militärdienst abzuleisten. 1859 wurde das Realschulwesen endgültig konsolidiert und zwei je neunjährige Typen (I. und II. Ordnung) geschaffen. Beide erhielten einen durchgehenden naturwissenschaftlichen Unterricht, von Sexta bis Tertia mit zwei, danach mit sechs Wochenstunden. Die Naturgeschichte schloß mit der Obersekunda ab, Chemie wurde als eigenes Prüfungsfach eingeführt. 15 Diese Regelung stellte für die Naturwissenschaften eine Kompensationslösung dar und enfaltete eine zwiespältige Wirkung. Sie machte die Naturwissenschaften jetzt ganz zur Sache der noch um ihre volle gesellschaftliche Anerkennung kämpfenden Realschulen und brachte sie damit in eine zusätzliche schulpolitische Frontstellung. Immerhin hatten die Realisten sukzessive Erfolg: 1870 erhielten die Abgänger der Realschulen I. Ordnung zunächst begrenzten Zugang zum Hochschulstudium, d.h. für die Studienfächer Mathematik, Naturwissenschaften und neuere Sprachen, wobei die erfolgreiche Lehramtsprüfung in den genannten Fächern nur zur Anstellung an den Realschulen qualifizierte. Der schulpolitische Dualismus wurde also festgeschrieben. 13 14
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Zitiert nach Kremer: Naturwissenschaftlicher Unterricht (1985), S. 82, Anm. 6. Scheele: Von Lüben (1981), S. 99-101; Marten: Sozialbiologismus (1983), S. 130-139, S. 302, Anm. 100; Kremer: Naturwissenschaftlicher Unterricht (1985), S. 81f. Vorsichtiger dagegen Kelly: The Descent (1981), S. 64f. Gegen die Deutung vom Biologieverbot argumentiert Depdolla: Müller-Lippstadt (1941). Vgl. auch Norrenberg: Geschichte (1904), S. 69f. Unterrichts- und Prüfungsordnungen für die Real- und höheren Bürgerschulen vom 6. Oktober 1859.
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II. Schule und öffentliche Meinung
1882 wurden unter Federführung von Hermann Bonitz erstmals die Lehrpläne aller höheren Schulen neu geordnet, das neunjährige Realschulwesen weiter ausgebaut und in der Nomenklatur aufgewertet. Die Realschulen I. Ordnung gingen über in das Realgymnasium, diejenigen II. Ordnung zusammen mit den Gewerbeschulen in die lateinlose Oberrealschule. Der Ausschluß der Naturgeschichte von der Oberstufe galt allerdings für alle neunjährigen Schulen. 1891, im gleichen Jahr, als erstmals an den humanistischen Gymnasien Bayerns die Naturkunde zum Pflichfach wurde, erfuhr die Naturbeschreibung an preußischen Gymnasien und Oberrealschulen nochmals Kürzungen. Allerdings wurde umgekehrt 1892 auch der Lateinunterricht an den Realgymnasien gekürzt.16 Im Zeichen der Bemühungen, den naturwissenschaftlichen Unterricht aufzuwerten, standen auch die beiden preußischen Schulkonferenzen von 1890 und 1900.17 Die erste Konferenz brachte für die Naturwissenschaften keinen nennenswerten Fortschritt und war von dem Eingreifen des Kaisers geprägt, der seine antisozialistische Politik voranzutreiben suchte. Die Forderung Wilhelms II. nach Abschaffung des Realgymnasiums fand zwar eine Mehrheit, wurde aber in den folgenden Jahren nicht umgesetzt. Erst im Zuge der ohnehin effizienteren Konferenz von 1900 wurden das Gymnasialmonopol entscheidend aufgebrochen und offiziell die Gleichwertigkeit der drei höheren Schultypen anerkannt. 18 Zunächst erhielten die Abgänger der Realgymnasien, 1907 auch die Absolventen der Oberrealschulen, den vollen Zugang zum Studium an den Hochschulen, die nunmehr altsprachliche Übungskurse einrichteten. Nur die Theologen hielten das Gymnasialmonopol aufrecht. Die preußischen Lehrpläne von 1901 unterstützten zwar nominell die Naturwissenschaften, brachten aber keine Verbesserung der Stundenzahl. Das Gewicht der alten Sprachen wurde sogar noch gestärkt. Die Naturbeschreibung blieb weiterhin von den Oberstufen ausgeschlossen, konnte allerdings dort über physiologische Kurse eingebracht werden. 19 Auf massiven öffentlichen Druck hin, darauf geht der nachfolgende Abschnitt 2 ein, empfahl 1907 das preußische Kultusministerium endlich die Einführung des biologischen Unterrichts in den Oberstufen und gab am 19. März 1908
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Scheele: Von Lüben (1981), S. 98-110; Norrenberg: Geschichte (1904), S. 71. Christoph Führ: Die preußischen Schulkonferenzen von 1890 und 1900. Ihre bildungspolitische Rolle und bildungsgeschichtliche Bewertung, in: Peter Baumgart (Hg.): Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs. Stuttgart 1980, S. 189-223. Vgl. Kremer: Naturwissenschaftlicher Unterricht (1985), S.44ff. vor dem Hintergrund der sog. Überfüllungskrise der Schulen. Allerhöchster Erlaß vom 26. November 1900. Scheele: Von Lüben (1981), S. 196-199; Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, IV (1991), S. 237,278.
1. Naturwissenschaften als Unterrichtsfach
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einen entsprechenden Erlaß heraus. Aber erst 1925 wurde die Biologie zum festen Bestandteil der Lehrpläne in den Oberstufen. 20 Während sich der naturwissenschaftliche Schulunterricht nur unter großen Schwierigkeiten im 19. Jahrhundert behaupten und weiterentwickeln konnte, entstand allmählich eine Gruppe naturwissenschaftlicher Fachlehrer, die Prozesse der „Verberuflichung" 21 erlebte. Bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte hinein fehlte es in Deutschland zunächst an naturkundlichen Lehrern; der entsprechende Unterricht wurde bis 1848 oft von Theologen übernommen. An den humanistischen Schulen unterrichteten später noch Philologen oder, in den unteren Klassen bzw. in der Volksschule, die Zeichenlehrer Naturkunde. 22 Grundlage professioneller Lehrtätigkeit war seit 1810 in Preußen die Allgemeine Lehramtsprüfung. Seit 1831 waren darin Mathematik und Naturwissenschaften separat als eines von drei Hauptgebieten für die Prüfung pro facúltate docendi anerkannt. Damit wurde formal eine naturwissenschaftliche Fachlehrerausbildung sanktioniert. Nachdem 1825 in Bonn mit kräftiger Unterstützung des Kultusministers Altenstein das erste naturwissenschaftliche Lehrerseminar gegründet worden war, folgten jetzt entsprechende Seminare in Königsberg 1834, Halle/S. 1839, Göttingen 1850 und Berlin 1860.23 1866 wurde die Prüfungsordnung mit vier Fachgruppen neu gefaßt und 1887 entscheidend modifiziert, um den Tendenzen zur Spezialisierung und Verberuflichung Rechnung zu tragen. Das Prinzip der umfassenden Allgemeinbildung der Lehrer wurde aufgegeben zugunsten der reinen Fachprüfungen, die ihrerseits der fachwissenschaftlichen Verengung an den Universitäten folgten. Unter vier naturwissenschaftlichen Schwerpunkten (Mathematik, Physik, Chemie mit Mineralogie sowie Botanik und Zoologie) konnten je zwei als Hauptfächer frei gewählt werden.24 Zu diesem Zeitpunkt hatte der inzwischen aus den ersten Jahrgängen des naturwissenschaftlichen Hochschulstudiums rekrutierte Nachwuchs den vorherigen Mangel nicht nur ausgeglichen, sondern es bestand bereits ein Überangebot an anstellungsfähigen mathematisch-naturwissenschaftlichen Lehramtskandidaten. 25 Sie konnten im ausdifferenzierten höheren Schul-
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Scheele: Von Lüben (1981), S. 206-211,256-259. Kuhlemann: Modernisierung (1992), S. 261 et passim, der überzeugend dargelegt, daß zur Beschreibung der (Volks-) Schullehrerentwicklung der Idealtypus Professionalisierung im strengen Sinne nicht angemessen ist. Scheele: Von Lüben (1981), S. 43-45; Kremer: Naturwissenschaftlicher Unterricht (1985), S. 66f. Schubring: The Rise (1989). Das Bonner Seminar schloß indes 1887, jenes in Königsberg 1851, während das Seminar in Halle ab 1890 ganz der mathematische Schulung gewidmet wurde. Brüggemann: Naturwissenschaft (1967), S. 39; Scheele: Von Lüben (1981), S. 145; Kremer: Naturwissenschaftlicher Unterricht (1985), S. 64f. Kremer: Naturwissenschaftlicher Unterricht (1985), S. 69.
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II. Schule und öffentliche Meinung
wesen mit den neuen Realschultypen Anstellungen finden. Aber auch diese naturwissenschaftlich ausgebildeten Akademiker waren von der sogenannten Überfüllungskrise 26 betroffen, und im Vergleich mit den Lehrern traditioneller Fächer wurden sie weiterhin benachteiligt, was Karrierechancen, Besoldung und soziales Prestige betraf.
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Hartmut Titze: Die zyklische Überproduktion von Akademikern im 19. und 20. Jahrhundert, in: GG 10 (1984), S. 92-121, hier S.97, 103, 108, 115; monographisch ausgeweitet in ders: Der Akademikerzyklus. Historische Untersuchungen Uber die Wiederkehr von Überfüllung und Mangel in akademischen Karrieren. Göttingen 1990.
2. Humanisten und Realisten
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2. Die Auseinandersetzungen zwischen Humanisten und Realisten „[...] die Naturwissenschaften haben sich so bedeutend über den populären Gesichtskreis erhoben, daß Jeder irre geführt wird, der nicht besonderen Unterricht darin erhält. Werden sie übergangen, so entsteht eine unermeßliche Lücke in der ganzen Bildung, die um so gefährlicher ist, als die Bildung der neueren Zeit hauptsächlich darauf beruht." Elias Fries: Die Naturwissenschaften als Bildungsmittel, in: Die Natur 6 (1857), S. 166-171, hier S. 167.
Welcher Stellenwert den Naturwissenschaften im Schulsystem zukommen konnte und wieviel Raum ihnen im Unterricht zugestanden werden sollte, diese Fragen wurden keineswegs nur von Lehrern und innerhalb des Schulwesens sondern weit über diesen Kreis hinaus diskutiert. Die Debatte wurde kontrovers und oft hitzig geführt, sie war ein gesellschaftliches Ereignis, und sie blieb es mit erstaunlicher Konstanz über ein Jahrhundert hinweg. Der Streit zwischen Realisten und Humanisten um den Stellenwert der Schultypen im Vergleich untereinander, insbesondere der Realschulen neben den humanistischen Gymnasien, und um die Gewichtung des naturwissenschaftlichen Unterrichts innerhalb der jeweiligen Schulordnung wuchs dabei mit der allgemeinen Debatte um das Verständnis von Bildung in Deutschland zusammen. Vier Ebenen der öffentlichen Auseinandersetzung mit jeweils eigenen argumentativen Schwerpunkten lassen sich unterscheiden: 1 - die alles überwölbende Diskussion um den sogenannten Bildungswert der Naturwissenschaften als Teil des Versuchs, den neuhumanistischen Bildungsbegriff um die Realien zu erweitern; - die interessenpolitischen Bemühungen von Naturwissenschaftlern und, damit verknüpft, von Realschullehrern; - die Anstrengungen zur Reform des naturkundlichen Unterrichts und seiner didaktischen Grundlagen; - und schließlich die Kontroversen im politischen Raum, bei denen die thematischen Grenzen der Schulfrage weit überschritten wurden.
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Diese idealtypische Differenzierung soll die weit ausgreifende öffentliche Diskussion der Schulfrage und das mit ihr einhergehende Schriftgut strukturieren und auf zentrale Argumentationslinien hin zuspitzen. Daß sich in der Realität die behandelten Ebenen vielfach überlagerten, versteht sich von selbst.
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II. Schule und öffentliche Meinung
Der Bildungswert der Naturwissenschaften: Die Anpassung an das humanistische Prinzip Die Schulfrage bot nicht nur hinreichend Anlaß, die Naturwissenschaften in die allgemeine Bildungsdiskussion einzubeziehen, sie war geradezu das Medium par excellence, um diese Diskussion zu führen. Das lag zunächst in der dominanten Stellung des Gymnasiums als Instrument und als repräsentative Einlösung des neuhumanistischen Bildungsverständnisses begründet. 2 Das Gymnasium war das Forum für die alten Sprachen, für die formale Bildung, für die philologischen, historischen und kulturellen Themen: Kunst, Sprache, Religion und Staat. Es entsprach damit dem Verständnis von universaler Bildung als „Selbstkultivierung"3, die auf sprachlicher Kompetenz und Reflexionsvermögen über ideelle Zusammenhänge basierte und die ein Humanitätsideal, das in der griechischen Antike vorgegeben zu sein schien, als Leitmotiv setzte. Wenn dieses Bildungsverständnis sowohl synthetisierende Integrationskraft als auch Distinktionskraft 4 besaß, wenn es also sozial, politisch und ideologisch für die deutsche Gesellschaft als Angebot zu weltanschaulicher Konvergenz und kultureller Gemeinschaftsbildung diente, aber auch Anlaß zu Divergenzen war und Konflikte hervorrief, dann gilt dies nicht zuletzt für das Verhältnis von Neuhumanismus und Naturwissenschaften. Eine quasi natürliche Separierung beider Sphären mußte es nicht mit unausweichlicher Notwendigkeit geben. Die Pädagogen der Aufklärung, voran Johann Bernhard Basedow und Johann Heinrich Pestalozzi, hatten durchaus die Schulung in den Realien gefordert. Das aufstrebende Bürgertum, auch die Konservativen, zeigten im Vormärz mit heteronomen Motiven starke Sympathien für eine realistisch-praxisbezogene Bildung und Ausbildung, z.B. in den technischen Fächern. Allerdings besetzten die Anhänger des Neuhumanismus die entscheidenden Positionen in der Kultusbürokratie. Die staatsorientierte, konservative Verhärtung und die Aufwertung der Altertumskunde taten ein übriges, um keine gleichmäßige Berücksichtigung der Realienfächer zu ermöglichen.
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Als Überblicke zum Begriff der Bildung, zum Neuhumanismus und zur Rolle der Gymnasien in der deutschen Bildungsgeschichte siehe Vierhaus: Bildung (1972), Jeismann: Zur Bedeutung (1987), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte III (1987) und IV (1991), Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866 (1985), S. 454—462, 482-484; ders.: Deutsche Geschichte 1866-1918, I (1990), 547-561; Koselleck: Einleitung (1990), Engelhardt: Der Bildungsbegriff (1990). Enger auf die Schulproblematik konzentriert sind Brüggemann: Naturwissenschaft (1967), Blankertz: Bildung (1969), Eckert: Die schulpolitische Instrumentalisierung (1984) und Kremer: Naturwissenschaftlicher Unterricht (1985). Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866 (1985), S. 58. So die Begriffe bei Assmann: Arbeit (1993), S. 66, siehe auch S. 27f.
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Damit war der Ausgangspunkt gesetzt, um den Verlauf der öffentlichen Debatte um Naturwissenschaften und Schule in einer Weise zu strukturieren, die das distinktive Moment hervortreten ließ. Die konflikthafte Tendenz äußerte sich zunächst in begrifflichen Polarisierungen: Die sogenannten Realisten wurden den Humanisten gegenübergestellt und übernahmen mit der Zeit selbst diese Nomenklatur. Die Realschulen wurden zum ungleichen, wenn nicht sogar feindlichen Pendant der Gymnasien. Anhängerschaften formierten sich, ohne daß sie sozial und politisch homogen waren. So standen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hinter der Idee des neuhumanistischen Gymnasiums außer den Gymnasiallehrern und großen Teilen der Schulverwaltung und Hochschullehrerschaft auch viele Juristen, Mediziner und selbst Baubeamte, die zusätzliche Konkurrenz aus dem Lager der naturwissenschaftlich gebildeten Realschulabgänger fürchteten. 5 Umgekehrt plädierten die Vertreter der Städte, die ökonomische und bürgerliche Interessen wahren wollten, Techniker und Ingenieure, d.h. der expandierende industrielle Sektor, Teile des Militärs und der wirtschaftlichen Administrationen, selbstredend auch die Universitätsdozenten aus den naturwissenschaftlichen Fächern dafür, den naturwissenschaftlichen Unterricht aufzuwerten und die Realschulen zu stärken. In der zeitgenössischen Debatte spielten weniger die Argumente gegen das Berechtigungswesen und die soziale Exklusivität des Gymnasiums eine Rolle, vielmehr zeichnete sich bald schon eine umgekehrte Tendenz ab: die Aneignung der humanistischen Bildungsrhetorik durch die Realisten. Dieser Prozeß ist noch keineswegs ausreichend untersucht worden und wird bis heute unterschätzt. Die „Anpassung an das humanistische Prinzip" 6 gab aber die Grundmelodie vor, mit der die Naturwissenschaften als Bildungsangebot offensiv in der deutschen Öffentlichkeit vertreten wurden. Auf den ersten Blick überwogen die Gegensätze. Die Realisten kritisierten die Belanglosigkeiten und selbstläufigen Einseitigkeiten der philologisch-formalen Bildung. Sie warfen ihr Dogmatismus, Welt- und Realitätsferne vor und vermißten die Schulung des rationalen Erklärungsvermögens; die mangelnde Berücksichtigung der modernen Fremdsprachen, der Naturkunde und Technik bot dazu hinreichend Anlaß. Vice versa wurden den Anwälten von Naturwissenschaft und Realschulen die vermeintlichen Degenerationserscheinungen vorgehalten, die sich ergeben würden, wenn eine naturwissenschaftliche Weltsicht im Schulunterricht Verbreitung fände: einseitiges Nützlichkeits- und Geschäftsdenken, Materialismus, Techni-
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Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866 (1985), S. 551. Brüggemann: Naturwissenschaft (1967), S. 59, der bislang am deutlichsten herausgearbeitet hat, daß sich die Realisten die humanistische Ideologie aneigneten; vgl. auch Engelhardt: Der Bildungsbegriff (1990), S. 112f.
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II. Schule und öffentliche Meinung
sierung und Kommerzialisierung der Gesellschaft. Daß die Realschulen ,Nützlichkeitskramschulen' seien, war nicht als ironische Brechung gemeint, sondern stellte ein beißendes Urteil dar. Hinzu kamen Vorwürfe, eine Stärkung der Naturwissenschaften in den Schulen wäre dazu angetan, materialistische Überzeugungen zu verbreiten und einer religiösen Indifferenz Vorschub zu leisten. Mit den Realschulen als „geistigen Vampyren unserer Nation" 7 schien manchen die kulturelle Dekadenz der deutschen Gesellschaft vorprogrammiert. Unter solchen Vorzeichen waren die naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer und später die Realschulen bis in das späte Kaiserreich heftigen Angriffen ausgesetzt. Stets drohte ihnen das humanistische Anathem, als zweckhaft, praktisch und nützlich bezeichnet zu werden. Alle diese Attribute waren in der Bildungsdiskussion negativ besetzt, und dies nicht nur auf humanistischer Seite. Noch unheilvoller wurden diese Vorhaltungen während der Revolution 1848/49 aufgeladen, als die Lehrerschaft eine merkliche Politisierung erlebte. Naturkunde geriet zum „politisch verdächtigste[n] Stück des modernen Unterrichts" 8 . Absolventen von Realschulen galten als potentielle Anhänger der „Umsturz- und Fortschrittspartei" 9 . Als in den 1880er Jahren mit der Überfüllungskrise die Diskrepanz zwischen der wachsenden Zahl qualifizierter Schulabgänger und den vorhandenen akademischen Positionen als Gefahr für die gesellschaftliche Stabilität wahrgenommen wurde, waren es in erster Linie die Realschulzweige, denen das Mißverhältnis zur Last gelegt und die Förderung entzogen wurde. Gegen ein solches, breitgestreutes Gegenfeuer, das von den alten humanistischen Vorbehalten gegenüber dem pädagogisch-gemeinnützigen Impetus der Aufklärung verstärkt wurde, war auf Seiten der Realisten schwer anzukommen. Selbst das Argument, die realistische Öffnung zur Welt liege im nationalen Interesse, blieb umstritten. Martialische Debattentöne auf allen Seiten trugen dazu bei, die Frage der Naturwissenschaften an den Schulen zum Schulkampf zu stilisieren, und sie riefen eine eigene Streitschriftenliteratur hervor. Zwar gab es auch moderatere Töne, so bei Johann Heinrich Deinhardt und Karl Mager in den Jahren vor der Revolution.10 Aber erst aus den übergeordneten Frontstellungen lassen sich die 7
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Friedrich Joachim Günther: Über den deutschen Unterricht auf Gymnasien. Essen 1841, zitiert nach Eckert: Die schulpolitische Instrumentalisierung (1984), S. 65. Zu solchen und anderen Vorwürfen auch die Encyclopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens (1864), S.933ff.; Norrenberg: Geschichte (1904), S. 43,51; Schöler: Geschichte (1970), S. 12f.; Kraul: Das deutsche Gymnasium (1984), S. 74ff. Paulsen: Geschichte (1920/1965), S. 129. Eine Äußerung aus dem Ministerium Eichhorn 1849, zitiert nach Kraul: Das deutsche Gymnasium (1984), S. 75. Hierzu ausführlich Eckert: Die schulpolitische Instrumentalisierung (1984).
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rhetorischen Positionen erschließen, die von vielen Naturwissenschaftlern in der Öffentlichkeit eingenommen wurden. Die Realisten changierten zwischen Abwehr- und Rechtfertigungsstrategien und befanden sich dabei in einem erheblichen argumentativen Dilemma. Einerseits mußten sich die Naturwissenschaftler, unter denen die meisten selbst das Gymnasium absolviert hatten, von der neuhumanistischen Bildungsvorstellung distanzieren, wollten sie die Dominanz des Gymnasiums nicht für sakrosankt erklären; diese Absetzungsbewegung bezog sich im wesentlichen auf die Unterrichtsinhalte. Anderereits waren sie gezwungen, die humanistische Argumentation umgekehrt für sich in Anspruch zu nehmen; dies wiederum konnte Methode, Leitbilder und Legitimationsmuster von Schulbildung betreffen. Nur in humanistischer Terminologie ließ sich die Bildungsdiskussion führen, nur mit ihr konnte man als gleichwertiger Kombattant auftreten. Das bedeutete auf Seiten der Naturwissenschaftler, die Auseinandersetzung gleichfalls primär als Bildungsdiskussion zu führen und nicht eine Antirhetorik gegen das humanistische Ideal zu entfachen. Es war weniger das Profil einer anderen, zweiten Kultur, das die Realisten selbstbewußt vertraten, als das Angebot zu der einen, gemeinsamen kulturellen Grundlegung von Gesellschaft, das ihre Stellungnahmen zur Schulfrage kennzeichnete. Die Realisten boten die Offerte, das humanistische Bildungsideal zu komplementieren und zu komplettieren, ja ein eigentlich umfassendes humanistisches Verständnis vom Menschen vorzustellen. Es ging darum, den eigenen „hohen Grad von Bildungskraft" 11 und die eigene kulturelle Wertigkeit innerhalb der bestehenden Bildungsgesellschaft zu untermauern. Insofern spiegelte die Schuldebatte nicht nur Ausgrenzungen und Distinktionen der deutschen Bildungsgeschichte, sondern auch den Versuch, zur Neubestimmung eines integralen Bildungsverständnisses zu gelangen. Sie kann daher nicht oder zumindest nicht hinreichend als Bestätigung bzw. als Katalysator der Entwicklung von ,zwei Kulturen' in der deutschen Gesellschaft gedeutet werden. 12 Die Naturwissenschaftler vollzogen im Schulstreit einen Prozeß der Anpassung an das humanistische Prinzip13. Sie wurden nicht müde, ihrerseits den formalen und ideellen Wert ihrer Fächer zu betonen. In dem Maße, wie der neuhumanistische Bildungsbegriff die Naturwissenschaften absonderte, bemühten sich deren Vertreter, ihn nun ihrerseits einzuholen. Die Argumentationsmuster veränderten sich bis 1914 kaum: Die Naturwissen-
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Goldenberg: Die Naturwissenschaft (1851), S. 4. Wie es selbst Thomas Nipperdey unternommen hat, siehe ders.: Deutsche Geschichte 1800-1866 (1985), S.457; ders.: Deutsche Geschichte 1866-1918, I (1990), S. 550. Diese Formulierung nach Brüggemann: Naturwissenschaft (1967), S. 58.
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II. Schule und öffentliche Meinung
schaffen dienten danach der formalen, methodisch-logischen Schulung und der Selbsterkenntnis des Menschen. Sie verfeinerten die Sinne durch das Erkennen der Natur, das ästhetisches Erleben und die Ehrfurcht vor der Schöpfung. Sie förderten das körperliche Wohlergehen und bildeten im Zugriff auf Ratio, Sinnlichkeit und emotionales Erleben den Menschen ganzheitlich aus. Sie stärkten damit seine sittliche und ethische Kraft. Humanistischer konnte man kaum reden. Schon 1839 hatte der Botaniker Alexander Braun seine Schüler davor gewarnt, das naturkundliche Studium „nur eines äussern Zweckes halber [...], etwa blos der praktischen Anwendung" wegen zu unternehmen. Naturgeschichte sei als „Bildungsmittel im höheren, inneren Sinne, und dann erst abgeleiteter Weise als specielles Hilfs- und Zubildungsmittel zu irgend einem besondern äussern Berufe zu betrachten!" 14 Seit der Jahrhundertmitte trat diese Begründung auf Seiten der Realisten immer mehr hervor. Rudolf Virchow erklärte, der Gewinn, den die Naturwissenschaft dem Staate bringe, sei keineswegs nur materiell bestimmt, vielmehr stehe der „ideelle Gewinn" 15 im Vordergrund. Emil Adolf Roßmäßler, ehemals Mitglied im Schulausschuß der Frankfurter Nationalversammlung, betonte, der „echt menschliche Hauch" 16 werde der Gymnasialbildung erst durch die Naturgeschichte verliehen. Noch 1904, als sich auf naturwissenschaftlicher Seite eine Abwendung von der engeren humanistischen Argumentation abzeichnete und die Bedürfnisse der hochindustrialisierten Marktgesellschaft in den Vordergrund rückten, 17 hielten Wissenschaftler wie Richard Hertwig und Max Verworn am formalen Bildungswert des naturwissenschaftlichen Unterrichts als dessen zentraler Begründung fest.18 Daß die Naturwissenschaften nicht nur die Verstandeskräfte förderten, sondern ebenso eine „hohe Befriedigung des Gemüts" 19 böten, gehörte zur Grundlage der realistischen Rhetorik. Sie kam um so stärker zur Geltung, je mehr Realisten sich als Lehrer, freie Publizisten oder in anderer beruflicher Existenz außerhalb des universitären Kontexts bewegten und unskrupulös jene Kategorien bemühen konnten, die aus der spezialierten Forschung ausgeschlossen wurden: das Gemüt als ebenso zentraler wie nebulöser Kollektivbegriff, das Leben und Genießen. Daraus entwickelte sich in den populären realistischen Schriften nicht selten eine pathetischmetaphorische Stimmungstönung, die in unendlichen Variationen den Utilitarismusverdacht weit von sich wies. 1851 führte der Lehrer Goldenberg am Königlichen Gymnasium in Saarbrücken anläßlich einer Abschlußfeier 14 15 16 17 18 19
Braun: Ueber die Naturgeschichte (1839), S. 5,7. Virchow: [Ü]ber den Einfluss (1861), S. 71. Roßmäßler: Der naturgeschichtliche Unterricht (1860), S. 33. Bonnekoh: Naturwissenschaft (1992), S. 100f., HOf. Verworn (Hg.): Beiträge (1904). Goldenberg: Die Naturwissenschaft (1851), S. 16.
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in seiner Rede über die Naturwissenschaft als Wissenschaft des Lebens aus: „So sehen wir denn, wie der Baum der Erkenntniß der Natur seine Zweige weit über die materiellen Interessen des Lebens hinaustreibt; wie seine Wurzeln von einem andern Thau sich nähren; die Blüthen und Früchte, die er so reichlich dem Leben spendet, in einem andern Sonnenlicht reifen. Wäre dem nicht so, würde er nur des Nutzens wegen gewartet, so würde er bald absterben und blos welke Blätter dem Leben übrig bleiben. Ja, auch hier nur macht der Geist lebendig, nur in und durch reine geistige Pflege wird die Naturwissenschaft eine Wissenschaft des Lebens."20
Solche Begründungen lagen in weniger ausladender Form auch den bildungspolitischen Bestrebungen anläßlich von Curricula-Änderungen und Schulkonferenzen zugrunde. Hier entwickelten sich aber interessenpolitische Mechanismen von anderer Qualität und stärkerer Durchsetzungskraft. Interessenpolitische
Bestrebungen
Im letzten Drittel des Jahrhunderts bemühten sich Naturkundelehrer und Naturwissenschaftler, ihrer Position in der Schuldebatte mit standes- und interessenpolitischen Aktivitäten zusätzliches Gewicht zu verleihen. Naturwissenschaftlich-pädagogische Zeitschriften wurden gegründet und schulpolitische Interessenorganisationen geschaffen. Eine Übersicht zu den einschlägigen Zeitschriften gibt Tabelle 1. Bereits 1864 hatten sich Mathematiker und Naturwissenschaftler als Abteilung im Verein deutscher Philologen und Schulmänner zusammengeschlossen. 1865 fand auf der 40. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte (im folgenden: VDNA) die Forderung Roßmäßlers, eine Sektion für naturwissenschaftliche Volksbildung zu schaffen, noch wenig Gehör. 21 Unter dem Dach der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (im folgenden: GDNA) tagte 1868 erstmals eine Sektion für naturwissenschaftliche Pädagogik, ab 1878 dann für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht. Ein zeitgenössischer Beobachter hat sie zugespitzt als „Missionsanstalt der Naturforscherversammlung" und „Apostelamt" bezeichnet, das „tief in die Entwicklung der Naturwissenschaften eingreifen wird". 22 Faktisch fehlte der G D N A der dafür notwendige Elan. Die Sektion wurde nicht auf allen folgenden Versammlungen eingerichtet, zudem kam wiederholt Kritik an dem starren Termin der G D N A auf. Er 20 21
22
Ebenda, S. 18. Amtlicher Bericht über die Vierzigste VDNA zu Hannover im September 1865. S. 71-73; hierzu der Kommentar von Roßmäßler in: AdH 7 (1865), Sp. 661-664, 705. Karl Müller, in: Die Natur 18 (1869), S. 83. Vgl. Lampe: Die Entwicklung (1975), S. 707-709.
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II. Schule und öffentliche Meinung
lag außerhalb der Schulferien, so daß den Lehrern als Hauptbetroffenen die Teilnahme kaum möglich war.23 Der Naturwissenschaften nahm sich seit 1876 auch der Deutsche Realschulmännerverein an. 1887 folgte unter Berufung auf das Wirken Roßmäßlers der Deutsche Lehrerverein für Naturkunde, 1889 wurde der Allgemeine Deutsche Verein für Schulreform gegründet, der die naturwissenschaftliche Bildung im Schulwesen aufwerten wollte. 24 1891 konstituierte sich der Verein zur Förderung des Unterrichts in der Mathematik und den Naturwissenschaften und bildete damit eine gewisse Konkurrenz zur GDNA-Sektion. Dem Verein gehörten überwiegend Lehrer höherer Schulen, aber auch Universitätsdozenten und Schulbeamte an. Die Mitgliederzahl stieg bis 1907 auf über 1200.25 Die organisierten Reformbemühungen hatten erheblichen Anteil daran, daß seit den 1890er Jahren den naturkundlichen Lehrern zusätzliche Fortbildungsmöglichkeiten - Besuch zoologischer Stationen, Ferienkurse oder Teilnahme an Lehrmittelausstellungen - geboten wurden. Die Zoolgische Station Anton Dohms in Neapel stellte z.B. 1909 Oberlehrern aus Deutschland 22 Arbeitsplätze zur Verfügung.26 Solche Angebote sollten das schulische Lehrpersonal an die wissenschaftliche Entwicklung, zumal an deren biologische und experimentelle Tendenzen, rückbinden. Gleichzeitig gewannen die interessenpolitischen Bemühungen eine neue Qualität. Sie wurden zur konzertierten Aktion von Lehrern, Wissenschaftlern, Schulbeamten und Industrievertretern, die gemeinsam praktische Maßnahmenkataloge entwarfen und, vor allem über die GDNA, mit zielgerichteten Plädoyers an die Öffentlichkeit traten. Einen ersten Höhepunkt bildete die 73. VDNA in Hamburg 1901, als eine Gruppe ausgewiesener Wissenschaftler und Naturkundelehrer dem repräsentativen Forum der deutschen Naturforscher und Ärzte zehn Thesen über den biologischen Unterricht an höheren Schulen vorlegte. Zu den Verfassern gehörten die beiden Hamburger Pädagogen Friedrich Ahlborn und Karl 23
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Tageblatt der 42. V D N A in Dresden [...] 1869, S. 145; Tageblatt der 51. V D N A in Cassel 1878, S. 259; Tageblatt der 60. V D N A in Wiesbaden [...] 1887, S.367. Auf der 54., 56. und 58. V D N A wurde die Unterrichtssektion nicht eingerichtet, auf der 51. Versammlung fanden sich in der ersten Sitzung gerade vier Teilnehmer ein. Vgl. Preyer: Biologische Zeitfragen (1889), S. 159-178 zum Realschulmännerverein und S. 177f. zum Verein für Schulreform. Seit 1906 als Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts, vgl. Lorey: Der deutsche Verein (1938), S. 5-68; Kremer: Naturwissenschaftlicher Unterricht (1985), S. 71ff., Zahlenangabe hier S. 73. Über Aktivitäten und Mitgliederzahlen des Vereins informierte regelmäßig die Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Zum Verein für Schulreform und dem Einheitsschulverein siehe Kraul: Das deutsche Gymnasium (1984), S. 100. Scheele: Von Lüben (1981), S. 212-215; Kremer: Naturwissenschaftlicher Unterricht (1985), S. 97f.
2. Humanisten und Realisten
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Tabelle 1: Naturwissenschaftlich-pädagogische Fachzeitschriften seit 1870 1870ff.
Zeitschrift für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht. Ein Organ für Methodik, Bildungsgehalt und Organisation der exakten Unterrichtsfächer an Gymnasien, Realschulen, Lehrerseminaren und höheren Bürgerschulen. (Zugleich Organ der mathematisch-naturwissenschaftlich-didactischen Sektionen der Philologen-, Naturforscher- und allgemeinen deutschen LehrerVersammlung) Unter Mitwirkung v. Fachlehrern hg. v. J. C. V. Hoffmann [bis 1901],
1873-1896
Centrai-Organ für die Interessen des Realschulwesens. Seit 1897 fortgesetzt in: Pädagogisches Archiv. Centraiorgan für Erziehung und Unterricht in Gymnasien, Realschulen und höheren Bürgerschulen
1884-1886
Zeitschrift zur Förderung des physikalischen Unterrichts Hg. u. red. v. Physikal.-techn. Institut Lisser und Benecke.
1887ff.
Zeitschrift für den physikalischen und chemischen Unterricht Unter besond. Mitwirkung von E. Mach und B. Schwalbe hg. v. Fritz Poske.
1895ff.
Unterrichtsblätter für Mathematik und Naturwissenschaften. Seit 1896: Organ des Vereins zur Förderung des Unterrichts in der Mathematik und den Naturwissenschaften Hg. v. B. Schwalbe, Fr. Pietzker
1902ff.
Natur und Schule. Zeitschrift für den gesammten naturkundlichen Unterricht aller Schulen Hg. v. B. Landsberg, O. Schmeil, B. Schmid. Seit 1907 Neue Folge als: Monatshefte für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht aller Schulgattungen
1905ff.
Aus der Natur. Zeitschrift für alle Naturfreunde. Seit 1912/13 mit dem Untertitel: Zeitschrift für den naturwissenschaftlichen und erdkundlichen Unterricht
Quellen: Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1700-1910 und 1911-1965; Hauptkatalog Bayerische Staatsbibliothek
Kraepelin, die Zoologieprofessoren Carl C h u n u n d Richard Hertwig, der b e r ü h m t e A n a t o m Wilhelm Waldeyer, der Kieler Botaniker Johannes R e i n k e u n d Friedrich Heincke, Leiter der Biologischen Anstalt auf Helgoland. A h l b o r n n a h m die Beschneidung des Biologieunterrichts an d e n O b e r stufen aller h ö h e r e n Schulen in P r e u ß e n aus d e m Jahr 1882 z u m Ausgangspunkt, u m die H a m b u r g e r Thesen vorzustellen u n d nochmals d e n formalen Bildungswert des naturwissenschaftlichen Unterrichts zu b e t o n e n ; er bilde „in ethischer formaler u n d logischer Beziehung eine wichtige Ergänzung der abstracten Lehrfächer." A h l b o r n signalisierte Verständnis f ü r die Ablehnung, die d e m Darwinismus in Verbindung mit einem „radicalen
60
II. Schule und öffentliche Meinung
Materialismus" eine Generation zuvor entgegengeschlagen war. Ein friedliches Zusammenwirken zwischen Naturwissenschaft und Theologie sei aber grundsätzlich möglich; der naturwissenschaftliche Schulunterricht stehe der Religion keineswegs feindlich entgegen. Gerade in der sensiblen Frage des Darwinsmus sei der Unterricht deshalb zu stärken, um die Gefahr abzuwenden, daß die Jugend dem „bestimmenden Einfluss einer scrupellosen populären Litteratur"27 ausgesetzt werde. Die Thesen unterstrichen die Rolle der Biologie als Erfahrungswissenschaft und grenzten sie ausdrücklich gegen „metaphysische Spekulationen"28 ab. Beobachtungskunst, die Methode der Induktion und die logische Begriffsbildung würden durch den Biologieunterricht ebenso gefördert, wie dieser in ethischer Hinsicht die „Achtung vor den Gebilden der organischen Welt, das Empfinden der Schönheit und Vollkommenheit des Naturganzen" wecke und so zur „Quelle reinsten, von den praktischen Interessen des Lebens unberührten Lebensgenusses"29 werde. Das war eine erneute Demonstration der humanistisch-antiutilitaristischen Rhetorik. Es ging den Verfassern um den Nachweis, daß die Biologie einen notwendigen Bestandteil einer zeitgemäßen allgemeinen Bildung darstelle. Die Zielrichtung wurde scharf formuliert: Erteilung von Biologieunterricht in allen Klassen der höheren Lehranstalten mit etwa zwei Wochenstunden. Die Thesen wurden sowohl auf dem Hamburger Treffen als auch zwei Jahre später in Kassel, wo nochmals Kraepelin und der Chemiker Wilhelm Ostwald unterstützende Plädoyers hielten,30 von der Versammlung angenommen. Auf Initiative des Mathematikers Felix Klein, der bereits in den Jahren zuvor seine ganze Reputation in die Förderung der Mathematik an den Schulen eingebracht hatte, bündelte die GDNA 1904 in Breslau die Reformkräfte in einer Unterrichtskommission, die sich die Aufwertung von Biologie und Mathematik in den Schulen zur Aufgabe setzte.31 Die Kommission fand Unterstützung beim Verein Deutscher Ingenieure und bewährte sich in den nächsten Jahren als pressure-group. Hier liefen nun die schulpolitischen Aktivitäten der GDNA, des Vereins zur Förderung des Unterrichts sowie des Verbandes Deutscher Ingenieure und des Verbandes Deutscher Chemiker zusammen. Die Meraner Beschlüsse der 27 28
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Ahlborn: Die gegenwärtige Lage (1901/1902), S. 276,275. Abdruck in: Verhandlungen der GDNA. 73. Versammlung zu Hamburg. 22.-28. September 1901. Hg. v. Albert Wangerin. Zweiter Theil, I. Hälfte, Leipzig 1902. S.278f.; Gutzmer: Reformvorschläge, I (1905), S.lf.; Scheele: Von Lüben (1981), S.200f. Alle Zitate ebenda. Verhandlungen der GDNA. 75. Versammlung zu Cassel. 20.-26. September 1903. Hg. v. Albert Wangerin. Erster Theil, Leipzig 1904, S. 145-160. Verhandlungen der GDNA. 76. Versammlung zu Breslau. 18.-24. September 1904. Hg. v. Albert Wangerin. Erster Theil, Leipzig 1905, S. 107-144 mit Beiträgen von K. Fricke und E Klein. Vgl. zu den Mitgliedern der Kommission Gutzmer: Reformvorschläge, I (1905), S. 2-4.
2. Humanisten und Realisten
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Kommission von 1904 stellten die „Naturwissenschaften als den Sprachen durchaus gleichwertige Bildungsmittel"32 vor und erhoben einen differenzierten Forderungskatalog für die Umsetzung im Unterricht. Der öffentliche Druck führte schließlich zum Erfolg. Die Schulbehörden fast sämtlicher Einzelstaaten übernahmen sukzessive die Empfehlungen. 1908 wurde endlich, wie bereits erwähnt, nach dreißig Jahren Verzug die Einführung des biologischen Unterrichts an den Oberstufen in Preußen auf den Weg gebracht. 1908 ging auch die Unterrichtskommission über in den Deutschen Ausschuß für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht, der ein umfassendes Reformprogramm in Angriff nahm. Neben Vertretern der GDNA gehörten ihm naturwissenschaftliche Fachgesellschaften, Industrielle und Friedrich Althoff als Vertreter des Preußischen Kultusministeriums an.33 Damit war ein vorläufiger Abschluß der interessenpolitischen Bemühungen vor dem Ersten Weltkrieg erreicht. Unterrichtsreform
und
Schuldidaktik
Integraler Bestandteil der schulpolitischen Bemühungen war schon seit längerem die Diskussion um eine Reform und Modernisierung der naturwissenschaftlichen Schuldidaktik und Pädagogik gewesen.34 Wichtige Ansätze dazu boten seit den 1830er Jahren Friedrich Adolph Diesterweg, August Lüben und Johannes Leunis. Ihre Überlegungen standen noch in der Tradition Linnes unter systematisch-klassifizierenden und morphologischen Vorzeichen. Sie gaben aber jene Zielsetzungen vor, die bis ins 20. Jahrhundert Gültigkeit behalten sollten: Anschaulichkeit des Unterrichts, die empirische Nähe zu den Naturobjekten, die durch die Anlage von geologischen Sammlungen, Herbarien und durch Naturspaziergänge gefördert werden sollte, sowie der Versuch, das Naturreich mehr induktiv als deduktiv zu erschließen. Später kamen das Experiment und die Forderung nach eigener Untersuchung an Stelle bloßer Beschreibung hinzu. Zwischen Revolution und Reichsgründung wurden solche Konzeptionen nur von wenigen der deutschen Öffentlichkeit vorgestellt. Hermann Müller, Realschullehrer in Lippstadt, konzentrierte sich auf die Unterrichtsgestaltung in seinem biologischen Fachbereich.35 Andere erhoben weiterreichende Forderungen. Roßmäßler, der sich gern auf Diesterweg 32 33 34
35
Text nach Gutzmer: Reformvorschläge, I (1905), S. 4ff., hier S. 5. Vgl. Kremer: Naturwissenschaftlicher Unterricht (1985), S.89ff.; Lorey: Der deutsche Verein (1938). Zum folgenden: Norrenberg: Geschichte (1904), S.56f£; Scheele: Von Lüben (1981), passim; Enzyklopädie Erziehungswissenschaft 5 (1984), S. 169-77; Eckert: Die schulpolitische Instrumentalisierung (1984), S. 104ff.; Bonnekoh: Naturwissenschaft (1992), S. 113ff. (auf Chemie und Physik konzentriert). Vgl. die Würdigungen bei Breitenbach: Populäre Vorträge (1910), S. 119-121, 177-226 und Krause: Prof. Dr. Hermann Müller (1883).
62
II. Schule und öffentliche Meinung
berief und die naturkundlichen Fächer nicht mehr getrennt, sondern in einem übergreifenden naturkundlichen Unterricht gelehrt wissen wollte, sprach 1860 von der „Anerkennung des Volksrechtes auf naturgeschichtliche Bildung"36. Roßmäßler trat in diesen Jahren auch mit dem Vorschlag hervor, im Schulunterricht große Wandtafeln zu nutzen, die er als einer der ersten in Deutschland für naturkundliche Vorträge entworfen und verwendet hatte. 37 Rudolf Virchow erklärte vor der 36. VDNA 1861, daß es „am Staate" sei, angesichts des Eindringens der ,,naturwissenschaftliche[n] Wahrheit in das Volk" die neue Bildung möglichst allgemein zugänglich zu machen. 38 Das letzte Jahrhundertdrittel wurde dann zur Phase der stärksten Reformbewegung hinsichtlich der Methodik der Naturbeschreibung 39 und brachte eine Fülle methodischer Abhandlungen und neuer Lehrbücher hervor. In den beschreibenden Naturwissenschaften ging es um phantasievollere, schüler- und erfahrungsnähere Unterrichtspraxis durch Exkursionen, Unterricht im Freien, die Anlage von Schulgärten und lebensnahe Illustrationen. Dahinter stand der Wunsch nach einem „wirklichen Lebensunterricht" 40 . Voraussetzung dafür waren neue didaktisch-wissenschaftliche Konzeptionen. Zum Vorbild wurde Friedrich Junges Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft (1885). Das Werk knüpfte an die Meeresforschungen von Karl Möbius an und übertrug die Biocönosen-Lehre 41 auf die Schulen und die Lebenssituation der Schüler. Die Schulpädagogik wurde auf diese Weise mit den modernen biologischen Anschauungen verknüpft. Gleiches hatte Otto Schmeil vor Augen, ohne Junges strenge Lehre von natürlichen 36 37
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Roßmäßler: Der naturgeschichtliche Unterricht (1860), S. 27. Vgl. ebenda, S. 49-65. Zurückhaltend dazu die Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens (1864), S. 131f. Vgl. auch Brehme: Zur Bedeutung (1991). Virchow: [Ü]ber den Einfluss (1861), S. 71, in diesem Sinne auch Virchow: Über die nationale Entwickelung (1865/1922), S. 50f. und ders.: [Ü]ber den naturwissenschaftlichen Unterricht (1868/1922), S. 73f. Formulierung bei Scheele: Von Lüben (1981), S.148; hier, S. 189-193 und S. 274-278, auch eine Übersicht zu den einschlägigen Lehrmitteln. Vgl. Freyer: Vom mittelalterlichen Medizin- zum modernen Biologieunterricht, II (1995), S. 600-647; NwW 22 = N.F. 6 (1907), S. 471; R. von Hanstein: Drei Vorkämpfer des biologischen Unterrichts, in: Monatshefte für den naturwissenschaftlichen Unterricht 9.1 (1916), S. 10-23; sowie Bölsche: Naturwissenschaftlicher Unterricht (1893). Bölsche: Naturwissenschaftlicher Unterricht (1893), S. 33, im Original im Genitiv. Der Begriff ,Biocönose' für Lebensgemeinschaft wurde von Karl Möbius aufgrund seiner Untersuchungen zu Austern in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt und später von Dahl, Richard Hesse und anderen auf die Landfauna übertragen. Das zugrundeliegende Konzept der Betrachtung von Organismen in ihren gesamten Beziehungen zu der sie umgebenden organischen und anorganischen Außenwelt hatte schon Ernst Haeckel seit 1866 vertreten. Vgl. Kölmel: Zwischen Universalismus (1981).
2. Humanisten und Realisten
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Gesetzen zu teilen. Über seine massenhaft verbreiteten und eindrucksvoll illustrierten Lehrbücher und Wandtafeln wurde Schmeil zum bekanntesten Schulreformator und Bestsellerautor der Schulbuchliteratur. 42 Kontroversen im politischen Raum Bildungsdebatte, interessenpolitische Argumente und pädagogische Reformbemühungen verquickten sich in prominenten Gelehrtenplädoyers und spektakulären Kontroversen. Daß die Phase organisierter Interessenpolitik seit 1890 davon begleitet wurde, lag nahe. Die VDNA bot dafür ein publikumswirksames Podium, auf dem z.B. 1887/88 die Professoren Wilhelm Preyer und Hans Vaihinger mit Vehemenz unterschiedliche schulpolitische Strategien für die Naturwissenschaften propagierten. Während Preyer forderte, das Gymnasialmonopol aufzuheben, erklärte Vaihinger das Gymnasium auf der Basis eines ,psychogenetischen Gesetzes' zur einzigen, den physiologischen Gesetzen entsprechende Bildungsanstalt. 43 Vor der VDNA sah man noch 1890 den Einzug der modernen Naturwissenschaften in die Schulen als eine „Art von Culturkampf" 44 . Eine solche kulturkämpferische Stimmung verschärfte die Neigung zur Polemik. Einschlägigen Ruhm erlangte die Streitschrift Moses oder Darwin. Eine Schulfrage (1889, 8 1903, 15 1923) des Schweizer Botanikers Arnold Dodel, der von 1899 bis 1901 Präsident des Deutschen Freidenkerbundes war. Dodel klagte mit Blick auf die seiner Meinung nach dringend notwendige Rezeption des Darwinismus den Zwiespalt zwischen Wissenschaft und Volkserziehung an 45 Mit konträrer Motivation setzte später Johannes Reinke die Naturwissenschaften auf die schulpolitische Agenda; darauf wird Kapitel IV. 3 eingehen. Die politischen Weichen der öffentlichen Streitkultur waren indes schon vorher gestellt worden. Die wichtigsten Kontroversen um Schule und Naturwissenschaften fallen in die beiden ersten Dekaden des Kaiserreichs. Herausragende Wissenschaftspersönlichkeiten traten dabei auf den Plan: Emil Du Bois-Reymond, Ernst Haeckel und Rudolf Virchow. Diese Zuspitzung hatte zum einen wissenschaftsinterne Gründe. Die Rezeption des Darwinismus in Deutschland warf die Frage nach dessen Akzeptanz als 42 43
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Enzyklopädie Erziehungswissenschaft 5 (1984), S. 177-181; Erhard: Schmeil (1930); Seybold: Lebenswerk (1954/1986). W. Preyer: Naturforschung und Schule, in: Tageblatt der 60. VDNA in Wiesbaden [...] 1887, S. 56-59; H. Vaihinger: Naturforschung und Schule, in: Tageblatt der 61. VDNA in Köln [...] 1888, S. 84-93. Fricke: Die Bedeutung der Biologie für Unterricht und Erziehung, in: Verhandlungen der GDNA 63. Versammlung zu Bremen [...] 1890, S. 577-592, hier S. 577. Dodel: Moses (81903) sowie ders.: Entweder (1902) mit einer Zwischenbilanz zur Wirkung der Moses-Schrift, die in zehn Sprachen übersetzt wurde. Vgl. Beyl: Arnold Dodel (1984), S. 46-58 und die Gegenschrift von Dennert: Moses (1890).
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II. Schule und öffentliche Meinung
neues Erklärungsparadigma in den etablierten Unterrichtsinstitutionen auf. Die personelle und institutionelle Expansion der Naturwissenschaften an den Universitäten konnte überdies für die Vermittlung naturwissenschaftlicher Themen in den Schulen nicht folgenlos bleiben. Es entstand ein Überangebot an potentiellen Lehrern, und der Druck auf die Schulen wuchs, auch inhaltlich der wachsenden Bedeutung der naturwissenschaftlichen Forschung gerecht zu werden. Die Naturwissenschaftler selbst, wenigstens jene in einflußreichen akademischen Positionen und an der Spitze der neuen Universitätsinstitute, kamen zum anderen nicht umhin, ihre Rolle in der politischen und weltanschaulichen Neuformation der Gründeijahre zu bestimmen. Sie waren dem politischen Kräftefeld nicht nur deshalb ausgesetzt, weil hier die Ressourcen und Rahmenbedingungen der wissenschaftlichen Institutionalisierung definiert wurden. Auch die nunmehr nationale Öffentlichkeit erwartete von den prominenten Vertretern der staatlich finanzierten Universitäten, daß sie zu den zentralen politischen und gesellschaftlichen Problemen der Zeit Positon bezogen. Der Kulturkampf, die Entwicklung des Liberalismus von anfänglicher Stärke bis zu seiner Zersplitterung und Bismarcks Wende von 1878/79 hinterließen ebenso wie das Erstarken der Sozialdemokratie und die Wirtschaftskrise seit 1873 tiefe Furchen im öffentlichen Leben. Die öffentliche Präsenz der Naturwissenschaftler und die Präsentation ihrer Forschungsergebnisse wurden damit unweigerlich politisch und weltanschaulich imprägniert. Vor diesem Hintergrund erscheint die Diskussion um die Naturwissenschaften im Schulunterricht, wie sie im ersten Jahrzehnt des Kaiserreichs ausgetragen wurde, vielfach als Stellvertreterdebatte und als Folie, auf die außerwissenschaftliche Vorgaben projiziert wurden. Diese Entwicklung sprengte den Rahmen der Schulproblematik und verdient, gesondert dargestellt zu werden.
3. Darwinismus und Biologie-Unterricht
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3. Darwinismus und Biologie-Unterricht im Meinungsstreit „Noch selten haben die Verhandlungen der deutschen Naturforscher in der Oeffentlichkeit ein so lautes und lebhaftes Echo gefunden, wie in diesem Jahre zu München. Sind es doch nicht blosse Fachgegenstände und specielle Forschungen, die dort zur Erörterung gekommen sind, sondern auch die wichtige Frage, wie die Resultate der Wissenschaft für das Leben und die höchsten Ziele der Menschheit verwendbar gemacht werden können und sollen, ist in einer Weise angeregt und discutirt worden, welche der öffentlichen Aufmerksamkeit in hohem Grade werth ist." Frankfurter Zeitung, Nr. 271, Morgenblatt vom 28. September 1877, abgedruckt bei Haeckel: Freie Wissenschaft (1878), S. 103. Für die Geschichte der Naturwissenschaften in ihrer Öffentlichkeitswirkung und für die politischen Implikationen naturwissenschaftlichen Denkens im 19. Jahrhundert steht,München 1877' als eine vielsagende Chiffre. Der Ausdruck verweist auf eine spektakuläre Kontroverse zwischen Ernst Haeckel und Rudolf Virchow um den Einzug des Darwinismus in den deutschen Schulunterricht. Sie wird heute auch als Höhepunkt der weltanschaulichen Auseinandersetzung über die Evolutionstheorie in Deutschland betrachtet. 1 Kein anderer deutscher Naturwissenschaftler-Streit hat national wie international eine ähnliche Breitenwirkung entfaltet. 2 Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirkungen dieser Kontroverse sind in einer dichten Folge von weithin beachteten Wissenschaftlerreden und Parlamentsdebatten dokumentiert. Sie veranschaulichen, wie der öffentliche Umgang mit naturwissenschaftlichen Themen in den Strukturwandel der expandierenden Öffentlichkeit im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein-
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Querner: Darwins Deszendenz- und Selektionslehre (1975), S. 445. Vgl. Kelly: The Descent (1981), S. 57ff.; Benton: Social Darwinism (1982), S. 102ff.; Marten: Sozialbiologismus (1983), S. 119-130, der Haeckels Anschauungen als sozialdarwinistisch überinterpretiert; Bayertz: Darwinismus und Freiheit (1983), KolkenbrockNetz: Wissenschaft (1991). Die 50. VDNA ist - neben den im folgenden aufgeführten Schriften - dokumentiert im Amtlichen Bericht der 50. VDNA in München vom 17. bis 22. September 1877. Zusammengestellt vom Redactionscomite. München 1877, sowie in einer Sammelmappe mit zeitgenössischen Presseberichten, Einladungen etc., die die Bayerische Staatsbibliothek aufbewahrt (Sign. 4 H. Nat. 156-k/l). Eine vergleichbare Wirkung hatte zuvor allenfalls der sog. Pariser Akademiestreit zwischen Geoffroy St. Hilaire und Georges Cuvier 1830-32 erzielt, ohne daß er von den vorhandenen Medien in solcher Spannweite publik gemacht werden konnte; hierzu Toby A. Appel: The Curier-Geoffroy Debate. French Biology in the Decades before Darwin. New York, Oxford 1987, S. 143-201.
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II. Schule und öffentliche Meinung
gewoben war und in hohem Maße politisch kontextualisiert wurde. Mit der Haeckel-Virchow-Kontoverse, der Debatte um die sogenannten Grenzen des Erkennens und den sie begleitenden politischen und publizistischen Diskussionen wird deutlich, wie sehr naturwissenschaftliche Problemstellungen gleichermaßen zum Teil wie zum Medium öffentlicher Meinungsbildungsprozesse wurden und dabei der kommunikativen Dynamik des öffentlichen Raums ausgesetzt waren.
a) Die Haeckel-Virchow-Kontroverse und die Grenzen des Erkennes 1872-1878 Im September 1877 tagte die 50. VDNA in München. In der ersten Allgemeinen Sitzung sprach der Jenaer Zoologie-Ordinarius Ernst Haeckel über „Die heutige Entwickelungslehre im Verhältnisse zur Gesammtwissenschaft". Er behandelte die Deszendenz- und Selektionstheorie im Darwinschen Sinne, das von ihm selbst formulierte, sogenannte Biogenetische Grundgesetz 3 und die neue Historizität der Naturwissenschaft. All dies war strittig genug. Um so mehr mußte Haeckel provozieren, indem er die Abstammung des Menschen von den Tierklassen, die Beseelung aller Materie bis hin zu ,Plastidulen'- und ,Atomseelen' und einen naturreligiös gefärbten Monismus als umfassendes Band zwischen Naturund Geisteswissenschaften propagierte. Vor allem forderte Haeckel eine „weitgreifende Reform des Unterrichts" zugunsten seiner Erkenntnisse, auch wenn die Reihenfolge der Einführung den „praktischen Pädagogen überlassen" bleiben sollte: „Vielmehr sind wir der Ueberzeugung, dass sie [die Entwicklungslehre - A.D.] sich auf allen Gebieten als der bedeutendste Hebel ebenso der fortschreitenden Erkenntniss, wie der veredelten Bildung überhaupt bewähren wird. Da nun der wichtigste Angriffspunkt der letzteren die Erziehung der Jugend ist, so wird die Entwickelungslehre als das wichtigste Bildungsmittel auch in der Schule ihren berechtigten Ein-
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Unter dem Einfluß Darwins spitzte Haeckel die unter Zoologen schon seit längerem erörterten Zusammenhänge zwischen Embryonal- und Stammesentwicklung von Lebewesen, von Haeckel als Ontogenese und Phylogenese bezeichnet, dahingehend zu, daß die Ontogenese die kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenese darstelle, d.h. das organische Individuum im Embryonalstadium die wichtigsten Formveränderungen, die seine Vorfahren in der Stammesentwicklung durchlaufen hätten, wiederhole. Siehe Haeckel: Generelle Morphologie, II (1866), S. 300; den Begriff ,Biogenetisches Grundgesetz' benutzte Haeckel seit 1872. Vgl. Ruth G. Rinard: The Problem of the Organic Individual: Ernst Haeckel and the Development of the Biogenetic Law, in: Journal of the History of Biology 14 (1981), S. 249-275.
3. Darwinismus und Biologie-Unterricht
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fluss geltend machen müssen; sie wird hier nicht bloss geduldet, sondern massgebend und leitend werden." 4 Der Protest ließ nicht lange auf sich warten. Kurz nach Haeckels Abreise bezog Rudolf Virchow auf der gleichen Tagung zur „Freiheit der Wissenschaft im modernen Staatsleben", so der Titel seines Vortrages, Stellung.5 Man müsse insbesondere mit Blick auf den Darwinismus klar trennen zwischen gesichertem Wissen, das auf Beweisen, Tatsachen und objektiven Erkenntnissen beruhe, und ungesicherten Hypothesen, die aus Vermutungen, Spekulationen und subjektiven Meinungen entstünden. Analog dazu unterscheide sich die schulische Lehrtätigkeit, die sich allein auf den ersten Bereich beziehen dürfe, von der wissenschaftlichen Forschung, die Thesen überprüfen könne. Virchow ließ keinen Zweifel daran, welcher Seite er Haeckels Überzeugungen zuordnete. Der Pathologe und Anthropologe lehnte die Abstammung des Menschen vom Tier ebenso als ungesicherte Annahme ab wie die Beseelung der Materie und die Generatio aequivoca, die Lehre von der Entstehung ersten organischen Lebens aus unorganischer Materie (Urzeugung). Konsequent forderte Virchow „Verzicht auf Liebhabereien und persönliche Meinungen". Widerstand sei notwendig gegen die Versuchung, „unsere blos theoretischen und speculativen Gebäude so in den Vordergrund zu schieben, dass wir von da aus die ganze übrige Weltanschauung construiren wollen." Damit war unübersehbar Haeckels Bemühen gemeint, die Entwicklungstheorie tendenziell zu einer gesamtgesellschaftlichen Lehre auszubauen. Den Aufruf zur „Mässigung" angesichts der „speculativen Expansion" verband Virchow mit der Warnung davor, „in die Köpfe der Schullehrer dasjenige hineinzutragen, was wir bloss vermuthen." Gegen Haeckel gewendet hieß dies: „Wir müssen daher den Schullehrern sagen, lehrt das nicht." 6 Ernst Haeckel erwiderte in scharfem Ton. Seine Antwortschrift Freie Wissenschaft und freie Lehre von 1878 rückte Virchow als Person in das
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Haeckel: Die heutige Entwickelungslehre (1877), S. 16,15, hier zitiert nach der Separatausgabe, die im gleichen Jahr drei Auflagen erlebte. Die Rede ist ebenfalls abgedruckt in Haeckel: Gemeinverständliche Vorträge, II (1902), S. 119-146, sowie im Amtlichen Bericht der 50. VDNA in München [...] 1877, S. 14-22. Virchow: Die Freiheit (1877), auch hier nach dem Separatdruck zitiert. Diese Veröffentlichung enthält gegenüber der ursprünglichen Fassung nur kleinere Schreibvarianten, Umstellungen und zusätzliche Absatzeinteilungen, außerdem entfallen die Vermerke über die Publikumsreaktionen; vgl. den Abdruck im Amtlichen Bericht der 50. VDNA in München [...] 1877, S. 65-77, und bei Sudhoff: Rudolf Virchow (1922), S. 185-212. Die Kontrahenten kannten die jeweils anderen Reden nur von mündlichen Berichten und Abdrucken, da auch Virchow bei Haeckels Rede nicht anwesend war. Zitate in der angegebenen Reihenfolge bei Virchow: Die Freiheit (1877), S. 7,22, 8,26,15.
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II. Schule und öffentliche Meinung
Zentrum der Kritik. Dem früheren Lehrer warf Haeckel nun fachliche Inkompetenz sowie eine „totale Metapsychose" vor. Virchow verleugne seine frühere, fortschrittliche Position und sei der „Bekehrung vom Freidenker zum Finsterling"7 erlegen. In der Sache verteidigte Haeckel die Deszendenztheorie im allgemeinen und den Darwinismus als Selektionstheorie im besonderen.8 Virchows Unterscheidung von Hypothese/Forschung versus Tatsache/Lehre wurde von Haeckel grundsätzlich in Frage gestellt. In der naturwissenschaftlichen Praxis seien sichere Beweise höchst selten, Hypothetisches lasse sich kaum von der Tatsachenbeschreibung trennen. Den Lehrern falle durchaus die Aufgabe zu, die Schüler an Problemfragen teilnehmen zu lassen. Insofern stelle Virchows Aufruf zur Mäßigung ein gefährliches „Attentat auf die Lehrfreiheit" dar.9 Beide Kontrahenten hatten über die Schulfrage hinaus grundsätzliche epistemologische und zugleich wissenschaftspolitische Probleme der Naturwissenschaft und ihres Erkenntnisanspruchs berührt. Der Streit um Hypothese versus Tatsache variierte eine Diskussion um Erkenntnismöglichkeiten und Erkenntnisgrenzen naturwissenschaftlicher Forschung, die in Deutschland seit den 1850er Jahren geführt wurde. Die entscheidende Signatur hatte dieser Debatte der Berliner Physiologe Emil Du Bois-Reymond auf der 45. VDNA 1872 in Leipzig verliehen. Sein Vortrag über die „Grenzen des Naturerkennens" bündelte die bisherigen Auseinandersetzungen und spitzte sie auf wenige Grundfragen zu. Du Bois-Reymond wandte sich gegen den unbeschränkten Erkenntnisoptimismus der Naturwissenschaft und gegen die Vorstellung, alle Phänomene seien mechanistisch ableitbar und mit materialistischem Determinismus zu erklären. Prinzipielle, ja unüberwindbare Schranken des Erkennens wurden dort markiert, wo es um die Beziehung von Kraft und Stoff und das Verhältnis von Materie und Bewußtsein ging. War dem Naturforscher schon bisher das „Ignoramus" vertraut gewesen, so sah sich Du Bois-Reymond bei dem Rätsel, was Materie und Kraft seien, „ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahlspruch [...] ,Ignorabimus"' genötigt.10
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Haeckel: Freie Wissenschaft (1878), S. 61,3, zitiert wiederum nach dem Separatdruck, der Text findet sich auch bei Haeckel: Gemeinverständliche Vorträge, II (1902), S. 199-324. Diese Unterscheidung nahm Haeckel zu Recht vor, wurde in der zeitgenössischen Diskussion doch vielfach der Darwinismus pauschal mit entwicklungsgeschichtlichen Überlegungen, die es durchaus schon früher gab, gleichgestellt; siehe Haeckel: Freie Wissenschaft (1878), S. lOff. Ebenda, S. 15ff„ 58ff„ Zitat S. 52; vgl. auch S. 78. Du Bois-Reymond: Über die Grenzen (1872/1912), S.464. Einen differenzierten Überblick geben Vidoni: Ignorabimus (1991) und Engelhardt: Du Bois-Reymond (1976).
3. Darwinismus und Biologie-Unterricht
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Das Ignorabimus sollte in Kürze „zu einer Art von naturphilosophischem Schibboleth" (Du Bois-Reymond) werden. Die Diskussionen nahmen an Schärfe zu, und Ernst Haeckel meldete 1874 heftigen Protest an.11 Du Bois-Reymond erweiterte 1880 seine Haltung in einer Rede vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Die Erkenntnisprobleme spaltete er nun in „Sieben Welträtsel", so auch die Überschrift seiner Ansprache, auf. Drei davon seien grundsätzlich transzendent, d.h. nicht lösbar: das Wesen von Materie und Kraft, der Ursprung der Bewegung und die Entstehung der Sinnesempfindung, was im besonderen gegen Haeckel gerichtet war. Als erklärbar erachtete der Physiologe die Entstehung des Lebens, mit Vorbehalten auch die absichtsvoll zweckhafte Einrichtung der Natur und den Ursprung von Denken und Sprache. Beim siebten Problem, der Frage der Willensfreiheit, blieb Du Bois-Reymond unentschlossen.12 Angesichts des zeitlich parallelen Streits zwischen Realschulen und Gymnasien hatte sich Du Bois-Reymond überdies wenige Monate vor der Münchener VDNA 1877 veranlaßt gesehen, öffentlich die Schulfrage zu kommentieren. Sein Plädoyer für eine gymnasiale Reform unterschied sich aber merklich von dem späteren Standpunkt Haeckels. Das Verhältnis von Kulturgeschichte und Naturwissenschaft abwägend, warnte Du Bois-Reymond in humanistischer Tradition vor der „Amerikanisierung" der deutschen Gesellschaft. Die Ausbreitung der Naturwissenschaften wurde in das abschreckende Szenario von ideeller Verarmung und utilitaristischem Reduktionismus gestellt. Du Bois-Reymond führte allerdings zugleich aus, daß eine Mißachtung des naturwissenschaftlichen Aufschwungs umgekehrt bedeuten würde, „den Kopf in den Sand stecken" und „dem rollenden Rade solcher weltgeschichtlichen Entwickelung in die Speichen zu fallen." So konzentrierte der Physiologe seine Forderungen auf die Anhebung des analytischen Mathematikunterrichts - „Kegelschnitte! Kein griechisches Skriptum mehr!". Den Darwinismus, dem er persönlich huldige, wollte er ausdrücklich von den Gymnasien ausgeschlossen wissen.13 Stärker noch als dieses letzte Plädoyer stand die Ignorabimus-Diskussion im Hintergrund der Münchener Auseinandersetzung 1877. Sie verlieh der Forderung nach „Mässigung" (Virchow) jene grundsätzliche Dimension, die das. Ethos des naturwissenschaftlichen Erkenntnisvermögens berührte. Nicht zufällig hatte sich Virchow schon seit längerem in diesem
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Haeckel: Anthropogenie (1874), S.XIIf. Du Bois-Reymonds Entgegnung in ders.: La Mettrie [Januar 1875], in: Reden von Emil Du Bois-Reymond, I (1912), S. 509-539, hier S. 528,539. Du Bois-Reymond: Die Sieben Welträtsel (1880/1912); zur Kritik an Haeckel siehe ebenda, S.71f., 79. Du Bois-Reymond: Kulturgeschichte (1877/1912), 605, 606, 615f., 620, 617. Vgl. Gradmann: Naturwissenschaft (1993).
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II. Schule und öffentliche Meinung
Zusammenhang zu Wort gemeldet.14 1877 aber galt sein Bemühen, Grenzen des Erkennens aufzuzeigen, der Entwicklungslehre, und zudem instrumentalisierte er den Darwinismus für die Tagespolitik. Virchow diskreditierte die Deszendenztheorie in München nicht nur als Spekulation, sondern stellte sie auch unter Sozialismusverdacht. Schon eingangs warnte der führende Liberale vor der „Gefahr, durch zu weite Benutzung der Freiheit [...] die Zukunft zu gefährden". Ähnlich wie Du Bois-Reymond wenige Monate zuvor15 ließ Virchow unheilschwere Erinnerungen an die Pariser Commune aufkommen. Dann wurde er konkret: „Nun stellen sie sich einmal vor, wie sich die Descendenztheorie heute schon im Kopfe eines Socialisten darstellt! [Das Protokoll vermerkt hier zunächst Heiterkeit -A.D.] Ja, meine Herren, das mag Manchem lächerlich erscheinen, aber es ist sehr ernst, und ich will hoffen, dass die Descendenztheorie für uns nicht alle die Schrecken bringen möge, die ähnliche Theorien wirklich im Nachbarlande angerichtet haben. Immerhin hat auch diese Theorie, wenn sie consequent durchgeführt wird, eine ungemein bedenkliche Seite, und dass der Socialismus mit ihr Fühlung gewonnen hat, wird Ihnen hoffentlich nicht entgangen sein."16
Ernst Haeckel erkannte die auf ihn zurückschlagende Gefahr dieses Verdikts. Einen inneren Zusammenhang zwischen der Deszendenztheorie und der sozialistischen Lehre bestritt der Jenaer Zoologe 1878 energisch. Die Deszendenztheorie beruhe gerade auf der Ungleichheit der Individuen, ihre Tendenz könne „durchaus keine demokratische, und am wenigsten eine socialistische", sondern nur „aristokratische" sein. Die Entwicklungslehre sei das „beste Gegengift gegen den bodenlosen Widersinn der socialistischen Gleichmacherei" 17 . Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang, daß Haeckel generell eine unmittelbare Übertragung naturwissenschaftlicher Theorien auf den Bereich der praktischen Politik als gefährlich ansah und seine eigenen Andeutungen zur politischen Nutzanwendung naturwissenschaftlicher Theorien allenfalls als subjektive Meinungsäußerungen gelten lassen wollte.18 Im gleichen Jahr veröffentlichte Haeckels Straßburger Kollege Oscar Schmidt, ebenfalls ein Anhänger der Darwinschen Entwicklungslehre, eine ähnlich ausgerichtete Rede über „Darwinismus und Socialdemokratie". Auch Schmidt unternahm alles, um eine sozialistische Aneignung des Darwinismus als Mißverständnis erscheinen zu lassen, das vor allem die wissenschaftliche Begründung der Ungleichheit der Menschen außer Acht 14 15 16 17 18
Bayertz: Darwinismus (1983), der die Positionswechsel Virchows akzentuiert; Vidoni: Ignorabimus (1991), S. 79-81. Du Bois-Reymond: Kulturgeschichte (1877/1912), S. 603. Virchow: Die Freiheit (1877), S. 7,12. Haeckel: Freie Wissenschaft (1878), S. 73. Ebenda, S.74f. Vgl. Kosmos/Weltanschauung 1.2 (1877/78), S. 172-180; II. 3 (1878), S. 540-546.
3. Darwinismus und Biologie-Unterricht
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lassen würde.19 So einfach war das Virchowsche Menetekel jedoch nicht aus der Welt zu schaffen. Die Verbindung der Darwinismus- und Unterrichtsfrage mit dem Streit um die Grenzen des Naturerkennes bot Haeckel immerhin die Gelegenheit, Du Bois-Reymonds Ignorabimus zusammen mit dem Plädoyer Virchows zur Zurückhaltung, das er zu einem,Restringamur' verkürzte, als Teil eines „Berliner Kreuzzugs gegen die Freiheit der Wissenschaft" 20 zu stilisieren. Damit war aus Sicht des Zoologen eine bedrohliche Phalanx entstanden, in die sich im Oktober 1877 mit Hermann Helmholtz ein weiterer Berliner Spitzenwissenschaftler einreihte. Helmholtz hielt am 15. Oktober 1877 seine Rektoratsansprache an der Berliner Alma mater über die akademische Freiheit der deutschen Universitäten. Er griff dabei den Darwinismusstreit nur indirekt auf und bezog keineswegs eine klar interpretierbare Stellung. Die deutsche Lehrfreiheit erlaube es, erläuterte Helmholtz, daß an den Hochschulen unterschiedliche, wenn nicht sogar widersprüchliche Anschauungen gelehrt werden dürften; dazu zählten „die kühnsten Speculationen auf dem Boden von Darwin's Evolutionstheorie"21. Aus Haeckels Perspektive konnte dies zweifellos als Kritik an seiner Person gewertet werden. Der Jenaer Ordinarius setzte dem nun entschlossen ein „Impavidi progrediamur" 22 entgegen.
b) Der Darwinismus auf der politischen Bühne 1878-1883 Im September 1878 erreichte der Haeckel-Virchow-Streit den Deutschen Reichstag während der Beratungen um das Sozialistengesetz. Der Sozialdemokrat August Bebel brachte die Auseinandersetzung in die parlamentarische Debatte ein, um den gegen seine Partei gerichteten Vorwurf, die Wissenschaft begünstige in bedenklicher Weise den Sozialismus, zu seinen Gunsten umzukehren. Der Sozialdemokratie gehöre keineswegs „nur eine aufgehetzte Masse" an: „Meine Herren, haben wir nicht in den letzten Jahren erfahren, wie ein Mann der Wissenschaft nach dem anderen sich dem sozialdemokratischen Programm nähert? Die sozialdemokratischen Bestrebungen umfassen alles: Nationalökonomie, Naturwissenschaften, Kulturgeschichte, Philosophie, kurz alle Gebiete des wissenschaftlichen Lebens. [...] nach meiner Auffassung hat der Herr Professor Haeckel [...] keine Ahnung davon, daß der Darwinismus nothwendig dem Sozialismus förderlich ist, 19 20
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Bayertz: Darwinismus (1983), S. 276. Haeckel: Freie Wissenschaft (1878) S. 78, siehe auch S. 92f.; vgl. ders.: Die heutige Entwickelungslehre (1877), S. 17. Entsprechend scharf geriet Haeckels Reaktion auf Du Bois-Reymond Welträtsel-Rede, siehe Deutsche Rundschau 29 (1881), S. 163. Helmholtz: Ueber die akademische Freiheit (1877/1896), S. 205. Haeckel: Freie Wissenschaft (1878), S. 93.
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II. Schule und öffentliche Meinung
und umgekehrt der Sozialismus mit dem Darwinismus im Einklang sein muß, wenn seine Ziele richtig sein sollen. (Bewegung. Sehr gut!) Ist das richtig, so gehören zu den gemeingefährlichen Bestrebungen, die auf Untergrabung von Staat und Gesellschaft abzielen, auch die modernen Naturwissenschaften; und die nothwendige Folge wäre, daß auch sie unterdrückt würden."23
Einige Jahre später griff Bebel in seinem programmatischen Buch Die Frau und der Sozialismus, das zu einem Bestseller des späten 19. Jahrhunderts werden sollte, die Verknüpfung von Darwinismus und Sozialismus im Gefolge des Münchener Streits erneut auf und verwahrte sich sowohl gegen Virchow als auch gegen Haeckel. 24 In der Reichstagsdebatte 1878 war es Zentrumsführer Ludwig Windthorst, der kurz nach Bebel die Analogie von Naturwissenschaften und gemeingefährlichen Bestrebungen mit entgegengesetzter Zielrichtung übernahm. 25 Die Freiheit der Wissenschaft blieb mehrdeutig. In dieser politisch aufgeladenen Situation brachten katholische und konservative Kreise einen exemplarischen Konfliktfall aus der Schulpraxis auf die politische Bühne. Hermann Müller, Blütenbiologe und Oberlehrer für Naturkunde an der Realschule I. Ordnung in Lippstadt, hatte seit 1876 Angriffe der katholischen Presse auf sich gezogen, da er ökologische und entwicklungsgeschichtliche Inhalte im Sinne Haeckels in den Unterricht einbrachte. Die Situation spitzte sich zu, als kolportiert wurde, Müller indoktriniere seine Schüler religionsfeindlich. Das bezog sich auf einige Vertretungsstunden, in denen Müller Kapitel aus dem Werk Werden und Vergehen des Darwinisten und Haeckelverehrers Ernst Krause alias Carus Sterne hatte vorlesen lassen. Im Januar 1879 griff der altkonservative Abgeordnete von Hammerstein den anrüchigen Vorfall anläßlich der Debatte um die Unterrichtsangelegenheiten im Preußischen Abgeordnetenhaus auf. Er zeichnete ein staatsgefährdendes Szenario. Wenn der „Heckel-Darwinismus" [sie] zugelassen würde und es erlaubt sei, den Schülern „den Materialismus einzuimpfen," dann trügen die Aufsichtsbehörden die Verantwortung dafür, wenn eine Generation heranwachse, „deren Glaubensbekenntniß der Atheismus und der Nihilismus, deren politische Anschauung der Kommunismus ist." 26
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Stenographische Berichte (1878), 4. Sitzung am 16. September 1878,S.47f. Bebel: Die Frau (lSSS/^lSyS), S. 246-251. Vgl. Langewiesche/Schönhoven: Arbeiterbibliotheken (1976), S. 195. Stenographische Berichte (1878), 10. Sitzung am 4. Oktober 1878, S.203; vgl. 12. Sitzung am 14.10.1878, S. 251 (Lasker). Stenographische Berichte (1879), 29. Sitzung am 15. Januar 1879, S. 606. Das Protokoll vermerkt an dieser Stelle: „Sehr gut! rechts und im Zentrum."
3. Darwinismus und Biologie-Unterricht
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Besonderes Ärgernis erregte ein Satzanfang in Krauses Buch, „Im Anfang war der Kohlenstoff", der als „Travestie des Evangeliums" 27 gedeutet wurde. (Bölsche variierte später: „Im Anfang war der Bazillus."28) Bei genauerer Prüfung hätte sich die Textstelle als harmloser Vergleich entpuppt. Aber darauf kam es den Kritikern, zu denen wiederum Windthorst zählte, nicht an. Sie hatten den Oberlehrer Müller ins Visier genommen, um ein Exempel zu statuieren und um Kultusminister Falk anzugreifen. Von ihm forderten die Konservativen eine Verschärfung der Staatsaufsicht, während er für das Zentrum als Protagonist des Kulturkampfes ohnehin zum Gegner geworden war. Beide Gruppen konnten sich nachträglich ausgerechnet durch die Münchener Rede des Fortschrittspolitikers Virchow bestätigt sehen. Ähnlich wie Virchow vor der 50. VDNA pochte Windthorst 1879 darauf, es müsse unterbunden werden, „die angeblichen Resultate einer angeblichen Wissenschaft" jungen Leuten vorzutragen, die nicht reif und fähig seien, solche Dinge zu beurteilen 29 Virchow selbst blieb zwar nominell bei seiner Münchener Position, verteidigte aber ebenso wie sein Parteifreund Eduard Lasker den beschuldigten Hermann Müller. Es sei keineswegs Sache des Staates, einer „exzedirenden Bewegung Einhalt zu thun," 30 Diese Aufgabe habe die Wissenschaft selbständig zu lösen. Rigorismus gegenüber einzelnen Lehrern, welche die darwinistische Entwicklungsgeschichte in den Unterricht tragen würden, sei unangebracht. Zudem stelle der Darwinismus keineswegs einen Angriff auf religiöse Überzeugungen dar. Die Regierung schloß sich der liberalen Haltung an. Sie hatte es schon bei einer Verwarnung Müllers belassen, der ihre Wertschätzung genoß.31 Allerdings ging damit die Anweisung einher, daß „Theorien und unbewiesene^.] Hypothesen, wie sie in den Schriften von Haeckel, von Darwin, von Carus Sterne vielfach zum Ausdruck kommen, nicht vor Schülerkreise
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Ebenda, 32. Sitzung am 18. Januar 1879, S. 742 (Abg. von Meyer). Die einschlägige Passage ist Teil eines rhetorischen Vergleichs in konjunktivischer Form bei Sterne: Werden (1876), S. 49: „Ein moderner Chemiker, welcher die Geschichte der Schöpfung in seine geüebte chemische Zeichensprache übersetzen wollte, dürfte nicht wie Faust beginnen: Im Anfang war das Wort, oder der Sinn, oder die Kraft - ,er kann die Kraft allein so hoch unmöglich schätzen'- und mit einem Male Licht erblickend, würde er ausrufen: Im Anfang war der Kohlenstoff mit seinen merkwürdigen inneren Kräften." Bölsche: Das Liebesleben, I (1909), S. 103. Stenographische Berichte (1879), 32. Sitzung am 18. Januar 1879, S.738 (Windthorst); vgl. S.742 mit dem Hinweis des Abg. von Meyer auf Virchows Münchener Rede. Ebenda, 32. Sitzung Sitzung am 18. Januar 1879, S. 732; vgl. zu Lasker S. 740-742. Vgl. Depdolla: Hermann Müller-Lippstadt (1941), S. 308-315 zum Verhalten Falks gegenüber Müller.
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II. Schule und öffentliche Meinung
unserer Gymnasien und höherer Lehranstalten überhaupt gehören." 32 Das Darwinismus-Verbot war geboren. 1882 wurden, wie erwähnt, Zoologie und darwinistische Biologie offiziell als Unterrichtsinhalte aus den Oberstufen der höheren Schulen entfernt. Die aufgeregte Debatte um den Darwinismus im Unterricht war mit den Lehrplanänderungen nicht beendet. 1882 nutzte Du Bois-Reymond die Geburtstagsrede für den Kaiser, um erneut die Grenzen des Naturerkennens zu proklamieren und vor der „Neigung zu ungezügelter Spekulation" zu warnen. 33 Zur Verärgerung der Konservativen fügte Du Bois-Reymond ein metaphorisches Bekenntnis zur Darwinschen Deszendenztheorie bei. Triumphal trat Haeckel selbst 1882 vor die 55. VDNA in Eisenach, exakt fünf Jahre nach seiner Münchener Rede. Die heftige Auseinandersetzung um den vermeintlich hypothetischen Charakter des Darwinismus sah er als beendet an, die Entwicklungslehre habe vollständig gesiegt. Doch erneut tauchten hinter dem eigentlichen Vortragsthema - die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck als kongeniale und komplementäre Elemente der einheitlichen Entwicklungslehre - die alten Fronten auf. Wiederum kritisierte Haeckel den Versuch der Gegner, der Entwicklungslehre „zerstörende und zersetzende Bestrebungen unterzuschieben."34 Dabei behandelte er den Einzug des Darwinismus in die Schulfrage durchaus versöhnlich. Haeckel klammerte die Elementarschulen sogar explizit aus und verlegte sich darauf, die entwicklungsgeschichtliche Methode als Grundlage des Unterrichts zu fordern. Die Eisenacher Rede blieb von Du Bois-Reymond nicht unbeantwortet. Einen Monat später relativierte er in seiner Berliner Rektoratsrede, gegen Haeckel gewendet, Goethes Bedeutung für die Naturwissenschaft erheblich und bestritt dessen Vorreiterrolle für den Darwinismus.35 Vor die Schulfrage schob sich inzwischen das nicht weniger brisante Problem, wie mit der darwinistischen Lehre an den Universitäten zu verfahren sei. Es wurde nach dem gleichen Argumentationsmustern wie 1879 in die politische Debatte eingebracht. Wiederum boten die Etatberatungen des Preußischen Abgeordnetenhauses dazu Anlaß. Am 23. Februar 1883 eröffnete Adolf Stoecker, Hofprediger und Gründer der konservativen Christlich-Sozialen Arbeiterpartei, den Angriff auf Emil Du Bois-Reymond. Der derzeitige Rektor der Berliner Universität habe jüngst öffentlich „einen krassen Materialismus und Darwinismus" vertreten. Stoecker geißelte es als professoralen Machtmißbrauch, „in die jugendlichen Gemüther die al32
33 34 35
So Regierungskommissar Stauder im Bericht über den Lippstädter Vorgang, in: Stenographische Berichte (1879), 29. Sitzung am 15. Januar 1879, S. 606. Vgl. die Verteidigungsschrift von Hermann Müller: Die Hypothese (1879), S.4 und Kosmos/Weltanschauung III.5 (1879), S. 161-163. Du Bois-Reymond: Wissenschaftliche Zustände (1882/1912), S. 268. Haeckel: Die Naturanschauung (1882/1902), S. 263. Du Bois-Reymond: Goethe (1882/1912), S. 176-178.
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lerverderblichsten Lehren hineinzuwerfen" und mit dem Darwinismus „Propaganda vor dem Volke zu machen." 36 Die Anschuldigungen Stoeckers bezogen sich auf drei Reden Du Bois-Reymonds zwischen März 1882 und Januar 1883, in denen der einschlägige Festredner sich positiv über Darwin und dessen Lehre geäußert hatte. Die Abgeordnetendebatte kaprizierte sich auf den letzten Beitrag, d.h. einen Nachruf auf Darwin, den Du Bois-Reymond dort als „Kopernicus der organischen Welt"37 feierte. Die prominenten Zentrumsabgeordneten Windthorst und Reichensperger pflichteten Stoecker bei. Sie forderten ein deutliches ministerielles Eingreifen, fehlten doch „Gegengewichte" gegen „Leute ä la Dubois-Reymond, Häckel und Comp." 38 Von katholischer Seite wurde zudem die Chance genutzt, auf die Einrichtung sogenannter Freier Universitäten zu drängen. Wiederum hatten die Kritiker sich Virchows Festlegung der Grenzen von 1877 zu eigen gemacht.39 Virchow selbst gelang eine bemerkenswerte Auslegung. Einerseits gestand er persönliche Bedenken gegenüber dem Darwinismus ein. Er verteidigte seine dualistisch-agnostische Position, die Sphäre freier Wissenschaft vom religiösen Glauben zu trennen, beide aber nicht in Konkurrenz zueinander zu setzen. Andererseits betonte Virchow jetzt die Berechtigung der darwinistischen Lehre mit Argumenten der prähistorischen Anthropologie, die ihm sechs Jahre zuvor für die exakt gegenteilige Meinung gedient hatte. 1877 hatte Virchow mit der fossilen Menschenkunde die Annahme einer tierischen Abstammung des Menschen in weite Ferne gerückt und vielmehr die scharfe Grenzlinie zwischen Menschen und Affen betont. 40 1883 hingegen hob der Fortschrittspolitiker hervor, es sei gar nicht möglich, den Menschen zu trennen von der Reihe der Tiere, es gebe „nur graduelle Differenzen in der Einrichtung unserer und der thierischen Organisation", zuletzt reduziere sich alles „auf die Frage des Geistes". 41 Mit der Abgeordnetendebatte 1883 hatten die Auseinandersetzungen um die Naturwissenschaften, den Darwinismus und dessen Vermittlung im Schulunterricht und an den Universitäten damit einen vorläufigen Abschluß gefunden.
36 37 38 39 40 41
Stenographische Berichte (1883), 33. Sitzung am 23. Februar 1883, S. 848. Du Bois-Reymond:Wissenschaftlichen Zustände (1882/1912), ders.: Goethe (1882/1912), ders.: Darwin (1883/1912), Zitat S. 244. Stenographische Berichte (1883), 35. Sitzung am 26. Februar 1883, S.914 (Reichensperger). Ebenda, 33. Sitzung am 23. Februar 1883, S. 858 (Cremer); 35. Sitzung am 26. Februar 1883, S. 925 (Windthorst). Virchow: Die Freiheit (1877), S. 29-31, hier S. 31. Stenographische Berichte (1883), 35. Sitzung am 26. Februar 1883, S.923. Vgl. Smith: Politics (1991), S. 91-94.
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II. Schule und öffentliche Meinung
c) Präsentation und Transformation der Streitfragen im öffentlichen Raum Die Art und Weise, wie die Streitfragen behandelt wurden, läßt exemplarisch erkennen, wie die Naturwissenschaften als nicht mehr zu leugnendes Bildungselement und das in ihnen hervorgebrachte Wissen präsentiert, den Bedürfnissen einer breiten Öffentlichkeit entsprechend in außerwissenschaftliche Kontexte transformiert und dabei weltanschaulich aufgeladen wurden. Der Haeckel-Virchow-Streit erlangte zunächst eine enorme Publizität. Die Kontroverse wurde durch die Tages- und Monatspresse, durch Unterhaltungs-, Kultur- und nicht zuletzt die populärwissenschaftlichen Zeitschriften verbreitet.42 Sie fand Widerhall auf den Tagungen der VDNA, vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften, den Volksvertretungen und im Ausland. Diese breite Streuung macht einen erheblichen Teil des modernen Charakters der Publizität aus. Mit der Massenpresse erwuchs den Protagonisten ein Resonanzboden, der ihre Argumente verstärkte, aber auch zusätzlichen Gegendruck erzeugen konnte.43 Dem Bedürfnis der Medien entsprach die starke Personalisierung der öffentlichen Debatte. Sie erlaubte schlüssige Frontstellungen bis hin zur Gartenlaube, die 1877 vom „Zweikampf auf dem Gebiete des Geistes"44 sprach. Virchow, Haeckel und Du Bois-Reymond markierten zweifellos Fixpunkte mit ihren wortgewaltigen Plädoyers; andere Beteiligte wurden aber von der Öffentlichkeit auch weniger wahrgenommen, sie eigneten sich nicht in gleichem Maße als Symbolfiguren. So erzielte der Botaniker Carl Wilhelm Nägeli nur geringe Wirkung. Er hatte auf der Münchener VDNA 1877 Du Bois-Reymonds Ignorabimus ein „Wir wissen und wir werden wissen" entgegengehalten und war von Virchow ebenfalls gerügt worden.45 Du Bois-Reymond, Virchow und - mit großen Einschränkungen46 - Haeckel entsprachen ungleich mehr dem „Prototyp des öffentlichkeitsfähigen Wissenschaftlers"47, der fachliche und rhetorische Kompetenz vereinte und publizistische Instrumentarien zu nutzten verstand. 42
43
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Vgl. die exemplarische Zusammenstellung bei Haeckel: Freie Wissenschaft (1878), S. 94-106 und Felix Boenheim (Hg.): Virchow. Werk und Wirkung. Berlin 1957, S. 294-296. Vgl. die kritischen Bemerkungen bei Haeckel: Die Naturanschauung (1882/1902), S. 217-222, S. 272, Anm. 4; Du Bois-Reymond: Darwin (1883/1912), S.247Í. Die Gartenlaube 25 (1877), S. 823-825. Nägeli: Ueber die Schranken (1877), S. 41. Dieser Vortrag, gehalten in der zweiten Allgemeinen Sitzung, d.h. zwischen den Beiträgen Haeckels und Virchows, war kurzfristig verabredet worden, nachdem der ursprüngliche Redner ausgefallen war. Hierzu Kapitel VII.5.b). Lübbe: Wissenschaft (1981), S. 134, hier auf Du Bois-Reymond bezogen.
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Die Personalisierung begünstigte die Polemik und Polarisierung zwischen den Beteiligten. Solche Debattenmuster hatten sich bereits im Materialismusstreit der 1850er Jahre - auf den in den Kapiteln IV.2 und V.4 näher eingegangen wird - abgezeichnet und kehrten nun auf der Ebene spektakulärer Auseinandersetzungen zwischen prominenten Akademikern wieder. Die Protagonisten lieferten genügend Stoff für die Presse, die ihnen ausgiebig sekundierte und wechselseitig „häßlichste Manöver" oder „widerwärtigste Sophisterei und Lüge" 48 unterstellte. Zwar gingen in der Debatte die methodologisch-erkenntnistheoretischen Aspekte nicht unter, sie traten aber hinter plakativen Vereinfachungen zurück. Den HaeckelVirchow-Streit auf ein „Tournier" des „Atheismus der Wissenschaft gegen das Dogma vom Affenmenschen" 49 zu reduzieren, war durchaus typisch. Die Mobilisierung der Öffentlichkeit erreichte auch insofern eine neue Qualität, als sogar der Privatraum von Naturwissenschaftlern nicht verschont blieb. Du Bois-Reymond wurde nach seiner Würdigung Darwins 1883 mit anonymen Schmähbriefen belästigt. Bezeichnenderweise machte Du Bois-Reymond die Agitation des Reichsboten, die in einem Teil der Tagespresse eine „Lawine von Schmähungen" ausgelöst habe, sowie die „Denunziation" durch Stoecker im Preußischen Abgeordnetenhaus dafür mitverantwortlich. 50 Dabei hatten die Debatten im Abgeordnetenhaus eine merkwürdige Trennung von öffentlicher und privater Wissenschaftsmoral aufgezeigt. Ausgerechnet die Kassandrarufe über den Darwinismus paarten sich zum Teil mit Unkenntnis der einschlägigen Texte, zum Teil mit persönlichen Respektbekundungen vor den Ergebnissen der darwinistischen Naturwissenschaft. 51 Das Bewußtsein, öffentliche Wirkung erzielen zu können, ließ die Beteiligten andere Strategien einschlagen. Dazu gehörte die assoziative Verknüpfung von Begriffen oder Metaphern des naturwissenschaftlichen Diskurses mit außerwissenschaftlichen Topoi, die ein ebenso weites semantisches Feld öffneten wie sie als Reizworte in der politischen Debatte instrumentalisierbar waren. Die Darwinismusgegner konstruierten die assoziative Verkettung: Darwinismus-Atheismus-Materialismus-Sozialismus, der
48 49 50 51
Zitate in Kosmos/Weltanschauung II.3 (1878), S. 541 und NuO 24 (1878), S. 493. Neue Evangelische Kirchenzeitung, Nr. 42, 20. Oktober 1877, S. 659, abgedruckt bei Haeckel: Freie Wissenschaft (1878), S. 94. Du Bois-Reymond: Darwin (1883), S. 247f. Vgl. Stenographische Berichte (1879), 31. Sitzung am 17. Januar 1879, S. 682,724; 32. Sitzung am 18. Januar 1879, S. 737,742, von Meyer mit Anerkennung der wissenschaftlichen Leistungen Darwins, Galileis und Haeckels; Stenographische Berichte (1883), 35. Sitzung am 26. Februar 1883, S. 914 (Reichensperger zu seiner Unkenntnis der Darwinschen Schriften), S. 919 (Stoecker, der hier den exakten Forschungen Darwins zum Artbegriff Anerkennung zollt), S. 925 (Windthorst mit Interesse für die darwinistischen Forschungen).
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II. Schule und öffentliche Meinung
pejorative Attribute beigegeben wurden, darunter: gefährlich, unchristlich, demoralisierend, verderblich. Die andere Seite, hier vor allem Haeckel, verband Entwicklungslehre-Freiheit-Vernunft-Tatsache und belegte solche Verbindungen positiv, z.B. als kausal, natürlich und objektiv. Dem wurde die Reihung Ignorabimus-Denunziation-Reaktion-Ultramontanismus als dogmatisch, irrtümlich oder reaktionär entgegengesetzt. Die Bedeutung von semantischen Äquivalenzrelationen und -Oppositionen ist jüngst für die Haeckel-Virchow-Kontroverse dahingehend interpretiert worden, daß diese Debatte durch konkurrierende Mythisierungen überdeterminiert gewesen sei.52 Dies trifft einen wichtigen, noch wenig beachteten Aspekt. Daß es dabei den Kontrahenten primär um den nationalen Mythos, die Ausbildung einer deutschen Wissenschaft gegangen sei, ist indes übertrieben und eindimensional. Zweifellos trat der nationale Gedanke auf den VDNA seit Mitte der 1860er Jahre hervor und erreichte auf der 40. VDNA in Hannover 1865 einen Höhepunkt. Keineswegs aber läßt sich die GDNA auf einen ideologischen Apparat reduzieren, der dazu beigetragen habe, die Naturwissenschaft national zu formieren, um - teleologisch in die Perspektive von 1933 gestellt - den Anfang vom Ende zu markieren. 53 Während Virchows nationale Orientierung kaum zweifelhaft ist, kann eine spezifisch deutsch-nationale Orientierung bei Ernst Haeckel in den 1860er und 1870er Jahre kaum nachgewiesen werden. Gerade Haeckels Betonung der Personen Darwin und Lamarck als Mitbegründer der Entwicklungslehre stehen dem entgegen. Eher würde sich lohnen, Du Bois-Reymonds Reden auf nationale Mythisierungsmuster hin zu untersuchen.54 Im Darwinismus-Streit sind vielmehr divergierende Mythisierungsstrategien zu beobachten. In allen Lagern wurden Bedrohungsszenarien aufgebaut, hier die sogenannte rote Internationale ins Feld geführt, dort die schwarze Verschwörung der Reaktion perhorresziert. Vor allem wurden Einzelpersonen verklärt und zu Symbolfiguren gemacht. Darwin stand im Mittelpunkt, als neuer Kopernikus bei Du Bois-Reymond, oder mit der Wartburg als Symbol der Freiheit im Rücken als zweiter Luther bzw. Melanchthon bei Haeckel. 55 Hermann Müller, der das Biologie-Verbot auslö52 53 54
55
Kolkenbrock-Netz: Wissenschaft (1991). Ebenda, S. 215, S. 236. Vgl. zum internationalistischen Charakter der 50. VDNA in München, auf der Prof. Jolly ausdrücklich ablehnte, von einer deutschen Wissenschaft zu sprechen, die Münchener Neuesten Nachrichten, Nr. 268 vom 25. September 1877, S. 1-3, hier S. 3. Du Bois-Reymond: Darwin (1883); Haeckel: Die Naturanschauung (1882/1902), S. 228f. Vgl. ders.: Anthropogenie (1874), S.XIII; Du-Bois-Reymond: Kulturgeschichte (1877/1912), S. 603. Aus der Sicht Konrad Deublers trat Ernst Haeckel in München wie Luther in Worms auf, siehe Deubler an Haeckel 1.11.1877, nach Dodel-Port (Hg.): Konrad Deubler (1886), S. 182.
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ste, wurde von Ernst Krause, dem Autor der angeblichen Skandalschrift, gern als Opfer für die Schlacht um den Darwinismus dargestellt. Krause malte auch das weit übertriebende Bild vom „Kampf" im Abgeordnetenhaus, der drei Tage lang getobt habe.56 Die vielleicht massivste, sicher aber am längsten nachwirkende Verklärung differenzierter Positionsbestimmungen zugunsten plakativer Verkürzungen betraf das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion. Daß der Darwinismuskonflikt so rasch zugespitzt und in einen politischen Kontext verlagert wurde, trug erheblich dazu bei, die Frage von religiöser und kirchlicher Akzeptanz der modernen Naturwissenschaften zumindest vordergründig auf das Problem der menschlichen Abstammung zu reduzieren und sie auf die Gegnerschaft zu radikalen materialistischen bzw. bei Haeckel zu monistischen Überzeugungen zu konzentrieren. Damit schien der „Geisterkampf" zwischen Naturwissenschaft respektive Darwinismus als „christliche [m] Skandal" und dem religiösem Glauben unausweichlich. Versöhnende Worte wie die des Kultusministers Goßler oder der Liberalen Hänel, Virchow und Lasker erzielten dagegen in der Öffentlichkeit kaum Wirkung.57 Diese reduktionistische Zuspitzung, die in ihrem Kern dualistisch angelegt war, läßt sich als Konfliktparadigma bezeichnen. Es hat in der Metaphorik vom Kampf zwischen Naturwissenschaft und Religion und der zumeist unbefragten Annahme, daß zwischen beiden Bereichen spätestens mit dem Aufkommen des Darwinismus ein grundsätzlich unüberbrückbarer Widerspruch entstanden sei, eine rasche Verbreitung erlebt. Das Konfliktparadigma ist bis heute in der deutschen Historiographie und im kulturellen Bewußtsein tradiert worden, während es im angelsächsischen Raum inzwischen ungleich stärker als ideologisches Konstrukt und als Ergebnis spezifischer Diskussionsverläufe kritisch bewertet wird.58 Das Konfliktparadigma übersieht nicht nur die zeitgenössischen Zwischentöne, sondern verhindert als fixes Interpretationsschema noch immer die Aufarbeitung weithin unbekannter Quellenmaterialien, z.B. aus der kirchlichen apologetischen Literatur und den christlich motivierten Naturwissenschaftlerkreisen. Im Ergebnis bewirkte die Stilisierung des Konflikts zwischen Religion und Entwicklungslehre zum dualistischen Kampf am Ende der 1870er Jah56 57
58
Krause: Prof. Dr. Hermann Müller (1883), S. 399. Stenographische Berichte (1883), 33. Sitzung am 23. Februar 1883, Zitat S.857 Hänel; 35. Sitzung am 26. Februar 1883, Zitat S.919 Stoecker; vgl. ebenda S. 921-925 Virchow und S. 931f. Goßler; Stenographische Berichte (1879), 32. Sitzung am 18. Januar 1879, S. 740-742 Lasker. Vgl. Wilkins: Science (1987), S. 3-6, 37ff., der sich im besonderen mit der Metaphorik des Krieges auseinandersetzt, und die im zweiten Teil der Einleitung angegebene englischsprachige Literatur. Für die deutsche Diskussion siehe Audretsch (Hg.): Die andere Hälfte (1992).
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re, daß die Frage von Darwinismus und Schulunterricht für lange Zeit in eine kaum auflösbare Frontstellung gebracht wurde. Ähnliches bewirkte die politische Kontextualisierung. Daß der Naturwissenschaftlerstreit auf den Aufschwung der Arbeiterbewegung reagierte, war offensichtlich.59 Die sozialistische Partei hatte sich spätestens seit 1875 zum dynamischen Faktor im deutschen Parteiensystem und zu einer nicht mehr wegzudiskutierenden Größe der deutschen Politik und Gesellschaft entwickelt.60 War dies aus konservativer und liberaler Sicht schon bedrohlich genug, so verfolgten beide Gruppen mit Besorgnis auch den realen Schwund ihres Wählerrückhalts.61 Der Versuch Virchows 1877, den Darwinismus als Hypothese zu disqualifizieren und ihn mit dem Ruch einer sozialistischen Ideologie zu behaften, erklärt sich in seiner Schärfe erst aus den Verschiebungen im politischen Kräftefeld. Diese Veränderungen legten es Liberalen ebenso wie Konservativen nahe, jeden Ersatzschauplatz zu nutzen, um das Anwachsen der sozialistischen Bewegung zu verhindern und diese politisch und weltanschaulich zu belasten. Zwar hatten Virchow, Haeckel und andere herausragende Naturwissenschaftler noch ein Jahrzehnt zuvor die „Universalisierung der naturwissenschaftlichen Rationalität"62 gefordert, solche Postulate mußten aber jetzt hinter den übergeordneten Konfliktlagen zurückstehen.
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60 61
62
Darauf haben Kurt Bayertz und Ted Benton nachdrücklich hingewiesen, siehe Bayertz: Darwinismus (1983), ders.: Siege (1987), S. 176-179; Benton: Social Darwinism (1982), S. 98ff. 1875 hatten sich in Gotha die beiden sozialistischen Parteien, der ADAV und die Sozialistische Deutschen Arbeiterpartei, vereinigt. Daß das Gothaer Programm eine Festlegung auf marxistische Überzeugungen vermied, war weniger wichtiger als die organisatorische und personelle Festigung, die das sozialistische Milieu durch die neue Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands erlebte und deren Impulse auch während der gouvernementalen Unterdrückung seit 1878 nicht mehr ausgelöscht werden konnten. Hatten die Sozialisten bei der Reichstagswahl 1871 nur 3,2% der Stimmen, d.h. zwei Mandate, erreicht, so stieg ihr Anteil 1874 auf 6,8% und neun Mandate, 1877 auf 9,1% und 12 Mandate, ein Erfolg, der wegen der restriktiven Maßnahmen in Folge des Sozialistengesetzes allerdings erst 1884 wieder übertroffen wurde; siehe Ritter: Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch (1980), S. 38f. Vgl. Gerhard A. Ritter: Die Sozialdemokratie im Deutschen Kaiserreich in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: ders.: Arbeiter (1996), S. 183-226. Der Stimmen- bzw. Mandatsanteil der Fortschrittspartei sank bei den Reichstagswahlen von 8,8% (46 Mandate) 1871 über 8,6% (49 Mandate) 1874 auf 7,7% (35 Mandate) 1877 und 6,7% (26 Mandate) 1878; bis 1877 erlebten auch die Konservativen Schwankungen mit einem Tiefstand bei Stimmen und Mandaten 1874 (6,9% und 22 Mandate), wobei auf die Freikonservativen 7,2% und 33 Mandate entfielen, während die Nationalliberale Partei von 30,1% der Stimmen und 125 Mandaten im Jahr der Reichsgründung sukzessive bis auf 14,7% und 47 Mandate 1881 zurückging; siehe Ritter: Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch (1980), S. 38f. Bayertz: Darwinismus (1983), S. 279.
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Die Parteinahmen im Streit um Darwinismus und Biologie-Unterricht waren infolgedessen auch erheblich durch situative Motive und taktische Manöver geprägt, so bei der heftigen Reaktion der Katholiken auf Hermann Müller, mit dem sie den Kulturkampfminister Falk treffen wollten, und bei Virchows wechselnder Akzentsetzung. 1877 forderte Virchow in der etatistischen Tradition des deutschen Liberalismus indirekt den Staat zur Eindämmung des Darwinismus auf. Minister Falk, den er im Kulturkampf unterstützt hatte, sandte er ein Exemplar seiner Münchener Rede und erhielt persönlichen Dank. Virchows antisozialistische Stoßrichtung und das Plädoyer, in der Wissenschaft „die rechte, die conservative Seite"63 gegen das Dogma zu stärken, entsprach ganz der linksliberalen Parteilinie, in der Mitte Boden gut zu machen und sich nach links scharf abzugrenzen.64 Warnte Virchow 1879 vor einer zu weiten Benutzung der Freiheit, so klagte er 1883 gegen die Konservativen gerichtet die Freiheit der Wissenschaft ein. Diese sei in der darwinistischen Sache an der Berliner Universität dadurch gewährt, daß die Studenten sowohl ihn als auch den darwinistisch inspirierten Kollegen Du Bois-Reymond hören könnten. 65 Die Betonung der Grenzen des Naturerkennens erscheint damit rückblickend auch als kulturpolitische Strategie. Sie erlaubte den führenden Berliner Naturwissenschaftlern, ihre Loyalität gegenüber dem Staat, der aus der Perspektive aller Kontrahenten die Rationalität der naturwissenschaftlichen Methode akzeptieren sollte, zu signalisieren.66 Die außerwissenschaftlichen Bedeutungen des Haeckel-Virchow-Streits führten dazu, weltanschauliche Koalitionen zu bilden und zu wechseln, je nachdem, in welche Richtung die öffentliche Meinungsbildung beeinflußt werden sollte. Konservative und Zentrum schlössen zwischen 1878 und 1883 trotz der Kulturkampferfahrung den ,Münchener' Virchow in ihre Reihen. 67 Der zog wiederum gegen inquisitorisches Vorgehen und konservative Staatsaufsicht zu Felde. Während Virchow versuchte, Haeckel in die Nähe des Sozialismus zu rücken, distanzierte sich Bebel von beiden. Galt lange Du Bois-Reymond als erster Gegner Haeckels, so geriet er in der Pu63 64
65
66 67
Virchow: Die Freiheit (1877), S. 24. Fortschrittsführer Eugen Richter hatte angesichts des Stimmen- bzw. Mandatsrückgangs in Preußen wie im Reichstag im Mai 1877 als Hauptziel ausgegeben, die Sozialdemokratie als den allen gemeinsamen Gegner zu besiegen, siehe Eugen Richter: Die Fortschrittspartei und die Sozialdemokratie. Berlin 1878, S. 31; ders.: Die Sozialdemokraten, was sie wollen und wie sie wirken. Berlin 1878. Stenographische Berichte (1883), 35. Sitzung am 26. Februar 1883, S. 922f. Zutreffend bemerkt Vasold: Virchow (1990), S.309, daß Virchows Stellungnahmen zum Darwinismus stark von der jeweiligen Diskussionssituation bestimmt waren. Bayertz: Darwinismus (1983), Vidoni: Ignorabimus (1991), S. 151ff. Vgl. auch Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969), S. 83f.
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II. Schule und öffentliche Meinung
blizistik zu dessen Bundesgenossen, als er sich nach 1880 für den Darwinismus aussprach. Umgekehrt fanden sich Du Bois-Reymond und Haeckel in einer Front gegen Stoecker wieder, während die Presse 1883 von der „vereinigte [n] Angriffskolonne Windthorst-Stöcker" 68 sprach. Und Haeckel versäumte nicht, den Virchow der 1880er Jahre als Mitstreiter für den Darwinismus zu loben.69 Im ganzen bedeutete es eine erhebliche Doppelbelastung für die Verbreitung des Darwinismus in Deutschland, daß er zum einen hochgradig politisch und weltanschaulich aufgeladen und mit Negativattributen besetzt wurde, zum anderen mit Haeckel einen Anwalt fand, welcher der Kritik eine heftige Anti-Polemik entgegensetzte. Solche Effekte ergaben sich nicht nur aus den Intentionen der Beteiligten, sie resultierten auch aus den skizzierten Mechanismen der Präsentationsprozesse in der Öffentlichkeit. Die beschriebenen Prozesse überführten die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse unweigerlich auf eine konflikthafte, metawisssenschaftliche Ebene. Diskursive Rationalität und sachliche Überprüfung wurden hier als ideelle Leitwerte weitgehend außer Kraft gesetzt, Mythisierungen hingegen begünstigt. Eine solche Bewertung bedeutet nicht, der längst als fiktiv erkannten Trennung einer puren Wissensproduktion vom gesellschaftlichen Kontext das Wort zu reden. Vielmehr zeigt sich, wie stark Wissenschaft und Öffentlichkeit in intermediären Kommunikationsräumen aufeinander bezogen waren. Die Öffentlichkeit erlebte in der Frage des Darwinismus einen eigendynamischen und von gesellschaftlichen Koordinaten bestimmten Diskurs, der zudem in der Polarisierung von naturwissenschaftlichem Denken und kirchlicher Religiosität eine griffige Kampfmetaphorik begünstigte. Die Auseinandersetzungen der Jahre 1872 bis 1883 trugen außerdem erheblich dazu bei, den zeitgenössischen Begriff der Popularität von Wissenschaft in seinen problematischen Zügen zu verhärten. Bezeichnend ist die Stellungnahme des Abgeordneten Cramer im Preußischen Abgeordnetenhaus 1883. Für ihn reduzierte sich unter Beifall von rechts der Darwinismusstreit darauf, „denjenigen Bestrebungen entgegenzutreten, welche eine Wissenschaft, die keine ist, bereits zu popularisiren bestimmt sind, und nun Ideen ins Volk werfen, die dort nicht verstanden werden" 70 . Der Ausschluß der Biologie von den oberen Schulklassen wirkte aber gemessen an der von Cramer vorgegebenen Zielsetzung geradezu kontraproduktiv. Er begünstigte eher die Verbreitung publizistischer Informationsangebote über die Entwicklungslehre, trug allerdings gleichzeitig da68
69 70
Der Bildungs-Verein 13 (1883), Nr. 10 v. 7.3.1883 (Zitat); Haeckel: Die Naturanschauung (1882/1902), S. 267, 276, Anm. 18; Du Bois-Reymond: Darwin (1883/1912), S. 247. Haeckel: Die Naturanschauung (1882/1902), S. 222. Stenographische Berichte (1883), 33. Sitzung am 23. Februar 1883, S. 858.
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zu bei, die Anhänger des Darwinismus zu stigmatisieren und aus dem etablierten Bildungssystem auszugrenzen. Alfred Kelly hat diese Ambivalenz treffend beschrieben: Der Ausschluß des Darwinismus von den Schulen während der Phase seiner größten Bedeutung war für den Charakter und die Wirkung des populären Darwinismus von entscheidender Bedeutung. Indem die Schulen die darwinistische Lehre im Klassenraum ignorierten, bestärkten sie offiziell den Außenseiterstatus der Popularisierer. Dieser Ausschluß schuf ein riesiges Vakuum, das nun die Popularisierer ausfüllen konnten. Als Verteiler einer verbotenen Frucht gewannen sie zusätzlichen Einfluß, den sie sonst gerade nicht gehabt hätten. Der Außenseiterstatus verstärkte die Spannung zwischen den Popularisierern und der etablierten Gesellschaft. 71 Noch 1902 wurde die Wiedereinführung des Biologie-Unterrichts im Preußischen Abgeordnetenhaus damit begründet, daß es besser sei, von einem „wissenschaftlichen Lehrer" unterrichtet zu werden, „als daß der Drang der Jugend sich irgend welchen ,populären' Darstellungen" zuwende.72 Im gleichen Tenor und mit der gleichen Disqualifizierung populärer Schriften hatte Friedrich Ahlborn ein Jahr zuvor die Notwendigkeit des Biologie-Unterrichts an den höheren Schulen begründet. 73
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So Kelly: Descent (1981), S. 74. Vgl. Wettstein: Die Biologie (1913), S. 22Iff. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten (1902), 46. Sitzung am 13. März 1902, S.3135 (Abg. Friedberg). Ahlborn: Die gegenwärtige Lage (1901/1902), S. 275.
III. Vereine, Vorträge und Feste Wenn man Popularisierung nicht auf den Vorgang einseitiger Informationsvermittlung reduziert, sondern als mehrdeutigen Kommunikationszusammenhang versteht, in dem Prozesse der Präsentation, Transformation und Rezeption von Wissen sich überlagern und gegenseitig beeinflussen können, dann kommt dem Vereinswesen eine zentrale Rolle zu. Der Verein bot für dieses Wechselspiel im 19. Jahrhundert ein geradezu ideales Forum. Das Vereinswesen trug im Zuge der ständischen Dekorporationsprozesse entscheidend dazu bei, die entstehende bürgerlichen Gesellschaft zu organisieren und zu mobilisieren.1 Die vereinsmäßige Organisation erlaubte es, den kulturellen Werthaltungen des Bürgertums - vor allem dessem Interesse an Geselligkeit, Bildung, kritischem Austausch und Selbstbetätigung - eine feste Grundlage zu schaffen. Der Verein führte die Bürger, in eingeschränktem Maße auch Bürgerinnen, in einem freiheitlichem Miteinander zusammen. In dem Maße wie sich das Vereinswesen ausbreitete, konnte das Bürgertum nicht nur Formen der Vergesellschaftung entwickeln, sondern auch das prekäre Gleichgewicht von zunehmend individueller Interessenfindung und neuer sozialer Gruppenidentität immer wieder neu aushandeln. Allerdings setzte die anhaltende Diskriminierung von Frauen einer gleichberechtigten Vergesellschaftung deutliche Grenzen - das bürgerliche Vereinswesen und die von ihm konstituierte Öffentlichkeit war männerdominiert und entlang von auseinanderstrebenden Geschlechterrollen strukturiert.2 1
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Nipperdey: Verein (1972/1976). Vgl. als Überblicke Kratzsch: Die Entfaltung (1979), Otto Dann: Vereinsbildung (1993), ders. (Hg.): Vereinswesen (1984), darin die Beiträge von Hardtwig: Strukturmerkmale (1984) und Tenfelde: Die Entfaltung (1984); François (Dir.): Sociabilité (1986), Hardtwig: Verein (1990) und jetzt ders.: Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Band I: Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution. München 1997. Zusammenfassend Gall: Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft (1993), S. 67-71,112-115. Aus soziologischer Sicht Best (Hg.): Vereine (1993),Tenbruck: Die kulturellen Grundlagen (1989), S. 215-226; H.-Jörg Siewert: Zur Thematisierung des Vereinswesens in der deutschen Soziologie, in: Dann: (Hg.): Vereinswesen (1984), S. 151-180. In volkskundlicher Perspektive Albrecht Lehmann: Zur volkskundlichen Vereinsforschung, in: Dann (Hg.): Vereinswesen (1984), S. 133-149; Hans-Friedrich Foltin/Dieter Kramer (Hg.): Vereinsforschung. Gießen 1983, darin insbesondere den Aufsatz von Foltin: Geschichte und Perspektiven der Vereinsforschung, S. 3-31; Broo: Arbeiter- und Volksbildungswesen (1989). Hervorragend zur Geschlechterdifferenzierung der Öffentlichkeit und des Vereinswesens für England Leonore Davidoff/Catherine Hall: Family Fortunes. Men and Women of the English Middle Class, 1780-1850. Paperback Edition, Chicago 1991, S. 310, 416-449. Vgl. Eley: Nations (1992), S.311f. und Secord: Science
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III. Vereine, Vorträge und Feste
Der Zusammenschluß in Vereinen ermöglichte es den Bürgern, d.h. also primär: den Männern, seit dem 18. Jahrhundert auch, ihren Bedürfnissen nach naturkundlicher Betätigung und wissenschaftlichem Austausch nachzukommen. Die ersten europäischen und deutschen Akademien waren noch elitäre Gelehrtenkorporationen gewesen.3 Die nachfolgenden Aufklärungsgesellschaften, 4 voran die patriotischen, ökonomischen und landwirtschaftlichen Sozietäten - etwa in Leipzig seit 1763, in Celle seit 1764 oder in Hamburg seit 1765 - lockerten nicht nur die sozialen und akademischen Anforderungen, sondern boten auch Einlaß für die praktische Alltagserfahrung und den im lokalen Bereich geschulten bürgerlichen Sachverstand. Wissen transparent und austauschbar zu machen, es im privaten Rahmen zu kultivieren, um dadurch erst das Entstehen einer von der überlieferten Ordnung unterschiedenen bürgerlichen Öffentlichkeit zu ermöglichen - dieser von Jürgen Habermas profilierte Strukturwandel der Öffentlichkeit zur bürgerlichen Gesellschaft wurde in den folgenden Jahrzehnten maßgeblich durch den Aufschwung der Lesegesellschaften gefördert. 5 Sie trugen erheblich zu jenem Fundamentalprozeß der Verselbständigung von Wissenschaft und Kultur als autonomen Sphären bei, der spätestens seit 1800 unaufhaltsam war. Nach der Blütezeit von patriotischen und Lesegesellschaften differenzierte sich das Vereinswesen in einer zuvor unbekannten Breite. Es verlieh nun allen Verästelungen der bürgerlichen Interessen eine eigene organisatorische Basis, und das Interesse für die Naturwissenschaften wurde zu einem wichtigen Bestandteil. 6 Bis in das Kaiserreich hinein sollte sich auf allen sozialen, geographischen und politischen Ebenen, im Berufsleben nicht
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(1994), S. 282f. Sobania: Vereinsleben (1996), S. 182 verkennt die strukturelle Problematik. Zur Spannung zwischen dem universalen Anspruch des bürgerlichen Vereinswesens und seinen exklusiven Tendenzen auch Blackbourn: Kommentar (1987), S. 284. Ludwig Hammermayer: Akademiebewegung und Wissenschaftsorganisation. Formen, Tendenzen und Wandel in Europa während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa. Wissenschaftliche Gesellschaften, Akademien und Hochschulen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Hg. v. Erik Amburger et al. Berlin 1976, S. 1-84; Voss: Akademien (1986), S. 149-152. Vgl. Richard van Dülmen: Die Aufklärungsgesellschaften in Deutschland als Forschungsproblem, in: Francia 5 (1977), S. 251-275; Lowood: Patriotism (1991), Helmut Reinalter (Hg.): Aufklärungsgesellschaften. Frankfurt/M. et al. 1993. Habermas: Strukturwandel (1962/1993), S. 54ff. Vgl. die an Habermas orientierte scharfe Analyse bei Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, I (1989), S. 326-331; ders.: Deutsche Gesellschaftgeschichte, II (1989), S. 540-546 zum Typus der frühliberalen Öffentlichkeit sowie Dann: Die Lesegesellschaften (1989) und Raffler: Bürgerliche Lesekultur (1993), hier auch S. 30-56 ein guter Überblick zur bisherigen Forschung. Als solcher ist das naturkundliche Vereinswesen indes von der allgemeinhistorischen Forschung kaum gewürdigt worden.
III. Vereine, Vorträge und Feste
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weniger als im Freizeitbereich, ein dichtes Netz von Vereinen ausbreiten. Es band den Einzelnen nicht selten in mehrere identitätsstiftende Gruppenzusammenhänge ein. Das Vereinswesen bot dem Individuum zumindest idealtypisch die Chance, das neue, bürgerliche Selbstbewußtsein als selbstbestimmte Persönlichkeit in frei gewählter Gemeinschaft und nicht selten als Mitglied verschiedener Vereine zu demonstrieren. Das 19. Jahrhundert war in solchen Wechselwirkungen ein „vereinsseliges Säkulum" 7 . Nicht zuletzt bildeten die Vereine einen institutionellen Rahmen, in dem sowohl das Vortragswesens als auch viele Festlichkeiten aufblühen konnten. Zum einen wurden in den Vereinen Vorträge gehalten, dies gehörte häufig zu den Vereinszwecken. Auch wurden Vereine ausdrücklich ins Leben gerufen, um Vorträge zu veranstalten, so durch den Staatswissenschaftler und Historiker Friedrich von Raumer, der 1841 in Berlin den Verein für wissenschaftliche Vorträge gründete. 8 Seit 1871, dann vor allem seit 1890, folgten auch im naturkundlichen Bereich zahlreiche andere Vortragsgesellschaften. Zum anderen feierten die Vereinsmitglieder gemeinsam, z.B. anläßlich von Gründungsjubiläen oder zur gesondert anberaumten Geselligkeit. Auch zum Feiern und zur Organisation von Festen wurden Vereine gegründet. Gerade im semipolitischen Raum entwickelte sich in einer Mischung aus kompensatorischer Funktion und emanzipatorischer Absicht eine eigene bürgerliche Festkultur, die in den meisten Fällen auf vereinsmäßigen oder vereinsähnlichen Zusammenschlüssen beruhte. 9 Welche Rolle spielten in diesem „Jahrhundert der Vereine" 10 die naturkundlichen Gesellschaften? Auf welche Weise kam das naturwissenschaftliche Bildungsgut im Vereinswesen zur Geltung? Welche Bedeutung erlangten dabei die Forderung nach Popularität und die Orientierung an der Öffentlichkeit außerhalb des Vereins? Wie organisierten Naturwissenschaftler Bildungsvorträge, wo und wie präsentierten sie sich mit eigenen Festen? Wenn Verein, Vortrag und Fest zum lebendigen Repertoire bürgerlichen Lebens im 19. Jahrhundert gehörten - wie wurden sie dann von den bürgerlichen Naturwissenschaftlern genutzt? Welchen Beitrag konnte die naturkundliche Bildungsarbeit im Rahmen des Vereins- und Vortragswesens und innerhalb der Festkultur leisten? Diese Fragen werden im folgenden an den Bereich der naturkundlichen Vereine, an die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, an die Bewegung der Humboldt-Vereine, die 1859 entstand, und an die natur7 8 9
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Langewiesche: Liberalismus (1988), S. 111. Raumer: Rede (1841/1979), ders.: Literarischer Nachlaß, I (1869), S.9-11. Vgl. Röhrig: Erwachsenenbildung (1987), S. 347,351t Vgl. Düding/Triedemann/Münch (Hg.): Öffentliche Festkultur (1988), Hettling/Nolte (Hg.): Bürgerliche Feste (1993), Tacke: Denkmal (1995) und exemplarisch für einen lokalen Bereich Katrin Keller (Hg.): Feste und Feiern. Zum Wandel städtischer Festkultur in Leipzig. Leipzig 1994. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866 (1985), S.267.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
kundlichen Volksbildungsinstitutionen herangetragen. Dabei wird zu beobachten sein, wie die naturkundliche Bildungsarbeit eigene Organisations- und Ausdrucksformen hervorbrachte. Das Popularisierungsanliegen verselbständigte sich zum Teil innerhalb des bestehenden Vereinswesens, zum Teil durch eine erneute funktionale und sachliche Ausdifferenzierung, die zur Bildung neuer Vereinstypen führte. Die Humboldt-Vereine und die naturwissenschaftlichen Volksbildungsinstitutionen nach 1888 veranschaulichen mit ganz unterschiedlichem Erfolg diesen Ausdifferenzierungsprozeß. Er stellt nicht weniger als die Ausbreitung der Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert eine „Aufklärungsbewegung ,von unten'" 11 dar. Betrachtet man das naturkundliche Vereinswesen als integralen Bestandteil der bürgerlichen Kultur, dann wird auch verständlich, wie diese Vereine sich immer wieder für politische, weltanschauliche und kulturelle Diskurse ihrer Zeit öffneten. Sie knüpften damit an eine Entwicklung an, in der das Vereinswesen politisch sensibilisiert und funktionalisiert'wurde. Dieser Prozeß begann bei den Geheimgesellschaften, den Freimaurern und aufklärerischen Vereinen des 18. Jahrhunderts,12 führte über die studentischen Vereinigungen im Zuge der jugendlichen Politisierung um 180013 und die ersten Arbeitervereine und politischen Gruppierungen in Vormärz, Revolution und Reichsgründungszeit14 und sollte schließlich in den Weltanschauungsvereinigungen der Jahrhundertwende kulminieren. Auf die naturkundlichen Weltanschauungsvereine im engeren Sinne wird dann das IV. Kapitel näher eingehen.
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Dann: Die Lesegesellschaften (1989), S. 116. Koselleck: Kritik und Krise (1959/1989), Helmut Reinalter (Hg.): Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa. Frankfurt/M. 1983; Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, I (1989), S. 317-331. Wolfgang Hardtwig: Studentenschaft und Aufklärung: Landsmannschaften und Studentenorden in Deutschland im 18. Jahrhundert, in: François (Dir.): Sociabilité (1986), S. 239-269; ders.: Zivilisierung und Politisierung. Die studentische Reformbewegung 1750-1818, und ders.: Studentische Mentalität - Politische Jugendbewegung - Nationalismus. Die Anfänge der deutschen Burschenschaft, in: ders.: Nationalismus (1994), S. 79-107,108-148. Vgl. Dann: Nation (1993), S. 601,86-93,117f., 137ff.; Düding: Die deutsche Nationalbewegung (1991); Dietmar Klenke: Zwischen nationalkriegerischem Gemeinschaftsideal und bürgerlich-ziviler Modernität. Zum Vereinsnationalismus der Sänger, Schützen und Turner im Deutschen Kaiserreich, in: G W U 45 (1994), S. 207-223; Siemann: Vom Staatenbund (1995), S. 225-249.
1. Naturvereine und Vereinsnatur
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1. Naturvereine und Vereinsnatur „Wissenschaft und Kraft und Wahrheit Und ein freies Forschertum, Freien Geistes freie Klarheit, Das sei unser schönster Ruhm! Mögen diese höchsten Güter Nie verlieren ihren Schein, Und ihr treuer, fester Hüter Sei der unsre, der Verein !" Festlied zum 50. Jubiläum des Naturwissenschaftlichen Vereins Hamburg 1887, zitiert nach Herbert Freudenthal: Vereine in Hamburg. [...] Hamburg 1968, S. 532.
Aus der deutschen Vereinslandschaft erwuchs zwischen 1848 und 1914 eine erstaunliche Vielfalt an Organisationen, zu deren Hauptanliegen es gehörte, sich mit Naturphänomenen zu beschäftigen: Naturkundliche Gesellschaften und Naturfreunde-Vereine, geographische Gesellschaften und Vereine für Erdkunde 1 , technische, medizinische und homöopathische Vereine, Gesundheitsvereine, touristische Vereine und Alpenvereine, Vogelzucht- und Tierschutzvereine (erstmals 1837 in Deutschland) 2 , Naturschutzgruppen 3 , Aquarienfreunde und sogenannte Liebhabervereine gehören gleichermaßen dazu wie Fachgesellschaften4 und Wissenschaftlervereinigungen. Das aufgeführte Spektrum weist beträchtliche Unterschiede im personellen, sozialen und fachlichen Profil der Vereine auf, die durchaus gegenläufige Orientierungen vertraten - hier auf das Naturerleben im Alltag und auf Reisen hin, dort auf professionelle Standesvertretung und forscherliche Tätigkeit ausgerichtet. Trotzdem kann dieses Feld nicht mit scharfen Schnitten unterteilt werden und ist quantitativ ohnehin schwer abzuschätzen. Die Aktivitäten der diversen Vereine wiesen zudem manche Überschneidungen und Ähnlichkeiten auf: Die Demonstration neuer rationeller Düngemethoden mochte im Vormärz das Versammlungsthema eines polytechnischen Vereins5 und zugleich der Diskussionsgegenstand ei1
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Vereine für Erdkunde entstanden in rascher Folge seit der Reichsgründung. Auch diese Gruppe soll im folgenden ausgeklammert bleiben, bietet aber ein lohnenswertes Feld für weiterführende Untersuchungen, gerade weil hier naturwissenschaftliche, völkerkundliche, anthropologische und kultursoziologische Interessen des 19. Jahrhunderts zusammenfließen. Sauer: Über die Geschichte (1983), S. 38-40 und Miriam Zerbel: Tierschutz im Kaiserreich. Ein Beitrag zur Geschichte des Vereinswesens. Frankfurt/M. 1993. Vgl. Knaut: Zurück zur Natur (1993). Hierzu Pfetsch: Zur Entwicklung (1974), S. 299,310f. Vgl. Stefan Fisch: Polytechnische Vereine im ,Agriculturstaat' Bayern bis 1850, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 49,2 (1986), S. 539-577. Auf den Verband Deutscher Ingenieure, den Verband der Eisenhüttenleute und die Elektro-
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III. Vereine, Vorträge und Feste
ner geologischen Gesellschaft sein; der Vortrag eines Afrikaforschers fand in den Bismarckjahren ebenso im Rahmen einer geographischen Gesellschaft statt wie vor Naturhistorikern; die Bergexkursion konnte im späten Kaiserreich sowohl von einem botanischen Verein organisiert werden als auch von der proletarischen Naturfreunde-Bewegung, die 1895 als touristischer Verein in der Wiener Arbeiterschaft entstand und seit 1905 auf Deutschland übergriff.6 Bereits aus arbeitsökonomischen Gründen ist es notwendig, sich auf einen angemessenen Ausschnitt dieses schillernden Spektrums zu konzentrieren. Bei allen Grenzdurchlässigkeiten soll die Gruppe der naturkundlichen, naturforschenden und naturwissenschaftlichen Vereine und mit ihr die Untergruppen der klassischen Naturgeschichte als ein gewisser Normaltypus gesetzt werden.7 Auf dieser Basis listet Tabelle 2 die Naturvereine auf, die zwischen 1743 und 1913 in Deutschland entstanden, und läßt so die langfristigen Konjunkturen im naturkundlichen Vereinswesen erkennen.8
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techniker konzentriert sich Peter Lundgreen: Technisch-wissenschaftliche Vereine zwischen Wissenschaft, Staat und Industrie, 1860-1914: Umrisse eines Forschungsfeldes, in: Technikgeschichte 46 (1979), S. 181-191. Vgl. Zimmer (Hg.): Mit uns (1984), S. 12-17,31ff„ 67-75; Hartmut Wunderer: Naturfreundebewegung, in: Wolfgang Ruppert (Hg.): Die Arbeiter. Lebensformen, Alltag und Kultur von der Frühindustrialisierung bis zum „Wirtschaftswunder". München 1986, S. 340-344. Eine vergleichbare Auswahl ist auch von den beiden einzigen allgemeinhistorischen Untersuchungen zum naturkundlichen Vereinswesen vorgenommen worden, siehe Siefert: Das naturwissenschaftliche und medizinische Vereinswesen (1967) und Strube: Naturwissenschaftliche Gesellschaften (1979). Die Tabelle bietet die erste Zusammenstellung solcher Art, gestützt auf veröffentlichte und unveröffentlichte Quellen, kann aber auch in dieser Form keinen Anspruch auf Vollständigkeit und letzte chronologische Sicherheit erheben. Jede Analyse des Vereinswesens steht vor dem Problem, zuverlässige Angaben von Gründungsjahren, Lebensdauer, Abspaltungen, Wiedervereinigungen etc. von Vereinen zu ermitteln. Aufgeführt sind Gründungsjahr und -name in der originalen Schreibweise, in einigen Fällen auch spätere Umbenennungen.
1. Naturvereine und Vereinsnatur
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Tabelle 2: Naturkundliche Vereine in Deutschland seit 1743 (nach Gründungsjahren) 1743-1799 1743 1773 1779 1779 1789 1789 1790 1793 1793 1797 1798 1800-1809 1800 1801 1801 1803 1804 1805 1808 1808 1810-1819 1811 1814 1816 1816 1817 1817 1818 1818 1818 1818 1820-1829 1821 1821 1823 1824 1828 1829
=11 Danzig: Naturforschende Gesellschaft Berlin: Gesellschaft naturforschender Freunde Halle/S.: Naturforschende Gesellschaft Görlitz: Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften Leipzig: Linneische Societät Königsberg: Königliche Physikalisch-Oekonomische Gesellschaft Regensburg: Königlich bayerische botanische Gesellschaft Jena: Naturforschende Gesellschaft Brockhausen bei Unna: Gesellschaft naturforschender Freunde Westphalens Hannover: Naturhistorische Gesellschaft Jena: Societät für die gesammte Mineralogie =8 Rostock: Mecklenburgische naturforschende Gesellschaft Nürnberg: Naturhistorische Gesellschaft Stuttgart: Vaterländische Gesellschaft der Aerzte und Naturforscher Schwabens Breslau: Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie in Schlesien Altenburg: Botanische Gesellschaft Donaueschingen: Verein für Geschichte und Naturgeschichte Hanau: Wetterauische Gesellschaft für die gesammte Naturkunde Erlangen: Physikalisch-medizinische Sozietät =10 Görlitz: Ornithologische Gesellschaft (seit 1823: Naturforschende Gesellschaft) Emden: Naturforschende Gesellschaft (anfänglich als: Natuurkundig Genootschap) Dresden: Gesellschaft für Mineralogie Marburg: Gesellschaft zur Beförderung der gesammten Naturwissenschaften Altenburg: Naturforschende Gesellschaft des Osterlandes Frankfurt/M.: Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft Dresden: Gesellschaft für Natur- und Heilkunde Bonn: Botanischer Verein am Mittel- und Niederrheine (ging über in: Bonn 1843) Bonn: Niederrheinische Gesellschaft für Natur- und Heilkunde Leipzig: Naturforschende Gesellschaft =6 Freiburg i.B.: Gesellschaft zur Beförderung der Naturwissenschaften, später: Naturforschende Gesellschaft Halle/S.: Wissenschaftlicher Verein zur Verbreitung von Naturkenntnis und höherer Wahrheit Görlitz: Naturforschende Gesellschaft (aus Görlitz 1811) Frankfurt/M.: Physikalischer Verein Dresden: Flora, Gesellschaft für Botanik und Gartenbau Wiesbaden: Verein für Naturkunde im Herzogthum Nassau
92 1830-1839 1831 1833 1833 1833/34 1834 1834 1835 1836 1837 1837 1837 1837 1839 1840-1849 1840 1840 1840 1841 1842 1843 1843 1844 1844 1844 1844 1845 1845 1845 1846 1846 1846 1847 1847 1847 1848 1848 1849 1849
III. Vereine, Vorträge und Feste =13 Blankenburg/Harz: Naturwissenschaftlicher Verein des Harzes Gießen: Oberhessische Gesellschaft für Natur- und Heilkunde (reorganisiert 1846) Mannheim: Verein für Naturkunde Dresden: Verein zur Beförderung der Naturkunde, seit 1835: Naturwissenschaftliche Gesellschaft Isis Mainz: Rheinische Naturforschende Gesellschaft Bamberg: Naturforschende Gesellschaft Detmold: Naturwissenschaftlicher Verein für das Fürstenthum Lippe Kassel: Verein für Naturkunde Hamburg: Naturwissenschaftlicher Verein Jena: Entomologischer Verein für Thüringen, seit 1841: Lepidopterologischer Tauschverein Posen: Naturwissenschaftlicher Verein Stettin: Entomologischer Verein Dessau: Naturhistorischer Verein für Anhalt = 24 Erfurt: Gesellschaft für wissenschaftliche Unterhaltung Karlsruhe: Verein für naturwissenschaftliche Mittheilungen (später: Karlsruhe 1862, neu begründet 1892) Dürkheim a.H.: Pollichia. Naturwissenschaftlicher Verein für die bayerische Pfalz, später: Rheinpfalz Wernigerode a.H.: Wissenschaftlicher Verein Erfurt: Naturwissenschaftlicher Verein für Thüringen Bonn: Naturhistorischer Verein für die preussischen Rheinlande (später: und Westfalens) Dresden: Naturwissenschaftliche Gesellschaft Darmstadt: Naturhistorischer Verein für das Grossherzogtum Hessen und Umgebung Hamburg: Naturwissenschaftliche Gesellschaft (1864 vereint mit: Hamburg 1837) Königsberg: Verein für die Fauna der Provinz Preussen Stuttgart: Verein die vaterländische Naturkunde Bautzen: Isis. Gesellschaft für allgemeine und spezielle Naturkunde Meissen: Isis. Verein für Naturkunde Landshut: Mineralogischer Verein Augsburg: Naturhistorischer Verein (ab 1887: Naturwissenschaftlicher Verein für Schwaben und Neuburg) Elberfeld: Naturwissenschaftlicher Verein Verein Elberfeld und Barmen, später: Naturwissenschaftlicher Verein in Elberfeld (vgl. Elberfeld 1878) Regensburg: Zoologisch-Mineralogischer Verein (seit 1883: Naturwissenschaftlicher Verein) Breslau: Verein für Schlesische Insektenkunde Güstrow (Goldberg): Verein der Freunde der Naturgeschichte in Mecklenburg München: Verein für Naturkunde Clausthal: Naturwissenschaftlicher Verein Maj a Halle/S.: Naturwissenschaftlicher Verein (seit 1852: Naturwissenschaftlicher Verein für die Provinz Sachsen und Thüringen) Groß-Schönau: Naturwissenschaftliche Gesellschaft Saxonia Würzburg: Physikalisch-Medizinische Gesellschaft
1. Naturvereine und Vereinsnatur 1850-1859 1850 1851 1851 1851 1852 1852 1853 1855 1855 1856 1856 1857 1857 1858 1858 1858 1859 1859 1859 1859 1859 1859 1860-1869 1861 1862 1862 1862 1862 1862 1862 1862 1863 1863 1863 1864 1864 1864 1864 1864 1865 1865
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= 22 Breslau: Academischer naturwissenschaftlicher Verein Darmstadt: Mittelrheinischer geologischer Verein Koblenz: Naturwissenschaftlicher Verein Lüneburg: Naturwissenschaftlicher Verein für das Fürstentum Lüneburg Halle/S.: Naturwissenschaftlicher Verein für die Provinz Sachsen und Thüringen (aus Halle/S. 1848) Münster/W.: Vereinigung von Freunden der Naturwissenschaften Jena: Medicinisch-naturwissenschaftliche Gesellschaft Osterode/Harz: Naturwissenschaftlicher Verein Kiel: Verein zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse nördlich der Elbe (ab 1872: Naturwissenschaftlicher Verein für Schleswig-Holstein) Berlin: Entomologischer Verein (ab 1881: Deutsche Entomologische Gesellschaft) Heidelberg: Naturhistorisch-Medicinischer Verein Gera: Gesellschaft von Freunden der Naturwissenschaftlichen Passau: Naturhistorischer Verein Köln: Naturwissenschaftücher Verein Frankfurt/M.: Mikroskopischer Verein Krefeld: Naturwissenschaftlicher Verein (bis 1861: Naturwissenschaftliches Kränzchen) Chemnitz: Naturwissenschaftlicher Leseverein, später: Naturwissenschaftliche Gesellschaft Colmar: Société d'histoire naturelle (Naturwissenschaftücher Verein) Frankfurt/M.: Verein für naturwissenschaftliche Unterhaltung Offenbach: Verein für Naturkunde Reichenbach im Vogtland: Voigtländischer Verein für allgemeine und specielle Naturkunde Berlin: Botanischer Verein der Provinz Brandenburg = 31 Schleiz: Naturwissenschaftliches Kränzchen (später: Naturwissenschaftlicher Verein) Braunschweig: Verein für Naturwissenschaften Dresden: Entomologischer Verein „Iris" Karlsruhe: Naturwissenschaftücher Verein (aus Karlsruhe 1840) Königsberg: Preussischer Botanischer Verein Schweinfurt: Naturwissenschaftücher Verein Zerbst: Naturwissenschaftlicher Verein Zwickau: Verein für Naturkunde Leipzig: Astronomische Gesellschaft Weimar: Medicinisch-Naturwissenschaftlicher Verein Zweibrücken: Naturhistorischer Verein Bremen: Naturwissenschaftücher Verein Dortmund: Botanischer Verein Landshut: Botanischer Verein (seit 1902: Naturwissenschaftücher Verein) Magdeburg: Botanischer Verein Meiningen: Naturforschender Verein Annaberg: Annaberg-Buchholzer Verein für Naturkunde Brandenburg a.H. : Wissenschaftlicher Verein
94 1865 1865 1865 1866 1866 1866 1867 1868 1869 1869 1869 1869 1869 1870-1879 1870 1870 1871 1871 1871 1871 1872 1872 1873 1874 1874 1875 1875 1875 1876 1876 1876 1877 1877 1878 1878 1878 1879 1880-1889 1880 1880 1881 1881
III. Vereine, Vorträge und Feste Bromberg: Naturwissenschaftlicher Verein Fulda: Verein für Naturkunde Ulm: Verein für Mathematik und Naturwissenschaften Greifswald: Naturwissenschaftlicher Verein für Neu-Vorpommern und Rügen Oldenburg: Naturwissenschaftlicher Verein Landshut: Mineralogischer Verein Kiel: Verein für Geographie und Naturwissenschaften (später aufgegangen in: Kiel 1872) Dresden: Gesellschaft für Botanik und Zoologie Donaueschingen: Verein für Geschichte und Naturgeschichte der Baar und der angrenzenden Landestheile in Donaueschingen Frankfurt/M: Chemische Gesellschaft Gross-Schönau: Wissenschaftlicher Leseverein Hamburg: Entomologischer Verein Magdeburg: Naturwissenschaftlicher Verein = 23 Kassel: Verein für naturwissenschaftliche Unterhaltung Osnabrück: Naturwissenschaftlicher Verein für das Fürstentum Osnabrück Aachen: Naturwissenschaftliche Gesellschaft Hamburg: Verein für naturwissenschaftliche Unterhaltung Karlsruhe: Oberrheinischer geologischer Verein Münster/W.: Westfälischer Provinzial-Verein für Wissenschaft und Kunst Kiel: Naturwissenschaftlicher Verein für Schleswig-Holstein (vgl. Kiel 1855 und 1867) Würzburg: Chemische Gesellschaft Stettin: Ornithologischer Verein Schneeberg: Naturwissenschaftlicher Verein Düsseldorf: Entomologischer Verein (später: Düsseldorf 1884) Gotha: Naturwissenschaftlicher Verein Plauen: Verein für Natur- und Heilkunde Wasselnheim/Elsaß: Botanischer (Naturwissenschaftlicher) Verein Büdingen: Verein der Naturfreunde Nordhausen: Naturwissenschaftlicher Verein München: Entomologischer Verein Berlin: Gesellschaft für Mikroskopie Rudolstadt: Meteorologische Gesellschaft Aschaffenburg: Naturwissenschaftlicher Verein Danzig: Westpreußischer Botanisch-Zoologischer Verein (verbunden mit: Danzig 1743) Elberfeld: Naturwissenschaftliche Gesellschaft (1880 vereinigt mit: Elberfeld 1846) Hannover: Gesellschaft für Mikroskopie = 15 Darmstadt: Naturwissenschaftlicher Verein Sondershausen: Irnischia. Botanischer Verein für das nördliche Thüringen, später: Botanischer Verein für Thüringen Berlin: Entomologischer Verein Freiburg i.B.: Botanischer Verein für den Kreis Freiburg und das Land Baden
1. Naturvereine und Vereinsnatur 1881 1882 1882 1883 1884 1884 1885 1887 1887 1889 1889 1890-1899 1890 1890 1891 1891 1896 1897 1897 1897 1898 1899
1900-1914 1901 1902 1904 1906 1907 1908 1909 1910 1913
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Hamburg: Gesellschaft für Botanik (ab 1881 als Botanische Sektion im Naturwissenschaftlichen Verein Hamburg) Rostock: Naturforschende Gesellschaft Weimar: Botanischer Verein für Gesamtthüringen Frankfurt/O: Naturwissenschaftlicher Verein des Regierungsbezirks Frankfurt/O. Düsseldorf: Naturwissenschaftlicher Verein (aus Düsseldorf 1874 entstanden) Halle/S.: Entomologischer Verein Wernigerode a.H.: Naturwissenschaftlicher Verein des Harzes Dortmund: Naturwissenschaftücher Verein (bis 1888: Naturwissenschaftlicher Tauschverein) Gotha: Entomologen-Verein Bayreuth: Naturhistorische Gesellschaft München: Bayerische botanische Gesellschaft zur Erforschung der heimischen Flora = 10
Kiel: Verein Zur Pflege der Natur- und Landeskunde in SchleswigHolstein, Hamburg und Lübeck (vgl. Kiel 1855 und 1872) Köln: Verein deutscher Naturfreunde Berlin: Vereinigung von Freunden der Astronomie und kosmischen Physik Hof: Nordfränkischer Verein für Natur-, Geschichts- und Landeskunde Würzburg: Botanische Vereinigung Geestemünde: Verein für Naturkunde an der Unterweser Hamburg: Ornithologisch-oologischer Verein München: Ornithologischer Verein in Bayern München: Verein für Naturkunde Karlsruhe: Badischer Zoologischer Verein (1908 vereinigt mit dem Botanischen Verein für den Kreis Freiburg und das Land Baden, 1913 neuer Name: Badischer Landesverein für Naturkunde und Naturschutz) =9 Vegesack: Verein für Naturkunde Landshut: Naturwissenschaftlicher Verein München: Entomologische Gesellschaft Halle/S: Entomologische Gesellschaft Freiberg i.S.: Geologische Gesellschaft Hannover: Niedersächischer botanischer Verein (als Abteilung der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover) Hannover: Niedersächsischer zoologischer Verein (als Abteilung der Naturhistorischen Gesellschaft Hannover) Frankfurt/M: Geologische Vereinigung Karlsruhe: Badischer Landesverein für Naturkunde und Naturschutz (aus Karlsruhe 1899)
Quellen: Weber: Handbuch (1840), Die naturhistorischen Gesellschaften Deutschlands (1846/47), Mylius: Statistik (1885), J. Müller: Die wissenschaftlichen Vereine (1883-1917/1965), Stoehr: Allgemeines Deutsches Vereins-Handbuch (1873), Minerva, Jahrbuch der gelehrten Welt, 1891/92f£; Siefert: Das naturwissenschaftliche und medicinische Vereinswesen (1967), Strube: Naturwissenschaftliche Gesellschaften (1979), Pfetsch: Zur Entwicklung (1974).
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III. Vereine, Vorträge und Feste
a) Strukturelle und funktionale Wandlungen bis 1914 Ein erster Blick aus der Vogelperspektive auf die Gesamtheit der Naturvereine verdeutlicht, wie sehr diese in die historischen Verlaufsformen des Vereinswesens in Deutschland9 integriert sind. Die naturkundlichen Vereine nahmen an der massiven Ausdehnung des Vereinswesens im 19. Jahrhundert teil, wie Tabelle 2 in der Jahrzehntenfolge zeigt. Bis 1800 wurden demnach 11, bis zur Jahrhundertmitte weitere 61 und bis zum Ersten Weltkrieg nochmals 110 Naturvereine gegründet. Seit der Spätaufklärung ist ein steter Anstieg zu verzeichnen, der sich in der Restaurationsperiode nur zeitweise abschwächte (1821-1829:6 Gründungen), sich in den 1830 Jahren beschleunigte (13) und in der folgenden Dekade in einen regelrechten Gründungsboom mündete (24). Dieses Tempo verringerte sich im nachrevolutionären Jahrzehnt nur wenig, bis 1859 wurden weitere 22 Naturvereine gegründet. 1859 erlebten die Naturvereine die kommunikative und organisatorische Mobilisierung der Neuen Ära mit einem nochmaligen Gründungsschub. Abgesehen von den Humboldt-Vereinen, die im nachfolgenden Kapitel III.3 gesondert behandelt werden, entstanden allein 1859 sechs und 1862 sieben naturkundliche Gesellschaften. Im Jahrzehnt vor der Reichsgründung kann der größte Anstieg mit weiteren 31 Gründungen festgehalten werden. Selbst die folgenden zehn Jahre lagen auf ähnlich hohem Niveau (23). Damit war ein Sättigungsgrad erreicht; bis 1910 ging die Zahl der Neugründungen zurück. Im ganzen ist das Verhältnis der Neugründung vor und nach der Jahrhundertmitte etwa 2:3. Als dynamische Gründungsphasen treten die Jahre zwischen 1840 und 1849 bzw. zwischen 1859 und 1882 hervor. Im aufklärerischen Verständnis patriotischer, ökonomischer und physikalischer Gesellschaften besaß die Naturkunde einen Platz neben anderen Themen von der Medizin bis zur Kunst. Wissenschaftliche Beschäftigung, künstlerische Bildung und gemeinnützige Praxis gehörten zusammen.10 Erst seit etwa 1810 vollzogen die Vereine die fachliche Spezialisierung nach, welche die entstehenden Fachwissenschaften in ihrem Selbstverständnis, später in Institutionalisierungs- und Professionalisierungsprozessen auszubilden begannen. Naturforschende bzw. naturkundliche Vereine traten gesondert auf, seit den 1830er Jahren gab es vermehrt naturwissenschaftliche Vereine. Außerdem verselbständigten sich die Sparten der Naturgeschichte als botanische, ornithologische, mineralogische oder zoologische Vereine.11 9 10 11
Wie sie im besonderen von Otto Dann, Wolfgang Hardtwig, Thomas Nipperdey und Klaus Tenfelde herausgearbeitet wurden. Nipperdey: Verein (1972/76), hier S. 190-195 auch zu den parallelen Prozessen der Spezialisierung und Entpartikularisierung; Lowood: Patriotism (1991). Einen Sonderfall stellen die Bienen- bzw. Bienenzuchtvereine dar. Die Bienenzucht war bereits in den ökonomischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts be-
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Die geographische Verteilung der Naturvereine folgt ebenfalls den bekannten Mustern der Vereinsgeschichte.12 Überdurchschnittlich viele Naturvereine befanden sich im nördlichen und östlichen Sachsen, in Thüringen, in Hessen entlang des Rhein/Main-Verlaufs, im nördlichen Baden und in Hamburg. Regionen mit signifikant schwacher bzw. später Vereinsbildung waren das mittlere und südliche Bayern inklusive München, das Rhein-Ruhrgebiet und Westfalen sowie die preußischen Gebiete östlich der Elbe, ausgenommen Berlin. Diese Befunde bestätigen die strukturellen Bedingungen, die für die Ausbildung wissenschaftlicher Organisationen als günstig bekannt sind: eine hohe Bevölkerungszahl und ein hohes Maß an Verstädterung, die Entwicklung industrieller Strukturen und religiös-kulturelle Milieuprägungen durch die Dominanz der protestantischen Konfession. Die unterschiedliche regionale Verteilung der Naturvereine deutet überdies auf spezifische Bedingungen für die Prosperität naturkundlicher Vereinsaktivitäten hin. Läßt man Berlin als unangefochtenes Zentrum wissenschaftlicher Vereinstätigkeit außer acht,13 so schält sich unter den größeren Städten eine Gruppe mit auffälliger Vereinsdichte heraus: an der Spitze Dresden (7 Naturvereine), gefolgt von Hamburg und Frankfurt am Main (je 6), Halle a.d. Saale (5 bzw. 6), und Jena (4). Dem stehen exemplarisch Aachen, Augsburg, Dortmund, Düsseldorf, Fulda, Köln, Magdeburg und Münster mit schwach oder spät entwickelter naturkundlicher Vereinsstruktur gegenüber. Die sechs Gründungen in München bis zum Ersten Weltkrieg sind im Vergleich mit Dresden, Halle, Frankfurt am Main und Hamburg zeitlich klar verzögert. Diese Befunde bestätigen die Annahme, daß es eine gewisse katholische Resistenz gegenüber naturwissenschaftlichen Laienunternehmungen gab, geben aber keinen Anlaß zu voreiligen Generalisierungen. So erlebten z.B.
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liebt gewesen wegen ihres wirtschaftlichen Ertrags und der Möglichkeiten, praxisnah naturkundliche Studien zu betreiben und das Beobachtete zugleich in moralischen Kategorien des Gemeinschaftslebens und Gemeinnutzes deuten zu können. Nach 1849 kam es zur Gründung gesonderter Bienenzuchtvereine - z.B. in Limburg/Westfalen 1850, Hamm 1851, Dortmund 1853, Altenburg/SachsenAnhalt 1853, Breslau 1868 und Meissen 1870. Solche Vereine schufen in ihrer Zuchttätigkeit, wie jüngst Ursula Krey am Beispiel von Westfalen akzentuiert hat, Projektionsmöglichkeiten für bürgerliche Tilgenden wie Fleiß und Sparsamkeit. Sie füllten die kleinbürgerliche Freizeit aus, warfen praktischen Nutzen ab und boten offenbar eine gewisse Tarnung für demokratische Aktivisten. Vgl. Krey: Vereine (1993), S. 333-341 und Lowood: Patriotism (1991), S. Iii., 171-173. Vgl. Pfetsch: Zur Entwicklung (1974), S. 146-151,203ff.; Voss: Akademien (1986), S. 152ff.; Lowood: Patriotism (1991), S. 28-31, 70f. et passim, und schon Mylius: Statistik (1885). Klaus-Harro Tiemann/Regine Zott: Zur Herausbildung wissenschaftlicher Vereinigungen in Berlin (18./19. Jahrhundert), in: Berlingeschichte (1987), S. 167-173.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
Bonn und Regensburg früh naturkundliche Vereinsaktivitäten.14 In Halle, abgeschwächt auch in Leipzig und Dresden, förderten spezifische weltanschauliche Milieufaktoren die Ausbildung des naturwissenschaftlichen Vereinswesens. Hier kamen vor allem das pietistische Erbe, in Halle verstärkt durch die Tradition naturkundlichen Unterrichts an den Franckeschen Stiftungen mit ihren Naturaliensammlungen, und rationalistischprotestantische, später liberal-freikirchliche Strömungen zur Geltung. Charakteristisch für eine weltanschauliche Regionalprägung ist der sächsische Wissenschaftliche Leseverein in Groß-Schönau, der seit 1869 programmatisch naturwissenschaftliche Fortbildung „auf freireligiösen Grundlagen" 15 anstrebte. Einige städtische Naturvereine übernahmen die Funktion, das Fehlen einer Universität als Ort der Kultivierung naturwissenschaftlicher Interessen zu kompensieren, so in Dresden, Hamburg, Frankfurt am Main und auch Bremen. In diesen Fällen begünstigte der akademische Lehr- und Forschungsmangel die Ausdehnung der Vereinsaktivitäten. Das bedeutendste Beispiel bietet Frankfurt, wo die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft neben dem Freien Deutschen Hochstift originär wissenschaftliche Aufgaben erfüllte, während zum Jahrhundertende hin die Volksbildungstätigkeit zunehmend auf den Ausschuß für Volksvorlesungen verlagert wurde.16 Die Senckenbergische Gesellschaft stiftete 1912 dann zur Gründung der Frankfurter Universität das Zoologische, Geologisch-Paläontologische und das Mineralogische Universitäts-Institut. Daneben spielten für die Ausbreitung der Naturvereine die Zugänglichkeit und Ergiebigkeit der regionalen Fauna und Flora, die Möglichkeit zur Organisierung von Exkursionen und damit die Chance, Vortragstätigkeit und Lektüre durch anschauliche Praxis zu ergänzen, eine eminente Rolle; dies erklärt z.B. die Vereinskonzentration im Harz. Über die Rolle der Naturvereine in den diversen regionalen Vereinslandschaften im Vergleich mit anderen Vereinen sowie über die Ursachen für die jeweilige lokale Gründungsabfolge ist noch wenig bekannt. 17 Ge-
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Vgl. Andreas Bresinsky: Die Regensburger Botanische Gesellschaft und die Wurzeln ihres Entstehens im 18. Jahrhundert, in: Josef Barthel (Hg.): Naturwissenschaftliche Forschung in Regensburgs Geschichte. Vortragsreihe an der Universität Regensburg. Regensburg 1980, S. 101-130. Stoehr: Allgemeines Deutsches Vereins-Handbuch (1873), S. 87. Die freireligiöse Prägung anderer Vereine läßt sich vor allem an derem Führungspersonal nachweisen. Vgl. zur Naturforschenden Gesellschaft in Halle UB Halle/S., 25 H 9 u. H 10,27 B 36/1; zum Naturwissenschaftlichen Verein UB HaUe/S. 27 B 36/II-III; 27 B 37 II zur Gründungsphase 1847/48 aus dem Freundeskreis um Giebel; Hagen: Die Stadt Halle, I (1867), S. 595-597. Seitter: Volksbildung (1993), S. 195-203. Für Breslau gibt eine instruktive Übersicht Wendt: Die wissenschaftlichen Vereine (1904); für Frankfurt am Main vgl. Seitter: Volksbildung (1993).
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messen am jeweiligen Gesamtspektrum an Vereinen und der Nachbarschaft von naturkundlich orientierten Gesellschaften sind sowohl zentrifugale, diversifizierende als auch zentripetale Tendenzen zu beobachten. Sie waren jeweils verschiedenartig sachlich-funktional, sozial und/oder persönlich begründet. In Hamburg spaltete sich z.B. 1843/44 die Naturwissenschaftliche Gesellschaft vom Naturwissenschaftlichen Verein wegen Differenzen in Zusammenhang mit der Kommission zur Verwaltung des naturhistorischen Museums ab, 1864 vereinigten sich die beiden Gruppierungen wieder. In Dresden waren im Vormärz die Naturvereine deutlich nach sozialer und fachlicher Klientel differenziert. In Kassel lebten der Verein für Naturkunde und der Verein für naturwissenschaftliche Unterhaltung in einem freundschaftlichen Verhältnis nebeneinander. Ähnlich war die Situation in Frankfurt am Main. Es kam vor, daß allgemein-naturwissenschaftliche Vereine aus Gesellschaften mit spezielleren naturkundlichen Zwecken hervorgingen, etwa in Dortmund, Görlitz, Magdeburg und Düsseldorf. Umgekehrt gab es Prozesse der Ausdifferenzierung und Spezialisierung. Aus der Dresdener Isis von 1833/34 entwickelten sich kleinere Vereine im Umland, in Hannover gewannen z.B. die Abteilungen Botanik und Zoologie der Naturhistorischen Gesellschaft organisatorische Eigenständigkeit. 18 Auch die Naturvereine tendierten im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu (über-)regionaler Kooperation, wenngleich weniger als andere Vereine zur Verbandsbildung; Ausnahmen mit besonderem Charakter bildeten die GDNA und die Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung ( G W ) . Während die GDNA seit ihrer Gründung 1822 mit wenigen Ausnahmen die Naturvereine an den Tagungsorten mobilisieren konnte, wurde 1847 auf der 25. VDNA in Aachen gesondert vorgeschlagen, die naturwissenschaftlichen Vereine zwischen Aachen und Freiburg zu vereinen. 19 Seit 1859 bemühte sich Roßmäßler um eine tendenziell nationale Organisation seiner Humboldt-Vereine, 20 1906 regte der Naturhistorische Verein der preussischen Rheinlande und Westfalens einen engeren Zusammenschluß aller naturwissenschaftlichen Vereine dieser Provinzen an.21 Mitgliederstarke Naturvereine strahlten mit ihren Aktivitäten oftmals weit in die um18
19 20 21
Vgl. für Hamburg Bolau: 1837-1887 (1887), Doermer: Hundert Jahre (1937), Freudenthal: Vereine (1968), S. 81, 245; Staatsarchiv Hamburg, Hochschulwesen I. Reg. Gen. B. VI.l., Oberschulbehörde, Section I, Naturhistorisches Museum. 1. Generalakten [...]; Staatsarchiv Hamburg, Familie Rapp, Nr. 77 (zu Stiftungsfesten). Für Dresden vgl. Zaunick: Gründung (1934), S. 12ff.; für Kassel Festschrift des Vereins für Naturkunde zu Cassel (1886), S. XXII; für Frankfurt siehe Heynemann: Ansprache (1884). Amtlicher Bericht über die fünfundzwanzigste Versammlung der GDNA in Aachen im September 1847. Aachen 1849, S. 44. Hierzu das nachfolgende Kapitel III.3. Vgl. zur Verbandsbildung Hardtwig: Strukturmerkmale (1984), S. 16f.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
liegende Region aus, z.B. die Wetterauische Gesellschaft für die gesamte Naturkunde in Hanau und der Naturwissenschaftliche Verein in Halle a.d. Saale, der seit 1852 auch nominell die Provinz Sachsen und Thüringen betreute und dort Wanderversammlungen abhielt. Kleinere, dezentrale Vereine fanden sich zu regionalen Wanderversammlungen und Sterntreffen zusammen, z.B. in der Lausitz 1880.22 Das Bedürfnis nach überlokaler Information und die Fähigkeit zu überregionaler Kommunikation drückten sich primär im Schriftenaustausch zwischen den Vereinen aus. Er nahm erstaunliche Ausmaße an, sprengte selbst nationale Grenzen und schuf ein engmaschiges Informationsnetzwerk, das auch kleinste Vereine einbezog. Der Naturwissenschaftliche Verein in Bremen tauschte 1869, bereits fünf Jahre nach seiner Gründung, mit 121 anderen Gesellschaften (davon 69 deutschen, 38 europäischen und 14 außereuropäischen) Schriften aus, zwanzig Jahre später sogar mit 262. Der Kasseler Verein für Naturkunde stand 1884 nach fünfzig Jahren mit 312 Vereinen (davon 32 außereuropäischen) im Tauschverkehr.23 Einen weiteren säkularen Trend bildet die fachliche Differenzierung innerhalb der einzelnen Vereine. Die Naturvereine trugen der Spezialisierungstendenz zunächst durch die Bildung von Fachsektionen Rechnung. Der Prozeß verlief im überregionalen Vergleich keineswegs gleichförmig. Die Naturforschende Gesellschaft des Osterlandes richtete schon 1818 sieben Sektionen ein, die Naturhistorische Gesellschaft zu Nürnberg stellte ensprechende Überlegungen erstmals 1862 an und setzte sie schrittweise seit 1882 um. In Magdeburg richtete 1869 der Naturwissenschaftliche Verein neun Sektionen ein, darunter eine für die Geschichte der Naturwissenschaften, während es im Düsseldorfer Naturwissenschaftlichen Verein erst 1908 zur Bildung von Untergruppen kam, wobei sogar eine photographische Gruppe geschaffen wurde.24 Zur Binnenentwicklung der Naturvereine gehört der deutliche Anstieg der Mitgliederzahl bei fast allen Gesellschaften, die bis 1914 fortlebten. Die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft erlebte z.B. einen Anstieg von 32 auf 1430 Mitglieder (1818-1914), der Hamburger Naturwissenschaftliche Verein steigerte sich von 32 auf ca. 500 Mitglieder
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Stadtarchiv Löbau, Rep. 17, Nr. 234, Schreiben des Vorstandes des Gebirgsvereins der Lausitz, der von den zwölf naturwissenschaftlichen Vereinen der Südlausitz beschlossen wurde. Kurz: 75 Jahre (1939), S. 73; Festschrift des Vereins für Naturkunde zu Cassel (1886), S.XXIV. Vgl. Siefert: Das naturwissenschaftliche und medizinische Vereinswesen (1967), S. 156-159. Zahlreiche Angaben zum Tauschverkehr auch bei Stoehr: Allgemeines Deutsches Vereins-Handbuch (1873). Voretzsch: Festrede (1899), S. 13f.; Saecular-Feier (1901), S.XXX, XXXVII; Festschrift zur Feier des 25jährigen Stiftungstages [...] zu Magdeburg (1894), S. 9; Naturwissenschaftlicher Verein zu Düsseldorf [1909], S. 44.
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(1837-1914).25 Selten bedeutete das eine lineare Progression. Die meisten Vereine waren Mitgliederschwankungen unterworfen, die ihrerseits Krisen der inneren Entwicklung spiegelten. Zudem unterschieden sich die Vereinsgrößen untereinander erheblich. Im Stichjahr 1872 reichte das Spektrum von der Wetterauischen Gesellschaft mit über 700 Mitgliedern und dem Stettiner Entomologischen Verein (625) bis zum Naturwissenschaftlichen Verein in Bromberg mit sieben ordentlichen Mitgliedern plus einem Ehrenmitglied.26 Frauenmitgliedschaften blieben bis 1914 selten.27 Über die soziale Zusammensetzung der Naturvereine, vor allem dessen Wandel, lassen sich noch keine statistischen Aussagen treffen. Deutlich ist die soziale Erweiterung der Mitglieder und die wachsende gesellschaftliche Durchlässigkeit der Vereine seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Bei Gründung der Berliner Gesellschaft naturforschender Freunde 1773 war die Mitgliedschaft z.B. noch auf 20 Personen beschränkt und an materielle Beiträge gebunden worden.28 Daß seit 1800 jeder „ohne Rücksicht auf Stand, Rang und Confession"29 Mitglied eines Vereins werden konnte, entsprach der freiheitlichen Theorie des Assoziationswesen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Grundsatz richtete sich gegen ständische und exklusive Regelungen und entprach den Interessen der bürgerlichen Klientel. Die Dekorporationstendenzen schlössen allerdings eine neue Differenzierung nach Geschlecht, Bildung und Besitz nicht aus - und sie gingen durchaus einher mit der Ausbildung neuer Binnenhierarchien, die nun allerdings nicht mehr durch Geburt und Stand, sondern durch Ausbildung, Leistung und fachliche Qualifikation bestimmt wurden. Die Idee der „Privatgesellschaft", bei der Naturforschenden Gesellschaft zu Halle von 1779 noch Jahrzehnte später anzutreffen,30 ließ sich im Vormärz kaum oder gar nicht mehr aufrechterhalten. Sie ist allenfalls bei den älteren Gesellschaften oder bei jenen Vereinen anzutreffen, denen eine dichte lokale Vereinslandschaft erlaubte, sich als gesellschaftliche Reservate zu behaupten. Dresden bietet ein solches Beispiel: Die Gesellschaft für Mineralogie von 1816, die Gesellschaft für Natur- und Heilkunde 25 26 27
28 29 30
Kramer: Chronik (1967), S.192, 415; Doermer: Hundert Jahre (1937), S.2, 46. Weidner/Kraus: Aus der Geschichte (1988), S. 133f. Stoehr: Allgemeines Deutsches Vereins-Handbuch (1873), S. 73,37,31. Siefert: Das naturwissenschaftliche und medizinische Vereinswesen (1967), S. 95; Marchandt: Vorbericht (1879), S. 9, wonach unter den Mitgliedern der Naturforschenden Gesellschaft zu Halle seit deren Gründung 1779 gerade eine Dame gewesen sei. Vgl. Kohlstedt: The Nineteenth-Century Amateur Tradition (1976), S. 183f.; Lowood: Patriotism (1991), S. 77-79. Stitz: Aus der Geschichte (1916), S. 17,25,36. Thomä: Geschichte (1852), S. 6 für den Verein für Naturkunde im Herzogtum Nassau; vgl. Hardtwig: Strukturmerkmale (1984), S. 18. Krahmer: Geschichte (1853/54), S. 2 (Zitat), 4; vgl. Marchand: Vorbericht (1879), S.V.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
(1818) und Flora,.Gesellschaft für Botanik und Gartenbau (1828) stützten sich fast ausschließlich auf leitendes Hofpersonal, höheres Beamtentum und das universitäre Establishment. Ein deutlich anderes, nämlich (klein-) bürgerlich-mittelständisches Profil gewann am gleichen Ort seit 1833/34 der Verein zur Beförderung der Naturkunde (später: Isis). Unter dessen Gründern befand sich weder ein Vollakademiker noch ein höherer Hofbeamter. Zwanzig Jahre später besetzten in der Dresdener Isis und in den gleichnamigen Gesellschaften zu Meißen und Bautzen zwar manche Professoren Vorstands- oder Sektionsposten, aber sie waren als Teil der aufstrebenden bürgerlichen Leistungselite selbst Ausdruck des bildungs- und sozialgeschichtlichen Wandels. Neben den traditonell in allen Naturvereinen stark vertretenen Ärzten und Apothekern dominierten nun handwerkliche, kaufmännische und Lehrerberufe. 31 Eine solche soziale Streuung sollte typisch werden, nachdem die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft schon 1817 auf einer eindeutig bürgerlichen personellen Plattform begründet worden war. Das Stiftergremium setzte sich zusammen aus einem Botaniker, je einem Handelsmann, Verwalter, Apotheker und Militär, zwei Juristen, je einem Glaser-, Schneider und Hospitalmeister, zwei Forschungsreisenden, zwei Bankherren und vierzehn Ärzten (darunter drei Professoren); hinzu kamen ein Geheimer Kommerzienrat, ein Hofrat, ein Gymnasialprofessor und der Entomologe von Heyden. 32 Von den 248 Mitgliedern des Bremer Naturwissenschaftlichen Vereins waren z.B. 1868 37,5% Kaufleute, 21,7% Lehrer, 9,6% Ärzte, jeweils 6,8% Handwerker und Juristen und je rund 4% Apotheker und Buchhändler (plus andere). 33 Die Dominanz des Bürgertums in den Naturvereinen der zweiten Jahrhunderthälfte und das bürgerliche Interesse an naturkundlicher Beschäftigung verkörperte beispielhaft der Hanauer Direktor der Wetterauischen Gesellschaft, Carl Rößler. Als erster Nichtwissenschaftier trat der Fabrikbesitzer 1853 für zehn Jahre an die Spitze einer der größten deutschen Naturvereine. Rößler erhielt zudem zahlreiche (Ehren-)Mitgliedschaften in anderen naturwissenschaftlichen Gesellschaften und einen philosophischen Ehrendoktor, wurde zum Meister des Freien Deutschen Hochstifts ernannt und präsidierte dem literarischen sowie dem Handels- und Ge31
32
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Zaunick: Gründung (1934), S. 12-14; Allgemeine Deutsche Naturhistorische Zeitung N.F. 2 (1856), Literaturblatt, S.9-20 mit präziser Auflistung der Mitglieder inkl. des Vereins Saxonia; vgl. Allgemeine Deutsche Naturhistorische Zeitung N.F. 3 (1857), Literaturblatt, S. 501-504; Festschrift der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft ISIS in Dresden zur Feier ihres 50jährigen Bestehens am 14. Mai 1885. Dresden 1885, S. 1-23. Nach Wilhelm Schöndube/Joachim Steinbacher: Aus der 150jährigen Geschichte der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft zu Frankfurt am Main, in: Natur und Museum 97 (1967), S. 431-489, hier S. 437. Errechnet nach Kurz: 75 Jahre (1939), S. 60.
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werbeverein in Hanau. Während Rößlers Amtszeit wurden die übrigen Vereinsposten von drei Ärzten, einem Apotheker, einem Schulinspektor, jeweils einem Gymnasial- und Realschullehrer, einem Medizinal-Assesor und einem Landbaumeister besetzt.34 Der Naturverein war Teil der Basis für die Bildung, den sozialen Status und das Prestige der bürgerlichen Führungsschicht geworden.35 Wenn sich der Münchener Verein für Naturkunde dagegen ausgerechnet im Revolutionsjahr 1848 der „ersten Männer des Staats" und herausragender Kirchenvertreter als Mitglieder rühmte und Ehren- bzw. korrespondierende Mitgliedschaften vorrangig an Dompröpste und Aristokraten verlieh, so bildet dies eine milieuspezifische Ausnahme.36
b) D e r Verein als F o r u m der Amateurwissenschaft Der Verbürgerlichungsprozeß verstärkte eine Funktion der Naturvereine, die sie schon im 18. Jahrhundert, wenngleich unter anderen sozialgeschichtlichen Voraussetzungen, besessen hatten. Sie ermöglichten interessierten Laien jenseits des akademischen Raums, die eigenen naturkundlichen, teilweise durchaus wissenschaftlich zu nennenden Interessen zu kultivieren. Der historische Amateurismus als nichtprofessionelles und außerschulisches Wissenschaftsinteresse und als Teil der bürgerlichen Laienkultur ist in Deutschland bisher weitgehend unerforscht. 37 Auch fehlen ein Untersuchungsinstrumentarium und eine angemessene Begrifflichkeit. So ist als direkte Übertragung aus dem Englischen der Terminus Amateurwissenschaft in Deutschland ungebräuchlich und zweifellos mißverständlich. Synonyme wie wissenschaftliche Laienkultur, Amateurismus und private wissenschaftliche Tätigkeit sind kaum weniger holprig. Der Begriff Dilettantismus, im 19. Jahrhundert weit verbreitet, gibt nur vor, ein brauchbares Äquivalent zu sein, enthält aber spätestens seit der zweiten Jahrhunderthälfte einen polemischen Kern und ist im Deutschen weitgehend negativ besetzt.38 34 35 36 37
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Zingel: Geschichte (1908), 186f., 211f.; Adler: Freies Deutsches Hochstift (1959), S. 88. Vgl. Nipperdey: Verein (1972/76), S. 189. Isis. Encyclopädische Zeitschrift 1 (1850), S. 6 (Zitat) 47,63,80,96. Vgl. Liebhaber und Wissenschaft (1986), darin dokumentiert das 1985 veranstaltete Symposium der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte ,Zur Rolle des Amateurs in der Geschichte der Wissenschaften', hier S. 143; Vierhaus: Einrichtungen (1977), S. 114f. und jetzt Schulz: Der Künstler (1996) mit Betonung der bürgerlichen Dilettantenvereine im Vormärz und konzentriert auf den künstlerischen Bereich, im besonderen das Musik- und Theaterleben. Vaget: Der Dilettant (1970), Schulz: Der Künstler (1996), S. 48-52.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
Daher soll im folgenden weiterhin von Amateurwissenschaft gesprochen werden. Sie kann vorläufig verstanden werden als die nichtprofessionelle Beschäftigung mit wissenschaftlichen Fragen, die sich zumindest an Teilaspekten wissenschaftlicher Methodik oder Thematik orientiert, diese aber nicht primär für den akademischen Erkenntnisfortschritt, sondern zum privaten Interesse nutzt. Deutlich wird schon hier, daß das Vereinswesen ein, wenn nicht sogar d a s Forum für amateurwissenschaftliche Aktivitäten bot und dies um so mehr in einer Zeit, die den Aufstieg der professionellen Fachwissenschaft, womit zugleich der eigentliche Gegenbegriff genannt ist, erlebte. Daß die historische Amateurwissenschaft ein erhebliches Interpretationspotential für die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer naturkundlichen Interessen birgt, kann ein Blick auf die englische und amerikanische Diskussion verdeutlichen. Die angelsächsische Historiographie hat sich seit den 1970er Jahren im Zuge einer sozialgeschichtlichen Wendung der Wissenschaftsgeschichte der sogenannten amateur science zugewandt. Ausgangspunkte setzten Untersuchungen zur Wissenschaftskultur Englands, welche die Bedeutung regionaler und lokaler Zentren für die Pflege naturwissenschaftlicher Interessen in der viktorianischen Zeit betonten. Das Interesse wurde damit auf die naturhistorischen Vereine insbesondere in den Provinzstädten gelenkt, auf die Bildungstätigkeit der Mechanics' Instituts, die als eine Form bürgerlicher Arbeiterbildungsvereine seit den 1820er Jahren aufblühten, und auf die regionale Bildungsmobilisierung als Ergänzung zu der an Akademien und an Universitäten institutionalisierten Wissenschaft.39 Die bahnbrechende Studie von David Allen The Naturalist in Britain. A Social History (1976)40 konnte aufzeigen, daß die private Naturbegeisterung ein soziales Massenphänomen und eine prägende kulturelle Mentalität im 19. Jahrhundert darstellte. Das entomologische Sammeln und das 39
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Exemplarisch Stephens/Roderick: Science Training (1971), Steven Shapin: ,Nibbling at the Teats of Science'. Edinburgh and the Diffusion of Science in the 1830s, in: Inkster/Morrell (Eds.): Metropolis (1983), S. 151-178; Michael Neve: Science in a Commercial City: Bristol 1820-60, in: Inkster/Morrell (Eds.): Metropolis (1983), S. 179-204; Secord: Science (1994). Weitere Hinweise zur englischen Forschung bei Alter: Wissenschaft (1982), Russell: Science (1983) und Thomas Kleinknecht: Britische Politiker als Liebhaber der Wissenschaft (ca. 1850-1914) - Zur Ideologie des Amateurismus, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 9 (1986), S. 147-160. Vgl. zu Frankreich Fox: The Savant (1980/1992) und Darnton: Mesmerism (1968), S. 26f., der den Begriff amateur science schon auf das späte 18. Jahrhundert anwendet. Zum Vergleich von deutscher und englischer Arbeitervereinsbewegung Röhrig: Erwachsenenbildung (1987), S. 342£ und Eisenberg: Arbeiter (1988). Allen: The Naturalist (1976/1994). Vorausgegangen war eine Studie des gleichen Autors zum Victorian Fern Craze (London 1969). In Fortsetzung von Allen siehe Barber: The Heyday (1980).
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Botanisieren, die in der Jahrhundertmitte plötzlich einsetzende Begeisterung für das Aquarium, die Vogelschutzbewegung, die Field Clubs und ähnliche Erscheinungen wurden mit einem Mal als kaum weniger wichtig bewertet als der Aufstieg der professionellen Naturwissenschaft. Die neue Würdigung der Amateurwissenschaft ist dahingehend ausgeweitet worden, die Tradition der amateur science als prägendes Strukturmerkmal der englischen Geschichte des 19. Jahrhunderts zu bezeichnen, zumal es hier nicht zum Ausbau eines staatlich gestützten, politisch wie finanziell subventionierten und forschungsintensiven Wissenschaftssystems kam. 41 Gern wird als Kronzeuge Justus Liebig aufgerufen, der aufgrund seiner persönlichen Beobachtungen in England 1837 festhielt, das Königreich sei „nicht das Land der Wissenschaft", dort existiere vielmehr „nur ein weitgetriebener Dilettantismus" 42 . Diese Bewertung hat man im wesentlichen für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg aufrechterhalten, wenn auch positiver als „kultivierter Amateurismus" 43 bezeichnet. Sie paßte sich dem bis in die 1980er Jahre vorherrschenden Paradigma vom englischen Vorsprung in der Geschichte des Bürgertums an, wurde allerdings auch als Fortsetzung aristokratischer Haltungen gedeutet. 44 Der deutsche Fall wurde im ganzen eher beiseite geschoben.45 Die Debatte um nationale Wissenschaftsstile ist von Susan Sheets-Pyenson zugespitzt worden, indem sie ausgehend von einer Analyse populärwissenschaftlicher Zeitschriften für die Zeit zwischen 1820 und 1875 die englische amateur science-Struktur dem französischen Modell einer „high science" gegenüberstellte.46 Während letzteres von der klaren Trennung zwischen Experten und Laien ausgegangen sei und damit Popularisierung als einseitige Belehrung aufgefaßt habe, sei in England das Ideal einer „Republic of Science"47 lange Zeit verwirklicht worden: als Aufforderung zu Partizipation und Selbsttätigkeit, als soziales Handeln im Sinne von Kooperation und als demokratische Einlösung des Anspruchs auf Wissen, das jedem Individuum zustehe. Schon Sheets-Pyenson sprach in diesem Kontext treffend von einer symbiotischen Beziehung zwischen dem Phänomen Amateurwissenschaft und den Naturvereinen. 48 41
42 43 44 45 46 47 48
Vgl. zur nationalen Charakterisierung Berman: „Hegemony" (1975), Shaw: Patterns (1980), S. 151f.; Alter: Wissenschaft (1982), S. 244f.; Sheets-Pyenson: Popular Science Periodicals (1985). Liebig an J. J. Berzelius 26.11.1837, zitiert nach Alter: Wissenschaft (1982), S. 245. Ebenda, S. 244. Berman: „Hegenomy" (1974). Shapin/Thackray: Prosopography (1974), S. 5. Sheets-Pyenson: Popular Science Periodicals (1985). Ebenda, S. 562. Ebenda, S.551. Die Autorin hatte die Autonomisierung der Amateursphäre vor Augen, als sie den Begriff „low science" als Alternative zu „populär science" vorschlug, da er eher die eigenwertigen Formen des Umgangs mit Wissen andeuten
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III. Vereine, Vorträge und Feste
Währenddessen intensivierte sich die Beschäftigung mit der Amateurwissenschaft in den USA. Sally G. Kohlstedt stellte die 1830 gegründete Boston Society of Natural History in den Mittelpunkt zweier Fallstudien über die Entwicklung der amateur tradition und des Musealwesens, um die Rolle der „observers, collectors, and informed patrons" 49 als Agenten regionaler Naturforschung zu akzentuieren. Hier ebenso wie in ihrer großangelegten Untersuchung zur American Association for the Advancement of Science 1848 bis 1869, dem Pendant zur deutschen GDNA, 50 kam Kohlstedt zu dem Ergebnis, daß die „self-culture" der Amateure, die einen Nährboden für die Lyceum-Bewegung seit den 1830 Jahren gebildet hatte, durch die allmähliche Professionalisierung und Institutionalisierung der Fachwissenschaft verdrängt worden sei.51 Mit der Dichotomisierung von Amateurwissenschaft und Professionalisierung, die gleichzeitig eine zeitliche Abfolge implizierte, etablierte sich in der angelsächsischen Forschung ein einsichtiges Interpretationsschema, das die scheinbar eindeutige Marginalisierung der Amateurwissenschaft im Verlauf des 19. Jahrhunderts spiegelte.52 Inzwischen erweitert sich allerdings die Diskussion, indem auch vergessene lokale Räume, die dem (amateur-)wissenschaftlichen Austausch dienten wie der englische Handwerker-Pub, einbezogen werden und die Vieldeutigkeit naturkundlicher Objekte, z.B. in Museen, als Basis einer Verständigung zwischen professionellen Wissenschaftlern und Amateuren gewürdigt wird.53 Die Benennung der personellen Trägerschicht der Amateurwissenschaft in Abgrenzung zu professionellen Forschern blieb aber unklar. Nathan Reingold schlug 1976 vor, die scientific community in drei Gruppen zu unterteilen: „Researchers" 54 , „Practitioners" 55 und „Cultiva-
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55
würde und nicht allein von der akademischen Wissenschaft abzuleiten sei, siehe ebenda S. 562. Kohlstedt: The Nineteenth-Century Amateur Tradition (1976), S. 173; dies.: From Learned Society (1979). Vgl. Gizycki: The Associations (1979). Kohlstedt: The Formation (1976), S. XI, 18-23,57 et passim. Vgl. zuletzt Keeney: The Botanizers (1992), Secord: Science (1994), S. 297-299; Anne Secord: Artisan Botany, in: Cultures of Natural History (1996), S.391; Drouin/Bensaude-Vincent: Nature (1996), S. 418f. Secord: Science (1994) und Susan Leigh Star/James R. Griesemer: Institutional Ecology, Translations' and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley's Museum of Vertebrate Zoology, 1907-39, in: Social Studies of Science 19 (1989), S. 387-420. „[...] individuals characterized by a single-minded devotion to research, resulting in an expertise yielding an appreciable accomplishment by past standards certainly and in retrospect in some instances. Most, but not all, are in scientific occupations." „[...] individuals wholly or largely employed in scientific or science-related occupations. Those who publish are less prolific and less significant in terms of accomplishment than researchers."
1. Naturvereine und Vereinsnatur
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tors" 56 . Mit dem Terminus Cultivators wollte Reingold die enge Konzentration auf den elitär verstandenen gentleman scientist im Sinne eines Thomas Jefferson überwinden und durch die negativ besetzten Begriffe Laie und Amateur ersetzen. Daß die ,Cultivators' letztlich hierarchisch den ,Researchers' unterlegen waren und das gesamte von Reingold typologisierte Personal im Rahmen der konventionellen Bestimmung der Wissenschaftler als Berufsgruppe blieb, nahm 1994 Daniel Goldstein zum Anlaß einer generellen Revision.57 Goldstein verwies auf die vielen regionalen naturkundlichen Zentren, gerade auch jenseits des Ostküstenstreifens, auf das rege naturwissenschaftliche Interesse im Mittleren Westen und selbst in dem vom Bürgerkrieg durchzogenen Süden. Er bezog überdies Ärzte, Landwirte, Technologen, Kaufleute etc. ein, die als Amateurwissenschaftler und Korrespondenten der Smithsonian Institution ein nationales Netz für den naturkundlichen Informationsaustausch bildeten. Vor dem Hintergrund der jüngeren angelsächsischen Historiographie kann die deutsche Entwicklung, obwohl sie dort entweder negiert oder als abweichender Fall marginalisiert wurde, präziser beschrieben werden. Entgegen der Annahme eines deutschen Sonderwegs bietet die Kategorie der partizipatorischen Amateurwissenschaft gerade auch für Deutschland einen sinnvollen Ansatz, um die Rolle der privaten Naturbeschäftigung im bürgerlichen Zeitalter zu umschreiben. Was als englisches Ideal der Republic of Science skizziert wurde, enthält im Kern jenen kulturellen Code, der das Bürgerliche des bürgerlichen Zeitalters in Deutschland ausmachte: Bildung als Selbstbildung, Partizipation am Wissen statt ständischer Bevormundung und Eigeninitiative statt Determinierung des Individuums. Ob die Ideologie der amateur science für England in Anlehnung an die Klassentheorie Antonio Gramscis als Hegemonialstrategie der alten aristokratischen Schicht kritisiert werden kann 58 oder nicht doch eher als Ausdruck eines selbstbewußt-emanzipatorischen Verhaltens der Mittelschicht gedeutet werden muß,59 braucht hier nicht entschieden zu werden. Wichtiger ist, daß der amateurwissenschaftliche Aktivismus keinesfalls ein bloß angelsächsisches Phänomen darstellte, sondern nicht zuletzt im bürgerlichen Vereinswesen Deutschlands eine Heimat fand. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, auch im deutschen Fall die personelle Trägerschicht amateurwissenschaftlicher Beschäftigung künftig wesentlich breiter zu definieren und das Feld der verpönten Dilettanten und 56
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Als gebildete Personen, die ein individuell beträchtliches Wissen in der Naturkunde besaßen und sporadisch Beiträge zur naturwissenschaftlichen Diskussion lieferten. Alle genannten Definitionen nach Reingold: Definitions (1976), S. 38f. Goldstein: „Yours for Science" (1994). So bei Berman: „Hegemony" (1975). Morrell/Thackray: Gentleman of Science (1981), Inkster/Morrell (Eds.): Metropolis (1983), S. 17.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
Laien verstärkt einzubeziehen. Dem Fall des Hanauer Fabrikbesitzers Carl Rößler lassen sich zahlreiche andere zur Seite stellen. Dabei werden die lokalen und regionalen naturkundlichen Zentren, d.h. an erster Stelle: die Naturvereine, von zentraler Bedeutung sein. Eine streng soziologische Bestimmung der Amateurwissenschaft ist allerdings kaum möglich. Der Typus ist nur zu verstehen als Ausdruck der Ausdifferenzierung des privaten Raums der bürgerlichen Gesellschaft und als unleugbares Komplement zur Professionalisierung der Wissenschaft. Die Amateure als Nichtakademiker zu bezeichnen, wäre irreführend. In den Naturvereinen fanden sich zahlreiche Absolventen akademischer Studiengänge. Eine strenge Gegenübersetzung zu den Kategorien der Professionalisierung würde z.B. Alexander von Humboldt als Amateur erscheinen lassen. Die Amateurwissenschaft ist eher mit Kategorien kulturellen Verhaltens zu definieren. Sie orientiert sich primär an dem Ideal selbstbestimmter Bildungstätigkeit außerhalb beruflicher Pflicht. Sie zielt auf die Befriedigung des persönlichen Interesses ohne notwendigerweise die eigenen Erkenntnisse in einem wissenschaftlichen Diskurs weiterzugeben. Sie läßt der Freude an Geselligkeit und sozialer Vernetzung mehr Raum als dem Leistungsethos des professionellen Forschers. Die Naturvereine entsprachen in hohem Maße den Bedürfnissen der nichtprofessionellen Naturfreunde nach Entfaltung und Organisation. Dabei trat der Typus des aufklärerischen Liebhabers der Wissenschaften zurück, der über seine Kenntnisse im Salon zu parlieren wußte oder technischen Schaustellungen und physikalischen Experimenten auf Jahrmärkten beiwohnte.60 Die Ausbreitung des bürgerlichen Vereinswesens begünstigte eine sozial stärker organisierte und breiter angelegte Form der Betätigung. Die Vereine erlaubten den Amateuren, ihren Naturinteressen in der geselligen Gemeinschaft Gleichgesinnter nachzugehen und die wachsende Distanz zur akademischen Zunft zu kompensieren. Die Emdener Naturforschende Gesellschaft betonte z.B. im Rückblick auf ihre 1814 erfolgte Gründung, daß sie nicht durch „Fachmänner" ins Leben gerufen worden sei, „sondern einzig und allein durch einen über das Bedürfniss des Alltagslebens hinausgehenden Drang der Bürgerschaft nach Erkenntnis"61. Die Vereine eröffneten den Hobbyforschern und Regionalspezialisten, den Sammlern von Fossilien und Pflanzen, den Sternguckern und Höhlenwanderern, den Vogelbeobachtern und Aquarienbesitzern im sozialen Verbund die Möglichkeit, Material zu sammeln und zu ordnen, an Exkursionen und Lehrveranstaltungen teilzunehmen sowie wissenschaftliche Beratung und Anregung zu finden. Vor allem konnten die Amateurwissen60 61
Liebhaber und Wissenschaft (1986), Rüger: Populäre Naturwissenschaft (1982). Zitiert nach Siefert: Das naturwissenschaftliche und medizinische Vereinswesen (1967), S. 39.
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schaftler in den Vereinen selbst aktiv werden und in den regelmäßigen Sitzungen oder im informellen Informationsaustausch positive Resonanz auf die privaten Interessen gewinnen. Es gehört zu diesem Demokratisierungsprozeß, daß in den Naturvereinen ein schichten- und rangübergreifendes Wissenschaftstraining62 praktiziert wurde. Angesichts der beklagenswerten Situation der Naturgeschichte im höheren Schulwesen entwickelten sich die Vereine zu unverzichtbaren naturkundlichen Sozialisationsagenturen, die in vielen Fällen den anschließenden Weg in die universitäre Wissenschaft förderten. Nicht zufällig blickten praktisch alle Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts später gern auf ihre frühen Aktivitäten in Naturvereinen zurück. Die Naturvereine boten den nichtprofessionellen Naturinteressierten ein soziales und fachliches Auffangbecken. Statt auf der akademisch-wissenschaftlichen Bühne an den Rand gedrängt zu werden, erhielten die Naturkundler im lokalen naturkundlichen Zusammenhang eine zentrale Stellung, in der sie das eigene Interesse nicht als minder qualifiziert gespiegelt bekamen. Die Amateurwissenschaftler entwickelten sich zu Experten der sie umgebenden Fauna und Flora, zu Autoritäten in der heimischen Geologie und Wetterkunde. 63 Den Naturvereinen erwuchs daraus eine eminente sozialpsychologische Funktion. Sie verliehen den Amateuren soziale Bestätigung, sanktionierten positiv deren Kompetenz und suggerierten ihnen den Status des Fachmanns bzw. der Fachfrau. Allerdings riefen die inneren Spezialisierungsprozesse auch Spannungen hervor. Daß die „Dilettanten" zu den „eigentlich legitimen Repräsentanten der bürgerlichen Kultur und ihrer Organisation in Vereinen" 64 wurden, ist nur eine Seite. Demgegenüber stehen lokale Elitebildungen, bei denen innerhalb des Umfelds aus gebildeten Laien gerade die akademisch qualifizierten Naturwissenschaftler mit ihrem Wissensvorsprung die Vereinsaktivitäten bestimmten. Über die Sektionsbildung, die Verfestigung von inneren hierarchischen und organisatorischen Ordnungen und die Aufnahme eigener Publikationstätigkeit wurden in vielen Naturvereinen zunehmend wissenschaftlich-professionelle Standards gesetzt. Gerade an Vereinsorten mit Universitäten oder höheren naturwissenschaftlichen Ausbildungsstätten dominierten oft Studenten und Professoren im Vereinsleben, das sich zur akademischen Neben- und Übungstätigkeit entwickelte.65
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Nach Stephens/Roderick: Science Training (1971). Dem entsprachen die Satzungsziele der Naturvereine, nämlich die Konzentration auf die lokale oder regionale Umgebung zu lenken. Nipperdey: Verein (1972/76), S. 192f. In Clausthal wurde z.B. der Naturwissenschaftliche Verein Maya von den Studenten der Bergakademie geprägt, vgl. Stoehr: Allgemeines Deutsches VereinsHandbuch (1973), S. 46.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
Im Zuge der Verwissenschaftlichung ging in den Vereinen ein gut Teil des Charmes der „zwanglosen Unterhaltung über naturwissenschaftliche Gegenstände bei einer Tasse Kaffee und einer Pfeife Taback" 66 verloren. Schon 1842 hielt es der Verein für Naturkunde im Herzogthum Nassau für unter seiner Würde, „die Neigung dilletantischer Sammler zu bekämpfen, die nur sammeln, um zu erwerben, oder nur erwerben, um sich des Besitzes zu erfreuen." 67 Wo die Amateurwissenschaftler erneut solchen exklusiven Tendenzen begegneten, blieb ihnen der Weg in die Passivität, in die Lektüre oder die Chance, wiederum alternative Angebote aus dem Vereinsspektrum zu nutzen bzw. solche selbst zu schaffen. In Frankfurt am Main konstituierte sich 1859 der Verein für naturwissenschaftliche Unterhaltung, um den Bedürfnissen der „Dilettanten" gerecht zuwerden. Da die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft von ihren Mitgliedern „einigermassen fertige Kenntnisse" erwartete, schuf man im neuen Verein ein gesondertes Forum für die „harm- und zwanglose Unterhaltung", um „auf gemüthliche Art naturwissenschaftliche Kenntnisse zu erwerben und zu deren Erlangung in weiteren Kreisen anzuregen." 68 Dabei trat ein Teil der Mitglieder des Vereins auch der Senckenbergischen Gesellschaft bei, und deren Direktor lobte später, der Verein für naturwissenschaftliche Unterhaltung habe ein Desiderat im Vereinsleben aufgegriffen. 69 Weit über Frankfurt hinaus setzte eine funktionale Differenzierung des naturkundlichen Vereins- und Informationswesens ein. Damit erweist sich das zweistufige Modell von Amateurwissenschaft und wissenschaftlicher Professionalisierung als vordergründig. Nicht nur zeitlich vorangehend, sondern parallel zur Professionalisierung - und nicht allein von dieser verdrängt - entfalteten sich Angebote außerprofessioneller Naturwissenschaft. Das Fortleben der Amateurkultur im Verlauf des 19. Jahrhunderts wird damit weniger in linearen Verlaufsformen 70 als in dialektischen Prozessen der Ausbreitung, Zurückdrängung und Neukonstituierung amateurwissenschaftlicher Freiräume bestimmt werden können. 71 In Deutschland
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71
Krahmer: Geschichte (1853/54), S. 5. Thomä: Geschichte (1842), S. 70. Heynemann: Ansprache (1884). Ebenda, S. 21. So dominierend bei Schulz: Der Künstler (1996), der - angelehnt an die maßgeblich von Lothar Gall formulierte These von der Erosion des vormärzlichen bürgerlichen Gesellschafts- und Kulturideals um 1850 - die Degeneration der bürgerlichen Dilettantenkultur in der zweiten Jahrhunderthälfte zu einem gesellschaftlichen Randphänomen, verdrängt von der sich professionalisierenden Hochkultur, beklagt. Vgl. zu solchen Wandlungsprozessen aus dem Bereich der Astronomie, in dem bis heute ein beträchtliches Maß an amateurwissenschaftlicher Expertise überlebt hat, John Lankford: Amateurs versus Professionals: The Controversy over Telescope Size in Late Victorian Science, in: Isis 72 (1981), S. 11-28.
1. Naturvereine und Vereinsnatur
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bot sich den Amateurwissenschaftlern am Ende des Jahrhunderts ein ungleich breiteres Spektrum als fünfzig Jahre zuvor. Es reichte von der Naturfreunde-Bewegung über die Volkshochschulbewegung bis zu den zahlreichen Aquarien-, Terrarien- und Hobbyforschervereinen. Letztere ließen nichts unversucht, um in der Öffentlichkeit höhere Weihen zu erwerben. Die Namen der Amateur- und Liebhabervereine wurden bevorzugt der Mythologie entlehnt. Daphnia und Heros, Isis und Neptun, Proteus und Triton gaben sich im Feld der Blumenfreunde, Fischzüchter und Raupensammler ein fröhliches Stelldichein. Die Amateurwissenschaft bleibt im ganzen eine chamäleonartige Erscheinung und bedarf der präziseren begrifflichen Differenzierung und empirischen Bestimmung. Sie schwankte stets zwischen liebhaberischer Wissenspflege und privater Vereinsseligkeit einerseits und Akademisierungserwartung und Verwissenschaftlichung andererseits. Die Amateurwissenschaft erweist sich im Rückblick weniger als Einheit, denn als ein wandelbares, eng auf die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft bezogenes Phänomen und kulturelles Verhalten.
c) Öffentlichkeitsarbeit, naturkundliche Vereinsmuseen und das Verständnis von Popularität Die Informationsvernetzung im Vereinswesen, dessen soziale und regionale Ausstrahlungskraft sowie die Aufgabe, der Amateurwissenschaft ein Forum zu bieten, machten aus den Vereinen unverzichtbare naturkundliche Vermittlungsinstanzen. Dem entsprach das formelhaft bis ins 20. Jahrhundert wiederholte Selbstverständnis, innerhalb der vertrauten Umgebung zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse beizutragen. In Kiel lautete der § 1 des Vereins nördlich der Elbe komprimiert: „Der Zweck des Vereins ist, das Interesse für die Naturwissenschaften in weiteren Kreisen zu wecken und zu beleben, eine ersprießliche Beschäftigung mit denselben zu fördern und den naturhistorischen und physikalischen Theil unserer Heimathkunde weiter auszubilden und zum Gemeingut zu machen." 72 Seit dem Vormärz hatte sich zudem in den Naturvereinen die Erkenntnis durchgesetzt, daß hinter dem eigenen Publikum, d.h. den Mitgliedern, eine weiter gespannte Öffentlichkeit stand, die ihrerseits Informationsbe72
Statuten des Vereins nördlich der Elbe für Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse, berathen und beschlosssen in der ersten Vereinsversammlung in Kiel am 5. Mai 1855; revidiert auf der 15. Vereinsversammlung, den 11. Juli 1868. Kiel 1868, S. 2. Entsprechende Formulierungen finden sich bei allen Vereinen. Vgl. Sachse: Welches sind die Aufgaben (1847), S. 170; Siefert: Das naturwissenschaftliche und medizinische Vereinswesen (1967), S. 142-146.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
dürfnisse besaß; im 18. Jahrhundert war beides noch weitgehend deckungsgleich. In dem Maße, wie der Öffentlichkeitsbegriff erweitert und abstrakter wurde, sahen sich die Naturvereine der Erwartung ausgesetzt, ihren Aktivitäten Transparenz zu verleihen. Umgekehrt wurden die Rückwirkungen des öffentlichen Interesses auf den Verein wahrgenommen. Nach 1850 nutzten viele Vereine die Erfahrung, daß man sich „ins öffentliche Leben hineinwagen müsse", um der „Erlahmung der Vereinstätigkeit" vorzubeugen. 73 Die Naturforschende Gesellschaft zu Bamberg registrierte z.B. aufmerksam, daß die Innovation von 1866, „populär wissenschaftliche Vorträge für weitere Kreise abzuhalten", das „Interesse des grösseren Publikums" an dem Verein erneuert habe.74 Damit ist eine typische Reaktion der Vereine auf die Ausweitung der bürgerlichen Öffentlichkeit bezeichnet. Die meisten Naturvereine öffneten ihre Versammlungen gänzlich oder zum Teil auch für Nichtmitglieder, in Freiburg z.B. seit 1821, oder sie erleichterten - wie in Altenburg 1828 mit neuen Statuten „jungen Freunden der Wissenschaft" den Zutritt. 75 Vor allem begannen die Vereine, öffentliche Vortragsveranstaltungen zu organisieren, die oft in regelmäßige jahreszeitliche oder wöchentliche Zyklen übergingen. In Hanau und Marburg wurden entsprechende Vorträge seit den 1820er Jahren eingerichtet, in Breslau 1847, in Altenburg 1856, in Nürnberg und Bamberg seit den 1860er Jahren, in Krefeld 1872. In Hamburg stellten die Vorträge des Naturwissenschaftlichen Vereins seit 1850 überhaupt den Anfang des öffentlichen Vorlesungswesens der Stadt dar.76 Dieser Entwicklung entsprechend wurden seit ca. 1840 terminologisch „wissenschaftliche" und „belehrende populäre Vorträge" unterschieden. 77 Im letzten Jahrhundertdrittel bürgerte sich in den Vereinen das Bekenntnis zu populärwissenschaftlichen Vorträgen ein.78
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78
Naturwissenschaftlicher Verein zu Krefeld (1908), S. 18 (bezogen auf das Jahr 1865). Hübsch: Geschichtlicher Rückblick (1884), S. 10. Festschrift hg. zur Feier des fünfzigjährigen Jubiläums der naturforschenden Gesellschaft zu Freiburg i.B. Freiburg i.B. 1871, S. VII; Voretzsch: Festrede (1899), S. 18. Zingel: Geschichte (1908), S. 134-139; Siefert: Das naturwissenschaftliche und medizinische Vereinswesen (1967), S. 153; Wendt: Die wissenschaftlichen Vereine (1904), S.1061; Haemmerlein: Die naturforschende Gesellschaft (1992), S.7; Saecular-Feier (1901), S.XXXI; Naturwissenschaftlicher Verein zu Krefeld (1908), S. 19ff.; Hübsch: Geschichtlicher Rückblick (1884), S. 10; Doermer: Hundert Jahre (1937), S. 28. Allgemeine deutsche Naturhistorische Zeitung 1 (1846), S.408 (für die Emdener Naturforschende Gesellschaft). Für Wiesbaden vgl. Thomä: Geschichte (1842), S.70. Naturwissenschaftlicher Verein Krefeld (1908), S.20, bezogen auf 1872. Vgl. Hübsch: Geschichtlicher Rückblick (1884), S . l l , 16 mit Blick auf die Naturforschende Gesellschaft zu Bamberg.
1. Naturvereine und Vereinsnatur
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In den Jahren 1849 bis 1852 war Roßmäßler nach dem Wegfall seiner staatlichen Professorenstelle einer der ersten „naturwissenschaftlichen Reiseprediger" in Deutschland geworden, der - wie er leicht ironisch vermerkte - als „naturwissenschaftlicher Bänkelsänger" 79 gegen Honorar und mit spektakulären Schautafeln ausgerüstet in verschiedenen Städten und Naturvereinen Vorträge hielt, so in Frankfurt am Main, Mainz, Stuttgart, Ludwigsburg, Wiesbaden, Aschersleben, Halberstadt und Magdeburg.80 Bald folgten ihm andere, von Alfred Brehm bis Robert Schlagintweit. Nach 1872/73 übernahm die G W die systematische Organisation und Vermittlung von Wandervorträgen; mit ihr verknüpft war die Berliner Humboldt-Akademie, so daß die Naturvereine auch auf deren Referenten zurückgreifen konnten. 81 Die flächendeckende Betreuung von Naturvereinen mit Vorträgen wurde für nicht wenige Naturwissenschaftler zur Existenzgrundlage. Konzessionen an den Publikumsgeschmack blieben dabei nicht aus. In der Wetterauischen Gesellschaft war z.B. in den 1870er Jahren Unterhaltung „die Parole geworden." Man habe versucht, das Interesse der Mitglieder aufrechtzuerhalten, indem man bekannte Redner wie Alfred Brehm engagierte, der für jeden von zwei Vorträgen 150 Mark sowie das Eintrittsgeld von einer Mark erhielt.82 Dabei waren es nach 1870 nicht nur ausgesprochene Popularisierer, die das Vereinsnetz zu Vortragsreisen nutzten und sich auf dem freien Markt anboten. Auch professionelle Naturwissenschaftler wie Emil Du Bois-Reymond wurden von den Vereinen „zum Zwecke populärer Vorlesungen" eingeladen, waren es doch „Fragen aus dem Gebiete der Naturwissenschaften [...] ganz besonders, welche das Publikum in unserer Zeit lebhaft erregen; aber auf fast keinem Gebiete wird es mehr nothwendig sein u. begehrt man mehr, gewissermaßen eine Direktion von einer Autorität zu erhalten." 83 Du Bois-Reymond ging auf die konkreten Wünsche der Vereine bereitwillig ein. Einer Bitte aus Hamburg folgend, ob er das Vortragsthema 79 80
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82 83
Roßmäßler: Mein Leben (1874), S. 140,146. Vgl. exemplarisch Stadtarchiv Mainz, Archiv der Rheinisch-Naturforschenden Gesellschaft, Bd. 48, Eintragung Dr. Wittmann zum 10.5.1852; Bd. 50, Eintragungen Dr. Wittmann zu 9.2.1852,7.6.1852,15.6.1852; Stadtarchiv Mainz, Briefsammlung Nr. 15, Friedrich Voltz an E. A. Roßmäßler 31.1.1853, wonach Voltz selbst „populäre Vorlesungen über Geologie" mit gemischten Erfolg gehalten habe. So in Düsseldorf 1891 zum Zweck astronomischer Vorträge, siehe Naturwissenschaftlicher Verein (e.V.) zu Düsseldorf [1909], S. 17. Vgl. Der Bildungs-Verein 3 (1873), Nr. 23; Dräger: Die Gesellschaft (1975), S. 91,128-165, v.a. 138ff. Über die Vermittlung und geographische Streuung der Wandervorträge bieten den besten Überblick die Zeitschriften Der Bildungs-Verein bzw. Volksbildung, vgl. auch das Adreßbuch der Deutschen Rednerschaft (1886ff.). Zingel: Geschichte (1908), S. 196. SB Berlin, Haus 2, Nachlaß Emil Du Bois-Reymond, Kasten 8, Mappe 3: Korrespondenz über die Wandervorträge 1877, Zitate aus Schreiben an Du Bois-Reymond f. 55f. aus Köln und f. 21 aus Duisburg vom 29.10.1876.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
„über Nahrungsmittel" nicht für das Publikum im voraus etwas „coloriren" könne, änderte der Berliner Physiologe das Thema in ein zugkräftiges „Warum müssen wir unser tägliches Brot beten, und was versteht die Physiologie unter täglichem Brote?" 84 Der Öffentlichkeitsbezug der Vereine wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch die Wandlung der Naturalienausstellungen verstärkt. Seit jeher hatte es zu den Aufgaben naturkundlicher Vereine gehört, Naturobjekte zu sammeln und sie museal aufzubereiten. Die Geschichte der Naturmuseen wird inzwischen eigenständig aufgearbeitet und findet wachsendes Interesse; an dieser Stelle soll mit Blick auf das Vereinswesen nur weniges akzentuiert werden. 85 D i e Naturvereine vermochten den Mangel an staatlichen und kommunalen Naturkundemuseen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts teilweise zu kompensieren. Aus den Vereinen erwuchs eine Reihe neuer Sammlungen, am bedeutendsten das Senckenberg-Museum seit 1821, daneben die Naturkundemuseen in Altenburg (Mauritianum), Görlitz, Hamburg und Münster. 86 In vielen Fällen gingen die Vereinsmuseen später in staatliche oder städtische Hände über, so in Bremen 1875 und in Hamburg 1883. In einigen Städten, Köln und Stuttgart z.B., wurden sogar eigene Vereine als pressure-groups zur Gründung oder Förderung von Naturkundemuseen gebildet. 87 84 85
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Ebenda, Kasten 8, Mappe 4, Korrespondenz über die Wandervorträge 1883-1884, f. 58 und 64; ähnlich f. 25. Julius Schuster: Geschichte und Idee des naturwissenschaftlichen Museums, in: Archiv für Geschichte der Mathematik, der Naturwissenschaften und der Technik 11 (1928/29), S. 178-192; Wilhelm Schäfer: Naturwissenschaftliche Museen als Forschungsstätten. Frankfurt/M. 1963; Friedrich Klemm: Geschichte der naturwissenschaftlichen und technischen Museen. München 1973; Ilse Jahn: Die Museologie als Lehr- und Forschungsdisziplin mit spezieller Berücksichtigung ihrer Funktion in naturhistorischen Museen. Geschichte, gegenwärtiger Stand und theoretische Grundlagen, in: Neue Museumskunde 22 (1979), S. 152-169; Kuntz: Das Museum (1980). Vgl. in internationaler Perspektive Kohlstedt: From Learned Society (1979), dies.: German Ideas and Practice in American Natural History Museums, in: Henry Geitz/Jürgen Heideking/Jurgen Herbst (Eds.): German Influences on Education in the United States to 1917. New Yok 1995, S. 103-114; Edward P. Alexander: Museum Masters: Their Museums and their Influence. Nashville, Tenn. 1983, hier S. 311-339 zum Tierpark Hagenbecks in Hamburg und S. 341-375 zu Oskar von Miller und dem Deutschen Museum. Schäfer: Geschichte (1967), Kramer: Chronik (1967), S. 181ff.; Norbert Höser: 75 Jahre Mauritianum - Der Beginn, in: Abhandlungen und Berichte des Naturkundlichen Museums „Mauritianum" Altenburg 11,2 (1984), S. 210-213; Ansorge: 175 Jahre (1987), Doermer: Hundert Jahre (1937), Staatsarchiv Hamburg, Hochschulwesen I. Reg. Gen. B. VI.l., Oberschulbehörde, Section I, Naturhistorisches Museum, Nr. 1,2,3,9.; Franzisket: Die Geschichte (1967). Engländer: Das Naturkundemuseum (1985), S. 192. Vgl. 25 Jahre „Verein zur Förderung der Württ. Naturaliensammlung in Stuttgart", zusammengestellt v. [...] F. Berckemer. Stuttgart 1938.
1. Naturvereine und Vereinsnatur
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Die großen Vereinsmuseen sahen sich ebenso wie die kleineren Vereinssammlungen seit dem Vormärz mit der Frage konfrontiert, ob und in welcher Weise die Öffentlichkeit Zugang erhalten sollte. Bereits 1845 konstatierte ein Beobachter, daß „es gleichsam Mode geworden" sei, NaturalienSammlungen anzulegen; solche „öffentliche Sammlungen" würden als „lebendige Bilder der Schöpfung und kostbarer Schmuck der Hauptstädte" und als „Mittel zur Belehrung in der Naturgeschichte ganz vorzügliche Achtung genießen". 88 Die Nachfrage nach musealer Belehrung bewirkte einen Prozeß der Neugründungen und der allmählichen Öffnung vorhandener Museen. Aus den Kuriositätenkabinetten des 18. Jahrhunderts erwuchsen öffentliche Naturkundemuseen, die als Schausammlungen und Bildungsstätten von den akademischen Museen getrennt wurden. Die Entwicklung begann seit ca. 1820 mit der Einrichtung begrenzter Besichtigungszeiten und Beschriftungen in deutscher Sprache. Nach 1860 kam es zumeist zu neuen räumlichen Unterbringungen mit publikumsfreundlicher Gestaltung. Seit den 1880er Jahren wurde eine intensive museumspädagogische Diskussion geführt, an der sich vorwiegend Zoologen wie Karl Kraepelin und Karl Möbius beteiligten,89 und um die Jahrhundertwende waren museumsbezogene Volksbildungsveranstaltungen an der Tagesordnung.90 Mit den Naturaliensammlungen gewannen die Vereine ein Fenster nach außen. Eine typische Entwicklung bietet das Museum der Naturforschenden Gesellschaft in Görlitz.91 Die dortige Ornithologische Gesellschaft von 1811 hatte ein Naturalien-Kabinett angelegt, das in Mietstuben diverser Lokale untergebracht wurde. Nachdem sich die Gesellschaft 1823 zur ,Naturforschenden' erweitert hatte, ermöglichte sie 1825 gemäß der programmatischen Verpflichtung nach „Gemeinnützigkeit" Besuchern, das Kabinett einzusehen. Für Stadtfremde war jedoch eine umständliche schriftliche Genehmigung notwendig. 1860 erhielt die Sammlung ein eigenes Gebäude, und der Präsident betonte, das Erforschte dürfe nicht länger „in der engen Stube des Gelehrten" bleiben. An zwei Wochentagen gab es fortan feste Öffnungszeiten, insgesamt sechs Stunden, die 1897 erweitert wurden. 1911 erschien der erste zusammenfassende Museumsführer, nachdem zur Jahrhundertwende die erste Dauerausstellung, „Die Lausitz und ihre drei Naturreiche", eingerichtet worden war. Außerdem bot das Görlitzer Museum den städtischen Schulen Anregungen für den Naturkundeunterricht. 1837 beantragte die Bürgerschuldirektion erstmals, die Sammlungen zu Unterrichtszwecken mitzubenutzen. Seit 1872 erfüllte das Mu88 89 90 91
Held: Demonstrative Naturgeschichte (1852), S. VII, Vorwort, geschrieben 1845. Vgl. Haacke: Bioekographie (1886), Kraepelin: Die Bedeutung der naturhistorischen [...] Museen (1888), Möbius: Die zweckmäßige Einrichtung (1891). Vgl. Kuntz: Das Museum (1980) und Vogel: Volksbildung (1959), S. 25. Nach Ansorge: 175 Jahre (1987), Zitate ebenda, S. 4.
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seum die Bitten um Anschauungsmaterial, zumal finanzielle Zuwendungen aus dem Unterrichtsministerium Unterstützung verhießen. 1890 trat der Naturverein als korporatives Mitglied der G W bei, 1897 wurden gesonderte Öffnungszeiten für Besucher aus den Schulen eingerichtet. Die Kooperation der Vereine mit den Schulen und das zunehmende Engagement ihrer Museen für den lokalen Naturkundeunterricht sind typische Phänomene der zweiten Jahrhunderthälfte. Die Naturaliensammlungen zu nutzen, entsprach dem Ruf der Realienlehrer nach Anschaulichkeit. Aus dieser Affinität ergaben sich im Zuge der Expansion des Realschulwesens enge personelle Verknüpfungen. In Hamburg entstammte seit 1864 der Großteil der Mitglieder und des Führungspersonals im Naturwissenschaftlichen Verein dem Realschulzweig des Johanneums, darunter Karl Möbius, Heinrich Bolau und Karl Kraepelin. Das Zoolgische Museum und die Hamburger Thesen 1901 wurden vom Verein, der 1905 eine eigene Fachgruppe für naturwissenschaftichen Unterricht gründete, unterstützt. 92 Das Kölner Naturkundemuseum ging, angeregt durch die 61. VDNA in Köln 1888, aus der Sammlung des Realgymnasiums an der Kreuzgasse hervor.93 Der Ausbau von Naturkundemuseen war eine von mehreren Möglichkeiten der Vereine, sich im kommunalen Raum zu profilieren und im öffentlichen Leben zu Wort zu melden. Andere Chancen dazu ergaben sich durch die Erstellung von naturwissenschaftlichen Gutachten, die Sponsorenschaft für wissenschaftliche Einrichtungen und durch neue Publikumsaktionen. So unterstützte der Bremer Naturwissenschaftliche Verein seit 1875 die Versuchsstation für Moor, Sumpf und Heide und stellte 1882 vor dem Bischofstor eine Meteorologischen Säule auf. Der Krefelder Naturwissenschaftliche Verein berief eine Kommission, die sich mit den Abwässern und der Kanalisation der Stadt befaßte. In Hamburg initiierte und unterstützte der Naturwissenschaftliche Verein 1858 bis 1885 einen naturwissenschaftlichen Lesezirkel der Stadtbibliothek. 94 Umgekehrt wurden die Naturvereine von der bürgerlichen Gesellschaft kulturell und finanziell prämiert. Den sichtbaren Ausdruck stellten diverse, meist bürgerliche Stiftungen dar, die zum Zecke der Vereinsforschung, für Reisen oder die Aufstockung von Museum und Bibliothek geleistet wurden. In Bremen kamen dem Naturwissenschaftlichen Verein z.B. die Niebuhr-, Kindt-, Frühling- und Rutenberg-Stiftung zugute. Das Senckenber-
92 93 94
Bolau: 1837-1887 (1887), S. 24f.; Doermer: Hundert Jahre (1937), S. 31-33; Weidner/Kraus: Aus der Geschichte (1988), S.69f. Engländer: Das Naturkundemuseum (1985) Kurz: 75 Jahre (1939), S. 64,77; Naturwissenschaftlicher Verein zu Krefeld (1908), S. 18; Bolau: 1837-1887 (1887), S. 20.
1. Naturvereine und Vereinsnatur
117
gische Museum erhielt allein 1906 durch Frankfurter Bürger 400000 Mark für den Museumsneubau. 95 Die Naturvereine erschlossen im Verlauf des 19. Jahrhunderts das jeweilige lokale und regionale Umfeld zu naturkundlichen Zwecken. Innerhalb dieser Räume, in einigen Fällen auch darüber ausgreifend, knüpften sie ein engmaschiges Kommunikationsnetz. Die Vereine betrieben auf verschiedene Weise das, was man heute als Öffentlichkeitsarbeit bezeichnen würde und schufen Basisstrukturen für die Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse. Der Popularisierungsbegriff selbst war im Vereinswesen früh und mit großer Selbstverständlichkeit beheimatet. Bereits 1802 findet sich bei der Vaterländischen Gesellschaft der Aerzte und Naturforscher Schwabens die programmatische Zielsetzung, „die Kenntnisse [...] immer allgemeiner zu machen und so weit zu verbreiten als möglich (was man sonst die Wissenschaften popularisiren heißt)." 96 In Wiesbaden erklärte 1842 der Naturverein „die Popularisirung und das Praktischwerden der Naturkunde" zum wichtigsten Zweck.97 Dabei wurde Popularisierung noch primär im Sinne aufklärerischen Gemeinnutzes verstanden. Nach 1850 hieß das Bekenntnis der Naturvereine zur ,,populäre[n] Darstellung" 98 , daß sie sich noch mehr um die Einbeziehung von Laien zu bemühen versuchten. In Städten mit einem weitgefächerten Vereinswesen und sozialer Heterogenität, z.B. Breslau, wurde das „Streben nach Popularisirung der Wissenschaften" darüber hinaus in seiner Wirkung für den innergesellschaftlichen Ausgleich gewürdigt; es galt als „Mittel zur Wiederherstellung des sozialen Friedens, zur Milderung der Klassenunterschiede, als Glied des großen Werkes der Sozialreform" 99 . Allerdings blieben im Vereinswesen auch deutliche Vorbehalte gegenüber einer Popularisierungstendenz bestehen. „Wahre Popularität", so die Königsberger Physikalisch-Oekonomische Gesellschaft 1844, sei zweifellos der „Wissenschaft lieblichste Blüte", aber: „Nur Verwechsele man nicht das Triviale mit dem Populären oder das Abstruse mit der Wissenschaft. Der ächten Popularität ist jeder, auch der tiefste Gedanke fähig, ja er wird von selbst populär, gewinnt von selbst die durchsichtige Klarheit und Faß-
95 96 97 98 99
Die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft zu Frankfurt am Main. Frankfurt/M. 1954, S. 5. Zitiert nach Siefert: Das naturwissenschaftliche und medizinische Vereinswesen (1967), S. 143. Thomä: Geschichte (1842), S. 80. So Saecular-Feier (1901), S. XXXI in der Nürnberger Naturhistorischen Gesellschaft bezogen auf das Ende der 1860er Jahre. Wendt: Die wissenschaftlichen Vereine (1904), S.107, 106. Zur Aufwertung der sozialpolitischen Bedeutung vgl. auch die Festschrift [...] des Humboldtvereins für Volksbildung zu Breslau (1894), S. 73-77,89f.
118
III. Vereine, Vorträge und Feste
lichkeit der Form, sobald er erst [...] seinen Gehalt bewährt hat." 100 Selbst die öffentlichkeitsbewußte Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft blieb reserviert. Sie hatte bereits 1826 mit finanzieller Unterstützung der Stadt Frankfurt Unterrichtskurse für jüngere Menschen begonnen, in den 1830er Jahren Vorlesungszyklen eingeführt und seit der Reichsgründung ihre Sammlungen vermehrt Schullehrern mit deren Klassen zur Verfügung gestellt.101 Als der Frankfurter Ausschuß für Volksvorlesungen aber 1893 das Museum ersuchte, auch an Sonntagnachmittagen zu öffnen, meldeten intern konservative Kräfte vertraute Vorbehalte an: Habe man erst „in einem Punkte nachgegeben, so kämen andere Forderungen (populäre Vorlesungen, Führungen, Kataloge usw.) hinterher." Dahinter verberge sich, so das führende Mitglied, die Gefahr der „sozialistischen Agitation"; er sei nicht „für eine Popularisierung der Naturwissenschaften". 102
100 101 102
Zitiert nach Siefert: Das naturwissenschaftliche und medizinische Vereinswesen (1967), S. 143. Klausewitz: Bildungsfaktoren (1976), S. 36-39; Scheele: Von Lüben (1981), S. 157-159. Zitiert bei Kramer: Chronik (1967), S. 367.
2. Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte
119
2. Die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte als nationales Forum der Naturwissenschaftler „Des Lichtes Priester, andachtvolle Beter, Seid mir gegrüsst im Tempel der Natur, Des deutschen Geistes glänzende Vertreter, Allüberall ist Eures Wandels Spur! [...] Wo Ihr erscheint, da ist das Licht, das Leben, Und Welt um Welt entdeckt der Seherblick; Ihr habt dem Geist die Freiheit erst gegeben, Dem Trug, dem Wahn besiegelt ihr Geschick!" Festgruss an die 40. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte, in: Amtlicher Bericht über die Vierzigste VDNA zu Hannover im September 1865. Hannover 1866, S. 9.
Im September 1822 wurde auf Initiative des Naturphilosophen Lorenz Oken die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNA) in Leipzig gegründet. Drei Jahre zuvor war Oken aus politischen Gründen seiner Professur für Naturgeschichte an der Universität Jena enthoben worden. Angesichts dieser Umstände hat Rudolf Virchow später die Gründung als Protest gegen den Geist der Karlsbader Beschlüsse charakterisiert; die GDNA habe eine „nationale Aufgabe" übernommen und das „Princip der individuellen Freiheit" 1 bewahrt.
a) Strukturen und Funktionen Die GDNA bezeichnete sich zwar selbst häufig als „Verein"2, bildete aber formal zunächst keine Assoziation. Die Gesellschaft verzichtete bis gegen Ende des Jahrhunderts auf einschlägige Attribute: Mitgliedschaften, feste Ämter, Vermögen und Sammlungen. Im Vergleich zur Leopoldina als der bis dahin einzig nationalen Wissenschaftsinstitution, die dem Modell einer Akademie folgte, schuf Oken mit der GDNA eine flexible Form gesamtdeutscher Wissenschaftlervereinigung. Sie war als Wanderversammlung konzipiert, die als „ambulirender Verein"3 in jährlichem Rhythmus an wechselnden Orten tagte, wo sie von lokalen Geschäftsführern organisiert wurde. 1
2 3
Virchow: [Ü]ber den Einfluss (1861), S.70. Zur Geschichte der GDNA vgl. Degen: Die Gründungsgeschichte (1955), Max Pfannenstiel: Kleines Quellenbuch zur Geschichte der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Berlin, Göttingen, Heidelberg 1958; Schipperges (Hg.): Die Versammlung (1968), Querner/ Schipperges (Hg.): Wege (1972), Pfetsch: Zur Entwicklung (1974), S. 252ff. Isis von Oken, Jahrgang 1829, Sp. 254 und Jahrgang 1830, Sp. 481. Amtlicher Bericht über die zweiundzwanzigste VDNA in Bremen im September 1844. Bremen 1845, S.23.
120
III. Vereine, Vorträge und Feste
Die Konstruktion der GDNA sollte bald zum Vorbild ausländischer Wissenschaftlerversammlungen werden. 4 In Deutschland wurde die Versammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte (VDNA) aus ihrem Selbstverständnis als nationaler Institution 5 und dem freiheitlichen Gründungsimpuls heraus zur wichtigsten Bühne, auf der sich die Naturwissenschaftler der deutschen Öffentlichkeit präsentieren und ihr Wissenschaftsund Weltverständnis deklamieren konnten. Die Gelehrsamkeit wurde, wie ein Zeitgenosse 1859 notierte, „aus ihren Zellen herausgelockt" und „auf den Markt des Lebens" 6 gestellt. Einen Überblick zu den Tagungsjahren und -orten mit Angabe wichtiger Redebeiträge gibt Tabelle 3. Zu den Versammlungen kamen jeweils im September Gäste nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus dem Ausland, selbst aus Übersee. Auf diese Weise überwand die GDNA das Dilemma der territorialen Zersplitterung und brachte die deutschen Naturforscher jährlich an einem „wandernden Centralpunct" 7 zusammen. Im Vordergrund stand das Bedürfnis, die Kommunikation untereinander zu verbessern und den Austausch der Erkenntnisse zu erleichtern. Die Statuten erhoben offiziell zum Hauptzweck, „den Naturforschern und Aerzten Deutschlands die Gelegenheit zu verschaffen, sich persönlich kennen zu lernen." 8 Immer mehr Interessierte nutzten diese Möglichkeit. Die Teilnehmerzahl der Versammlungen stieg bei regional und thematisch bedingten Schwankungen von etwa 30 in den Gründungsjahren über 1296 auf der 50. Tagung 1877 in München bis auf über 5000 bei dem letzten Treffen vor dem Ersten Weltkrieg, der 85. VDNA in Wien.9 Daß die Namen der Versammlungsstädte rasch zur Signatur einschlägiger Debattenereignisse wurden, spiegelte indirekt eine Leistung der GDNA, die seit Beginn im ambulierenden Prinzip angelegt war. Die geographische Streuung der Versammlungsorte zwischen Kiel und Graz, Aachen und Königsberg entsprach dem föderalen und, wie die acht Tagungen 4 5
6 7 8
9
Gizycki:The Associations (1979). Eine gründliche Untersuchung über die Prägung der VDNA durch den nationalen Gedanken bis 1914 steht noch aus. Schwach und am völkischen Nationalsozialismus orientiert bleibt Nelly Böhne: Nationale und sozialpolitische Regungen auf den Versammlungen Deutscher Naturforscher und Ärzte bis zum Revolutionsjahr 1848, in: Sudhoffs Archiv 27 (1934), S. 87-130. Vgl. Zevenhuizen: Politische und weltanschauliche Strömungen (1937) und Kolkenbrock-Netz: Wissenschaft (1991), hierzu meine Kritik in Kapitel II.3.c). [Roßmäßler:] Die Wanderversammlungen (1859), Sp. 619. Amtlicher Bericht über die einundzwanzigste VDNA in Gratz im September 1843. Graz 1844, S. 70. Hier zitiert nach Degen: Die Gründungsgeschichte (1955), S.477. Die Statuten der GDNA wurden auf jeder Versammlung verlesen und finden sich in zahlreichen Abdrucken. Vgl. Tabelle 3, die Angaben über die Teilnehmer an der Gründungsversammlung schwanken in Quellen und Literatur.
2. Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte
121
bis 1913 auf österreichischem Boden zeigten, auch dem großdeutsch-nationalen Gedanken. 10 Anläßlich der Naturalienausstellung auf der Bremer VDNA 1844 machte der Amtliche Bericht auf die einheitsstiftende Wirkung der Versammlungen aufmerksam; wenn die GDNA „namentlich alles disponible Material innerhalb eines gewissen Rayons concentrieren möchte, und nach einer Reihe von Jahren jeder Punkt unseres deutschen Vaterlandes wenigstens ein Mal innerhalb dieses Rayons gelegen haben würde, so lässt sich diesem Plane auch eine nationale Bedeutung abgewinnen, welche der ersehnten deutschen Einheit, die auch in wissenschaftlicher Hinsicht noch wenig mehr wie Phantom zu sein scheint, unmöglich je Schaden thun könnte." 11 Tatsächlich überwand die GDNA die strukturelle wissenschaftspolitische und räumliche Kluft zwischen Zentrum und Peripherie. Die naturkundlichen Diskussionen fanden mit der GDNA auch in geographischer Hinsicht eine vermittelnde Instanz. Für eine begrenzte, aber in der medialen Präsenz unvergleichlich wirkungsvolle Zeit wurden die aktuellen naturwissenschaftlichen Debatten weg von den dominierenden Universitäten auf Regionen mit schwacher wissenschaftlicher Infrastruktur und selbst auf Randgebiete verlagert. Der Berliner, Heidelberger oder Münchener Großordinarius und mit ihm ein respektabler Teil des deutschen Wissenschaftsestablishments gingen in die Provinz - nach Kassel, BadenBaden, Speyer oder in andere Orte. Die GDNA band gerade jene Städte und Regionen, die keine Universität besaßen und damit außerhalb akademischer Netzwerke lagen, in ihren ,,friedliche[n] Städtebund" 12 ein. Zwischen 1822 und 1913 tagte die GDNA fünfundvierzigmal, d.h. bei mehr als der Hälfte der Treffen, in Städten ohne Universität. 13 In Berlin selbst fanden nur zwei Versammlungen statt, ebenso viel wie z.B. in Köln, Bremen und Braunschweig. 10
11 12 13
Neben den Tagungen im österreichischen Kernland fand die V D N A 1862 und 1902 in Karlsbad sowie 1837 in Prag und 1905 in Meran statt. Amtlicher Bericht über die zweiundzwanzigste V D N A in Bremen im September 1844. Bremen 1845, S. 23. Amtlicher Bericht über die zwanzigste V D N A zu Mainz im September 1842. Mainz 1843, S. 55. Bezeichnend für die Auswirkungen, die die Versammlungen in Städten ohne Universität haben konnten, ist der Kommentar der Zeitschrift Die Natur 27 = NF. 4 (1878), S. 557 zur 51. V D N A in Kassel: „Man hat nämlich von Seiten der nicht-akademischen Naturforscher häufig bemerkt, daß sich in Universitätsstädten der Versammlung sehr bald ein akademischer Charakter aufdrückte, unter welchem jene, welche nicht durch einen Professortitel glänzten, sich nicht besonders behaglich fühlten. Man hat es erlebt, daß z.B. die erste allgemeine Sitzung [...] von Dekorirten aller Art wimmelte, als ob es auf große Schaustellungen abgesehen sei. In Kassel sah man nichts von allem dem, und das gab der Versammlung schon von vornherein ein so selbstloses Wesen, daß sogar jeder,Frack' überflüssig wurde und der Verkehr so recht unter dem Einflüsse des Grundgedankens der Versammlung stand."
122
III. Vereine, Vorträge und Feste
Tabelle 3: Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNA) 1822 bis 1913 Jahr
Ort
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
1822 1823 1824 1825 1826 1827 1828
Leipzig Halle/S. Würzburg Frankfurt/M. Dresden München Berlin
Teilnehmerzahl 20 34 36 110 116 156 464
8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29.
1829 1830 1832 1833 1834 1835 1836 1837 1838 1839 1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1849 1850 1851 1852
Heidelberg Hamburg Wien Breslau Stuttgart Bonn Jena Prag Freiburg Pyrmont Erlangen Braunschweig Mainz Graz Bremen Nürnberg Kiel Aachen Regensburg Greifswald Gotha Wiesbaden
273 412 418 273 546 484 370 392 479 215 300 651 980 701 651 447 441 650 199 390 560 776
30. 31.
1853 1854
Tübingen Göttingen
581 505
32. 33. 34. 35. 36.
1856 1857 1858 1860 1861
Wien Bonn Karlsruhe Königsberg Speyer
37.
1862
Karlsbad
1683 964 904 468 611 579
wichtige Reden oder Vorkommnisse Gründungsversammlung
A. von Humboldt u. H. Lichtenstein als Geschäftsführer, Einführung von Sektionen, erstmals ein Amtlicher Bericht der Versammlung
E. A. Roßmäßler über die Erweiterung des naturwissenschaftlichen Vereinslebens R. Wagner: Menschenschöpfung und Seelensubstanz; der Materialismusstreit bricht aus
R. Virchow: Über den Einfluss des naturwissenschaftlichen Unterrichts auf die Volksbildung
2. Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte 38.
Stettin
39. 40.
Gießen Hannover
1083 861
41. 42.
Frankfurt/M. Dresden
806 1132
43.
Innsbruck
979
44.
Rostock
806
45.
Leipzig
1290
46.
Wiesbaden
1335
47. 48. 49. 50.
Breslau Graz Hamburg München
1421 2282 1894 1796
51.
Kassel
1319
52. 53. 54. 55.
Baden-Baden Danzig Salzburg Eisenach
1088 790 740 833
56. 57. 58, 59,
Freiburg i.B. Magdeburg Straßburg Berlin
804 1234 1129 4155
60,
Wiesbaden Köln Heidelberg Bremen
61,
62,
63
524
1797 (1836) (1945) (2043)
123
R. Virchow: Ueber den vermeintlichen Materialismus der heutigen Naturwissenschaft E. Haeckel: Über die Entwickelungs-Theorie Darwin's R. Virchow: Über die nationale Entwickelung und Bedeutung der Naturwissenschaften; E. A. Roßmäßler: Ueber naturgeschichtliche Volksbildung R. Virchow: Ueber den naturwissenschaftlichen Unterricht; erstmals Sektion für naturwissenschaftliche Pädagogik H. Helmholtz: Ueber das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft R. Virchow: Über die Aufgaben der Naturwissenschaften im neuen nationalen Leben Deutschlands E. Du Bois-Reymond: Über die Grenzen des Naturerkennens R. Virchow: Die Naturwissenschaften in ihrer Bedeutung für die sittliche Erziehung der Menschheit
E. Haeckel: Die heutige Entwickelungslehre im Verhältnisse zur Gesammtwissenschaft; R. Virchow: Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat erstmals Sektion für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht
E. Haeckel: Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck
W. Siemens: Das naturwissenschaftliche Zeitalter; Virchow regt als Geschäftsführer die Reformdebatte an
124
III. Vereine, Vorträge und Feste
64.
1891
Halle/S.
65. 66. 67. 68. 69. 70. 71. 72. 73.
1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901
(1064) Nürnberg Wien (2255) Lübeck (1090) Frankfurt/M. (1826) Braunschweig (Uli) Düsseldorf (1096) München (1970) Aachen 2026 (690) Hamburg 2631 (1731)
74. 75. 76. 77.
1902 1903 1904 1905
Karlsbad Kassel Breslau Meran
2611 2713 2910 2842
78. 79. 80. 81. 82. 83. 84. 85.
1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913
Stuttgart Dresden Köln Salzburg Königsberg Karlsruhe Münster Wien
2874 (1475) 3068 (1422) 3127 (1368) (1121) (1161) (1257) (1596) 5180 (2692)
(2281)
(1181) (1065) (1430) (1277)
Verabschiedung der neuen Statuten; erstmals offizielle Vorsitzende
Hamburger Thesen zum Biologieunterricht
Meraner Beschlüsse zur Stellung der Naturwissenschaften im Schulunterricht
Quellen: In den Jahren 1831,1855 und 1892 fiel die VDNA wegen Choleragefahr aus, in den Jahren 1848,1859,1866 und 1870 wegen der politischen Ereignisse. Die Zahlenangaben über die Teilnehmer sind bis 1887 der Statistischen Übersicht entnommen, die das Tageblatt der 60. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Wiesbaden vom 18.-24. September 1887. Wiesbaden 1887, S. 369-373 enthält, für die Jahre 1900 bis 1908 den gedruckten Verhandlungen der VDNA. Allerdings dürften diese Angaben zum Teil ungenau sein, sie beruhen zudem in einigen Fällen auf der Addition von sogenannten Mitgliedern und Teilnehmern. Die in Klammern gesetzten Angaben entstammen der Übersicht bei Pfetsch: Zur Entwicklung (1974), S. 280. Sie sind m.E. zu niedrig angesetzt.
Durch die geographische Streuung begünstigt, übten die Versammlungen auf das jeweilige städtische und regionale naturkundliche Umfeld eine katalytische Wirkung aus. Davon waren in erster Linie die Naturvereine betroffen, als deren Sprecher die G D N A sich in der Gründungsphase empfunden hatte. Gelegentlich diente die Gesellschaft als Vorbild für Neugründungen von Vereinen, häufig auch als Versammlungsort anderer nationaler naturwissenschaftlicher Organisationen, die sich in einem Abspaltungsprozeß aus ihr heraus entwickelt hatten. 14 Vor allem wurden vor Ort 14
Vgl. Degen: Die Gründungsgeschichte (1955), S. 477; Heinz Degen: Die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte als Keimzelle naturwissenschaftlicher und medizinischer Vereinigungen, in: Naturwissenschaftliche Rundschau 19 (1966), S. 349-357; Gizycki: Prozesse (1976).
2. Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte
125
die bestehenden Naturvereine angeregt, die VDNA vorzubereiten, sich mit Grußadressen vorzustellen, ihre Sammlungen zu präsentieren und den Besuchern Führungen oder Räume anzubieten. Die Tagungen verstärkten das selbstreflexive Element innerhalb der Vereine, indem sie dazu anregten, die Vereinsgeschichte aufzuarbeiten und das Potential des naturkundlichen Regionalwissens auszuschöpfen. Hieraus entstanden umfangreiche Festgaben an die Versammlungen, die der historischen Dokumentation ebenso dienten wie der naturwissenschaftlichen Bestandsaufnahme der Umgebung. 15 Wo die GDNA getagt hatte, hinterließ sie „die segensreichen Spuren ihrer Anwesenheit, blieben Keime zurück, die sich zum Theil zu Pflanzstätten der Wissenschaft entfalteten." 16 Mehr noch als die lokalen Naturvereine bot die GDNA überdies eine der Gelegenheiten für Frauen, in der naturkundlichen Gemeinschaft aufzutreten. Die Zahl der Teilnehmerinnen war beträchtlich, allerdings wurden diese durchgängig auf die Rolle der zierenden Ornamente und Gehilfinnen der männlichen Wissenschaft reduziert. 1879 fand auf der VDNA in Baden-Baden ein Antrag Zustimmung, wonach Frauen nur gesonderte Damenkarten, nicht aber Mitglieder- oder Teilnehmerkarten erhalten sollten. Nachdem bekannt geworden war, daß eine Engländerin in der Anatomie-Sektion vorgetragen hatte, fühlte sich der Antragsteller bemüßigt darauf zu verweisen, daß die Wahl einer Sektion dem „Zartgefühle" der Damen überlassen bleiben sollte. Indes müsse einer Mitgliedschaft die Umwälzung in der Erziehung der weiblichen Jugend vorangehen. Frauen dürften weder zum „Krieger" noch zum „Anatomen" werden. 17 Spürbare Änderungen erfuhr dieses Weltbild bis 1914 nicht.
b) D i e Rhetorik der Allgemeinen Sitzungen Nachdem die Gesellschaft 1828 in Berlin unter Führung Alexander von Humboldts Fachsektionen eingerichtet hatte, rückten für die Öffentlichkeit die sogenannten Allgemeinen Sitzungen, zumeist drei pro Versammlung, in den Vordergrund. Die Sektionen folgten der wissenschaftlichen Spezialisierung, und ihre Zahl wuchs bis auf 41 verschiedene Sparten 1894 an; das Spektrum reichte in diesem Jahr von den Sektionen der klassischen naturgeschichtlichen Fächer bis zur gerichtlichen Medizin, Geburtshilfe und Ethnologie. 18 15 16 17 18
Die Festschriften aus Anlaß der VDNA bilden einen umfangreichen Quellenfundus, der noch kaum aufgearbeitet ist. [Roßmäßler:] Die Wanderversammlungen (1859), Sp. 619. Tageblatt der 52. VDNA in Baden-Baden 1879, S. 124. Vgl. Schipperges (Hg.): Die Versammlung (1968), S. 123-129. Isis von Oken, Jahrgang 1829, Sp. 256 mit der Begründung der Einrichtung von Sektionen durch Humboldt; Lampe: Die Entwicklung (1975), S. 45.
126
III. Vereine, Vorträge und Feste
Den Allgemeinen Sitzungen blieb es vorbehalten, generelle wissenschaftliche Trends, politische Positionen und die kulturelle Selbsteinschätzung der Naturwissenschaftler zu bestimmen. In ihrer Abfolge bis 1913 spiegeln die Allgemeinen Sitzungen den Wandel wissenschaftlicher Paradigmen - von Okens Reflexionen über den Stand seines natürlichen Pflanzensystems 1824 über Ernst Haeckels entwicklungsgeschichtliche Plädoyers zwischen 1863 und 1882 bis zu Carl Correns Erläuterungen über die Vererbungsgesetze 1905 und Max Plancks Vortrag über die Stellung der neueren Physik zur mechanischen Weltanschauung 1910.19 Solche Themen verdeutlichten die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften aus naturphilosophisch-romantischen Ursprüngen über empirisch-mechanistische Vorstellungen seit der Jahrhundertmitte bis zur experimentellen und theoriegeleiteten Forschung am Fin de Siècle. Das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit wurde auf den VDNA nirgendwo so deutlich wie in den Allgemeinen Sitzungen. Von den Gründungsjahren her betrachtet, ist eine erstaunliche Kontinuität von Präsentationsmustern, rhetorischen und legitimatorischen Strategien festzustellen. Drei Elemente verzahnten sich dabei. Die Redner der GDNA paßten sich zunächst dem humanistischen Prinzip an - analog zur Schuldiskussion, die ohnehin zum beträchtlichem Teil auf den Versammlungen ausgetragen wurde. Vernunft und Sittlichkeit, die Erweckung erhabener Ansichten, kulturelle und sittliche Veredelung wurden als Leitwerte naturforscherlicher Arbeit beschworen.20 Auch und gerade nach der Wende zum Empirismus hielt sich das warnende Memento, nicht „dem blossen Gelderwerb und der Förderung nur materieller Interessen zu fröhnen." 21 Die Naturwissenschaften hätten „nur nachThatsachen und Wahrheiten zu suchen, sich nie um die augenblickliche praktische Verwendung des Gefundenen zu kümmern" 22 - so Max von Pettenkofer 1877 in München. Noch 1902 beschwor der 1. Vorsitzende der GDNA die „Pflege idealer Güter" als
19
20 21 22
Eine hervorragende Übersicht mit bibliographischen Belegen bietet der Band: Die Vorträge der allgemeinen Sitzungen (1972). Vgl. die Analyse der festlichen (Eröffnungs-)Reden bei Schipperges: Eröffnungsreden (1976) bzw. Querner/ Schipperges (Hg.): Wege (1972), S. 10-38; Hansjochem Autrum (Hg.): Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Berlin et al. 1987, sowie die Beobachtungen zur Entwicklungslehre auf den Versammlungen bei Schipperges (Hg.): Die Versammlung (1968), S. 55-64 und Querner: Darwins Deszendenz- und Selektionslehre (1975). Vgl. exemplarisch die Eröffnungsrede der 8. VDNA in Heidelberg 1829, in: Isis von Oken, Jahrgang 1830, Sp. 492. Tageblatt der 41. VDNA in Frankfurt am Main vom 18. bis 24. September 1867. Frankfurt/M. o.J.,S. 20. Amtlicher Bericht der 50. VDNA in München vom 17. bis 22. September 1877. München 1877, S. 5.
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tiefste Berechtigung der Gesellschaft gegen die „Alleinherrschaft des Dollars". 23 Seit auf der 5. VDNA 1826 die Naturforscher als „Priester der Natur" und der Freiheit, die „Weihespenden" an „Isis neubegründeten Altären" brachten, gepriesen wurden, 24 breitete sich sodann in den Allgemeinen Sitzungen eine schwärmerisch-pseudoreligiöse Sprache aus. Sie wurde zu einer redundanten Rhetorik vom Isisdienst der Wissenschaft, von den Priestern der Natur und den Tempeln der Erkenntnis gesteigert und erreichte ihren Höhepunkt zwischen 1830 und 1870 in der Festlyrik. Das Amalgam romantisch-pantheistischer Naturvergötterung, aufklärerischer Lichtmetaphorik und säkularisierter Erlösungsvorstellungen trat sprachlich seit den 1860er Jahren zurück. Aber es bildete die rhetorische Stütze auch späterer Plädoyers, die einer modernen Wissenschaftsgläubigkeit Ausdruck verliehen. Selbst ein liberaler Agnostiker wie Rudolf Virchow scheute sich schon auf der 40. VDNA 1865 nicht zu bekennen, daß „die Wissenschaft für uns Religion geworden [ist]"25. Die säkularisiert-religiöse Intonation ging schließlich über in eine zunehmende „Ideologisierung" und „Verweltanschaulichung"26 der Naturwissenschaften. Seit ihren Anfängen demonstrierte die GDNA fast unbegrenzten Optimismus in die Wirksamkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis für alle Lebensbereiche. Darauf basierte die Einschätzung, daß die Versammlungen welthistorische Bedeutung gewinnen würden. 27 Und darauf beruhte der Glaube, daß auch der Schlüssel zur Regelung der sozialen Verhältnisse im naturwissenschaftlichen Denken liege. Der Geschäftsführer der Bremer VDNA bestätigte 1844 den Naturwissenschaftlern „ihr goldenes Zeitalter" mit der sozialen Wirkung ihrer Wissenschaft: „Selbst die reellen Conflicte des Tages, woher anders kann ihnen unparteiische und wirksame Schlichtung zu Theil werden, als durch Hülfe der Pfleger jener Wissenschaften, deren Streben ihrer Natur nach nur dahin gerichtet ist, die vorhandenen Knoten socialer Verhältnisse wahrhaft zu lösen, und damit die Gebäude der Staaten [...] zu befestigen. Der nicht mehr zu vermeidende Uebergang der Handarbeit zur Maschinenthätigkeit und was sich von Pauperismus, Communismus, und wie die Eumeniden unserer Tage sonst Namen haben mögen, in seinem Gefolge zeigt, wo werden die heilenden Aerzte derselben anders zu finden sein, als in den Reihen derer, die den Gang der Natur zu erforschen [...] vermögen?"28
Seit den 1860er Jahren war es Virchow, der diesen Optimismus verstärkte und den Naturwissenschaften zukünftig noch „unvergleichlich großartige23 24 25 26 27 28
Verhandlungen der GDNA. 74. Versammlung zu Karlsbad 21. bis 27. September 1902. Leipzig 1903, Teil 1, S. 22. Zitiert nach Schipperges: Eröffnungsreden (1976), S. 11. Virchow: Über die nationale Entwickelung (1865/1922), S. 48. Querner/Schipperges (Hg.): Wege (1972), S.25,35. So der Hamburger Bürgermeister Bartels anläßlich der 9. VDNA 1830. Amtlicher Bericht über die zweiundzwanzigste VDNA in Bremen im September 1844. Bremen 1845, S. 42.
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re Resultate" 29 in allen Bereichen des nationalen Lebens versprach. Seine Forderung, die naturwissenschaftliche Methode zur Methode der ganzen Nation zu machen, spiegelte den Aufschwung des naturwissenschaftlichen Selbstverständnisses zur Weltanschauung mit omnipotentem Erklärungsanspruch. Hier traf sich Virchow sogar mit Rivalen wie Haeckel, der - wie im Kapitel II.3 geschildert - vor der 50. VDNA in München die Einheit der Weltanschauung auf die Entwicklungslehre gründete. Daß die allgemeinen Verlautbarungen der GDNA seit den 1880er Jahren nüchterner wurden und das wissenschaftspolitische Selbstbewußtsein auf manches rhetorische Pathos verzichten konnte, schmälerte den eminenten Anspruch kaum. Werner Siemens faßte ihn 1886 auf der Berliner VDNA in seiner berühmten Rede über das naturwissenschaftliche Zeitalter zusammen.30 Nach der Jahrhundertwende wurde vor der GDNA auch die Weltanschauungswirkung der Naturwissenschaft ausdrücklich thematisiert.31 Der 1908 von den deutschen Monisten unterstützte Antrag, eine gesonderte Abteilung für allgemeine Naturtheorie einzuführen, fand allerdings keine Umsetzung.32 Jenseits und zugleich mittels der skizzierten Rhetorik wurde die GDNA von den deutschen Großgelehrten als Forum genutzt, um öffentliche Meinungsführerschaft zu demonstrieren. Die VDNA wurde zur Tribüne der Wissenschaftsheroen und zum Auditorium Maximum der Nation. Die Redner waren sich bewußt, von den Medien aller Couleur wahrgenommen zu werden. Eingekleidet in die idealistische Rhetorik vermochten sie hier wissenschaftliche Grundsatzbestimmungen mit politischen Forderungen und weltanschaulichen Entwürfen zu verknüpfen. Kein anderer hat dies so wirkungsvoll praktiziert wie Rudolf Virchow. Abgesehen von zahlreichen Sektionsbeiträgen trat Virchow zwischen 1858 und 1888 mit 17 programmatischen Reden vor die GDNA. 33 Der Kontrast zu seinen kongenialen Zeitgenossen fällt deutlich aus.34 Über vierzig Jahre hinweg wurden die Ta29 30 31
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Virchow: Über die nationale Entwickelung (1865/1922), S. 52. Siemens: Das naturwissenschaftliche Zeitalter (1886). Vgl. A. Ladenburg: Über den Einfluss der Naturwissenschaften auf die Weltanschauung, in: Verhandlungen der GDNA. 75. Versammlung zu Cassel. 20.-26. September 1903. Leipzig 1904, Teil 1, S. 29-43; Th. Lipps: Naturwissenschaft und Weltanschauung, in: Verhandlungen der GDNA. 78. Versammlung zu Stuttgart. 16.-22. September 1906. Leipzig 1907, Teil 1, S. 100-119. Neue Weltanschauung 1 (1908), S. 305-307, Abdruck des Antrages von C. Beckenhaupt. Vgl. Sudhoff: Rudolf Virchow (1922), Schipperges (Hg.): Die Versammlung (1968), S. 67-85; Die Vorträge der Allgemeinen Sitzungen (1972), S.98f.; Schipperges: Rudolf Virchow (1994), S. 103-112. Schipperges neigt zu einer euphemistischen Bewertung Virchows auf den VDNA; daß die Rolle des Liberalen während der Reformdebatte umstritten war, findet bei ihm kaum Niederschlag. Ebenso wie Hermann Helmholtz nutzte Emil Du Bois-Reymond die VDNA nur einmal zu einem großen Vortrag; 1872 setzte er in Leipzig den Paukenschlag des
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gungen von Virchow dominiert. Allerdings zog der Berliner Anatom und Politiker im Zusammenhang mit der Reformdiskussion seit 1886 massive Kritik auf sich. Die Ära Virchow der GDNA neigte sich spätestens jetzt dem Ende zu; der vierte Abschnitt dieses Kapitels geht darauf näher ein. Es waren aber weniger persönliche Stellungnahmen als vielmehr Sachkontroversen und interessenpolitische Plädoyers, die über die Versammlungen der GDNA multipliziert wurden. Die Haeckel-Virchow-Kontroverse von 1877 bildet nur den spektakulärsten Fall. Sie steht in der Folge von Auseinandersetzungen um die Entwicklungslehre, seit Haeckel 1863 auf der 38. VDNA in Stettin mit einem flammenden Plädoyer dem Darwinismus gegen vielerlei Widerstände Gehör verschafft hatte.35 Ähnliche Bedeutung erlangten die verwandten Debatten um den Materialismus, von Rudolf Wagner 1854 in Göttingen mit seinem Referat über „Menschenschöpfung und Seelensubstanz" ausgelöst,36 und um die Grenzen des Erkennens, die Du Bois-Reymond 1872 in Leipzig postuliert hatte. Die interessenpolitischen Interventionen verdichteten sich erst in wilhelminischer Zeit. Sie kulminierten zwischen 1901 und 1905 in den Hamburger Thesen und den Meraner Beschlüssen, von denen im Zusammenhang mit den Schuldebatten bereits die Rede war.
c) Bürgerliche Geselligkeit, Selbstinszenierung und Festikonographie Bis in die 1880er Jahre hinein wurden die Versammlungen von ausgeprägten Geselligkeitsformen geprägt. Mit ihnen nahm die GDNA an der bürgerlichen und nationalen 37 Festkultur teil. Dazu gehörte etwa die Abfolge von feierlicher Eröffnung, Ansprachen und Grußadressen. Die GDNA setzte auf nationaler Ebene um, was die Naturvereine bereits im kleinen praktizierten, ihre Teilnehmer präsentierten sich in feierlicher und launiger Stimmung. Das stand im Einklang mit Okens Zielsetzung von 1822, „von
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Jgnorabimus', ansonsten spielte er seine Position in der Berliner Akademie der Wissenschaften aus, vgl. Kapitel II.3.a) und VII.5.a). Ernst Haeckel hielt immerhin dreimal Grundsatzreferate zur Entwicklungslehre, siehe: Die Vorträge der allgemeinen Sitzungen (1972), S. 34,45,47f. Haeckel: Ueber die Entwickelungs-Theorie Darwin's (1863/1902). Vgl. die heftige Debatte auf der Stettiner VDNA unter Beteiligung von Haeckel, Otto Volger und Virchow in: Amtlicher Bericht über die Acht und Dreissigste VDNA in Stettin im September 1863. Stettin 1864, S. 17-30,35^12,59-76. Amtlicher Bericht über die Ein und Dreissigste VDNA zu Göttingen im September 1854. Göttingen 1860, S. 15-22. Vgl. Degen: Vor hundert Jahren (1954). Krause: Die deutschen Naturforscher-Versammlungen (1865), S. 3.
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Herz zu Herz" und in „fröhlicher Stimmung" 38 miteinander zu sprechen. Das Repertoire bürgerlicher Fest- und Versammlungsrituale wurde unter beträchtlichem logistischem Aufwand voll ausgeschöpft. Zur Vorbereitung einer VDNA wurden diverse lokale Ausschüsse ins Leben gerufen. Sie kümmerten sich z.B. um Wohnungs-, Verpflegungs-, Empfangs-, Presseund Vergnügungsangelegenheiten. 39 Festgedichte und -lieder, gemeinsame Mittagsmahle und abendliche Vergnügungen, kleine Schauspiele, Festabzeichen und Gedenkmünzen, kulturelle Begleitangebote und gesonderte Damenprogramme, Landpartien und Exkursionen schufen dann ein geselliges Ensemble, das mehrere Funktionen gleichzeitig erfüllte. Für die Teilnehmer selbst wurden die Versammlungen zum gesellschaftlichen Ereignis, das die Unterhaltungsbedürfnisse befriedigte. Der „Geist der Jovialität"40 stärkte jenseits fachlicher Zusammengehörigkeit das Gruppenbewußtsein und suggerierte einige Tage lang soziale Homogenität. Das kam besonders den nichtprofessoralen Teilnehmern entgegen. Den Sachdiskussionen wurde im geselligen Rahmen manche Schärfe genommen, da das Begleitprogramm Komik und Ironie aufzunehmen wußte. Die schillernde Vielfalt der Naturwelt erwies sich dabei als vorzügliche Staffage. Die 50. VDNA in München 1877 bot ein illustres Beispiel.41 Die Aktien-Brauerei hatte zum Kellerfest eingeladen, man schätzte 3 500 Gäste. Den Weg in den Festsaal dekorierten „hochloderade Flammen auf eisernen vergoldeten Gestellen", Girlanden, Faßburgen und eine Allee von Orangenbäumchen. Der Festaal selbst war in ein urzeitliches Naturszenarium verwandelt, die Säulen mit Schachtelhalmen und Schilfrohr verhüllt sowie mit großen Libellen, Käfern und Schmetterlingen geschmückt. Die Wände trugen phantastisch-humoreske Bilder aus der zoologischen Geschichte. Beidseits der Musiktribüne sowie an der Rückwand hingen Transparente mit Kurzversen zur „Transmutation", „Schädellehre" und auch zu „Ernst Haeckel" und der „Natural Selection": „Ernst Haeckel. He Kellnerin, kennst du deinen Beruf, Das Geschäft, das freundliche Nasse, Weißt du, wozu Gott mit dem Maßkrug dich schuf Und dich stellte zum sprudelnden Fasse? Mein Herr, ich weiß es, antwortet sie Mit hoch erhobenem Gesichte, Ich übe nach Heckel'scher Theorie Natürliche Schöpfungsgeschichte." 38 39 40 41
Isis von Oken, Jahrgang 1823, Sp.559 (Bericht über die 1. VDNA in Leipzig 1822) Vgl. Krause: Die deutschen Naturforscher-Versammlungen (1865), S. 6ff. Die Natur 18 (1869), S. 33-36, hier S.34 anläßlich der 42. VDNA in Dresden 1869. Zitate und die nachfolgende Beschreibung finden sich in den Münchener Neuesten Nachrichten, Nr. 265 v. 22.9.1877, S. 1-3.
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„Natural Selection. ,Die Auswahl, die natürliche' Besteht nicht blos für Thiere, Sie wird 'ne unwillkürliche Auch in der Wahl der Biere; Darum gab der weise Magistrat Den hochgelehrten Gästen Von allen ,Stoffen' unserer Stadt Am heutigen Tag den besten. Schenkt ein! Trinkt aus! Es schmeckt schon! Hoch,natural selection!'"
Unter Beisein der meisten Minister und höheren Staatsbeamten, vieler Militärs und der ganzen Stadtvertretung wurden verschiedene Toasts, das Hoch auf den Kaiser und die obligaten Referenzen an die anwesenden Damen ausgesprochen. Die Kapelle spielte Lachners Frühlingsgruß an das Vaterland und die Hymne an Odin von Kunz. Das eigens gedichtete Festspiel ließ im Mondenschein ,Luftgeist' und ,Erdgeist' sich über das Fest austauschen, bevor das Münchener Kindel und die Bavaria erschienen, um den Weg zum Biergenuß zu weisen. Die launige Intonation der Münchener Abendfeier steht für das burleske Element in der Selbstinszenierung der GDNA; einen entsprechenden Eindruck vermitteln auch die Liederbücher und vergnüglichen Alben, die den Versammlungen beigegeben wurden. 42 Ihr Gegengewicht bildeten die nur langsam abflauende Isis-Schwärmerei, das szientistische Pathos und die fortschrittsgläubigen Topoi, die aus den Festritualen sprachen. Deren Komik war allenfalls eine unfreiwillige. Beides, mehr noch das zweite, erlaubte den Naturforschern, alle einschlägigen Formen und Symbole der bürgerlichen Festkultur aufzugreifen: das Gedicht, die emphatische Prosa und das Lied ebenso wie das Schauspiel, das Bild und das Denkmal. Daraus erwuchs eine eigene Ikonographie, deren Besonderheit weniger in der Formensprache lag als in der Verwendung spezifisch naturwissenschaftlicher Themen, die anderswo weit weniger vertreten waren. Indem die Naturwissenschaftler sich der Gesten und Riten der bürgerlichen Öffentlichkeit bedienten, signalisierten sie die Integration der neuen Wissenschaften in die humanistisch geprägte Kultur und das bürgerliche Leben Deutschlands. Diese symbolische Praxis strahlte in den politischen Raum aus. Die 37. VDNA in Karlsbad hat 1862 das Inszenierungsritual in einer verfassungs- und nationalpolitisch aufgewühlten Konfliktzeit exemplarisch de-
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Exemplarisch: Die neunzehnte Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Braunschweig, im September 1841, und deren Charaktere, Situationen und Forschungen. Ein humoristisches Album für die Mitglieder, Theilnehmer, Freunde und Freundinnen der Versammlung. Leipzig 1842.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
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Abbildung 1: Einladung zum Kellerfest anläßlich der 50. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in München 1877
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monstriert.43 Die Festlichkeiten der Versammlung geronnen zu einem liberal-föderalistischen und zugleich großdeutsch-nationalen Plädoyer. Der für die Allgemeinen Sitzungen erbaute Saal war zum festlichen Eröffnungskonzert mit den Wappen aller deutschen Bundesstaaten geschmückt. Der Festgruß des Männer-Gesangvereins beschwor das Pathos der Wahrheit des Wissens. Am nächsten Abend versammelten sich die Gäste im Theater. Vor der Fest-Vorstellung (Die Gründung Karlsbads und die Hugenotten) sprach unter stürmischem Beifall eine Figur der Austria im wallenden Purpurmantel und mit kaiserlichem Schild den Prolog, während im Hintergrund die Statue Keplers sichtbar wurde. Schließlich verlieh Austria dem großen Gelehrten einen Kranz vom nahen Eichenbaum, entfaltete die schwarz-rot-goldene Fahne und schwang sie zu den Klängen von Arndts Deutschem
Vaterland.
d) Die GDNA zwischen korporativer Verfestigung und Publikumsorientierung Geselligkeit und Festikonographie blühten während der mittleren Periode der GDNA zwischen 1840 und 1880. Aber schon 1849 wurde Unbehagen an der Überlagerung der GDNA durch die Festlichkeiten laut.44 Mit dem Ausgang der Bismarckzeit kündigte sich eine energische Gegenbewegung an. Sie wurde seit der 59. VDNA in Berlin 1886 von Rudolf Virchow angeführt. Seine Kritik am Übermaß von Festlichkeiten sollte die GDNA nicht nur davor bewahren, zu einer bloßen „gesellschaftlichen Reunion" zu werden.45 Virchow zielte vielmehr grundsätzlich auf eine Neuformierung der GDNA. Die Installierung eines Vorstands, feste Mitgliedschaften und ein eigenes Vermögen sollten der GDNA überhaupt erst den Charakter einer Gesellschaft verleihen. Die Debatte über die Statutenänderungen zogen sich bis 1891 hin und führten zur ernsten Krise der GDNA. Viele Mitglieder sahen sich von Virchows politikgeschultem Vorgehen überrollt. Insbesondere die ältere Generation zeigte, wie Virchow spottete, eine gewisse elegische Beharrungskraft gegenüber der Modernisierung und. sah ungern den familiär-
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Zitate und Beschreibung in: Amtlicher Bericht über die Sieben und Dreissigste VDNA in Karlsbad im September 1862. Karlsbad 1863, S. 15-18. Die XXVI. VDNA zu Regensburg im Allgemeinen geschildert von deren erstem Geschäftsführer Prof. Dr. Fürnrohr, in: Flora oder allgemeine botanische Zeitung, Neue Reihe 7 (1849), S. 561-573, hier S. 566. Virchow, in: Tageblatt der 62. VDNA in Heidelberg vom 18.-23. September 1889. Heidelberg 1890, S. 124. Vgl. Tageblatt der 59. VDNA zu Berlin 18.-24. September 1886. Berlin 1886, S.78; Degen: Krise (1958); Pfetsch: Zur Entwicklung (1974), S.274ff.
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lockeren Charakter der Versammlungen ganz abgestreift. 46 Vermittelnde Bemühungen vor allem des Anatomen Wilhelm His führten schließlich dazu, daß 1891 neue Statuten im Sinne Virchows, wenn auch mit einigen Modifikationen, verabschiedet werden konnten. Schon in den Vorjahren waren die offiziellen Berichte der GDNA, nun als gebundene Verhandlungen gedruckt, nüchterner geworden. Die unterhaltenden Elemente traten auf den Versammlungen deutlich zurück. Die GDNA verwissenschaftlichte ihre Arbeit im Sinne einer Dachorganisation - als „Bollwerk gegen das öde Specialistenthum" 47 begriff sie sich jedoch weiterhin. Die Reform der GDNA war ebensosehr Ausdruck wie Motor eines Wandels im Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die Neustrukturierung rückte die Symbolsprache und das inszenatorische Moment in den Hintergrund. Dafür traten Elemente moderner Verbandsorganisation und -tätigkeit hervor, welche die Durchsetzungsfähigkeit der GDNA nach innen wie außen stärkten. Die schulpolitischen Aktivitäten sind nur als Teil dieser Entwicklung verständlich. Sie entsprach den Professionalisierungsprozessen auf allen Ebenen ärztlichen und naturwissenschaftlichen Arbeitens und der gesamtgesellschaftlichen Tendenz zur interessenpolitischen Formation in einer Zeit zunehmend korporativer Politikgestaltung. Das „Bedürfniss nach wissenschaftlichen Centraianstalten" 48 war davon nicht ausgenommen. Virchow hatte als einer der ersten die veränderten Anforderungen an die GDNA erkannt. Sein Reformprogramm wollte den „agitatorische[n] Character" der GDNA kräftigen und aus ihr einen „activen, energisch wirkenden Organismus" bilden.49 Daß die Versammlungen, wie Virchow vorgab, diesen Charakter im Grunde immer besessen hätten, unterstellte eine Kontinuität, die es in der Realität nicht gegeben hatte. Die GDNA war sich seit ihrer Gründung und vor allem seit den 1860er Jahren mit dem Übergang zu Großveranstaltungen stets ihrer öffentlichen Wirkung bewußt gewesen.50 Als Korporation, die interessenpolitischen Einfluß ausübte und sich als feste Instanz auf der wissenschaftspolitischen Bühne exponierte, hatte sich die frühe GDNA aber nicht verstanden. Dagegen sprachen das 46
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Tageblatt der 62. VDNA in Heidelberg vom 18. bis 23. September 1889. Heidelberg 1890, S. 122. Zu den Hauptkritikern Virchows zählte der Gründer des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt, Otto Volger. So Richard Hertwig als GDNA-Vorsitzender in: Verhandlungen der GDNA. 73. Versammlung zu Hamburg. 22.-28. September 1901. Leipzig 1902, Teil 1, S. 17. [Wilhelm] His: Die Entwicklung der zoologischen Station in Neapel und das wachsende Bedürfniss nach wissenschaftlichen Centraianstalten, in: Tageblatt der 59. VDNA zu Berlin 18.-24. September 1886. Berlin 1886, S. 258-264. Tageblatt der 62. VDNA in Heidelberg vom 18. bis 23. September 1889. Heidelberg 1890, S. 124,125. Vgl. Isis von Oken, Jahrgang 1836, Sp. 161f. über die 12. VDNA in Stuttgart 1834.
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Fehlen formeller Vereinsmerkmale ebenso wie die dezentrale Organisation und das gesellige Gepräge. Erst mit der Neuformation gewann die GDNA verbandspolitisches Selbstbewußtsein und bekannte sich offen dazu, „eminent reale und praktische Ziele" 51 zu verfolgen. Johannes Wislicenus, Leipziger Chemieordinarius und 1895 Vorsitzender der GDNA, brachte im gleichen Jahr vor der 67. VDNA in Lübeck die gewandelte Rolle der Gesellschaft in der Öffentlichkeit auf die Formel: „Wir wollen z.B. durch unsere Organisation - lassen Sie es mich gerade heraussagen - eine Macht im öffentlichen Leben unseres Volksthums und seiner Staatengebilde werden, [...] eine Macht, die sich in allen uns angehenden Fragen, in denen wir die wirklichen Sachverständigen sind, Gehör zu verschaffen vermag." Zwar seien inzwischen die Naturwissenschaften im öffentlichen Leben als einer der wichtigsten Kulturfaktoren anerkannt und würden Unterstützung genießen, aber „es kann ja doch die Zeit einmal kommen, wo wir uns um Luft und Licht, um die Freiheit unserer Forschung und unserer Lehre in scharfem Kampfe zu wehren haben werden. Wir stehen in ihm nicht allein, aber wir haben dafür Sorge zu tragen, dass wir nach Zahl und Organisation mit möglichst grosser Macht das Heer unserer Mitstreiter gegen den alten bösen Feind verstärken. Auch für uns gilt das Wort: ,si vis pacem, para bellum!'" 52 Analog zum Wandel der Selbstdefinition als einer öffentlichen Institution veränderte sich das Verständnis der GDNA von der Popularität der Naturwissenschaften. Bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein fand keine ausdrückliche Auseinandersetzung mit der Kategorie des Populären statt. In den 1850er Jahren wurde deutlich, daß die Hinwendung zur empirischen Naturwissenschaft zur Konsequenz hatte, deren Erkenntnisse verstärkt auf den Alltag, das sogenannte Volksleben und die gesellschaftliche Situation jenseits der akademischen Welt zu beziehen. 53 Wenige Jahre später bürgerte sich ein, mit dem Attribut populär die gesonderte Gattung von allgemeingehaltenen Vorträgen gegenüber wissenschaftlichen Referaten herauszustellen.54 Im gleichen Zeitraum unterstrich Virchow mit fünf Referaten über die nationale Bedeutung der Naturwissenschaften und den naturwissenschaft51
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So der GDNA-Vorsitzende Johannes Wislicenus, in: Verhandlungen der GDNA. 67. Versammlung zu Lübeck. 16.-20. September 1895. Leipzig 1895, Teill,S.21. Ebenda, S. 21f. Vgl. Schipperges: Eröffnungsreden (1976), S. 37,64ff. Vgl. Schipperges: Eröffnungsreden (1976), S. 28ff. Tageblatt der 35. VDNA in Königsberg im Jahre 1860, S.10; Krause: Die deutschen Naturforscher-Versammlungen (1865), S. 21, der hier von „halbpopulären" Vorträgen für die Allgemeinen Sitzungen spricht; Tageblatt der 45. VDNA in Leipzig vom 12.-18. August 1872. Leipzig 1872, S. 34. Vgl. auch den Hinweis Otto Volgers auf die populäre Literatur in: Amtlicher Bericht über die Acht und Dreissigste VDNA in Stettin im September 1863. Stettin 1864, S. 66.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
liehen Unterricht, daß die naturwissenschaftlichen Gedanken unzweifelhaft in den öffentlichen Diskurs eingehen müßten. Die GDNA wirke „zugleich vermittelnd und unmittelbar bildend in das ganze Volk hinein" 55 . 1865 übernahm es auf der 40. VDNA Roßmäßler bei seinem letzten Auftritt vor der Gesellschaft, emphatisch zu fordern, „dass die deutschen Naturforscher ausdrücklich und planmässig sich der Volksbildung annehmen wollen."56 Die Resonanz blieb aber schwach. Immerhin wurde drei Jahre später die erwähnte Sektion für naturwissenschaftliche Pädagogik eingerichtet.57 Zu diesem Zeitpunkt bahnte sich bereits die Diskreditierung des popularisierenden Genre an. 1865 hatte Virchow noch eine positive Würdigung vorgenommen, aber Mißstände angedeutet. Man müsse zwar danach streben, daß die „Wissenschaft Gemeingut" werde, aber nicht nur „auf dem nun allerdings schon weiterverfolgten, und zwar segensreich verfolgten Wege der sogenannten Popularisierung, sondern vielmehr auf dem Wege der rationellen Erziehung. Alle bloß populäre Bildung hat den Grundmangel, Stückwerk zu sein."58 Virchows Gegner Gustav Adolf Spiess konterte auf der nächsten Versammlung ungleich schärfer, malte die Gefahren der Wissensverbreitung in kräftigen Farben aus und sprach von „Scheinwissen", „Afterwissen" und einer falsch verstandenen Aufklärung. 59 Die zwiespältige Bewertung des Populären hielt sich fortan auf den Versammlungen, ja verschärfte sich eher noch. Während noch 1878 eine naturkundliche Zeitschrift den volkstümlichen Charakter der Versammlungen gewahrt wissen wollte und 1894 der 1. Geschäftsführer der Wiener VDNA mit Blick auf die Bildungsvereine und die Öffnung des naturhistorischen Hofmuseums ausdrücklich die Popularisierung der Naturwissenschaften lobte,60 gewannen Gegenstimmen an Gewicht. Sie warnten vor „jener dilettantischen, die Grenzen der eigenen Erkenntnis gar nicht richtig ein-
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Virchow: [Ü]ber den Einfluss des naturwissenschaftlichen Unterrichts (1861), S. 70. In diesen Zusammenhang gehört auch Pettenkofers Plädoyer zur „Bedeutung der öffentlichen Gesundheitspflege", in: Tageblatt der 41. VDNA in Frankfurt am Main vom 18.-24. September 1867. Frankfurt/M. o.J., S. 11-20. Ueber naturgeschichtliche Volksbildung, von Professor Rossmässler in Leipzig, in: Amtlicher Bericht über die Vierzigste VDNA zu Hannover im September 1865. Hannover 1866, S. 71-73, hier S. 72. AdH 7 (1865), Sp.705; Tageblatt der 42. VDNA in Dresden vom 18.-24. September 1868. Dresden 1868, S.47, 88,119-122,145f., 197f.; Lampe: Die Entwicklung (1975), S. 207-209. Unklar ist, ob die Sektionsgründung sich aus dem Roßmäßlerschen Antrag ableitete. Virchow: Über die Aufgaben (1871/1922), S. 111. Tageblatt der 41. VDNA in Frankfurt am Main vom 18.-24 September 1867. Frankfurt/M. o.J.,S. 20. Die Natur 27 = N.F. 4 (1878), S. 557; Verhandlungen der GDNA. 66. Versammlung zu Wien. 24.-28. September 1894. Leipzig 1894, Teil 1, S. 10.
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schätzenden naturwissenschaftlichen Sensationsliteratur" und vor den Schwächen der „populären Literatur". 61 Die GDNA bewahrte ähnlich wie die Naturvereine stets Vorbehalte gegenüber dem Popularisierungsbegriff. Bernhard Naunyn, Medizinprofessor und 1907 Vorsitzender der GDNA, spitze die nur scheinbar paradoxe Ambivalenz auf der 79. VDNA 1907 zu: „Dem Zweck, populäre Wissenschaft zu verbreiten, wollen wir freilich nicht dienen, auch in unseren allgemeinen Sitzungen nicht." Der Wert der Vorträge liege darin, „daß es die Forscher selbst sind, die hier zu Worte kommen. Unsere Versammlung ist die Stelle, wo jede naturwissenschaftliche Richtung ihre Vertretung findet, unbeeinflußt durch Tages- oder Modeströmungen, vor einem Publikum, das das ganze Gebiet deutscher Zunge umfaßt." 62
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Verhandlungen der GDNA. 80. Versammlung zu Cöln. 20.-26. September 1908. Leipzig 1909, Teil 1, S. 22; Wettstein: Die Biologie (1912), S.222. Verhandlungen der GDNA. 79. Versammlung zu Dresden. 15.-21. September 1907. Leipzig 1908, Teil 1, S. 19.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste 1859-1864 „Der Vereinsgedanke ist nicht etwas unserer Zeit Aufgenöthigtes; er ist etwas, [...] was unsere Zeit als der herrschende Gedanke durchdringt: es ist die Heimkehr aus der Fremde einer erträumten Ferne in die Heimath der natürlichen Weltanschauung. Dieser Gedanke, den jede Zeile in Humboldt's Schriften athmet, führt zur Erkenntniß und zum Frieden." E. A. Roßmäßler: Zum 14. September, in: Aus der Heimath 5 (1863), Sp. 577-580, hier Sp. 580.
Im Juli 1859 rief der Zoologe und ehemalige Paulskirchenabgeordnete Emil Adolf Roßmäßler die deutsche Öffentlichkeit dazu auf, den zwei Monate zuvor verstorbenen Universalgelehrten Alexander von Humboldt auf besondere Weise zu ehren. Humboldt war durch spektakuläre Reiseunternehmungen bekannt geworden und hatte in seinen neunzig Lebensjahren ein einzigartiges wissenschaftliches Oevre geschaffen, in dem naturwissenschaftliche, geographische und kulturelle Beobachtungen zusammenflössen. Durch Humboldts opus magnum Kosmos, dessen erster Band 1845 erschien, wurde dieser universale Zugriff auf die Naturwelt nochmals nachdrücklich in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt. Zugleich wurde der Kosmos, wie im Kapitel V.3-4 ausführlich dargestellt wird, zum Ausgangspunkt zahlreicher populärer Naturdarstellungen. Roßmäßler selbst hatte sich schon früh an der populärwissenschaftlichen Umsetzung der Humboldtschen Vorstellungen beteiligt, trat aber jetzt, im Todesjahr des Gelehrten, in seiner Zeitschrift Aus der Heimath mit einer neuen Idee auf den Plan. Mit Blick auf Humboldts neunzigsten Geburtstag am 14. September schlug Roßmäßler vor, in die „unruhevolle Zeit hinein" den Gedanken einer „friedlichen Schöpfung" 1 zu setzen. Roßmäßler regte an, Humboldt-Vereine zu gründen, in deren Namen und Programmatik das Erbe Humboldts weiterleben sollte. Das Ziel solcher „naturwissenschaftlichen Volksvereine" 2 sei, die Vorstellung vom Kosmos als einer schmuckvollen Einheit der Welt zu verbreiten und die deutsche Bevölkerung mit der heimischen Natur vertraut zu machen. Die Humboldt-Vereine sollten das Bedürfnis nach Volkstümlichkeit befriedigen, das Roßmäßler in dem bestehenden naturkundlichen Vereinswesen und auf den Versammlungen der GDNA vernachlässigt sah. Auch dachte Roßmäßler daran, die neuen Vereine allen sozialen Gruppen zugänglich zu machen. Die Humboldt-Vereine erschienen dem früheren Professor als Mittel, „humane Bildung, auf Erkenntniß der Natur gegründet,
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[Roßmäßler:] Humboldt-Vereine, in: AdH 1 (1859), Sp. 417^20, hier Sp. 417. Ebenda, Sp. 419.
3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste
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in den mittleren und unteren Schichten des Volkes zu verbreiten." 3 Die lokalen Humboldt-Vereine waren als „Seitenstücke" zu den naturforschenden Gesellschaften gedacht, während sich der 1861 konstituierte Deutsche Humboldt-Verein als „populäres Seitenstück" 4 zur GDNA verstand. Humboldt-Feste am 14. September sollten nach Roßmäßlers Vorstellung zu Treffpunkten der Vereine werden und die Vielfalt naturkundlicher Bildungsaktivitäten demonstrieren. Roßmäßlers Initiative war Teil der Ausdifferenzierung der populären Naturkunde, die das Vereinswesen seit der Jahrhundertmitte erlebte; der Frankfurter Verein für naturwissenschaftliche Unterhaltung bot zeitgleich ein anderes Beispiel. In dieser Entwicklung markieren die Humboldt-Vereine sowohl konzeptionell als auch in ihrem konkreten Wirken eine entscheidende Übergangsetappe. Mit ihnen wurde erstmals der Versuch unternommen, über lokale Einzelfälle hinaus einen gesonderten Vereinstypus zur Popularisierung der Naturwissenschaften zu schaffen. Mit den Humboldt-Vereinen verselbständigte sich das Bedürfnis nach volkstümlicher Naturkunde im Vereinswesen - und stieß gleichzeitig auf erhebliche Schwierigkeiten, die die Humboldt-Vereine auf den ersten Blick nur als eine kurze Episode der deutschen Vereinsgeschichte erscheinen lassen. Tatsächlich stellen die Humboldt-Vereine quantitativ ein unbedeutendes Segment des Vereinswesens dar, ihre Gesamtzahl dürfte nicht wesentlich höher als dreißig gewesen sein, sie blieben auf wenige Regionen konzentriert, und nur wenige lokale Vereine existierten nach dem Tod Roßmäßlers 1867 weiter; Tabelle 4 listet die Vereinsgründungen auf.5 Trotzdem verdienen die Humboldt-Vereine eine eingehende Betrachtung,6 will man das intellektuelle Leben in Deutschland zwischen Revolu-
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Roßmäßler: Mein Leben (1874), S. 336. AdH 7 (1865), Sp.596; ebenso Roßmäßler: Volksbildung (1865), S.106f. Roßmäßler sah die Humboldt-Vereine ausdrücklich in Analogie zu der „sogenannten populären Darstellungsweise", siehe AdH 2 (1860), Sp. 112. Neben den angebenen veröffentlichten Quellen wurden die vorhandenen Festschriften der lokalen Humboldt-Vereine sowie die im Quellenverzeichnis angegebenen Bestände des Stadtarchivs Löbau zum Humboldt-Verein bzw. den Humboldt-Feiern zur Datierung, die auch hier nur mit Vorbehalten möglich ist, hinzugezogen. Die Humboldt-Vereine sind in der Historiographie bislang kaum beachtet und noch nicht untersucht worden. Die wichtigste Quelle stellen die Jahrgänge der Zeitschrift Aus der Heimath 1859-1866 dar, die ausführliche Berichte und eine Fülle kleiner Meldungen über die Humboldt-Vereine und -Feste druckten, sowie die autobiographischen Aufzeichnungen des Begründers Emil Adolf Roßmäßler. Daneben liegen einige Festschriften von Humboldt-Vereinen vor, auf die in den Anmerkungen und im Quellenverzeichnis verwiesen wird. Den besten Überblick bietet Popig: Zur Geschichte (1915), vgl. auch Ruß: In der freien Natur (1875), S. 409-416 und Burgemeister: Emil Adolf Roßmäßler (1958), S. 90-97. Knappe Erwähnungen bei Reyer: Handbuch des Volksbildungswesens (1896), S. 66; Drä-
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III. Vereine, Vorträge und Feste
tion und Reichsgründung genauer fassen. Die Humboldt-Vereine stehen erstens in der Kontinuität der Popularisierungsgeschichte seit 1848 und stecken eine Etappe in dem Bemühen ab, neue Formen des außerwissenschaftlichen Zugriffs auf naturkundliches Wissen zu ermöglichen. Sie bilden ein Scharnier in der Geschichte der Erwachsenenbildung zwischen der Vereinsbewegung der Jahrhundertmitte mit ihrem sozialintegrativen Ansatz und dem Aufschwung der institutionalisierten Volksbildung seit der Gründung der Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung 1871. Die Humboldt-Vereine sind zweitens Teil der zeitgenössischen Debatte um die Relevanz des Bildungsgedankens zur Lösung der sozialen Frage. Über die Person Roßmäßler verweist ihre Konzeption auf die Auseinandersetzungen zwischen sich formierender Arbeiterbewegung und bürgerlichem Liberalismus, die sich in Roßmäßlers Heimatort Leipzig seit 1859 unter seiner maßgeblichen Beteiligung zuspitzten. Drittens sind die Humboldt*Vereine Ausdruck der sogenannten Neuen Ära in Deutschland. Sie verdeutlichen die kommunikative Mobilisierung und die nationale Aufbruchstimmung in weiten Teilen Deutschlands seit 1858, die in der Vereinsund Festkultur ein vorrangiges Medium fand. Die Humboldt-Vereine exponierten mit Alexander von Humboldt erstmals einen Naturwissenschaftler als nationale Figur. Alle drei Aspekte sind in der Biographie Roßmäßlers verknüpft und bilden den Kern seines naturwissenschaftlich begründeten Humanismus. Der Lebensweg Roßmäßlers und das Projekt der Humboldt-Vereine lassen damit nicht wenig von den Hoffnungen und Grenzen bürgerlicher Bildungspolitik in Deutschland vor 1871 erkennen.
ger: Volksbildung, I (1979), S.40 und Röhrig: Erwachsenenbildung (1987), S.350. Unter den ungedruckten Quellen sind die Bestände des Löbauer Stadtarchivs und Stadtmuseums, die die Vorbereitung des wichtigen dritten Humboldt-Festes mit der Konstituierung des Deutschen Humboldt-Vereins dokumentieren, einzigartig.
3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste Tabelle 4: Humboldt-Feste und Humboldt-Vereine seit 1859 a) Humboldt-Feste 14.9.1859
1. Humboldt-Feier auf der Gröditzburg (ohne Roßmäßler) Geschäftsführer: Theodor Oelsner, Rudolph Sachße
15.9.1860
2. Humboldt-Tag auf der Gröditzburg Geschäftsführer: G. Heller, Theodor Oelsner, Rudolph Sachße 67 Teilnehmer (andere Angaben sprechen von über Hundert)
14.-15.9.1861
3. Humboldt-Fest in Löbau Geschäftsführer: E. A. Roßmäßler, Karl Schmidt 108 Mitglieder
14.-16.9.1862
4. Humboldt-Fest in Halle/S. (ohne Roßmäßler) Geschäftsführer: Otto Ule, Gödecke 90 Mitglieder
14.-16.9.1863
5. Humboldt-Fest in Reichenbach/Voigtland Geschäftsführer: Dr. Köhler, Dr. Kürsten 248 Mitglieder
1864
6. Humboldt-Fest in Jena fällt aus Geschäftsführer: Dr. Sy, Prof. Schäffer
1865
das Humboldt-Fest fällt erneut aus
b) Humboldt-Vereine 1859 1859 1859 1859 o. 1860 1859 o. 1860 1859 o. 1860 1859 o. 1860 1860 1860 (?) 1860 (?) 1860 1860 1860 1861 1861 1861 1862 (?) 1862 (?) 1862 1862 1863 (1864) 1865 1865
Bunzlau Heringen/Thüringen Talge Minden Löwenberg/Schlesien Waldenburg/Schlesien Wüstegiersdorf/Schlesien Berlin Bremen Mehlkehmen Talge/Lüneburg Triptis Zittau Ebersbach Hamburg Ober-Oderwitz/Lausitz Goslar Lahr/Baden Potsdam Schweinfurt Münchenbernsdorf Eibau (gegründet als Sonnabendklub, seit 1867: Fortbildungs-Verein, seit 1899: Humboldt-Verein) Löbau Rumburg
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III. Vereine, Vorträge und Feste
1866 (?65) 1866 1869 1869 1869 1869 (?) 1870 (?) 1872 1875 (?) 1881
Biedenkopf/Lahn Erfurt Breslau Braunschweig Brieg/Schlesien Heilsberg/Ostpreußen Seifhennersdorf/Lausitz Herwigsdorf/Lausitz Walddorf Ronneburg
O.J. O.J. 1893
Calau Leipzig (1911 aufgelöst) Hamburg (für Aquarien- und Terrarienfreunde)
Quellen: [Zeitschrift] Aus der Heimath 1859-1866, Michelsen: Die Humboldt-Vereine (1863), [Zeitschrift] Der Bildungs-Verein 1871-1905, Stoehr: Allgemeines Deutsches Vereins-Handbuch (1873), Mylius: Statistik (1885), Reyer: Handbuch (1896), [Zeitschrift] Volksbildung 1905-1910, Popig: Zur Geschichte (1915); Alexander vom Humboldt. Werk und Weltgeltung. München 1969, S. 399-401.
a) Emil Adolf Roßmäßler und die Konzeption der Humboldt-Vereine Emil Adolf Roßmäßler wurde 1806 in Leipzig als Sohn des bekannten Kupferstechers Johann Adolf Rossmässler geboren; das künstlerische Erbe führte er später als naturkundlicher Illustrator fort. 7 Auf Wunsch der Familie begann Roßmäßler 1825 in Leipzig Theologie zu studieren, brach aber das Studium schon nach zwei Jahren ab, um die Leitung einer Schule im thüringischen Weida zu übernehmen. Seinen naturwissenschaftlichen Interessen folgend, wechselte Roßmäßler 1830 auf eine Lehrerstelle für Zoologie an der sächsischen Forstakademie in Tharandt. 1832 wurde Roßmäßler in Tharandt zum Professor ernannt und baute selbstbewußt seine Stellung an der Forstakademie aus. Er profilierte sich als Kenner der Weichtiere und als Didaktiker mit eigenen Lehrbüchern. Die von ihm seit 1835 veröffentlichte Iconographie der Land- und Süsswasser-Mollusken wurde zu einem zoologischen Standardwerk des 19. Jahrhunderts. Bereits 1830 war Roßmäßler nach Dresden gereist, um die sächsische Septemberrevolution mitzuerleben. Eine Jahrzehnt später wandte er sich intensiver politischen Fragen zu. 1845 gehörte der Schneckenforscher zu den Mitbegründern eines Bürgervereins in Tharandt. In den folgenden Jahren knüpfte er Kontakte zu liberalen Abgeordneten der Zweiten Sächsischen Kammer, schrieb in oppositionellen Blättern und agierte auf Festen der sächsischen Sänger und Turner. 7
Zum Lebensweg bis 1848 siehe Daum: Emil Adolf Roßmäßler (1993). Die Schreibweise des Familiennamens variiert in den Quellen.
3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste
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Das Revolutionsjahr bedeutete einen Einschnitt: Im Mai 1848 wurde Roßmäßler im Wahlbezirk Pirna als Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt.8 Dort schloß er sich der demokratischen Linken im Deutschen Hof an und gehörte seit Oktober 1848 zum Nürnberger Hof, der sich wegen der Intervention der Nationalversammlung in Österreich abgesondert hatte. Als Mitglied des Schulausschusses und der Unterabteilung für das Volksschulwesen trat Roßmäßler im besonderen für die Stärkung der Volksschule und die Trennung von Kirche und Schule bzw. Staat ein. Daß die „Wurzel der namentlichsten Übel, von denen der Boden des sozialen und politischen Lebens überwuchert ist, in der verwahrlosten Volkserziehung zu suchen sei"9, zeichnete sich spätestens hier als Grundüberzeugung Roßmäßlers ab. Obwohl Roßmäßler schon im Juli 1848 für sich als Gefahr erkannte, von der Politik ganz absorbiert zu werden, 10 folgte er sogar im folgenden Jahr dem Rumpfparlament nach Stuttgart. Die Rückkehr nach Tharandt gestaltete sich wenig erfreulich. Roßmäßler begann zwar, seine Lehrveranstaltungen für den Winter vorzubereiten, sah sich aber innerhalb der Forstakademie und aus dem sächsischen Unterrichtsministerium massiven Angriffen ausgesetzt, wurde vom Dienst suspendiert und wegen Hochverrats angeklagt.11 Innerlich hatte Roßmäßler bereits im Sommer 1849 die Abkehr sowohl vom Politikerdasein als auch vom professoralen Selbstverständnis vollzogen; es war, wie er rückblickend schrieb, ein Wandel zum „naturgeschichtlichen Volkslehrer" 12 . Wenige Tage nach der gewaltsamen Auflösung des Rumpfparlaments formulierte Roßmäßler als neue Lebensaufgabe, eine freiere Zukunft durch die „Reform der Volksbildung"13 zu erreichen und diese auf
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Thorsten Tonndorf: Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung im 22. Wahlbezirk/Pirna des Königreichs Sachsen vom Frühjahr 1848, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 1992, H. 3. S. 36-39; ders.: Die wähl- und sozialpolitische Zusammensetzung der sächsischen Paulskirchenvertreter 1848/49, in: ZfG 42 (1994), S. 773-794, hier S. U l i , 790. Aufruf der Abgeordneten E. A. Roßmäßler, L. Reinhard (Mecklenburg) und Franz Schmidt (Schlesien) vom 19.7.1848 (Frankfurt/M., Bundesarchiv - Außenstelle, FSg 1/270). Schreiben Roßmäßlers vom 26.7.1848 aus Frankfurt/M. (Dresden, Sächsische Landesbibliothek, Msc. Dresd. App. 60). Nach Auflösung des Stuttgarter Versammlung war Roßmäßler einer der ersten, der - anonym - eine Bilanz der parlamentarischen Tätigkeit veröffentlichte, siehe [Roßmäßler:] Die Deutsche Nationalversammlung (1849). Zu den Vorgängen an der Forstakademie, wo der Direktor von Berg als Wortführer gegen Roßmäßler auftrat, siehe Archiv der TU Dresden, B 313, f. 12f£, hier f. 77-79 das Schreiben Roßmäßlers vom 8.11.1849, in dem er seinen Widerspruch gegen die Suspension zurücknahm; vgl. ebenda, B 314, f. 2-9, 50-52, 55, 58; Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 65, Verz. 57, Bü 411/11, Nr. 1. Roßmäßler: Mein Leben (1874), S. 111. Ebenda, S. 131-135, Zitat S. 135.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
die Naturwissenschaften zu gründen. Damit waren die Weichen gestellt für den anschließenden Lebensweg als „Popularisirer"14. Noch im Dezember 1849 begann Roßmäßler in Frankfurt am Main, naturkundliche Vorträge zu halten. Von der akademischen und politischen Situation in Tharandt enttäuscht, zog Roßmäßler seinen Widerspruch gegen die Dienstsuspension im gleichen Winter zurück. Den Prozeß gewann er zwar im Januar 1850, was ihm immerhin ein schmales, dringend benötigtes Ruhestandsgehalt einbrachte, siedelte aber im März als Privatgelehrter nach Leipzig über. 15 Bis 1852 unternahm Roßmäßler, wie bereits erwähnt, Vortragsreisen durch Deutschland, im folgenden Jahr einen längere Forschungsaufenthalt in Spanien und noch zweimal Reisen in die Schweiz. Die Früchte seiner Vorträge und die Erfahrungen der Bildungsreisen gingen in das Erstlingswerk Der Mensch im Spiegel der Natur (1850-53) und in die Populairen Vorlesungen aus dem Gebiete der Natur (1852-53) ein. Später folgten diverse populärwissenschaftliche Bücher, Aufsätze und die Mitarbeit an mehreren naturkundlichen Zeitschriften. 16 Bereits 1851 umriß Roßmäßler die Idee, naturkundliche „Volksakademien" zu bilden.17 Den Kern sollten kleine Vereine und Versammlungen bilden, die naturkundliche Vorträge für Zuhörer aller sozialen Schichten veranstalteten und keine offizielle Mitgliedschaft als Barriere errichteten. Roßmäßler dachte an ein demokratisches Assoziationswesen, das von politischer Betätigung absehen sollte. 1852 plädierte Roßmäßler vor der 29. VDNA in Wiesbaden für die Bildung von naturwissenschaftlichen Lokalvereinen und Naturaliensammlungen, jedoch ohne Erfolg. 18 Seine musealen Ambitionen kulminierten im Januar 1859 im Aufruf für ein „Landesmuseum für vaterländische Naturgeschichte und Industrie" in Leipzig.19 Im gleichen Jahr zog es Roßmäßler zur feierlichen Beerdigung Alexander von Humboldts, der am 6. Mai gestorben war, nach Berlin. Der Leipziger Privatier erkannte rasch die Chance, die Verehrung des berühmten Wissenschaftlers für seine eigene Konzeption von Volksbildung zu nutzen, diese quasi auf die Wertschätzung Humboldts zu begründen und in eine vereinsmäßige Organisation zu transformieren: die Humboldt-Vereine. 14 15
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Ebenda, S. 155. Archiv der TU Dresden, B 314, f. 2-4,6-9,50-52,55,58. Roßmäßler erhielt demnach ein „Wartegeld" von 190 Talern, während sein Diensteinkommen 700 Taler betragen hatte (ebenda, f. 51f.). Siehe Kapitel V.4 und VI.2. Roßmäßler: Der Mensch, III (1851), S. 98ff.; ders.: Volksbildung (1865), S. 89f. Amtlicher Bericht über die neunundzwanzigste V D N A zu Wiesbaden im September 1852. Wiesbaden 1853, S. 74; hier allerdings ohne Abdruck des Redetexts. Dieser dann sinngemäß wiedergegeben bei Roßmäßler: Volksbildung (1865), S. 90f. Roßmäßler: Volksbildung (1865), S. 92.
3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste
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Roßmäßler hätte keine bessere Leitfigur als Humboldt finden können. Humboldt galt als Monument der Geisteswelt, Wegbereiter der empirischen Naturforschung und war trotz seiner Einbindung in die Hofgesellschaft des preußischen Königs bekanntermaßen ein unabhängiger Geist, der mit der liberalen Bewegung sympathisierte. 20 Roßmäßler steigerte emphatisch diese Wertschätzung und präsentierte den Verfasser des Kosmos nun als „Begründer der sogenannten populären Darstellung [...] und Meister darin" 21 . Roßmäßler konnte zudem auf eine persönliche Korrespondenz mit dem Universalgelehrten verweisen. Humboldt hatte dem Leipziger Verehrer schon 1852 zugebilligt, das „ehrenvolle Zeugniß des tiefsten Wissens" zu besitzen, das notwendig sei für ,,[w]ahrhaft populäre Schriften". 22 Die eigene, in Humboldts Todesjahr gegründete Zeitschrift Aus der Heimath nutzte Roßmäßler für den zitierten Aufruf vom Juli 1859, um die Idee der Humboldt-Vereine publik zu machen und regionale Nachrichten über die Initiative auszutauschen. Roßmäßlers Ziele waren weit gesteckt. Die Humboldt-Vereine sollten die GDNA an Bedeutung übertreffen 23 und zum geistigen Mittelpunkt der bestehenden naturwissenschaftlichen, Bildungs- und Fortbildungsvereine, der Gewerbe- und Handwerkervereine werden. 24 Roßmäßler avisierte Humboldt-Vereine für jede Stadt und jede größere Dorfgemeinde in Deutschland, mußte aber nach wenigen Jahren erkennen, daß seine Idee kaum über den Keim hinausgekommen war. 25 Bis 1866 wurden ca. 25 Humboldt-Vereine gegründet, später folgten etwa zehn weitere, wie in Tabelle 4 dargestellt. 26 Es gelang kaum, in Großstädten Fuß zu fassen, im ländlichen Bereich gab es wenige Schwerpunkte (Sachsen, Lausitz, Schlesien), die Mitgliederzahlen blieben im ganzen gering. Der Vereinsgedanke konkretisierte sich zuerst im nahen Schlesien. Am 14. September 1859, dem Geburtstag Humboldts, fand das erste Hum20
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Humboldts politische Haltung ist durchaus schillernd. Trotz der erwähnten Affinitäten hielt er sich in persönlicher Loyalität zum König bis zum Lebensende in der Hofgesellschaft auf. Erst mit der Publikation seiner Briefe an Varnhagen 1860 wurde der Öffentlichkeit das ganze Ausmaß seiner inneren Distanz zum preußischen Konservativismus deutlich. AdH 1 (1859), Sp. 584. Vgl. schon Roßmäßler: Populaire Vorlesungen, II (1853), S. V mit der Widmung an Humboldt. Alexander von Humboldt an E. A. Roßmäßler 6.11.1852 (Cambridge/Mass., Houghton Library - Harvard University). AdH 3 (1861), Sp. 578. Oelsner: Humboldt-Verein (1860), AdH 5 (1863), Sp.447f. AdH 7 (1865), Sp. 543f. Bereits nach einem Jahr hatte Roßmäßler Enttäuschung über die mangelnde Ausbreitung seiner Vereinsidee erkennen lassen, siehe AdH 2 (1860), Sp. 513f.; AdH 3 (1861), Sp. 353f. Angesichts des Mangels an Quellen ist es für die Humboldt-Vereine noch schwieriger als für die übrigen Naturvereine, eine gesicherte Chronologie zu erstellen.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
boldt-Fest auf der Gröditzburg im Riesengebirge statt. Es war eine spontane Zusammenkunft von Schlesiern, die einen Humboldt-Verein gegründet hatten. Auf dem Humboldt-Fest wurden Vorträge, Exkursionen und Naturaliensammlungen als zentrale Bildungsmittel der Humboldt-Vereine herausgestellt und die Anknüpfung an das bestehende Gewerbe- und technische Vereinswesen ins Auge gefaßt. Die immateriellen Leistungen der Naturwissenschaften als Schulung des Denkens und Befreiung von Vorurteilen zu betonen, stand im Vordergrund. Daraus wurde die universale Aufgabe der Naturwissenschaft abgeleitet - „die Verbreitung von Bildung überhaupt." 27 Roßmäßler sah in übertriebener Emphase in der Veranstaltung das „Stiftungsfest der Humboldt-Vereine für ganz Deutschland" 28 . Er war dabei gar nicht anwesend, sondern nur durch einen aufmunternden Brief vertreten. Roßmäßler veranstaltete am 14. September 1859 im Saal der Leipziger Buchhändlerbörse eine gesonderte Gedächtnisfeier für Humboldt. Auch der zweite Humboldt-Tag am 15. September 1860 an gleicher Stelle blieb weitgehend ein innerschlesisches Ereignis, allerdings waren auch Gäste aus Bremen und Leipzig eingetroffen. Vor der Gröditzburg versammelten sich im Freien etwa einhundert Personen 29 , Roßmäßler wurde zum Tagungsvorsitzenden gewählt, hinter seinem Sitz war ein Bild Humboldts angebracht. Umrahmt von Festliedern, die Humboldt auf bekannten Melodien priesen (Heil Dir im Siegerkranz, Wohlauf Kameraden - auf's Pferd und Freiheit, die ich meine), nutzte der Leipziger Mentor das Fest, um sein Credo von der Natur als „mütterliche[r] Heimath" 30 zu verkünden. Die Humboldt-Vereine charakterisierte Roßmäßler als Teil der fortschreitenden Popularisierungstendenz, die jene „Lücke zwischen Wissenschaft und Leben" 31 , die die GDNA nicht habe ausfüllen können, überwinden solle. Die „Natur dem Volke zu erschließen" 32 habe er selbst zu seiner Lebensaufgabe gemacht, und die Anlage von Heimatmuseen sei ihm ein besonderes Anliegen. Auf die organisatorische Festigung und Ausdehnung drängte Theodor Oelsner, Journalist, Freund des Liberalen Hermann Schulze-Delitzsch und
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A d H l (1859), Sp. 628. AdH 1 (1859), Sp. 623, Anm. Vgl. Humboldt-Feier auf der Gröditzburg, in: AdH 1 (1859), Sp. 623-628. Die Initiative war von Rudolph Sachße aus Löwenberg ausgegangen. Die Angaben schwanken, AdH 2 (1860), Sp. 607 spricht von „gegen 100 Personen", AdH 2 (1860), Sp. 643 von 120-130 Personen. AdH 2 (1860), Sp. 644. Ebenda. Zum Begriff Popularisierung in Zusammenhang mit den HumboldtVereinen vgl. AdH 2 (1860), Sp. 510, 644; AdH 3 (1861), Sp. 631; AdH 4 (1862), Sp. 689. AdH 2 (1860), Sp. 644.
3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste
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führender „Humboldtianer" 33 in Schlesien. Oelsner hatte außerdem erkannt, daß eine größere Resonanz nur über die Intensivierung der Pressearbeit zu erreichen war. Angesichts der geographischen Randlage der Vereine schien Oelsner eine stärkere, d.h. nationale Vereinigung notwendig. Sein Vorschlag, die Humboldt-Treffen fortan auf den Sitzungsort des zeitlich parallelen Kongresses deutscher Volkswirte zu legen, fand aber keine Zustimmung. 34 Die Reichweite der Humboldt-Vereine blieb im ganzen undeutlich. Einerseits lösten sich die Vereine kaum aus dem sächsisch-schlesischen Gebiet, andererseits bestand der Wille, überall in Deutschland Lokalvereine zu bilden und die Humboldt-Idee an das bestehende Vereinswesen zu koppeln; Bildungs-, Handwerker-, Gewerbe-, naturwissenschaftliche, technische, Geschichtsvereine u.ä. sollten das Beiwort HumboldtVerein führen dürfen, um das gemeinsame Bildungsanliegen auch ohne formellen Anschluß auszudrücken. 35 Der Übergang zu einer nationalen Organisation schien sich auf dem dritten Humboldt-Fest abzuzeichnen, das 1861 erstmals außerhalb Schlesiens, im lausitzischen Löbau, stattfand. Hier wurde offiziell der Deutsche Humboldt-Verein konstituiert. Die Satzung lehnte sich an die Geschäftsordnung der GDNA an. Der Deutsche Humboldt-Verein wurde als Wanderversammlung mit örtlichen Verantwortlichen und eher loser Organisationsstruktur, ohne Eigentum und mit persönlicher Mitgliedschaft konzipiert. Anders als auf der VDNA sollte ausdrücklich die Mitgliedschaft „ohne Unterschied des Standes und Berufes Jedem frei" sein. Als Zweck des Vereins galt, „die Pflege der Naturwissenschaft in Humboldt's Geiste mittelbar und unmittelbar zu fördern, dieselbe immer mehr zu einem Gemeingut des Volkes machen zu helfen und dadurch das fruchtbringende Gedächtniß Humboldt's im deutschen Volke wach zu erhalten." 36 Mit der Anregung, einen Tauschverband für Naturalien zu begründen, wurde die praktische Seite des Vereins unterstrichen. 37 Die eigentliche
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So die oft wiederholte Selbstbezeichnung der Aktivisten des Humboldt-Vereins, z.B. in AdH 3 (1861), Sp. 627 und AdH 4 (1862), Sp. 675. AdH 2 (1860), Sp.646. Kurz zuvor hatte Oelsner noch davor gewarnt, um die Volksbildungsbestrebungen den „Reif eines formalen Organismus" zu legen, siehe Oelsner: Humboldt-Verein (1860), Sp. 511. Dieses allerdings nur wenig aufgenommene Angebot erschwert es zusätzlich, die Zahl der Humboldt-Vereine präzise zu benennen. Vgl. AdH 1 (1859), Sp. 702, 751f.; AdH 2 (1860), Sp. 646f.; Oelsner: Humboldt-Verein (1860). Satzungen des Deutschen Humboldt-Vereins, in: AdH 3 (1861), Sp. 629f., hier Sp. 629. Die Statuten sind auch abgedruckt bei Roßmäßler: Volksbildung (1865), S. 103-106; ders.: Mein Leben (1874), S. 327-330. Vgl. Otto Ule: Der deutsche Humboldt-Verein, in: Die Natur 11 (1862), S.3111; Stadtarchiv Löbau, Rep. 17, Nr. 29. AdH 3 (1861), Sp. 660, dann später AdH 4 (1862), Sp.696 und AdH 5 (1863), Sp. 684.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
„Humboldt-Vereins-Taktik" 38 sollte darin bestehen, die Bildungsarbeit auf die heimatliche Naturkunde zu gründen und erst von daher zu allgemeineren wissenschaftlichen und kulturellen Fragestellungen vorzudringen. Roßmäßler ging später so weit, die „naturwissenschaftliche Kirchthurmspolitik" 39 im Sinne örtlicher Naturkundearbeit zur Aufgabe der Humboldt-Vereine zu erklären. Das war redlich gemeint, stand aber in einem gewissen Widerspruch zu dem Anliegen, sich gerade aus lokalen Zusammenhängen zu lösen. 40 Die Humboldtianer verwahrten sich dagegen, „simple Verbreitung" der Naturkunde im „trivialen Sinne" zu betreiben. 41 Tatsächlich reichten ihre Popularisierungsstrategien deutlich über die bis dahin bekannten Unternehmungen hinaus. Sie verklammerten die Idee naturwissenschaftlicher Bildung mit der Alltagspraxis und erfaßten Lebensbereiche, die von den etablierten Bildungsinstitutionen vernachlässigt wurden. Im lüneburgischen Talge hatten sich z.B. 15 Dorfbewohner zum lokalen Humboldt-Verein zusammengefunden. Man traf sich wöchentlich, um Lektüre auszutauschen, darunter die Zeitschriften Aus der Heimath, Die Natur und die Gartenlaube, aber auch Klassiker. Man sammelte Naturalien in der Umgebung und widmete sich angesichts des Fehlens geeigneter Lehrkräfte mit Ausdauer dem „Selbststudium". 42 Im ,,geistige[n] Kampf um Zuhörerschaft" 43 waren der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Aus der Heimath klagte der Naturwissenschaft einen Platz in Kindergärten, auf Volksfesten und unter dem Weihnachtsbaum ein. Die Zeitschrift forderte dazu auf, eine naturwissenschaftliche Flugblätterliteratur zu schaffen und der Tagespresse unentgeldlich den Nachdruck volkstümlicher Schriften zu überlassen. 44 Daneben begriffen sich die Hum-
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Theodor Oelsner, in: AdH 3 (1861), Sp. 641. AdH 4 (1862), Sp. 430. Das Löbauer Fest demonstrierte 1861 die regionale Verankerung durch die Ausstellung Lausitzischer Naturalien und Handwerksprodukte. Die Fachvorträge bestritten Roßmäßler über Natur und Geschichte, Moritz Willkom über die geologischen Verhältnisse der Oberlausitz und Otto Ule über den Einfluß des Lichtes auf die Erkennung der Stoffe; siehe AdH 3 (1861), Sp. 631f., 641-643. Theodor Oelsner, in: AdH 3 (1861), Sp. 632. AdH 4 (1862), Sp. 1271 Talge war der erste Ort, der sich nach Roßmäßlers Aufruf 1859 an den Leipziger Naturforscher wandte, siehe AdH 1 (1859), Sp. 528; vgl. AdH 3 (1861), Sp. 753-758. E. A. Roßmäßler, in: AdH 3 (1861), Sp. 84. Thekla Naveau: Die Naturwissenschaft im Kindergarten, in: AdH 3 (1861), Sp. 529-532; Die Naturwissenschaft auf Volksfesten, in: AdH 4 (1862), Sp. 787-790; Naturwissenschaftliche Weihnachtsgeschenke, in: AdH 4 (1862), Sp. 771-774, siehe auch Sp. 783; Eduard Michelsen: Schaffen wir uns Flugblätter im Dienste der Naturwissenschaft!, in: AdH 4 (1862), Sp. 819-822; E. A. Roßmäßler: Der Nachdruck und die naturgeschichtliche Tagespresse, in: AdH 3 (1861), Sp. 81-86.
3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste
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boldt-Vereine auch als Tier- und Naturschutzbewegung. 45 Daß die Humboldt* Vereine und allen voran Roßmäßler Tierquälerei und Waldzerstörung zu gefährlichen „Sittenkrankheiten" 46 erklärten, zeugte für die starke moralische Aufladung des Naturschutzgedankens. Die Tendenz zur Moralisierung war ihrerseits nur Teil eines auf anti-utilitaristische und humanistische Kategorien gestützten Verständnisses von Bildung. Naturwissenschaftliche Bildung zielte aus der Sicht der Humboldtianer auf intellektuelle Veredlung, moralische Läuterung und die Hebung des Kulturzustands. Das Pathos der Natur als „Tempel" und „Offenbarungsquelle Gottes" 47 ergriff auch die Humboldt-Vereine. Es führte nur konsequent den Drang zur Ausbildung einer „natürlichen Weltanschauung" 48 fort, deren Fluchtpunkt die „Humanität" als „Erhebung des Menschen auf eine höhere Stufe, Annäherung an ihr besseres, höheres Selbst"49 bildete. Nachdem Roßmäßler 1862 auf dem vierten Humboldt-Fest wegen der Erkrankung seiner Frau fehlte, übernahm Otto Ule aus Halle den Vorsitz und würdigte in einem ausführlichen Vortrag das Wirken Humboldts. Weitere Fachvorträge,50 das gemeinsame Feiern, der Besuch der örtlichen Naturaliensammlungen und Vorschläge zur Verbesserung der literarischen Hilfsmittel und des Naturalienaustausches ergänzten das Programm. In ähnlichem Stil wurde 1863 in Reichenbach/Voigtland das fünfte Humboldt-Fest begangen. 51 Es war trotz des Ausfalls der vorgesehenen Vorträge von Ule und Roßmäßler 52 ein letzter Höhepunkt. Das geplante Fest in Jena 1864 wurde wegen der politisch angespannten Lage abgesagt. Im folgenden Jahr entfiel das Humboldt-Fest wegen des bereits übervollen Fest45 46
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Oelsner: Humboldt-Verein (1860), Sp. 508. AdH 4 (1862), Sp. 692. Vgl. Karl Ruß: Meister Hämmerlein. Ein ernstes Wort an alle Naturfreunde und besonders an die deutschen Humboldt-Vereine, in: AdH 4 (1862), Sp. 283-286; E. A. Roßmäßler: Ein internationaler Congreß der Zukunft, in: AdH 1 (1859), Sp. 401^06; ders.: Ein Antrag für den Wald, in: AdH 4 (1862), Sp. 609-612. AdH 4 (1862), Sp. 692. Roßmäßler in: AdH 3 (1861), Sp. 542. Oelsner: Humboldt-Verein (1860), Sp. 510. Ules Redaktionskollege von der Zeitschrift Die Natur, Karl Müller, schilderte die Naturverhältnisse der Hallenser Umgebung, Oelsner behandelte der Einfluß einer geläuterten Natur-Anschauung auf Bildungs- und Culturzustand, der Bitterfelder Kreisphysikus sprach über die Verbesserung des Schulunterrichts, ein weiterer Referent schilderte die Naturwissenschaft in ihrer Entwicklung auf die menschliche Kultur im Altertum; siehe AdH 4 (1862), Sp. 676-680,689-696. Theodor Oelsner: Das fünfte Humboldt-Fest, abgehalten zu Reichenbach im Voigtlande am 14., 15. und 16. September 1863, in: AdH 5 (1863), Sp. 657-664, 673-686,691-696,705-710,721-726. Roßmäßler wollte über den Kampf des Pietismus gegen die Naturforschung referieren; ob er nach seinem verspäteten Eintreffen den Vortrag in der vorgesehenen Weise hielt, ist unklar, vgl. AdH 5 (1863) Sp.685.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
kalenders und einer gewissen Überlastung Roßmäßlers, dem es an Unterstützung mangelte.53 So war das Humboldt-Fest von 1863 auch das letzte. Im ganzen blieben die Humboldt-Vereine allenfalls marginale Erscheinungen und der Deutsche Humboldt-Verein ein letztlich fiktives Gebilde. Die Zielsetzung der Humboldt-Vereine erwies sich angesichts konzeptioneller Überspannungen sowie struktureller Mängel - d.h. fehlender personeller, finanzieller und organisatorischer Ressourcen - als völlig illusorisch. Dies galt auch für Roßmäßlers Idee, in den größeren Städten Volkshallen zu errichten, die für Bürger- und Arbeiterversammlungen und zu Bildungs- und Bibliothekszwecken dienen sollten.54 Roßmäßlers hoher Anspruch und sein Pathos waren von Beginn an von einer eigentümlichen Naivität begleitet. Eine Vorbildfigur zu beschwören und selbst ein Inspirator zu sein, der mehr allgemeine Ideale formulierte als daß er eine systematische, organisatorische Umsetzung auch nur in Angriff nahm, war zu wenig, um der Vereinsidee zum Erfolg zu verhelfen. Roßmäßler verkannte, daß er mit seiner Zeitschrift allenfalls einen kleinen Kreis interessierter Naturfreunde erreichen, nicht aber eine nationale Bewegung entfachen konnte. Dem Leipziger blieben die modernen Kommunikationsanforderungen, denen sich nationale Verbände stellen mußten, verschlossen; zudem fand er keine finanz- und organisationsstarken Bundesgenossen.55 Das geradezu rührend-naive Vertrauen, das die Humboldtbewegung auf die Selbstevidenz ihres Vorhabens und die Eigendynamik des naturwissenschaftlichen Bildungsgedankens setzten, wurde von ihrem realen Mißerfolg konterkariert. Die Vereine nur nach diesem äußeren Mißerfolg zu beurteilen, würde ihrer Stellung in der postrevolutionären deutschen Bildungsgeschichte indes nicht gerecht werden. Die Humboldt-Vereine und -Feste verkörperten beispielhaft den Bildungsoptimismus und die daraus abgeleitete Organisationsbereitschaft der Epoche. Sie stellen eine Gelenkstelle dar zwischen den nach der Revolution bereits existierenden Bildungsvereinen, die vor allem Arbeiterbildungsvereine waren, und dem bürgerlichen Bildungsverständnis. Zwar gelang es den Humboldt-Vereinen kaum, soweit aus dem vorhandenen Quellenmaterial abzulesen, Mit53
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Vgl. AdH 6 (1864), Sp. 559f.; AdH 7 (1865), Sp. 543f„ 593. Nach Popig: Zur Geschichte (1915), S. 54 versuchte der Vorsitzende des Biedenkopfer HumboldtVereins 1868, in Kassel in Verbindung mit der deutschen Lehrerversammlung nochmals die Vertreter der Humboldt-Vereine zusammenzubringen. Friedrich Hofmann sah in seinem Nachruf auf Roßmäßler in der Gartenlaube 1867, S. 631 die Humboldt-Vereine bereits vor der Auflösung. Roßmäßler: Volksbildung (1865), S. 108-110. Darin liegt ein wichtiger Unterschied zur G W , der Humboldt-Akademie und der Berliner Urania. Wie entscheidend persönliche Kontakte und überregionale Kommunikationsnetze für den Aufbau einer (nationalen) Vereins- und Festkultur waren, verdeutlicht Tacke: Denkmal (1995), S. 98ff.
3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste
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glieder aus der Arbeiterschaft zu rekrutieren, aber sie erschlossen neben der Lehrerschaft vor allem handwerkliche und landwirtschaftliche, gewerbliche und kaufmännische Schichten, d.h. eine sozial unterprivilegierte Klientel, für die Naturkunde. 56 Die Beteiligung von Frauen wurde ausdrücklich begrüßt. 57 Roßmäßler und seine Mitstreiter hatten erkannt, daß im „Zeitalter der Associationen" 58 der freiheitliche Verein das wichtigste Medium emanzipatorischer Selbstorganisation bildete. Die Vereinsstruktur ermöglichte auf ideale Weise, Aufklärung, Belehrung und Partizipation zu verknüpfen. In der Humboldtbewegung wurde zudem erstmals die Vereinigung von professionellen und amateurwissenschaftlichen Naturforschern zum Programm erhoben. Die naturwissenschaftliche Weltanschauung sollte als Klammer zwischen Liebhabern, Dilettanten oder „Amateurs" einerseits und den berufsmäßigen Naturforschern und selbst „widerhaarigen Professionisten" andererseits dienen.59 Der „Naturphilister", nicht die berufsmäßigen Forscher, wurde zum Hauptansprechpartner der „Missionsthätigkeit des Humboldtvereines" 60 . Stärker als die naturforschenden Gesellschaften betonten die Humboldt-Vereine das voraussetzungslose Laientum, die autodidaktische Arbeit und die amateurwissenschaftliche Selbständigkeit.61 Auch wenn diese Konzeption als Grundlage eines neuen Vereinstypus vorerst scheiterte, sollte sie alle weiteren Bemühungen um die Popularisierung der Naturwissenschaften in Deutschland durchziehen.
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Das vorhandene Material läßt eine ausreichende statistische Analyse der Mitgliedschaften noch nicht zu. Einschlägige Hinweise vor allem in Festschrift des Humboldt-Vereins in Ebersbach (1886), S. XXVf.; Festschrift des Humboldt-Vereins zu Ebersbach (1911), S. XXI-XXIII; Humboldtverein Löbau (1915), S. 28^7 eine Auflistung der Redner im Humboldt-Verein mit Berufsangaben. E. A. Roßmäßler, in: AdH 2 (1860), Sp. 127f. Von einem emanzipatorischen Ansatz war dabei aber nicht die Rede. Roßmäßler sah drei Hauptgründe für eine Beteiligung von Frauen: Sie würden den Versammlungen der Vereine einen wesentlichen Reiz verleihen, die Vereinssitzungen würden einen angemessenen Unterhaltungsstoff für den ehelichen und geselligen Umgang bieten, und schließlich würde das in den Vereinen Gelernte die Frauen zu geschickten Erzieherinnen der Kinder machen. E. A. Roßmäßler, in: AdH 4 (1862), Sp. 466. E. A. Roßmäßler, in: AdH 2 (1860), Sp. 579. Th. Oelsner, in: AdH 4 (1862), Sp. 691. Vgl. Roßmäßler, in: AdH 1 (1859), Sp. 475^78 mit Hinweisen zur Anleitung zum Selbststudium.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
Abbildung 2: Emil Adolf Roßmäßler, Initiator der Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste, der nach 1849 vom Professor zum bedeutendsten naturwissenschaftlichen Popularisierer in Deutschland wurde.
3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste
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Abbildung 3: Versammlung der Teilnehmer am 2. Humboldt-Tag auf der Gröditzburg am 15. September 1860, in der Mitte der Tagungsvorsitzende Roßmäßler, hinter ihm ein Bildnis Alexander von Humboldts.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
b) Roßmäßlers Bildungsverständnis und die soziale Frage zwischen Liberalismus und Arbeiterbewegung Die Idee der Humboldt-Vereine erwuchs aus der zeitgenössischen Diskussion um die gesellschaftliche Relevanz des Bildungsgedankens. Bildung als Schlüssel zu individueller Emanzipation und gesellschaftlichem Fortschritt zu begreifen, war ein genuines Anliegen des Liberalismus in Deutschland.62 Bildung bedeute Selbstaufklärung des Menschen, Anleitung zu vernunftorientiertem Handeln und Einsicht in das freie Zusammenspiel aller Kräfte. Neben der praktischen, d.h. gewerblichen und technischen, Ausbildung kam der allgemeinen Bildung unter dem Leitwert der Humanität 63 zentrale Bedeutung zu. Neben der literarisch-philosophischen Bildung rückten dabei nach der Revolution die Ökonomie sowie die neuen Erfahrungswissenschaften Geschichte und Naturwissenschaft in den Vordergrund.64 Und neben den Leitgedanken von genossenschaftlicher Organisation und Selbsthilfe, die vor allem Hermann Schulze-Delitzsch vertrat, wurde die so verstandene Bildung zum Kern liberaler Arbeiterpolitik. Der politische Liberalismus zielte darauf, die Arbeiterschaft in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren. Als Mittel dazu galten primär die freie ökonomische Organisation in Assoziationen und die Bildungsförderung. Unter sozialreformerischen Vorzeichen waren bereits 1844 der Verein für die deutsche Volksschule und Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse von Friedrich Harkort und in Preußen der Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen ins Leben gerufen worden.65 Solche bürgerliche Patronage bestimmte zunächst auch das Arbeitervereinswesen, das seit Ende der 1850er Jahre expandierte. Es antwortete im besonderen Maße auf den
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Vgl. Langewiesche: Liberalismus (1988), insbesondere S. 65ff. zum nachmärzlichen Liberalismus. Langewiesche bezieht den Bildungsgedanken und die Mobilisierung von Vereins- und Festaktivitäten stärker in die Darstellung ein als James J. Sheehan: Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770-1914. München 1983. Monika Hildegard FaßbenderIlge: Liberalismus - Wissenschaft - Realpolitik. Untersuchung des „Deutschen Staatswörterbuchs" von Johann Caspar Bluntschli und Karl Brater als Beitrag zur Liberalismusgeschichte zwischen 48er Revolution und Reichsgründung. Frankfurt/M. 1981 geht kaum auf die Naturwissenschaften ein, erwähnt aber Bluntschlis Plädoyer für eine „Popularisirung der Wissenschaft", zitiert ebenda S. 128, vgl. auch hier S. 137ff., 155f. Langewiesche: Liberalismus (1988), S. 119 zu Humanität als „Zauberwort" der Liberalen. Die Bedeutung der Naturwissenschaften für die liberale Bildungskonzeption ist bislang wenig beachtet worden. Auch Lee: Revolution (1974) findet in seiner Geschichte des intellektuellen Wandels der 1850er Jahre nicht zu einer Würdigung der Naturwissenschaften. Hardtwig: Vormärz (1985), S. 124; vom Bruch (Hg.): Weder Kommunismus noch Kapitalismus (1985).
3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste
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Bedarf nach technisch-naturwissenschaftlicher Weiterbildung bei den Handwerkern. 66 Umgekehrt verstand sich die entstehende Arbeiterbewegung von Anfang an als eine „breite Kultur-, Bildungs- und Emanzipationsbewegung" 67 , und in der Arbeiterkultur nahmen Bildungsbestrebungen einen zentralen Platz ein. Roßmäßler teilte auch nach dem Ende seiner parlamentarischen Tätigkeit die Prämissen liberaler Bildungskonzeption und versah sie mit demokratischen Akzenten. In der von Toni Offermann aus der DDR-Historiographie entlehnten Typologie des politischen Spektrums der 1850er und 1860er Jahre kann Roßmäßler zwischen Linksliberalen und gemäßigten Demokraten eingeordnet werden. 68 Der Naturforscher hatte sich seit langem der Förderung des Arbeiterstandes durch Volksbildung verschrieben. Er war bereit, selbst über Volksvereine und Massenbewegungen für die sozial unteren Schichten einzutreten. Dabei erschienen ihm Handwerk, Gewerbe und Arbeiterschaft eher undifferenziert als gemeinsame Ansprechpartner - auch darin war Roßmäßler typisch für den bürgerlichen Liberalismus. In die Perspektive des liberalen Bildungsgedankens gestellt, erweisen sich die von Roßmäßler gegründeten Humboldt-Vereine und deren Konzeption einer partizipatorischen Humanitätsbildung als logische Konsequenz aus seiner politischen Haltung, die er verständlicherweise auf dem ihm nahen Feld der Naturkunde umzusetzen versuchte. Keineswegs vorauszusehen war aber 1859, daß Roßmäßler parallel zu seinem Bemühen, eine Humboldtbewegung zu entfachen, in Leipzig in eine politische Handlungsfolge verwickelt wurde, die ihn 1862/63 zu einem Hauptakteur in der Auseinandersetzung zwischen liberalem Bürgertum und entstehender Arbeiterbewegung machte.69
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Vgl. Kellen: Arbeiter-Bildungsvereine (1904), Birker: Die deutschen Arbeiterbildungsvereine (1973), hier S. 154-156,175,185 Hinweise auf Roßmäßler und die Bedeutung der Naturwissenschaften; Offermann: Arbeiterbewegung (1979),Tenfelde: Lesegesellschaften (1981), hier S. 274, Anm. 63 weitere Literaturangaben; Röhrig: Erwachsenenbildung (1987), S. 342,352-359; Eisenberg: Arbeiter (1988). Wenig ergiebig ist Eckhard Dittrich: Arbeiterbewegung und Arbeiterbildung im 19. Jahrhundert. Bensheim 1980. Auch Edith Lerch: Kulturelle Sozialisation von Arbeitern im Kaiserreich. Frankfurt/M. et al. 1985, bietet in unserem Zusammenhang nichts Neues. Gerhard A. Ritter: Arbeiterkultur im Deutschen Kaiserreich. Probleme und Forschungsansätze [1979], jetzt in: Ritter: Arbeiter (1996), S. 113-130, Zitat S. 114; vgl. die übrigen Beiträge aus Ritter (Hg.): Arbeiterkultur. Königstein, Ts. 1979 sowie Langewiesche: Zur Freizeit (1979), S. 21. Offermann: Arbeiterbewegung (1979), S. 26-24, ebenso Biefang: Politisches Bürgertum (1994), S. 47f. Kelly: The Descent (1981), S.18 überzieht, wenn er Roßmäßler als radikalen Demokraten einstuft. Zum folgenden grundlegend Na'aman: Die Konstituierung (1975) und Offermann: Arbeiterbewegung (1979).
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III. Vereine, Vorträge und Feste
An seinem Wohnort forcierte Roßmäßler im Winter 1860/61 das lokale Bildungsangebot durch Vorträge im Hotel de Saxe.70 Das gesellige Restaurantpublikum mit populärwissenschaftlichen Referaten zu versorgen, entsprach Roßmäßlers Ideal von Volksbelehrung jenseits von Kathederweisheit und Gelehrtendünkel. Gemeinsam mit August Bebel, dem Zoologen und Afrikareisenden Alfred Brehm, dem Arzt und Gartenlaube- Autor Carl Ernst Bock sowie dem Chemiker Otto Dammer bestimmte Roßmäßler die Agenda der Leipziger Bildungsvereine. Er wurde 1861 Mitglied im Gewerblichen Bildungsverein, blieb aber dort in der Opposition. Im August 1862 gehörte er zu den Mitbegründern des Vereins Vorwärts, dessen Bildungsarbeit ähnlich konzipiert war, allerdings stärker weltanschaulich-politisch verstanden wurde. Den Vorwärts wiederum verließ Roßmäßler im März 1863, um sich erneut dem Gewerblichen Bildungsverein anzuschließen. Außerdem trat er auch im Fortbildungsverein für Buchdrucker auf. Das Leipziger Vereins- und Bildungswesen erlangte spätestens im November 1862 überregionale Bedeutung, als Leipzig den Zuschlag als Ort für einen allgemeinen deutschen Arbeiterkongreß im folgenden Jahr erhielt. Ein vorbereitendes Zentral-Komitee wurde gebildet und Roßmäßler zu einem von drei Vertrauensmännern gewählt. Auf zwei Arbeiterversammlungen entwickelte Roßmäßler im gleichen Monat sein Arbeiterprogramm, das im Dezember zur Schrift Ein Wort an die deutschen Arbeiter zusammengefaßt und vom Komitee ausdrücklich gutgeheißen wurde. Die Broschüre war durchaus konservativ gehalten, wie Roßmäßler später selbst bemerkte. 71 Eine ökonomische Analyse fehlte ebenso wie eine sozialpolitische Konzeption oder die Klärung des Arbeiterbegriffs. Als Zielvorgabe für die Arbeiterschaft zeichnete Roßmäßler die „geachtete Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft" 72 . Die soziale Frage wurde auf die Problematik von mangelnder Bildung und menschlicher Achtung reduziert. Eine Lösung sah Roßmäßler darin, den Bildungsstand der Arbeiter zu heben und Wissen durch Arbeitervereine und -Versammlungen zu verbreiten. Dieses Programm war aus der Tradition liberaler Bildungs- und Arbeiterpolitik heraus verständlich, zielte aber an den realen Problemen der Arbeiterschaft vorbei. Die radikaleren Mitstreiter distanzierten sich von ihm, und in der marxistischen Historiographie sollte Roßmäßler das Stigma des kleinbürgerlichen Demokraten, wiewohl Teil des .progressiven Erbes', nicht mehr verlieren. 73
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Roßmäßler: „Was werden die Leute dazu sagen?", in: AdH 2 (1860), Sp. 817-822. Vgl. Schneider: Leipzig (1988). Roßmäßler: Mein Leben (1874), S. 379. Roßmäßler: Ein Wort (1863), S. 11. Der marxistischen, zumal der DDR-Historiographie kommt das Verdienst zu, das Andenken an Roßmäßler bewahrt zu haben, entsprechende Literaturanga-
3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste
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Man kann die Perspektive indes umkehren und Roßmäßlers Arbeiterpolitik im Licht seiner naturwissenschaftlichen Identität beleuchten. Was in ökonomisch-politischer Sicht primär als anachronistische Beharrung auf einem grundsätzlich überholten Konzept, jedenfalls in der Leipziger Situation des Winters 1862/62 als defizitäres Programm erscheint, gewinnt dann eine eigene Logik. Roßmäßlers Plädoyer für die Arbeiterbildung bildete das Komplement, ja die politische Umsetzung seines naturwissenschaftlichen Popularisierungsengagements, das er zeitgleich über die HumboldtVereine intensivierte. Roßmäßlers politische Reden 1862/63 sind bis in begriffliche Details hinein von der Argumentation durchtränkt, die er seit 1849 zur Begründung einer volkstümlichen Naturkunde entwickelt hatte. Was Roßmäßler den Arbeitern als „Heimath der natürlichen Weltanschauung"74, „Naturerkenntniß", „belehrende Unterhaltung" und „Lehrstuhle des Volksredners" 75 anbot, war die Verlängerung seines naturkundlichen Programms in den politischen Raum. Die Hoffnung auf die gesellschaftliche Heilungskraft der Naturwissenschaften sollte die Politik durchdringen. Wenn Roßmäßler von Wissenschaft sprach, meinte er - anders als etwa Lassalle - primär die Naturwissenschaften. Im Dezember 1862 formulierte Roßmäßler: „Da, wie ich zu wissen allen Grund habe, der Arbeiterstand den Weg der Reform gehen wird, so wird und muß ihn dieser Weg auf die Naturwissenschaft hindrängen; denn die Arbeit ist einfach ausübende Naturwissenschaft, und um so mehr ihres Erfolges sicher, je mehr sie sich in Besitz der Macht zu setzen weiß, welche die Kenntniß der Gesetze der Natur verleiht, allein verleihen kann. Freuen wir uns [...] der Arbeiterbewegung, denn jeder deutsche Arbeiter, der sich ihr anschließt, ist ein Humboldt'scher Jünger."76
War Roßmäßlers Weg vom Professor zum Popularisierer „durchaus politisch vermittelt" 77 gewesen, so wurde der für einige Zeit beschrittene Weg vom Volksbildner zum Politiker umgekehrt naturwissenschaftlich fundiert; beides bedingte sich wechselseitig. Die Humboldt-Vereine und -Feste selbst wurden nicht unmittelbar in das politische Geschehen einbezogen. Zumindest ist bislang nicht bekannt, daß Roßmäßler die Humboldt-Vereine in die Leipziger Diskussionen um die Arbeiterbewegung eingebracht hätte. Die relative Ferne zwischen beiden lag auch darin begründet, daß
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ben bei Daum: Emil Adolf Roßmäßler (1993), S. 66. Daß der Leipziger Naturforscher tatsächlich die soziale Frage verkannte, macht auch Na'aman: Die Konstituierung (1975), S. 63ff. deutlich. Rede Roßmäßlers am 18.11.1862 auf der Arbeiterversammlung im Odeon in Leipzig, abgedruckt bei Na'aman: Die Konstituierung (1975), S. 343-346, hier 344. Roßmäßler: Ein Wort (1863), S. 7,9. E. A. Roßmäßler: Eine wichtige Zeiterscheinung, in: AdH 4 (1862), Sp. 769f., hier 770. Roßmäßler: Mein Leben (1874), S. 111.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
die Humboldt-Feste im September stattfanden, die entscheidenden Leipziger Beratungen aber im Winter/Frühjahr 1862/63.78 Und doch spiegelten die Humboldt-Vereine den Glauben an die Lösung der sozialen Frage durch die Naturwissenschaft. 1862 kleidete der Hallische Fortschrittspolitiker Otto Ule auf dem Humboldt-Fest 1862 diese Hoffnung nochmals in Worte. Die Naturwissenschaft „und die ihr folgende Kultur" würden die sozialen Unterschiede aufheben und zur „Harmonie des inneren Menschen" 79 führen. In Leipzig spitzte sich derweil die Situation dramatisch zu. Roßmäßlers Arbeiterschrift wurde vom Zentral-Komitee als offizielles Manifest verabschiedet. Trotzdem kontaktierten im Dezember drei Mitglieder hinter Roßmäßlers Rücken Ferdinand Lassalle, um ihm die Führung der Arbeiterbewegung anzutragen. Dazu gehörte auch Roßmäßlers naturwissenschaftlicher Mitarbeiter für seine Zeitschrift Aus der Heimath, Otto Dammer. 80 Während die Liberalen ihrerseits die Propagandatätigkeit verstärkten und Roßmäßler mit Schulze-Delitzsch im Januar auf einer Versammlung des Nationalvereins auftrat, intrigierten die radikaleren Kräfte gegen den Naturforscher. Es gelang, Lassalle offiziell zu einer Stellungnahme zu bewegen. Sein Offenes Antwortschreiben vom 1. März 1863 stellte die Weichen in Richtung einer selbständigen Arbeiterpartei, die sich aus der Allianz mit dem liberalen Bürgertum löste. Lassalles Programmatik - allgemeines Wahlrecht, Staatskredit, Arbeiterproduktivassoziationen gegen das .eherne Lohngesetz' und nationale Agitation - brach mit der liberalen Arbeiterpolitik. Noch im gleichen Monat nahm das Leipziger Komitee das Programm an, und Roßmäßler trat als Vertrauensmann zurück. Ein neues Komitee bereitete die Gründung der Arbeiterpartei vor, die am 23. Mai als Allgemeiner Deutscher Arbeiter-Verein (ADAV) konstituiert wurde. Roßmäßler stand zunächst im Zentrum der liberalen Gegenbewegung mit eigenen Versammlungen und Protestaufrufen, am 16. April sogar in direkter Gegenrede auf Lassalle. Der Naturforscher kritisierte scharf die Trennung von Fortschrittspartei 81
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Außerdem fehlte Roßmäßler 1862 auf dem Humboldt-Fest, ein Jahr darauf erschien er verspätet, da ihn die polizeiliche Vorladung wegen der bevorstehenden Gefängnisstrafe, die auf eine Passage in seiner Arbeiterschrift zurückging, aufgehalten hatte; siehe ebenda S. 380. AdH 4 (1862), Sp. 677f. Nähere biographische Informationen bei Offermann: Arbeiterbewegung (1979), S. 375f., Anm. 219-221 und im Anhang dieses Buches. Der Begriff Fortschrittspartei blieb bei Roßmäßler ungenau. Roßmäßler sprach sowohl von der preußischen Fortschrittspartei als der 1861 gegründeten Deutschen Fortschrittspartei als auch von der deutschen Fortschrittspartei mit Blick auf den Nationalverein sowie von der allgemeinen Fortschrittspartei als Bewegung im Sinne seines eigenen humantitären Ideals. Vgl. Roßmäßler: Die Fortschrittspartei (1862).
3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste
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und Arbeiterbewegung. Er akzeptierte das allgemeine Wahlrecht und konturierte jetzt deutlicher sein Arbeiterprogramm. Gegen den ADAV verteidigte Roßmäßler den Selbsthilfe- und den Bildungsgedanken als dritte Säule neben der Erringung bürgerlicher und politischer Rechte.82 Getragen vom Deutschen Nationalverein, den Anhängern der ursprünglichen Kongreßidee und den Arbeiterbildungsvereinen formierten sich die Kritiker des ADAV im Vereinstag deutscher Arbeiter-Vereine (VDAV), der im Juni 1863 in Frankfurt am Main gegründet wurde. Eigentlich hätte Roßmäßler „als Symbol der legitimen Arbeiterbewegung" (Sh. Na'aman) in dessen Mittelpunkt stehen müssen. Der Leipziger Protagonist lehnte aber die ihm angebotene Präsidentschaft ab. Immerhin setzte Roßmäßler auf dem Kongreß noch die erste Resolution durch, wonach die Einheit der Arbeiterbewegung und die Zusammenarbeit mit den nationalen Einheitskräften festgeschrieben wurde, und er drängte auf die Stärkung des Naturkundeunterrichts in den Bildungsvereinen. Die „Ära Roßmäßler" 83 der Arbeiterbewegung ging aber unabweisbar zu Ende, obwohl Roßmäßler in den folgenden Jahren gemeinsam mit August Bebel im VDAV weiterarbeitete. Im August 1866 gehörte er sogar zu den Mitbegründern der Sächsischen Volkspartei um Bebel und Wilhelm Liebknecht. Allerdings stand Roßmäßler der Person Liebknecht und dem „sozialistischen Pferdefuß" 84 des Programms äußerst reserviert gegenüber. Für den Reichstag des Norddeutschen Bundes wollte er nicht kandidieren. Die marxistische Radikalisierung des VDAV trug Roßmäßler nicht mit, wohl aber kehrte er sich von der Fortschrittspartei ab. Bis 1863 hatte er auf den Nationalverein und die Fortschrittspartei als potentielle Träger seiner Volksbildungsidee gesetzt und diese immer wieder für den naturwissenschaftlichen Bildungsgedanken zu erwärmen versucht. Dann aber sah er sich enttäuscht und klagte auch mit Blick auf die Humboldt-Vereine über die mangelnde Unterstützung. 85 Die Zeitschrift Aus der Heimath sollte noch 1865 zum „Parteiblatt" werden und eine „Kampfstellung" in der Aus82
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Zu Roßmäßlers Gegenposition sein Aufruf „An die deutschen Arbeiter" vom 28.3.1863, abgedruckt bei Na'aman: Die Konstituierung (1975), S. 405-410, seine Protestrede auf der Arbeiterversammlung im Leipziger Odeon gegen Lassalle am 16.5.1863 (abgedruckt ebenda, S. 411^113) und die programmatische Erklärung auf der Arbeiterversammlung im Odeon am 29.5.1863 (abgedruckt ebenda, S. 608-610). Na'aman: Die Konstituierung (1975), S. 149. Während Na'aman den Rückzug Roßmäßlers darauf zurückführt, daß dieser die Idee eines offenen Kongresses zugunsten der vereinsmäßigen Geschlossenheit gefährdet sah, deutet Offermann: Arbeiterbewegung (1979), S. 493 an, Roßmäßler habe Altersgründe vorgeschoben, in Wirklichkeit aber auf die Kritik an seinem Mandat reagiert. Bebel: Aus meinem Leben, I (1946), S. 149. AdH 7 (1865), Sp. 593. Vgl. schon die Kritik in Roßmäßler: Die Fortschrittspartei (1862). Die Abkehr von der Fortschrittspartei erscheint bei Roßmäßler mehr emotional als rational motiviert.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
einandersetzung um die Volksbildung einnehmen.86 Statt der politischen Fortschrittspartei propagierte Roßmäßler nunmehr pauschal die allgemeine „Fortschrittspartei" der „Humanität", die er an sein altes Anliegen der Volksschulförderung koppelte. Es gelte, sich dem „Heere der Humanitätssoldaten"87 einzureihen. Roßmäßler blieb auch in der Phase stärkster Politisierung seines Bildungsanliegens und seiner Person Naturwissenschaftler. Letztlich stand der Molluskenexperte der Politik, ihren Gesetzlichkeiten und ihren Anforderungen an Taktik, strategisches Handeln und öffentliche Agitation fern.88 Roßmäßlers politischen Äußerungen standen in einer merkwürdigen Distanz zur Realität, sie blieben im Fokus seiner naturwissenschaftlichen Weltanschauung gebannt und ließen jegliche realpolitische Dimension zugunsten der eher nebulösen Beschwörung der natürlichen Weltanschauung vermissen. Roßmäßlers Politikmodell war letztlich statisch, es wurde unverrückbar von einem vorindustriellen, mittelständischen Gesellschaftsbild und von den parlamentarischen Erfahrungen der Jahre 1848/49 bestimmt. Noch in der Zeit des deutsch-österreichischen Krieges empfahl Roßmäßler der Öffentlichkeit die Jahre 1848/49 als politischen Orientierungspunkt.89 Im politischen Spektrum verharrte Roßmäßler zwischen allen Stühlen distanziert zur Fortschrittspartei in einer Art politischer Haßliebe, in Leipzig überrollt von der Lassallschen Richtung, im VDAV nicht mehr auf der Höhe der aktuellen Entwicklung, unter den Leipziger Arbeiterführeren geschätzt, aber ohne machtpolitischen Rückhalt. Sein Versuch, liberale Arbeiterpolitik auf einen diffus umrissenen naturwissenschaftlichen Humanismus Humboldtscher Prägung zu gründen, erwies sich schon bald als untauglich. Zugleich bündelte dieser Versuch aber die bürgerliche Hoffnung auf eine wissenschaftlich fundierte, fortschrittliche Entwicklung der Gesellschaft und verlieh ihr, gerade in ihrem illusionären Gepräge, musterhaft Gestalt.
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AdH 7 (1865), Sp. 467f. Roßmäßler: Mein Leben (1874), S. 335,3531,351. Einem Leser seiner Zeitschrift bekannte er 1860 freimütig, angesichts der Lektüre von fünfzig wissenschaftlichen Zeitschriften bliebe ihm keine Zeit für politische Blätter; siehe A d H 2 (1860), Sp. 64. In einem Schreiben an Karl Vogt vom 5.2.1857 notierte Roßmäßler, er lese keine Zeitungen, ähnlich auch Roßmäßler an Vogt 13.2.1865, f.211 v -212, mit der Prioritätenliste seiner Arbeiten, wonach Arbeitervorträge und Parteiarbeiten an letzter Stelle rangierten (Genf, Bibliotheque Publique et Universitaire, Nachlaß Karl Vogt). Auch in der Privatbibliothek Roßmäßlers, wie sie sich später im Ankauf in St. Louis widerspiegelt, findet sich bezeichnenderweise keine politische Literatur im engeren Sinne. Vgl. Roßmäßler: Unsere Lage (1866) und Bebel: Aus meinem Leben, I (1846), S. 149.
3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste
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c) H u m b o l d t i a n e r u n d Nation in der N e u e n Ä r a Zwei kontingente Ereignisse, Humboldts Tod am 6. Mai 1859 und dessen Geburtstag im September, hatte Roßmäßler zum Anlaß genommen, die Humboldt-Feste und -Vereine ins Leben zu rufen. Gleichzeitig wurde in dieser Initiative auch eine überindividuelle Disposition zur gesellschaftlichen Mobilisierung deutlich. Die Humboldtbewegung war Teil der sprunghaft ansteigenden Organisations- und Kommunikationsbereitschaft der deutschen Gesellschaft seit 1858. Viele Zeitgenossen, nicht zuletzt liberale Bürger, glaubten Preußen nach 1858 in einer Neuen Ära. Das Ende der Reaktionsphase deutete sich an: Prinz Wilhelm hatte im Oktober 1858 die Regentschaft übernommen, gegen den Rat seines Vorgängers den Eid auf die Verfassung geleistet und „moralische Eroberungen" 90 versprochen. Das Polizeisystem wurde gelockert, und behördliche Repressionen wichen neuen Freiheiten, die man zur politischen Betätigung nutzte. Im September 1858 trat erstmals der Kongreß deutscher Volkswirte in Gotha zusammen, und im folgenden Monat wurden die Liberalen im Preußischen Abgeordnetenhaus zur stärksten Fraktion, während die Konservativen über zwei Drittel ihrer Mandate verloren. Auch Roßmäßler teilte die Hoffnung, daß der Prinzregent eine liberale Wende einleiten würde; das Auftreten Wilhelms bei Humboldts Beerdigung bestärkte ihn darin.91 Noch deutlicher zeichnete sich eine Neue Ära in Bayern und dann in Baden ab, wo der „Liberalismus als regierende Partei" (Lothar Gall) unter dem Ministerium Lamey-Roggenbach seit 1861 eine konstitutionell-liberale Rechtsstaatsordnung vorantrieb. 92 Hinzu kam, daß der italienisch-österreichische Krieg die nationale Frage erneut ins öffentliche Bewußtsein rückte. Die Aufbruchstimmung der Neuen Ära war in weiten Teilen eine nationale. 93 In Frankfurt am Main wurde im September 1859 der Deutsche Nationalverein gegründet, der Demokra90
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Zitiert nach Siemann: Gesellschaft (1990), S. 193; vgl. hier S. 190-200 zum Aufbruch der Neuen Ära sowie Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866 (1985), S. 697-703 und Langewiesche: Liberalismus (1988), S. 85-93. AdH 1 (1859), Sp. 306-308. Lothar Gall: Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung. Wiesbaden 1968. Zur fortschrittlichen Wissenschaftspolitik Badens vgl. Borscheid: Naturwissenschaft (1973) sowie Tuchman: Science (1993), S. 91ff., die anders als Borscheid den Beginn dieser Politik schon auf die unmittelbaren nachrevolutionären Jahre datiert. Stand der Diskussion zu Nation und Nationalbewegung sowie weiterführende Literatur lassen sich erschließen über Dann: Nation (1993), Hardtwig: Nationalismus (1994), Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: NPL 40 (1995), S. 190-236; Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, III (1995), S. 228-251,938-965 und mit besonderem Blick auf die Neue Ära bei Biefang: Politisches Bürgertum (1994) und Düding: Die deutsche Nationalbewegung (1991).
162
III. Vereine, Vorträge und Feste
ten und Liberale unter der Zielsetzung eines einigen - und dies bedeutete: kleindeutschen - Vaterlandes zusammenführte. 94 Jene Kräfte, die im Vormärz den nationalen Gedanken aufrechterhalten hatten, in der Revolution aber gescheitert waren, traten wieder auf die öffentliche Bühne: Turner und Sänger, ergänzt jetzt um die Schützenbewegung und den Nationalverein, dessen politische Vorgaben sich auch die Deutsche Fortschrittspartei seit 1861 weitgehend zu eigen machte. Politisch und personell knüpfte die revitalisierte Nationalbewegung an die Revolutionszeit an, entwickelte aber ein eigenes Organisationsgefüge, aus dem eine neue nationale Funktionselite des politischen Bürgertums entstand. 95 Die durch die Aussicht auf das Entstehen eines italienischen Nationalstaats stimulierte innere Mobilisierung erreichte im Herbst 1859 ihren Höhepunkt anläßlich des Gedenkens zum 100. Geburtstag Friedrich Schillers. Am 10. Oktober wurde in Dresden eine nationale Schiller-Stiftung ins Leben gerufen, und ein Monat später, vom 9. bis 11. November 1859, erlebte Deutschland eine Welle von Schillerfeiern; in insgesamt 440 deutschen und auch in 50 ausländischen Städten fanden Schillerfeste mit Umzügen, Konzerten, Festschauspielen, Reden, Festessen, Denkmalsenthüllungen, Büstenbekränzungen etc. statt.96 Gestützt auf eine Vielzahl von Vereinen feierte das deutsche Bürgertum sich selbst als Kraft des öffentlichen Lebens. Es feierte die Idee nationaler Einheit, und es erkor den Dichter Schiller zur nationalen Integrationsfigur, wie schon früher und wie auch später andere historische Heroen, Bismarck obenan. 97 Auch Roßmäßlers Aktivismus nach 1859 paßte sich diesem nationalpolitischen Aufbruch an. Der Leipziger Naturforscher unterstützte die nationale Diskussion als Mitglied des Nationalvereins und des Deutschen Ab-
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97
Shlomo Na'aman: Der deutsche Nationalverein. Die politische Konstituierung des deutschen Bürgertums 1859-1867. Düsseldorf 1987. Biefang: Politisches Bürgertum (1994), der allerdings Roßmäßler nicht zur engeren Funktionselite zählt, die er primär über die Ausschußtätigkeit in nationalen Organisationenen definiert. Diese Entscheidung läßt sich durchaus vertreten, zweifellos ist Roßmäßler aber dem nationalen Kommunikationszusammenhang zuzurechnen. Hierzu Rainer Noltenius, in Düding/Friedemann/Münch (Hg.): Öffentliche Festkultur (1988), S. 237-258 (die Zahlenangabe ebenda, S. 239), sowie dessen Monographie Dichterfeiern in Deutschland. Rezeptionsgeschichte als Sozialgeschichte. München 1984. Dann: Nation (1993), S. 139 spricht in diesem Zusammenhang von mehr als 500 Städten. Wolfgang Hardtwig: Erinnerung, Wissenschaft, Mythos. Nationale Geschichtsbilder und politische Symbole in der Reichsgründungsära und im Kaiserreich, in: Hardtwig: Geschichtskultur (1990), S. 224-263; ders.: Nationsbildung und politische Mentaütät. Denkmal und Fest im Kaiserreich, in: Hardtwig: Geschichtskultur (1990), 264-301; ders.: Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewußtsein im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, in: Hardtwig: Nationalismus (1994), S. 218.
3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste
163
geordnetentages, der im September 1862 erstmals zusammentrat. 98 Er besuchte im Juli 1862 das Deutsche Schützenfest in Frankfurt am Main und die Demokratentreffen im Juli und Oktober des gleichen Jahres, verfaßte im August 1863 einen Festgruß für das Deutsche Turnfest in Leipzig und ließ dort 1000 Exemplare der entsprechenden Nummer von Aus der Heimath verteilen. Angeregt durch die Gründung des Deutschen Protestantenvereins, trug sich Roßmäßler sogar mit dem Gedanken, über den Nationalverein einen deutschen Schulverein ins Leben zu rufen und auf dem Abgeordnetentag zu beantragen, einen Ausschuß zur Beschaffung billiger Volksliteratur zu gründen. Beide Vorhaben gab er schließlich auf." Die Humboldt-Vereine und -Feste entzogen sich der wiederauflebenden nationalen Diskussion nicht. Sie griffen die nationale Frage vielmehr selbst auf, soweit die regionale Verankerung und die naturkundlichen Themen dies zuließen. Die Koinzidenz von Humboldts Todestag, seinem 90. Geburtstag und der neuen Suche nach nationalen Ufern im Jahre 1859 drängte eine Stellungnahme geradezu auf. Achtunddreißig Jahre nach Gründung der G D N A eröffnete sich die Chance, das nationale Bewußtsein deutscher Naturwissenschaftler in einem veränderten politischen Kontext erneut der Öffentlichkeit zu präsentieren. Zwischen 1859 und 1863 förderten die Humboldtianer den nationalen Gedanken mit eben jenen Mitteln, die das deutsche Bürgertum seit den Befreiungskriegen entwickelt hatte, um sich selbst und den Gedanken der Nation in Szene zu setzen: mit der Konstituierung von Öffentlichkeit über Vereine, Feste und Publizistik - und mit dem Zugriff auf eine herausragende historische Persönlichkeit, die die politischen Hoffnungen zu bündeln versprach. Trotz seiner Nähe zum königlichen Hof und den ständigen Kontakten mit Friedrich Wilhem IV. galt Humboldt als Liberaler, wenn nicht sogar als Demokrat, entsprechende Äußerungen wurden gerne kolportiert. Demokratische und liberale Gruppen zögerten nicht, den kosmopolitischen Universalgelehrten jetzt auch für die Idee der Nation in Anspruch zu nehmen. Erstmals wurde damit ein Naturwissenschaftler als nationale Integrationsfigur herausgestellt. Roßmäßler selbst hat diesen Prozeß der liberalen Aneignung und nationalen Fortschreibung Humboldts nachdrücklich gefördert. Der Leipziger Naturforscher trug bereits die Schillerbegeisterung des Jahres 1859 mit,100 er unterstützte die Uhlandfeier im April 1862101 und die Zentenarfeier für Jean Paul im März 1863 in Leipzig, bei denen die literarische Verehrung in
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Vgl. Karl Vogt an Karl Mayer 23.10.1862 (Frankfurt/M., Bundesarchiv - Außenstelle, FSg. 1/233, Mappe 2). Roßmäßler: Mein Leben (1874), S. 365,356f., 410f. A d H l (1859), Sp.707t, 717-720. Roßmäßler an Carl Mayer d.Ä. 9.4.1862, 21.4.1862, 23.4.1862 und - nach Uhlands Tod - 17.11.1862 (DLA Marbach, A: Carl Mayer). Vgl. Hermann Bausinger (Hg.): Ludwig Uhland. Dichter - Politiker - Gelehrter. Tübingen 1988.
164
III. Vereine, Vorträge und Feste
das Bekenntnis zu Einheit und Konstitutionalismus überging. In den Mittelpunkt rückte für ihn freilich Humboldt. Der geniale Naturforscher, sein monumentales Opus und seine breite Ausstrahlung waren es, auf die sich Roßmäßler bezog, um das Ideal freiheitlicher Nationalgesinnung zu demonstrieren. Die Strategien des öffentlichen Erinnerns und der kollektiven Identitätsbildung lassen sich durchaus in Parallele zur Schillerverehrung setzen. Roßmäßler und seine naturwissenschaftlichen Gesinnungsfreunde Otto Ule und Karl Müller hatten schon die Feiern zu Schillers 100. Geburtstag im November 1859 dazu genutzt, den schwäbischen Literaten aus dem scheinbaren Gegensatz zum objektiven, der Naturforschung aufgeschlossenen Goethe zu lösen, sein Werk als vorbildliche Verbindung von Idealismus und Realismus zu preisen und und damit den nationalen Gedanken auch in der Verknüpfung von Naturverständnis und Kunst zu betonen. 102 Leben und Werk Humboldts boten für sie eine noch größere Chance zur Projektion liberal-nationaler Vorstellungen. Roßmäßler propagierte die Idee der Humboldt-Vereine als „Nationalehrensache" 103 und betonte das ,,nationale[..] Eigenthumsrecht" 104 an Humboldt. Zwar stand das nationale Denken in der Humboldtbewegung nicht im Vordergrund, aber aus ihm bezog man ein Stück Legitimität, zumal nach der Konstituierung des Deutschen Humboldt-Vereins 1861. Humboldts Geburtstag sollte nunmehr neben den Schillertag treten. Die Humboldtianer sahen sich im „Einheitszug des Deutschen" 105 Seite an Seite mit Sängern, Turnern und Schützen. Sie sahen ihre Humboldtfeier in einer Reihe mit deren deutschen Festen. 106 Aus der Heimath stellte Turnen und Volksbewaffnung als integrale Bestandteile der „Naturgeschichte des Menschen" 107 vor. Die leibliche Erziehung der Jugend sollte im Nachklang der nationalen Turnerbewegung zur selbstverständlichen Aufgabe der Humboldt-Vereine werden. Es war nur konsequent, daß die Humboldtianer auch die nationale Symbolsprache übernahmen und sich an der bürgerlich-nationalen Festkultur 102 103 104 105 106
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[E. A. Roßmäßler:] Der 10. November 1859, in: AdH 1 (1859), Sp. 703-708; O. Ule: Schiller (1859), K. Müller: Der Deutsche (1861), S. 142-144. Roßmäßler an N.N. 31.7.1859 (SB Berlin, Haus 2, Sammlung Darmstaedter 2k 1850/2, Bl. 14v). AdH 1 (1859), Sp. 449. Vgl. auch zum „Denkmal eines Deutschen" AdH 2 (1860), Sp. 516. AdH 3 (1861), Sp. 539; vgl. ebenda, Sp. 577. Vgl. Roßmäßler an Rudolf Virchow 6.9.1861 (AkW Berlin, Nachlaß Virchow, Nr. 1820) mit der Bitte um Virchows Erscheinen beim dritten Humboldt-Fest und der Vermutung, die Idee könne in Berlin vom Nachhall des Turnfestes profitieren. Zur Parallelisierung von Schiller- und Humboldtverehrung siehe auch Redaktion der Gartenlaube: Ein Humboldtfest (1869). AdH 5 (1863), Sp.481 als Teil des „Festgruß zum dritten deutschen Turnfest", vgl. schon AdH 1 (1859), Sp. 337-340 und AdH 2 (1869), Sp. 155-160.
3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste
165
orientierten. Am deutlichsten markierten die Humboldt-Feste in Löbau 1861 und Reichenbach 1863 diesen Prozeß. In das „Gewebe der allgemeinen Fest-Einigkeit" 108 wurden unverkennbare nationale Fäden eingeflochten: Arndts Was ist des Deutschen Vaterland neben selbstgedichteter Humboldt-Lyrik in deutsch-nationaler Intonation, die schwarz-rot-goldenen Farben als Abzeichen und Banner über der Stadt 1863, Verbrüderungsrhetorik, Bundesgruß und Trinksprüche auf die staatliche Einheit. 1861 waren die schwarz-rot-goldenen Farben als Abzeichen der Teilnehmer noch bei örtlichen Honoratioren auf Widerstand gestoßen, obwohl Roßmäßler zu Recht auf Präzedenzfälle bei den Burschenschaftlern verwies.109 Dafür konnte sogar die Turnerjugend vor dem Festsaal aufmarschieren, den „tafelnden Humboldtianern" ein Ständchen singen und ihnen ein „lautes Hoch" widmen. 110 Mochte die bescheidene Größe und das lokale Kolorit den Anspruch auch verwegen erscheinen lassen - die Humboldt-Feste reihten sich ihrem Selbstverständnis nach in den Kreis der „deutschen Nationalfeste" 111 ein. Sie unterstrichen, daß der nationale Gedanke bis in die volkstümliche Naturkunde vorgedrungen war und selbst über das naturkundliche Vereinswesen bis in lokale Kontexte transportiert werden konnte. In der Realität erwies sich einmal mehr die Hoffnung der Humboldt-Vereine, selbst zum gewichtigen Teil der nationalen Bewegung zu werden, als weit überzogen. Allein die quantitativen Unterschiede zwischen den Humboldttreffen und den nationalen Festen der Schützen, Turner und Sänger waren gewaltig. Am Frankfurter Schützenfest 1862 nahmen 8000 Schützen, am Turnerfest 1863 in Leipzig 20000 Turner und beim Dresdener Sängerfest 1865 16000 Sänger teil, wobei die Gesamtzahl der Festteilnehmer noch weit höher lag.112 Dagegen beteiligten sich am 5. Humboldt-Fest in Reichenbach, dem größten überhaupt, offiziell 248 Mitglieder. Diese Diskrepanz war auch darin begründet, daß die nationale Paßfähigkeit Humboldts begrenzt blieb. Als massenwirksamer Nationalheld und als Zentrum eines Personenkultes taugte der Naturforscher schlecht. Persönlichkeit und Werk Alexanders von Humboldt sperrten sich gegen eine enge nationale oder gar nationalistische Vereinnahmung. Sie fanden bezeichnenderweise in einer eigentümlichen Mischung linksnationaler Bestrebungen deutscher Emigranten, internationalistischer und amerikanisch-patriotischer Elemente in den USA die größte Verehrung. Die USA erlebten in der zweiten Jahrhunderthälfte verschiedene Schübe der Humboldt-Verehrung, wobei die Ehrungen zu Humboldts 90. Geburtstag, 108 109 110 111 112
AdH 3 (1861), Sp. 627. Popig: Zur Geschichte (1915), S.75. AdH 3 (1861), Sp. 644. AdH 5 (1863), Sp. 577. Düding: Die deutsche Nationalbewegung (1991), S. 622.
166
III. Vereine, Vorträge und Feste
wenige Jahre vor dem Bürgerkrieg, noch von den Zentenarfeiern 1869 übertroffen wurden. Sie waren über fast alle Bundesstaaten gestreut und trotz des dominierenden Anteils der deutschstämmigen Bevölkerung ein amerikanisches Ereignis, nicht allein ein Produkt der Emigrantenkultur. 113 Auch in Deutschland erreichte die nationale Inanspruchnahme Humboldts 1869, anläßlich des 100. Geburtstages, einen letzten Gipfel mit diversen Festansprachen 114 und einem nochmals in demokratischem Geiste verfaßten Aufruf der Gartenlaube „Ein Humboldtfest für alle Deutschen". Unter ausdrücklichem Bezug auf die nationale Ehrung Schillers regte das Familienblatt dazu an, Humboldt „mit allem Stolz einer nationalen Ehre" 115 zu feiern. Die Forderungen, naturwissenschaftlichen Volksunterricht bis in die Dorfschulen zu erteilen, Volksschul- und Humboldt-Vereine zu gründen, 116 die freisinnige Schulpresse zu unterstützen und die Naturwissenschaften als „stärksten Hebel geistiger Befreiung des Volks" zu nutzen, knüpften sachlich und begrifflich unmittelbar an die Humboldtbewegung Roßmäßlers an. Die politischen Akzente - gegen die Leute der „Regulative und Encykliken" 117 gerichtet - wurden mit kräftigen Strichen gesetzt. Humboldts Name wurde während des Kaiserreichs vor allem als Emblem universaler Gelehrsamkeit im Bildungsbereich tradiert. Nachdem bereits 1859 führende Berliner Wissenschaftler die Humboldt-Stiftung gegründet hatten, um naturwissenschaftliche Arbeiten und Reisen zu fördern,118 entstand 1878 in Berlin die Humboldt-Akademie, die im folgenden Kapitel vorgestellt wird. 1869 faßten Persönlichkeiten aus führenden Kreisen Berlins und seiner Universität sogar den Plan, ein Nationaldenkmal für Humboldt zu errichten. Eine Parlamentariergruppe mit Rudolf Virchow an der Spitze versuchte, das Zollparlament zur Finanzierung her-
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Am Beispiel St. Louis hierzu Daum: Celebrating Humanism (1994) mit weiterführenden Literaturangaben. Die Geschichte der amerikanischen Humboldtverehrung soll an anderer Stelle breiter ausgeführt werden. Bastian: Alexander von Humboldt (1869), Bernstein: Alexander von Humboldt (1869), Gerland: Rede (1869). Auch der Astronom Wilhelm Foerster sprach 1869 zur Feier des 100. Geburtstages Humboldts vor einer Berliner Lehrerversammlung, siehe Foerster: Lebenserinnerungen (1911), S. 145. Redaktion der Gartenlaube: Ein Humboldtfest (1869). Unklar ist, ob die Gartenlaube, was die Diktion nicht nahe legt, an eine Anknüpfung an die Humboldtvereine dachte oder diesen Vorschlag eher als neue Initiative verstand. Alle Zitate in: Redaktion der Gartenlaube: Ein Humboldtfest (1869). Statut der Humboldt-Stiftung für Naturforschung und Reisen [Februar 1861], Roßmäßler war stolz darauf, daß seine Humboldtidee noch vor der Initiative zur Humboldt-Stiftung entstand, so das Schreiben Roßmäßlers vom 31.7.1859 (SB Berlin, Haus 2, Sammlung Darmstaedter 2k 1850/2, B1.14) und AdH 1 (1859), Sp. 451,463f.
3. Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste
167
anzuziehen. 119 Das Vorhaben mündete nach diversen Modifikationen 1883 in der Aufstellung von zwei Denkmälern für beide Humboldtbrüder vor der Berliner Universität. 120
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SB Berlin, Haus 2, Nachlaß Emil Du Bois-Reymond, Kasten 3, Mappe 1; Stenographische Berichte (1869), 11. Sitzung v. 21.6.1869, S. 213,245f. Vgl. Die Natur 25 (1876), S. 539; Hermann Grimm: Die Standbilder Alexanders und Wilhelms von Humboldt vor der K. Universität zu Berlin, in: Preußische Jahrbücher 51 (1883), S. 641-650; Du Bois-Reymond: Die Humboldt-Denkmäler (1883/1912); Klaus-Dietrich Gandert: Vom Prinzenpalais zur Humboldt-Universität. 2. Aufl., Berlin 1986, S. 165-168 (mit Ungenauigkeiten).
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III. Vereine, Vorträge und Feste
4. Institutionalisierung und Kommerzialisierung der bürgerlichen Naturkunde Die Humboldt-Vereine stellten in Deutschland den ersten Versuch dar, die volkstümliche Naturkunde in eigenen Vereinen zu organisieren. Die nachfolgenden Bemühungen übernahmen manche Elemente der Humboldtbewegung und standen wie diese zunächst im Zeichen einer politischen Bildungskonzeption zwischen liberaler und sozialdemokratischer Provenienz. Die naturkundlichen Bildungsinstitutionen verselbständigten sich dann im Rahmen der sogenannten Volksbildungsbestrebungen, die man heute eher als Erwachsenenbildung bezeichnet, 1 und sie trugen in Etappen dazu bei, naturwissenschaftliche Bildung fest im kulturellen Leben Deutschlands zu verankern. Tabelle 5 nennt die wichtigsten Volksbildungseinrichtungen mit ihren Gründungsdaten.
a) Auf d e m Weg zur Urania 1859-1888 Das Freie Deutsche Hochstift, die Gesellschaft far Verbreitung von Volkbildung und die Berliner Humboldt-Akademie Die innergesellschaftliche Mobilisierung des Jahres 1859 rief neben Roßmäßler einen weiteren Naturwissenschaftler auf den Plan, Otto Volger. Volger war im Vormärz in Göttingen promoviert und für Geologie habilitiert worden und hatte 1848 als Vorsitzender des Demokratischen Klubs regen Anteil an den politischen Aktivitäten seiner Universitätsstadt genommen. Im Mai 1849 entging Volger der politischen Reaktion durch die Übersiedlung in die Schweiz, wo er verschiedene Lehraufträge wahrnahm. 1856 kehrte der Geologe nach Deutschland zurück, wurde in Frankfurt am Main seßhaft und wirkte neun Semester lang als Dozent an der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft. 2 1
2
Die Begriffe sind nicht synonym, obwohl sie oft so gebraucht werden. Schon Picht: Das Schicksal (1936), S. 29 hat darauf hingewiesen, daß der Terminus Erwachsenenbildung enger gefaßt ist und stärker auf pädagogische Maßnahmen zielt, vgl. auch Röhrig: Erwachsenenbildung (1987), S. 339. Zur theoretischen und terminologischen Reflexion der Begriffe Volksbildung und Popularisierung siehe Ruprecht/Sitzman (Hg.): Das Prinzip (1986), S.lOf., 23ff. Zur Geschichte der Volksbildung im 19. Jahrhundert vgl. Baiser: Die Anfänge (1959), Vogel: Volksbildung (1959), Steindorf: Von den Anfängen (1968), Dräger: Volksbildung, I—II (1979-1984) sowie die knappen Überblicke von Paul Röhrig im Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Es gibt, wie Röhrig zuletzt festgehalten hat, bis heute keine zusammenfassende Darstellung zur Geschichte der deutschen Erwachsenenbildung. Vgl. Adler: Freies Deutsches Hochstift (1959), hier S. 26-31 auch zur Biographie Volgers.
4. Institutionalisierung der bürgerlichen Naturkunde
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Tabelle 5: Institutionen der Volksbildung und Erwachsenenbildung seit 1859 (unter besonderer Berücksichtigung naturkundlicher Bildungseinrichtungen) 1859 1859 1871 1878 1888 1890 1890 1890 1891 1891 1893 1894 1897 1898 1899 1899 1899 1903 1905 1906 1907 1908 1909 1909 1914
Humboldt-Vereine Freies Deutsches Hochstift, Frankfurt am Main Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung Wissenschaftlicher Centraiverein - Humboldt-Akademie, Berlin Urania, Berlin Volksverein für das katholische Deutschland Comenius-Gesellschaft Comite zur Veranstaltung unentgeltlicher volkstümlicher Vorträge, nach 1891: Ausschuß für Volksvorlesungen, Frankfurt am Main Freie Volksbühne, Berlin Verein für Volksunterhaltungen, Berlin Ausschuß für volkstümliche Universitätsvorträge an der Universität Wien Deutsche Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde, Berlin volkstümliche Hochschulkurse in München, Jena, Leipzig Verein für volkstümliche Kurse von Berliner Hochschullehrern Verband für volkstümliche Kurse von Hochschullehrern des Deutschen Reiches volkstümliche Hochschulkurse in Breslau Rhein-Mainischer Verband für Volksbildung Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde, Franckh'sche Verlagshandlung, Stuttgart Rhein-Mainische Volksakademie Reichsausschuß für sozialistische Bildungsarbeit, Berlin Deutsche Mikrologische Gesellschaft Biologisches Institut, München Bund deutscher Forscher Deutsche Naturwissenschaftliche Gesellschaft Deutsche Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen, Leipzig
Quellen: Reyer: Handbuch (1896), Picht: Das Schicksal (1936), Vogel: Volksbildung (1959), Steindorf: Von den Anfängen (1968), Röhrig: Erwachsenenbildung (1987), ders.: Erwachsenenbildung (1991), Seitter: Volksbildung (1993)
I m H e r b s t 1859 rief Volger in F r a n k f u r t das Freie D e u t s c h e Hochstift ( F D H ) ins L e b e n . D a s F D H sollte „ein von allen staatlichen Sonderbezieh u n g e n unabhängiger D e u t s c h e r G e l e h r t e n h o f " sein u n d als freie deutsche Hochschule versuchen, „die D e u t s c h e Wissenschaft in ihrer G e sammtheit nach A u ß e n zur G e l t u n g zu bringen." In großdeutscher E m p h a se w a r b Volger dafür, durch das F D H die „einheitliche D e u t s c h e Geistesm a c h t " zur G e l t u n g zu bringen. Mit Ausfällen gegen die „Geldbeuteltheilnamslosigkeit", die England im österreichisch-italienische Krieg gezeigt habe, sparte Volger ebensowenig wie mit positiven A p p e l l e n an das natio-
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III. Vereine, Vorträge und Feste
nale Bewußtsein. 3 Die Eröffnung des FDH wurde bewußt auf das Datum der Schillerfeiem gelegt.4 Weitgesteckt war schon die Zielsetzung der Humboldt-Vereine bei Roßmäßler, der die Gründung des FDH ausdrücklich begrüßte. 5 Volgers Vision für das Hochstift übertraf aber alle bisherigen Vorstellungen nationaler Bildungsorganisation. Aus dem FDH sollten eigene Deutschvereine hervorgehen und das Fächerspektrum der bisherigen Universitätsfakultäten abdecken. Außerdem verstand Volger das FDH als eine Art Dachorganisation für die in Frankfurt bereits bestehenden Vereine und Stiftungen aller Art von den Künsten bis zur Naturwissenschaft. Am gedanklichen Horizont des Gründers zeichnete sich ab, das FDH überhaupt zum Sammelpunkt des geistigen Lebens in Deutschland zu machen und die bestehenden nationalen Wanderversammlungen wie die GDNA, ja selbst die leopoldinische Naturforscherakademie daran zu koppeln: „Der Stiftsort des freien Deutschen Hochstifts sei gleichsam der Bienenkorb, in welchem alle Mitarbeiter an dem wissenschaftlichen, künstlerischen, überhaupt höheren geistigen Schaffen des Deutschen Gesammtvolkes in freier, aber einem gemeinsamen Zwecke dienender Thätigkeit aus- und einfliegen. Hochschullehrer, freie Bekenner und Mehrer der Wissenschaft, Künstler aller Gattungen und aller Schulen mögen hier zeitweilig ihre Leistungen vortragen, zur Schau stellen und vertreten." 6 Volgers Bemühen, die existierenden Bildungsinstitutionen zu vernetzen, war von einem demokratischen Impuls getragen. Über das FDH versprach sich der Frankfurter Dozent nicht nur einen verbesserten Informationsaustausch, sondern auch die Öffnung der Forschungs- und Lehranstalten für das Publikum. Freie Unterrichtskurse, öffentliche Aufführungen, Schauspiele und die Förderung von Sammlungen, Büchereien etc. waren als Mittel allgemeiner Bildung fest vorgesehen.7 Es ging um die Schaffung einer „wissenschaftlichen volkstümlichen Zentral-Anstalt für Deutschland" 8 . Angesichts der ungesicherten persönlichen Existenz Volgers und seines Mangels an ökonomischen Ressourcen mußte das Vorhaben vermessen, wenn nicht hybrid erscheinen. Sein Gegenhalt in der Biographie des Gründers erschließt sich erst aus den privaten Korrespondenzen. Volger war, wie er seinen Freunden mitteilte, tief enttäuscht über die Geringschätzung, die seine eigenen naturwissenschaftlichen Arbeiten in der Fachzunft erfuhren. Im Plan für das FDH kehrte Volger diese Rückschläge mit einer um so 3 4 5 6 7 8
Zitate aus der Programmschrift Volgers: Das Freie Deutsche Hochstift (1859), S.2,23,17. Volger an K. Friedrich Mohr, 17.10.1859 (UB Bonn, S. 1413). Roßmäßler: Das freie deutsche Hochstift [...], in: AdH 1 (1859), Sp. 817-822. Volger: Das Freie Deutsche Hochstift (1859), S. 32. Ebenda, S. 31. So die Formulierung von M. A. F. Prestel an Volger, 8.4.1860 (FDH Frankfurt/M., Nachlaß Otto Volger).
4. Institutionalisierung der bürgerlichen Naturkunde
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weniger von akademischer Disziplin gezügelten Leidenschaft nach außen. Der Entwurf einer geradezu universalen Bildungsorganisation sollte alle vorhandenen Einrichtungen übertrumpfen. Es ging darum, durch das FDH einen Wirkungskreis zu schaffen, „welchen der Einfluß der Zopfprofessoren nicht stören kann." 9 Aus dem „ganzen Sumpf von Gelehrten und Kleinigkeitskrämerei" 10 herauszukommen, war Volgers persönliches Ziel. Auch dafür beschwor er die Notwendigkeit des nationalen Bildungsfortschritts. Das FDH nahm zwar seine Arbeit auf, unter anderem mit Ludwig Büchner und dem Hanauer Fabrikanten Carl Rößler als Gründungsmitgliedern, Volger entledigte sich der Verpflichtungen an der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft und konzentrierte sich auf die Lehrtätigkeit am FDH. Die Hoffnungen erfüllten sich jedoch in keiner Weise. Der Geologe mußte nach einigen Jahren die meisten Vorträge selbst bestreiten. Mit dem Erwerb des Goethehauses in Frankfurt 1863 verlagerte sich dann der Schwerpunkt auf den literarischen Bereich. Volgers Engagement für das FDH fand 1881/2 nach internen Querelen mit seinem offiziellen Ausschluß ein bitteres Ende. 11 Ein gänzlich anderes Format als das FDH besaß die Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung ( G W ) . Sie wurde im Juni 1871 von arrivierten Vertretern des liberalen Bürgertums, darunter Werner Siemens und Rudolf Virchow, und von bewährten naturkundlichen Vermittlern wie Alfred Brehm und Otto Ule ins Leben gerufen. 12 Als erster Vorsitzender amtierte der Genossenschaftsverfechter Hermann Schulze-Delitzsch, ihm stand als Schatzmeister Franz Duncker zur Seite. Die G W verstand sich als Dachverband für die bestehenden Bildungsvereine, ließ aber auch Unterverbände und persönliche Mitgliedschaften zu. 1872 wies die G W bereits 158 körperschaftliche und 1299 persönliche Mitglieder auf, 1913 waren 8408 Vereine angeschlossen; dazu gehörten 260 Arbeitervereine, 166 Genossenschaften und 85 Gewerkvereine. Die Zahl der persönlichen Mitglieder stieg bis 1913 auf 6048.13 Die Gesellschaft wurde an einem Scheideweg in der Entwicklung der deutschen Bildungsvereine gegründet. Nachdem der VDAV 1868 unter dem Einfluß Bebels das marxistische Programm der Internationalen Ar9 10
11 12
13
Volger an K. Friedrich Mohr, 19. Herbstmond 1859 (UB Bonn, S. 1413). Volger an K. Friedrich Mohr, 11.7.1864 (UB Bonn, S. 1413). Diese Innenseite des Bildungsstrebens findet in der offiziösen Darstellung von Adler: Freies Deutsches Hochstift (1959) keine Beachtung. Seitter: Volksbildung (1993), S. 192-195. Vgl. Themann: Das Vortragswesen (1921), Dräger: Die Gesellschaft (1975) und Viktor Böhmert: Die Entstehung der Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung, in: Volksbildung 37 (1907), Nr. 1 v. 1.1.1907, S. 1-7. Themann: Das Vortragswesen (1921), S. 13; Röhrig: Erwachsenenbildung (1991), S. 450.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
beiterassoziation übernommen hatte, spalteten sich die liberalen Vereine ab und gründeten zunächst den Deutschen Arbeiterbund. Mit der G W wurde ihnen nun ein neues Auffangbecken geschaffen und zugleich die Bildungsarbeit koordiniert und professionalisiert. Die G W absorbierte die Arbeiter- und Bildungsvereine, welche die Radikalisierung des VDAV ablehnten und sich einer parteipolitischen Tendenz entziehen wollten. Sie bemühte sich in der Tradition liberaler Bildungspolitik um das gesamte nichtsozialistische und nichtkonfessionelle Vereinswesen von Gewerbebis zu Lesevereinen. Auch die überlebenden lokalen Humboldt-Vereine schlössen sich zumeist der G W an, soweit sie nicht von regionalen Verbandsbildungen aufgefangen wurden.14 Allein der Breslauer Humboldt-Verein ragte hervor. Er wies 1904 ca. 3 500 Mitglieder auf und zielte besonders auf junge Handwerker.15 Die Humboldt-Vereine im lausitzischen Bereich kooperierten mit verwandten Vereinen in Regionalzusammenschlüssen, seit 1880 im Verband Lusatia, nach 1884 auch im Verband der Humboldt- und Fortbildungs-Vereine Nordböhmens und des angrenzenden Sachsens. Bereits 1865 waren Wanderversammlungen der Humboldt- und Fortbildungsvereine der südlichen Lausitz und Nord-Böhmens angeregt worden, seit 1874 fanden solche Treffen jährlich statt.16 Der Deutsche Humboldt-Verein existierte dagegen nur auf dem Papier fort, die Zeitschrift Die Natur trat nach Roßmäßlers Tod 1867 offiziell als sein Publikationsorgan auf.17 Die G W versuchte, einige von Roßmäßlers Ideen in großem Maßstab umzusetzen: den systematischen Einsatz von Wanderrednern, die Rekrutierung von Dozenten aus der Volksschullehrerschaft und die Bereitstellung visueller Vortragshilfen, die um moderne Techniken wie Lichtbilder ergänzt wurden. Beispiele aus dem naturkundlichen Vortragsangebot gibt Tabelle 6.18 Nur wenige eigene Ideen kamen hinzu, z.B. die Organisation 14
15
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Von der G W wurden nach 1871 namentlich die Humboldt-Vereine in Berlin, Breslau, Heilsberg, Herwigsdorf, Löbau, Ober-Oderwitz und Seifhennersdorf als Mitglieder geführt. Programm zur Volksakademie des Humboldt-Vereins in Breslau. Breslau o. J. [ca. 1869] (SB Berlin, Haus 2, Nachlaß Emil Du Bois-Reymond, Kasten 3, Mappe 1, Nr. 163); Festschrift [...] des Humboldtvereins für Volksbildung zu Breslau (1894), S. 3-34; Schoßig: Die Akademischen Arbeiter-Unterrichtskurse (1985), S. 50,78. Stadtarchiv Löbau, Rep. 17, Nr. 231-241, Acten des Humboldtvereins zu Löbau; Wander-Versammlung der Humboldt- und Fortbildungsvereine (ebenda); Humboldtverein Löbau (1915); Festschrift des Humboldt-Vereins in Ebersbach (1886), S.VI, Xllf., XVI; Festschrift des Humboldt-Vereins zu Ebersbach (1911); Festsschrift zur 25jähr. Gründungs-Feier des Humboldt-Vereines zu Rumburg (1890), S. 10f., 14f. In den Bänden von Die Natur aus diesen Jahren fehlen Hinweise auf das Fortleben des Deutschen Humboldtvereins. Zur Behandlung der Naturwissenschaften im Rahmen der G W vgl. Themann: Das Vortragswesen (1921), S. 69f.
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von Volksunterhaltungsabenden. Eine solche Abendunterhaltung der G W bestand z.B. in Göttingen aus 1. Chorgesang (Mitglieder des Arbeitervereins), 2. Vortrag mit Bildern und Experimenten über die Luftschiffahrt, 3. einem Doppelquartett (aus dem Arbeiterverein), 4. Beantwortung von Fragen aus dem Fragekasten, 5. dem astronomischen Vortrag ,Sonne, Mond und Erde', 6. Gesang und 7.,Nebelbildern' (Landschaften und Farbspiele).19 Solche Angebote, seit 1906 auch sogenannte Populärwissenschaftliche Wanderbibliotheken, 20 wurden den angeschlossenen Vereinen vermittelt. Die G W verband die Mitglieder mit organisatorischen Absprachen und Vortragstransfers und knüpfte auf diese Weise ein nationales Volksbildungsnetz. Daß die Gesellschaft sich dennoch kaum als „dauernde Kulturanstalt der deutschen Nation" 21 profilieren konnte, lag wesentlich an der mangelnden Innovationsfähigkeit und dem für die öffentliche Tätigkeit unzureichend qualifizierten, oft kritisierten Vortragspersonal. Der G W kommt trotzdem das Verdienst zu, daß sie viele der prominenten naturkundlichen Popularisierer von Alfred Brehm bis Otto Zacharias in die Volksbildungsarbeit einbezog22 und anders als die Humboldt-Vereine nicht nur auf wenige Regionen konzentriert blieb, sondern nationsweit bis in ländliche Regionen vordringen konnte.
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Dräger: Die Gesellschaft (1975), S. 199. Vgl. Volksbildung 36 (1906), S. 376-378; Dräger: Die Gesellschaft (1975), S. 185f. Zitat des Initiators der G W Franz Leibing nach Dräger: Die Gesellschaft (1975), S. 82. Vgl. Adreßbuch der deutschen Rednerschaft (1886-1895). Als Redner der G W traten neben den Genannten unter anderem Friedrich Archenhold, Ludwig Büchner, Rudolf Falb, Karl Ruß, William Marshall und Otto Ule auf.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
Tabelle 6: Naturwissenschaftliche Vortragsangebote der Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung - Beispiele 1886-1895 1886, Erstes Halbjahr Ludwig Büchner: 1. Ueber Essen und Trinken 2. Ueber Lebensdauer und Lebenserhaltung 3. Ueber Luft und Atmen 4. Ueber Erkältung und Erhitzung 5. Ueber Husten und Hustenkrankheiten 6. Ueber ansteckende Krankheiten 7. Ueber den vorgeschichtlichen Menschen 8. Ueber tierischen Magnetismus, Somnambulismus, Hypnotismus und verwandte Erscheinungen 9. Ueber religiöse und wissenschaftliche Weltanschauung 10. Amerikanische Eindrücke 11. Die Sonne und ihr Einfluß auf das Leben Winterhalbjahr 1886/87 William Marshall: 1. Ein Stündchen auf dem Boden des Meeres 2. Leben und Weben in einer Wasserpfütze 3. Deutschlands Tierwelt im Wechsel der Zeiten 4. Elternfreuden und Elternsorgen im Tierreich 5. Die Tiere als Reisende und Wanderer 6. Die Tiere in ihren Beziehungen zu Klima, Jahres- und Tageszeit Winterhalbjahr 1887/88 Karl Ruß: 1. Vogelschutz in der Heimat und auf der ganzen Erde 2. Die Liebhaberei für die Stubenvögel in ihrer Bedeutung für das Familien- und Volksleben 3. Stubenvogelzüchtung zum Vergnügen, für wissenschaftliche Zwecke und zum Erwerb 4. Der Kanarienvogel in seiner Entwicklung seit 300 Jahren 5. Die sprechenden Vögel 6. Schilderungen aus dem Leben einheimischer Vögel 7. Schilderungen aus dem Leben fremdländischer Vögel in der Gefangenschaft 8. Der gegenwärtige Stand in der Geflügelzucht in Deutschland 9. Allerlei Liebhabereitiere in der Häuslichkeit 10. Naturanstalten in der Häuslichkeit Winterhalbjahr 1888/89 Rudolf Falb: 1. Ueber Erdbeben 2. Ueber den Einfluß des Mondes auf das Wetter Winterhalbjahr 1889/90 Otto Zacharias: 1. Das Hühnchen im Ei, oder wie sich der Tierkörper entwicklungsgeschichtlich aufbaut 2. Ueber Seerosen und Korallen 3. Die Hauptvertreter unserer Süßwasserfauna und deren Lebensverhältnisse 4. Der Naturforscher am Mikroskop
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5. Welchen Standpunkt hat der gebildete Laie dem Darwinismus gegenüber einzunehmen? (Zusatz: „Die betreffenden Vorträge sind populär gehalten und werden durch treffliche Photogramme illustrirt, die mittels des Skioptikons zur Projektion gelangen.") Winterhalbjahr 1892/93 F. S. Archenhold: 1. Einführung in die Astronomie 2. Die Erde als Planet 3. Der neueste Stand der Mondforschung 4. Das Planetensystem 5. Merkur, Venus, Mars Ludwig Büchner: 1. Über Fortschritte und Bedeutung der Naturwissenschaft im gegenwärtigen Jahrhundert 2. Über wahre und falsche Wunder 3. Über den vorgeschichtlichen Menschen 4. Über religiöse und wissenschaftliche Weltanschauung 5. Die Religion des Freidenkers 6. Freidenkertum und soziale Fragen 7. Über Lebensdauer und Lebenserhaltung Winterhalbjahr 1894/95 E. Schaarfschmidt: Wie wird Schöpfungsgeschichte recht gelehrt? Cyklus von 5 Vorträgen: 1. Der Sternhimmel (Kant-Laplace'sche Theorie) 2. Der Erdball (Lyell's Kontinuitätslehre) 3. Darwin's Entwickelungslehre, eine Offenbarung Gottes 4. Die Entstehung aus der Urzelle 5. Urgeschichte des Menschen 6. Was ist Geist und Seele? 7. Was wissen wir vom Jenseits auf Grund nervenphysikalischer Thatsachen und des Kopernikan. Weltsystems? Quelle: Adreßbuch der Deutschen Rednerschaft. Hg. v. der Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung. Bd. I-VII, Berlin 1886-1894.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
Abbildung 4: „Vergrößerung einer Fliege mittels des Hydrooxygengas-Mikroskopes" - die Tierwelt wird der bürgerlichen Gesellschaft präsentiert.
4. Institutionalisierung der bürgerlichen Naturkunde
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In inhaltlicher und auch personeller Kontinuität zur G W entstand 1878 in Berlin der Wissenschaftliche Centraiverein. Die Initiative ging zurück auf den liberalen Reichstagsabgeordneten und Anwalt der Hirsch-Dunckerschen-Gewerkvereine, Max Hirsch.23 Hauptzweck des neuen Vereins sollte die „Ausbreitung der Wissenschaft, insbesondere durch Errichtung und Leitung einer Anstalt für populär-wissenschaftliche Vortragscyklen"24 sein. Auf der konstituierenden Sitzung am 30. November 1878 erhielt die Lehranstalt zu Ehren der Brüder Humboldt den Namen Humboldt-Akademie. Sowohl persönliche Mitgliedschaften als auch der korporative Beitritt von Vereinen wurden zugelassen.25 Die Humboldt-Akademie etablierte sich mit festem Sitz in Berlin und entfaltete hier ein breit gefächertes Vortragsangebot, das alle Wissensbereiche abdeckte. Zu leitenden Grundsätzen der Humboldt-Akademie wurden die völlige Lehr- und Lernfreiheit, die Zulassung beider Geschlechter, eine Gebührenerhebung für die Veranstaltungen mit diversen Sonderermäßigungen, die Anschaulichkeit der Darstellung und die „Anregung der Selbtsthätigkeit der Hörer" 26 erklärt. Das Publikum setzte sich im ersten Jahrzehnt vor allem aus Kaufleuten, Beamten, Lehrern, Rentnern und berufslosen Frauen zusammen. Bis zum Jahrhundertende nahm der Anteil der Beamten- und Lehrerschaft sowie der Frauen ohne Beruf nochmals deutlich zu; 1896 waren nahezu 60% der Hörerschaft weiblich.27 Daß die Idee der Humboldt-Akademie auf Widerstand stieß in den „Kreisen des exclusiven zünftigen Gelehrtenthums, welche eine Concurrenz gegen die Universität" fürchteten, wie die Gartenlaube 1882 zuspitzte,28 mußte auch Max Hirsch eingestehen. Die Mehrzahl der Professoren sei dem Vorhaben „kühl oder gar feindselig" gegenübergestanden; der „frei-bürgerliche Charakter" der Humboldt-Akademie habe aber jeder „zünftigen Abschliessung"29 widersprochen. Daher gewann man auch die Dozentenschaft weitgehend aus Kreisen außerhalb der Universität. Ein Überblick über die 156 Dozenten, die bis 1896 an der Humboldt-Akademie lehrten, zeigt nur einen Anteil von 9,6% Professoren an staatlichen Hochschulen, 14,1% Privatdozenten und Assistenten, dagegen 17,3% Leh-
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Die wichtigste und ausführlichste Darstellung bei Hirsch: Wissenschaftlicher Centraiverein (1896). Vgl. daneben Reyer: Handbuch (1896), S. 34-36; Steindorf: Von den Anfängen (1968), S. 19-26; Dräger: Die Gesellschaft (1975), S. 161. Nach Hirsch: Wissenschaftlicher Centraiverein (1896), S. 52, ebenso S. 6. Für das Jahr 1896 nennt Hirsch, ebenda S. 37,23 Vereine als Mitglieder, davon 8 kaufmännische und 8 politische Vereine (meist auf Berliner Bezirksebene), drei Beamten-, einen Offizier-, einen literarischen und zwei Stenographenvereine. Ebenda,S.U. Ebenda, S.33f. Die Humboldt-Akademie in Berlin, in: Die Gartenlaube 30 (1882), S. 239. Zitate bei Hirsch: Wissenschaftlicher Centraiverein (1896), S.27. Hier, S.271, auch ein Überblick über die Zusammensetzung der Dozenten.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
rer und Direktoren im höheren Schulwesen sowie 30,8% Privatgelehrte und Schriftsteller (plus andere). 30 Naturwissenschaftliche Inhalte waren im Vortragssprogramm der Humboldt-Akademie auf die beiden Fächergruppen Mathematik und anorganische Naturlehre (Physik, Chemie, Geologie etc.) und Organische Naturlehre (Botanik, Zoologie, Hygiene, Medizin etc.) verteilt. Schon seit dem zweiten Quartal 1879 wurden botanische, mikroskopische und chemische Übungen angeboten. Die Belegzahlen schwankten und zeigten zwischen 1882 und 1896 eine leicht sinkende Tendenz; bei der ersten Gruppe sank der Anteil an der Gesamthörerzahl von 15,8 auf 9,1%, bei der zweiten Gruppe hielt er sich bei ca. 7%. 31 In absoluten Zahlen nahm aber das naturwissenschaftliche Angebot zu. Es wurde schrittweise noch diversifiziert, was um so bemerkenswerter war, als die Humboldt-Akademie seit den ausgehenden 1880er Jahren Konkurrenz durch Bildungsinstitutionen erhielt, die ihren Schwerpunkt auf die naturkundliche Belehrung legten. Die Berliner
Urania
Ein Meilenstein in der Geschichte populärwissenschaftlicher Bildungsanstalten bedeutete 1888 die Gründung der Gesellschaft Urania. Die Pläne dazu fielen in die Gründungsphase der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (PTR), die nach langen Geburtswehen 1887 unter der Präsidentschaft des Physikers Hermann Helmholtz ihre Arbeit aufnahm. 32 Die funktionale Differenzierung hätte nicht deutlicher werden können. Auf der einen Seite wurde durch die PTR die naturwissenschaftliche Forschung außerhalb der Universitäten intensiviert, auf der anderen Seite in der Urania die Popularisierung der Naturwissenschaften auf eigene Füße gestellt. Diese parallele Entwicklung wurde zum Teil von denselben Personen unterstützt. Dazu gehörten der Astronom Wilhelm Foerster und Werner Siemens, der Begründer des gleichnamigen Telegraphenunternehmens und Pionier der Elektrifizierung in Deutschland. Beide erkannten, daß Popularisierung und wissenschaftliche Spezialisierung zwei im Wesen gegensätzliche, aber dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach gleichzeitige Prozesse waren, die in der modernen Bildungs- und Wissenschaftsgesellschaft jeweils eigene Ressourcen benötigten. 33 30
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Ermittelt nach den absoluten Zahlen ebenda, S. 28. Die Kategorie Privatgelehrte und Schriftsteller bleibt bei Hirsch in ihrer Zusammensetzung undeutlich; Hirsch konzidiert zudem, unter ihnen hätten einige während ihrer Dozentenzeit eine Professur oder ein Staatsamt erhalten. Hirsch: Wissenschaftlicher Centraiverein (1896), S. 23. Vgl. Ritter: Großforschung (1992), S. 16-23 sowie die ausführliche Darstellung bei Cahan: An Institute (1989), der aber Foersters Rolle nur am Rande behandelt und die zeitgleiche Etablierung der Urania nicht berücksichtigt. Vgl. Meyer: Wie ich der Urania-Meyer wurde (1908), S. 76ff.; Foerster: Lebenserinnerungen (1911), S. 191-201.
4. Institutionalisierung der bürgerlichen Naturkunde
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Foerster suchte schon seit längerem nach einer Lösung für die wachsende Belastung der Berliner Sternwarte, die durch die Verpflichtung zur monatlichen Publikumsöffnung und -betreuung entstand, wie sie bei der Gründung durch Alexander von Humboldt durchgesetzt worden war.34 Foersters Überzeugung, daß eine „besonders zum Zwecke der populären Darstellung geschaffene Einrichtung die völlig berechtigten Ansprüche des Publikums" 35 befriedigen müßte, wurde vom preußischen Kultusminister Goßler geteilt und entsprechende Baulichkeiten in Aussicht gestellt. Der Plan gewann Konturen, als mit Max Wilhelm Meyer ein Wissenschaftsjournalist Kontakt mit Foerster aufnahm. Meyer hatte bereits in den Vorjahren in Wien eine öffentliche astronomische Bildungsstätte als sogenanntes Wissenschaftliches Theater betrieben und war seit einiger Zeit für das Berliner Tageblatt tätig.36 Die Interessen der beiden trafen sich im Ziel, eine neue astronomische Bildungseinrichtung zu schaffen. Sie fanden finanziellen Rückhalt durch private Förderer, da sich die Staatsregierung trotz Wohlwollens von Seiten des Kultusministeriums einer finanziellen Beteiligung enthielt. Im März 1888 wurde offiziell die Urania als Aktiengesellschaft gegründet. Es war nicht das erste Mal, daß ein populärwissenschaftliches Projekt Vertreter des Bildungs- und Besitzsbürgertums als Sponsoren gewann und durch die Vergabe von Anteilscheinen zusammenführte. Die Zoologischen Gärten hatten dies bereits seit einer Generation praktiziert und damit einen festen Rückhalt im Stadtbürgertum gewonnen. Nachdem der neue Berliner Zoologische Garten 1844 dank der Finanzierung durch eine Aktiengesellschaft eröffnet werden konnte, wurden nach 1858 in rascher Folge weitere Gesellschaften zur Gründung und Unterstützung der Zoos gebildet.37 Die Prominenz der Urania ergab sich aber durch die herausgehobene Stellung in der Reichshauptstadt, die Nähe zur wissenschaftlichen Führungsschicht und die Zusammensetzung ihrer Initiatoren. Die Liste der Gründer und Aktienbesitzer las sich wie der Who is Who des Wirtschaftsbürgertums Berlins: Kaufleute überwogen, die Bankiers Wilhelm Abegg, Oskar Adler, Barthold Arons, Joseph Goldschmidt, R. RudloffGrübs, Julius Schiff, Wilhelm Schneider und Carl Schwartz nahmen teil; In-
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Zum folgenden vgl. Ueber die Entwickelung und die Ziele der Gesellschaft Urania (1888); Foerster: Lebenserinnerungen (1911), S. 191-201. Ueber die Entwickelung und die Ziele der Gesellschaft Urania (1888), S. 2. Vgl. Kapitel VII.2.b) und Meyer: Wie ich der Urania-Meyer wurde (1908), S. 79ff.; France: Dr. M. Wilhelm Meyer (1911). [Weinland:] Ueber den Ursprung (1862); Jahn: Zoologische Gärten (1992) und als beste Monographie, die auch die Organisationsform der Aktiengesellschaft würdigt, Scherpner: Von Bürgern für Bürger (1983) zum 1858 eröffneten Frankfurter Zoologischen Garten. Vgl. auch Sobania: Vereinsleben (1996), S. 172-174 und in internationaler Sicht Hoage/Deiss (Eds.): New Worlds (1996).
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III. Vereine, Vorträge und Feste
genieure, darunter Werner und Wilhelm Siemens, und Universitätsprofessoren wie August Wilhelm Hofmann und Carl Liebermann kamen hinzu.38 Statutengemäß war die Urania eine „der naturwissenschaftlichen Anschauung und Belehrung gewidmeten öffentliche[..] Schaustätte" zur „Verbreitung der Freude an der Naturerkenntniss" 39 . Den Kern bildete die neue Sternwarte, um die naturwissenschaftlich-technische Ausstellungen, bei denen das Publikum Experimente miterleben durfte, und das Wissenschaftliche Theater gruppiert wurden. Das Theater präsentierte naturwissenschaftliche und naturhistorische Themen in einem dreidimensionalen Bühnenraum: Sonnen- und Mondfinsternisse, Kometenbahnen, eine Amerikafahrt, Ausflüge von der Erde zum Mond, die Urzeit des Menschen und anderes.40 Von der Regie in Zeitraffer gebündelt, bot das Wissenschaftliche Theater Geschehen aus der Natur als reproduzierbare Erlebnisse. Sie sollten gezielt das „Sonntags-Publikum" 41 ansprechen, das bloßen Vorträgen abgeneigt war. Die Theaterstücke selbst waren personenlos, ein Sprecher auf einer Kanzel neben der Bühne fungierte nach den Texten Meyers als Kommentator und füllte die Pausen, die durch Umbauten notwendig wurden. Mit Hilfe großer Dioramen, hydraulischer Anlagen und beweglicher Leinwände sowie ausgeschmückt mit Staffageobjekten auf der Bühne und verstärkt durch Beleuchtungseffekte von „ergreifender oder anmuthiger Art" 42 inszenierte Meyer eine künstliche Naturwelt. In diesem Raum erhielt das Publikum die Möglichkeit, Kenntnisse über die Natur zu erwerben und sich gleichzeitig im kunstvollen Arrangement ästhetischen Wirkungen auszusetzen: „Sonnen- und Mondfinsternisse, Sternschnuppenschauer, riesige Kometen [...] ziehen hier, in ihren wechselnden Phasen lebendig dargestellt, inmitten malerischer Landschaften des Erdballs am Auge des Beschauers vorüber und erwecken die Begier, diese angestaunten Erscheinungen [...] in ihrer natürlichen Entstehung begreifen zu lernen. Begleitende Vorträge, denen diese decorativen Darstellungen als glanzvolle Illustrationen von plastisch natürlichster Wirkung beigesellt werden, geben eine erste noch völlig skizzenhafte Andeutung zur Erklärung der mit dem Auge des wissenschaftlich durchgebildeten Künstlers gesehenen Naturereignisse."43
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Ueber die Entwickelung (1888), S. 6-10. § 3 des Statuts, abgedruckt in: Ueber die Entwickelung (1888), S. 5. Das Statut nennt als weitere Maßnahmen die Herausgabe einer eigenen Zeitschrift (Himmel und Erde) und Ausstellungen. Vgl. Ueber die Entwickelung (1888), S.2f., 14-17; Foerster: Ueber die Ziele (1889), S. 24; Meyer: Die Veranstaltungen (1889), S. 32-36 und exemplarisch den Bericht der NwW 13 (1898), S. 478. Ein Untersuchung zum Wissenschaftlichen Theater im Kontext der Geschichte von Visualisierungspraktiken in naturwissenschaftlichen Präsentationen wird vom Verf. vorbereitet. Foerster: Ueber die Ziele (1889), S. 24. Ueber die Entwickelung (1888), S. 24. Meyer: Die Veranstaltungen (1889), S. 32.
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Das Wissenschaftliche Theater war eine Verbindung von Technik und Natur, von künstlicher Inszenierung und Suggestion des Ursprünglichen, auf die kaum weniger als auf die beliebten Schlachtenrundbilder des Kaiserreiches zutrifft, was Dolf Sternberger meisterhaft als .Panorama' des 19. Jahrhunderts beschrieben hat: die Verquickung von Künstlichem und Natürlichem, Technischem und Organischem in opulenten Bildern, die das Bedürfnis nach arrangierter Szene und Anschaulichkeit des historischen Mit- und Nacherlebens befriedigten.44 Der Kunsthistoriker Werner Hofmann hat in ähnlichem Zusammenhang treffend von „Naturmontagen" des bürgerlichen Zeitalters gesprochen, „für das reizhungrige Auge des Großstadtmenschen zusammengetragen und mit jener absichtsvollen Deutlichkeit arrangiert, welche die Theaterkulisse kennzeichnet. Wieder entsteht ein Zwitterprodukt, eine gleichsam geschminkte, zurechtgerückte Natur."45 Im Wissenschaftlichen Theater der Urania wurden nicht die Schlacht bei Sedan oder eine venezianische Gondelfahrt aufgeführt, wie sie Sternberger beschrieben hat, sondern nun die Natur selbst in genrehaften Szenen zum Bühnenschauspiel erhoben.46 Dank modernster Hilfsmittel wurde den Zuschauern der Eindruck vermittelt, Naturvorgänge authentisch nachvollziehen zu können. Max Wilhelm Meyer fiel als erstem Direktor der Urania die Aufgabe zu, das Wissenschaftliche Theater zu einem festen Bestandteil des Berliner Volksbildungsangebots zu machen und die Öffentlichkeitsarbeit zu forcieren. Meyer redigierte daher auch die Urania-Zeitschrift Himmel und Erde. Nach internen Kontroversen über den Neubau der Urania und Spannungen mit dem Aufsichtsrat wurde er jedoch schon 1897 entlassen.47 Unbehelligt von solchen inneren Schwierigkeiten bezeugte die Urania wie keine andere Bildungseinrichtung die Attraktivität moderner Vermittlungstätigkeit. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Schon im ersten Jahr fanden 187 Abendveranstaltungen statt. Zu den Referenten zählten in den folgenden Jahren unter anderem der Astronom Friedrich Archenhold, die Publizisten Wilhelm Bölsche und Curt Thesing und die Zoologen Ludwig Heck und William Marshall.48 Von Beginn an für „Massen-Besuch"49 konzipiert, wurde die Urania bereits 1892 von über 116000 Personen besucht, 44 45
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Sternberger: Panorama (1938/1974), insbesondere S. 16-18, 22-35, 60f. und S. 87-141 zur Deutung der Entwicklungslehre mit dem Panorama-Begriff. Werner Hofmann: Das irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts. 2., neubebilderte Ausgabe, München 1974, S. 98; hier S. 103 auch zu Panoramen und Dioramen. Der Begriff des Genre wird hier in Anlehnung an Dolf Sternberger gebraucht. Siehe auch Kapitel VII.2.b). Hess: Die Geschichte, I (1969), S. 29, Band II (1969), Anhang I mit dem Verzeichnis der Mitarbeiter, Referenten und Vortragenden der Urania. M. Wilhelm Meyer: Was soll die ,Urania' dem Publikum bieten, und was darf sie von der Betheiligung desselben erwarten?, in: Die Natur 37 = N.F. 14 (1888), S. 99-103, hier S. 103.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
1896/97 lag die Besucherzahl erstmals bei über 200000, und 1904/5 wurde mit 220000 Besuchern der Höchststand vor dem Ersten Weltkrieg erreicht.50 Darüber hinaus bemühte sich die Gesellschaft um Präsenz im Stadtbild. 1891 nahm sie die Aufstellung von Urania-Säulen in Angriff. Mit Unterstützung Foersters war eigens die Urania-Uhren- und Säulen CommanditGesellschaft gegründet worden. Das Projekt wurde von der Königlichen Sternwarte und dem Preussischen Meteorologischen Institut unterstützt. Über das Stadtgebiet verstreut, sollten die Säulen Zeit- und Witterungsangaben mit statistischen Angaben und Verkehrsmitteilungen bieten. Die erste Urania-Säule fand ihren Platz Unter den Linden gegenüber dem Kultusministerium. Reklameflächen dienten der Finanzierung.51 Auch das war modern und verwies im Detail darauf, daß die Urania die Präsentation naturwissenschaftlicher Kenntnisse auf eine neue Stufe hob: professionell organisiert, staatlich, kommunal und universitär unterstützt, aber privatwirtschaftlich getragen.52 Aus den Schnittflächen zwischen universitärem und populärem Selbstverständnis erwuchsen neue Anregungen. Bruno Bürgel - Fabrikarbeiter, Autodidakt und nach 1900 Bestsellerautor - erlebte dank Meyer in der Urania astronomische Lehrjahre. Foerster, der schon im ersten Winterjahr der Urania an Sonntagvormittagen Vorträge für Arbeiter gehalten hatte, ermöglichte Bürgel später, an der Berliner Universität zu studieren. 53 Die Urania erneuerte mit Unterstützung der Berliner Haute finance überdies den von Raumer gegründeten Verein für wissenschaftliche Vorträge. An der Jahrhundertwende war in Berlin das Feld populärwissenschaftlicher Bildungsangebote so weit aufgefächert, daß sich die Urania veranlaßt sah, vor einem schädlichen „Existenzkampf" zu warnen und den übrigen Institutionen anzubieten, nach Möglichkeit zu kooperieren. 54
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Ermittelt nach den jährlichen Berichten des Vorstandes der Gesellschaft Urania. Die bei Hess: Die Geschichte, I (1969), S.172 genante Zahl von 250000 Besuchern um die Jahrhundertwende konnte ich nicht verifizieren. Vgl. Harry Gravelius: Ueber Wettersäulen, in: NwW 6 (1891), S. 125f. Wiederum kann nicht vorbehaltlos von einer Erfolgsgeschichte gesprochen werden. Bald nach Aufstellung der Urania-Säulen meldete sich Kritik, vor allem an den Reklameflächen und deren geringem Ertrag, und der Magistrat stellte die erforderlichen Mittel zurück. Siehe W. Foerster: Die Urania-Säulen, Text vom 6.1.1896, Kopie im Nachlaß Wilhelm Foerster, Nr. 64 (AkW Berlin). Bürgel: Vom Arbeiter (1919), S. 74-85, 90,100-102; Heinrich Lee: Bei Direktor Foerster, in: Berliner Tageblatt Nr. 5 v. 1.2.1892, Kopie im Nachlaß Foerster, Nr. 65 (AkW Berlin). Bericht des Vorstandes der Gesellschaft Urania für das Geschäftsjahr vom 1. April 1899-31. März 1900, S. 7.
4. Institutionalisierung der bürgerlichen Naturkunde
URANIA-SÄULE
PROSPECT Urania-Uhren- und
UND
BEDINGUNGEN
der
Saulen-Commandit-Gesellschafl
Berlin C„ Spandauer Brücke i i .
Abbildung 5: Prospekt über die Urania-Säulen in Berlin.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
b) Von der Deutschen Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde zur Kosmos-Gesellschaft 1894-1914 Zum erweiterten Spektrum der Berliner Bildungsanstalten gehörte seit 1894 auch die Deutsche Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde (DGVN). 55 Am 29. Oktober 1894 waren im Berliner Dorotheengymnasium unter dem Vorsitz des Schuldirektors einige Naturfreunde zur Gründungsversammlung zusammengekommen. Den Anstoß hatte der Redakteur der Zeitschrift Natur und Haus, Ludwig Staby, gegeben. Die erste Generalversammlung fand am 1. Februar 1895 statt, Wilhelm Foerster hielt den ersten Vortrag am 27. März 1895. Obwohl die Ambitionen ursprünglich weiterreichten, 56 konzentrierte sich die D G V N auf die Berliner naturkundliche Szene und trug insofern einen irreführenden Namen. Aus den naturwissenschaftlichen Museen und den außeruniversitären Wissenschaftsbereichen Berlins gewann sie ihr Führungspersonal. Wilhelm Hauchecorne, Direktor der Königlichen Geologischen Landesanstalt und Bergakademie, und Leopold Kny von der Landwirtschaftlichen Hochschule lenkten vor dem Ersten Weltkrieg die Geschicke der DGVN. 57 Die Mitgliederzahl der Gesellschaft stieg von 62 (1895) über 845 (1900) auf 1427 (1909).58 Nach einigen Anlaufproblemen galten die belehrenden Exkursionen der D G V N ebenso dem märkischen Umland wie dem Botanischen und dem Zoologischen Garten, den Siemens & Halske-Werken, der Treptower Sternwarte und dem Völkerkundemuseum. Für die Mitglieder wurden öffentliche Vorträge und Lehrkurse veranstaltet. Bei den Lehrervereinen der Stadtteile und der Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen war das naturkundlich-pädagogische Engagement der D G V N gefragt. 59 Allein zwischen 1896 und 1904 veranstaltete die DGVN durchschnittlich 14-15 Vorträge, 12 Exkursionen und 3-4 sechsstündige Lehrzyklen pro Jahr. 60 Das entsprach dem offiziellen Ziel, „die wissenschaftlichen Resultate der Naturforschung in gemeinverständlicher Form immer weiteren Kreisen
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NwW 20 = N.F. 4 (1905), S. 170. Vgl. Wilhelm Paszkowski: Berlin in Wissenschaft und Kunst. Berlin 1910, S.243. Nach NwW 9 (1894), S.554, lehnte der Geheime Regierungs- und Stadtrat Friedel die auf ihn gefallene Wahl eines Vorsitzenden der DGVN ab; als Datum der konstituierenden Versammlung wird hier der 28. Oktober genannt. Vgl. NuH 3 (1894/95), S. 190; NuH 4 (1895/96), S. 12; NuH 5 (1896/97), S. 19. Erst 1904 entstand ein Zweigverein in Stettin. Erste Vorsitzende der DGVN waren 1895-96 Johannes Trojan, 1896-1900 Hauchecorne, dann Kny. NwW 20 = N.F. 4 (1905), S. 171; NwW 24 = N.F. 8 (1909), S. 159. Vgl. NuH 4 (1895/96), S. 155; NuH 6 (1897/98), S. 78. Die Zahlenangaben über die Veranstaltungen variieren; hier nach der NwW 20 = N.F. 4 (1905), S. 171.
4. Institutionalisierung der bürgerlichen Naturkunde
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des Volkes zugänglich zu machen"61. Auch die lokale Kooperation mit anderen Volksbildungsinstitutionen funktionierte. Die Urania bot der DGVN Räume und Veranstaltungen an, während die publizistische Betreuung bei den Zeitschriften Natur und Haus bzw. nach 1901 bei der Naturwissenschaftlichen
Wochenschrift lag.
Die ersten Jahre der DGVN fallen mit dem Aufschwung der sogenannten Universitäts-Ausdehnungs-Bewegung in Deutschland zusammen.62 Die Veranstaltung von Vorlesungen für ein außeruniversitäres Publikum durch Hochschullehrer hatte 1873 in Cambridge, wenig später auch in Oxford, als University Extension begonnen und wurde im deutschsprachigen Raum zuerst von der Wiener Universität übernommen. 1893 wählte deren Senat erstmals den Ausschuß für volkstümliche Universitätsvorträge. Er setzte sich aus Vertretern aller Fakultäten zusammen und bot seit 1895 Vortragszyklen und Kurse an; Privatdozenten stellten durchschnittlich die Hälfte der Dozenten.63 Nachdem die von freimauererischem Gedankengut inspirierte Comenius-Gesellschaft seit 1892 die University Extension auch für Deutschland propagierte, griff die Bewegung in den folgenden Jahren auf deutsche Universitätsstädte über. 1899 wurde der Verband für volkstümliche Hochschulkurse von Hochschullehrern des Deutschen Reiches gegründet. Anders als in Österreich blieb dies ein freier Zusammenschluß ohne körperschaftliche Verankerung in den Hochschulen. Während sowohl die DGVN als auch die Universitäts-Ausdehnung in Deutschland kaum bleibende Wurzeln in der kulturellen Erinnerung geschlagen haben, gelang dies einer zunächst eher unscheinbaren Unternehmung, die aber nach der Jahrhundertwende mit ihren literarischen und publizistischen Arbeiten konsequent auf überregionale Wirkung zielte. 1903 gründete die Franckh'sche Verlagshandlung in Stuttgart die Gesellschaft der Naturfreunde, kurz: Kosmos-Gesellschaft. Sie stellte die erste kommerzielle Buchgemeinschaft für die Naturkunde in Deutschland dar.64 Das 61 62
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NuH 3 (1894/95), S. 190. Ernst Schäfer: Die Universitäts-Ausdehnungs-Bewegung, in: Der Bildungs-Verein 26 (1896), S. 82f.; Th. H. Pantenius: Die Volkshochschulen und die Universitäts-Ausdehnungs-Bewegung, in: Daheim 33 (1896/97), S. 810-812; Albrecht: Die Popularisirung (1899); Reyer: Handbuch (1896), der das internationalen Umfeld ausführlich berücksichtigt; Vogel: Volksbildung (1959), S. 53-85 zum Wiener Ausschuß für volkstümliche Universitätsvorträge; Steindorf: Von den Anfängen (1968), S. 26-35; Röhrig: Erwachsenenbildung (1991), S. 457f. Vogel: Volksbildung (1959), S. 53-55. Zum folgenden: Volkstümliche Naturwissenschaft (o.J./1913), S. 7f.; Bölsche: Wie das erste Kosmosbändchen entstand (1931); 50 Jahre Kosmos, in: Kosmos 50 (1954), S. lf.; Franckh'sche Verlagshandlung (1986), S. 38f. Helmut Hiller: Bücher billiger ... Wie sind die Buchgemeinschaften entstanden? München o.J. (1966), S. 8 hat darauf aufmerksam gemacht, daß der Kosmos-Gesellschaft wesentliche Merkmale einer Buchgemeinschaft fehlten: das Lizenzverhältnis zwischen den
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III. Vereine, Vorträge und Feste
neue Projekt des Verlagsinhabers Walther Keller orientierte das traditionsreiche Unternehmen, das ursprünglich durch Übersetzungen des englischen Romanciers Walter Scott und mit billigen Klassikern reüssiert hatte, entschieden auf den naturwissenschaftlichen Sektor hin. Die Innovation machte sich bezahlt, binnen eines Jahrzehnts gewann die Gesellschaft über 100000 Mitglieder.65 Für den Jahresbeitrag von 4,80 Mark erhielten sie seit 1904 kostenlos die Zeitschrift Kosmos und fünf gesonderte Publikationen über naturwissenschaftliche Themen, die -Kosmos-Bändchen. ,Der Kosmos', wie die Zeitschrift umgangssprachlich hieß, fungierte jahrzehntelang als Markenzeichen des Stuttgarter Verlages.66 Keller hatte mit glücklicher Hand seine eigenen amateurwissenschaftlichen Ambitionen mit den kommerziellen Verlagsaufgaben verknüpft. Vor der Kosmos-Gründung führte ihn das biologische Interesse dazu, zoologische Vorlesungen an der Technischen Universität zu hören und private Mikroskopier- und Sezierstunden zu nehmen. 67 Als sich die Planung für eine neue Zeitschrift verdichtete, gewann Keller gemeinsam mit Fritz Regensberg, einem erfahrenen Redakteur, die bekanntesten naturkundlichen Populärschriftsteller für sein Projekt, allen voran Wilhelm Bölsche, den ,Urania-Meyer' und Raoul France. Diese drei bildeten 1906 den Ehren- und Freundesrat des Kosmos. Das „glühende Verlangen nach Aufklärung" in der „Laienwelt" 68 wollte die Kosmos-Gesellschaft als Auskunftstelle und Zentrum eines weitgespannten Informationsnetzes befriedigen. Neben das literarische Angebot traten mit der Zeit naturwissenschaftliche Studienreisen, Vortragsveranstaltungen und Lehrkurse. Eine Lehrmittelsammlung versorgte seit 1910 die Interessierten quer durch Deutschland. Volksbibliotheken, Schulklassen und Lesehallen erhielten naturkundliches Informationsmaterial. Die Idee des Deutschen Museums, das seit 1904 auf Initiative Oskar von Millers in München entstand, wurde ebenso publik gemacht wie der Naturschutzgedanke. In Zusammenarbeit mit dem Dürerbund und unter maß-
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Originalausgaben und den Mitgliederausgaben sowie die Preisunterschiede zwischen beiden. Versand-Statistik des Kosmos 1906-1912 (Archiv der Franckh'schen Verlagshandlung Stuttgart). Gemessen an der Dezemberausgabe der Zeitschrift Kosmos, die jedes Mitglied erhielt, stieg die Mitgliedschaft allein zwischen 1907 und 1910 um ca. 20000 im Jahr, auf dem Höhepunkt 1925 wurden 198598 KosmosHefte ausgeliefert. Der Jahresdurchschnitt stieg von 19000 (1906) auf 104000 (1914), sank während des Krieges deutlich ab, übertraf seit 1922 wieder den Vorkriegsstand und blieb zwischen 1937 und 1949 unter 100000. Ursprünglich war die Zeitschrift nur als bibliographische Beigabe gedacht. Bald trat sie in den Vordergrund und wurde vom Verlag zum modernsten Naturkundemagazin der deutschen Publizistik ausgebaut, siehe Kapitel VI.4. Walther Keller: Erinnerungen, Manuskript, S. 10-17, hier S. 10 (Archiv der Franckh'schen Verlagshandlung Stuttgart). Volkstümliche Naturwissenschaft (o.J./1913), S. 7.
4. Institutionalisierung der bürgerlichen Naturkunde
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geblicher Beteiligung von Kurt Floericke rief die Kosmos-Gesellschaft 1909 den Verein Naturschutzpark e.V. ins Leben. 69 Aus der Kosmos-Gesellschaft erwuchs 1907 die Deutsche mikrologische Gesellschaft mit der Zeitschrift Mikrokosmos, um den Gebrauch des Mikroskops „volkstümlich"70 zu machen. Der Vorsitzende Raoul France hoffte, die mikroskopische Liebhaberei verfeinern und mit der modernen Biologie verbinden zu können. Diesem Zweck diente im besonderen seit Oktober 1908 sein Biologisches Institut in München. Es stützte sich auf Spenden und ein Stiftungsvermächtnis, woraus ein eigenes mikroskopisches Laboratorium finanziert wurde. Gegen Kollegiengeld konnten Unterrichtskurse belegt werden. Das Biologische Institut versuchte auf diesem Wege, die Lücke für das Publikum zu füllen, dem der Universitätsbesuch versagt blieb.71 Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges bemühten sich nochmals zwei Organisationen, die deutschsprachige Naturkunde außerhalb professioneller Wissenschaft zusammenzuführen. Im Herbst 1909 konstituierte sich auf Anregung des Schriftstellers Georg August Grote der Bund deutscher Forscher mit Sitz in Hannover. Sein Schwerpunkt lag aber in Österreich, woher die meisten führenden Mitglieder stammten. Der Bund zählte unter anderem Siegmund Freud, den Schriftsteller Camillo Morgan und Kurt Floericke zu seinen führenden Mitgliedern. Er bot ein eigentümliches Gemisch aus Naturschutzideen und Jäger-Enthusiasmus, Amateurwissenschaft und Volkskunde. Entsprechend disparat waren persönliche und korporative Mitglieder.72 Die Tendenz zu bürgerlicher Abschottung und aristokratischer Weihe durch blaublütige Ehrenmitglieder war nicht zu übersehen. Ordentliche Mitglieder konnten nur Naturforscher, Ärzte und gelehrte Publizisten im Besitz bürgerlicher Ehrenrechte werden. Als Eh-
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Kosmos/Handweiser 9 (1912), S.233f. Vgl. Knaut: Zurück zur Natur (1993), S. 378-382. Neben dem Dürerbund war der Österreichische Reichsbund für Vogelkunde und Vogelschutz an der Gründung des Naturschutzvereins beteiligt. So 1 der Satzungen der Deutschen mikrologischen Gesellschaft, abgedruckt bei France: Der Bildungswert (1907), Anhang. Nach Mikrokosmos 2 (1908/9), S. 106 umfaßte die Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt fast 4000 Mitglieder. Vgl. den Aufruf zur Bildung einer mikrologischen Gesellschaft im Kosmos-Bändchen von France: Streifzüge (1907), S. 93f. R. H. France. Das Biologische Institut in München, in: Mikrokosmos 2 (1908/9), S. 106f.; Natur 2 (1911), Beilage zu Heft 11, S. 89*. Das Institut verdankte die Stiftung Ellen von Waldthausen. 1914 betrug das Sachvermögen 14000 Mark. Zu letzteren gehörten 1912/13 die Vereinigung von Freunden der Mineralogie, Geologie und Paläontologie, die Freie Vereinigung deutscher Präparatoren und Naturaliensammler und der Deutsch-Österreichische Volksbildungsverein. Alliierte bzw. befreundete Gesellschaften waren unter anderem die Königlich Dänische geographische Gesellschaft, die Theosophische Gesellschaft Dresden und der Verein Naturschutzpark in Stuttgart. Vgl. Der Forscher 1 (1910), S. 19; Der Forscher 2 (1911), S. 15f.; Der Forscher 3 (1912/13), S. 42f.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
renpräsident fungierte Prinz Bernhard zur Lippe, zu den Ehrenmitgliedern gehörten 1913 Prinzessin Therese von Bayern, Prinz Philipp von SachsenCoburg-Gotha, Herzog Adolf-Friedrich zu Mecklenburg-Schwerin und Fürst Johann von und zu Lichtenstein. Die demokratische Tradition der Vereinsgeschichte führte ungleich stärker seit Mai 1909 die Deutsche Naturwissenschaftliche Gesellschaft (DNG) fort. Nachdem es zwischen Francé und der Franckh'sehen Verlagshandlung zu Kontroversen gekommen war, entwickelte Francé mit Max Wilhelm Meyer den Plan, eine „nach Grundsätzen des Idealismus begründete und geleitete, den ganzen deutschen Kreis umspannende naturwissenschaftliche Vereinigung"73 zu schaffen. Francé baute mit der DNG und deren Zeitschrift Natur eine Konkurrenzorganisation zur Kosmos-Gesellschaft auf. 1911 wurde sie als Verein eingetragen, 1912 fand die erste Generalversammlung in Leipzig statt.74 Die Angebote der DNG glichen bis ins Detail denen der Kosmos-Gesellschaft.75 Von der Stuttgarter Gesellschaft warb Francé auch Alexander Sokolowsky, Curt Thesing und Max Wilhelm Meyer als Autoren ab. Mehr noch als die Kosmos-Gesellschaft unterstützte die DNG naturwissenschaftliche Studienreisen und die kommunikative Vernetzung zwischen den Mitgliedern, insbesondere durch die kostenfreie Auskunft zu naturwissenschaftlichen Fragen. Im Gegensatz zur Stuttgarter Buchgemeinschaft fächerte sich die DNG in Ortsgruppen auf, Ende 1910 hatte sie ca. 15 000 Mitglieder.76 Das Biologische Institut Francés in München wurde überdies durch ein Abkommen an die DNG gebunden und deren Mitgliedern ausdrücklich empfohlen. 77
c) Generationswandel am Jahrhundertende - eine Zwischenbilanz Mit der Urania und den großen Volksbildungseinrichtungen nach 1890 profilierte sich eine zweite Generation populärwissenschaftlicher Institu73 74 75
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So Meyer im Gespräch mit France, zitiert nach: France: Dr. M. Wilhelm Meyer (1911), S. 98. Natur 4 (1913), S. 97ff. Vgl. § 1 der Satzungen der Deutschen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Leipzig, abgedruckt in: Natur, Beilage, Heft 21, S. 161*; France: Der Geist (1913), S. 98; Mützelfeldt: Allerlei Mißbrauch (1909), S. 23; Walter Widmann: Hinter den Kulissen eines naturwissenschaftlichen Verlages - Franckh Erinnerungen 1916-1963, Manuskript, S. 5 (Archiv der Franckh'schen Verlagshandlung Stuttgart). France wurde 1. Vorsitzender der DNG, den 2. Vorsitz übernahm Ludwig Wilser. Natur 1 (1910), Beilage zu Heft 26, S. I. Soweit aus der Zeitschrift Natur ersichtlich, bildeten sich Ortsgruppen der DNG in Berlin, Darmstadt, Düsseldorf, Frankfurt/M., Freiburg i.B., Hamburg-Altona, Karlsruhe, Leipzig, Lindau, München, Wiesbaden-Mainz und Wien. Vgl. Natur 2 (1911), Beilage zu Heft 11, S. 89*.
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tionen. Die Vorstellung, daß sich um 1890 eine neue, nämlich individualisierte und intensive Volksbildungsarbeit entwickelt und von den bisherigen, bloß extensiven, auf pragmatischen Wissenserwerb zielenden Bildungsbemühungen getrennt habe, bietet allerdings nur ein vordergründiges Schema. Die Trennung der sogenannten neuen von der alten Richtung ist eine ideologisch aufgeladene Konstruktion, die nach dem Ersten Weltkrieg hervortrat und bis weit in die Gegenwart die Historiographie der Erwachsenenbildung geprägt hat; sie darf inzwischen als überholt gelten.78 Jenseits dieser starren Gegenüberstellung wird die veränderte Qualität der naturkundlichen Volksbildung im Wilhelminischen Kaiserreich unter vier Gesichtspunkten deutlich. Erstens wurde die naturkundliche Volksbildungarbeit nach 1890 professionalisiert79. Die zweite Generation naturkundlicher Bildungseinrichtungen verfestigte ihre organisatorischen und kommunikativen Strukturen. Wenige Ideen waren neu, und im Rückblick erweisen sich der zunächst naiv anmutende Einfallsreichtum der Humboldt-Vereine und ihre Strategie, das Laienelement und die Anschaulichkeit des Lernens im Alltag zu stärken, als durchaus vorausblickend. Was aber in der Phase zwischen Revolution und Reichsgründung noch an organisatorischer Effizienz, finanzieller Solidität und personeller Unterstützung aus dem Bürgertum fehlte, erreichten vierzig Jahre später die Urania, die Kosmos-Gesellschaft und die
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Der sogenannte Richtungsstreit in der Erwachsenenbildung nahm seinen Ausgang in den reformerischen Bestrebungen W. Hofmanns im Büchereiwesen und R. von Erdbergs in der Volksbildungsarbeit, die beide eine intensive, auf die individuellen Rezipienten zugeschnittene Bildungsarbeit forderten und sich kritisch von der in ihren Augen bloß auf Massenbildung zielenden Arbeit der G W absetzten. Werner Picht bekräftigte in seiner maßgeblichen Darstellung über das Schicksal der Volksbildung in Deutschland (1936) diese Sicht und sah in Erdberg den Reformator des neueren Volksbildungswesens. Eine erste Revision leitete Martin Rudolf Vogel: Volksbildung (1959) ein, indem er die Kennzeichen der neuen, d.h. intensiv-individualisierenden, mit Weltanschauungsfragen beschäftigten Erwachsenenbildung bereits in den Bestrebungen des Rhein-Mainischen Verbandes für Volksbildung und des Ausschusses für volkstümliche Universitätsvorträge in Wien seit Beginn der 1890er Jahre herausarbeitete. Allerdings verschob Vogel die Trennung von neuer und alter Richtung nur zeitlich nach hinten und blieb im wesentlichen bei einer abwertenden Einschätzung der vorangegangenen Bemühungen. Die Arbeiten von Baiser: Die Anfänge (1959), Steindorf: Von den Anfängen (1968), Dräger: Die Gesellschaft (1975), ders.: Volksbildung (1979-84) und Röhrig: Erwachsenenbildung (1987) rückten die Volksbildungsaktivitäten vor 1890 und nicht zuletzt die Bildungsvereine seit dem Vormärz in ein helleres Licht. Im ganzen ist aber die Phase von 1800-1870 noch weitgehend unerforscht; für die späteren Jahrzehnte vgl. Langewiesche: „Volksbildung" (1989). Von Professionalisierung kann hier nur unter Vorbehalt und mehr deskriptiv als analytisch, zumal in professionalisierungshistorischer Sicht, gesprochen werden. Ich gehe auf diese Problematik im Zusammenhang mit den professionellen Vermittlern im Kapitel VII.1-2 genauer ein.
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III. Vereine, Vorträge und Feste
DNG mittels verbesserter Mitgliederorganisation und Informationsvernetzung, z.B. durch die Idee der Buchgemeinschaft, das Ortsgruppensystem und kommunale oder staatliche Unterstützung. Seit die GVV die Vortragstätigkeit zum Beruf machte,80 spätestens aber mit der Urania wurde es zudem selbstverständlich, die naturwissenschaftliche Aufklärungsarbeit zu kommerzialisieren und damit überhaupt wirtschaftliche Sicherheit als Voraussetzung von Bildungsarbeit zu akzeptieren. Zweitens wandelte sich das Verhältnis zum politischen Raum. Die Humboldt-Vereine und das FDH waren aus dem Geist postrevolutionären Demokratieverlangens gegründet worden. Ihre Inspiratoren entstammten der politisierten Intellektuellenbewegung der Jahre 1848/49.81 Naturwissenschaftliche Bildung zu verbreiten, war für sie eingebunden in die liberale Konzeption, die Gesellschaft durch Bildung zu reformieren und soziale Verwerfungen im allgemeinen Zugang zum Wissen auszugleichen. Davon zehrten noch die GVV und die Humboldt-Akademie. Ohne die Rückkoppelung an das liberale Gedankengut aufzugeben, verselbständigten sich aber die naturkundlichen Institutionen im Gefolge der Urania. Sie wurde unabhängiger von politisch-weltanschaulichen Vorgaben und insofern entpolitisiert. Dazu trug drittens die sozial ambivalente Stellung der hier behandelten Institutionen bei. Das von ihnen erreichte Publikums war sozial differenziert, bei den Zielgruppen gab es eine Schichtendurchlässigkeit. Die Informationsangebote der G W , der Urania, der DGVN und des Kosmos wurden auch von Arbeitern genutzt. Hinsichtlich der Ziele der naturkundlichen Belehrung und der praktischen Unternehmungen unterschieden sich die Kosmos-Gesellschaft oder die DNG wenig von der proletarischen Naturfreunde-Bewegung. Bis 1914 glichen sich die Instrumente, die didaktischen Mittel und die Lehrinhalte populärer Naturkunde zwischen den unterschiedlichen Organisationen an, und es ergaben sich Möglichkeiten der Kooperation.82 Andererseits konnten die genannten Institutionen aus den sozialformativen Verhärtungen und sozialmoralischen Milieugrenzen der deutschen Gesellschaft kaum ausbrechen. 83 Ihr Publikum war sozial enger gefaßt, als es die ideellen Konzeptionen andeuteten. Die populäre Naturkunde des Jahrhundertendes verlor in ihren herausragenden, bürgerlich dominierten Institutionen die egalitären Vorgaben der ersten Generation. Dieser Ver-
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Dräger: Die Gesellschaft (1975), S. 143. Vgl. auch Kapitel VII.2-3 und 6. Vgl. zu Österreich Langewiesche: Zur Freizeit (1979), S. 53-55. Vgl. zuletzt den von M. Rainer Lepsius geprägten Begriff des sozialmoralischen Milieus aufgreifend und modifizierend Nipperdey: War die Wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesellschaft? (1985/86), S. 176-178 und Langewiesche: „Volksbildung" (1989), S. 109f.
4. Institutionalisierung der bürgerlichen Naturkunde
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lust war zweifellos eine Folge der Kommerzialisierung und der Bindung fester Mitglieder- und Hörerkreise an die Bildungsanstalten. Das Zurücktreten der sozialpolitischen Komponente war zudem viertens dadurch bedingt, daß nach 1900 führende Vertreter naturwissenschaftlicher Bildungsarbeit die Popularisierung auf eine neue legitimatorische Basis stellten und einen Wechsel der Reflexionsebene einleiteten. Die sozialintegrativ-liberale Zielsetzung trat um die Jahrhundertwende in den Hintergrund, während die Frage der Popularisierung zunehmend als kulturelles Problem definiert wurde. Damit werden für den naturkundlichen Bereich die Befunde über den Wechsel vom sozialpolitischen zum kulturellen Diskurs am Fin de Siècle und über die Konjunktur des Kulturbegriffes bestätigt, die von der neueren Bürgertums- und Wissenschaftsgeschichte herausgearbeitet worden sind.84 Kosmos-Gesellschaft und DNG schrieben primär die Idee kultureller Einheit auf ihr Banner. Naturwissenschaften zu popularisieren, wurde als Mittel verkündet, um den ,,tiefe[n] Riß zwischen den geistigen und den naturwissenschaftlichen Disziplinen" 85 zu schließen und „Fäden zwischen Geistesbildung und Naturwissen, zwischen Volksseele und Naturforschung" 86 zu knüpfen. Bölsche und Francé warben dafür, die Naturwissenschaften in den kulturellen - und kulturkritischen - Diskurs zu integrieren und ihre „Humanisierung" 87 voranzutreiben. Die Verweltanschaulichung der Naturkunde erreichte damit vor dem Ersten Weltkrieg jenseits enger parteipolitischer Formationen und auch in Distanz zu den sozialreformerischen Diskussionen einen Höhepunkt - ein Prozeß, der bei der Betrachtung der Printmedien noch deutlicher werden wird.88
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vom Bruch: Weltpolitik (1982), S. 48-50; ders.: Kaiser und Bürger (1989), S. 122-124,138f.; ders.: Ideaüsmus (1994); vom Bruch/Graf/Hübinger (Hg.): Kultur (1989), S. 10-15; Bollenbeck: Bildung (1994), S. 225f£ Moderne Bildung (1904), S.2, der einleitende Artikel aus dem ersten Heft des Kosmos/Handweiser. Natur 1 (1910), S.l. Bölsche: Wie und warum (1913), S. 196. Siehe Kapitel V.5.
IV. Naturwissenschaftliche Bildung als organisierte Weltanschauung Die Verlagerung von der sozialpolitischen zur kulturell-weltanschaulichen Argumentation, die bei den Bildungsinstitutionen am Fin de Siècle festzustellen ist, legt es nahe, die Frage nach der Rolle der Naturwissenschaften im Rahmen von weltanschaulichen Organisationen primär an das Jahrhundertende zu richten. Tatsächlich blühten während der beiden letzten Jahrzehnte des Kaiserreichs naturwissenschaftliche Weltanschauungsvereinigungen1 auf. Inmitten der ideologischen Gemengelage des späten Kaiserreichs potenzierten sich kulturelle Desorientierung, metapolitischer Deutungsbedarf und Weltdeutungsangebote wechselseitig im Kräftefeld zwischen Lebensreformbewegung, neuen Gesellschaftsutopien und einem szientistischem Technokratismus. Auch naturwissenschaftlich inspirierte Gesinnungsgemeinschaften versuchten, sich am „Kampf um die Leitkultur"2 zu beteiligen. Naturwissenschaftliche Bildung zur Grundlage weltanschaulicher Organisation zu erklären, war aber keine Eigenheit des Fin de Siècle sondern steht in der Kontinuität populärwissenschaftlicher Programmatik seit der Jahrhundertmitte. Das nachfolgende Kapitel zeigt, daß naturwissenschaftliche Weltanschauungsentwürfe sich erstmals zwischen 1841 und 1859 im freireligiösen Aufbruch und in den darin gegründeten freireligiösen Gruppierungen verdichteten. Die naturkundliche Popularisierung gewann mit den freireligiösen Gemeinschaften einen organisatorischen Rahmen und
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Zum Begriff Weltanschauungsvereine bzw. -Vereinigungen siehe Henning (Hg.): Handbuch (1914), S.24, 37; Die Freireligiöse Bewegung (o.J./1959), S.119; Sass: Daseinsbedeutende Funktionen (1968), S. 135, Anm. 71; Nipperdey: Religion und Gesellschaft (1988), S. 19; Nowak: Geschichte (1995), S. 184. Hübinger: Kulturprotestantismus (1994), S. 50 spricht von ,,Gesinnungsvereine[n]". Mit Ausnahme des Monismus mangelt es erstaunlicherweise an Untersuchungen zu den anderen, in diesem Kapitel vorgestellten Weltanschauungsvereinen; vgl. Lübbe: Politische Philosophie (1963/1974), S. 20-26, 124-170; daneben Bolle: Darwinismus (1962), S. 160f.; Sass: Daseinsbedeutende Funktionen (1968), S.126, 135f., Anm. 71; Kratzsch: Die Entfaltung (1979), S. 43-47; Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918,1 (1990), S. 515f. Auf bekannte Literatur stützt sich Bahn: Deutschkatholiken (1991), S. 25-138; eine zusammenfassende Betrachtung vor allem zu den Freidenkern gibt Kaiser: Organisierte Religionskritik (1985). Nowak: Geschichte (1995), S. 149. Zur Kulturkrise um 1900 vgl. zuletzt Hepp: Avantgarde (1987), vom Bruch/Graf/Hübinger (Hg.): Kultur (1989), Volker Drehsen/Walter Sparn: Die Moderne: Kulturkrise und Konstruktionsgeist, in: dies. (Hg.): Vom Weltbildwandel (1996), S. 11-29; zur Gebildetenreformbewegung siehe Kratzsch: Kunstwart (1969), S.28 und ders.: Die Entfaltung (1979), S. 43-47.
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IV. Organisierte Weltanschauung
zugleich einen wichtigen ideologischen Rückhalt.3 Die Weltanschauungsvereinigungen bis zum Ersten Weltkrieg, auf die im folgenden Bezug genommen wird, sind in Tabelle 7 in chronologischer Reihenfolge aufgeführt. Tabelle 7: Weltanschauungsvereinigungen mit naturwissenschaftlicher Programmatik in Deutschland 1841-1914 seit 1841 seit 1844 1850 1859 1881 1892 1900 1900 1906 1906 1907 1907 1908 1912/13
Protestantische Freunde bzw. Lichtfreunde E. Baltzer, O. Ule, K. Müller, G. Schwetschke Deutschkatholiken O. Dammer, Nees von Esenbeck, H. Rau, E. A. Roßmäßler Religionsgesellschaft freier Gemeinden Bund freier religiöser Gemeinden Deutschlands E. Baltzer Deutscher Freidenkerbund W. Bölsche, L. Büchner, A. Dodel-Port, A. Specht, B. Wille Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur W. Foerster Goethebund Giordano-Bruno-Bund W. Bölsche, R. Steiner, B. Wille Deutscher Monistenbund W. Breitenbach, K. Floericke, R. France, E. Haeckel, W. Ostwald, L. Plate, H. Schmidt, A. Specht Gesellschaft für Naturwissenschaften und Psychologie Fr. Knauer, J. Reinke Weimarer Kartell Keplerbund A. Braß, E. Dennert, J. Reinke Gesellschaft Neue Weltanschauung, später: Humboldt-Bund für naturwissenschaftliche Weltanschauung W. Breitenbach Albert-Bund Johannes Thöne
Quellen: Henning (Hg.): Handbuch (1914), Die Freireligiöse Bewegung (o.J./1959), Dennert: Hindurch (1937), Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969), Brederlow: „Lichtfreunde" (1976), Graf: Die Politisierung (1978) Unter dem Namen der Vereinigungen sind Mitglieder oder Anhänger genannt, die sich im besonderen um die Verbreitung naturwissenschaftlicher Bildung bemühten. 3
Freireligiöse Gemeinden begriffen sich zum überwiegenden Teil als Vereine. Sie übernahmen die Konstitutionsformen des bürgerlichen Vereinswesens, beantragten die Anerkennung als Vereine und wurden in der Reaktionszeit von staatlicher Seite zu repressiven Zwecken nach dem Vereinsgesetz behandelt. Holzem: Kirchenreform (1994), S.47 spricht zutreffend von dem „Assoziationsethos eines anti-ständischen, autonomen und egalitären religiösen Zusammenschlusses mit gemütshafter Intensivierung der menschlichen Bindungen nach innen sowie einem Bildungs-, Aufklärungs- und Humanisierungsideal nach außen".
1. Lichtfreunde und Deutschkatholiken
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1. Lichtfreunde, Deutschkatholiken und die Naturwissenschaften 1841-1859 Daß in der Bewegung der protestantischen Lichtfreunde und der Deutschkatholiken um die Jahrhundertmitte eine Wurzel der Popularisierungsgeschichte liegt, ist heute vergessen. Hier überlagern sich zwei lange verdrängte Traditionslinien deutscher Geschichte. Von der spärlichen Forschung zur Populärwisssenschaft ist die freireligiöse Bewegung in ihrer Eigenbedeutung unbeachtet geblieben und allenfalls am Rande als frühes Glied in der Kette freigeistiger Ideologieansätze charakterisiert worden. Umgekehrt ist die Frage nach der Bedeutung naturwissenschaftlichen Denkens von der Historiographie der freireligiösen Gruppierungen zugunsten von partei-, politik-, sozial- und religionsgeschichtlichen Perspektiven nicht gestellt worden. 4 Dabei drängen sich die Affinitäten zwischen freireligiösen Überzeugungen, naturwissenschaftlichem Denken und populärem Bildungsauftrag geradezu auf.
a) Die Herausbildung der freireligiösen Bewegung Im Juni 1841 kamen auf Inititive des Pfarrers Leberecht Uhlich in Gnadau bei Magdeburg protestantische Geistliche zusammen, um ihrem Protest gegen die Einschränkungen der Lehr- und Glaubensfreiheit durch die Landeskirche Ausdruck zu verleihen. Man sprach in Absetzung zum offiziellen Klerus von Protestantischen Freunden. Das Gnadauer Treffen wurde zum Auftakt einer Folge regelmäßiger Treffen der neuen Bewegung, an der immer mehr Laien teilnahmen. Seit 1844 fanden zwischen Kothen und Königsberg, Braunschweig und Breslau freiprotestantische Massenveranstaltungen mit oft vielen tausend Teilnehmern statt. Ab 1846 wurden Freie Ge-
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Vgl. zur neueren Forschung zuletzt Paletschek: Frauen (1990) und komprimiert dies.: Religiöser Dissens um 1848: Das Zusammenspiel von Klasse, Geschlecht und anderen Differenzierungslinien, in: GG 18 (1992), S. 161-178; daneben Rosenberg: Theologischer Rationalismus (1930/1972), Freireligiöse Bewegung (o.J./1959), Brederlow: Lichtfreunde (1976), Graf: Die Politisierung (1978), knappe Kritik an Graf bei G. A. Kertesz: A Rationalist Heresy as a Political Model: The Deutschkatholiken of the 1840s, the Democratic Movement and the Moderate Liberais, in: Journal of Religious History 13 (1985), S. 355-369. Die religiöse Dimension der Bewegung wird wieder betont bei Holzem: Kirchenreform (1994). Unentbehrlich trotz der ereignisgeschichtlichen Überfrachtung ist noch immer Kampe: Geschichte, I-IV (1852-1860). Die älteren Regionalstudien werden im folgenden nicht mehr gesondert aufgeführt, vgl. jetzt Bahn: Deutschkatholiken (1991) mit entsprechenden Literaturhinweisen. Freireligiöse Naturwissenschaftler tauchen in der einschlägigen Literatur allenfalls am Rande auf, am ehesten noch Nees von Esenbeck, erstaunlicherweise kaum Roßmäßler.
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IV. Organisierte Weltanschauung
meinden gegründet, zuerst in Königsberg um Julius Rupp, dann in Halle um Gustav Adolf Wislicenus (beide waren bereits ihres Pfarramtes enthoben worden), später in Magdeburg um Uhlich und in Nordhausen um Eduard Baltzer. Bis 1850 wiesen die Freien Gemeinden insgesamt ca. 50000 Mitglieder auf.5 In der Öffentlichkeit setzte sich bald die Bezeichnung Lichtfreunde durch. Die Lichtmetaphorik verwies auf den aufklärerischen Impetus der Bewegung und auf erlösungsreligiöse Traditionen. Unter dem Sammelbegriff Lichtfreunde fanden sich heterogene theologische Positionen wieder, und das praktische Gemeindeleben wurde durchaus unterschiedlich ausgestaltet. Bei einer vorsichtigen Generalisierung lassen sich aber gemeinsame Kennzeichen erkennen.6 Die freien Protestanten wandten sich gegen die kirchliche Machthierarchie und Orthodoxie, vor allem gegen den konservativen Pietismus, den der preußische König Friedrich Wilhelm IV. förderte. Statt dessen fühlten sie sich der Tradition des vormärzlichen theologischen Rationalismus verbunden, wie er vor allem in Halle zur Blüte gekommen war.7 Die Lichtfreunde radikalisierten jedoch dessen gemäßigt aufklärerisches Anliegen und rückten eine demokratisch-liberale Hegelinterpretation in den Vordergrund. Mit ihr gewannen die Schriften von David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach und Arnold Rüge an Bedeutung, auf die sich die jüngere Generation des theologischen Rationalismus stützte.8 Selbstbestimmung der Gemeinden, die Stärkung des Laienelements und die freie Gewissensentscheidung des Einzelnen wurden zu Kernpunkten der freiprotestantischen Programmatik. Das geistige Spektrum reichte vom radikalen Wislicenus in Halle, dessen Gemeinde wissenschaftliche Kritik und ethischen Rigorismus in den Mittelpunkt stellte, bis zum Magdeburger Uhlich, der eher eine spätaufklärerische, moralisch-gesellige Haltung vertrat. Die rationalistische Orientierung teilten die freien Protestanten mit der eng verwandten, sogenannten deutschkatholischen Bewegung. Sie entstand 1844 aus dem Protest des schlesischen Kaplans Johannes Ronge gegen die Ausstellung des ,Heiligen Rocks' in Trier. Ronge richtete ein Offenes Sendschreiben an den Bischof Wilhelm Arnoldi, um gegen die Wallfahrt zum Trierer Dom zu protestieren. Bald wurde Ronge selbst zu einer der populärsten Persönlichkeiten in Deutschland und zum Adressat von Sympathiebekundungen und Devotionen. Die Streitfrage wurde über die Presse und Nachdrucke von Ronges Protestschreiben verbreitet und erregte die deutsche Öffentlichkeit. Nach Ronges Exkommunizierung weite5 6
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Paletschek: Frauen (1990), S. 73. Die inneren Differenzierungen der Bewegung werden hier ebenso wie bei der Skizze der Deutschkatholiken zurückgestellt und stattdessen jene Merkmale akzentuiert, die für die Popularisierungsgeschichte bedeutsam wurden. Vgl. Hans Rosenberg: Geistige und politische Strömungen (1972). Eßbach: Die Junghegelianer (1988), S. 372-382.
1. Lichtfreunde und Deutschkatholiken
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te sich die Anhängerschaft zur Massenbewegung aus. Die Wallfahrtskritik ging in einen fundamentalen Widerstand gegen gängige katholische Riten und Dogmen, gegen die Bindung an Rom und die Kirchenordnung über. Die erste und später größte deutschkatholische Gemeinde wurde 1845 in Breslau gebildet. Im gleichen Jahr tagte in Leipzig das erste deutschkatholische Konzil. Neben Sachsen (Leipzig, Dresden) lagen weitere Zentren im Rhein-Main-Gebiet und in Franken, im Ruhrgebiet und im südlichen Westfalen. Schließlich gab es dreihundert Gemeinden mit über 100000 Mitgliedern.9 Auch die Deutschkatholiken wiesen eine weite intellektuelle Bandbreite auf. Neben den vormärzlichen Rationalismus trat ein monistischer Pantheismus. Es gab Anhänger der sogenannten Religion der Humanität, welche die Bindung an das Christentum und die positive Religion ganz aufgaben, und Vertreter eines religiösen Sozialismus, z.B. den Botaniker Nees von Esenbeck.10 Die geistige Nähe der Deutschkatholiken zu den Freiprotestanten und die gemeinsame Oppositionshaltung führte bald zu personellen und organisatorischen Verknüpfungen zwischen beiden Gruppen. Zahlreiche landeskirchliche Protestanten schlössen sich den Deutschkatholiken an. In Halle bildete sich 1847 unter dem Redakteur Gustav Schwetschke aus freien Protestanten und Deutschkatholiken die Vereinigte Freie Christliche Gemeinde.11 Teile beider Bewegungen kamen 1850 zur Religionsgemeinschaft freier Gemeinden zusammen, die sich aber wegen der einsetzenden staatlichen Unterdrückung nicht behaupten konnte. 1859 konstituierten die ca. 100 verbliebenen Gruppierungen den übergreifenden Bund Freireligiöser Gemeinden. Dessen Mitgliederzahl sank bis 1885 auf etwa 20000, stieg aber bis 1914 wieder auf das Doppelte an.12 Über den inner- und antikonfessionellen Protest hinaus war die freireligiöse Bewegung eng verzahnt mit den fortschrittlichen Kräften im politischen Raum.13 So bestanden starke Affinitäten zu Turnern und Bildungsvereinen. Die freireligiöse Bewegung wurde zum Medium sozialen Protests und liberaler Forderungen. Sie nahm die Kritik am etatistischen Konservativismus ebenso auf und verlängerte sie in den religiös-kirchlichen 9 10 11 12 13
Paletschek: Frauen (1990), S. 73. Zu den Typen deutschkatholischer Religiosität jetzt modifizierend Holzem: Kirchenreform (1994), v.a. S. 380ff. Die Stadt Halle, II (1867), S. 45^7; Brederlow: Lichtfreunde (1976), S. 52. Henning (Hg.): Handbuch (1914), S. 123-145, hier S. 127,132,143 die ungenauen und nicht exakt belegten Zahlen. Wegweisend Rosenberg: Theologischer Rationalismus (1930/1972); später Kolbe: Demokratische Opposition (1964), Brederlow: Lichtfreunde (1976) und Graf: Die Politisierung (1978). Vgl. zum weiteren Kontext Jörg Echternach: Religiosität und Nationskonzeption. Zum Verhältnis von theologischem Rationalismus und Liberalnationalismus im Vormärz, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung 6 (1994), S. 137-151.
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Bereich, wie sie umgekehrt Glaubensprobleme zu gesellschaftlichen Fragen ausweitete. Damit fiel den Freireligiösen eine vermittelnde Rolle zwischen religiöser und politischer Parteibildung zu. Die hohe Repräsentanz von Freireligiösen in den Nationalversammlungen 1848/49, Robert Blum an der Spitze, erklärt sich aus dieser Überlappung von religiösem Protest, politischem Freiheitsdenken und Demokratieverlangen. Blum hatte sich schon 1844 den Deutschkatholiken angeschlossen und leitete mit Franz Wigard die Bewegung in Sachsen.14
b) Konvergenzen von freireligösem und naturwissenschaftlichem Denken Die freireligiösen Überzeugungen entsprachen, das ist bislang kaum oder gar nicht gewürdigt worden,15 in hohem Maße dem naturwissenschaftlichen Denken jenseits der idealistischen Naturphilosophie. Beide bildeten analoge Begrifflichkeiten aus und wuchsen zu einer aufklärerisch-wissenschaftlichen Deutungskultur zusammen. Lichtfreunde und Deutschkatholiken lehnten es ab, den etablierten kirchlichen und staatlichen Institutionen weiterhin das letzte Wort in Erkenntnis- und Weltdeutungsfragen zu überlassen. Stattdessen postulierten sie den freien Gebrauch der Vernunft und die Souveränität geistigen Erkenntnisstrebens. Gegen die Kirche gewendet bedeutete das die Unabhängigkeit der einzelnen Forscher und Gemeinden. Das eigene Gemeindeleben sollte auf „Rationalismus", ,,Vernunftgaube[n]" und „Wissenschaft" (G. A. Wislicenus)16 statt auf einen überlieferten Wissensbestand gegründet werden. Nicht die Schrift sondern der autonome Geist wurde zur primären Autorität der Weltauslegung erklärt. Nicht die Tradition sondern die eigene Erfahrung wurde als Grund der Erkenntnis angesehen. Mit diesen Prämissen öffneten sich die Freireligiösen eben den Forderungen, die zeitgleich das Selbstverständnis der modernen Naturwissenschaftler ausmachten - d.h. jener physikalisch orientierten Wissenschaftler, die sich von vitalistischen und naturphilosophischen Anschauungen emanzipierten. Sie verlangten eine empirische Forschung statt philosophischer
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16
Vgl. Rühle: Zur 50jährigen Jubel-Feier (1895), S. 1-8. Jetzt erstmals im Kontext der Bürgertumsforschung Bauer: Bürgerwege (1991), S. 65-84 zur Verquickung von deutschkatholischem Bekenntnis, naturwissenschaftlichem Interesse und antimetaphysischem Deutungsbedarf am Beispiel der Schweinfurter Familie Sattler. Allerdings erliegt auch Bauer der Gefahr, den Materialismus ä la Ludwig Büchner als natürliche und typische Aufgipfelung der freireligiös-naturwissenschaftlichen Konvergenz zu zeichnen. Wislicenus: Die freien Gemeinden (1850), S.765,766,768. Vgl. Bensey: Die freie Gemeinde (1846).
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Deduktion, benutzten deskriptiv-analytische Begriffe an Stelle idealistischer Kategorien und zogen eine rein innerweltliche-kausale Erklärungsweise jeder Akzeptanz außernatürlicher Einflüsse vor. Die wechselseitige weltanschauliche Sympathie wurde auf freireligiöser Seite dadurch erleichtert, daß sie auch auf ethischem Gebiet einen Autoritätsersatz anbot, der den methodischen Regeln der modernen Naturwissenschaft entsprach: die Existenz von Vernunft- und Sittengesetzen als Teil der umfassenden Naturgesetzlichkeit. Besondere Anziehungskraft erlangte für viele Naturwissenschaftler das pantheistische Naturbild. Es verzichtete auf den methodisch störenden Dualismus von Gott und Welt und ließ über das Naturerkennen die göttliche Erfahrung zu. Auch wer als Naturwissenschaftler nicht so weit ging, konnte vor allem in den deutschkatholischen Schriften ein Naturszenario entdecken, welches das Gewissen der mechanistisch argumentierenden Naturwissenschaft erleichterte und ihr ein eigenes Ordnungsgefüge vorgab. Die Deutschkatholiken betonten das Bild eines sich entwickelnden und selbst regulierenden harmonischen Ganzen der Natur, das eigenen - d.h. nur weltimmanenten - Gesetzen gehorche. So hieß es im Katechismus
der christlichen
Vernunft-Religion:
„Wenn wir mit Aufmerksamkeit die weite Natur überschauen, so gewahren wir bald, daß Alles in ihr mit wunderbarer Weisheit geordnet ist, ja, daß sich der Wassertropfen auf die gleiche Weise rundet, wie die neu entstehenden Welten, der Grashalm ebenso entwickelt wie die Ceder, das Sandkorn denselben Anordnungen unterliegt, wie unsere Erde. Was ist es nun, das, vom Weltengeiste angeordnet, diese wunderbare Harmonie in dem weiten, unermeßlichen Weltenall erhält? Die wunderbare Harmonie in dem weiten, unermeßlichen Weltenall wird erhalten durch die ewigen Gesetze der Natur."17 Zum Vorbild für viele freireligiöse Autoren wurde Alexander von Humboldts Kosmos- Werk, dessen Erscheinen mit dem freireligiösen Aufbruch zusammenfiel. Die naturwissenschaftlichen Arbeiten von Humboldt und seinen Anhängern beeinflußten erheblich das Denken der religiösen Dissidenten.18 In gleichem Maße faszinierte Humboldts Entwurf der Welt als Kosmos die induktiv arbeitenden, auf die Formulierung von Gesetzen zielenden Naturwissenschaftler. Der Kosmos wurde für beide Gruppen zu einem gemeinsamen Bezugsrahmen, der zugleich die Basis für ideologische Übereinstimmungen bildete. Wenn überhaupt einer Disziplin die Verantwortung, die freireligöse Weltwahrnehmung empirisch zu vertiefen und damit zu legitimieren, zugeschrieben werden konnte, dann der Naturwissenschaft. Sie versprach um 1850 am ehesten, nomothetische Aussagen über die Natur gegen das bloße 17 18
Rau: Katechismus (1848), S. 17. Kampe: Geschichte, IV (1860), S. 88f., Anm. 7. Eine knappe Andeutung bei Paletschek: Frauen (1990), S. 111. Zum Kosmos-Werk siehe Kapitel V.3.
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Offenbarungs- und Traditionswissen zu setzen und ein ganzheitliches Weltbild durch eine naturimmanente Erklärung zu begründen. Angesichts des tiefsitzenden Mißtrauens gegenüber der überlieferten Theologie vermochte nur die empirische Naturwissenschaft, jene Vernunft-Religion mitzubegründen, die Lichtfreunde und Deutschkatholiken eingedenk aller unterschiedlichen Distanzierungen vom Christentum predigten. In dem Maße, wie die freireligiösen Überzeugungen dem naturwissenschaftlichen Denken nicht nur analog waren, sondern dieses in hohem Maße absorbierten, eröffneten sie die Möglichkeit, die empirische Naturvorstellung zu transzendieren und eine neue, wissenschaftlich begründete Heilserwartung zu formulieren. Die Resultate von Vernunftstreben und Wissenschaft erlangten die „höchste Macht über die religiösen Grundsätze". Neben der Bibel war es „vornehmlich die Natur, in welcher die Wege der allgegenwärtigen Weisheit offenbar werden." 19 Für viele Freireligiöse wurde die Natur selbst zur Offenbarung, die Ordnung der Natur zum Gegenstand religiöser Verehrung. In der Zeitschrift Neue Reform, die Wislicenus zur „Förderung der Religion der Menschlichkeit" - so der Untertitel - herausgab, erschien 1850 ein Gedicht über den „Naturdienst", in dem es hieß: Wir brauchen keine Kirchen, / Du bist so schön Natur, / So schön ihr Waldgebirge, / So schön du heil'ge Flur! / Wenns säuselt in den Eichen, / Wie Sturm und Wetterdrang / Das sind mir Festchoräle, / Das ist mein Orgelklang. / [...] Wo Leben webt tiefewig / Im grünen Waldesdom, / Wo Wellen rauschen und singen / Im schilfumwogten Strom, / Da ist mein heil'ger Tempel, / Da ist mein Hochaltar, / Da wird mir Gottes Liebe, / Wie nirgend, offenbar, [...] Laßt Euch von Priestern deuten / Aus Büchern dies und das, / Von biblischen Symbolen / Von Wunderthaten daß; / Wir hören den Herrn der Erden, / Den Vater der Natur, / Mit lautern Klängen reden / Im Segensrausch der Flur. / Der Schöpfung weise Wunder, / Der Mensch, ihr hoher Sohn / Sind unsere Symbole / Sind unsre Religion."20
In solcher Vorstellung spiegelten die Naturgesetze, zumal wenn man sie pantheistisch deutete, die göttliche Durchdringung der Welt, und sie gaben die notwendigen Bedingungen echter Humanität vor. Das Gesetzeswerk der Natur zu erkennen, mußte daher zu einer Aufgabe von höchster Wichtigkeit werden. Die Personengruppe, welche fachlich qualifiziert war, diese Aufgabe zu übernehmen, erlangte eine Schlüsselrolle. Den Naturwissenschaftlern fiel gerade wegen ihres säkularisierten Zugangs zur Natur eine entscheidende Vermittlungsfunktion zu. Die Naturforscher selbst konnten zu Verkündern der natürlichen Wahrheit werden, da sie mehr als alle ande19 20
Kampe: Geschichte, IV (1860), S. 61, hier auch das Zitat. Neue Reform (1850), Sp.270.
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ren in der Lage waren, die Naturgesetzlichkeit zu erkennen. Wissenschaftliche Sachkompetenz und weltanschauliche Deutungskompetenz fielen zusammen. Hinzu kommt ein zweiter Aspekt. In aufklärerischer Tradition erhoben Lichtfreunde und Deutschkatholiken pädagogische Bemühungen zu einem zentralen Anliegen, um den Vernunftglauben so weit wie möglich zu verbreiten.21 Die freireligiöse Bewegung knüpfte an die erzieherischen Ideen Rousseaus und Pestalozzis an. Sie erweiterte deren Anregungen um die Vorschläge Friedrich Fröbels, der die Wirkung rationaler Erziehungsarbeit bis in Kindergärten auszudehnen suchte, und sie übernahm die Anschauung Adolph Diesterwegs, der darauf drängte, Kirche und Schulwesen konsequent zu trennen und die Lehrerschaft auch ökonomisch zu stärken. Am Ideal vollkommener sittlicher Willensfreiheit orientiert, stand den Freireligiösen ein Erziehungswesen vor Augen, das von den Kindergärten bis zu Observatorien reichte und in dem jenseits religiöser Bevormundung die traditionelle Glaubenslehre und der Katechismus durch eine historisch-kritische Dogmengeschichte, durch Philosophie und Naturkunde ersetzt werden sollten. Das naturwissenschaftlich begründete Weltbild der Lichtfreunde und Deutschkatholiken wurde von einem unerschütterlichen pädagogischen Optimismus durchdrungen. Daher war es nur konsequent, daß die Verbreitung von Bildung, und im speziellen: von naturwissenschaftlicher Bildung, eine zentrale Bedeutung gewann - sei es im Schulunterricht, als freie Lektüre oder als Anstrengung, auch das Publikum außerhalb der eigenen Gemeinden zu erreichen. Naturwissenschaftliche Bildung wurde zum Medium vernunftgeleiteter Selbstbildung und Selbsterkenntnis. Sie wurde, in Roßmäßlers Worten, zum „Spiegel"22 des Menschen, und erhielt einen bevorzugten Platz im Kanon der freireligiösen Pädagogik. Die freireligiösen Ideen konvergierten hier mit dem Elan der jüngeren Naturwissenschaftler, jeglichen Aberglauben, allen Mystizismus und die bisherigen Formen der idealistischen Naturerklärung zugunsten der empirischen Forschung zu überwinden. Das neue Pathos einer empirisch-rationalen Naturerschließung entsprach direkt oder zumindest indirekt der Autoritätskritik, dem Vernunftglauben und dem pädagogischen Impetus der religiösen Dissidenten. Beide trafen sich in der Überzeugung, daß die Naturwissenschaften allgemeines Bildungsgut werden müßten, sollte die Gesellschaft auf Vernunft, wahre Gesetzlichkeit und Sittlichkeit hin orientiert werden. Das freireligiöse Bekenntnis zu Rationalismus und Erfahrungs21
22
Vgl. Jürgen Gebhardt: Die pädagogischen Anschauungen der Lichtfreunde und Freien Gemeinden - ein Beitrag zur Einschätzung der kleinbürgerlich-demokratischen Bewegungen in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Erziehungs- und Schulgeschichte 4 (1964), S. 71-113. Roßmäßler: Eine Naturpredigt (1851), S. 44; ders.: Der Mensch, I (1850).
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Wissenschaft entwickelte mithin für die zeitgenössischen Naturwissenschaftler eine enorme Attraktivität, ja es legte ihnen auch die persönliche Option nahe, sich den Lichtfreunden oder Deutschkatholiken anzuschließen. Die Folgerung daraus konnte in wechselseitiger Bestärkung nur heißen, vermehrt naturwissenschaftliche Inhalte in den Schulunterricht einzubringen und naturwissenschaftliche Bildung in der Öffentlichkeit offensiv zu verbreiten. Das Anliegen, die Naturwissenschaften zu popularisieren, wurde damit fest im freireligiösen Milieu verankert. Hier wurde nach 1848 häufig die populäre Naturkunde diskutiert, hier riefen naturkundliche Bücher großes Interesse hervor und fanden naturwissenschaftliche Themen rasch Eingang in die Publizistik. Dabei reichte das Spektrum von atheistischen Naturlehren bis zu schwärmerischer Vergöttlichung der Natur.23 Auch terminologisch trugen die freireligiösen Schriften erheblich dazu bei, die Begriffe populär, Popularität und Popularisierung aufzuwerten und umgangssprachlich zu verallgemeinern.24
23
24
Als Beispiel für eine atheistische Interpretation siehe Karl Kleinpaul: Die Stellung der Natur im Christenthume dem Humanismus gegenüber, in: Reform (1848), S. 198-296; ders.: Der Zusammenhang des Humanismus mit dem Naturalismus, in: Neue Reform (1850), S. 673-682. Zur freireligiösen Naturlyrik exemplarisch: Neue Reform (1850), S.270, 397f. Vgl. die atronomischem Artikel von H. Weißgerber, in: Neue Reform (1851), S. 364-373, 411-422, 507-518, 619-624, 707-713. Allerdings bezog sich diese Begrifflichkeit in erster Linie auf den philosophischen bzw. theologischen Rationalismus, dem nicht selten von Zeitgenossen das pejorative Attribut,vulgär' beigestellt wurde. Ein gewisser Mangel der bahnbrechenden Arbeiten von Hans Rosenberg besteht darin, daß er die Bezeichnung Vulgärrationalismus vorbehaltlos übernimmt und deren negative Konnotationen sogar mit eigener Kritik verstärkt, vgl. Rosenberg: Theologischer Rationalismus (1930/1972). Bezeichnenderweise spricht Kampe bevorzugt von populärem Rationalismus, siehe Kampe: Geschichte, IV (1860), S. 561
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c) „Natürliche Weltanschauung" und „Evangelium der Natur" Wissenschaftspopularisierung aus dem freireligiösen Milieu „Wahrlich, wahrlich ich sage Dir: Wenn die Menschen erst einmal mit klaren Blicken in dem großen Evangelium der Natur zu lesen vermögen, ist für sie der Morgen einer glücklicheren Zukunft angebrochen. [...] die Zukunft, deren frohe Botschaft wir täglich um uns im Evangelium der Natur, in den siegreich vordringenden Naturwissenschaften lesen!" Heribert Rau: Das Evangelium der Natur. Ein Buch für jedes Haus. Frankfurt/M. 21857, S. 17,631.
Naturwissenschaften als populäres Bildungsgut in der Öffentlichkeit zu vertreten, wurde zu einer selbstgesetzten Aufgabe der freireligiösen Bewegung. Sie wurde von dem nicht unbeträchtlichen Anteil an Wissenschaftlern getragen, die den freireligiösen Gruppen Interesse entgegenbrachten oder sich ihnen anschlössen. Überdies wurde die naturwissenschaftliche Popularisierung von Personen unterstützt, die möglicherweise zuvor keine besondere Neigung zur Naturkunde besessen hatten, jetzt aber die historisch neuartige Chance erkannten, das naturwissenschaftliche Weltbild für freigeistige Aufladungen zu nutzen. Die naturwissenschaftliche Populärbildung konnte vorerst nur über autonome Bildungsanstrengungen verbreitet werden, da Kirche und Staat sowohl gegenüber den Naturwissenschaften als auch gegenüber den Freireligiösen reserviert, wenn nicht sogar feindselig eingestellt blieben. Der Wunsch, die Naturwissenschaften „zum Gemeingut des Volks zu machen" 25 , mußte in eigenen Unternehmungen und Vermittlungsformen aus dem freireligiösen Umfeld heraus betrieben werden. Beispielhaft für diese Bildungsarbeit ist auf deutschkatholischer Seite das Wirken von Roßmäßler und Heribert Rau. Roßmäßler, das hat die biographische Skizze im Zusammenhang mit den Humboldt-Vereinen zunächst ausgespart, war nicht nur Naturwissenschaftler und liberaler Demokrat, sondern fand auch zu einem freireligiösen Bekenntnis. Schon 1845 hatte sich Roßmäßler den Deutschkatholiken in Dresden angeschlossen und war zum Anhänger Robert Blums geworden.26 Als Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung wandte sich 25 26
Roßmäßler: Der Mensch, III (1851), S. 167. Vgl. Rau: Die Apostelgeschichte, II (1858), S. 451; Kampe: Geschichte, IV (1860), S. 61,88f. Zum folgenden Roßmäßler: Mein Leben (1874), S.110, 112-116, 128ff., 203, 213-215, 382-385; ders.: Gegen „des Hrn. Geheimen Kirchen- und Schulrathes im Königl. sächs. Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts, Dr. Conrad Benjamin Meißners exegetische Beiträge zur Erklärung der Grundrechte des deutschen Volkes über Kirche und Schule". Leipzig 1849; ders.: Denkschrift (1860). Vgl. Ule: Am Grabe (1867), Rossmässler's Ehre (1867), S. 15-17; Rühle: Zur 50jährigen Jubel-Feier (1895), S. 9-25. Zum Datum des Eintritts in die Dres-
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Roßmäßler dann überkonfessionellen Aktivitäten zu.27 Er setzte sich vehement für die Trennung von Kirche und Staat ein und ließ seine beiden ältesten Kinder auf einer jüdischen Schule unterrichten. Bereits kurz nach der Übersiedlung nach Leipzig wurde der in den Ruhestand versetzte Professor zum Vorsteher der dortigen deutschkatholischen Gemeinde gewählt. Das Amt bekleidete Roßmäßler als „Naturforscher der humanen Richtung"28 mit Unterbrechungen bis in das folgende Jahrzehnt. Roßmäßler bestritt, daß der Deutschkatholizismus demagogische Tendenzen verfolge. Als dessen Aufgabe hielt er gleichwohl fest, die Politik mit der „Religion der echten Humanität" zu versöhnen. Die Demokraten forderte Roßmäßler auf, sich entschieden von der Kirche als „Bundesgenossin [...] des Polizeistaates"29 zu distanzieren. In Sachsen waren die Deutschkatholiken 1848 als landeskirchliche Religionsgemeinschaft anerkannt worden, ein Umstand, der Roßmäßler als Gemeindevorsitzenden immer wieder dem Zugriff der staatlichen Aufsichtsbehörden aussetzte.30 1851 wurde Roßmäßler wegen seiner Gedenkrede auf Robert Blum angeklagt und zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt, 1860 erhielt er eine Gefängnisstrafe wegen des Verkaufs einer verbotenen Predigt.31 Die staatlichen Behörden observierten Roßmäßler zwischen 1850 und 1855 mit Hilfe des überregionalen polizeilichen Informationsnetzes,32 zumal für sie der subversive politische Charakter der Deutschkatholiken außer Frage stand. Man verfolgte präzise Roßmäßlers
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dener deutschkatholische Gemeinde siehe Burgemeister: Emil Adolf Roßmäßler (1958), S. 13,Anm. 2. Nach C. Falkenhorst: Emil Adolph Roßmäßler, in: Die Gartenlaube 1906, S. 186£ hier S. 187, begründete Roßmäßler in Frankfurt mit anderen einen Verein zur Ausgleichung der religiösen Bekenntnisse und zur Begründung eines Humanitätsbundes. Roßmäßler: Mein Leben (1874), S.215. Zur deutschkatholischen Gemeinde Stadtarchiv Leipzig, cap. 42 D Nr. 1, Bd. 1, und vor allem Bd. 2 mit zahlreichen Schreiben Roßmäßlers, der den Stadtrat am 9.7.1850 über seine erstmalige Wahl zum Gemeindevorsitzenden zu Pfingsten informierte; Bd. 3 weist starke Lücken auf. Roßmäßler: Die Demokraten (1850), S. 547,545. Vgl. Roßmäßler: Denkschrift (1860), in der er zu den staatlichen Maßnahmen gegen den deutschkatholischen Prediger seiner Gemeinde Stellung bezieht. Es handelte sich um Karl Schräders Text über die Reformationspflicht des neunzehnten Jahrhunderts. Im gleichen Jahr stellte die Königliche Kreis-Direktion ein Verfahren wegen unwahrer Beschuldigung der Staatsregierung in Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um den Prediger Dr. Beyer ein, nachdem Roßmäßler seine umstrittenen, kritischen Behauptungen mit Bedauern zurückgezogen hatte. Hierzu Stadtarchiv Leipzig, Rep. I, Nr. 15259°, fol. 114-118, 126v-127, 154-161; Stadtarchiv Leipzig, Amtsgericht Leipzig, Nr. 898; Staatsarchiv Dresen, Mdl Polit. Polizei-Angelegenheiten, Nr. 10971, fol. 233-245. Vgl. hierzu Siemann: Gesellschaft (1990), S. 44-65,155; ders. (Hg.): Der .Polizeiverein' deutscher Staaten. Eine Dokumentation zur Überwachung der Öffent-
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Vortragsreisen, deren Itinerar nicht nur an naturkundlichen Vereinen, sondern auch an freireligiösen Gemeinden ausgerichtet war. In Magdeburg traf Roßmäßler den freiprotestantischen Pionier Uhlich, in Mainz stand er in enger Verbindung mit Christian Scholz, dem Mitbegründer der dortigen deutschkatholischen Gemeinde.33 Offensichtlich unterschätzten die Polizeibehörden die politischen Aussagen, die Roßmäßler in erstaunlich offener Weise in seine naturkundlichen Schriften - insbesondere in sein Werk Der Mensch im Spiegel der Natur einfließen ließ. Die naturkundlichen Themen wurden als Vorwand politischer Agitation gedeutet, boten aber nicht genügend Anlaß zur Verhaftung. Statt dessen wurde Roßmäßler mehrfach aus den Vortragsstädten ausgewiesen.34 In Leipzig selbst ließ er die Einkünfte aus seinen Vorträgen der deutschkatholischen Gemeinde zukommen. Für sein Blatt Aus der Heimath gewann Roßmäßler außerdem Freireligiöse als Autoren, darunter Rudolf Bensey und Otto Dammer.35 Kein anderer hat nach 1849 derart vehement dafür gestritten, die „herrliche Naturwissenschaft von dem pfäffischen Vorwurfe der Gottlosigkeit zu reinigen"36 und auf sie die echte Sittlichkeit „frei von kirchlichem Zwang, wie von atheistischer Vernunftnöthigung"37 zu gründen. Roßmäßler wollte die Vernunft-Religion in eine „natürliche Weltanschauung"38 überführen und prägte damit das Schlagwort populärwissenschaftlicher Programmatik schlechthin. Dieses Anliegen motivierte auch seine Konzeption der Humboldt-Vereine und seinen Zugang zur Arbeiterbewe-
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lichkeit nach der Revolution von 1848/49. Tübingen 1983; ders.: „Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung". Die Anfänge der politischen Polizei 1806-1866. Tübingen 1985. Zum Deutschkatholizismus am Oberrhein als Gruppenbildung der religiös Distanzierten, weniger als politische Protestbewegung, siehe Holzem: Kirchenrefrom (1994); Roßmäßlers Wirken bleibt hier unberücksichtigt. Landeshauptarchiv Magdeburg, Rep. C 20 Ia, Nr. 716, fol. 70-74; Staatsarchiv Dresden, Mdl Polit. Polizei-Angelegenheiten, Nr. 10971, fol. 240v. Die verschiedenen Anklagen gegen Roßmäßler führten zu mehreren Gefängnisstrafen. Roßmäßler war vom 9.8. bis 5.9.1852,17.10.-27.11.1853 und 19.9.-10.10.1863 inhaftiert, hierzu Staatsarchiv Dresden, Mdl Polit. Polizei-Angelegenheiten, Nr. 10971, fol. 233-245. Vgl. schon R. Bensey: Die Handwerkervereine und ihre Stellung zum reinen Menschenthum, in: Kirchliche Reform (1847), S. 15-23, mit Gedanken zu Geselligkeitsstreben und Bildungsaktivitäten, die an die späteren Humboldt-Vereine erinnern. Roßmäßler: Der Mensch, I (1850), S. 60. Roßmäßler: Der Mensch, III (1851), S. 70. Roßmäßler: Mein Leben (1874), S. 127,154, 203, 215. Vgl. ders.: Eine Naturpredigt (1851), sowie die Kritik an Roßmäßlers Neigung, die Natur als Moralgesetzbuch zu präsentieren, in: Neue Reform (1851), S. 220-225; Burgemeister: Emil Adolf Roßmäßler (1958), S. 57-64.
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gung.39 Ausdrücklich fand Roßmäßlers Der Mensch im Spiegel der Natur den Beifall von Gustav Adolf Wislicenus, der die „natürlich-humane Anschauung" 40 lobte. Anders als Roßmäßler widmete sich Heribert Rau den Naturwissenschaften erst nach seiner Hinwendung zur freireligiösen Bewegung und fast ausschließlich in seiner Funktion als deren Gemeinderepräsentant eine signifikante Überlagerung von naturwissenschaftlichem und freireligiösem Selbstverständnis. Rau schloß sich im Zuge der Rongeschen Protestbewegung den Deutschkatholiken seiner Heimatstadt Frankfurt am Main an, verließ das Kaufmannsgewerbe, begann Studien an der Heidelberger Universität und wirkte fortan als deutschkatholischer Prediger, zunächst in Stuttgart, dann in Mannheim. Nach Querelen um seine Predigerstelle kehrte Rau 1856 nach Frankfurt zurück und wandte sich der kulturhistorischen Schriftstellerei zu.41 1868 übernahm Rau nochmals eine Predigerstelle der Deutschkatholiken in Offenbach, wo er erneut naturwissenschaftliche Vorträge hielt. Überregional bekannt wurde Rau durch sein Evangelium der Natur als Buch für jedes Haus (1853,81897). Ähnlich wie Roßmäßler in Der Mensch im Spiegel der Natur präsentierte Rau ein weites Spektrum naturkundlicher Themen in Form von belehrenden Wanderungen, Gesprächen und Freundestreffen. Die Sakralisierung der Natur trieb Rau auf die Spitze. Die Natur wurde als „Dom", „Hochaltar" und „Evangelium" 42 beschworen. Der naturwissenschaftliche Lehrer mutierte zum christusähnlichen Verkünder des „gesunden Geistesstaat[s]", welcher analog zum Pflanzenstaat alle „bürgerlichen Tugenden" 43 verkörpere. Die lernbegierigen Jünger repräsentierten in der literarischen Verarbeitung verschiedene Stände, Altersgruppen und Charaktere. Das Naturstudium wurde für sie zur Initiation von kathartischer Wirkung. Es gab den Weg vor zu „besseren, edleren, glücklicheren Menschen" 44 , die der Blick durch das Mikroskop ebenso erleuchtete wie die Betrachtung des Sternenhimmels. Vergleicht man die Sti39
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Roßmäßler bei der Arbeiterversammlung im Odeon in Leipzig am 18.11.1862, abgedruckt bei Na'aman: Die Konstituierung (1975), S. 343-346, hier S. 344. G. A. Wislicenus [Rezension zu]: Der Mensch im Spiegel der Natur. Ein Volksbuch von E. A. Roßmäßler [...], in: Der Leuchtthurm 5 (1850), S. 803f., hier 804. Von kleineren Schriften und Broschüren abgesehen, legte Rau insgesamt 48 Werke in 103 Bänden vor, von denen zwar die wenigsten den Naturwissenschaften gewidmet waren, das Evangelium der Natur aber die größte Bekanntheit erlangte. Rau: Das Evangelium ( 2 1857), S. 78,297,12,111,224 et passim. Ebenda, S. 739,327. Ebenda, S. 111. Vgl. Rau: Natur (1856) mit seiner schwärmerischen Naturlyrik, die z.T. aus dem Evangelium der Natur übernommen wurde. Um die Jahrhundertwende erlebte Raus Evangelium eine erneute Wertschätzung und wurde als erstes volkstümlich-naturwissenschaftliches Werk in Deutschland gelobt, siehe Natur 4 (1913), S.45* und Francé: Der Weg (1927), S. 151f.
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lisierung des Naturforschers zum Verkünder bei Rau mit zeitgenössischen Berichten über naturkundliche Vorträge und deren Zuhörer, so finden sich dort ähnliche Perzeptionen. 45 Während Roßmäßler einen empirisch-wissenschaftlichen Zugriff auf die naturkundlichen Themen bewahrte, zeigten Raus naturkundliche Werke einen eher schwärmerisch-predigerhaften Zug. Gemeinsam war beiden die Verehrung, die sie Alexander von Humboldt und dessen Kosmos zuteil werden ließen. Wieder wurde der Universalgelehrte zur zentralen Referenzfigur für die naturkundliche Bildungsarbeit stilisiert.46 Roßmäßler und Rau waren in der freireligiösen Bewegung die prominentesten Repräsentanten der naturwissenschaftlichen Aufklärungsoffensive, aber sie waren keineswegs Einzelfälle. Auf deutschkatholischer Seite wirkten z.B. der Botaniker Nees von Esenbeck und der Chemiker Otto Dammer. Esenbeck besaß als Präsident der Leopoldina erhebliches Prestige und wurde in die Preußische Nationalversammlung gewählt. Er war in Breslau vor allem um die Öffnung der demokratisch-liberalen Kräfte hin zur Arbeiterbewegung bemüht und stand im Herbst 1848 sogar dem Berliner Arbeiterkongreß vor. Sein pantheistisch-sozialistischer Weltentwurf stieß allerdings bei den Arbeitern und in der demokratischen Bewegung auf Vorbehalte. Esenbecks Allgemeine Formenlehre der Natur gab Roßmäßler posthum neu heraus. 47 Dammers populär-naturkundliches Engagement ist weitgehend von seiner Tätigkeit als Vizepräsident des ADAV überdeckt worden. Dammer verfaßte nach seinem Rückzug aus der Politik ein Anleitungsbuch für Amateurwissenschaftler, bearbeitete Roßmäßlers Monographie Das Wasser neu und wurde 1887 Herausgeber der Zeitschrift Humboldt48
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Exemplarisch zu den Vorträgen Roßmäßlers in Magdeburg 1851 die Blätter für Handel, Gewerbe und sociales Leben. Beiblatt zur Magdeburgischen Zeitung, Nr. 8 v. 24.2.1851, S.61f. Zu Roßmäßlers Humboldt-Verehrung siehe Kapitel III.3, zu Rau siehe Rau: Alexander von Humboldt, V (1860), S. 221-254 (mit der Stilisierung Humboldts zum Gründervater der Popularisierung) und VII (1860), S. 103ff. zum KosmosWerk; ders.: Die Apostelgeschichte II (1858). S.451. Vgl. Baltzer: Neue und Alte Welt-Anschauung, I (1850), S. 26; Die Freireligiöse Bewegung (1959), S. 40£ Vgl. Nees von Esenbeck: Die Offenbarung (1852); ders.: Die Allgemeine Formenlehre (21861) mit einem Vorwort von Roßmäßler; Leesch: Die Geschichte (1938/1982), S. 45-84; Kolbe: Demokratische Opposition (1964), S. 87ff.; Graf: Die Politisierung (1978), S. 79-84,156-160. Dammer (Hg.): Der Naturfreund (1885). Vgl. Kolbe: Demokratische Opposition (1964), S. 180; Na'aman: Otto Dammer (1973), der allerdings die populärwissenschaftlichen Aktivitäten unerwähnt läßt; ders.: Die Konstituierung (1975), ausführlich zur Rolle Dammers und Roßmäßlers im Vorfeld der Gründung des ADAV. Dammers Sohn Udo (1860-1919) wurde später Kustos am Botanischen Garten in Berlin und verfaßte Botanisicrbüchcr.
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IV. Organisierte Weltanschauung
Zu den Lichtfreunden zählten der Verleger Gustav Schwetschke und Otto Ule in Halle. Ule war neben Karl Müller und Roßmäßler (bis 1854) Redakteur von Die Natur und wirkte, wie bereits ausgeführt, in der Humboldtbewegung mit. Er stand als „Volksnaturforscher" 49 in der ersten Reihe populärwissenschaftlicher Autoren in Deutschland. Während der Reaktionszeit galt Ule ebenso wie Roßmäßler den staatlichen Behörden als Mitglied der Umsturzpartei. 50 Ähnlich wie Heribert Rau predigte der protestantische Theologe Eduard Baltzer in der Nordhausener freireligiösen Gemeinde die Apotheose von Natur und Wissenschaft.51 1848 gehörte Baltzer dem Frankfurter Vorparlament und der Preußischen Nationalversammlung an, 1859 wurde er erster Präsident des Bundes Freireligiöser Gemeinden. Baltzers Propagierung des Vegetarismus seit 1866 und die Aktivitäten des Vereins für natürliche Lebensweise, den er 1867 mit vier anderen Lichtfreunden ins Leben rief,52 spiegelten die eigentümliche Projektion säkular-freiprotestantischer Heilserwartung auf die ,vernünftige', natürliche Lebensordnung. Diese Heilserwartung sollte den freigeistigen Aufbruch der Jahrhundertmitte mit der der Lebensreformbewegung des Jahrhundertendes verbinden, in der Baltzers Ideen wieder aufgegriffen wurden. 53 Aus dem freireligiösen Milieu erwuchs mithin ein erheblicher Teil jener Personengruppe, die in Deutschland die populärwissenschaftliche Bildungsbewegung begründete. Wie die Beispiele zeigen, entstammten viele ihrer Vertreter den Wissenschaftslandschaften um Halle, Leipzig und Dresden sowie dem Rhein-Main-Gebiet. Ihr spätaufklärerisch-rationalistisches Gepräge verdankten sie ebenso der Hallischen Theologie54 wie der deutschkatholischen Empfänglichkeit für die Humboldtsche Vorstellung 49 50
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[Roßmäßler:] Otto Ule (1858). Ebenda; Isis 1 (1876), S.88f.; Müller: Otto Ule (1876); Archiv der Leopoldina, Halle, M Nr. 1792 u. Sektio IX, No. 3m (Ule wurde 1857 in die Akademie aufgegommen); Briefe Ules an Mommsen 26.2.1863-10.3.1866 über die liberalen Parteiaktivitäten in Halle (SB Berlin, Haus 1, Nachlaß Theodor Mommsen); Wochenbericht aus Berlin 26.2.1857 (Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 146 alt, Bü 1965 I). Vgl. Ed. Baltzer: Das Weltall und der Glaube, in: Kirchliche Reform (1846), S. 9-28; zur Idealisierung von Natur und Wissenschaft vor allem Baltzer: Alte und neue Welt-Anschauung, II (1851), S. 134-146 und IV (1859), S. 168-174. Zu Baltzers Popularisierung der vegetarischen Lebensweise exemplarisch Baltzer: Die natürliche Lebensweise (1882), eine Sammlung von vier zentralen Programmschriften. 1869 umbenannt in Deutscher Verein für naturgemäße Lebensweise (Vegetarianer). Zur Geschichte des Vegetarismus siehe Krabbe: Gesellschaftsveränderung (1974), S. 50-77, zu Baltzer hier S. 56-58, sowie Teuteberg: Zur Sozialgeschichte (1994), S. 47ff. Daß z.B. die Zeitschrift Die Natur „in einem ethischen Geiste" geführt wurde, hat der Herausgeber Müller darauf zurückgeführt, daß sowohl er als auch Otto
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einer organisch-harmonischen Welteinheit. Diese ideologischen Äquivalenzrelationen bargen stets die Tendenz in sich, die Beschäftigung mit der Natur zur ersatzreligiösen Weltanschauung zu stilisieren. Säkularisierung des Weltverständnisses und neue Sakralisierung der Natur gingen Hand in Hand. 55 Die Natur als „menschliche Gesammtheimat", so Roßmäßler rückblickend, habe er gegen das kirchliche ,Ganze' anbieten wollen „nicht um jenem unmittelbar Etwas gegenüber zu stellen, sondern um Denen, welche Jenes verloren hatten und in deren Bewußtsein eine klaffende Leere lag, Ersatz zu bieten; Denen aber, welche diesen Verlust nicht erfahren hatten, Versöhnung zwischen Diesseits und Jenseits zu verschaffen." 56 Die Versöhnung von Diesseits und Jenseits, von Mensch und Gott, positivem Wissen und metaphysischem Deutungsbedarf war für die freireligiösen Naturwissenschaftler nur in der Natur selbst zu finden. „Gottesdienst im Freien" lautete die Überschrift zu einem Gedicht in der Zeitschrift Neue Reform ein Jahr nach dem Ende der Revolution. 57 Der Text ließ keinen Zweifel daran, wo der Sinnbedarf befriedigt werden konnte: „Der Gottheit hehren Stempel / Trägt überall Natur./ Ich baue meinen Tempel / Auf Höh'n und freier Flur./ Es wölbt der blaue Himmel / Als Dom sich hoch empor,/ Der Vögel bunt Gewimmel, / Das ist der Sänger Chor./ Was Kirch' und Pfarr'?! Ihr stillet / Mir nicht den durst'gen Sinn; / Was mir den Busen füllet, / Ist auch ein Andachtsglüh'n./ Drum weiter, immer weiter, / Ich grüße Dich, Natur,/ Du rechte Himmelsleiter, / Du heil'ge Gottesspur!"
Man kann vor diesem Hintergrund von einer naturwissenschaftlich-freireligiösen Deutungskultur sprechen, die sich in den Jahren der Revolution verdichtete und einen nachhaltigen Popularisierungswillen ausbildete. Sie wurde mehr gefördert als behindert durch die Heterogenität des freireligiösen Gedankenagglomerats. Wenn sich dieses als „große gährende Masse" darbot, in der „Rationalismus, Radicalismus bis zu Feuerbach, Conservatismus, Socialismus, Mystik, Politik, Klarheit und Dunkel, Wissenschaft, Glaube, Kirche, Nichtkirche" 58 vermischt waren, dann fiel es nicht schwer, die Naturwissenschaften als zusätzliches Ingredienz beizumischen. Ein solchermaßen schillerndes Erbe wurde von der nachfolgenden Generation um so bereitwilliger aufgenommen, als sich deren Weltanschauungsbedarf eher noch vergrößerte, als daß er geringer wurde.
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Ule eine spätaufklärerisch-theologische Sozialisation in Halle erlebt hatten; siehe Müller: Otto Ule (1876), S. 416 und allgemein Rosenberg: Geistige und politische Strömungen (1972), S. 51-68; Schmiedecke: Die Revolution (1932). Vgl. in Zusammenhang mit der Jahrhundertwende Nowak: Geschichte (1995), S. 184. Roßmäßler: Mein Leben (1874), S. 194. Neue Reform (1850), Sp. 397f. Wislicenus im September 1847, zitiert nach Kampe: Geschichte, III (1856), S. 20.
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IV. Organisierte Weltanschauung
2. Die Weltanschauungsvereine „Unsere Zeit ist mehr denn je eine Zeit des Kampfes um die Weltanschauung." Eberhard Dennert: Die Naturwissenschaft und der Kampf um die Weltanschauung. [...] Hamburg 1908, S. 3. „Aber praktisch heißt das Ziel des Kampfes zunächst: Aufklärung! Immer wieder durch Arbeit und Organisation Schriften verbreiten, durch die ein Erdbeben der starren Anschauungen in den Köpfen der Menge vorbereitet wird." Otto Lehmann-Rußbüldt: Der Keplerbund (Ein Husarenritt), in: Neue Weltanschauung 4 (1911), S. 328-331, hier S. 331.
a) Von d e n Materialisten zur ethischen Aufklärung Staatliche Maßnahmen drängten in den 1850er Jahren vor allem in Preußen und Bayern das freireligiöse Bekenntnis zurück. In den Vordergrund der öffentlichen Diskussion rückten für einige Zeit die sogenannten Materialisten Ludwig Büchner, Jacob Moleschott und Karl Vogt. Sie gingen noch weiter als die freireligiösen Naturforscher und sprengten radikal die Grenzen christlichen und idealistischen Denkens. 1 Der Materialismus zog vehement gegen die etablierten Kirchen und die wissenschaftliche Orthodoxie ins Feld. Er verwarf die klassische Naturphilosophie, jegliche metaphysische Begründung natürlicher Erscheinungen und eine Gottesvorstellung. Statt dessen wurde dem naturwissenschaftlichen, das hieß: rein mechanistischen, Denken innerhalb materieller Zusammenhänge uneingeschränkte Erklärungsmacht zugebilligt. Die Materialisten interpretierten geistige und seelische Äußerungen als Funktionen physischer Vorgänge, zumindest postulierten sie eine unauflösbare Verbindung beider Bereiche. Damit wandte sich der populärphilosophische Materialismus gegen den Schöpfungsglauben, gegen die Vorstellung einer immateriellen Seele und eines Lebens außerhalb körperlicher Zusammenhänge. Das atheistische Bekenntnis der Materialisten, das die „negative Bindung an die Theologie" 2 der frühneuzeitlichen Freidenkertraditionen in Deutschland fortsetzte, unterschied sich dabei sowohl vom Agnostizismus führender universitärer Naturwissenschaftler, als auch von den freire-
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Vgl. Lübbe: Politische Philosophie (1963/1974), S. 124ff., Degen: Vor hundert Jahren (1954), Wittich (Hg.): Vogt (1971), Gregory: Scientific Materialism (1977), Werner: Einflüsse (1987). Reiner Wild: Freidenker in Deutschland, in: Zeitschrift für historische Forschung 6 (1979), S. 253-285, hier S. 259.
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ligiösen Positionen.3 Unzweifelhaft bezogen sie auch Position gegen die konservative Staatslehre, wie sie Friedrich Julius Stahl vertrat. 4 Die Materialisten besetzten nahezu alle vorderen Plätze auf der Agenda weltanschaulicher Fragen. Spätestens mit ihren polemischen Streitschriften, die im Kapitel V.4.b) vorgestellt werden, und mit den Gegenpolemiken, die diese Texte provozierten, war klar, daß jede naturwissenschaftliche Argumentation im öffentlichen Raum zur Weltanschauungsdiskussion werden konnte. Die „polemische Realienkunde" des Materialismus blieb zweifellos philosophisch dürftig. Zugleich war sie, wie Hermann Lübbe pointiert hat, als offensive Spitze naturwissenschaftlicher Aufklärung „in einem geistesgeschichtlichen Sinne notwendig"; die klassische deutsche Philosophie konnte das elementare Bedürfnis, die moderne Naturwissenschaft zu interpretieren und deren Erkenntnisse in das allgemeine Bildungsbewußtsein zu integrieren, nicht mehr befriedigen. 5 Die Separierung materialistisch-freigeistigen Denkens von den dominanten staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen wurde 1881 in der Gründung des Deutschen Freidenkerbundes in Frankfurt am Main deutlich. Bereits 1880 war der Internationale Freidenkerbund ins Leben gerufen worden. Mit Ludwig Büchner und Arnold Dodel präsidierten bis 1901 zwei Naturwissenschaftler den deutschen Freidenkern. Vor dem Ersten Weltkrieg gehörten dem Deutschen Freidenkerbund 1000 Einzelmitglieder und 61 Organisationen mit ca. 5 000 Personen an.6 Zu den führenden Kräften des Bundes zählten der naturwissenschaftliche Schriftsteller August Specht und die beiden literarisch-naturwissenschaftlichen Multitalente Wilhelm Bölsche und Bruno Wille.7 Wille schlug zudem - für viele Freidenker nicht selbstverständlich - eine Brücke zur freireligiösen Bewegung. Er hatte noch das Begräbnis Uhlichs in Magdeburg erlebt, begann zunächst ein Theologiestudium und arbeitete später als Jugendlehrer der Berliner freireligiösen Gemeinde. 8
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Diese Unterschiede werden von der Forschung eher verwischt. So charakterisiert Kelly: The Descent (1981), S. 18 Roßmäßler pauschal als Materialisten; ähnlich Bauer: Bürgerwege (1991), S. 72-81. Dagegen kann z.B. die Kritik aus freireligiösen Kreisen am Materialismus bei Baltzer: Die neuen Fatalisten (1859) und in den Schriften des Hallischen Naturforschers Karl Müller genannt werden. Werner: Einflüsse (1987), S.169f. Vgl. Schreiner: Der Fall Büchner (1977), S. 319-331 und Junker: Darwinismus (1995). So zutreffend Lübbe: Politische Philosophie (1963/74), S. 128-132, die angeführten Zitate S. 131,130. Henning (Hg.): Handbuch (1914), S.71. Vgl. Wille: Aus Traum u. Kampf (1920), S.24ff. Wille redigierte das Bundesorgan Der Freidenker. Wille: Aus Traum u. Kampf (1920), S. 7,12f., 27; Henning (Hg.): Handbuch (1914), S. 129f. auch zu den staatlichen Maßnahmen gegen Willes Tätigkeit.
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Stark vereinfacht ausgedrückt, folgten auf die freireligiöse und atheistisch-materialistische Mobilisierung eine ethische und eine monistische Welle.9 Beide wiesen eine ähnliche Diskrepanz zwischen quasi universalem Weltdeutungs- und Weltverbesserertum einerseits und sozialer bzw. politischer Isolation andererseits auf. Man hat in diesem Zusammenhang zu Recht vom ,,geistige[n] Auszug" der weltanschaulichen Vereine materialistisch-positivistischer Reformvernunft aus dem Staat gesprochen. Bis zum Ersten Weltkrieg verschärfte sich die „Entfremdung zwischen dem emanzipierten Fortschrittsbewußtsein öffentlich interessierter Bürger positiv-wissenschaftlicher Bildung" und dem Staat, der seine Herrschaft auf ideologische Traditionen und Überzeugungen stützte, die „historisch allzu weit hinter die Aufklärungswirklichkeit jener bürgerlichen Gesellschaft" zurückreichte, die seine materielle Substanz war.10 Dieser Zwiespalt wurde von den Zeitgenossen auch als Dualismus zwischen dem hochentwickelten wissenschaftlichen Naturerkennen und dem gesellschaftlich-moralischen Zustand der Gesellschaft begriffen. So sah es zumindest eine Gruppe bürgerlicher Intellektueller in Berlin, die im Oktober 1892 die Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur (im folgenden: DGEK) gründete. 11 Als Vorbild der DGEK diente die Society for Ethical Culture, die 1876 in New York von Felix Adler gegründet worden war. Treibende Kraft in Deutschland war der Urania-Begründer Wilhelm Foerster. Er hatte in seinem Elternhaus ein halbes Jahrhundert zuvor die Hinwendung zur freireligiösen Bewegung erlebt.12 Neben ihm wirkten sein Sohn Friedrich Wilhelm Foerster, Georg von Gizycki, Friedrich Jodl und Ferdinand Tönnies bei der Gründung der DGEK mit. Die DGEK zielte auf die Erneuerung der Sittlichkeit und auf eine ethische Kultur aus „Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit, Menschlichkeit und gegenseitiger Achtung" 13 . Mit den freigeistigen Weltanschauungsvereinen 9
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Die Formulierung nach: Die Freireligiöse Bewegung (o.J./1959), S. 276. Die Metapher darf nicht über die vielen Kontinuitätslinien freigeistigen Denkens zwischen 1859 und 1914 hinwegtäuschen. Lübbe: Politische Philosophie (1963/1974), S.144. Ähnlich wie Lübbe betont auch Hillermann: Der vereinsmäßige Zusammenschluß (1976), S. 6 et passim die desintegrierte Stellung des Monismus zu Staat und Gesellschaft, führt diese allerdings einseitig auf die negativen Erfahrungen mit Interventionen kirchlicher, theologischer und staatlicher Orthodoxie zurück. Eine knappe Skizze bietet Gerhard Müller im Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789-1945), Bd. 3, Leipzig 1985, S. 39-41. Foerster: Lebenserinnerungen (1911), S. 12-14. Foersters Vater war Anhänger der Lichtfreunde und sympathisierte mit den Deutschkatholiken. Er beherbergte Johannes Ronge im eigenen Haus in Grünberg/Schlesien, wo Ronge eine deutschkatholische Gemeinde gründete. So der § 1 der Satzungsparagraphen, zitiert nach Henning (Hg.): Handbuch (1914), S. 35.
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teilte die DGEK die Kritik an den alten Autoritäten und an der „dauernden Anknüpfung der Normen sittlicher Kultur an eine Gesetzgebung von oben"14. Grund zu verschärfter Kritik in diesem Sinne hatte 1892 der konservative Volksschulgesetzentwurf des preußischen Kultusministers von Zedlitz-Trützschler gegeben, der den kirchlichen Einfluß auf das Schulwesen stärken wollte. Heftige Proteste innerhalb wie außerhalb des Parlaments waren die Folge, und die DGEK bildete einen gewichtigen Teil dieser Protestbewegung.15 Die Trennung von Staat und Kirche, Kirche und Schule zu fordern und einen unabhängigen Moralunterricht im öffentlichen Erziehungswesen zur „Grundlage einer umfassenden sittlichen Gemeinschaftsbildung"16 zu machen, stand im Zentrum des Programms der DGEK. Damit war zugleich der gemeinsame Nenner aller nichtreligiösen Weltanschauungsvereine bezeichnet. Gleichwohl präsentierte sich die DGEK moderater im Ton als die Freidenker, areligiös, aber nicht so polemisch antireligiös wie die Materialisten. Anders als die späteren Monisten war die DGEK nicht an eine spezifische wissenschaftliche Weltsicht gebunden. Foerster hielt auf einer der ersten Versammlungen 1892 dem Besucher Ernst Haeckel entgegen, daß „die Pflege des wahrhaft Gemeinsamen nicht in der Kultivierung einer Einheitlichkeit der Weltanschauung bestehe".17 Trotzdem blieb Foerster an Haeckels Urteil interessiert und lud ihn auch zur Eisenacher Versammlung der DGEK 1893 ein.18 Inhaltlich distanzierte sich die DGEK von den eifernden naturwissenschaftlichen Absolutheitsansprüchen eines Büchner und Haeckel. Der ideell engagierte, im wissenschaftlichen Urteil indes höchst nüchterne Wilhelm Foerster warnte vor den Überhebungen einer erfolgstrunkenen Naturwissenschaft, welche die menschliche Seele den rein materiellen Natur- und Triebgesetzen unterordne. Ausdrücklich lehnte er die „Verallgemeinerungen gewisser biologischer Hypothesen über den
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Foerster: Die ethische Bewegung (1903), S. 13. Vgl. Stenographische Berichte [...] Haus der Abgeordneten (1892), S. 89-241. Bereits hier, S. 142 u. 198f., wurde die Schuldebatte als Teil eines umfassenderen „Kulturkampf[es]" bzw. des ,,Kampf[es] zwischen zwei Weltanschauungen" gedeutet. In diesem Sinne auch die heftige Kritik von Haeckel: Ueber vernünftige Weltanschauung (1892/1902), S. 329-333 an der Regierung Caprivi und dem Schulgesetzentwurf, den Haeckel als Schritt zur neuen Gegen-Reformation bewertete. Vgl. Foerster: Lebenserinnerungen (1911), S. 225£ Leitsätze der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur, zitiert nach Henning (Hg.): Handbuch (1914), S. 38. Foerster: Lebenserinnerungen (1911), S.229f. Vgl. F. Jodl an Bartholomäus von Carneri vom 12.1.1896, in: Jodl (Hg.): Bartholomäus von Carneri's Briefwechsel (1922), S. 120; Foerster an Haeckel 19.9.1893 (EHH Jena). Siehe umgekehrt Haeckel: Ueber vernünftige Weltanschauung (1892/1902), S.348f.
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Kampf ums Dasein" 19 , d.h. sozialdarwinistische, rassentheoretische und imperialistische Theorien, ab. Über die Fortentwicklung reformerischer Ideen hinaus liegt die Bedeutung der D G E K für die Geschichte der weltanschaulichen Vereinigungen in Deutschland auch darin, daß die Gesellschaft musterhaft die Möglichkeiten einer vereinsmäßigen Öffentlichkeitsarbeit entwickelte. Dazu gehörten die Förderung von städtischen Zweigvereinen, die publizistische Artikulation über eine eigene Zeitschrift (Ethische Kultur), die Herausgabe von Flugblättern, die Begründung von Auskunfts- und Lesestellen, die Förderung des Laienelements durch die Stärkung des Elterneinflusses im Erziehungswesen 20 und die Organisation von Vorträgen, Diskussionen und Wanderrednern. Diese Mittel sollten dazu beitragen, auf weiteste Volkskreise einzuwirken, um die ethische Weltanschauung „populär zu machen" 21 .
b) Die monistische Mobilisierung 1900-1909 Die Jahre 1900 und 1901 bewirkten einen nochmaligen Organisationsschub im weltanschaulichen Vereinsspektrum. In rascher Folge wurden neue Vereine gegründet. Die umstrittene Lex Heinze als Versuch, die künstlerische Freiheit im Reich unter sittlichem Vorwand einzuschränken, gab 1900 den Anstoß zur Gründung des Goethebundes. Er verschrieb sich der „Förderung des Wesens der Kunst und Wissenschaft und ihrer Bedeutung für das gesamte Volksleben" 22 . Dem Bund gehörten Gruppen in diversen deutschen Städten an, ohne daß er einen festen Platz in der Öffentlichkeit erlangte. Im Februar des gleichen Jahres hatte in Berlin eine Gedenkfeier zum dreihundertsten Todestag des als Ketzer verbrannten Naturphilosophen Giordano Bruno stattgefunden. Daraus entstand der Giordano-BrunoBund unter dem Vorsitz Bruno Willes.23 Neben ihm bildeten zunächst Wilhelm Bölsche sowie der spätere Begründer der anthroposophischen Bewegung Rudolf Steiner, der Dramaturg Max Martersteig, Rudolph Penzig
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Foerster: Die ethische Bewegung (1903), S. 15-24, Zitat ebenda, S.22. Das Diktum zielte nicht zuletzt auf Houston Stewart Chamberlain, den Foerster als „Apostel des Rassendünkels" (S. 23) kritisierte. Foerster: Die Begründung (1892), S. 16f. Jodl: Ueber das Wesen (1895), S. 8; siehe F. Jodl an B. von Carneri vom 12.1.1896, in: Jodl (Hg.): Bartholomäus von Carneri's Briefwechsel (1922), S. 120. Zitiert nach Henning (Hg.): Handbuch (1914), S. 14. Hierzu Wille: Materie (1901), Kirchbach: Ziele (1905), Wille: Aus Traum u. Kampf (1920), Berentsen: Vom Urnebel (1986), S. 128ff.
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von der DGEK und die Schriftstellerin Martha Asmus den Leitungsausschuß. Gegen alle dualistischen Erkenntnissysteme erhob der Giordano-Bruno-Bund satzungsgemäß zum obersten Ziel, eine „einheitliche Weltanschauung" zu fördern und dafür „Naturwissenschaft, Philosophie, Kunst und Andacht harmonisch zusammen[zu]schließen"24. Das war ein deutlicher Schritt weg vom Materialismus Büchnerscher Prägung, den Wille als „materialistischen Brutalismus" 25 kritisierte. Dagegen setzte der Berliner Literat die eigene „idealistische Weltanschauung", die er nicht auf „rationalistischen Volksaufkläricht" 26 beschränkt wissen wollte. Folgerichtig wurde im Giordano-Bruno-Bund die poetische „Pflege der Andacht" aufgewertet. Sie fand einen gleichrangigen Platz neben „Vorträgen populärer Art" 27 , die etwa neunmal im Jahr im Berliner Rathaus stattfanden, neben öffentlichen Diskussionen und Stellungnahmen zu den geistigen Kämpfen der Zeit. Die analytisch-mechanistische Sicht der früheren materialistischen Naturwissenschaftler trat im Giordano-Bruno-Bund ganz in den Hintergrund. An ihre Stelle wurde eine naturkundliche Belehrung gesetzt, die sich mit seelischer Erbauung und künstlerischer Muße paaren sollte. Die Vorliebe für Nietzsche und die Abneigung gegen das Philistertum der etablierten Bildungsbürger bestärkten die Anhänger des Bundes darin, sich nicht allein auf traditionelle Bildungsmethoden zu beschränken. Ernste Erörterungen wurden durch „die Anmut" - ein Topos, den bereits Roßmäßler bemüht hatte - und einen „philosophisch-sinnigefn] Humor" 28 ergänzt. Selbst Ausflüge in den Berliner Botanischen Garten oder in die Rüdersdorfer Kalkberge standen nunmehr unter dem Zeichen der „wissenschaftlich-sinnigen Naturbetrachtung botanischer, geologischer Momente, unter den Ausblicken, welche die monistischen Tendenzen des Bundes ergaben. Bei solchen Gelegenheiten fanden dann Ansprachen im Walde statt, Schauspielerinnen und Poeten rezitierten im Freien einschlägige Poesien, Andere klärten an Ort und Stelle etwa über die geologischen Verhältnisse auf."29 Die pantheistisch-naturlyrischen, ins Theatralische übergehenden Stimmungen solcher Veranstaltungen entsprachen dem Geschmack der Friedrichshagener Boheme-Dichter Wille und Bölsche, die über bürgerliche und wissenschaftliche Konventionen erhabenen waren.
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Kirchbach: Ziele (1905), S. 23. Wille: Materie (1901), S. 31. Wille: Aus Traum u. Kampf (1920), S. 34. Einige Materialisten traten auch bald aus dem Bund aus. Zitate bei Kirchbach: Ziele (1905), S. 5,4. Ebenda, S. 7; vgl. Roßmäßler: Mein Leben (1874), S. 220. Kirchbach: Ziele (1905), S. 7. Zur Kultpraxis der freireligiösen und -geistigen Bewegung im Überblick Bahn: Deutschkatholiken (1991), S. 255-322.
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IV. Organisierte Weltanschauung
Eine dauerhafte Organisationsstruktur konnte damit nicht gewährleistet werden. Der Giordano-Bruno-Bund blieb nur wenige Jahre am Leben. 30 Ungleich stärkere Breitenwirkung entfaltete der Deutsche Monistenbund, der am 11. Januar 1906 im Zoologischen Museum zu Jena gegründet wurde. Ernst Haeckel übernahm das Ehrenpräsidium und überließ den Vorsitz dem Bremer Pastor Albert Kalthoff. Keineswegs wurde der Monistenbund zur monolithischen Verkörperung der Haeckelschen Weltanschauung.31 Aber er war unbestreitbar vom Jenaer Heros der Entwicklungslehre inspiriert. Seit 1866 hatte Haeckel den Begriff der Naturphilosophie rehabilitiert und gefordert, Philosophie und Naturwissenschaft müßten sich wechselseitig durchdringen. 32 In Absetzung vom bloßen Materialismus und allen spiritualistischen und theologischen Lehren dehnte Haeckel das ,System des Monismus' als einer natürlichen Weltanschauung immer weiter aus. Körper und Geist, Materie und Energie seien nicht zu trennen. Die Entwicklungslehre begründe die Einheit von Mensch und Naturreich. Sie lasse, wie Haeckel pantheistisch formulierte und auf Goethe stützte, das Ineinander von unpersönlicher Gottheit und Welt erkennen. 33 Die moderne Naturwissenschaft bildete nach Haeckel den „Palast der Vernunft" 34 , in dem die klassischen Ideale des Wahren, Guten und Schönen zur „Trinität des Monismus" 35 zusammengefaßt würden. Schon 1868 hatte Haeckel die „einfache Naturreligion" 36 als Kontrapunkt zu den kirchlichen Lehren gesetzt. 1892 definierte er in Altenburg den Monismus als „Band zwischen Religion und Wissenschaft" und als „naturwissenschaftliche [s] Glaubensbekenntniß" 37 . 1899 schließlich propagierte Haeckel in seinem letzten universalen Werk Die Welthrätsel die „monistische Religion" als Ersatz christlicher Lehren und Angebot zur Reformierung des religiösen Lebens.38
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Nach Henning (Hg.): Handbuch (1914), S.25 existierte der Giordano-BrunoBund nicht mehr bei der Konstituierung des Weimarer Kartells in Magdeburg 1909. Vgl. Breitenbach: Die Gründung (1913), Hillermann: Der vereinsmäßige Zusammenschluß (1976), S. 144ff.; Drehsen/Zander: Rationale Weltveränderung (1996) und zu Kalthoff Hübinger: Kulturprotestantismus (1994), S. 67f., 122-126. Vgl. Niewöhner: Zum Begriff (1980) mit Kritik an Hillermanns Deutung, sowie Holt: Ernst Haeckel's Monistic Religion (1971). Vgl. Kapitel V.5.a). In diesem Zusammenhang auch Haeckel an Walther May 18.3.1818 (Archiv des Deutschen Museums, München, Nr. 8124). Haeckel: Die Welträthsel (1899), S. 388. Haeckel: Der Monismus (1892/1902), S. 327. Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868), S. 551. Haeckel: Der Monismus (1892/1902), S. 285; vgl. ders.: Ueber vernünftige Weltanschauung (1892/1902), S. 352-357. Haeckel: Die Welträthsel (1899), S. 381.
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1878 war der Plan zu einem „Cosmologischen Weltbund" in Zürich auf Grundlage der „monistischen Universal-Philosophie" 39 noch gescheitert. Nach 1899 wurden jedoch in Nachfolge der Welträthsel erste Haeckelgemeinden 40 gegründet. Der solchermaßen Geehrte sah sich 1904 veranlaßt, für den Internationalen Freidenker-Kongreß in Rom dreißig Thesen zur Organisation des Monismus vorzulegen. In ihrem praktischen Teil stellten die Thesen die vernunftgemäße Organisation von Staat und Gesellschaft vor. Sie erläuterten die monistische Religion, Ethik, Erziehung und Kultur, nicht ohne auf die Notwendigkeit popularisierender Maßnahmen hinzuweisen. Haeckel schlug außerdem die Gründung eines Monisten-Bundes vor, der die bestehenden freigeistigen und freireligiösen Gemeinschaften aufnehmen sollte.41 Der Anstoß blieb zunächst ohne Wirkung, auch wenn Haeckel selbst die fragwürdige Ehre zuteil wurde, in Rom zum Gegenpapst ausgerufen zu werden. Die Proklamation erfolgte an geschichtsträchtiger Stelle, auf dem Campo dei Fiori, wo Giordano Bruno verbrannt worden war. Eine Vereinigung der Monisten gewann erst Konturen, als sich in Deutschland Freunde und Verehrer Haeckels der Sache annahmen. Eine wichtige Rolle spielten dabei der Zoologe Wilhelm Breitenbach und Heinrich Schmidt, seit 1900 Privatassistent Haeckels in Jena. Der Aufruf zur Gründung eines Deutschen Monistenbundes vom Januar 1906 wurde von 46 Persönlichkeiten aus dem freigeistigen Spektrum unterstützt. Es war eine bunte Gruppierung, aus der nicht wenige schon an vorangegangenen Vereinsbildungen mitgewirkt hatten. Wille und Bölsche, Dodel und Specht gehörten ebenso dazu wie Raoul France, der Rassenhygieniker Wilhelm Schallmayer, die Professoren von Carneri und Plate, Haeckels Nachfolger in Jena, sowie die Münchener Georg Hirth, Franz von Stuck und Johannes Unold. 42 Die Satzungen des Monistenbundes sprachen von der gemeinsamen Verpflichtung auf „eine in sich einheitliche, auf Naturerkenntnis gegründete Welt- und Lebensanschauung" und dem Willen zur „Stellungnahme zu den Kulturfragen des öffentlichen Lebens" 43 mittels Flugschriften, Büchern und Vortragsveranstaltungen. Solche Absichtserklärungen konn39 40
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Wilhelm Breitenbach: Ein Monistenbund - vor 30 Jahren, in: Neue Weltanschauung 1 (1908), S. 126-129. So in Salzburg und Ulm. In Hamburg bildete sich 1903 eine Monistische Gesellschaft. Vgl. Dennert: Die Naturwissenschaft (1908), S. 7f.; Breitenbach: Die Gründung (1913), S. 9; Henning (Hg.): Handbuch (1914), S. 72. Haeckel: Der Monistenbund (1908). Fünf Jahre Deutscher Monistenbund (1911), S. 6f. Die Studie von Wolfgang Mattern: Gründung und erste Entwicklung des Deutschen Monistenbundes. Med. Diss. Göttingen 1983 stellt kaum mehr als eine Kompilation bekannter Informationen dar. So die §§ 1 und 2 der Satzungen, abgedruckt in: Fünf Jahre Deutscher Monistenbund (1911), S. 7.
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IV. Organisierte Weltanschauung
ten aber über divergierende Zielsetzungen innerhalb des Bundes nicht hinwegtäuschen. Breitenbach und Schmidt, der Generalsekretär des Monistenbundes wurde, hatten primär die Verbreitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse vor Augen. Die Gegengruppe um Kalthoff und E. Aigner, dem führenden Münchener Monisten, sah dagegen den Monistenbund als ersatzreligiöse, weltanschauliche Erneuerungsbewegung an; sie bestimmte damit den Weg der folgenden Jahre.44 Mit der Übernahme des Bundesvorsitzes durch den Chemie-Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald 1910/11 rückte dessen energetischer Monismus in den Mittelpunkt der monistischen Programmatik. Ostwald führte alle materiellen und geistigen Vorgänge auf Transformationen von Energie zurück. Die rationelle Verwendung von Energie legte er seiner wissenschaftlich-technokratischen Gesellschaftsvorstellung zugrunde.45 Ostwalds Führung war es zu verdanken, daß der Monistenbund 1911 mit dem ersten internationalen Monistenkongreß in Hamburg breite Beachtung fand. Die regelmäßigen Monistischen Sonntagspredigten Ostwalds und sein Engagement für die Kirchenaustrittsbewegung unterstrichen die Strategie des Monistenbundes, sich als „Ersatz der Kirche auf allen Gebieten durch neue Werte" 46 anzubieten. Daß der Monismus in erster Linie ein Kind der Naturwissenschaft, vor allem der Biologie war, ließ sich nicht leugnen. Aber er wollte, wie Friedrich Jodl eindringlich darlegte, mehr sein als nur die „künstlich zum Rang einer Weltanschauung emporgesteigerte Zoologie"47. Ethische und soziale Aktivitäten sollten die naturwissenschaftliche Aufklärungsarbeit ergänzen und dabei die einschlägigen Mittel moderner Öffentlichkeitsarbeit nutzen. Die Münchener Ortsgruppe des Monistenbundes führte dieses Bemühen um eine breite organisatorische und ideologische Basis beispielhaft vor 48 Sie stellte innerideologische Auseinandersetzungen zwischen sogenannten Psychomonisten, Materialisten und Vitalisten zurück und formierte sich mit drei anderen freigeistigen Gesellschaften 1907 zum Kartell der freiheitlichen Vereine München. Man veranstaltete gemeinsam freie wissenschaftliche Kurse und führte Verleumdungsklagen gegen Presseangrif44 45
46 47 48
Vgl. Hillermann: Der vereinsmäßige Zusammenschluß (1976), S. 149ff. Vgl. Daser: Ostwalds Energetischer Monismus (1980), Hillermann: Der vereinsmäßige Zusammenschluß (1976), S. 214-234 et passim; Chickering: Karl Lamprecht (1993), S. 295-298 et passim; aus zeitgenössischer Sicht kritisch Erdmann: Über den modernen Monismus (1914), S. 328ff. Fünf Jahre Deutscher Monistenbund (1911), S. 13. Jodl: Der Monismus (1911), S. 16. Zum folgenden siehe die Ausführungen in: Fünf Jahre Deutscher Monistenbund (1911). Zu den Mitgliedern des genannten Münchener Kartells gehörten neben der Ortsgruppe des Monistenbundes die örtliche Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur, die Münchener Freireligiöse Gemeinde und der Jungdeutsche Kulturbund.
2. Weltanschauungsvereine
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fe. Die Pressearbeit wurde mit Hilfe von Annoncen forciert. Das Kartell stritt mit dem Erzbischof in öffentlichen Briefen, organisierte Proteste gegen die Beibehaltung der Münchener Konfessionsschulen, gegen den Herrenhaus-Auftritt Reinkes (siehe Abschnitt IV.3.b) und den deutschen Lourdes-Verein. Pläne für einen monistischen Kalender wurden entwickelt, und mit ,Sonntagsfeiern für freie Menschen' sollte ein Ausgleich zur nüchternen wissenschaftlichen Tätigkeit und ein Gottesdienstersatz geschaffen werden. Der monistische Erfindungsreichtum war gewaltig, rein quantitativ blieb der Erfolg jedoch aus. Der Monistenbund stellte vor 1914 nur eine der zahlreichen weltanschaulichen Splittergruppen dar. Nach einer Schätzung lag der Vorkriegsstand bei 6000 Mitglieder, von denen 5250 in 42 Ortsgruppen zusammengeschlossen waren; die stärksten Ortsgruppen befanden sich in Hamburg und München mit 900 bzw. 600 Mitgliedern.49 Nachdem die Richtungskämpfe im Deutschen Monistenbund zum Austritt Wilhelm Breitenbachs geführt hatten, profilierte sich unter dessen Leitung seit 1908 die Gesellschaft Neue Weltanschauung mit der gleichnamigen Zeitschrift als konkurrierende monistische Organisation. 50 Die Organisation Breitenbachs unterschied sich vom Monistenbund kaum in der allgemeinen Zielsetzung. Auch ihr ging es um die Verbreitung einer einheitlichen Weltanschauung auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Die Gesellschaft betrieb eine antikirchliche Agitation und ließ keinen Zweifel daran, daß im „wahrhaften Kulturkampfe" die „Waffen [...] in erster Linie aus der Naturwissenschaft" 51 zu holen seien. Der Bund für Neue Weltanschauung distanzierte sich aber vom metaphysischen Monismus52, den mystischen Anklängen und von der Hochschätzung Nietzsches und Eduard von Hartmanns. Auf Vorschlag aus dem Mitgliederkreis benannte sich die Gesellschaft 1911 in Humboldt-Bund für naturwissenschaftliche Weltanschauung um. Humboldt galt ihr als Vorbild naturkundlicher Vielseitigkeit und Volkstümlichkeit. Breitenbach gab fortan die Humboldt-Bibliothek als gesonderte Buchreihe heraus, nachdem schon zuvor ein breit gefächertes Veröffentlichungsangebot entwickelt worden war.53
49 50 51 52 53
Henning (Hg.): Handbuch (1914), S. 48 u. 53. Zur Programmatik der Gesellschaft siehe Neue Weltanschauung 1 (1908), S. 1-7; 2 (1909), S.39f.; ungenau Henning (Hg.): Handbuch (1914), S. HOf. Neue Weltanschauung 4 (1911), S. 236. Ebenda, S. 160. Die volkstümliche Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse durch eigene Schriften gehörte von Anfang an zu den Zielen der Gesellschaft. Bei der Themenstreuung sollten Naturwissenschaften gegenüber religions- und kulturgeschichtlichen Fragen etwa im Verhältnis von 3:2 im Vordergrund stehen. Zur Humboldtverehrung vgl. Neue Weltanschauung 4 (1911), S. 159,235t, 437^48; 5 (1913), S. 1-3.
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IV. Organisierte Weltanschauung
c) Der Keplerbund und die antimonistische Gegenoffensive seit 1907 1907 beschlossen in Weimar die wichtigsten freigeistigen bzw. freireligiösen Vereinigungen, künftig zusammenzuarbeiten und konstituierten sich zwei Jahre später offiziell als Weimarer Kartell.54 Dazu gehörten die folgenden Vereinigungen mit zusammen ca. 50000 Mitgliedern: die DGEK und der Deutsche Monistenbund, der Deutsche Freidenkerbund und der Jungdeutsche Kulturbund, der Bund für weltliche Schule und Moralunterricht (eine von der DGEK getragene Spezialorganisation) und der Bund für persönliche Religion (Kassel), das Münchener Kartell der freiheitlichen Vereine, die Freie ethische Gesellschaft in Jena, das Berliner Kartell55 sowie der Bund für Mutterschutz. Zu gleicher Zeit verlor die ohnehin nie homogene Gruppierung der reformerisch-freigeistigen Vereine jedoch das Organisationsmonopol im naturwissenschaftlich-weltanschaulichen Feld. Bereits 1906 war in München die Gesellschaft für Naturwissenschaften und Psychologie gegründet worden. Sie bildete den ersten, noch kurzlebigen Versuch, das christliche Bürgertum im Dienste einer ,,gediegene[n] Popularisierung der Naturwissenschaften" in eigenen Vereinen zu organisieren.56 Die Gesellschaft sprach gleichermaßen Katholiken und Protestanten an, die Zeitschrift Natur und Kultur bildete das Verbandsorgan. Schon 1908 wurde die Gesellschaft aber aufgelöst. Auf katholischer Seite konstituierte die Görres-Gesellschaft 1906 ihre naturwissenschaftliche Sektion, die als wissenschaftliches Gremium jedoch kaum der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde.57 Ungleich größere Wirkung erzielte seit 1907 der Keplerbund zur Förderung der Naturerkenntnis. Er sollte die vermeintliche Meinungsführerschaft der darwinistischen Monisten massiv in Frage stellen.58 Schon unmittelbar nach der Gründung des Monistenbundes hatte man in Kreisen protestantischer Naturwissenschaftler einen „.christlichen Monistenbund' als Gegengewicht" ins Auge gefaßt. Die rasche Verfestigung der Jenaer 54
55 56
57 58
Henning (Hg.): Handbuch (1914), S. 20-26. Faktisch existierte das Weimarer Kartell bis 1911 unter Ausschluß der Öffentlichkeit, wie Breitenbach: Die Gründung (1913), S. 53 bemerkte. Es vereinigte wiederum die Ortsgruppen der DGEK, des Monistenbundes und des Deutschen Bundes für weltliche Schule und Moralunterricht. Aufruf zum Beitritt in die Gesellschaft für Naturwissenschaften und Psychologie, abgedruckt im Einband von Reinke: Naturwissenschaft und Religion (1907). Knappe Erwähnung bei Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969), S. 74. Über die Gesellschaft ist kaum etwas bekannt. Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969), S. 73. Zum folgenden Dennert: Hindurch (1937), S. 196-235; ders.: Monistenwaffen (1912), S. 113-119; ders.: Monistenbund und Keplerbund, in: Unsere Welt 1 (1909), S. 159-164; Aufruf des Keplerbundes zur Förderung der Naturerkenntnis, in: Dennert: Die Naturwissenschaft (1908), S. 32.
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Gesellschaft, die Organisation von „atheistisch-monistische [n] Reiseagenten"59 und die ideologisch ähnlich suspekten Aktivitäten der Stuttgarter Kosmos-Gesellschaft schienen eine monistische Welle neuer Qualität anzukündigen. Zum Spiritus rector wurde Eberhard Dennert. Nach kurzer Assistentenzeit bei dem Botaniker und Darwingegner Albert Wigand in Marburg hatte Dennert als Lexikonredakteur und Lehrer am evangelischen Pädagogium in Bad Godesberg gewirkt. Er schloß sich in dieser Zeit der konservativ-evangelischen Bewegung um Adolf Stoecker an, die sich 1896 vom Evangelisch-Sozialen Kongreß und damit von dem liberalen Einfluß Adolf Harnacks und Friedrich Naumanns löste.60 Innerhalb der Kirchlich-sozialen Konferenz Stoeckers leitete Dennert die Arbeitskommission Apologetik und Naturwissenschaft. Im April 1907 nutzte Dennert dieses Forum, um erstmals den Plan eines antimonistischen Bundes an die Öffentlichkeit zu tragen.61 Am 8. Juni d J. bewegte er in Frankfurt am Main eine Gruppe von Sympathisanten zur Gründung des Keplerbunds, und am 25. November fand dort die konstituierende Mitgliederversammlung statt. Der „Aufruf des Keplerbundes zur Förderung der Naturerkenntnis" wurde bis 1909 von 323 Persönlichkeiten unterzeichnet, darunter 80 Naturwissenschaftlern, 67 sonstigen Angehörigen aus den philosophischen Fakultäten, 50 Medizinern, 38 Theologen, 38 Juristen, 23 Industriellen und Kaufleuten sowie 26 anderen, im ganzen von 48 Hochschuldozenten.62 Die Programmatik des Keplerbunds entsprach den Überzeugungen, die Dennert und Johannes Reinke, Botanikprofessor in Kiel, in den vorangegangenen Jahren entwickelt hatten. Beide sahen sich in der Tradition wissenschaftlicher Darwinismuskritik, die maßgeblich von Wigand ausgegangen war. Sie hielten an Vorbehalten gegenüber phylogenetischen Verallgemeinerungen fest, akzeptierten aber die allgemeine Entwicklungslehre und weitgehend das mechanistische Prinzip innerhalb der Naturvorgänge. Die Theorie der Urzeugung galt Dennert und Reinke als wissenschaftlich unbewiesen, die Abstammung des Menschen aus tierischen Ursprüngen als hypothetisch. Statt an die Allmacht naturimmanenter Gesetze glaubten sie an die Existenz der christlichen Gottheit und an einen ursprünglichen Schöpfungsakt.
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Zitate in der angegebenen Reihenfolge bei Dennert: Die Naturwissenschaft (1908), S. 8,26. Angesichts des Fehlens einer wissenschaftlichen Biographie ist noch immer grundlegend der autobiographische Bericht von Dennert: Hindurch (1937). Ebenda, S. 172£, 199£ Neben Dennert sind als Vorbereiter bzw. führenden Persönlichkeiten des Keplerbundes Arnold Braß, Fr. Mahling (der auch den Namen prägte), Adolf Mayer, Gustav Portig und W. Teudt zu nennen. Dennert: Die Naturwissenschaft (1908), S. 32. Zahlen nach Teudt: Im Interesse (1909), Umschlagseiten.
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IV. Organisierte Weltanschauung
Entscheidend wurde, daß Dennert, Reinke und neben ihnen katholische Wissenschaftler wie der Jesuitenpater Erich Wasmann grundsätzlich für die Vereinbarkeit von moderner Naturwissenschaft und religiösem Glauben eintraten. Die Summe der sinnlichen Erfahrung, so lautete die Argumentation, sei als „Weltbild" prinzipiell von der metaphysischen „Weltanschauung" 63 zu trennen. Ersteres lasse die Frage nach Gott offen. Das Weltbild führe den Naturforscher zum Agnostizismus im Sinne Thomas Huxleys und sei weltanschaulich neutral. Die Weltanschauung sei hingegen als Glaubensakt naturwissenschaftlich nicht begründbar, aber auch nicht widerlegbar. Damit wurden erneut, nun gegen die weltanschaulichen Ansprüche der Monistenbewegung, die Grenzen des Erkennens markiert. Die Folgerung lautete jetzt, diese Ansprüche mit den ihnen eigenen Waffen zu bekämpfen, da die „spezifisch christlichen Mittel" versagt hätten. Der Keplerbund forderte, den „Spieß umzukehren" und den Weltanschauungskampf offensiv aufzunehmen: „Wir müssen auch unsererseits unsere christliche Weltanschauung naturwissenschaftlich orientieren. [...] Die naturwissenschaftlich gebildeten Vertreter der christlichen Weltanschauung müssen dazu übergehen, selbst naturwissenschaftliche Bildung in das Volk hinein zu tragen. [...] Christliche Weltanschauung mit naturwissenschaftlicher Orientierung - sie aufzubauen, sie zu pflegen, sie unserm Volk in seinen weitesten und breitesten Schichten darzubieten, das muß unser Ziel sein."64 Seit 1908 verließ der Keplerbund die Verteidigungsstellung. Er übernahm exakt das Instrumentarium öffentlicher Agitation, das seine Gegner eingesetzt hatten, um es jetzt umgekehrt gegen die „atheistische Propaganda" 65 zu wenden: von der Gründung eines eigenen Instituts für naturwissenschaftliche Bildung mit einem Seminar für volkstümliche Naturkunde, der Veranstaltung naturwissenschaftlich-naturphilosophischer Kurse und Vorlesungsreihen, über die Herausgabe von billigen naturwissenschaftlichen Volksblättern bzw. kostenlosen Flugblättern und populärwissenschaftlichen Zeitschriften (Unsere Welt und Für Naturfreunde seit 1909)66 bis zur Einrichtung von naturkundlichen Demonstrationsmuseen, Ortsgruppen und Agenturen für Wanderredner. Der Keplerbund wollte nichts unversucht lassen, um den modernen technischen und professionellen Standards der Öffentlichkeitsarbeit gerecht zu werden. Projektionsappara63 64 64 66
Diese Begrifflichkeit erhielt bei Dennert zentrale Bedeutung, siehe Dennert: Weltbild (1908), S. 13 et passim. Zitate in der angegebenen Reihenfolge bei Dennert: Die Naturwissenschaft (1908), S. 13,15,12,18. Aufruf des Keplerbundes zur Förderung der Naturerkenntnis, in: ebenda, S. 32, zum folgenden auch ebenda S. 20-27; Dennert/Teudt: Denkschrift (1911). Unsere Welt entsprach dem klassischen Typus der populärwissenschaftlichen Zeitschrift, Für Naturfreunde zielte primär auf Familien, Arbeiter-, Gesellenund Jugendvereine.
2. Weltanschauungsvereine
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te und Lichtbilder, die sofortige Verfügbarkeit von Wanderrednern, wenn „von irgend einer Ecke des deutschen Vaterlandes her ein Notschrei erklingt", und intensive Pressearbeit mit eigenem Korrespondenzblatt wurden ebenso angeraten wie der Einsatz von naturwissenschaftlichen „Berufsarbeitern". 67 Dennert selbst ging mit zahlreichen Vortragsreisen voran. Ein solches Programm kam nicht umhin, die Begrifflichkeit des Populären zu übernehmen und zu versuchen, sie aus eigener Sicht positiv zu besetzen. Die Protagonisten des Keplerbundes faßten die Terminologie zunächst mit spitzen Fingern an und verwiesen auf den Mißbrauch durch Haeckel und die Kosmos-Gesellschaft. Weiterhin beschwor man die Gefahr, unreife Scheinergebnisse der Wissenschaft sofort zu popularisieren. 68 Begleitet von Attributen wie gediegen, wahrhaftig und tendenzlos eignete sich der Keplerbund aber nach einiger Zeit den Popularisierungsbegriff an. Schließlich bekannte sich die Gesellschaft dazu, eine „Instanz zur Popularisierung der Naturwissenschaft" 69 zu sein. Der Keplerbund - so kommentierte vorausblickend 1907 die Vossische Zeitung - hatte die Aufgabe übernommen, „die populäre Naturwissenschaft aus der Wiege des Materialismus zu nehmen und in die Krippe des christlichen Glaubens zu betten." 70 Die Gründung des Keplerbundes signalisierte die Organisations- und Agitationsbereitschaft jenes Teils der bürgerlichen Intelligenz, der sich den Naturwissenschaften von den etablierten weltanschaulichen Positionen her, das hieß in erster Linie: vom christlichen und staatstragenden Standpunkt aus, genähert hatte. Der Bund wurde zum wichtigsten naturwissenschaftlichen Verein des christlichen Bürgertums. Johannes Thöne, ein Priester und Redakteur der Zeitschrift Die Schöpfung, gründete überdies 1912/13 den Albert-Bund als katholisches Pendant zum Keplerbund, konnte jedoch vor dem Krieg keine größere Wirksamkeit mehr entfalten. 71 Die Gründung des Albert-Bundes sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Keplerbund faktisch in seinem Programm und in der Leseransprache innerchristliche Konfessionsunterschiede zurückstellte. Der Keplerbund bildete eher den späten Abschluß als den Beginn eines Prozesses der öffentlichen Annäherung zwischen Naturwissenschaften und konfessionell-konservativem Bürgertum. Diese Konvergenz stellte die 67
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Dennert: Die Naturwissenschaft (1908), S.24, 21. Zum Vortragswesen des Keplerbundes vgl. Unsere Welt 1 (1909), Keplerbund-Mitteilungen No. 11, S. III-VIII. Dennert: Weltbild (1908), S. 76; vgl. ebenda S. 72f. und Dennert: Die Naturwissenschaft (1908), S. 8; Teudt: Im Interesse (1909), S.ll, 90; Mützelfeldt: Allerlei Mißbrauch (1909), S. 11 So die Berliner Ortsgruppe des Keplerbundes, zitiert nach Baege: Der Keplerbund (1911), S.8; im gleichem Sinne Teudt: Im Interesse (1909), S.7; Dennert: Monistenwaffen (1912), S. 113. Vossische Zeitung vom 2.12.1907, zitiert nach Dennert: Weltbild (1908), S. Iii. Vgl. Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969), S. 75f.
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IV. Organisierte Weltanschauung
Koppelung von naturwissenschaftlicher Bildung und areligiöser Überzeugung in Frage. Sie brach scheinbar selbstverständliche ideologische Gleichungen auf und verhärtete gerade deshalb eine Zeitlang die weltanschaulichen Fronststellungen. Innerhalb der Popularisierungsgeschichte wurde dadurch keine Trendwende eingeleitet. Vielmehr stellte der Keplerbund unter Beweis, daß die Naturwissenschaften auch von den Kräften populär aufbereitet werden konnten, welche die materialistischen Prämissen nicht teilten und den Naturwissenschaften keinen ersatzreligiösen Charakter zubilligten. Die integralistischen Weltanschauungsansprüche des Monistenbundes wurden demonopolisiert.72 Diese Bewertung steht im Gegensatz zu der bislang dominierenden Interpretation des populärwissenschaftlichen Weltanschauungskampfes, die Alfred Kelly zuletzt formuliert hat: „Almost without exception, the devout defenders of Christianity simply surrendered to the enemy the techniques of popular science that could have helped them fight Darwinism. [...] Without a Christian genre of popular science, Christians missed the opportunity to give the Darwinians some of their own medicine."73 Ein solches Urteil ist nicht nur angesichts der Weltanschauungsdebatten um 1900 sondern auch mit Blick auf die publizistische Entwicklung der dreißig Jahre zuvor nicht zu halten; beide liefern reichlich Belege, daß die populärwissenschaftliche Technik keinswegs ein Monopol der Darwinisten war. Insofern trifft auch das Urteil nicht zu, wonach der Keplerbund unter Dennert den antimaterialistischen Kampf vorwiegend mit idealistischen Mitteln geführt habe.74 Erst in der jüngsten Historiographie deuten sich Modifizierungen am liebgewonnenen Bild von der Unvereinbarkeit von naturwissenschaftlicher Bildung, Popularisierungswillen und religiösem Selbstverständnis an, eine Sicht, die durch die bereits skizzierten Debatten um Haeckel und Virchow nach 1870 entscheidend verhärtet worden war.75 Die freigeistigen und monistischen Organisationen erkannten sofort die Brisanz, die darin lag, daß der Keplerbund mit konträrer weltanschaulicher Zielsetzung in die Popularisierungsbewegung eingriff und ihrem Zugriff auf die Naturwissenschaften ein eigenes Angebot entgegenstellte. Die Mitgliederzahl des Keplerbundes stieg immerhin von 1110 im Jahre 1908 über 6400 (1910) auf 8400 (1914) mit 39 Ortsgruppen und vier regionalen Ver-
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Drehsen/Zander: Rationale Weltveränderung (1996), S. 236. Kelly: The Descent (1981), S. 94. Kupisch: Bürgerliche Frömmigkeit (1962), S. 139. Vgl. Kapitel II.3. So hat Kurt Nowak darauf hingewiesen, daß die enorme Auflagestärke von Haeckels Welträthseln (schließüch an die 400000) in keiner Weise der realen Anhängerschaft des Monistenbundes entsprach und die naturwissenschaftliche Bildungsliteratur von christlicher Seite vor 1914 ebenfalls mit starkem Leserinteresse rechnen konnte, siehe Nowak: Geschichte (1995), S. 184.
2. Weltanschauungsvereine
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bänden (Niederrhein, Südwest, Württemberg, Bayern) und übertraf damit die Mitgliederzahl des Monistenbundes. 76 Seit 1907 entwickelte sich eine heftige wechselseitige Polemik. Die Monisten rubrizierten den Keplerbund unter die „allergefährlichsten Antikulturgruppen" 77 . Sie gaben ihm jenen Vorwurf zurück, dem sie selbst beständig ausgesetzt waren, nämlich über die Bildungsarbeit hinaus ideologische Agitation zu betreiben. Umgekehrt setzten die Publizisten des Keplerbundes alles daran, die naturwissenschaftliche Seriosität der Monisten zu untergraben und eine ernsthafte Gefährdung von Gesellschaft und Staat durch den Monistenbund heraufzubeschwören. Im Zeichen naturwissenschaftlicher Aufklärung formierten sich die Kräfte zur weltanschaulichen Gegenoffensive.
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Für den Keplerbund siehe Dennert: Hindurch (1937), S. 235; Keplerbund-Mitteilungen No. 61, S.7f, in: Unsere Welt 6 (1914). Den starken Mitgliederanstieg zwischen 1909 und 1910 führt Dennert auf das ,Kampfjahr' mit der Fälschungsdebatte um Haeckel zurück. Für den Monistenbund siehe Henning (Hg.): Handbuch (1914), S. 48. Lehmann-Rußbüldt: Der Keplerbund (1911), S. 328.
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3. Naturwissenschaften in der Deutungskonkurrenz vor dem Ersten Weltkrieg In der deutschen Öffentlichkeit wurde der Weltanschauungskampf auf naturwissenschaftlichem Feld in hohem Maße personalisiert. Die Vorgaben lieferte Ernst Haeckel mit seiner beispiellosen publizistischen und literarischen Präsenz. Allerdings erwuchsen Haeckel seit der Jahrhundertwende jenseits der alten Gegnergeneration um Virchow und Wigand neue Widersacher aus der christlich orientierten Naturwissenschaft. Sie besaßen gegenüber den Vorgängern zwei unschätzbare Startvorteile. Anders als der Jenaer Zoologe standen die Kontrahenten zum einen auf dem Boden der modernen biologischen Forschung. Deren Argumente, z.B. zell- und vererbungstheoretischer Natur, wendeten Haeckels Opponenten gegen die klassische darwinistische Entwicklungslehre. Zum anderen nutzten sie nun selbst ausgiebig die Mittel populärer Wissenschaftspräsentation, die in den Jahrzehnten zuvor auf darwinistischer Seite eingesetzt worden waren. 1 Vor allem zwei naturkundliche Experten aus den beiden großen christlichen Konfessionen wurden als Gegenfiguren zu Haeckel wahrgenommen: Erich Wasmann und Johannes Reinke.
a) D e r Jesuit Erich Wasmann und die Berliner Diskussion 1907 „Ich glaube, daß die Gründe, die von monistischer Seite gegen die christliche Weltanschauung vorgebracht werden, zum allergrößten Teile auf Mißverständnissen beruhen." Erich Wasmann: Der Kampf um das Entwicklungs-Problem in Berlin. [...] Freiburg i.B. 1907, S. 24.
Der Jesuitenpater Erich Wasmann war der Öffentlichkeit seit Mitte der 1880er Jahre als entomologischer Experte bekannt. 2 Bald galt Wasmann als ,Ameisenpater' und Spezialist für tierpsychologische Betrachtungen. Die Schriftleitung der christlichen Naturkundezeitschrift Natur und Offenbarung zu übernehmen, lehnte er ab, wurde aber 1890 leitender Redakteur für den biologischen Bereich der Stimmen aus Maria Laach. Auf seinem Spezialgebiet, der Ameisen- und Termitenkunde, demonstrierte Wasmann die Gültigkeit der phylogenetischen Entwicklungslehre. Er akzeptierte mit Modifizierungen das Darwinsche Selektionsprinzip und widerlegte die Konstanztheorie. Gleichzeitig wertete Wasmann die inneren 1
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Diese Beobachtung steht nochmals gegen Kelly: The Descent (1981), wonach die christlichen Darwinismus-Gegner über kein populärwissenschaftliches Instrumentarium verfügt hätten. Vgl. Schmitz: Nachruf (1934) und Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969), S. 131-137, passim.
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Anpassungsvorgänge im Entwicklungsprozeß auf, lehnte es aber zugunsten einer modifizierten Instinktlehre ab, den Tieren Verstandeskräfte zuzuschreiben, und unterschied kategorisch zwischen Menschen- und Tierseele. Der Jesuit wandte sich gegen die monophyletische Urzeugungsthese und nahm den Menschen als Schöpfungsprodukt aus der gesicherten zoologischen Entwicklungsreihe heraus. Als Opus magnum Wasmanns erschien 1904 Die moderne Biologie und die Entwicklungstheorie (31906). Selbst Haeckel billigte der Schrift gründliche Sachkenntnis zu, sah in ihr aber auch ein „Meisterstück jesuitischer Verdrehungskunst" 3 . Wasmanns Werk bestärkte den Jenaer Zoologen in dessen Wahrnehmung, daß sich die orthodoxe Kirche mit der Entwicklungslehre arrangieren und damit auf gefährliche Weise die biologische Wissenschaft unterwandern wolle. Die „auffällige Frontveränderung der streitenden Kirche" 4 bewog Haeckel sogar, seinen mehrjährigen Verzicht auf öffentliche Vorträge zurückzunehmen. Er folgte 1905 der Einladung der Berliner Singakademie, um dort gegen das gute Honorar von 600 Mark über den „Kampf um die Schöpfung" zu referieren. Haeckel nutzte die Chance, nach mehr als 36 Jahren wieder dem Berliner Publikum ein Resümee seiner Lehren zu präsentieren. 5 Für den langen Widerstand gegen den Darwinismus in der Hauptstadt machte er Virchow persönlich mitverantwortlich. Das Programm an der Singakademie wurde im April 1905 auf drei Vorträge ausgeweitet.6 Auf die Vorträge Haeckels retournierte Wasmann mit einem offenen Brief in der Germania und der Kölnischen Volkszeitung. Sein Credo wurde damit in den führenden katholischen Presseorganen publik gemacht. Wasmann lehnte die Gleichsetzung von Entwicklungstheorie und Darwinismus ab und hielt Haeckel eine christlich fundierte Entwicklungslehre entgegen, die nicht auf die Vorstellung des persönlichen Schöpfers verzichtete.7 Diese Anschauung wurde von dem Jesuitenpater ein gutes Jahr später an prominenter Stelle wiederholt. In unverkennbarer Analogie zu Haeckel hielt Wasmann im Januar/Februar 1907 im Oberlichtsaal der Berliner Philharmonie drei Vorträge vor jeweils mehr als 1000 Besuchern, nachdem er zuvor eine Einladung der Singakademie abgelehnt hatte. Die Vorträge in der Philharmonie wurden von einem wissenschaftlichen Komitee, bestehend 3 4
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Haeckel: Der Kampf (1905), S. 32. Ebenda, S. 8. Vgl. Ernst Haeckel (1984), S.286 und R. H. Francé: Jesuitische Entwicklungslehre, in: Zeitschrift für den Ausbau der Entwicklungslehre 1 (1907), S. 295-298, Zitats. 295. Zuletzt hatte er am 17.12.1868 im Saal des Berliner Handwerkervereins über Arbeitsteilung in Natur und Menschenleben referiert. Die Themen lauteten „Der Kampf um die Schöpfung. Abstammungslehre und Kirchenglaube", „Der Kampf um den Stammbaum. Affenverwandtschaft und Wirbeltierstamm" und „Der Kampf um die Seele. Unsterblichkeit und Gottesbegriff". Wasmann: Die moderne Biologie (31906), S. 493-503.
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IV. Organisierte Weltanschauung
aus dem Präsidenten der Deutschen Entomologischen Gesellschaft, dem Vorsitzenden der DGVN, dem Kustos am Berliner Naturkunde-Museum Hermann J. Kolbe, dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Rintelen und Wilhelm Waldeyer, Anatomie-Professor und Sekretär der Akademie der Wissenschaften, veranstaltet. Wasmann referierte am 13. Februar über „Die Entwicklungslehre als naturwissenschaftliche Hypothese und Theorie", am 14. Februar über „Theistische und atheistische Entwicklungslehre" und am 17. Februar über „Die Anwendung der Deszendenztheorie auf den Menschen".8 Der ,Ameisenpater' zeigte dem Publikum Lichtbilder von Käfern und des Neandertal-Schädels, zitierte aus Darwins Werk und der Genesis, belegte das Mimikryprinzip ebenso wie die natürliche Selektion und die polyphyletische Entwicklung, ließ aber keinen seiner Vorbehalte gegen die darwinistische Lehre, zumal in Haeckelscher Interpretation, aus. Eine solch spektakuläre Demonstration christlicher Naturwissenschaft9 hatte die deutsche Öffentlichkeit noch nie erlebt. Sie fand ihren Abschluß am 18. Februar 1907 vor etwa 2000 Zuhörern im großen Saal des Berliner Zoologischen Gartens. Dort stellte sich Wasmann auf eigenen Wunsch und unter Moderation von Wilhelm Waldeyer elf Kritikern.10 Zu ihnen gehörten Wilhelm Bölsche, der Biologe Friedrich Dahl, Graf von Hoensbroech, ein umtriebiger ehemaliger Jesuit, Ludwig Plate, der Rassenbiologe Alfred Ploetz, der Jenaer Monist Heinrich Schmidt und Kosmos- Autor Curt Thesing. Der Reihe nach konnten die Kritiker auf Wasmanns Versuch eingehen, eine Brücke zwischen Naturwissenschaft und christlichem Weltverständnis zu schlagen, wobei die Plädoyers zwischen sachlichen Auseinandersetzungen und polemischen Attacken schwankten. Wasmann selbst erhielt die Gelegenheit zu einem ausführlichen Schlußwort, in dem er versuchte, sein naturwissenschaftliches Aufklärungsbemühen aus der konfrontativen Sicht des Kampfes zwischen Naturwissenschaft und Kirche herauszunehmen.11 Ein Jesuit am Runden Tisch der Berliner wissenschaftlichen Gesellschaft gemeinsam mit Aktivisten des Monistenbundes und führenden Naturwissenschaftlern im fachlichen und weltanschaulichen Disput vor den Augen eines großen Publikums und der gesamten Presse - dies stellte über die aktuelle Resonanz hinaus eine neue Etappe in der Popularisierungsge8 9
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Wasmann: Der Kampf (1907) und Plate (Hg.): Ultramontane Weltanschauung (1907); zusammenfassend Natur und Kultur 5 (1907), S. 641-645,688-692. Der Ausdruck ist nicht ganz korrekt, da die christlichen Naturwissenschaftler wie Dennert, Reinke und Wasmann gerade die weltanschauliche Neutralität der Wissenschaft einklagten. Er soll trotzdem verwendet werden, trifft er doch die Intention der Beteiligten, die naturwissenschaftliche Forschung mit dem christlichen Glauben zu versöhnen. Wasmann: Der Kampf (1907), S. 57-154 und Plate (Hg.): Ultramontane Weltanschauung (1907). Wasmann: Der Kampf (1907), S. 125-144, hier S. 126.
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schichte dar. Die Debatte um Naturwissenschaft und Weltanschauung war zum Hauptstadtereignis geworden. Sie wurde publikumsgerecht als vergleichendes Informationstableau organisiert und schloß die christliche Annäherung an die Naturwissenschaft in die Präsentation ein. Vergleichbares hatte es zuvor nicht gegeben.
b) Johannes Reinke contra Ernst Haeckel 1905-1909 „Anti-Haeckel. Und die Maus haßt ihre Falle, / Und der Türk' den Christenhund Aber stärker haßt als alle / Reinke den Monistenbund. Reinke wirkt als Schützer, Retter / Deutscher Seelen. - Donnerwetter. Einem Großen (und Kollegen) / Wirft er sich zu kühnem Strauß Mit der Feder nicht entgegen, / sondern mit dem Herrenhaus. Wie einst Päpste Ketzer brieten, / Möcht' er ihn komplett verbieten." Alfred Kerr, in: Der Tag, 5. Dezember 1907. Daß Wasmanns Anschauungen von Haeckel und der Öffentlichkeit mit den weltanschaulichen und naturwissenschaftlichen Ideen des protestantischen Botanikers Johannes Reinke weitgehend gleichgesetzt wurden, war nicht unbegründet. Konfessionelle Gegensätze zwischen beiden traten auf fachlichen Gebiet zurück.12 Reinke eignete sich aufgrund seiner Stellung als Ordinarius eher noch als Gegenpol zu Haeckel. Beide hatten sich durch naturwissenschaftliche Monographien und die universitäre Lehre ausgewiesen und waren gleichzeitig bestrebt, ihr Fach philosophisch zu reflektieren. 1899, im gleichen Jahr wie Haeckels Welträthsel, wurde auch Reinkes 12
Vgl. Wasmann: Die moderne Biologie (31906), S.5, 35, 207, 210, 489, hier auch S. X zur Übereinstimmung mit Dennert; ders.: Der Kampf (1907), S. 31,130. In der Schulfrage argumentierte Wasmann - ähnlich wie Dennert - allerdings zurückhaltender als Reinke. Die Relevanz konfessioneller Prägungen für die naturwissenschaftliche Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit um 1900 ist noch unerforscht, vgl. Alter: Charles Darwin (1966), Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969), hier S. 75 auch zur Wasmann-Kritik an Dennert; Bröker: Politische Motive (1973), Ueü Hasler: Beherrschte Natur. Die Anpassung der Theologie an die bürgerliche Naturauffassung im 19. Jahrhundert (Schleiermacher, Ritsehl, Herrmann). Berlin, Frankfurt/M. 1982, der die Ausklammerung des Naturbegriffs aus der christlichen Dogmatik und Ethik betont; Evolutionismus und Christentum (1986), Frederick Gregory: The Impact of Darwinian Evolution on Protestant Theology in the Nineteenth Century, in: Lindberg/Numbers (Eds.): God and Nature (1986), S. 369-390; ders.: Nature Lost? (1992) und Kelly: Descent (1981), S. 96f., wonach katholische und protestantische Darwinismuskritik mehr im Ton als inhaltlich differierte. Abgesehen davon, daß sich der frühe Darwinismus fast ausschließlich in seiner Polemik auf die kathoüsche Kirche kaprizierte, liegt ein Unterschied zwischen beiden Konfessionen eher darin, daß die protestantische Seite ungleich stärker dazu neigte, den Staat gegen den populären Darwinismus anzurufen.
230
IV. Organisierte Weltanschauung
Welt als That. Umrisse einer Weltansicht auf naturwissenschaftlicher Grundlage veröffentlicht. Reinkes Werk erwähnte den Jenaer Zoologen zwar an keiner Stelle namentlich, bezog aber inhaltlich unzweideutig Gegenpositionen zu Haeckel. 13 Damit waren die Gegensätze abgesteckt. Reinke argumentierte auf fachlicher und weltanschaulicher Ebene ungleich vorsichtiger als Haeckel. Der Kieler Botaniker kritisierte die darwinistische Variations- und Selektionstheorie bei gleichzeitiger Bejahung des Entwicklungsgedankens. Reinke plädierte dafür, die induktive Naturforschung mit dem Prinzip der Zweckmäßigkeit in der Natur, die er durch gestaltbildende Kräfte (Dominanten) und das Einwirken einer kosmischen Intelligenz gewährleistet sah, zu versöhnen. Monismus und Materialismus lehnte er ab. Haeckel realisierte rasch die Qualität der Reinkeschen Arbeiten und erhob den Botaniker als Vertreter von Dualismus, Theismus und Teleologie zum neuen Widerpart. 14 Ungewöhnlich war die scharfe Gegenreaktion. Nach eigener Aussage wurde Reinke durch Haeckels Polemiken, die wissenschaftlichen Unrichtigkeiten in dessen Lebenswundern von 1904 und die zweite Flugschrift des Monistenbundes über Monismus und Christentum provoziert.15 Der Botaniker nutzte daraufhin das Podium des Preußischen Herrenhauses, wo er seit 1894 die Universität Kiel vertrat, zur Philippika. Das Vorbild Virchow war nicht zu übersehen; Reinke selbst hat diese Parallele gezogen und mit Nachdruck die Rede Virchows vom September 1877 als „ungemein zeitgemäß" 16 wieder ins öffentliche Bewußtsein gerückt. Ein zweites München deutete sich an, diesmal mit einer bemerkenswerten Volte. Am 10. Mai 1907 machte Reinke während der Debatte über den Etat des Unterrichtsministeriums den Monismus Haeckels als „Rückfall in die Barbarei" zum Thema von höchster Priorität für das nationale Wohl. Der Monistenbund bilde eine „Schar von Fanatikern", die zu der „Propaganda der Tat" schreiten würde. Sie bedrohten den Staat mit der „Gewalt, die jeder festverbundenen und zielbewußt geführten Masse von Menschen innewohnt". 17 Analog dem Vorgehen der Sozialdemokratie im wirtschaftlichen Bereich lege die atheistisch-monistische Weltanschauung die Axt an die Fundamente der verfassungsmäßig verankerten, christlichen Gesellschaftsordnung und bedeute den Umsturz auf geistigem Gebiete. 13
14 15 16 17
Reinke: Die Welt (1899). Vgl. rückblickend Reinke: Haeckels Monismus (1907), S. 3f.; ders.: Mein Tagewerk (1925), S. 391-393,475. Zur Bibliographie der Schriften siehe Kluge: Johannes Reinke's Dynamische Naturphilosophie (1935). Haeckel: Die Lebenswunder (11904/1906), S.IVf., 13, 23, 138. Vgl. W. Breitenbach: Reinke und Haeckel, in: Neue Weltanschauung 1 (1908), S. 22-29. Reinke: Haeckels Monismus (1907), S. 4-7; ders.: Mein Tagewerk (1925), S. 477f. Reinke: Haeckels Monismus (1907), S. 28-33, Zitat S. 28. Stenographische Berichte (1907), S.201, 200, hier S. 199-203 die Rede Reinkes im Wortlaut, abgedruckt auch bei Reinke: Haeckels Monismus (1907), S. 9-20; Schmidt (Hg.): Der Deutsche Monistenbund (1907), 19-31.
3. Deutungskonkurrenz vor dem Ersten Weltkrieg
231
Damit waren die Anathemata, die schon zwischen 1877 und 1882 der Haeckelschen Entwicklungslehre gegolten hatten, erneuert: der Sozialismusverdacht, der Materialismusvorwurf und die Atheismusgefahr. Sie wurden im Verdikt vom umstürzenden Charakter zugespitzt und mit der Disqualifikation von hypothetischen, doktrinären Gedanken gegenüber der wahren Tatsachenwissenschaft verwoben. All dies waren bekannte Argumentationsmuster. Wieder wurde der Staat gegen die Weltanschauungsgefahr der biologischen Wissenschaft auf den Plan gerufen. Reinke lehnte ein gewaltsames Einschreiten ab, forderte aber die Bekämpfung des Monistenbundes „mit geistigen Waffen". 18 Glich Reinkes Bestandsaufnahme den konservativen Abwehrreaktionen aus den späten 1870er Jahren, so zog der Botaniker nun im Vergleich mit den Konservativen der Bismarckzeit die entgegengesetzte Konsequenz. Bereits 1902 war Reinke im Herrenhaus dafür eingetreten, den biologischen Unterricht endlich in die oberen Gymnasialklassen einzuführen. 19 Fünf Jahre später propagierte er ebendort als wichtigstes „Heilmittel gegen den Monismus", das Biologieverbot aufzuheben. Der naturwissenschaftliche Unterricht müsse vertieft werden, um die Schüler „nicht urteilslos und hilflos der monistischen Lehre preis[zu]geben"20. Tatsächlich schloß sich das preußische Unterrichtsministerium 1907/8 diesen Empfehlungen an. Reinkes Auftritt im Herrenhaus schlug in der deutschen Öffentlichkeit hohe Wellen. Die Muster öffentlicher Meinungsbildung ähnelten auf verblüffende Weise denen der 1870er Jahre. Publizistische Lager formierten sich, die Presse multiplizierte und karikierte die strittigen Argumente, die Monisten organisierten Protestanzeigen und -Versammlungen.21 Im ganzen war das Medienecho für Reinke ungünstig. Besonders wurde kritisiert, daß er das politische Podium einseitig mißbraucht und den Staat gegen eine geistige Bewegung aufgerufen habe. Reinkes überzeichnete Bedrohungswahrnehmung fand eher Spott, als daß sie ernst genommen wurde. Sarkastisch griffen Kommentatoren sein Diktum von den Primanern, Volksschullehrern und den höheren Töchtern als besonders gefährdeten Lesergruppen von Haeckels Welträthseln auf. Reinke erschien als „Cajetan der protestantischen Orthodoxie" (Berliner Tageblatt), der es fertig bringe, daß sich alle erhaben dünkten „über diesen bornierten Affen-Professor [Ernst Haeckel - A.D.], der an allem rüttelt, was einem Landpastor in Hinterpommern heilig ist"22. 18 19 20 21 22
Stenographische Berichte (1907), S. 202. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses (1902), 11. Sitzung am 7.5.1902, S.271f. Stenographische Berichte (1907), S. 203,202. Vgl. als Überblick Schmidt (Hg.): Der Deutsche Monistenbund (1907) und Reinke: Neues (1908). Das freie Wort (Jena), zitiert nach Schmidt (Hg.): Der Deutsche Monistenbund (1907), S. 48, Zitat des Berliner Tageblatts ebenda, S. 42. Vgl. Stenographische Berichte (1907), S. 201.
232
IV. Organisierte Weltanschauung
Die Herrenhaus-Rede Reinkes bedeutete indes mehr als die Politisierung des Monistenbundes von außen. Sie drückte das neue Selbstbewußtsein der antidarwinistischen Naturwissenschaftler aus. Ihnen schien die Biologie von den „darwinistischen Kinderkrankheiten"23 geheilt, ja sie sahen den Darwinismus gar an seinem „Sterbelager"24. Dieses Triumphgefühl konnte nicht über das späte Eingeständnis hinwegtäuschen, die Popularisierung der modernen Entwicklungslehre in ihrer Dynamik völlig unterschätzt zu haben. Das alte Argument Virchows, naturwissenschaftliche Hypothesen reinlich aus der Lehre ausschalten zu müssen (und zu können), war bereits durch die überaus heterogene innerakademische Diskussion seit den 1870er Jahren widerlegt worden. Die Verbreitung naturwissenschaftlicher Gedanken im öffentlichen Raum führte es schließlich ad absurdum. Das Argument mochte als methodische Prämisse taugen, als Regulativ öffentlicher Meinungsbildung versagte es. Der Versuch, die öffentliche Teilhabe am naturkundlichen Wissen über die schulpolitische Ausgrenzung der Biologie gouvernemental-administrativ zu steuern, ihr zumindest dadurch die Luft zu nehmen, war gescheitert. Gemessen an der Vorgabe, die Verbreitung darwinistischer Thesen einzudämmen, hatte sich dieser Ansatz geradezu als kontraproduktiv erwiesen. Reinkes grell gemaltes Bild vom umstürzlerischen Monistenbund spiegelte keine reale Gefahr, sondern das bürgerliche Erschrecken vor dem Ausmaß der Verweltanschaulichung der Naturwissenschaft, der man mit restriktiven Mitteln nicht mehr Herr werden konnte. Die Einsicht, die Auseinandersetzung mit der Biologie eher fördern denn hemmen zu wollen, war in beträchlichem Maße ex negativo motiviert. Sie kam auf (schul-)politischer Ebene erst ein halbes Jahrhundert nach dem Aufbruch der neueren Entwicklungslehre und dreißig Jahre nach der ersten großen Debatte um deren weltanschauliche Wirkungen, wie sie im Kapitel II.3 geschildert wurde, zum Durchbruch. Dieser Verzug machte ebenso die Beharrungskraft ideologischer Fronten, die um die Naturwissenschaft gezogen wurden, deutlich, wie er die Vorbehalte innerhalb der bürokratischen Führungsschicht gegenüber Bemühungen, naturwissenschaftliche Lehren der Allgemeinheit zugänglich zu machen, spiegelte. Bezeichnend war, wie vorsichtig-dilatorisch Friedrich Althoff, der führende preußische Kultusbeamte und Förderer der naturwissenschaftlichen Professoren, 1902 auf Reinkes Forderung nach Einführung der Biologie in den höheren Gymnasialunterricht reagierte.25 23 24 25
Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses (1902), S. 271. Dennert: Vom Sterbelager (1903). Der Titel des Buches war ausdrücklich gegen Ludwig Büchners Schrift Am Sterbelager des Jahrhunderts (1898) formuliert. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses (1902), 11. Sitzung am 7.5.1902, S. 272.
3. Deutungskonkurrenz vor dem Ersten Weltkrieg
233
Der cultural lag zwischen öffentlicher Meinungsbildung und staatlicher Akzeptanz der populären Naturkunde über eine Generation hinweg läßt den Darwinismusstreit emblematisch die Gleichzeitigkeit von modernen und antimodernen Elementen in der politischen Kultur des Kaiserreichs aufzeigen.26 Vor diesem Hintergrund wirkte es anachronistisch, daß Reinke und Wasmann daran festhielten, die ,falsche' Popularisierung zu verurteilen. So griff der Kieler Botaniker seit 1899 noch einmal in den Fundus überlieferter Negativbezeichnungen. Da war von der „naturwissenschaftlichen Hintertreppenlitteratur" 27 die Rede, und mit Blick auf Haeckel galt die Abscheu der „Afterwissenschaft", die Tatsachen und Hirngespinste durcheinander menge und daraus Dogmen zusammenknete. 28 Nach 1907 traten solche semantischen Verkettungen in dem Maße zurück, wie der Keplerbund und die Gesellschaft für Naturwissenschaften und Psychologie, denen Reinke sich anschloß und mit denen Wasmann sympathisierte,29 eine Umwertung des Popularitätsbegriffes anstrebten. Es war folgerichtig, daß Reinke 1908 energisch die tendenzlose Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse verteidigte. Er tat dies an symbolträchtiger Stelle, nämlich im Rahmen einer Vortragstrias an der Berliner Singakademie, wo Ernst Haeckel drei Jahre zuvor aufgetreten war.30 Die für viele überraschende Fachkompetenz, mit der Wasmann und Reinke die naturwissenschaftliche Weltanschauungsdiskussion führten, wurde nach 1907 von Anhängern des Keplerbundes gezielt gegen Ernst Haeckel ausgespielt. Der Zoologe Arnold Braß bezichtigte 1908 Haeckel, in den Berliner Vorträgen 1905 und bei Auftritten in Jena 1907 gefälschte Embryonenabbildungen verwendet zu haben. 31 Die Schrift von Braß 1908 26
27 28 29
30
31
Zur Reflexion über Modernität und kulturelle Verwerfungen im Kaiserreich vgl. Nipperdey: War die Wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesellschaft? (1985/86); ders.: Deutsche Geschichte 1866-1918, I (1990), S. 812-834; ders.: Deutsche Geschichte 1866-1918, II (1992), S. 877-905, sowie gegen ein rationalistisches Modernisierungskonzept gewendet Eley: Die deutsche Geschichte (1991). Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses (1902), S. 271. Reinke: Haeckels Monismus (1907), S. 3. Reinke verwahrte sich allerdings gegen die oft geäußerte Behauptung, zu den Begründern des Keplerbundes zu gehören. Allerdings sah er die Gründung des Keplerbundes durchaus als Folge seines Auftritts im Herrenhaus, siehe Reinke: Mein Tagewerk (1925), S. 481. Reinke: Naturwissenschaftliche Vorträge, IV (1908), S. 63. Die drei Vorträge im März 1908 thematisierten „Das Lebendige und das Leblose", „Die Stellung des Menschen in der Natur" und den „Kampf der Weltanschauungen". Braß: Das Affenproblem (1908), vorher bereits ders.: Ernst Haeckel als Biologe und die Wahrheit. Stuttgart 1906. Zur Koppelung des Vorwurfs wissenschaftlicher Unredlichkeit mit dem Popularisierungsbegriff auch A. Braß: Popularisierung der Wissenschaft, in: Unsere Welt 3 (1911), S. 181-184. Dokumentation der Fälschungsdebatte bei Teudt: Im Interesse (1909), Dennert: Monistenwaffen (1912) und Gursch: Die Illustrationen (1981).
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Abbildung 6: Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um Ernst Haeckel nach der Jahrhundertwende - das Titelbild der Schrift von Arnold Braß: Das AffenProblem. Professor E. Haeckel's Darstellungs- und Kampfesweise sachlich dargelegt nebst Bemerkungen über Atmungsorgane und Körperform der Wirbeltier-Embryonen. Leipzig 1908.
3. Deutungskonkurrenz vor dem Ersten Weltkrieg
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war zwar nicht vom Keplerbund initiiert oder verlegt worden, fand aber rasch dessen Unterstützung. Ähnliche Vorwürfe waren in den 1870er Jahren erhoben worden. Nun wurden sie publizistisch ungleich breiter gestreut und polarisierten die Öffentlichkeit derart, daß sich führende Fachkollegen Haeckels zur Stellungnahme veranlaßt sahen. 1909 traten 46 deutsche Zoologen und Anatomen, die keineswegs vorbehaltlos die Haeckelschen Theorien befürworteten, in einer öffentlichen Erklärung dem Keplerbund und Braß im Interesse der Wissenschaft und der Freiheit der Lehre 32 entgegen. Unzutreffende Embryonenbilder könnten dem Entwicklungsgedanken keinen Abbruch zufügen. Dem folgte eine Gegenerklärung von 37 Gelehrten, die den Keplerbund darin bestärkten, naturwissenschaftliche Kenntnisse zu verbreiten und Haeckel vorwarfen, bei seiner Popularisierung nicht gewissenhaft genug zu sein.33 Wissenschaft und Populärwissenschaft, das zeigte dieser erneute Schlagabtausch, waren inzwischen im öffentlichen Raum vielfältig aufeinander bezogen.
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So ihre Formulierung, abgedruckt bei Teudt: Im Interesse (1909), S. 49. Zu den Unterzeichnern gehörten Theodor Boveri, Richard Hertwig, Karl Kraepelin, Wilhelm Waldeyer und August Weismann. Abgedruckt bei Teudt: Im Interesse (1909), S. 89-91. Unterzeichnet hatten den Aufruf u.a. G. Berendt, W. Branca, W. Bruhns, Friedrich Knauer, Johannes Reinke und Martin Rade (Marburg).
V. Popularisierung auf dem literarischen Markt „Es giebt kein Schaufenster eines Buchhändlers, in welchem nicht der Naturwissenschaft ein gut Theil Raum gegeben wäre. [...] Es giebt auch fast kein Gewand der Schriftstellerei, in welches sich die Naturwissenschaft nicht hat fügen lernen, wenn auch oft ungern genug. Von den streng wissenschaftlichen Werken an geht es durch alle Grade der Poesie und Prosa hinab bis zu den sogenannten naturwissenschaftlichen Romanen hinunter. Ueberall wird in Naturwissenschaft gemacht." Eduard Michelsen: Die Humboldt-Vereine, in: Aus der Heimath 5 (1863), Sp. 13-16, hier Sp. 13f. D i e Geschichte der Printmedien ist Teil und zugleich Ausdruck jenes „soziokulturellen Mobilisierungsprozesses" 1 , den das öffentliche Leben in Deutschland und in anderen europäischen Ländern zwischen Aufklärung und Erstem Weltkrieg erlebte. Neben der Erweiterung des Schulwesens, der Ausdehnung eines engmaschigen Netzes an bürgerlichen Vereinen und der Etablierung spezieller Bildungsinstitutionen war es vor allem die Expansion von Literatur, Presse und Publizistik, die dazu beitrug, die öffentliche Kommunikation zu verdichten und ihr eine eigene gesellschaftliche Relevanz zu verleihen. Auch die naturwissenschaftliche Bildung wurde in diese Entwicklungen eingebunden. 2
1 2
Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, I (1989), S. 303. Vgl. allgemein zur Entwicklung des literarischen Marktes Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866 (1985), S. 569-694; ders.: Deutsche Geschichte 1866-1918,1 (1990), S. 752-811; Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, I (1989), S. 303-316; ders.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, II (1989), S. 520-546; ders.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, III (1995), S. 429-445,1232-1243; Hüler: Zur Sozialgeschichte (1966), Fullerton: The Development (1975/76), Rarisch: Industrialisierung (1976), Hohendahl: Literarische Kultur (1985), Wittmann: Buchmarkt (1982) und ders.: Geschichte (1991), Kapitel VI bis IX. Komprimierte Überblicke finden sich bei Sibylle Obenaus: Buchmarkt, Verlagswesen und Zeitschriften, in: Bernd Witte (Hg.): Vormärz: Biedermeier, Junges Deutschland, Demokraten 1815-1848. Reinbek 1980, S. 44-62; Dieter Barth: Zeitschriften, Buchmarkt und Verlagswesen, in: Glaser (Hg.): Deutsche Literatur, VII (1982), S. 70-88; Wolfgang von UngernSternberg: Medien, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, III (1987), S. 379-416; Georg Jäger: Medien, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, IV (1991), S. 473^99.
238
V. Der literarische Markt
1. Der Buchmarkt und die Naturkunde Strukturen und
Entwicklungstendenzen
Das Lesepublikum erweiterte sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert quantitativ und sozial erheblich. Noch vor dem Durchbruch der industriellen Revolution stiegen der Alphabetisierungsgrad und damit die Lesefähigkeit in Deutschland deutlich an. Von der Alphabetisierung als einer klassenübergreifenden Grundstruktur der Gesellschaft kann man allerdings erst am Ende des Jahrhunderts sprechen. Inzwischen sind sogar die gängigen Schätzungen angezweifelt worden, wonach um die Mitte des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum ca. 10% der Bevölkerung lesen konnten, 1770 ca. 15%, um 1800 etwa 25%, bevor dieser Anteil noch im Vormärz auf ca. 40%, bis 1870 auf ca. 75% und bis 1900 auf etwa 90% gestiegen sei.3 Unzweifelhaft ist aber nicht nur, daß das Lesepublikum noch vor 1914 nahezu die gesamte Bevölkerung umfaßte, sondern daß das Leseverhalten sich lange zuvor gewandelt und die Lesemöglichkeiten sich vervielfältigt hatten. Noch im 18. Jahrhundert erfolgte der Übergang vom sogenannten intensiven zum extensiven Lesen. Die ritualisierte Lektüre weniger Texte der Bibel und von Kalendern z.B. - wurde abgelöst durch die Praxis, immer mehr und immer schneller Texte zu rezipieren. Man spricht auch von einer ersten Leserevolution. Die Lektüre im privaten Raum war ohnehin schon vor 1800 durch die Nutzung von Lektürekabinetten, Lesegesellschaften und Leihbibliotheken ausgeweitet worden. Auch die Buchproduktion stieg seit der Aufklärung merklich an. Zwar erlebte sie während der Napoleonischen Kriege und der frühen Restaurationsphase Einbußen, im Vormärz kletterten aber die Produktionsziffern unaufhaltsam nach oben. 1821 wurde mit 4 505 neuerschienenen Titeln das Volumen von 1805 wieder erreicht, 1830 erstmals die Zahl 7000 überschritten und 1843 mit 14039 Neuerscheinungen ein vorläufiger Höhepunkt markiert. 4 Daß die Titelzahl danach deutlich zurückging und erst 1879 wieder den Stand von 1843 erreichte, wird oft als tiefe Krise und Stagnation auf dem Buchmarkt gedeutet und auf die Verdrängung des Buchs durch journalistische Medien und die Strukturprobleme des expandierenden Sortimentsbuchhandels zurückgeführt. Dieses einseitige Bild 5 wurde schon 1976 von Isolde Rarisch korrigiert. Sie hat auf der Basis verfeinerter Kriterien eine „Phase langsam-kontinuierlichen Wachstums" auf dem li3 4 5
Siemann: Vom Staatenbund (1995), S. 214. Zur Kritik an solchen Schätzungen siehe Wittmann: Geschichte (1991), S. 171ff„ 232f„ 296. Rarisch: Industrialisierung (1976), S. 101. Die bloße Zahl der Titel berücksichtigt weder die Auflagenstärke, noch den Umstand, daß viele Titel eine ganze Reihe von Einzelheften und Lieferungen umfaßten.
1. Buchmarkt und Naturkunde
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terarisch-publizistischen Markt bis 1865, der eine deutliche Expansionsphase folgte, herausgearbeitet. 6 Tatsächlich ermöglichten nach 1843 die technischen Errungenschaften des Druckereiwesens, vor allem die Einführung der Schnellpresse, die Verwendung von Zellulose bei der Papierherstellung und die Nutzung der Drahtheftmaschine in der Buchbinderei, eine gesteigerte Produktionsleistung; sie sprengte im letzten Drittel des Jahrhunderts alle bis dahin bekannten Dimensionen. Die Betriebsdichte nahm nach der Revolution im Buchhandel zu, und die Verstaatlichung des Postwesens 1867-69 erleichterte den Buch- und Zeitschriftentransport. Die Aufhebung der sogenannten ewigen Verlagsrechte 1867 brach zudem das Monopol des Cotta-Verlages auf den Druck der meisten klassischen Autoren. Die Liberalisierung der Gewerbeordnung 1869, die Verbesserung des Urheberrechts bis 1871 (1901 nochmals verbessert) und die Einführung des festen Ladenpreises im Buchverkauf durch die Krönersche Reform 1887 schufen verläßliche Voraussetzungen für das verlegerische Geschäft. Die Zahl der eigentlichen Buchverlage verdoppelte sich fast zwischen 1865 und 1880, bis 1914 stieg die Zahl der Buchhandlungen und Verlage, die sich nun auch weltanschaulich immer weiter diversifizierten, nochmals massiv an. Die Neuerscheinungsziffer lag 1891 erstmals über 20000,1900 bei 24792 und im letzten Friedensjahr bei 34871; Deutschland stand damit an der Spitze der Weltbuchproduktion. 7 Am Fin de Siècle war ein Höhepunkt der Demokratisierung, aber auch der Kommerzialisierung des literarischen Marktes erreicht. Die zweite Leserevolution verschaffte literarischen und publizistischen Texten erstmals einen festen Plaz im kulturellen Haushalt eines Massenpublikums.8 Das Buch wurde zum Massenbuch, die Zeitschrift zur millionenstarken Illustrierten, Verlagskonzerne durchdrangen den Printmarkt. Die periodischen Schriften dienten nicht mehr nur als Medien öffentlicher Meinungsbildung, das waren sie in Maßen schon zuvor gewesen. Sie wurden selbst zu Mitteln, um die Öffentlichkeit in ihrer ganzen Breite zu beeinflussen, Druck auszuüben und Macht zu demonstrieren. Literatur konnte für Kulturverleger wie Eugen Diederichs zum Instrument werden, um Weltanschauungsfragen aufzugreifen, 9 und sie stellte in ihren massenhaften Auflagen zugleich einen umstrittenen Gegenstand der Kulturkritik dar. 6 7 8 9
Rarisch: Industrialisierung (1976), S. 61. Den Übergang zum Massenmarkt seit ca. 1870 betont auch Fullerton: The Development (1975/76). Wittmann: Geschichte (1991), S.240, 272, S.271; Rarisch: Industrialisierung (1976), S. 104. Zu den zwei Leserevolutionen Jäger/Schönert (Hg.): Die Leihbibliothek (1980), S. lOf. Viehöfer: Der Verleger (1988), Hübinger: Der Verlag (1996). Vgl. jetzt Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag. Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme. München 1996.
240
V. Der literarische Markt
Die Ausdifferenzierung von Hoch- und Trivialliteratur, Bildungs- und sogenannter Schundlektüre, künstlerischen Texten und literarischem Gebrauchsbuch hatte indes schon im Vormärz begonnen. Sie bot in der zweiten Jahrhunderthälfte ein nicht enden wollendes Thema kritischer und pseudokritischer Diskussionen. Die gute und nützliche wurde gegen die vermeintlich schlechte und schädliche Literatur ausgespielt. Popularität und Trivialität lagen in der zeitgenössischen Bewertung stets eng beeinander, für viele waren diese Zuschreibungen sogar deckungsgleich.10 Neue Vertriebsformen wie die Kolportage und die serielle Lieferung boten mit ihren breiten Streueffekten zusätzlichen Anlaß, über die Ausbreitung von Halbbildung zu klagen. Die Naturwissenschaften
auf dem literarischen
Markt
Den Anteil der Naturwissenschaften an den skizzierten Entwicklungen quantitativ zu bemessen, ist schwierig. Neben den generellen Unsicherheiten der Statistik gibt es vor allem das typologische Problem, populärwissenschaftliche Texte zu rubrizieren. 11 Die von Rarisch spezifizierte Sachgruppe Naturwissenschaften zeichnet sich in der zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht durch ein rapides, sondern durch ein unterdurchschnittlich .konstantes' Wachstum in der Buchproduktion aus und schwankt damit in der Reihenfolge der 18 Fachgebiete zwischen 1851 und 1900 zwischen dem 7. und 8. Platz.12 Solche Zahlen lassen aber kaum auf den Stellenwert der Naturkundeliteratur im gesamten Buchspektrum rückschließen. Ebensowenig kann aus dem Ausbau spezialisierter Wissenschafts- und Fachbuchverlage nach 1880, unter denen die Unternehmen von Julius Springer in Berlin und Gustav Fischer in Jena eine Schlüsselrolle einnahmen, 13 gefolgert werden, ob und auf welche Weise populärwissenschaftliche Verlagsbereiche florierten. Selbst die Ausleihfrequenzen der Leihbibliotheken können nur bedingt als Indikator für die Ausbreitung naturkundlicher Literatur dienen. Neue10
11
12 13
Vgl. Motte-Haber (Hg.): Das Triviale (1972) und Reinhold Grimm/Jost Hermand: Popularität und Trivialität. Fourth Wisconsin Workshop. Frankfurt/M. 1974; Schenda: Volk (1977). Legt man etwa die Einteilung bei Rarisch: Industrialisierung (1976) zugrunde, so ist durchaus zweifelhaft, ob die in unserer Untersuchung besprochenen Texte allein in der Rubrik Naturwissenschaften wiedergefunden werden können oder nicht - zumindest teilweise - auch unter Geographie, Haus- und Landwirtschaft; Volksschriften und selbst Pädagogik. Rarisch: Industrialisierung (1976), S.71,79,103. Jahn/Löther/Senglaub: Geschichte (1982), S.450. Die Geschichte der naturwissenschaftlichen Verlage, Buchhandelsgeschäfte und Leserschaften ist weitgehend unerforscht. Erste Hinweise gibt Wittmann: Geschichte (1991), S. 244f. Vgl. Davidis (Bearb.): Wissenschaft (1985), Sarkowski: Das Bibliographische Institut (1976) und Lütge: Das Verlagshaus Gustav Fischer (1928), S. 215-236.
1. Buchmarkt und Naturkunde
241
re Forschungen haben den alles überragenden Anteil der Belletristik unter den Ausleihbereichen schon für die Zeit der deutschen Klassik und den Vormärz belegt, nachdem die Spätaufklärung eher eine enzyklopädischsachbuchorientierte Zusammenstellung der Leihbücher gefördert hatte.14 Die belletristische Dominanz, meist bei über 80% der Ausleihen, hielt sich bis zum Ersten Weltkrieg, obwohl der entsprechende Anteil an der Titelproduktion weit darunter lag.15 Seit längerem schon ist bekannt, daß gerade in Arbeiterbibliotheken die populäre Naturwissenschaftsliteratur unter den nichtfiktionalen Lesestoffen besonders beliebt war. Hinter ihr stand der sozialwissenschaftliche Sektor oft weit zurück. Alfred Brehms Thierleben, Rudolf Bommelis Geschichte der Erde, Veröffentlichungen von Ludwig Büchner, Wilhelm Bölsche, Arnold Dodel, Ernst Haeckel und selbst Charles Darwin ließen in der Ausleih- und Beliebtheitsskala von Arbeiterbibliotheken um 1900 viele politische Schriften, sogar solcher Autoren wie Bebel, Kautsky und Marx, um Längen hinter sich.16 Die nichtmarxistischen Schriften von Bölsche, Raoul France und Max W. Meyer fanden sogar bei dem amerikanischen Arbeiterpublikum Anklang.17 Das populärwissenschaftliche Segment des literarisch-publizistischen Marktes hielt seismographisch die Wandlungen der naturkundlichen Themen, die sich veränderenden Lesebedürfnisse und die Diskussion um das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit fest. Die einschlägigen Texte veranschaulichen die besonderen Anforderungen, die sich bei der Vertextung von Wissenschaft und deren sprachlicher Übersetzung für ein
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Vgl. Die Leihbibliothek der Goethezeit. Exemplarische Kataloge zwischen 1790 und 1830, hg. mit einem Aufsatz zur Geschichte der Leihbibliotheken im 18. und 19. Jahrhundert v. Georg Jäger, Alberto Martino, Reinhard Wittmann. Hildesheim 1979; Jäger/Schönert (Hg.): Die Leihbibliothek (1980), Georg Jäger: Die deutsche Leihbibliothek im 19. Jahrhundert. Verbreitung - Organisation - Verfall, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 2 (1977), S. 96-133; Alberto Martino: Publikumsschichten und Leihbibliotheken, in: Glaser (Hg.): Deutsche Literatur, VII (1982), S. 58-69; ders.: Lektüre (1982) und ders.: Die deutsche Leihbibliothek. Wiesbaden 1990. Rarisch: Industrialisierung (1976), S. 104. So unbestreitbar damit ein naturkundlicher und davon abgeleiteter weltanschaulicher Interessenstrang offengelegt wird, so sehr ist doch angesichts einer noch kaum in der Breite untersuchten Bibliothekslandschaft Vorsicht geboten bei der Generalisierung solcher Statistiken. Vgl. A. H. Th. Pfannkuche: Was liest der deutsche Arbeiter. Auf Grund einer Enquete beantwortet. Tübingen, Leipzig 1900, hier S. 56-61; ders.: Bildungsbedürfnisse des deutschen Arbeiters und ihre Befriedigung, in: Die Verhandlungen des zwölften evangelisch-sozialen Kongresses abgehalten in Braunschweig vom 28.-30. Mai 1901, Göttingen 1901, S. 55-77; Diederichs: Annäherungen (1978), S. 15f.; Langewiesche/Schönhoven: Arbeiterbibliotheken (1976), S. 166ff., hier S. 181 auch kritisch zu den Arbeiten von Pfannkuche; Langewiesche: Zur Freizeit (1979), S. 174-223, insbes. 194-196, 211-216; Martino: Lektüre (1982), S. 379f., 389-392. Cotkin: The Socialist Popularization (1984), S. 207.
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V. Der literarische Markt
breites Publikum ergaben. Populärwissenschaft wurde nicht nur über Sprache vermittelt, sie wurde in spezifischen Sprachvarianten konstituiert; Wissenschaft zu popularisieren war wesenhaft ein sprachliches Ereignis.
2. Vertextung von Wissenschaft und populäre Sprache
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2. Vertextung von Wissenschaft und die Herausforderung populärer Sprache „[...] noch heute ist der Styl unserer meisten wissenschaftlichen Werke ungenießbar. [...] Da sehen wir den deutschen Professor, auf seinem Lehnstuhle sitzend, den Zeigefinger an der Nase, die Brille vor den Augen, wie er sich in einen Schwall von Worten hüllt, die nur deshalb bewundert werden, weil man sie nicht versteht. Je unverständlicher, desto tiefer; je geheimnißvoller, desto genialer." Anonym.: Popularität, in: Atlantis. Neue Folge 1 (1854), S. 81-89, hier S. 88.
Den sprachlichen Stil deutscher Professoren als wenig leserfreundlich, zu akademisch, ja als ungenießbar zu brandmarken, gehört zu den Standards der Wissenschaftskritik. Mit solchen Urteilen wurden schon im 19. Jahrhundert die Eigentraditionen gelehrten Selbstverständnisses karikiert. Die Naturwissenschaften standen allerdings im Zuge ihrer disziplinaren Verfestigung auch objektiv vor besonderen sprachlichen Problemen. Die Schwierigkeiten lassen sich im Spannungsfeld von wachsenden fachterminologischen Anforderungen in dem sich professionalisierenden Forschungsbetrieb und einem zunehmenden Bedürfnis nach öffentlichkeitsfähiger Verständlichkeit im gesellschaftlichen Raum bestimmen.
a) Das Dilemma der Fachsprache und die Sachprosa als Textgenre Die Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts sahen sich vor der Aufgabe, die anwachsende Datenflut aus der empirischen Erschließung der Welt zu verarbeiten. Sie konnten dabei auf die Ansätze zur Systematik aus dem 18. Jahrhundert zurückgreifen. Die auf Linné zurückgehende binäre Nomenklatur lieferte mit ihrer Zuordnung von Gattungs- und Artnamen ein begriffliches Instrumentarium, reichte aber angesichts entwicklungsgeschichtlicher, physiologischer und experimenteller Herausforderungen nicht aus, wollte man nicht bei positivistischer Katalogisierung verharren. 1 Außerdem erwies sich die naturphilosophische Begrifflichkeit als weitgehend untauglich, um die neue empirische Orientierung in Worte zu fassen. Die innerwissenschaftliche sprachliche Bewältigung der modernen Forschungsprozesse war schwierig.
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Wie sehr die naturwissenschaftliche Literatur des späten 19. Jahrhunderts noch unter dem Primat systematischer Katalogisierung stand, zeigt Dethlefs: Textverfahren (1994), S.61ff. am Beispiel von Ernst Haeckel und dessen Natürlicher Schöpfungsgeschichte.
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V. Der literarische Markt
Umgekehrt sahen sich die Naturwissenschaftler einer steigenden Vertextungserwartung ausgesetzt. Die eigenen Beobachtungen und Forschungsergebnisse in standardisierter Fachsprache zu dokumentieren, gehörte zu Anforderungen, die sich aus der Akademisierung und Professionalisierung der Wissenschaft ergaben; anders war der Kommunikationsbedarf der anwachsenden scientific Community nicht zu befriedigen. Die mündlichen Präsentationsformen lebten zwar auf Kongressen und Vorträgen fort, boten aber keine kommunikative Sicherheit und vor allem nicht die Gewähr, national und international wahrgenommen zu werden. Folglich stieg die Zahl naturwissenschaftlicher Fachzeitschriften und Publikationen im Verlauf des 19. Jahrhunderts drastisch an, auch wenn der Anteil der Monographien an der gesamten literarischen Produktion des Fachbereichs deutlich niedriger lag - und liegt - als in den Geistes- und Sozialwissenschaften. 2 Die Bibliothekare wissenschaftlicher Sammlungen, zumeist geisteswissenschaftlich ausgebildet, stellte diese Entwicklung vor erhebliche Ordnungsprobleme; Kataloge und Klassifizierungen blieben lange unzureichend. 3 Die Texte selbst mußten für das Verständnis einer geographisch weit gestreuten Fachleserschaft geschrieben werden und verzichteten damit auf individuelle Merkmale und die Orientierung an ein vertrautes, heimatliches Publikum. Im 19. Jahrhundert löste sich die Fachsprache vom Erbe der Rhetorik und orientierte sich an selbstgesetzten Regeln. Daraus erwuchs die moderne Naturwissenschaftssprache. 4 Sie basiert auf einem eigenen Fachvokabular und unterwirft sich der Sachorientierung. Sie ist monofunktional ausgerichtet, d.h. sie dient der Verständigung über einen eng begrenzten Fachbereich, der durch systematische Nomenklatur und präzise klassifizierende Sprache erschlossen wird. Die wissenschaftliche Darstellung erfordert logische Anordnung und exakte Terminologie, vermeidet Redundanzen und ornamentale oder Stimmungselemente. Sie neigt zu einer hohen Frequenz des Spezialwortschatzes und zur denotativen, monosemantischen Terminologie. Sie formalisiert die Sprache, erreicht einen hohen Abstraktionsgrad und eine große Informationsdichte.
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Vgl. Meadows (Ed.): Development (1980), darin im besonderen die Beiträge von A. A. Manten, David M. Knight und Jean G. Shaw. Ute Schneider: Wissenschaftsentwicklung und Wissensvermittlung, in: Buchhandelsgeschichte 1993, Bbl. Nr. 99, B 138-140. Im folgenden nach Pörksen: Deutsche Naturwissenschaftssprachen (1986). Vgl. Theo Bungarten: Wissenschaftssprache. Beiträge zur Methodologie, theoretischen Fundierung und Deskription. München 1981; im Sammelband von Dieter Cherubim/Klaus J. Mattheier (Hg.): Voraussetzungen und Grundlagen der Gegenwartssprache. Sprach- und sozialgeschichtliche Untersuchungen zum 19. Jahrhundert. Berlin, New York 1989 die Beiträge von Brigitte Schlieben-Lange: Wissenschaftssprache und Alltagssprache um 1800, S. 123-138 und Georg Objartel: Akademikersprache im 19. Jahrhundert. [...], S. 197-227.
2. Vertextung von Wissenschaft und populäre Sprache
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Die Entwicklung auf einen solchermaßen idealtypisch charakterisierten Sprachmodus verschärfte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das grundlegende Dilemma der Naturwissenschaftssprache. Zum einen erforderten die methodischen Standards die Ausbildung fachwissenschaftlicher Diskursivität, die sich in erster Linie in einer Verfestigung der Fachsprache ausdrückte. Zum anderen vergrößerte sich der Aufklärungsbedarf gerade der nichtfachlichen Öffentlichkeit, welche die sprachliche Transparenz wissenschaftlicher Erkenntnisse einklagte. Kein anderer Bereich erlebte die Verselbständigung der Wissenschaftssprache und deren Abspaltung von der Alltagssprache derart kraß wie die Naturwissenschaft.5 Besonders betroffen waren ihre exakten, mathematischen Zweige, die sich einer Formelsprache bedienten. Andere akademische Fächer, die Geschichtswissenschaft z.B., blieben ungleich stärker in der allgemeinen Bildungssprache verwurzelt, was sprachliche déformations professionelles keineswegs ausschloß. Die Fachsprache war das Korrelat zur forscherlichen Spezialisierung; beides mußte nicht nur in Spannung zur Idee der Popularisierung geraten, sondern konnte auch die unter den deutschen Gelehrten ohnehin vorhandenen Vorbehalte gegenüber einer zu populären Darstellungsweise und die Neigung zur akademischen Selbststilisierung im Medium der Sprache verstärken. Der Zoologe Theodor Eimer spitzte 1887 die Problematik zu: „Hand in Hand mit übertriebener Specialarbeit geht die Ausbildung des Unvermögens, allgemein verständlich zu schreiben. Nur zu häufig scheint der deutsche Gelehrte zu meinen, er müsse seinen Stoff in eine möglichst schwerfällige, mit Fremdwörtern übervoll gespickte Sprache bringen, fast als wolle er absichtlich nur ganz besonders engen Kreisen leichten Einblick in die Schätze seiner Wissenschaft und seines Wissens gestatten. [...] Gar einmal etwas ,populär' zu schreiben - wer weiß nicht, wie viele unserer Gelehrten auf diese Kunst vornehm herabbücken. [...] Mancher hält sich auch aus Vorsicht noch zurück, denn wer bei uns gemeinverständlich für die Allgemeinheit schreibt, der erscheint als Gelehrter nahezu verdächtig."6
Die fachsprachliche Verengung bedeutete aber auch, daß kein anderes Fach derart deutlich mit der Anforderung nach Allgemeinverständlichkeit konfrontiert wurde. Daraus ergab sich die Chance, ja die Notwendigkeit, Vermittlungs- und Übersetzungsformen zu finden. Tatsächlich erschien zwischen 1848 und 1914 außerhalb der akademischen Lehr- und Studienliteratur eine kaum überschaubare Fülle von Texten zu naturwissenschaftlichen Themen. Von einer eigenen Gattung populärwissenschaftlicher Prosa zu sprechen, erfordert, ein Korpus entsprechender Texte einzugrenzen, die Auswahlkriterien offen zu legen und Merkmale popularisierender Sprache 5
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In der Medizin ist das Dilemma ähnlich, wenngleich weniger stark ausgeprägt. Medizinische Topoi werden eher noch vom nichtfachlichen Umfeld aufgegriffen und die Verwendung (pseudo-)medizinischer Sprache ist durchaus sozial prestigekräftig. Eimer: Die fortschreitende Specialisierung (1887), S. 3.
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V. Der literarische Markt
zu benennen. Alle drei Anforderungen werfen erhebliche Probleme auf angesichts der Vielfalt vorhandener Texte, die sich im seltensten Fall aus sich selbst heraus als populär definieren lassen. Populärwissenschaftliche Texte können allenfalls zu einem „genre hétérogène aux frontières indécises"7 zusammenfaßt werden, das in seiner Heterogenität nie in unangefochtener Übereinstimmung von Textabsicht und Textrezeption bestanden hat. Die Gattung primär in Abgrenzung von rein wissenschaftlichen oder literarischen Texten zu bestimmen, liegt also nahe. Gleichwohl sind erste Annäherungen an die historische Sachprosa bzw. Sach(buch)literatur möglich, wie die äquivalent gebrauchten modernen Begriffe lauten. Moderne Definitionen des Sachbuchs können einen vorläufigen Anhaltspunkt bieten. Danach setzt sich ein Sachbuch sowohl von der fiktionalen Literatur als auch von wissenschaftlichen Fachbüchern ab, versucht in belehrender und unterhaltender Form ein Thema allgemeinverständlich an ein breites Laienpublikum zu vermitteln, dient also nicht wissenschaftlichen Zwecken sondern dazu, bei diesem Publikum Interesse zu wecken.8 Bei näherem Blick auf den Buchmarkt des 19. Jahrhunderts ist unübersehbar, wie sich zwischen ca. 1850 und 1865 das Bewußtsein von der Existenz einer populärwissenschaftlichen Textgattung ausbildete und entsprechende Definitionsversuche unternommen wurden. Schon 1856 erkannten Beobachter, daß eine „ganz besondere naturwissenschaftliche Volksliteratur" 9 anwachsen würde. In der Mitte des 19. Jahrhunderts verdichteten sich zudem Überlegungen zur Theorie popularisierender Sprache. Schon 1849 brachte die Zeitschrift Die begriffene Welt die Problematik auf den Punkt: Das „größeste Hinderniß, die Wissenschaft gemeinverständlich zu machen", seien die Sprachbarrieren. Einerseits trage das „Zunftkauderwälsch, die sogenannte wissenschaftliche Sprache" dazu bei, die Wissenschaft nach außen abzuschließen. Andererseits sei die „gewöhnliche Sprache" dadurch, daß sie so lange verschmäht wurde, „zu zäh und ungefügig geworden" 10 . Man begann, nach Antworten zu suchen und sowohl ideale Merkmale als auch typische Gefahren populärwissenschaftlicher Texte zu
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Bruno Beguet, in: La science pour tous (1990), S. 51, siehe auch S. 64. Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 7., verb. u. verm. Aufl., Stuttgart 1989, S. 802f. Vgl. Hiller: Zur Sozialgeschichte (1966), S. 115f.; Belke: Literarische Gebrauchsformen (1973), S. 80-89; Diederichs: Annäherungen (1978), Lobek: Das naturwissenschaftliche Sachbuch (1978), Voigt: Anmerkungen (1986), Erwin Barth von Wehrenalp: Die gesellschaftliche Bedeutung des Sachbuchs, in: Peter Vodosek (Hg.): Das Buch in Praxis und Wissenschaft. 40 Jahre Deutsches Bucharchiv München. Eine Festschrift, Wiesbaden 1989, S. 587-611. Die Natur 5 (1856), S. 31. Vgl. Anonym.: Die falsche Popularität (1855), [Hess:] Ueber die populäre naturwissenschaftliche Literatur (1857), NuO 7 (1861), S. 483; Die Natur 36 = N E 13 (1887), S. 57. [Jordan:] Der wissenschaftliche Genuß (1849), S. 1.
2. Vertextung von Wissenschaft und populäre Sprache
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bestimmen; beide werden in den folgenden Abschnitten b) und c) dargestellt. Die Reflexionen über die Norm sprachlicher Popularität in den Quellen verweisen auf das zeitgenössische Problembewußtsein. Allerdings spiegeln diese Überlegungen in erster Linie Werthaltungen und eine eigentümliche Legitimationsrhetorik, die immer auch eine Verteidigungsstrategie war. Die Praxis popularisierender Vertextung ist schwer zu systematisieren. Es gab Texte, die sich selbst als populär bezeichneten, ohne den Anforderungen eines populären Stils zu entsprechen. Andere näherten sich faktisch dem zeitgenössischen Ideal von Gemeinverständlichkeit, wurden aber später nicht in die Traditionsreihe populärwissenschaftlicher Literatur gestellt. Manche Texte wurden als populär wahrgenommen, verzichteten aber auf eine entsprechende Sprachgestaltung.11 Popularisierung als Absicht und als Sprachgestaltung, populär in der Wirkung und in der Wahrnehmung sind bereits auf der Ebene der Quellen keine deckungsgleichen Phänomene. Die Geschichte des Humboldtschen Kosmos und der Welträthsel von Ernst Haeckel zeigen beispielhaft solche Divergenzen. Sie lassen sich durchaus als Dialektik von Absicht und Wirkung thematisieren und in eine kritische Rezeptionsgeschichte der Sachliteratur 12 überführen. In systematischer Absicht hat bislang am überzeugendsten der Linguist Uwe Pörksen den Typus populärwissenschaftlicher Literatur charakterisiert.13 Nach Pörksen folgte auf den Übergang der Wissenschaftssprache vom gelehrten Latein in die Volkssprache während des 18. Jahrhunderts, der von ihm als erster Übersetzungsvorgang bezeichnet wird, im 19. und 20. Jahrhundert ein „zweiter Übersetzungsvorgang, der von dem gleichen aufklärerischen Impuls getragen war: die Übertragung des Wissenswerten
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Daher bleibt auch Alfred Kellys schlichtes Argument, populäre Texte hätten sich ja als solche zu erkennen gegeben und seien in Stil und Inhalt einfach vom wissenschaftlichen Widerpart zu unterscheiden gewesen, vordergründig und ist forschungsstrategisch untauglich, siehe Kelly: The Descent (1981), S. 6. Vgl. Engelsing: Analphabetentum (1973), S. 132; Schenda: Volk (1977), ders.: Die Lesestoffe (1976), S. 31-41,121-139; Fischer/Hickethier/Riha (Hg): Gebrauchsliteratur (1976), Radler (Hg.): Die deutschsprachige Sachliteratur (1978), Hohendahl: Literarische Kultur (1985), S. 340ff. Zur Kritik an Schenda siehe Knoche: Volksliteratur (1986), S. 6. Vgl. auch Hiller: Zur Sozialgeschichte (1966), S. 42^14, 87ff.; Wetzeis: Versuch (1971), Glaser: Kann die Wissenschaft (1965), S. 54-60; Diederichs: Annäherungen (1978) und Schiffeis/Estermann: Nichtfiktionale deutsche Prosa (1976). Einen knappen Überblick zur Forschung bietet Berentsen: Vom Urnebel (1986), S. 18-20,384f. Bemerkenswert ist die in der DDR kultivierte Beschäftigung mit dem Problem populärwissenschaftlicher Textverfahren, siehe Walter: Platz (1967), Günther: Zur Funktion (1979) und Matthes: Popularisierung (1987). Eine bibliographische Zusammenstellung popularisierender Texte jetzt bei Böning/Siegert: Volksaufklärung (1990). Pörksen: Deutsche Naturwissenschaftssprachen (1986), vor allem S. 29ff., 127ff., 182-199. Vgl. auch Belke: Literarische Gebrauchsformen (1973), S. 32,81-89.
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V. Der literarische Markt
aus den deutschen, sich von der Gemeinsprache entfernenden Fachsprachen in eine auf ein allgemeines Lesepublikum berechnete populäre Prosa." 14 Diese Prosa verstärkt die kommunikativen, empfängerorientierten Funktionen von Sprache: die Kontaktfunktion der Texte durch Annäherungen zwischen Autor und Publikum; die Ausdrucksfunktion durch Wertungen und das Bekenntnis zur Subjektivität des Autors; die Appellfunktion durch suggestive Wendungen und die Weckung von Neugierde; schließlich die poetische Funktion durch Ästhetisierung der Texte und Metaphorik. Die populären Sachtexte betonen damit die Empfängerorientierung gegenüber der Sachorientierung. Sie nehmen Elemente verschiedener Prosagattungen auf, bevorzugen das genetische und induktive Verfahren und neigen zur Rhetorisierung der Sprache und Emotionalisierung des Gegenstandes. Auch wenn Pörksens Merkmalkatalog selten im ganzen auf populärwissenschaftliche Texte bezogen werden kann, so läßt er doch deutlich den schillernden Charakter dieses Genres zwischen den idealtypischen Polen von Fachsprache und Alltagssprache, Sachbezug und Freiheit zu fiktionaler Gestaltung, denotativer und konnotativer Sprache erkennen.15 Ausgehend von solchen Prämissen und einigen pragmatischen Einschränkungen 16 empfiehlt es sich im historischen Interesse, über literaturwissenschaftliche Kategorien und eine sprachimmanente Analyse hinaus17 die populärwissenschaftliche Literatur kontextbezogen einzugrenzen. Populär wurde naturkundliche Prosa vor allem dadurch, daß sie im Kommunikationszusammenhang der Bildungsinstanzen als solche definiert wurde. Das bedeutet, daß sie Eingang in die Bibliotheken naturkundlicher Vereine fand, daß sie von den Vereinen verteilt oder empfohlen wurde, daß sie in den außerakademischen Zeitschriften rezensiert und dort für sie geworben wurde und daß sie von den Leih- und Wanderbibliotheken, z.B. der G W , gesondert systematisiert wurde.18 Daraus ergibt sich eine Schnittmenge, die zweifellos noch immer ausfranst und nie eine homogene Textsammlung darstellt, die aber doch weitgehend dem entspricht, was die Leser des 19. Jahrhunderts als populärwissenschaftlich wahrgenommen haben. 14 15 16
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Pörksen: Deutsche Naturwissenschaftssprachen (1986), S. 182. Vgl. Link: Chemische Lesbarkeit (1983), S. 24 und Chapple: Science (1986). So können die naturkundliche Kinder- und Schulbuchliteratur, Wörterbücher, Lexika, Science-fiction-Texte und die Rezeption der Naturwissenschaften in der fiktionalen Literatur nicht thematisiert werden. Vgl. auch die knappe Systematisierung bei Kelly: The Descent (1981), S. 33,53. Zur Systematisierung der Bibliotheken schon Preusker: Die Dorfbibliothek (1843), S. 59 und ders.: Ueber öffentliche [...] Bibliotheken [1839/40], S.77, 106-109. Eine besonders aussagekräftige Quelle stellen die Buchbesprechungen und Literaturberichte der naturkundlichen Zeitschriften dar.
2. Vertextung von Wissenschaft und populäre Sprache
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In der Verknüpfung von sprachlich-literaturgeschichtlicher Annäherung und historisch-kontextualer Analyse läßt sich Popularität bestimmen als Befriedigung eines kommunikativen Bedürfnisses, d.h. als Antwort auf den Wunsch nach naturwissenschaftlicher Information jenseits der Erwartung oder der Chance, akademische Texte zu rezipieren. Kann aber die Sachbuchliteratur auch in ihrer inhaltlichen und ideologischen Ausrichtung auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden? Die Diskussion darüber setzt erst allmählich ein. Daß mit der Forderung nach Popularität der Anspruch verbunden war, über die Verankerung in der Alltags- und Bildungssprache das weltanschauliche Deutungspotential der Naturwissenschaften zu stärken, ist kaum zu übersehen. Ob und wie solche Texte aber im konkreten durch die „Aufgabe der allgemeinen Weltinterpretation"19, durch holistische oder romantische Naturentwürfe und durch Ästhetisierungen, nicht zuletzt durch den Versuch, die ,zwei Kulturen' zu überbrücken, charakterisiert sind - darüber ist noch wenig bekannt. Die Frage soll an einigen Autoren überprüft werden.
b) Das „Geheimniss eines wirksamen Populär-Stiles": der Idealkatalog Anton Dohrn, ein 24jähriger aufstrebender Zoologe, berief sich 1864 freimütig auf Schillers Räuber, um seinem literarischen Tatendrang Ausruck zu verleihen. Der spätere Gründer der Zoologischen Station in Neapel bekannte in einem Brief an Ernst Haeckel, er fühle sich schlicht „wie Karl Moor": „Ich habe jetzt den Plan gefasst [...] die Darwinsche Theorie in toto populär zu bearbeiten. Und um ein möglichst gangbares Buch zu schaffen, werde ich mich nicht damit begnügen, die Thatsachen darzustellen, sondern ich werde ein vielfach gegliedertes Gebäude auffahren, worin alle Köder, die einem Buch ein Publicum gewinnen können, angewandt werden sollen. Ob ich dazu das Zeug habe, bezweifele ich nicht; [...] ich habe wenigstens gesehen, dass die kleine Broschüre, die ich in noch nicht 14 Tagen geschrieben habe, überall, was Stil und Form anbelangt, sehr gefallen hat, - und das ist das Geheimniss eines wirksamen Populär-Stiles."20 Wenige Jahre zuvor hatte Ludwig Büchner einem Kollegen eine Ausarbeitung zurückgesandt. Büchners Randbemerkungen sollten dem Verfasser darauf hinweisen, wo der Inhalt dem Leser deutlicher zu machen sei, 19 20
Pörksen: Deutsche Naturwissenschaftssprachen (1986), S. 197. Anton Dohrn an Ernst Haeckel 3.12.1864 (EHH Jena). Die von Dohrn angesprochene Broschüre war ein Pamphlet gegen die Darwinismuskritik des Physiologen Albert Kölliker, das auf Anraten von Dohms Vater und Rudolf Virchow nicht in den Druck ging, vgl. C. A. Dohrn an Haeckel 19.7.1865 (EHH), sowie Groeben/Wenig (Hg.): Anton Dohrn (1992), S. 33f., 83f.
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V. Der literarische Markt
„denn Verständlichkeit ist eine Haupterforderniß für das Publikum, auf welches wir reflektieren. Ich war so frei, Ihre Worte, soviel wie möglich, in einen populären Styl zu bringen". Man dürfe die „Aufmerksamkeit des Publikum's nicht zersplittern". 21 Hinter beiden Briefen stand die Überzeugung, daß populäre Wissenschaftsliteratur einer besonderen Form bedurfte, eigene stilistische Anforderungen stellte und wesentlich an den Erwartungen des Lesepublikums ausgerichtet sein mußte. Ein solches Bewußtsein verstärkte sich bei naturkundlichen Autoren seit den 1840er Jahren. Über den Populär-Stil wurde zunehmend nachgedacht - in Privatkorrespondenzen und öffentlich, in programmatischen Artikeln, in Vorworten zu naturkundlichen Werken und Buchbesprechungen. Die Naturwissenschaften zogen nunmehr das literarische Interesse auf sich.22 Sie hätten, meinte Otto Ule 1857, sogar Roman und Lyrik in den Hintergrund gedrängt, den „Geist der Sprache erfaßt und ihn gezwungen [...], in ihrem Tempel seinen Herrschersitz aufzuschlagen. Die naturwissenschaftliche Literatur hat die Rolle übernommen, die eine Zeit lang die historische hatte, sie liefert Muster des Styls für den eleganten Salon, wie für gelehrte und nicht gelehrte Schulen. Der ganze Geschmack der Zeit concentrirt sich in ihr."23 Wurde naturkundlichen Texten selbst literarische Qualität zugebilligt, so war es nicht verwunderlich, daß sie als „ächte Belletristik", „Unterhaltungsgegenstand" und „Genußleetüre" 24 eine Aufwertung erfuhren. Dem Botaniker Karl Müller schien es im Rückblick auf die Zeit nach 1850, als ob ein neuer Geist die deutsche Literatur elektrisiert und verjüngt habe. Den Anlaß sah er wie viele seiner Kollegen in der Entstehung populärwissenschaftlicher Schriften, welche die Naturwissenschaften neben die „schönen Wissenschaften" gestellt hätten. 25 Damit war der Grundtenor der Diskussion angeschlagen. Das Verfassen populärer naturkundlicher Texte galt ebensosehr als fachliche wie als künstlerische Aufgabe. Raoul France hat in diesem Sinne später den populärwissenschaftlichen Text als ein „seltsames Zwischendinggeschöpf" und die „Kreuzung eines Dichters mit einem Gelehrten" 26 charakterisiert.
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Ludwig Büchner an Herrn Med. Rath [?] 1.6.1857, so die Datumsnotierung im Katalog, sie kann m.E. im Original auch als 1852 gelesen werden, (SB München, Autogr. Ludwig Büchner). D.h. in der nachrevolutionären Zeit, für die sich der literaturgeschichtliche Epochenbegriff Realismus eingebürgert hat, vgl. Realismus und Gründerzeit, I—II (1981). O. Ule: Der naturwissenschaftliche Styl (1857), S. 49. Vgl. Klencke: Mikroskopische Bilder (1853), S. VHIf. [Jordan:] Der wissenschaftliche Genuß (1849), S. 3. K. Müller: Der Deutsche (1861), S. 79. France: Der Weg (1927), S. 147.
2. Vertextung von Wissenschaft und populäre Sprache
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Eine Stütze fanden die frühen Popularisierer im Werk Alexander von Humboldts. Dessen Programm der „Verbindung eines litterarischen und eines rein scientistischen Zweckes" und sein „Wunsch, gleichzeitig die Phantasie zu beschäftigen und durch Vermehrung des Wissens das Leben mit Ideen zu bereichern" 27 , geriet zum Vorbild zweier Generationen naturkundlicher Autoren. Unter solchen Vorzeichen machten sie sich daran, eine eigenständige Sachprosa zu begründen, deren ideale Eigenschaften abzustecken und die Grenzen zur schlechten Literatur zu ziehen. Die Argumentationsmuster blieben dabei bis 1914 erstaunlich konstant, auch wenn nur wenige Naturforscher geschlossene Abhandlungen zur Frage populärer Naturschilderung vorlegten.28 Der Idealkatalog läßt sich wie folgt umreißen: - Daß es besonders schwierig sei, das „Bedürfnis nach einer g u t e n naturwissenschaftlichen Popular-Literatur" 29 zu befriedigen, betonten die Bildungsvermittler schon aus Gründen der Selbstrechtfertigung. Von den Autoren wurde eine doppelte Qualifikation verlangt. Einerseits die fachliche Kompetenz, denn ein gutes populär-wissenschaftliches Werk könne nur derjenige schreiben, „der auf der Höhe seiner Wissenschaft steht und den Pulsschlag seiner Zeit begreift." 30 Andererseits galt „ein gewisses künstlerisches Talent der Darstellung" als unabdingbar für den Publikumsbezug. Damit war der Kreis adäquater Autoren eng gezogen. Verleger wie Ernst Keil konnten nur wünschen, daß bewährte Wissenschaftler auch populär zu schreiben verstünden; ein tüchtiger Professor könne ein sehr unverständlicher Volksschriftsteller sein.31 - Hinsichtlich der Materialauswahl galt es, auf gelehrte Vollständigkeit zu verzichten und „den Faden fallen zu lassen, wenn der Stoff in's Einzelne sich verliert" 32 . Die wissenschaftliche Detailfülle sollte durch den bunten Wechsel der Gegenstände ersetzt werden, ohne aber den Blick für das Ganze, die „kosmische Linie"33, aufzugeben. Die Auswahl des Stoffs war zwar an den Resultaten der Forschung zu orientieren, aber populärwissenschaftliche Bücher sollten auch „ein ganz bestimmtes Recht eigenen Tem27 28
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Humboldt: Ansichten (31849), Vorrede zur zweiten und dritten Ausgabe, S. XII. Vgl. K. Müller: Briefe (1854), Ratzel: Über Naturschilderung (1904) und ders.: Zur Kunst der Naturschilderung, in: Ratzel: Kleine Schriften, I (1906), S. 111-126. Eine frühe Reflexion über den populären Stil, der aber nicht auf die Naturwissenschaft im engeren Sinne bezogen ist, findet sich bei Preusker: Die Dorfbibliothek (1843), S. 50-52. J. Reinke, in: Deutsche Rundschau 34 (1883), S. 154. Reclam: Die Aufgabe (1857), S. 161. Vgl. H. Kleiner: astronomische Populärschriftstellerei, in: NwW 16 (1901), S. 97-99. Ernst Keil, in: Die Gartenlaube 1 (1853), S. 474. Vgl. Kosmos/Weltanschauung 1.2 (1877/78), S. 189. Bischof: Populäre Briefe, I (1848), S.V. Vgl. Moleschott: Lehre (1850), S.VI und Cotta: Geologische Bilder (1854), S.V. Bölsche: Wie und warum (1913), S. 310.
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V. Der literarische Markt
pos" behalten dürfen. Zum Zweck ihrer Verallgemeinerung seien, so Bölsche, zeitweise sogar „gewisse Gewaltakte nötig".34 Erkenntnisse und Tatsachen sollten nicht der ständigen Revision des kritischen Diskurses unterworfen werden, sondern im populären Genre für längere Zeit gelten dürfen. Erfahrungstatsachen und das „Aufmerksammachen aufs Alltägliche"35 standen hier im Vordergrund. Auch das biographische Moment sollte stärker als in wissenschaftlichen Texten gewürdigt werden.36 - Angeraten wurde, auf die Explikation von Methode und Erkenntnisgang zu verzichten. Der Weg der Erforschung sei unwichtig für ein Laienpublikum. Sogar der Aufbau der belehrenden Absicht sollte möglichst verdeckt werden, diese Absicht verstimme die Leser.37 Dagegen empfahl man, vom Alltäglichen und Bekannten auszugehen. Die Möglichkeit der Popularisierung beruhe auf dem „continuirlichen Ineinanderfließen der gewöhnlichen Erfahrung und der wissenschaftlichen Erkenntniß". Wichtig wurde, „in extremer Weise voraussetzungslos [zu] reden".38 Neben die Forderung nach induktivem Vorgehen und Voraussetzungslosigkeit trat die alternative Überlegung, vom Allgemeinen zum Besonderen vorzugehen, um die Leser möglichst rasch in das Zentrum der Argumentation zu führen.39 - Elementar war die eidetische Maxime. Anschaulichkeit diente als Schlüssel zu wahrer Popularität. Schon Johann Greiling hatte in seiner Theorie der Popularität von 1805 letztere nur dann für möglich gehalten, „wenn die fürs Leben brauchbaren wissenschaftlichen Resultate durch schöne Kunst, vermittelst der Versinnlichung, der gemeinen Fassungskraft genährt werden, wodurch dem natürlichen Verstand nothwendig ein Licht aufgeht"40. Das sinnlich Erlebbare zu betonen oder es gegebenenfalls mit künstlerischen Mitteln hervorzurufen, galt als legitime Eigenart populärer Literatur. Es ging darum, „aus dem Augenschein heraus"41 darzustellen und von der Anschauung zum Begriff zu gelangen. Dem Botaniker Matthias Schleiden kam es bezeichnenderweise in seinen Vorträgen über die Pflanze und ihr Leben (1848,31852) in weiten Teilen „nicht auf trockene Wissenschaftlichkeit, sondern auf lebendigere Anschaulichmachung der wichtigern Puñete"42 an. 34 35 36 37
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Bölsche: Zur Erinnerung (1905), S.XV. Sachse: Ueber naturhistorische Volksschriften (1846), S. 44. Ebenda, S. 45. Meyer: Die populär-wissenschaftliche Litteratur (1895), S. 27. Vgl. Sachse: Ueber naturhistorische Volksschriften (1846), S. 42 und Reclam: Die Aufgabe (1857), S. 163f. Zacharias: Die Popularisirung (1878), S. 380; Bölsche: Wie und warum (1913), S. 322. Weinstein: Über die Popularisierung (1904), S. 315. Greiling: Theorie (1805), S. 39f. Meyer: Das Weltgebäude (1898), S. V. Vgl. Saager: Über die populäre Darstellung (1907), S. 369. Schleiden: Die Pflanze (31852), S. 8.
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- Im Mittelpunkt solcher Überlegungen stand die sprachliche Gestaltung. Popularisierung wurde als sprachliche Transformationsleistung begriffen. Sie diente der Übertragung wissenschaftlicher Beobachtungen in eine publikumsnahe Terminologie oder bereitete die Naturwahrnehmung auf eigene Weise sprachgestalterisch zu; beides griff oft ineinander. War das erste als ,„Übersetzung' des Fachjargons in verständlichen Bildungston"43 schon schwierig genug, so erforderte das zweite besondere ästhetische Qualitäten. Angemahnt wurde die „dichterische Kraft", welche „trockene Forschererkenntnis wieder in farbige, lebendige Bilder" umgestalte.44 - Die Frage nach den stilistischen Mitteln, die Teil der Sprachdiskussion war, konnte nicht verbindlich und noch weniger theoretisch beantwortet werden. Das Wichtigste war zunächst, daß ein eigener naturwissenschaftlicher Stil akzeptiert wurde.45 Der individuellen Praxis blieb vorbehalten, die selbstproklamierte „freie Form" bzw. die „poetisch gehobene Form" auszugestalten, einen „novellistisch erzählenden Lehrton" oder einen anderen Duktus zu wählen.46 Analogiebildungen, Metaphern und exemplarisch-induktives Vorgehen, bildhafte Sprache, Verzicht auf Fremdwörter und „eine bestimmte dichterische Fähigkeit des Ausdrucks"47 blieben die eher vage erörterten Vorgaben. - Exemplarisch war die Diskussion über (lateinische) Fachausdrücke und den ausschließlichen Gebrauch des Deutschen. Ein Teil der Autoren versuchte konsequent, fremdsprachige Ausdrücke zu vermeiden, so Otto Volger, diese in den Anmerkungen ihrer Werke zu übersetzen, wie es Rudolf Bommeli unternahm, oder eine „deutsche Fachsprache" (Raoul France) zu begründen.48 Andere plädierten dafür, zwar die deutsche Sprache verstärkt zu nutzen, aber die universale Wissenschaftsterminologie zu respektieren; sie warnten davor, in einen übertriebenen Purismus des Deutschen und eine falsche „Popularitätssucht"49 zu verfallen. Selbst professionelle 43
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Bölsche: Wie und warum (1913), S.323, vgl. ebenda S.305, 313, sowie Bölsche: Liebesleben, I (21911), S. VIII; Prometheus 1 (1890), S. 2; Guenther: Vom Urtier, I (1912), S.U. Bölsche: Zur Geschichte (1901), S. XI. O. Ule: Der naturwissenschaftliche Styl (1857). Moleschott: Der Kreislauf (1852), S. III; Ernst Krause, in: Kosmos/Weltanschauung IV.8 (1880/81), S. 227; [E. A. Roßmäßler:] Ein Naturforscherleben (1863), Sp. 323. Bölsche: Wie und warum (1913), S. 300. Volger: Erde und Ewigkeit (1857),Bommeli: Die Pflanzenwelt (1894), R. France: Gemeinverständliche Fachausdrücke, in: Mikrokosmos 1 (1907/8), S. 57-60, Zitat S.57. Vgl. Steinmann (Hg.): Volks-Kosmos, I (o.J./ca. 1859), S. 164, Anm. 1, und Kraepelin: Naturstudien im Garten (1901), der die lateinischen Namen in den Fußnoten nannte. [Roßmäßler:] Unsere Sprache (1863), O. Ule: Der naturwissenschaftliche Styl (1857), S. 49 mit Kritik an der Praxis Volgers; ebenso Hess: Populäre naturwissenschaftliche Schriftsteller (1857), S. 959f., hier S. 959 auch das angegebene Zitat.
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V. Der literarische Markt
Popularisierer übten Kritik an der „übertriebenen Verdeutschungssucht"50. - Die konkrete Textgestaltung blieb ebenso strittig wie die als notwendig erkannte illustrative Ausstattung der Texte. Dieser letzte Aspekt bleibt im folgenden ausgeklammert, da er eine eigenständige und eingehendere Betrachtung über das Verhältnis von Bild und Text, die Ikonographie der naturkundlichen Buchillustration und die Geschichte der Ausstattungstechniken erfordern würde.51 Bemerkenswert sind die Vorbehalte, die bei vielen Popularisierern gegenüber exzessiver illustrativer Ausstattung bestanden; das wichtigste Medium blieb die Sprache.52 - Das explizite Bekenntnis zur Popularisierung und der Publikumsbezug bildeten keineswegs die Regel, auch nicht das Titelattribut populär. Doch versäumte kaum eine Publikation, programmatisch die Adressaten außerhalb des engen Kreises fachkundiger Wissenschaftler zu verorten. „Für das Volk" und das „größere Publikum", 53 an den „weiteren Leserkreis" oder die „weitesten Kreise",54 für „Anfänger in der Wissenschaft" oder schlicht für „Jedermann" 55 boten sich naturkundliche Bücher an. Die ältere Phrase „für alle Stände" 56 trat seit 1860 zurück. Solche Formeln erlauben indes keine Rückschlüsse auf das reale Publikum. Der hier systematisierte Idealkatalog stellte nur die eine Seite der Diskussion dar, die stets dichotomisch angelegt war. Zum integralen Bestandteil der Popularisierungsprogrammatik wurde die Antikritik.
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Krause, in: Kosmos/Weltanschauung 1.2 (1877/78), S. 189. Vgl. Drouin/BensaudeVincent: Nature (1996), S.415f. Vgl. Claus Nissen: Die zoologische Buchillustration. Ihre Bibliographie und Geschichte, Bd. I (Bibliographie), Bd. II (Geschichte) Stuttgart 1966-1978; Wilhelm Schäfer: Das wissenschaftliche Tierbild. Frankfurt/M. 1949. Über diese traditionellen Darstellungen hinaus entwickelt sich inzwischen die Beschäftigung mit Visualisierungspraktiken von Wissenschaft zu einem eigenem Feld der historischen und kunsthistorischen Forschung. Bölsche: Wie und Warum (1913), S. 314f. Moleschott: Lehre (1850); Die gesammten Naturwissenschaften, I (1857), Prospekt von G. D. Bädeker. Vgl. die Vorrede von Karl Vogt zu Huxley: Uber unsere Kenntniss (1865), S. VII. Giebel:Tagesfragen (1857), S. IV; Bommeli: Die Geschichte der Erde (1890), Vorrede. Vgl. Brehm/Roßmäßler: Die Thiere, I (1864), S. VI und Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868),S.V. Pontecoulant: Populäre Astronomie, I (1846), S. 4; Czermak: Populäre physiologische Vorträge (1869), S. V. Oken: Allgemeine Naturgeschichte (1833-1845) als Titelzusatz. Vgl. Klencke: Die Naturwissenschaften (1854), S. 1, und - ungewöhnlich spät noch - Haeckel: Die Welträthsel (1899), S. III.
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c) Das „platte Verständlichmachen": die Gefahren Die Klage über die „falsche Popularität"57 bürgerte sich in der zeitgenössischen Diskussion ebenso ein wie der stete Hinweis auf Mißstände der populärsprachlichen Gestaltung. Das Menetekel volkstümlicher „Ausschreibelitteratur"58 stand in grellen Farben vor aller Augen. In vorauseilender Abwehr des Trivialisierungsvorwurfs, aus Selbstrechtfertigung und um Profilierung gegenüber der Marktkonkurrenz bemüht, wurde es konstitutiv für populärwissenschaftliche Texte, gegen die Abweichungen vom Ideal wahrer Volkstümlichkeit zu polemisieren. Mehr als ihnen bewußt war, verknüpften die literarischen Bildungsvermittler ihre Argumente mit denen der Gegner. Es gab kaum ein Vorzug von Popularisierung, der nicht mit einer Gefahr umschrieben wurde. Mit Blick auf die Autoren galt die Kritik den unqualifizierten Trivialisierern - jenen ,,Salonwissenschaftler[n] und - popularisierer[n], die mit ihren Titeln, ihrer aparten Haarpracht oder ihrer schönen Rednergabe eine kritiklose Menge blenden"59. Hinsichtlich der Materialwahl wurde in endloser Wiederholung vor der Aufnahme von spekulativen und hypothetischen Gedanken gewarnt. Abgelehnt wurden unberechtigte Phantasien, das „Jagen nach Sonderbarem, das Haschen nach Raritäten" und die „Anhäufung von Curiositäten". Im Erkenntnisgang seien „Kühnheit der Gedankenblitze", Schematismus und Widersprüche zu vermeiden. Anschaulichkeit sollte nicht mit „Blendwerk in Wort und Bild" verwechselt werden. Belletristische Schönmalerei durch „abenteuerliches Flitterwerk" sei zu vermeiden.60 Gefahren erkannte man vor allem in der sprachlichen Gestaltung. Skylla und Charybdis wurden schnell ausgemacht: Zum einen die „Mandarinensprache"61 der Gelehrten, die durch trockene Aufzählungen und den Ballast von Fremdwörtern und Ausdrücken der „Kathederweisheit"62 langweile; zum anderen die übertriebene Rhetorisierung. Schönrednerei wurde 57 58 59 60
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Hier bei Anonym.: Die falsche Popularität (1855), Steinmann (Hg.): Volks-Kosmos, II (o.J./ca. 1859), S. 426. Diner: Volksthümliche Wissenschaft (1890), S. 720. Vgl. O. Ule: Physikalische Bilder, I (1854), S. lOf. Schalden: „Wissenschaftlich" (1907/8), S. 474. Sachse: Ueber naturhistorische Volksschriften (1846), S.44; Helmholtz: Ueber das Streben (1874/1896), S.426; O. Ule: Der naturwissenschaftliche Styl (1857), S. 49; Christian G. A. Giebel im Vorwort zur 7. Aufl. von Burmeisters Geschichte der Schöpfung, 1867, S. III; O. Ule (Hg.): Die Wunder der Sternenwelt, Vorwort zur ersten Auflage nach der Ausgabe von 1877, S.V, in der Auflage von 1883 wurden diese Passagen eliminiert. Sirius 1 (1868), S.l. Steinmann (Hg.): Volks-Kosmos, II (o.J./ca. 1859), S.424; vgl. Giebel: Die Naturgeschichte, I (1859), S.2 im Abwägen über den „Widerstreit der wissenschaftlichen und populären Naturgeschichte".
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zur negativen Abweichung erklärt, wenn die „schwülstigen Ueberladenheiten", die „Fülle des belastenden Schmuckes" und die „Buntheit der zierenden Bilder"63 den Inhalt verdecken würden. Schwulst, Breite, falsche Mittel und Unlogik gehörten zu den Übelständen.64 Dabei erkannten Verleger und Autoren, daß erst die Abwendung von der Naturphilosophie den Freiraum für eine erfahrungsgesättigte, öffentlichkeitswirksame Sprache schuf. Die philosophische Terminologie erwies sich als wenig kommunikabel und kaum vereinbar mit den Erwartungen des nichtwissenschaftlichen Publikums. Frei von „allem Schellingisch-naturphilosophischem Geschwätz" vermochte Matthias Schleiden 1848 die Überzeugung zuzuspitzen, „daß die Wissenschaft dieses Narrenputzes nicht bedarf, um interessant, geistreich auch dem Laien zu erscheinen."65 Indem sich die Vermittler derart von der Schulphilosophie distanzierten, öffneten sich ihnen erhebliche inhaltliche und formale Freiräume, die sie ohne Rücksicht auf Kritik aus dem Universitäten ausgiebig nutzten. Auf der Basis einer methodisch illusionären Voraussetzungslosigkeit und der Nichtklärung zentraler Untersuchungsbegriffe gestanden sich viele Verfasser eine erhebliche Autonomie in Logik und Konsistenz ihrer Texte zu. Sie konnten die vermeintlichen Fesseln akademischer Wissenschaftsstandards abstreifen und sich von der Notwendigkeit intersubjektiver Überprüfbarkeit befreien. Hier entstanden Räume zur eigenen Theoriebildung, die nicht selten von der Selbstbezüglichkeit der Autoren ausgefüllt wurden.66 Es kann nicht verwundern, daß auch Popularisierungsabsicht und Publikumsorientierung bis 1914 in die dichotomische Debatte um Popularität eingespannt blieben. Zur „seichten Unterhaltungslectüre" oder zum bloßen „Amüsement"67 wollten die naturkundlichen Popularisierer ihre Texte ungern gezählt wissen. Die Autoren verwahrten sich dagegen, daß populäre Vorträge „die Wissenschaft profaniren heisse"68. Ausgerechnet die Chemischen Briefe Justus Liebigs, die bis heute als klassisches Beispiel der frühen Sachbuchliteratur gelten,69 widersprechen in der Selbsteinschätzung der späteren Kanonisierung. Die Briefe waren, wie Liebig im Vorwort der ersten Auflage ausführte, „für die gebildete Welt geschrieben, welche vor der Erörterung der wichtigsten und schwierigsten Fragen in der 63 64 65 66 67 68 69
O. Ule: Der naturwissenschaftliche Styl (1857), S. 49; vgl. Anonym.: Die falsche Popularität (1855), S. 381 und Brehm: Roßmäßler (1867), S. 24f. Bölsche: Wie und warum (1913), S.300; vgl. Ratzel: Über Naturschilderung (1904), S. 319-327,367f„ 373. Schleiden: Die Pflanze (31852), S. 7. Ein Beispiel unter vielen bietet Haacke: Die Schöpfung (1895). Körner: Der Mensch (1853), S. VI; vgl. auch Roßmäßler: Der Wald (1863), S. V und Diesterweg: Populäre Himmelskunde (91876), S. XIII. Czermak: Populäre physiologische Vorträge (1869), S. V. Vgl. Glaser: Kann die Wissenschaft (1965), S.58; Wetzeis: Versuch (1971), S. 84-90; Diederichs: Annäherungen (1878), S. 9f.
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Wissenschaft, insofern sie einflußreich für den weiteren Fortschritt und die Anwendungen sind, nicht zurückzuschrecken gewohnt ist, für eine Klasse von Lesern, die an einer sogenannten populären Form der Darstellung, womit man gewöhnlich das Herabziehen in das Gemeine und in das platte Verständlichmachen bezeichnet, kein Gefallen finden kann."70 Noch in seinen autobiographischen Aufzeichnungen notierte Liebig später, die Briefe seien keineswegs eine „Populärschrift" gewesen, als die sie in der Regel bezeichnet würden.71
d) Die „kleinen Kniffe": Beispiele popularisierender Textgestaltung Im gleichen Jahr, als Anton Dohm über das Geheimnis eines wirksamen Populär-Stiles nachdachte, sandte Alfred Brehm Ratschläge an einen Kollegen, der die Naturgeschichte der Vögel Mecklenburgs bearbeitete. Brehm empfahl als Titel „Streifzüge eines Ornithologen", daneben „ein bischen landschaftliche Beschreibung, hübsche Genrebilder dazu". Wenn noch „ein bischen Subjektivität" und „Ruhepunkte durch Eintheilung in Capitel" hinzukämen, würde es ein prächtiges Buch. Gerne teile er „solche kleinefn] Kniffe" mit, denn: „Wer das Laienpublikum haben will, muß es ihm recht machen."72 Brehm selbst folgte getreulich dieser Maxime und avancierte zu einem der erfolgreichsten volkstümlichen Naturschriftsteller des 19. Jahrhunderts. Sein Hauptwerk, das Thierleben (1864-1868, 21876-79, 31890-93, 4 1918-20)73, präsentierte sich in den beiden ersten Auflagen als Mischung unterschiedlicher Text- und Sprachgenres. Der Autor verwob deskriptivsachliche Passagen mit Ich-Erzählungen und Impressionen, fach-zoologische Erklärungen mit Reiseberichten. Die Erlebnis- und Reiseschilderung dominierte über weite Strecken. Brehm nutzte mit dem Typus des Reiseberichts eine der beliebtesten Literaturgattungen des 18. und 19. Jahrhun-
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Liebig: Chemische Briefe (1844), S. IV. Vgl. die Kritik an dem gelehrten Charakter des Werkes in: Die Natur 14 (1865), Naturwissenschaftliches Literaturblatt Nr. 3, S. 17. Zitiert nach Conrad: Justus von Liebig (1985), S. 37. Auch Liebigs zoologischer Kollege Hermann Burmeister in Halle wollte in seiner 1843 erstmals veröffentlichten Geschichte der Schöpfung zwar über die Fachwissenschaft hinaus zielen, aber nicht „für den großen Haufen der gewöhnlichen Lesewelt" schreiben, so Burmeister: Die Schöpfung (21845), S. IV. Alfred E. Brehm an Heinrich David Friedrich Zander 16.1.1864 (UB Bonn, S.2648). Zu den verschiedenen Auflagen des Thierlebens siehe Grottker: Auswahlbibliographie (1989).
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derts.74 Brehm hatte sein zoologisches Wissen bei Reisen in Nordost-Afrika zwischen 1847 und 1852, später in Spanien, Norwegen und Abessinien entscheidend erweitert und mit Eindrücken des Fremdländischen verquickt.75 Nachdem sich in der zoologischen Literatur seit einiger Zeit die Hinwendung zur sogenannten Tierseelenkunde abgezeichnet hatte,76 trieb Brehm zudem die Anthropomorphisierung der Tierwelt auf die Spitze. Ob die Tiere eifersüchtig oder traurig, verschlagen oder gütig, vorwurfsvoll oder nachsichtig agierten - Brehm hatte alles in solchen Vokabeln notiert. Das Mitgefühl der Leser wurde auf eine ständige Probe gestellt. Zu den Säugetieren etwa notierte Brehm ausführlich: „Das kluge Thier rechnet, bedenkt, erwägt, ehe es handelt, das gefühlvolle setzt mit Bewußtsein Freiheit und Leben ein, um seinem inneren Drange zu genügen. Das Thier hat von Geselligkeit sehr hohe Begriffe und opfert sich zum Wohle der Gesammtheit; es pflegt Kranke, unterstützt Schwächere und theilt mit Hungrigen seine Nahrung. Es überwindet Begierden und Leidenschaften und lernt sich beherrschen, zeigt also auch selbständigen Willen und Willenskraft. Es erinnert sich der Vergangenheit jahrelang und gedenkt sogar der Zukunft, sammelt und spart für sie."77 Es war nicht weniger als eine Skizze des männlichen Bürgers und seines idealen Sozialverhaltens im 19. Jahrhundert, die Brehm hier lieferte. Basierend auf durchgängig anthropomorphen Beschreibungen wurde Brehm mit einem hohen Maß an rhetorischer Gestaltung, essayistischen Setzungen, effektvollen Geschehenselementen und subjektiven Erzählmustern für viele Autoren zum Vorbild.78 Seine Beliebtheit verdankte das Thierleben daneben zwei äußeren Merkmalen. Brehm engagierte die besten Tierzeichner seiner Zeit, darunter Ludwig Beckmann und Robert Kretschmer. Die konsequente Illustration durch möglichst lebensnahe Tierzeichnungen unterstützte die plastische Sprache. Bis dahin war meist von ausgestopften 74 75
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Vgl. Griep: Reiseliteratur (1980), Lloyd: Naturalists (1985) für England; Ueding: Klassik (1987), S.771ff.; Fisch: Forschungsreisen (1989). Brehm wurde außer durch seine Zeitschriftenbeiträge, die zu einem guten Teil aus Reiseschilderungen bestanden, im besonderen durch die Reiseskizzen aus Nord-Ost-Afrika (1855) bekannt. Der Aufschwung der populären Tierpsychologie war vor allem auf das Werk des Schweizer Pfarrers Peter Scheitlin: Versuch einer vollständigen Tierseelenkunde, 2 Bde., Stuttgart 1840 zurückzuführen; eine Ausgabe befindet sich auch im Bestand der Brehm-Bibliothek in Renthendorf/Thüringen. Brehms Thierleben, I (21876), S. 23. Vgl. zur Bedeutung solcher Anthropomorphisierungen für die bürgerliche Naturauffassung Löfgren: Natur (1986) und ideologiekritisch Eggebrecht: Bürger (1976). Schulze: Alfred Brehm (1993), S. 72-102. Essayistische Setzungen bedeutet bei Dethlefs: Textverfahren (1994), S. 32f., 42 ein spekulatives Verfahren, bei dem eine Idee als Ausgangspunkt von Beschreibung und Faktenzusammenstellung dient.
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Tierbälgen abgezeichnet worden. Solche Bilder zeigten die Tiere in irreal statischen Positionen, ohne die biotopische Umgebung einzubeziehen. 79 Außerdem war die Vertriebsweise des Thierlebens klug berechnet. Das Bibliographische Institut bot das Werk, welches in den Originalfassungen anfangs sechs, später dreizehn voluminöse Bände umfaßte, in kleinen Lieferungen an. Ohne den Vertrieb der Lieferungen durch Kolportage wären die Herstellungskosten nicht aufzubringen gewesen.80 Für die erste Ausgabe erschienen insgesamt 115 Lieferungen. Später kamen wohlfeile bzw. Volksausgaben hinzu.81 Die Tendenz zur Veranschaulichung und bildhaften Verstärkung naturkundlicher Sachverhalte wurde in der populärwissenschaftlichen Prosa weit über Brehm hinaus - durch den ausgiebigen Gebrauch von Metaphern unterstützt. Einige typische Metapherngruppen kristallisierten sich heraus. Sie gingen oft in Anthropomorphisierungen, Personifizierungen und synekdochische Formulierungen über. Gesteinsformationen wurden zum „Tagebuch der Natur" und „Memoiren-Werk", ihre Leitfossilien zu „Urreliquien", der Weltraum zum „Ocean der Luft"; Gliederfüßler mutierten zu „Chinesen der Thierwelt" im „Gewühl eines Familien-Maskenballes"; „Familienväter im Reich der Fische" und Moose als „ [bescheidene Bürger" wurden ohne Mühe ausgemacht.82 Viele Texte orientierten sich ausdrücklich an den potentiellen Lesern, die als fiktive Adressaten Eingang in die Sachprosa fanden. Die Leseransprache findet sich in Abstufungen als rhetorische Frage, als Pluralis majestatis oder abgeschwächt als einfache rhetorische Wir-Form und auch mit der Du-Anrede als direkte Wendung.83 Einen für die erzählerische Gestaltung noch günstigeren Modus bot die Konstruktion des Publikums im Text selbst. Schon Heribert Rau und Roßmäßler formten ihre Belehrungen zu Geschichten von Lehrern und reisenden Naturwissenschaftlern, die auf 79
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Wie sehr das Thierleben aufgrund seiner Illustrationen an Attraktivität gewann, wird deutlich, wenn man es mit den nur wenig älteren Werken von Pöppig: Naturgeschichte (1851) oder Giebel: Naturgeschichte (1859-64) vergleicht. Zu Kosten und Vertrieb des Thierlebens auch Wittmann: Buchmarkt (1982), S. 140. Wittmann: Buchmarkt (1982), S. 140. Vgl. Sarkowski: Das Bibliographische Institut (1976), S. 86-89. So 1868,1873,1883 und 1893. ,Der Brehm', wie man bald sagte, blieb - ähnlich wie ,Der Schmeil' - auch deshalb bis heute im kollektiven Gedächtnis und in den Buchhandlungen, weil unter diesem Namen nach Brehms Tod diverse Folgeauflagen und Neubearbeitungen erschienen. Das Bibliographische Institut scheiterte 1925 in höchstrichterlicher Instanz mit dem Versuch, das Urheberrecht an Brehms Tierleben für sich zu reklamieren. Vgl. Hiller: Zur Sozialgeschichte (1966), S. 43f.; Grottker: Auswahlbibliographie (1989). Sterne: Werden (1876), S.29, 202; Hartwig: Gott (1864), S.30; Sterne: Werden (1876), S. 202; Budde: Naturwissenschaftliche Plaudereien (1891), S.6-10; Bommeli: Die Pflanzenwelt (1894), S.250. Vgl. Bölsche: Das Liebesleben, I (21911), S. 65.
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Abbildung 7 und 8: Brehms Thierleben als eines der bekanntesten populärwissenschaftlichen Naturbücher des 19. Jahrhunderts beeindruckte die Leser durch die Lebendigkeit seiner Abbildungen, hier das Deckblatt und eine Illustration zum Kapitel über Raubtiere.
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lernbegierige Schüler und Zuhörer stießen.84 Das erlaubte, über die Beziehung von Lehrer und Schülern atmosphärische und anekdotische Elemente in den Text einfließen zu lassen. Spätere Autoren bedienten sich eher der Dialogform, z.B. als sonntägliche Unterhaltung zwischen Vater und Kindern oder Onkel und Neffen über Naturphänomene und als Selbstgespräch.85 Besonders beliebt war der Rückgriff auf die dialogisch-lehrhafte Briefform, insbesondere in den 1850er Jahren. 86 Viele Autoren verglichen die Belehrung mit einer Lehrwanderung oder konstruierten den Text selbst als etappenweise Reise, um den Publikumsdialog zu suggerieren. Schleiden sprach in seinem Buch Die Pflanze von „unserer Wanderung durch das Gebiet der Wissenschaft", wobei die begleitende Gesellschaft häufig dazu veranlaßt sei, „die gerade aber staubige und ermüdende Landstraße zu verlassen, um hier einen sich durch Wiesen schlängelnden Pfad, dort einen schattigen Waldsteig zu verfolgen. Wir wollen sehen, wie wir geführt werden." 87 Die Lektüre des populärwissenschaftlichen Textes wurde zu einer Wanderung mit einem Reiseplan, sogar zur Weltreise.88 Der Autor übernahm die Rolle eines plaudernden Reisebegleiters, die Naturwissenschaft agierte als erfahrener Führer, und bei Otto Ule ging die „ideale Reisegesellschaft allmählich in das große lesende Publikum" auf.89 Die Eigentümlichkeiten populärer Vertextung werden an keiner Stelle so deutlich wie in Kapitelanfängen und beschreibenden Passagen, in denen die Autoren stilistische Mittel häuften und an die Neugierde der Leser und deren Empfänglichkeit für Naturstimmungen appellierten. Ein Beispiel bietet August Böhners Kosmos von 1864 zu Beginn des Kapitels über die Sternenwelt: „Der letzte, zarte Purpurschimmer der Abendröthe an den Firnen der Alpen ist verschwunden. Stille Nacht ist herabgesunken und hat sich auf der kühlen Erde gelagert. Ein linder Thau erquickt die Thäler und Hügel. Dunkelheit umschleiert die Gefilde. Die Sonne steht schon dreißig Grade unter meinem Horizont. Aber siehe, hell und klar, wie ein krystallener Spiegel, wie ein Meer von Azur, voll göttlicher Gedanken, erhebt sich der Himmel über meinem Haupte. Die Sterne glühen. Sie blitzen aus unermeßlichen Höhen, als Zeugen der Allmacht, wie Sinn84 85 86 87
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Roßmäßler: Der Mensch, I-V (1850-53), Rau: Das Evangelium (21857). Kraepelin: Naturstudien (1901) und ders.: Naturstudien (1910); Grottewitz: Sonntage (1907). Siehe Kapitel V.4.b). Schleiden: Die Pflanze (31852), S.9; vgl. Bischof: Populäre Briefe, II (1849), S. 208f.; Briefe über Alexander von Humboldt's Kosmos, I (1848), S.30 und III.l (1851), S. 1; später Thesing: Biologische Streifzüge (1908), S. 351. Siehe auch Kinzel: Die Zeitschrift (1993), S. 697,700. Klencke: Die Naturwissenschaften (1854), S. 32,202; K. Müller: Das Buch (1857). O. Ule: Die Wunder (31883), S.VI; vgl. Meyer: Spaziergänge (1885), S. 15; Die Gartenlaube 6 (1858), S.666; Klencke: Die Schöpfungstage (1854), S.51f., VI; ders.: Die Naturwissenschaften (1854), S. 202.
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bilder des Entzückens reiner Seelen, in das dunkle Erdenthal hernieder mit einer Pracht, die auf Erden nirgends ihres Gleichen hat. ,Siehe an die Sterne, kannst du sie zählen?'"90
Das impressionistische Prinzip lag solchen emotional getönten Naturbeschreibungen zugrunde, und es sollte sich verselbständigen. Die rhetorischen Mittel erfuhren in einem Ausmaß und - vergleicht man Texte zwischen 1848 und 1914 - in einer konstanten Wiederholung eine derartige Bündelung, daß quasi kanonisierte Naturbeschreibungen in klischeehaften Genrebildern erstarrten. Den Kern bildete eine Gruppe von Wortpaaren mit ausdrucksstarken, metaphorischen Attributen: der zuckende Blitz, die glänzenden Sterne, das flutende Sonnenlicht, die blühende Wiese etc. Darum gruppierten sich ausladende Beschreibungen. In Steinmanns Volks-Kosmos, der Ende der 1850er Jahre entstand, wurde der Wasserkreislauf folgendermaßen vorgestellt: „Wenn die leuchtende Sonne warm und glühend ruht an dem Busen der kühlen Fluth, verlassen Millionen salziger Tropfen den Ocean und steigen, ungesehn von Menschenaugen, getragen auf den Flügeln des Windes, hinan zum blauen Aether. Bald aber werden sie zu ihrem Dienst zurückberufen: sie sammeln sich in Silberwolken, streifen rund um den Erdkreis, fallen dann hernieder, hier ungestüm in rasendem Sturm Alles verwüstend und zertrümmernd, dort als sanfter Regen, befruchtend und erfrischend oder, noch milder, als schimmernde Thauperlen am Busen der aufbrechenden Rose glitzernd und die kleinste Schaale füllend, die ihnen Blatt und Blume entgegenhalten. Gierig trinkt die durstige Erde des Himmels Trank; durch tausend Adern sendet sie ihn in ihr tiefstes Herz und füllt damit ihre unsichtbaren geräumigen Behälter."91
Kritische Bemerkungen gegen eine solche Anhäufung deskriptiver Stimmungselemente und Bilder hatten wenig Erfolg. 92 Zweifellos waren die impressionistische Darstellungsweise und die „einleitende Stimmungsfarbe" 93 keine Eigenheiten der naturkundlichen Literatur des Fin de Siècle. Sie gehörten weit vorher schon zum Repertoire populärwissenschaftlicher Texte. So sehr sich das schillernde Genre der populärwissenschaftlichen Literatur nach den skizzierten systematischen Kategorien charakterisieren läßt, so wenig ist es auf einen festen Kanon sprachlicher Elemente festzulegen. Gattungsspezifisch ist nicht die Überlagerung sämtlicher genannter Textsmodi, denn eine solche ist in der literarischen Realität kaum anzutref-
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Böhner: Kosmos, I (1864), S.25. Steinmann (Hg.): Volks-Kosmos, I (o.J./ca. 1859), S. 212. Friedrich Ratzel sah sich 1904 immerhin zu der Bemerkung veranlaßt, für denjenigen, der wirklich beobachte, woge nicht jedes Getreidefeld oder rausche jeder Wald, und nicht jede Quelle sei eine murmelnde; siehe Ratzel: Über Naturschilderung (1904), S. 325ff., hier S. 326. Bölsche:Wie das erste Kosmosbändchen entstand (1931), S.24.
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V. Der literarische Markt
fen. Als typisch erweist sich die gemeinsame Tendenz der Texte, in individueller Weise Abweichungen von der wissenschaftlichen Fachsprache vorzunehmen und damit auf unterschiedliche Weise den Texten eine Publikumsorientierung zu unterlegen.
3. Vorläufer und Wegbereiter
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3. Vorläufer und Wegbereiter Man braucht nicht bis zu der Bildersprache der Urzeit zurückgehen, um die lange Vorgeschichte popularisierender Textformen anzudeuten. 1 Von der griechischen Diatribe und den römischen Commentant über Hartmut Schedels Weltchronik von 1493 und Heinrich Petris Cosmographia 1544 bis zu den Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts finden sich Bemühungen, belehrende und informierende Texte so aufzubereiten, daß sie Lesern ohne spezielles Fachwissen verständlich wurden und mehr als nur wissenschaftlichem Erkenntnisstreben Genüge leisteten. Die Formel von der Unterhaltung und Belehrung' findet sich als programmatische Vorgabe bereits in der klassischen Rhetorik und wird bis ins 20. Jahrhundert hinein in unzähligen Varianten wiederholt.
a) Von der Frühen Neuzeit zu Alexander von Humboldt Die noch ungeschriebene Geschichte der neuzeitlichen Versuche, außerwissenschaftliche Textformen der Naturdarstellung zu finden, könnte Conrad Gessners Historia animalium (1551-87, Neuauflage als Allgemeines Tierbuch 1669-70) zum Ausgangspunkt nehmen, 2 vielleicht sogar schon beim Buch der Natur von Konrad von Megenberg aus der Mitte des 14. Jahrhunderts ansetzen; es bietet als erste systematische Naturgeschichte in deutscher Sprache ein frühes Zeugnis des von Uwe Pörksen so bezeichneten ersten Übersetzungsvorgangs. Das illustrierte naturkundliche Flugblatt der frühen Neuzeit kann schon als Beispiel einer informierenden Gebrauchsliteratur gelten.3 Einen wirklichen Aufschwung und zugleich ersten Höhepunkt erlebte die didaktische Sachprosa im 17., mehr noch im 18. Jahrhundert in Frankreich.4 Bernard Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes (1686, deutsch 1725 in der Übersetzung Gottscheds), sechs abendliche Gespräche eines Gelehrten mit einer Gräfin über die kopernikanische Astronomie, werden vielfach als Begründung der populär-naturwissenschaftlichen Lite-
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So Matthes: Popularisierung (1986), Kapitel II. Vgl. Diederichs: Annäherungen (1978), S. 9-15. Vgl. Johann-Gerhard Helmcke: Der Humanist Conrad Gessner auf der Wende von mittelalterlicher Tierkunde zur neuzeitlichen Zoologie, in: Physis 12 (1970), S. 329-346; Udo Friedrich: Naturgeschichte zwischen artes liberales und frühneuzeitlicher Wissenschaft. Conrad Gessners „Historia animalium" und ihre volkssprachliche Rezeption. Tübingen 1994. Wolfgang Harms: Der kundige Laie und das naturkundliche illustrierte Flugblatt der frühen Neuzeit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 9 (1986), S. 227-246. Vgl. Kleinert: Die allgemeinverständlichen Physikbücher (1974).
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V. Der literarische Markt
ratur angesehen. 5 Schon zuvor hatten Galilei und Charles Sorel volkssprachliche, dialogische und fiktionale Verfahren in naturkundlichen Texten erprobt. Francesco Algarotti ließ 1745 als deutsche Ausgabe Newtons Welt-Wissenschaft für das Frauenzimmer folgen. Bekannter wurden die Histoire naturelle von Charles Buffon (1749-1804, deutsche Übersetzungen seit 1750) und die Botanik für Frauenzimmer in Briefen J. J. Rousseaus (deutsch 1781).6 Während Buffons Werk einer Systematik huldigte, die in den führenden Wissenschaftlerkreisen bereits als überholt galt,7 durchsetzten die meisten anderen Sachbuchautoren ihre naturkundlichen Texte mit literarischen Elementen. Sie nahmen Anleihen bei der Romanliteratur der Zeit und bevorzugten den Dialog als eine lebensnahe, scheinbar natürliche Form von Belehrung und Nachfrage. Das Muster aufklärerischer Wissenspräsentation gab die Encyclopédie vor, deren Produktion und Vertrieb zugleich - wie Robert Darnton dargelegt hat - Aufklärung in ihrem Charakter als arbeitsteiliges und kommerzielles Geschäft demonstrierte. 8 Das Reflexionsniveau der Encyclopédie wurde von Zedlers Universallexikon, dem bedeutendsten deutschsprachigen Kompendium vergleichbarer Art in Deutschland, bei weitem nicht erreicht.9 In Deutschland hatten sich während des 17. Jahrhundert mit der sogenannten Hausväterliteratur, später mit den Schriften der Experimentalökonomen erste Ansätze einer Sachliteratur entwickelt. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts setzte eine Konjunktur von volksaufklärerischen Schriften ein: ökonomische Ratgeber, kleine Druckschriften mit praktischen Belehrungen und Intelligenzblätter sorgten neben der hauptsächlich religiös motivierten Erbauungs- und Traktatliteratur und den weitverbreiteten Kalendern und Almanachen für volkstümliche Unterweisung in allen Lebensbereichen. 10 Sie zielte primär auf den gemeinen Mann, in erster Linie den Bauern, und stellte das Nützlichkeitsdenken in den Mittelpunkt. Die volksaufklärerische Gebrauchsliteratur hatte vor allem im landwirt5
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Langley: The first „Populär Scientific Treatise" (1876/77); Marie-Francoise Mortureux: La formation et le fonctionnement d'un discours de la vulgarisation scientifique au XVIIème siècle à travers l'oevre de Fontenelle. Paris 1983. 1979 veröffentlichte der Insel-Verlag eine bibliophile Ausgabe der Zehn botanischen Lehrbriefe. Für eine Freundin von Jean-Jacques Rousseau. Hg. v. Ruth Schneebeli-Graf. Frankfurt/M. 1979. Vgl. John H. Eddy: Buffon's Histoire naturelle. History? A Critique of Recent Interprétations, in: Isis 85 (1994), S. 644-661. Robert Darnton: Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots ENCYCLOPEDIE. Oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn? Deutsche Ausgabe, Berlin 1993. Vgl. Möller: Vernunft (1986), S. 68f£, llOff. Hierzu erstmals im Überblick und mit einer ausgreifenden bibliographischen Erfassung Böning/Siegert: Volksaufklärung (1990), die auch überzeugend den Beginn der volksaufklärerischen Literatur auf die Mitte des 18. Jahrhunderts vorverlegen. Vgl. auch Böning: Neues zur Popularisierung (1992).
3. Vorläufer und Wegbereiter
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schaftlichen Bereich eine Breitenwirkung. Schon mit Ende der 1760er Jahre setzte über die pragmatische Belehrung hinaus eine „Pädagogisierung und Didaktisierung der Volksaufklärung" 11 ein, die auf Methoden der traditionellen religiösen Volkserziehung zurückgriff. Parallel dazu expandierte die populärmedizinische Literatur. 12 Am Ausgang des 18. Jahrhunderts waren es somit hauptsächlich pädagogische und moralische Schriften, geographische Beschreibungen, praxisbezogene und gemeinnützige Lehrtexte, welche die Funktion naturkundlicher Belehrung übernahmen. An Einzelwerken ragen Leonard Eulers Briefe an eine deutsche Prinzessinn über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie (1769-73) und Christoph Wilhelm Hufelands Makrobiotik - Kunst, das menschliche Leben zu verlängern von 1796 (31820) heraus. Einer besonderen Beliebtheit erfreute sich die Reiseliteratur. 13 Sie erlebte im 18. Jahrhundert ihre Blüte als Dokument jener kulturellen Begegnungen der Europäer mit dem Fremden und der Wiederbegegnung mit Altertum und Mittelalter, wie sie zwischen enzyklopädischer Studienreise und ästhetischer Bildungsreise14 möglich wurden. Georg Forsters Beschreibung einer Reise um die Welt in den Jahren 1772-1775 (1777, deutsch 1779/80), mehr noch seine Ansichten vom Niederrhein (1791-94) hoben die künstlerische Reisebeschreibung auf eine neue Höhe und befriedigten naturwissenschaftliche Interessen. Alexander von Humboldt konnte darauf aufbauen; er hatte Forster zwischen März und Juli 1790 auf dessen Reise durch Belgien, Frankreich, die Niederlande und England begleitet und griff später in seinen eigenen Berichten über die Mittelamerika-Reise auf das Vorbilds Forsters zurück.15 Jenseits der Jahrhundertschwelle erweiterte sich das Angebot popularisierender Texte beträchtlich. Neben die Reiseliteratur trat das Genre der technischen und ökonomischen Ratgeber. Die Realenzyklopädien und neuen Konversationslexika - Brockhaus erstmals 1809, seit 1840 Meyers 11 12 13
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Holger Böning, in: Böning/Siegert: Volksaufklärung (1990), S. XXXVII. Vgl. Ischreyt: Der Arzt (1990). Vgl. nur Sengle: Biedermeierzeit (1972), S. 247ff.; Ralph-Rainer Wuthenow: Erfahrene Welt. Reiseliteratur im Zeitalter der Aufklärung. Frankfurt/M. 1980; Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990; ders. (Hg.): Der Reisebericht (1989), mit einer vorzüglichen Bibliographie, S. 508-538 und dem Beitrag von Fisch: Forschungsreisen (1989). Diese Formulierung in Anlehnung an Albert Meier, in: Brenner (Hg.): Der Reisebericht (1989), S. 284. Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Vernunft und Republik. Studien zu Georg Forsters Schriften. Bad Homburg 1970; Helmut Peitsch: Georg Forsters „Ansichten vom Niederrhein". Zum Problem des Übergangs vom bürgerlichen Humanismus zum revolutionären Demokratismus. Frankfurt/M., Bern, Las Vegas 1978; Gerhard Pickerodt (Hg.): Georg Forster in seiner Epoche. Berlin 1982, hier S. 8-39 Peter Koch zu den Ansichten vom Niederrhein; Fischer: Reisen (1990).
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V. Der literarische Markt
Conversations-Lexikon und andere - wurden zur gefragten Lektüre. 16 Die ersten großen Werke des 19. Jahrhunderts, denen die Zeitgenossen ausdrücklich populärwissenschaftlichen Charakter zubilligten und die sich selbst mit dem Attribut populär schmückten, erwuchsen aus der Astronomie. Der Heidelberger Philosophieprofessor Jakob Friedrich Fries, dem später wegen seiner Beteiligung am Wartburgfest die universitäre Anstellung entzogen wurde,17 veröffentlichte 1813 Populäre Vorlesungen über die Sternkunde (21833). Sie waren ganz in naturphilosophischem Geiste verfaßt. Joseph Johann Littrow, Astronomieprofessor und Direktor der Sternwarte in Wien, wurde mit seinen Wundern des Himmels (1834,81894) zum meistgelesenen deutschsprachigen Astronomen. 18 Behutsam wägte Littrow in der ersten Auflage die Darstellungsweisen ab. Es ging ihm um den „Mittelweg" zwischen einer ganz populären und einer tiefer eindringenden Darstellung. Littrow konzipierte entsprechend den ersten Teil über theoretische Astronomie stärker belehrend, den zweiten über beschreibende Astronomie zur „Unterhaltung höherer Art" 19 . Ähnlichen Erfolg wie Littrow erlangte Heinrich Mädler, der Direktor der Sternwarte in Dorpat. Sein Wunderbau des Weltalls oder Populäre Astronomie (1841,81884) behielt dabei mit zahlreichen Tabellen, Rechnungen und Forschungsverweisen alle idealtypischen Merkmale eines gelehrten Textes bei. 1840 legte der Pädagoge Adolph Diesterweg eine Populäre Himmelskunde oder astronomische Geographie vor. Ihre große Resonanz über mehrere Jahrzehnte hinweg lag in der Konzeption als Schulbuch begründet, 1909 erschien die 21. Auflage. Diesterweg setzt sich gleichwohl entschieden vom „Amüsement" 20 ab, mit dem eine populäre Darstellung keinesfalls gleichzusetzen sei. Übersetzungen populär-astronomischer Werke aus dem Französischen, so von Arago und Pontecoulant, 21 ergänzten den naturkundlichen Buchmarkt ebenso wie die deutschen Fassungen der englischen Bridgewater-Bücher, die den göttlichen Schöpfungsgedanken in der Natur nachzuweisen bemüht waren und zwischen 1836 und 1838 in einer Reihe Die Natur, ihre Wunder und Geheimnisse veröffentlicht wurden. 22 1833 erschien 16 17
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Vgl. Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, III (1987), S. 392f. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866 (1985), S.280f., 284. Zur Beliebtheit der Astronomie in der ersten Jahrhunderthälfte siehe Bölsche: Zur Geschichte (1901), S. Vif. NDB 14, S. 712f. Littrow: Die Wunder (21837), Vorwort zur 1. Auflage, S. Vllf. Diesterwegs Himmelskunde (91876), S. XIII. Arago: Unterhaltungen (1837-38), Arago: Populaere Vorlesungen (1838), Pontecoulant: Populäre Astronomie (1846). Die Bridgewater-Traktate gingen zurück auf das Stiftungsvermächtnis des englischen Grafen Francis Henry Egerton Bridgewater (1756-1829). Die neun Bände
3. Vorläufer und Wegbereiter
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der erste Band der Allgemeinen Naturgeschichte des GDNA-Begründers Lorenz Oken. Sie hatte sich zwar die Kennzeichnung „für alle Stände" zugelegt und vertraute auf die wachsende Anziehungskraft der Naturkunde für das Publikum,23 ging aber über die enzyklopädische Systematik des späten 18. Jahrhunderts nicht hinaus. Anders Justus Liebig; seine Chemischen Briefe (1844, erheblich erweitert 61878), die zuerst in der Augsburger Allgemeinen Zeitung erschienen waren, zielten darauf, die Öffentlichkeit anhand von Beispielen aus der Alltagspraxis mit der modernen empirischen Naturforschung und ihren chemischen und physikalischen Themen vertraut zu machen. Es ging darum, entschieden jede metaphysische Erklärung von Naturvorgängen zurückzuweisen.24 Liebigs Überlegungen zur Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur und Physiologie, so sein berühmtes Buch von 1840, wurden in Sachsen von Adolph Stöckhard, einem frühen Landwirtschaftswissenschaftler, in einer breitangelegten literarischen Offensive fortgeführt; Stöckhard nannte seine Bauernbelehrungen auch Chemische Feldpredigten.25 Alexander von Humboldt Die Genese der populärwissenschaftlichen Literatur vor 1850 ist ohne das Werk Alexander von Humboldts nicht denkbar. Drei Etappen in Humboldts Wirken werden gemeinhin mit Blick auf das Phänomen der Popularisierung hervorgehoben: die Veröffentlichung der Ansichten der Natur, erstmals 1808, neu aufgelegt 1826 und 1849; die Kosmos-Vorlesungen in Berlin 1827/28; und die Publikation des opus magnum Kosmos. Dessen beide ersten Bände erschienen 1845 und 1847 und wurden bis 1914 mehrfach neu herausgegeben, die Folgebände kamen 1850,1858 und 1862 (Register) auf den Markt.26
23 24
25 26
wurden vom Stuttgarter Verlag Neff in der Übersetzung von Hermann Hauff herausgegeben und enthielten unter anderem Darstellungen von William Buckland, Charles Bell und Thomas Chalmers. Oken: Allgemeine Naturgeschichte, I (1839), S. 21. Vgl. zur Sprachgestaltung bei Liebig Czucka: Wissenschaftsprosa (1991) und Wetzeis: Versuch (1971), S. 84-90. Zu Liebigs wissenschaftspolitischen Zielen siehe Kapitel VII.5.a). Stöckhard: Chemische Feldpredigten (1851-53), Siemann: Vom Staatenbund (1995), S. 137£ Den besten Überblick zu Humboldts Leben und Werk gibt noch immer Beck: Alexander von Humboldt, I—II (1959-1961), jetzt zu ergänzen durch die von Beck herausgegebene Studienausgabe der Werke Humboldts, hier auch Angaben zu den verschiedenen Auflagen und Editionen der angesprochenen Werke, siehe Beck (Hg.): Alexander von Humboldt, V (1987), S. 363-366; ders. (Hg.): Alexander von Humboldt, VII (1993), Teilband 2, S. 343-345, 355-363 sowie: Alexander von Humboldt. Bibliographie (1959) und Hein (Hg.): Alexander von Humboldt (1985), S. 315-326.
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V. Der literarische Markt
Die Ansichten, von Humboldt selbst als sein Lieblingswerk bezeichnet und wiederholt als sein volkstümlichstes Werk gerühmt, 27 faßten in mehreren Aufsätzen naturkundliche und geographische Beobachtungen der epochemachenden Reise zusammen, die Humboldt zwischen 1799 und 1804 mit seinem botanischen Begleiter Aimé Bonpland nach Mittelamerika und anschließend kurz an die Ostküste der USA unternommen hatte. 28 In den Ansichten trennte Humboldt die flüssig geschriebenen Haupttexte von den umfangreichen Anmerkungsapparaten. Daß die „ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände" 29 besondere Anforderungen an Sprache und Komposition stellte, war ihm bewußt. Programmatisch formulierte Humboldt die Komplementarität von Naturgenuß und wissenschaftlicher Naturerkenntnis als Leitmotiv seiner Wiedergabe der Reiseerlebnisse. Die „zwiefache Richtung" der Schrift ziele darauf, „durch lebendige Darstellungen den Naturgenuß zu erhöhen, zugleich aber nach dem dermaligen Stande der Wissenschaft die Einsicht in das harmonische Zusammenwirken der Kräfte zu vermehren" 30 . Das solchermaßen bezeichnete doppelte Anliegen Humboldts trat noch deutlicher zutage in den öffentlichen Vorträgen, die der Gelehrte nach der Rückkehr von seinem langjährigen Aufenthalt in Paris im Winter 1827/28 in Berlin hielt. Für diese Vorträge hat sich später die Bezeichnung KosmosVorlesungen eingebürgert. 31 Als Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften war Humboldt berechtigt, an der Berliner Universität zu lesen. Zwischen November 1827 und April 1828 referierte er in 61 Vorträgen über physikalische Geographie. Wegen des großen Andranges hielt Humboldt zwischen Dezember und März eine parallele, komprimierte Vorlesungsreihe an sechzehn Tagen in der Berliner Singakademie. 32 Er be27
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Humboldt an Varnhagen von Ense 15.10.1849, in: Briefe von Alexander von Humboldt (1860), S. 244. Urs Bitterli: Die Entdeckung Amerikas. Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt. 2. Auflage, München 1992, S. 445^179. Humboldt: Ansichten ( 3 1849), Vorrede zur ersten Ausgabe, S. VIII: „Die ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände hat, trotz der herrlichen Kraft und der Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache, große Schwierigkeiten der Composition. Reichthum der Natur veranlaßt Anhäufung einzelner Bilder, und Anhäufung stört die Reihe und den Totaleindruck des Gemäldes. Das Gefühl und die Phantasie ansprechend, artet der Styl leicht in eine dichterische Prosa aus." Z.B. umfaßt der Aufsatz zu Steppen und Wüsten in der 3. Auflage 35 Textseiten, der Anmerkungs- und Erläuterungsapparat dagegen 209 Seiten, vgl. Humboldt: Ansichten, I ( 3 1849) und Bd. II, S. 3-41 und 42-248. Humboldt: Ansichten, I ( 3 1849), Vorwort zur zweiten und dritten Ausgabe, S. XI. Bruhns (Hg.): Alexander von Humboldt, II (1872), S. 138ff.; Beck: Alexander von Humboldt, II (1961), S. 80-85; Hein: Alexander von Humboldt (1985), S. 106f. Beide Zyklen sind nicht im Original überliefert. Die Universitätsvorlesungen wurden 1934 vom Berliner Verlag Miron Goldstein nach einer Mitschrift unkommentiert veröffentlicht. Die Vorträge in der Singakademie sind jetzt ebenfalls nach einer Mitschrift ediert worden, siehe Humboldt: Alexander von Humboldt (1827-28/1993).
3. Vorläufer und Wegbereiter
271
gann bei einer Betrachtung des Planetensystems und der Geologie der Erdrinde, behandelte dann meteorologische und klimatologische Fragen, führte über die Behandlung der Tiergeographie und der Geschichte des Menschengeschlechts zu naturphilosophischen Aspekten und der Geschichte der neuzeitlichen Naturforschung, um über Probleme der Elektrizität und des Magnetismus nochmals zur Astronomie zurückzukehren. Den Versuch, „das Bild eines Natur Ganzen" 33 zu zeichnen, beschloß Humboldt mit einer kurzen Erläuterung zur ästhetischen Naturbeschreibung. Die Vorlesungen waren der erste Versuch Humboldts, den naturwissenschaftlichen Kenntnisstand seiner Zeit im Überblick darzustellen - ein gewaltiges, ambitioniertes Unternehmen, das einen Vorausblick auf die späteren .Kosmos-Bände erlaubte.34 Mit dem Bemühen um eine Gesamtschau nahm Humboldt die aus der Antike stammende Idee des Kosmos als Weltganzes auf und verknüpfte sie mit der aufklärerischen Vorstellung einer physique du monde. Vor allem Hanno Beck hat auf die Ursprünge der Kosmosidee im späten 18. Jahrhundert hingewiesen, als Humboldt die Schriften von Goethe, Lichtenberg, Forster und Herder rezipierte. Allerdings ist diese ideengeschichtliche Ableitung von Beck zuletzt dahingehend revidiert und präzisiert worden, daß Humboldts Verständnis der physique du monde zunächst eindeutig auf die physikalische Erdbeschreibung bezogen war und sich erst in einem langwierigen Denkprozeß seit 1827 zu einer die Erde und den Himmelsraum umfassenden Konzeption von physikalischer Weltbeschreibung, für die der Ausdruck Kosmos steht, erweiterte.35 Im Rahmen dieser Konzeption begriff Humboldt die Natur als organische Ganzheit, in der Teil und Ganzes in einem harmonischen Verhältnis geordnet waren. Die der Kosmos-Idee zugrundeliegende Vorstellung eines gedanklichen Zusammenhangs aller Dinge wollte Humboldt aus der Kom33 34
35
So der Text der Mitschrift, zitiert ebenda, S. 210. Die Einzelergebnisse seiner Amerikareise darzustellen blieb dagegen Spezialabhandlungen vorbehalten, die Humboldt zwischen 1805 und 1834 in schließlich dreißig französischsprachigen Bänden (Voyage aux régions équinoxiales du nouveau continent) zusammentrug. Nur Teile erschienen auch in deutscher Sprache. Beck: Alexander von Humboldt, I (1959), S. 64-68; ders. (Hg.): Alexander von Humboldt, VII (1993), Teilband 2, S. 345-354. Vgl. den Artikel Kosmos (1976) im Historischen Wörterbuch der Philosophie, der allerdings für die nachantike Zeit, zumal das 19. Jahrhundert, blaß bleibt; Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Hg. v. Hans Jörg Sandkühler. Bd. 2, Hamburg 1990, S. 871f; Schnabel: Deutsche Geschichte, III (1987), S. 199-206 sowie die Auswahledition mit durchaus kritischen Kommentaren von Bölsche (Hg.): Alexander Humboldt (o.J./1925). Zur neueren wissenschaftshistorischen Diskussion über Humboldts Wissenschaftsbegriff und seine Kosmos-Vorstellung siehe Susan Faye Cannon: Science in Culture: The Early Victorian Period. New York 1978, S. 73-110 und Michael Dettelbach: Humboldtian Science, in: Cultures of Natural History (1996), S. 287-304.
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V. Der literarische Markt
petenz des Naturforschers heraus als empirischen Zusammenhang der Welterscheinungen darstellen. Um den Kosmos in der anvisierten Totalität beschreiben zu können war es notwendig, die Natur empirisch zu durchdringen und eine riesige Datenmenge - seien es meteorologische Bestandsaufnahmen, Höhenmessungen oder pflanzengeographische Beobachtungen - zu sammeln und auszuwerten. Humboldt nutzte dazu nicht nur seine eigenen Aufzeichnungen, sondern profitierte auch von einem weitgespannten Netz von Korrespondenten, die ihn mit Daten und Beobachtungsmaterial versorgten. Gleichzeitig ging Humboldt aber über das bloße Summieren und Auswerten von Fakten weit hinaus. Die Detailkenntnisse der verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen sollten in einer ästhetisch geformten Gesamtansicht der Natur zusammengefügt werden. Diese Zusammenschau entsprach dem eigenen Erleben der Natur in ihrem doppelten Wesen - der Natur als Gegenstand von methodisch gelenkter Analyse und quantifizierbarer Bestimmung, aber auch als Medium ästhetischer Wahrnehmung. Positivistischer Anspruch, philosophische Einheitsidee und die Anerkennung der ästhetischen Qualität von Naturwahrnehmung gingen bei Humboldt ineinander über und wurden noch nicht getrennt. Die KosmosVorstellung bedeute, Natur aus dem Bewußtsein ihrer Einheit und ihrer ästhetischen Wirkung zu betrachten. Erst aus dieser Haltung heraus entschlüsselte Humboldt die empirischen Befunde. Wissenschaftliche Forschung und ästhetische Wahrnehmung gehörten für ihn unabdingbar zusammen. Humboldts Werk markiert damit ideengeschichtlich eine einzigartige Übergangsstelle zwischen einer ganzheitlichen, noch ästhetisch verstandenen Naturvorstellung und einem wissenschaftlichen Verständnis von Natur, das sich in den nachfolgenden Jahrzehnten zunehmend auf Spezialgebiete konzentrierte und sich ausdrücklich durch die Ausschaltung außerempirischer Erklärungsfaktoren legitimierte.36 Humboldt band ein letztes Mal Traditionen kosmologischen Denkens und Gedanken aus den holistischen und organizistischen Entwürfen der deutschen Naturphilosophie mit dem empirisch-analytischen Ansatz der modernen Naturwissenschaft zusammen - ein letztes Mal zumindest, wenn man die Höhenlinie naturwissenschaftlichen Denkens verfolgt. Es sollte gerade zur selbstgestellten Aufgabe der popularisierenden Literatur werden, diese Verknüpfung weiterzuführen. Bezüglich der Verbindung zwischen den Kosmos-Vorlesungen von 1827/28 und dem eigentlichen .Kosmos-Werk, das knapp zwanzig Jahre später zu erscheinen begann, sind von Humboldt selbst widersprüchliche Aussagen überliefert. 37 Man darf davon ausgehen, daß die Vorlesungen zumin36 37
Vgl. Gloy: Das Verständnis, I (1995), S. 162ff. Vgl. Bruhns (Hg.): Alexander von Humboldt, II (1872), S. 138; Beck: Alexander von Humboldt, II (1961), S. 225-232. Humboldt betonte in der Einleitung zum er-
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dest die beiden ersten Kosmos-Bände strukturieren halfen. Deren Anspruch war allerdings noch ausgreifender als jener der Vorlesungen. Gegenüber dem Schriftsteller und Freund Varnhagen von Ense umriß Humboldt schon 1834 „den tollen Einfall, die ganze materielle Welt, alles was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen, wissen, alles in Einem Werke darzustellen, und in einem Werke, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüth ergötzt." 38 Hier klang wieder die Formel vom Belehren und Unterhalten an, und die Öffentlichkeit durfte gespannt sein, wie Humboldt seine herkuleische Aufgabe meistern würde.
b) Humboldts Kosmos - ein populäres Werk? Die Konzeption des Kosmos mußte schon wegen der Unmöglichkeit, die riesige Datenfülle auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand bewältigen zu können, unerfüllt bleiben. Trotz Schwächen im einzelnen gelang es Humboldt aber, mit den ersten Bänden seine Programmatik eindrucksvoll zu entfalten. Einleitend faßte er sein Bestreben darin zusammen, „die Erscheinungen der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhange, die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes aufzufassen." 39 Noch nie zuvor hatte ein naturwissenschaftlicher Autor die inhaltlichen Zielsetzungen einerseits und die Eigenarten der Darstellungsart und der Naturwahrnehmung andererseits so eng aufeinander bezogen. Die Analyse der Naturphänomene verwob Humboldt mit der Reflexion über die Wirkung der Natur auf den Betrachter. Das Motiv der frühen Reisebeschreibungen, Ansichten der Natur zu liefern, kam auch im Kosmos vor der Analyse der Naturphänomene selbst zur Geltung. Natur erschien gleichberechtigt als Gegenstand des ästhetischen Urteils wie der rationalen Erkenntnis. In Anlehnung an den Eröffnungsvortrag aus der Singakademie begann die Darstellung mit Betrachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und eine wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze. Den Hauptteil des ersten Bandes bildete der „Entwurf eines allgemeinen Naturgemäldes" 40 als Übersicht der Naturerscheinungen, die mit der Him-
38 39 40
sten Band des Kosmos, daß die Vorlesungen und sein jüngstes Werk „nichts mit einander gemein [haben] als etwa die Reihenfolge der Gegenstände", in: Humboldt: Kosmos, I (1845), S. X. Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Kosmos Engelmann: Alexander von Humboldt (1970). Humboldt an Varnhagen von Ense 27.10.1834, in: Briefe von Alexander von Humboldt (1860), S. 20. Humboldt: Kosmos, I (1845), S. VI. Ebenda, S. 79.
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V. Der literarische Markt
melskunde einsetzte. Wiederum betonte Humboldt die Einheit der Anschauung als sein besonderes Anliegen, dem eine bloß summarische oder tabellarische Auflistung der naturwissenschaftlichen Fakten widersprach.41 Im zweiten Band betrachtete er den „Reflex des durch die äußeren Sinne empfangenen Bildes auf das Gefühl und die dichterisch gestimmte Einbildungskraft" 42 . Humboldt ging ausführlich auf die Bedeutung der Landschaftsmalerei und -dichtung ein und unterstrich die Komplementarität von Naturwissenschaft und ästhetischem Naturerleben. 43 Eine historische Betrachtung verfolgte die Geschichte der physischen Weltanschauung vom Altertum bis in die Gegenwart. Im dritten, vierten und zum Teil auch im fünften Band des Kosmos griff Humboldt die einzelnen Aspekte des zuerst entworfenen Naturgemäldes auf und vertiefte sie mit speziellen Ergebnissen, im besonderen aus der astronomischen und erdgeschichtlichen Forschung. Man hat diese Teile bald als wissenschaftlich überholt angesehen und kritisiert, daß hier die Darstellungskraft gegenüber den ersten Bänden stark nachließe.44 Die positive Gesamtwürdigung blieb von Kritik unberührt. Daß Humboldts Vorlesungen und die genannten Schriften die Geschichte der Wissenschaftspopularisierung in Deutschland geprägt, wenn nicht sogar eingeleitet haben, gehört zur Opinio communis der Bildungsgeschichte. Bereits die Geschichte der Humboldt-Vereine zeigt, daß die Zeitgenossen den Universalgelehrten als „Schöpfer einer neuen Epoche der Volksbildung"45 würdigten. Bis 1914 verfestigte sich das Urteil vom „Vater unserer jetzt so blühenden populärwissenschaftlichen Literatur" 46 . Die spätere Geschichtsschreibung hat solche Urteile mit häufig wörtlichen Übernahmen fortgeführt und dazu beigetragen, Humboldts Kosmos als ein herausragendes populärwissenschaftliches Werk zu deuten und in seinem Verfasser gar den erfolgreichsten Popularisierer der ersten Jahrhunderthälfte zu sehen.47
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Ebenda, S. 170f. Humboldt: Kosmos, II (1847), S. 3. Ebenda, S. 76-94. Vgl. Bruhns (Hg.): Alexander von Humboldt, II (1872), S.374ff.; Bölsche (Hg.): Alexander von Humboldt (o.J./1925), S. 23f. O. Ule: A m Grabe Roßmäßler's (1870), S. 220. Neue Weltanschauung 4 (1911), S. 159. Vgl. beispielhaft Klencke: Alexander von Humboldt ( 3 1859), S.5-7, 208-211,264-267, 341ff.; O. Ule: Alexander von Humboldt (1869), S. 112-115,137f.; Bruhns (Hg.): Alexander von Humboldt, II (1872), S. 133-154,354-391, sowie aus der Publizistik Die Natur 1 (1852), S.24,409-411; Kosmos/Naturwissenschaften 1 (1857), S.25f.; AdH 1 (1859), Sp.289f„ 577-588; Die Gartenlaube 1 (1853), S. 397-399; Die Gartenlaube 8 (1860), S. 228-231,304; Die Gartenlaube 36 (1888), S.51. Vgl. Die Brüder Humboldt (1968), S.163; Scurla: Alexander von Humboldt (1982), S. 15f., 217f., 241, 250-252, 319ff.; Hein (Hg.): Alexander von Humboldt (1985), S. 84, 106f., 135-138; Bayertz: Spreading the Spirit (1985), S.210; Biermann: „Ja, man muß sich an die Jugend halten!" (1992), S. 19; Werner Rübe:
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Diese Bewertung reduziert indes die Wirkungsgeschichte Humboldts und des Kosmos auf deren emphatischen Nachruhm. Tatsächlich blendet das Bild vom populären Humboldt nicht nur die Widersprüche und die gegenläufigen Urteile der zeitgenössischen Diskussion aus, sondern übersieht auch Humboldts eigene Stellungnahme zur Rezeption des Kosmos. Schon vor Erscheinen des ersten Kosmos-Bandes reflektierten die Briefwechsel Humboldts das Problem der Popularität. Der Astronom Friedrich Wilhelm Bessel äußerte 1840 gegenüber Humboldt die Hoffnung, „dem Publiko" Einsichten in die Naturerscheinungen durch „populäre Darstellungen" zu vermitteln, selbstverständlich „nicht nach der Art derer, welche Unrichtigkeit und Seichtigkeit für Popularität halten."48 Im folgenden Jahr beeilte sich Humboldt gegenüber Friedrich Raumer, dem „Vorwurfe, das Popularmachen des Wissens zu tadeln",49 unter Hinweis auf seine Singakademie-Vorträge entgegenzutreten. Humboldt war sich bewußt, daß der Kosmos erhebliche sprachliche Anforderungen stellen würde. Eigenheiten des persönlichen Stils galt es abzuschwächen. Die „nicht ganz gemeine Erudition" sollte auf den Anmerkungsapparat - am Ende, nicht unterhalb der Texte - beschränkt und dafür „Lebendigkeit und wo möglich Anmuth des Stils, Uebertragung der technischen Ausdrücke in glücklich gewählte, beschreibende, mahlende Ausdrücke" bevorzugt werden.50 Im schließlich gedruckten Kosmos-Text wollte Humboldt vermeiden, allgemeine Resultate aneinanderzureihen und die Leser dadurch zu ermüden. Sowohl „encyclopädische Oberflächlich-
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Alexander von Humboldt. Anatomie eines Ruhmes. München 1988, S. 269; zuletzt die Einleitung zu Humboldt: Alexander von Humboldt (1827-28/1993), S. 11-13. Unter den zeitgenössischen Humboldtforschern hat Hanno Beck zu Recht die panegyrischen Überzeichnungen Humboldts am skeptischsten beurteilt und Distanz zu der Würdigung Humboldts als eines Popularisierers erkennen lassen, siehe Beck (Hg.): Alexander von Humboldt, VII (1993), Teilband 2, S.409f. und auch im Schreiben an den Verf. vom 31.10.1991. Zitiert nach Bruhns (Hg.): Alexander von Humboldt, I (1872), S. 387. Humboldt an F. v. Raumer [1841], in: Raumer: Literarischer Nachlaß, I (1869), S. 22. Vgl. auch Bruhns (Hg.): Alexander von Humboldt, I (1872), S. 152. Es ging hierbei um Humboldts Ablehnung, aktiv an dem von Raumer begründeten Wissenschaftlichen Verein in Berlin mitzuwirken. Das Zitat lautet im Satzzusammenhang nach Raumer: „Das Wenige, was ich vor 1000 Zuhörern, vor dem gemischtesten Publikum (König und Maurermeister) in der Singakademie geleistet habe, schützt mich vor dem Vorwurfe, das Popularmachen des Wissens zu tadeln. Mit dem Wissen kommt das Denken, und mit dem Denken der Ernst und die Kraft in die Menge." Humboldt an Vamhagen von Ense 28.4.1841, in: Briefe von Alexander von Humboldt (1860), S. 91. Siehe auch Humboldt an Varnhagen von Ense 27.10.1834, in: ebenda, S.23. Zu den „Hauptgebrechen" seines Stils zählte Humboldt hier „eine unglückliche Neigung zu allzu dichterischen Formen, eine lange Partizipial-Konstruktion und ein zu großes Konzentriren vielfacher Ansichten, Gefühle in Einen Periodenbau."
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V. Der literarische Markt
keit" als auch „aphoristische Kürze" sollten vermieden werden, stattdessen sollte „der Hauch des Lebens" die Naturschilderung erfrischen.51 Gemessen an diesen Vorgaben blieb der Kosmos aber in der konkreten Durchführung zwiespältig. Der Text wies alle idealtypischen Merkmale der Wissenschaftsprosa auf: Lange und oft fremdsprachige Zitate, Forschungsdiskussionen, Anmerkungen, etymologische Exkurse, eine große Menge von Daten und Zahlen und historische Einschübe bestimmten das Gesamtbild. Ein ausdrückliches Bekenntnis zum Popularisieren fehlte. Dagegen formulierte Humboldt seine Kritik an einer „sich schnell verbreitenden Halbcultur, welche wissenschaftliche Resultate in das Gebiet der geselligen Unterhaltung, aber entstellt hinüberzieht"52. In diesem Sinne verwahrte sich Humboldt nach der Revolution ausdrücklich gegen die „vielen inhaltsleeren populären Schriften, mit denen Deutschland mehr als die Nachbarstaaten überschwemmt" sei.53 In einem Brief an Roßmäßler betonte er 1852 seinen strengen Maßstab: „Wahrhaft populäre Schriften, solche welche den edlen Zweck haben, nüzliche Kenntnisse zu verbreiten und die seit Jahrhunderten angehäuften dogmatischen Axiome eines arroganten Halbwissens zu widerlegen," würden nur denen gelingen, „die das ehrenvolle Zeugniss des tiefsten Wissens (wie Sie) für sich haben." 54 Unbeschadet der Vorbehalte Humboldts gegenüber einem vordergründigen Verständnis von Popularität und ungeachtet der enormen Komplexität des Kosmos-Werkes verbreitete sich bald nach dessen Erscheinen die Kunde, daß der Kosmos ein ungeahnter Publikumserfolg sei. Vielfach kolportiert ist der mündliche Bericht des Kommissärs der Cotta'schen Buchhandlung, den der Verleger Georg von Cotta in einem Schreiben vom Dezember 1847 an Humboldt weitergab. Danach setzte bei der Ankunft des zweiten Kosmos-Bandes ein regelrechter Sturm auf das Haus des Buchhändlers ein, auch an Bestechungsversuchen habe es nicht gefehlt, um den Band zu erhalten.55 Sichtbar geschmeichelt, daß die Aufnahme des zweiten Bandes in der Öffentlichkeit so „ungemein glänzend" war, zeigte sich Humboldt seinem Verleger gegenüber tief befriedigt über eine „solche Anerkennung des vaterländischen Publikums zu einer Zeit, wo man wenig
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Humboldt: Kosmos, I (1845), S. 3, VIII. Ebenda, S. 24. Humboldt 16.11.1856, zitiert nach: Die gesammten Naturwissenschaften, I (1857), S. V. Vgl. Steinmann (Hg.): Volks-Kosmos, II (o.J./ca. 1859), S. 241, Anmerkung. Humboldt an E. A. Roßmäßler 6.11.1852 (Houghton Library, Cambridge, Mass.). Humboldt bedankte sich mit diesem Lob für die an ihn gerichtete Widmung des zweiten Bandes von Roßmäßlers Populairen Vorlesungen (1853). Georg von Cotta an Humboldt 3.12.1847 (CA Marbach). Nicht gänzlich korrekt wiedergegeben in: Briefe an Cotta (1934), S. 32f.
3. Vorläufer und Wegbereiter
277
Sinn für Anschaulichkeit im Ausdruck, Periodenbau und Harmonie des Styls äussert"56. In der Tat bezeugen die im Cotta-Archiv dokumentierten Auflagenzahlen, daß der Kosmos rasch zu einem immensen buchhändlerischen Erfolg wurde, der auch das ganz außergewöhnliche Honorar von 10 Louis d'or pro Bogen rechtfertigte.57 War der erste Band mit 3 000 Exemplaren auf dem Markt erschienen, so stieg aufgrund der wachsenden Nachfrage die Gesamtauflage durch Nachdrucke bis 1849 auf 20000 Exemplare, im Rhythmus von zwei Jahren kamen jeweils weitere 2000 hinzu und 1856 wurde das gesamte bis dahin erschienene Kosmos-Werk abermals um 2000 Exemplare erweitert. Beim zweiten Band, dem der Bericht des Kommissärs galt, ging der Verlag bereits von einer Startauflage von 10000 Exemplaren aus, die bis 1853 auf insgesamt 20000 erhöht wurde.58 Legt man als Stichjahr 1847 zugrunde, so stellte der zweite Kosmos-Band das mit Abstand erfolgreichste Verlagsprodukt überhaupt dar; als einzige Monographie erreichte es einen Absatz von über 10000 Exemplaren.59 Daß Humboldts Kosmos das nach der Bibel verbreitetste Buch seiner Zeit gewesen sei,60 ist indes eine durch nichts bewiesene Behauptung, die in das Reich der Legende gehört. Unzweifelhaft belegen aber die genannten Zahlen eine ungewöhnliche, wenn nicht sogar spektakulär zu nennende Nachfrage. Sie legte es vielen Kommentatoren nahe, den Kosmos zum „Meisterstück der höchsten Gattung wissenschaftlicher Popularität" 61 zu erklären - trotz der unübersehbar schwierigen Textgestaltung. Das Werk habe, so formulierte Otto Ule 1869, den Anstoß zu einer naturwissenschaftlichen Volksliteratur in Deutschland gegeben.62
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Humboldt an Georg von Cotta 20.2.1848, eine Datierung auf den März 1848 legt der Kontext des Briefes nahe (CA Marbach). Lohrer: Cotta (1959), S. 102,119; Lohrer spricht hier sogar vom höchsten Honorar, daß im 19. Jahrhundert gezahlt wurde. Druckerei-Calculationen 1843-1844, S.96; Druckerei-Calculationen 1845, 1846, S. 45; Druckerei-Calculationen für 1847,1848,1849,1850, S. 41; Druckerei-Calculationen 1855,1856,1857,1858, S. 19,95,177 (alle CA Marbach). Weit dahinter rangierten an zweiter Stelle Geibels Juniuslieder mit 2085 Exemplaren und Prechtls Encyclopädie mit 1272 Exemplaren; Goethes Egmont und der Götz von Berlichingen lagen zwischen 700 und 800 abgesetzten Exemplaren, Schillers Wallenstein und die Jungfrau von Orleans sogar noch unter 500. Von den Physiologischen Briefen Karl Vogts, deren Auflage bei 1190 Stück lag, waren im gleichen Jahr 713 Bände abgesetzt worden. Angaben nach: Absatz der im Jahre 1847 erschienenen Neuigkeiten, eingelegt in: Druckerei-Calculationen für 1847 (CA Marbach). So bei Cotta: Zu Alexander v. Humboldt's lOOjähriger Geburtsfeier (1869), S. VII und Lohrer: Cotta (1959), S. 102. Bruhns (Hg.): Alexander von Humboldt, I (1872), S. 151, siehe auch S. 386. O. Ule: Alexander von Humboldt (1869), S. 114.
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V. Der literarische Markt
Solche Äußerungen bilden indes nur die eine Seite der zeitgenössischen Beurteilungen. Bald stellten sich kritischere Töne ein. „Populär im gewöhnlichen Sinne" 63 sei der Kosmos nicht, vermerkte die Allgemeine deutsche Naturhistorische Zeitung 1846 vorsichtig. Ein anderer Kommentator bezweifelte 1850 die Voraussetzungslosigkeit des Zugangs, die doch als idealtypisches Merkmal eines popularisierenden Textes gelten mußte. Der Kosmos sei nur dem verständlich, „der eine bedeutende Summe von Naturkenntniß mitbringt. Sehr begreiflich also, daß Tausende, welche das merkwürdige Buch mit Eifer ergriffen, es in gewissem Grade betrübt aus der Hand legten, mit dem niederschlagenden Gefühl, daß sie es nicht ganz verstehen, obwohl sie die Fülle des Inhaltes auf jeder Seite ahneten und durch die hochpoetische Darstellung länger daran gefesselt wurden, als dies außerdem der Fall gewesen sein würde." 64 Daß der Kosmos für Laien und selbst für einen großen Teil der Gebildeten unverständlich blieb, daß man ihn ungleich mehr kaufte als las oder gar verstand, wurde gewiß zögerlich, aber doch unmißverständlich eingestanden.65 Jeder fühlte, so konzidierte sogar Otto Ule, „daß nur die Mode ihn zwang, in die allgemeine Bewunderung und Begeisterung für die Schönheit dieses Meisterwerks einzustimmen, während ihm selbst die geistige Tiefe jenes Gemäldes verschlossen blieb."66 Ausgewiesene Humboldtverehrer bekannten später, daß das Hauptwerk Humboldts tatsächlich kein populäres Buch dargestellt, sondern eher aristokratischen Charakter getragen habe.67 Die Widersprüche der Rezeptionsgeschichte und die Vorbehalte gegenüber der vermeintlichen Popularität des Kosmos, die stets neben der Kanonisierung von Humboldt als einem volkstümlichen Schriftsteller fortbestanden, geben Anlaß, die bisher dominante Interpretation zu revidieren. Ein Vergleich des Kosmos mit anderen naturkundlichen Werken der Zeit, die sich als volkstümlich verstanden, ist dafür ebenso notwendig wie der Blick darauf, wie Humboldt selbst auf die Wirkung seines Werks beim Publikum und auf den Umgang anderer Autoren mit diesem Werk reagierte. Das Bild vom Kosmos als populärwissenschaftlichem Werk im besten Sinne68 erscheint dann als das Produkt einer rasch anwachsenden epigonalen Kosmos-Literatur, die sich die ganzheitliche Naturvorstellung des Berliner Forschers zu eigen machte und sie auf eine allgemeinverständliche Ebene zu überführen suchte. Es kann so nicht mehr überraschen, daß Humboldt
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Allgemeine deutsche Naturhistorische Zeitung 1 (1846), S. 62. Briefe über Alexander von Humboldt's Kosmos, I ( 2 1850), S. VII. Die Natur 9 (1860), Naturwissenschaftliches Literaturblatt Nr.l, S.l; Gerland: Rede (1869), S. 6. O. Ule: Das Weltall, I (1850), S. IV. K. Müller: Otto Ule (1876), S. 417; Bölsche: Zur Geschichte (1901), S. XXII. So noch zuletzt Hein: Alexander von Humboldt (1985), S. 135.
3. Vorläufer und Wegbereiter
279
selbst daran dachte, den Komos durch eine neue Bearbeitung zu popularisieren. Dies war vielmehr nur die Konsequenz aus der Erkenntnis, daß sich das Monumentalwerk selbst kaum als Publikumsbuch eignete.
280
V. Der literarische Markt
4. Etablierung, Diversifizierung und Polarisierung nach 1848 „Es hob sich der Schlagbaum, welcher die stille Stube des Gelehrten von der Werkstätte des Arbeiters trennt; - es traten die Laboratorien der Naturwissenschaft in Wechselverkehr mit dem Markt des Lebens, - die strenge Sonderung zwischen der lateinisch gebildeten' Kaste und dem .gemeinen Manne' wurde unhaltbar". Karl Reclam: Die Aufgabe populärer Schriftsteller und der heutige Stand der Naturwissenschaft, in: Kosmos. Zeitschrift für angewandte Naturwissenschaften 1 (1857), S. 161.
a) Kosmos-Literatur und Humboldts Plan eines
Micro-Kosmos
Humboldt hatte mit dem Kosmos kein populärwissenschaftliches Werk verfaßt, wohl aber dem verbreiteten Bedürfnis nach ganzheitlicher Naturbetrachtung Ausdruck verliehen. Die Kluft zwischen dem meisterhaften Vorbild und dem Wunsch nach allgemeinverständlicher Übersetzung zu überbrücken, wurde zum Movens einer literarischen Popularisierung. Eine eigene „,Kosmos-Literatur'" entstand, „um mit populärer Feder die Voraussetzungen [von Humboldts Werk - A.D.] zu erklären, die gelehrte Folgerung zu erläutern und das Detail zum Allgemeinsatze hinzuzufügen oder die verständliche praktische Anwendung zu ergänzen."1 Im Winter 1847/48 hielt der Lichtfreund und Naturwissenschaftler Otto Ule in Frankfurt an der Oder öffentliche Vorlesungen, um die Interpretation des Kosmos breiteren Leserschichten zu erleichtern. Daraus ging seine Darstellung Das Weltall. Beschreibung und Geschichte des Kosmos (1850,31858) hervor. Sie versuchte, einen „Schattenriß"2 des Humboldtschen Naturgemäldes zu zeichnen. Ules wenig später publizierten Bücher Die Natur und die Physikalischen Bilder waren ebenfalls „im Geiste kosmischer Anschauung" 3 verfaßt. Zu gleicher Zeit erschienen die Briefe über Alexander von Humboldt's Kosmos. Arbeitsteilig unternahmen es Fachleute, wichtige Teile von Humboldts Werk zu erläutern. Dabei wiesen die Autoren untereinander deutliche Unterschiede in der Darstellungsweise auf. Der Astronom Wilhelm Wittwer formulierte z.B. merklich verhaltener als der Geologe Bernhard Cotta und der Philosoph Julius Schaller, die sich um eine besondere Leseransprache bemühten. 4 Einer vergleichbaren Aufgabe 1 2 3 4
Klencke: Mikroskopische Bilder (1853), S. IX. O. Ule: Das Weltall (1850), S. V. So die Formulierung im Untertitel beider Werke. Briefe über Alexander von Humboldt's Kosmos (1848-1860). Vgl. die Rezension von O. Ule in: Die Natur 9 (1860), Naturwissenschaftliches Literaturblatt Nr. 1, S.lf.
4. Diversifizierung und Polarisierung nach 1848
281
populärer Gesamtsicht auf die Natur unterzog sich das umfangreiche Sammelwerk Die gesammten Naturwissenschaften (1857-59,31873-77). In Nachfolge des Kosmos erschien eine ganze Reihe von Monographien, die mit sehr verschiedenartigem Anspruch und Vermögen das Ziel verfolgten, Humboldts Bemühen um eine Gesamtdarstellung der natürlichen Welt der deutschen Öffentlichkeit nahezubringen. Der Stuttgarter Mathematik- und Geographie-Lehrer Karl Gustav Reuschle hatte als erster die Marktlücke erkannt und publizierte in der Hallbergschen Verlagshandlung 1848 einen Kosmos für Schulen und Laien. Christoph Giebel, Zoologe in Halle, legte 1850 seinen Kosmos oder die Geschichte des Weltalls vor. Der in den Annalen der Wissenschaftsgeschichte gänzlich unbedeutende Privatgelehrte J.W. Schmitz folgte 1852 mit Die Natur und Der kleine Kosmos. Der Deutschkatholik Heribert Rau stimmte mit seinem Evangelium der Natur 1853 in die Humboldt-Elogen ein, und Friedrich Steinmann, auch er kein Universitätswissenschaftler, legte am Ende des Jahrzehnts einen umfänglichen Volks-Kosmos vor. Der Hallische Zeitschriftenredakteur Karl Müller trat 1857 mit seinem Buch der Pflanzenwelt - Versuch einer kosmischen Botanik auf, und der Badearzt Georg Hartwig stellte 1864 mit kosmischem Anspruch Gott in der Natur oder die Einheit der Schöpfung dar. Der Schweizer Pfarrer August Nathaniel Böhner publizierte in den Jahren zwischen Düppel und Königgrätz seinen zweibändigen Kosmos. Bibel der Natur. August Hummel, Lehrer in Halle, präsentierte 1870 Das Leben der Erde, und Philipp Spiller, Publizist in Berlin, dachte öffentlich in aller Breite über die Entstehung der Welt und die Einheit der Naturkräfte im Rahmen seiner Populären Kosmogenie (1870) nach. Damit sind nur Beispiele der Kosmos-Literatur benannt, die sich in Titel und Konzeption an Humboldts Anspruch orientierten. Zahlreiche andere Autoren, darunter Hermann Klencke und Roßmäßler, wählten verfeinerte Varianten kosmischer Naturdarstellung oder bekundeten ihre Bewunderung für Humboldt in Widmungen und öffentlichen Briefen.5 Bei allen stilistischen und sachlichen Differenzen einte diese Autoren der Wille, die empirische Erschließung der Natur in ein harmonisches Panorama zu kleiden und die auseinanderstrebenden naturwissenschaftlichen Disziplinen in einer ganzheitlichen Betrachtung zusammenzubinden. Die Kosmos-Literatur transformierte die philosophische Einheitsidee, die Humboldt den Naturwissenschaften angeeignet hatte, auf die Ebene der naturkundlichen Populärsprache. Das Ganzheitsideal entsprach in hohem Maße dem Wunsch, die Naturwissenschaft zu einer „Volkswissenschaft"6
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Klencke: Naturbilder (1850), Roßmäßler: Populaire Vorlesungen, II (1853). O. Ule: Das Weltall, I (1850), S. 4.
282
V. Der literarische Markt
zu machen, da es auf spezialistische Tendenzen verzichten oder diese zumindest immer wieder zurücknehmen konnte. Die Einholung der ästhetischen Dimension durch Humboldt legitimierte zudem, den literarisch-ästhetischen Anforderungen eines Populärstils nachzukommen. Aus beidem nährte sich der Versuch, die „natürliche Weltanschauung"7 in Worte zu fassen, die aus der freireligiös-naturwissenschaftlichen Konvergenz heraus zum Kern des frühen Popularisierungswillens geworden war. In diesem Sinne begann 1857 die demokratische Zeitschrift Das Jahrhundert ausgehend von Ules kosmischen Werken eine Besprechungsserie über populäre naturwissenschaftliche Schriftsteller. Diese würden danach streben „durch eine zusammenhängende, systematische Darstellung die Erfahrungswissenschaften zur Philosophie zu erheben, welche folglich selbst einen integrierenden Bestandtheil in der Entwickelung des modernen deutschen Geistes bilden. [...] Was bisher die Philosophie zur apparten Wissenschaft machte: die Erforschung des Zusammenhanges, der Beziehungen aller Thatsachen - Verbindung der einzelnen Zweige des Wissens zur Totalwissenschaft - dieses philosophische Problem stellen sich heute die Naturforscher selbst, um dasselbe auf dem Wege der Empirie zu lösen, nachdem die Spekulation ihren Gegenstand, und mit ihm sich selbst, erschöpft hat."8 Der Mut, erdgeschichtliche und zoologische, anthropologische und astronomische Erkenntnisse zu verklammern, widersprach der fachwissenschaftlichen Segmentierung. Insofern verstärkte die Einheitsvorstellung den anti-akademischen Impetus der Sachprosa. Ihre Autoren zogen gegen das gelehrte Zergliedern der Natur ins Felde und rühmten sich, „dem Zopfprofessorenthum gern einen Schlag ins Gesicht"9 zu versetzen. Je mehr die Kosmos-Idee in die außerwissenschaftliche Naturkundeliteratur übernommen und dort generalisiert wurde, desto mehr geriet sie zum fast unverzichtbaren Bestandteil des Selbstverständnisses der Popularisierer. Ein publikumswirksames Buch über Pflanzen zu schreiben, war schon 1857 für Karl Müller nicht mehr möglich, ohne die Pflanze als „ein Glied des Weltganzen" zu betrachten.10 Im Einzelnen das Ganze zu spiegeln, wurde zum Kennzeichen populärwissenschaftlicher Literatur bis hin zu Bölsche und France, für die ein Wassertropfen die Gesetze der ganzen Natur und das Universum verkörperte.11 In der Fortschreibung des Ruhms von Humboldts Kosmos sind jedoch später das Ausmaß der Kosmos-Literatur als einer eigenen Erscheinung 7 8 9 10 11
Hier bei K. Müller: Das Buch der Pflanzenwelt (1857), S. VI. Hess: Populäre naturwissenschaftliche Schriftsteller (1857/58), S. 933. Otto Ule an E. A. Roßmäßler 28.12.1856 über den zweiten Band seiner Physikalischen Bilder (Löbbecke-Museum, Düsseldorf). K. Müller: Das Buch der Pflanzenwelt (1857), S. VI. Vgl. Kapitel V.5; O. Ule: Die Natur (1851), S. 189; R. H. France: Philosophie des Wassertropfens, in: Kosmos/Handweiser 3 (1906), S. 9-14.
4. Diversifizierung und Polarisierung nach 1848
283
auf dem Buchmarkt und die Reaktion Humboldts auf seine popularisierenden Epigonen unbeachtet geblieben. Am 16. September 1848, dem Tag der Annahme des Waffenstillstands von Malmö durch die Frankfurter Nationalversammlung, ging Humboldt in einem Schreiben an Cotta erstmals auf die einsetzende Kosmos-Literatur ein. Mehr noch: Humboldt entwickelte als Antwort darauf den Plan einer komprimierten Kosmos-Ausgabe, die er scherzhaft „Micro-Kosmos"12 nannte. Den unmittelbaren Anlaß bot die Veröffentlichung des Kosmos für Schulen und Laien von Reuschle.13 Sie machte das Dilemma deutlich; der Titel Kosmos war ungeschützt und konnte von Humboldt nicht monopolisiert werden. Auch wenn Reuschles Darstellung dem eigenen Kosmos in keiner Weise angemessen war, so war „die malice" doch offensichtlich. Durch die Ähnlichkeit des Titels und ausdrückliche Erwähnungen von Humboldts Namen täuschte der Verfasser des Kosmos für Schulen einen Anspruch vor, der einen erhöhten Absatz versprach. „Die böse Absicht" - so Humboldt - „liegt am Tage".14 Der parallel erscheinende Kommentar zum Kosmos von Bernhard Cotta erschien Humboldt aufgrund seiner persönlichen Wertschätzung für den Freiberger Geologen zwar weniger ärgerlich, mehr als eine Kompilation seiner Gedanken vermochte er aber auch hier nicht zu erkennen.15 Humboldt bestand zu Recht darauf, daß sein monumentales Buch eine eigene literarische Komposition und „Belebung eines reichen Materials"16 aufwies. Die bloße Erläuterung des Inhalts mußte willkürlich bleiben, nur war
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Humboldt an Georg von Cotta 16.9.1848 (CA Marbach). Die folgenden Zitate nach diesem Original. Das Schreiben ist nur auszugsweise, unter Auslassung eben jener hier interessierenden Teile wiedergegeben in: Briefe an Cotta (1934), S. 36f., eine ohnehin höchst selektive Edition. Humboldts Plan für einen MicroKosmos ist zudem in der Humboldtforschung fast völlig unbeachtet geblichen; erste, knappe Hinweise finden sich bei Engelmann: Alexander von Humboldt (1970), S. 40f. Karl Gustav Reuschle (1812-1874) aus Mehrstetten in Württemberg studierte Mathematik und Theologie, verbrachte je ein Jahr in Paris und Berlin, bevor er als Repetent am Seminar in Schönthal, dann am Tübinger Stift arbeitete. Seit 1840 unterrichtete er Mathematik und Geographie am Gymnasium zu Stuttgart. 1841 legte Reuschle eine biographische Skizze Keplers vor, trat aber primär mit seinen Tafeln der Primzahlen hervor, vgl. ADB 28, 298; DBA Neue Folge 1065, 77-79. Humboldt an Georg von Cotta 16.9.1848 (CA Marbach). Humboldt an Georg von Cotta 16.9.1848 und 14.10.1848 (CA Marbach). Bernhard Cotta selbst war sich bewußt, daß sein Briefkommentar zu Humboldts Original in einer gewissen Konkurrenz stand; er war nach eigener Aussage durch die Verlagshandlung Weigel zu der Schrift veranlaßt und durch ein lukratives Honorar verlockt worden, so Bernhard Cotta an Georg von Cotta 18.12.1851 (CA Marbach). Humboldt an Georg von Cotta 16.9.1848, gleichermaßen Humboldt an Cotta 13.2.1849 (CA Marbach).
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V. Der literarische Markt
mit diesem Einwand die literarische Ausnutzung des Kosmos durch andere Autoren nicht zu verhindern. In dieser mißlichen Situation versuchte Humboldt, aus der Not eine Tugend zu machen. Der Naturforscher eignete sich das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach einer leichter verständlichen Fassung des Kosmos an. Man mußte das Eisen schmieden, solange es heiß war.17 Humboldt dachte an ein „sehr nützliches viel zu kaufendes Buch"18 von etwa 30 Bögen, mit drei Titelkupfern, auch einem Portrait, ohne Anmerkungen, dafür mit Ergänzungen zu neuesten Entdeckungen, in dem ihm bekannte Gelehrtenkollegen einzelne Teile des Kosmos kommentieren sollten. Der Micro-Kosmos sei für Schulen ungeeignet und sollte primär für Erwachsene dienen, das hieß „für Leser allgemeiner Bildung, die aber einzelnen Wissenschaften fremd und deshalb in dem Genüsse meiner litterarischen Composition gestöhrt sind."19 Im Februar 1849 faßte Humboldt nochmals die inhaltlichen und buchhändlerischen Aspekte zusammen: „[...] ich träumte ein Büchlein für IVi-l Thaler müsste des Preises und Namens wegen, schnell bis 25000 Ex. Absaz finden, wenn es neben dem erweiterten Naturgemälde auch das enthielte, was durch Lebendigkeit der Diction reizen kann, also auch die 3 Anregungsmittel, Poesie, Mahlerei, Gärten. Studenten, Weltleute, Officiere kaufen gerne wohlfeil. Ich glaube, daran wären dreissig bis 40 000 Thaler zu gewinnen und für den gelehrten Theil des Publikums bliebe der Kosmos in 3 Bänden immer eine Notwendigkeit". 20 Unmißverständlich klang Humboldts persönliches Interesse an der Veröffentlichung eines Micro-Kosmos an. Der Gelehrte befand sich in chronischer Geldnot; alte Schulden und seine oft spontan gemachten Aufwendungen für jüngere Wissenschaftler und Freunde belasteten das private Budget erheblich. Im Micro-Kosmos erkannte Humboldt die Chance, durch die Ausnutzung der öffentlichen Nachfrage und seines unbestrittenen Ruhms die eigenen finanziellen Schwierigkeiten zu mildern und möglicherweise den Schuldenberg ganz abzubauen. Euphorisch sah der fast 80jährige schon eine „sehr grosse Geldspeculation, eine wie von einzelnen
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So Humboldt an Georg von Cotta 25.2.1849 über seine Idee des Micro-Kosmos (CA Marbach). Humboldt an Georg von Cotta 16.9.1848 (CA Marbach), Ebenda. Die Bezeichnung „Micro-Kosmos" schien Humboldt zu gefallen, obwohl er sie selbst als scherzhaft qualifizierte: Im Briefwechsel variiert die Schreibweise, so wird auch von „Micro-Cosmos", „Microcosmos" und „Mikrokosmos" gesprochen. Humboldt an Georg von Cotta 25.2.1849 (CA Marbach). Zu diesem Zeitpunkt hatte Humboldt allerdings schon eingesehen, daß er sich „in der Speculation eines Microcosmos geirrt habe und dass er dem Makrokosmos zu sehr schaden könnte." Humboldt an Georg von Cotta 2.11.1848 (CA Marbach). Ebenda.
4. Diversifizierung und Polarisierung nach 1848
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Werken Göthes und Schillers"21 auf dem literarischen Markt möglich werden - „der Microcosmos muss mir pecuniairement Hülfe bringen."22 Humboldts Rechnung, daß durch „vermehrte Popularität"23 der MicroKosmos auch den Verkauf des „Makrokosmos"24 fördern würde, war indessen ohne den Verleger gemacht. Cotta befürchtete, daß exakt das Gegenteil eintreten werde. Im Februar und März 1849 ließ er seinen Autor wissen, ein einbändiger Micro-Kosmos würde ebenso wie eine veränderte Auflage des Hauptwerkes das Publikum verstimmen. Wer bereits den teuren Makrokosmos erworben habe, würde sich über das Erscheinen eines ..wohlfeileren" Kosmos nur ärgern, der Absatz des eigentlichen Werkes müsse darunter leiden.25 Dieser Argumentation konnte sich Humboldt nicht entziehen,26 auch wenn er Cotta in der Folgezeit sporadisch wieder an seine Idee erinnerte.27 Noch im Dezember 1850 ließ Humboldt seine „wilde Meinung" anklingen, daß man mit einer einbändigen Kosmos-Ausgabe „ein grosses Geldgeschäft" machen könne 28 Dabei dachte er inzwischen in gleichem Maße an eine verschlankte Ausgabe der Ansichten der Natur „von allen stöhrenden Noten befreit [...] ohne das lästige Eruditions Gepäck", das in einen gesonderten Erläuterungs- und Anmerkungsband mit Register verstaut werden sollte: „Es ist ein hingeworfener Gedanke, weil durch Absonderung der Erudition von dem, in der Harmonie und Färbung des Styls so Verschiedenen die Redaction von der ursprünglichen Geschmacklosigkeit befreit und der Genuß des nicht ungelungenen Litterarischen, nun schon fast ein halbes Jahrhundert in mehreren Sprachen gelesenen erhöht würde."29 Beide Vorhaben Humboldts - der wohlfeile Micro-Kosmos und die Sonderausgabe der Ansichten - blieben letztlich aus verschiedenen Gründen unausgeführt. Nach 1850 mußte Humboldt alle Kräfte für die Vollendung des großen Kosmos mobilisieren. Die Idee der Kommentierung durch Fachgelehrte verlagerte sich auf die Überlegung, entsprechende Ergänzungen für Folgeauflagen des Kosmos nach Humboldts Tod vorzunehmen.30 Nachdem Cotta zunächst zugesichert hatte, Humboldts Vorschläge nur aufzuschieben, nicht aber gänzlich zu verwerfen, machte der Verleger in späteren Jahren wenig Anstrengungen, die Pläne für wohlfeile Ausgaben zu realisieren. Immerhin erschienen zwischen 1858 und 1860 eine durch
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Humboldt an Georg von Cotta 16.9.1848 (CA Marbach). Humboldt an Georg von Cotta 25.2.1849 (CA Marbach). Cotta an Humboldt 21.2.1849 und 29.3.1849, hier das Zitat (CA Marbach). Humboldt an Georg von Cotta 25.2.1849 (CA Marbach). Humboldt an Georg von Cotta 25.8.1849 und 6.12.1850 (CA Marbach). Humboldt an Georg von Cotta 6.12.1850 (CA Marbach). Ebenda. So z.B. in den Schreiben Humboldts an Cotta vom 7.9.1849,7.3.1850,19.6.1850, 4.11.1850,15.12.1850,18.11.1851,16.4.1852 und 7.6.1853 (CA Marbach).
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V. Der literarische Markt
Eduard Buschmann korrigierte Fassung des Kosmos in Form von kleinen Lieferungsbändchen sowie 1870 und 1874 eine von Bernhard Cotta betreute Ausgabe in vier Bänden.31 Zweifellos befand sich Georg von Cotta in einem Zwiespalt. Er wollte dem ,Makrokosmos' nicht durch eine komprimierte Ausgabe das Wasser abgraben und damit möglicherweise die beträchtlichen Verkaufsziffern reduzieren. Andererseits mußte Cotta mit ansehen, wie Konkurrenzunternehmen im In- und Ausland immer mehr Nach- und Billigdrucke des Kosmos und anderer Humboldttexte vertrieben und wie sich die neue Kosmos-Literatur ausbreitete. In längerfristige Perspektive gestellt, beschreibt die Episode um den Micro-Kosmos eine Etappe der literarischen Popularisierungsgeschichte, in der sich die funktionale Trennung von Fachwissenschaft und Populärwissenschaft bereits deutlich abzeichnete, aber in verlegerischer Sicht noch immer auf Vorbehalte stieß. Humboldts Modernität und vorausweisendes Gespür lag darin, daß er die Notwendigkeit dieser Trennung und die ökonomische Chance, die sie bot, erkannte. Er hatte mit dem Kosmos keineswegs einen populärwissenschaftlichen Text verfaßt, sondern war sich des gegenteiligen Charakters seines Werkes viel mehr bewußt, als es seine späteren Bewunderer wahrhaben wollten. Gerade aus dieser Einsicht heraus versuchte Humboldt, einen komplementären Ansatz zu wählen. Daß er nicht verwirklicht werden konnte, eröffnete den selbsternannten Popularisierern seines Werks Freiräume, die sie schon zu seinen Lebzeiten ausgiebig nutzten.
b) Der neue Empirismus, die ältere Entwicklungsgeschichte und die naturkundlichen Briefe Kosmisch abgesichert wandten sich die Popularisierer nach 1848 der Erfahrungswelt zu. Man ist gewohnt, diese nachrevolutionäre Phase mit Begriffen wie Positivismus und Materialismus zu beschreiben. Solche Klassifizierungen blenden jedoch aus, daß es für den Großteil der naturkundlichen Literatur nicht um einen reduktionistischen Zugriff auf Naturerklärungen und eine bloß materialistische Erklärungsweise ging. Stets blieb die Literatur am Ganzen des kosmischen Panoramas orientiert - die Hinwendung zur Empirie, zum Einzelphänomen und zu den naturwissenschaftlichen Erfahrungen im Alltag war in den meisten Fällen rückgebun31
Beck (Hg.): Alexander von Humboldt, VII (1993), Teilband 2, S.344f„ 357-361; siehe Cotta: Zu Alexander v. Humboldt's lOOjähriger Geburtsfeier (1869). Während Beck diese Ausgaben als Ausgleich für den nicht realisierten Micro-Kosmos wertet, legen die Humboldtschen Überlegungen gerade nahe, daß der MicroKosmos ein eigenständiges, auf eine breitere Leserschicht berechnetes Buch mit einem wesentlich geringeren Umfang darstellen sollte.
4. Diversifizierung und Polarisierung nach 1848
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Abbildung 9: Alexander von Humboldt als Wissenschaftsheros im Zentrum der Naturwelt und der Aufmerksamkeit der naturkundlichen Öffentlichkeit, den Kosmos in seiner Hand, umgeben von Allegorien und Abbreviaturen von Naturstudium und Technik - eine typische Darstellung aus dem nachrevolutionären Jahrzehnt.
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V. Der literarische Markt
den an ein überpositivistisches Naturverständnis. Es ging verstärkt um den Mikrokosmos, aber es ging auch immer darum, im Mikrokosmos den Makrokosmos zu erkennen - „jeder Theil enthüllt uns ewige Gesetze des unendlichen Ganzen, jedes Kleine wird ein Abbild des Großen."32 Physikalische Erscheinungen des Alltags und vertraute Details der Naturwelt wurden nach 1848 zu Themen der Literatur - als Chemie der Küche, Botanik für Damen oder als Naturwissenschaftliche Blicke in's tägliche Leben.33 Naturkundliche Belehrungen rankten sich um den Kieselstein, den Lichtstrahl oder den Strohhalm.34 Die Lehre der Nahrungsmittel und Fragen der richtigen Kleidung, Speise und ärztlichen Behandlung, z.B. in Form der Homöopathie, beschäftigten den Buchmarkt.35 Man entdeckte die Welt unter dem Mikroskop neu und erhob Infusorien, Zellstrukturen und kristalline Formen zu Gegenständen der Sachprosa.36 Die Rückbindung der naturwissenschaftlichen Belehrung an die Alltagserfahrung machte Otto Ule 1854 exemplarisch in seinen Physikalischen Bildern zum Programm. Aus unscheinbaren, selbstverständlichen Genreszenen des dörflichen Lebens führte er die Leser zu Einsichten in physikalische Gesetze. Das Schaukeln der Kinder auf einem Holzstamm ließ die Gleichgewichtsregeln und Hebelwirkung erkennen, der Transport von Baumstämmen das Reibungsgesetz. Pendel, Fallgesetz und Fliehkraft wurden am Räderwerk der Uhr und dem jugendlichen Ballspiel erläutert.37 An der lebensweltlichen Erfahrung, weniger am wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse richteten sich auch bibliophile Einzelwerke aus, die erfolgreich auf den literarischen Markt drängten. Sie behandelten etwa Die Pflanze und ihr Leben (Matthias Schleiden 1848,61864), die Flora im Winterkleide und die Vier Jahreszeiten bei Roßmäßler 1854 und 1855, Das Leben des Meeres bei Georg Hartwig 1857, Die Bewirthschaftung des Wassers (Heinrich Beta 1868) oder Das Meer, wie es wiederum Schleiden 1869 vorstellte. Daneben hatten geographische Berichte und die Reiseliteratur, die naturwissenschaftliche Erläuterungen aufnahmen, Erfolg, so Friedrich Tschudis Thierleben der Alpenwelt (1853, u1890) oder Roßmäßlers ReiseErinnerungen aus Spanien 1854. 32 33
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O. Ule: Physikalische Büder, I (1854), S. 1. Vgl. Bernstein: Aus dem Reiche, III (1854), O. Ule: Ausgewählte kleine naturwissenschaftliche Schriften, I (1865), Reichenbach: Botanik (1854), Ruß: Bücke (1865), eine Sammlung von Aufsätzen über Physik in der Häuslichkeit, Frauenbotanik, Chemie in der Küche und anderes. Körner: Der Mensch (1853). Vgl. Moleschott: Lehre (1850), Bernstein: Aus dem Reiche, I (1853), S. 13f£, llOff.; Klencke: Katechismus (1854), Rau: Das Evangelium (21857), S.378ff.; Wittmaack: Populäres Handbuch (1858). Vgl. Roßmäßler: Der Mensch, II (1850), S. 41ff.; Klencke: Mikroskopische Büder (1853), Böhner: Kosmos, I (1864), S. 288-298; Willkomm: Die Wunder (1856/41878). O. Ule: Physikalische Büder, I (1854), S.XII, lllff.
4. Diversifizierung und Polarisierung nach 1848
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Abbildung 10: Die empirische Analyse der Natur enthüllt das Wunderbare - 1853 berichtete Emil Adolf Roßmäßler über den „Papiernautilus": „Seitdem dieses merkwürdige Tier von der Wissenschaft der Wunder entkleidet worden ist, womit man es bis vor nicht gar langer Zeit verherrlichte, ist die Wissenschaft selbst [...] in die Lage gekommen, von ihm an der Stelle jener geträumten Wunder Thatsachen zu berichten, die so nahe an das Wunderbare grenzen, als es die nüchterne, immer nach Gesetzen verfahrende Natur nur irgend zuläßt."
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V. Der literarische Markt
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Abbildung 11: „Aus dem Reich des Kleinen" - 1875 betrachtete Hermann Meier aus Emden, Lehrer und oftmaliger Autor in der naturkundlichen Publizistik, Meerestiere aus der Nordsee unter dem Mikroskop.
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Die Tradition der systematischen Naturgeschichte lebte nach 1848 fort, erfuhr aber merkliche Wandlungen. Eduard Pöppig, Ordinarius für Zoologie in Leipzig, und Christoph Giebel in Halle verfaßten Naturgeschichten des Thierreiches. In Brehms Thierleben erwuchs ihnen nach 1864 eine überlegene Konkurrenz, ja ein epochales Ereignis in der Geschichte der zoologischen Popularisierung.38 Obwohl selbst kein wissenschaftliches Werk, reflektierte das Thierleben die Wende von der deskriptiven Vergleichenden Anatomie zur biologischen Konzeption, es nahm diese sogar im Vergleich zu den meisten deutschen Zoologen vorweg. Brehms „Lebenskunde der Thiere" 39 zielte darauf, die Tiere als handelnde Subjekte in ihrer natürlichen, durch Geographie, Fauna und Flora und auch durch den Menschen mitgestalteten Umwelt darzustellen; auf seine besondere Darstellungsweise wurde bereits im Abschnitt V.2.c) eingegangen. Daß der Mensch als „hochentwickelter Affe" 40 zu gelten habe, stand für Brehm außer Zweifel. Christliche Naturwissenschaftler und Gegner der Entwicklungsgeschichte bedachten das Thierleben daher mit kräftiger Polemik.41 Die Evolutionstheorie war aber weder Gegenstand der Darstellung, noch strukturierte sie den Text. Entwicklungsgeschichtliche Einsichten flössen in die Artbeschreibung ein, standen jedoch hinter der systematischen Ordnung zurück. Brehms Verfahren war letztlich doch systematisch-enzyklopädisch, nicht historisch. Das von ihm präsentierte Wissen dehnte sich räumlich, nicht in zeitlicher Tiefe aus.42 Die Entwicklungsgeschichte zu thematisieren, blieb zum Teil der Kosmos-Literatur, zum Teil einem eigenen Typus von Büchern vorbehalten, der - in Absetzung von der späteren Literatur in Nachfolge Ernst Haeckels - als ältere populärwissenschaftliche Entwicklungs- oder Schöpfungsgeschichte bezeichnet werden kann. Der Hallische Zoologe Hermann Burmeister setzte mit der Geschichte der Schöpfung (1843, 7 1867) den Anfang. Es folgten Karl Vogts Zoologische Briefe 1851 und in seiner 38
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Vgl. exemplarisch die Rezensionen in: Die Natur 12 (1863), Naturwissenschaftliches Literaturblatt, S. 10-12; Gaea 13 (1877), S. 322; Deutsche Rundschau 32 (1882), S. 158; Der Naturfreund 1 (1890/91), S. 139-141; Die Natur 42 = NF. 19 (1893), S. 220-222. Brehm: Illustriertes Thierleben, II (1865), S. VII. Brehms Thierleben, I (21876), S. 3. Brehm: Illustriertes Thierleben, I (1864), S.IX; Brehms Thierleben, I (21876), S. 3f., 20, 22. Vgl. Brehm: Gedanken (1865) sowie die Bemerkungen zur Brehmschen Polemik bei Ernst Krause: Alfred Edmund Brehm, in: Brehms Tierleben. Allgemeine Kunde des Tierreichs. 3., gänzlich neubearb. Aufl. von Prof. Dr. Pechuel-Loesche. Bd. 1: Die Säugetiere. Leipzig, Wien 1890, S.XVII, XLIII. Zur Kritik von katholischer Seite NuO 14 (1868), S. 41^15; NuO 23 (1877), S. 187-190. Dethlefs: Textverfahren (1994), S. 20-45. Vgl. Robert Chambers: Vestiges of the Natural History of Creation and Other Evolutionary Writings. Ed. with a New Introduction by James A. Secord. Chicago, London 1994.
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V. Der literarische Markt
Übersetzung Robert Chambers' Natürliche Geschichte der Schöpfung (deutsch 1851, 21858)43, Hermann Klenckes Schöpfungstage 1854, Roßmäßler mit seiner Geschichte der Erde 1856, Otto Volger (Erde und Ewigkeit 1857) und Paul de Jouvencal, der 1861 Grundzüge einer Geschichte der Schöpfung vorlegte. Zwei Jahrzehnte vor Haeckels Natürlicher Schöpfungsgeschichte wurde hier das ganze Spektrum prädarwinistischer Evolutionsansichten erprobt: von der traditionellen Theorie wiederholt eintretender Katastrophen und Neuschöpfungen bei Klencke und auch bei Ule44 über zyklische Modelle, wie sie in Volgers Schriften zu finden sind, bis zu Darwin nahestehenden Überlegungen bei Roßmäßler 45 oder - schwankend - in Steinmanns Volks-Kosmos. Die Ausweitung der Themen ging einher mit der Differenzierung von Textform und Sprachgestaltung. Die Kosmos-Literatur, die großen naturgeschichtlichen Werke und die ältere Entwicklungsgeschichte bevorzugten eine systematische Ordnung und erlaubten sich epische Beschreibungen. Erzählerische Elemente, auktoriale Wendungen und anthropomorphe Charakterbilder gingen hauptsächlich in die populäre zoologische Literatur ein, die oft literarische und naturkundliche Betrachtungen verwob.46 Besondere Vorliebe genoß zwischen 1844 und 1864 die Briefform. Sie war seit langem zum Zweck der literarischen Naturbelehrung eingesetzt worden und zuletzt neben dem empfindsamen Brief in physikalischen Lehrbüchern und der spätaufklärerischen Popularphilosophie beliebt gewesen, um den Leser in einen erhellenden, zum Mitdenken anregenden Dialog zu vertiefen, einen solchen zumindest zu suggerieren.47 Die Wissenschaftspopularisierer bedienten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts erneut dieser didaktischen Textform.48 Weniger Liebigs Chemische Briefe als die naturkundlichen Briefe von Gustav Bischof, Karl Vogt, Alexander 44 45
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O. Ule: Das Weltall, II.2 (1850), S. 359f., 374ff. Roßmäßlers Privatbibliothek enthielt die zweite Auflage der deutschen Übersetzung von Darwins On the Origin of Species. Im noch vorhandenen Exemplar seiner eigenen Iconographie der Weichtiere, Band II, 12. Heft von 1844, findet sich der später eingefügte handschriftliche Zusatz Roßmäßlers, ein Freund habe ihn darauf aufmerksam gemacht, daß in der Iconographie „viel anticipierter Darwinismus stecke." Auf das epochale Werk des Engländers machte Roßmäßler schon in AdH 2 (1860), Sp. 545-550 aufmerksam. Am 10. Juli 1860 hatte Wilhelm Hofmeister in der Leipziger Naturforschenden Gesellschaft über Darwin referiert; Roßmäßler gab den Bericht darüber in seiner Zeitschrift wieder. Vgl. Masius: Die Thierwelt (1861), ders.: Naturstudien (51863), Medicus: Die Naturgeschichte (1867). Kleinert: Die allgemeinverständlichen Lehrbücher (1974), S. 23f., 44 et passim; Sengle: Biedermeierzeit (1972), S. 200ff., 282-284; Belke: Literarische Gebrauchsformen (1973), S. 142-157; Ueding: Popularphilosophie (1980), S. 621-624. Vgl. Bischof: Populäre Briefe (1848), Mädler: Astronomische Briefe (1846), Vogt: Physiologische Briefe (31861), ders.: Ocean (1848), Petzholdt: Die Steinkohlen (1848), Cotta: Geologische Briefe (1850), Moleschott: Der Kreislauf (1852),
4. Diversifizierung und Polarisierung nach 1848
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Petzholdt, Bernhard Cotta, Jacob Moleschott, Hermann Klencke und Hermann Burmeister boten typische Beispiele. Sie sprachen die Leser ausdrücklich im Text an und fingierten einen dialogischen Erkenntnisprozeß. Klencke bevorzugte die Ansprache an Damen, die auf diesem Wege als Publikum der Naturwissenschaften eingebunden werden konnten.49 Der Briefform war der Vortragsstil verwandt, den eine Reihe von Texten nach vorangegangener mündlicher Präsentation beibehielten.50
c) Die Polemiken um den Materialismus In die harmonische Grundmelodie der Kosmos-Literatur, die eine „Welt der Harmonie und Schönheit"51 beschwor, mischten sich bald Dissonanzen. Harsche Töne wurden von jenen Autoren angeschlagen, die sich gänzlich vom Erbe der idealistischen Naturphilosophie verabschieden wollten und einem radikalen Empirismus huldigten; im Kapitel IV.2.a) wurde darauf schon hingewiesen.52 Im Vergleich mit der Kosmos-Literatur und den zeitgleichen freireligiösnaturwissenschaftlichen Autoren Baltzer, Rau oder Roßmäßler setzten die Materialisten ungleich aggressiver positives Wissen in weltanschauliche Forderungen um. Sie verknüpften entschlossen die populäre Naturkunde mit der atheistischen Religionskritik. Traten die deutschkatholischen und freiprotestantischen Autoren in vielen Varianten für ein geläutertes Christentum, eine Religion der Humanität oder pantheistische Vorstellungen ein,53 so schlössen sich die Materialisten mit Verve der Feuerbachschen Religionskritik und der historisch-kritischen Entmythisierung des Christentums durch David Friedrich Strauß an. Sie konnten sich an die neue, bewußt an Nichttheologen gerichtete Ausgabe des Lebens Jesu (1835/6, Neuausgabe 1864,81895) halten. Strauß' Der alte und der neue Glaube bot
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Klencke: Naturbilder (1859), Klencke: Sonntagsbriefe (1855), ders.: Pathologische Briefe (o.J.), Burmeister: Zoonomische Briefe (1856), Euler/Müller: Physikalische Briefe (1856), Christern: Medicinische Briefe (1862), Jäger: Zoologische Briefe, I - III (1864-76), Dillmann: Astronomische Briefe (1892). Klencke: Die Schöpfungstage (1854), ders.: Sonntagsbriefe (1855). Z.B. Bischof: Populäre Vorlesungen (1843), O. Ule: Das Weltall (1850), Roßmäßler: Populaire Vorlesungen (1852-53), Giebel: Tagesfragen (1857), Fuchs: Populäre naturwissenschaftliche Vorträge (1858), Czermak: Populäre physiologische Vorträge (1869). O. Ule: Die Natur (1851), S. 189. Vgl. nochmals Lübbe: Politische Philosophie (1963/74). Allerdings überzeichnet Lübbe die Kontinuität von den Materialisten zum Monismus des Fin de Siècle, der keineswegs nur ein übersteigerter Materialismus war. Die gleiche Verzerrung auch bei Bayertz: Spreading the Spirit (1985), S. 221. Vgl. Kapitel IV.l.
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V. Der literarische Markt
dann 1872 der konsequenten Naturalisierung der Weltvorstellung ein scheinbar festes Fundament und widmete den Ergebnissen der darwinistischen Entwicklungslehre breiten Raum. 54 Drei Autoren, dies ist bereits in Zusammenhang mit den Weltanschauungsvereinigungen deutlich geworden, prägten sich der literarischen Öffentlichkeit als Protagonisten des Materialismus ein: Jacob Moleschott, Karl Vogt und Ludwig Büchner. 55 Moleschott hatte eine geistige Sozialisierung vom freidenkerischen Elternhaus über die Lektüre Hegels, Strauß' und der Deutschen Jahrbücher im Vormärz bis zur prägenden Begegnung mit Feuerbach nach 1848 erlebt.56 Seit 1847 lehrte Moleschott als Privatdozent für physiologische Chemie in Heidelberg. 1850 ließ er seiner wissenschaftlichen Monographie über die Physiologie der Nahrungsmittel eine populäre Version als Lehre der Nahrungsmittel (31858) folgen. Auch ihm diente Humboldt als Vorbild, und um die Verständlichkeit zu testen, hatte Moleschott vorab den Text seiner Frau und einem befreundeten Ehepaar vorgelesen.57 Für Moleschott war die Materie unvergänglich, stoffliche Prozesse bestimmten die Lebensweise und die Denkmöglichkeiten des Menschen „Ohne Phosphor kein Gedanke" 58 . Eine überragende Rolle gewann die Ernährung, die Moleschott nach den sozialen und intellektuellen Unterschieden der Menschen differenzierte. Letztlich war das individuelle Leben nur Teil der chemisch-physiologischen Austauschprozesse der Materie, die den Kreislauf des Lebens ausmachten - so der Titel von Moleschotts zweitem populären Hauptwerk 1852 (51874/78). Daß der Mensch „ist, was er ißt", formulierte Ludwig Feuerbach als Quintessenz.59 Moleschott war durch die Schriften Karl Vogts beeinflußt worden und verfaßte analog zu Vogt den Kreislauf des Lebens in Briefform.
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Strauß ging es ausdrücklich um die Verknüpfung theologischer Fragen mit den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft, vgl. Strauß: Der alte und der neue Glaube (1872), S. 155ff.; ders.: Ein Nachwort als Vorwort zu den neuen Auflagen meiner Schrift: Der alte und der neue Glaube. Bonn 1873, S. 14f., 22-34; sowie zur Neuausgabe des Leben Jesu als „populären Werke" Strauß: Das Leben Jesu (81895), Vorrede von 1864, S. XIX, XX-XII, Zitat S. XXII. Vgl. zum sogenannten materialistischen Dreigestirn Sandkühler: Materialismus (1988), Gregory: Scientific Materialism (1977), Wittich (Hg.): Vogt (1971), Werner: Einflüsse (1987), S. 195-225. Zu Vogt siehe Bröker: Politische Motive (1973), zu Büchner Dreisbach-Ohlen: Ludwig Büchner (1969), hier S. 57-62 zur Problematik der Popularisierung. Eine neuere Monographie über Moleschott fehlt. Vgl. den eindrucksvollen Rückblick bei Moleschott: Für meine Freunde (1894), S.84,1481,172-181. Moleschott: Lehre (1850), S. V, mit Verweis auf Humboldts Ansichten der Natur und den Kosmos; Moleschott: Für meine Freunde (1894), S. 1991 Moleschott: Lehre (1850), S. 116. Feuerbach: Die Naturwissenschaft (1850/1971), S. 367. Vogt: Ueber den heutigen Stand (1847).
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Karl Vogt hatte sich seit seiner zoologischen Antrittsvorlesung in Gießen 1847 als konsequenter Empiriker profiliert. 60 Nach ersten Erfahrungen mit populären Vorträgen in Neuchätel 61 und dem Zwischenspiel als Abgeordneter der Paulskirche und Reichsverweser im Stuttgarter Rumpfparlament war er bemüht, seine Forschungen auch der nichtfachlichen Öffentlichkeit zu vermitteln, etwa in seinen Physiologischen Briefen von 1845, in der zweibändigen Briefsammlung Ocean und Mittelmeer 1848 und den Zoologischen Briefen von 1851.62 Vogts Physiologische Briefe fanden seit September 1851 in der Augsburger Allgemeinen Zeitung ein gleichnamiges Konkurrenzunternehmen durch den Göttinger Physiologieprofessor Rudolph Wagner. Wagner geißelte scharf den „frivolen Materialismus" 63 des Kollegen. Besondere Kritik erfuhr Vogts Aussage, daß das seelische und gedankliche Vermögen des Menschen eine Funktion der Gehirnsubstanz sei, also „die Gedanken in demselben Verhältniß etwa zu dem Gehirne stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren." 64 Nach einigem Geplänkel zwischen beiden verlieh Wagner dem Streit eine neue Dimension, indem er seine Angriffe auf der 31. VDNA 1854 in Göttingen in einer Rede über Menschenschöpfung und Seelensubstanz bündelte. Wagner beharrte auf der Souveränität von Glaubenssätzen, welche die Naturforschung nicht antasten könne. Er wandte sich damit gegen die Kritik an der christlichen Annahme, die Menschheit stamme von einem Urpaar ab. Wagner verteidigte die Existenz des freien Willens wie der Seele und das Fortleben nach dem Tod. Die Rede kulminierte in der Warnung vor forscherlichen Halbheiten, welche die Naturwissenschaften dem Verdacht ausliefern würden, „die sittlichen Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung völlig zu zerstören." 65 Der sogenannte Materialismusstreit war geboren, und Vogt entgegnete 1855 in seiner Streitschrift Köhlerglaube und Wissenschaft mit heftiger persönlicher und fachlicher Antikritik; die Schrift erreichte noch im gleichen Jahr vier Auflagen. Wagners physiologische Überlegungen wurden von Vogt als „Sammelsurium von Plattheiten und Trivialitäten"66 verworfen. Den Glauben an eine unsterbliche, nicht an Materie gebunde Seele lehnte Vogt ab. Er führte überdies die Artkonstanz und die getrennte Entstehung der verschiedenen Rassen als Argumente gegen die These vom Urpaar an. 61
Vgl. Vogt an Justus Liebig 13.1.1844 (SB München, Liebigiana II.B). Vgl. Kockerbeck: Zur Bedeutung (1995). 63 Zitiert nach Degen: Vor hundert Jahren (1954), S. 273. Vgl. Werner: Einflüsse (1987), S. 180-193. 64 So die berühmt-berüchtigte Formulierung Vogts, erstmals in der ersten Auflage seiner Physiologischen Briefe von 1845, S. 206. Vorausgeschickt hatte Vogt allerdings den Hinweis „um mich einigermaßen grob hier auszudrücken". Vgl. die Wiederholung in Vogt: Köhlerglaube (1855), S. 32. 65 Wagner: Menschenschöpfung (1854), S. 22. « Vogt: Köhlerglaube (1855), S. 21. 62
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V. Der literarische Markt
Eine Zusammenstellung der materialistischen Ansichten bot kurz darauf der Arzt Ludwig Büchner, Bruder des Dichters Georg Büchner und Universitätsdozent in Tübingen, mit Kraft und Stoff. Die Schrift erlebte bis 1869 zehn, bis 1904 gar 21 Auflagen und zählt damit zu den am weitesten verbreiteten Büchern des Säkulums mit Übersetzungen in 16 Sprachen, darunter Arabisch und Aramäisch.67 Ausgreifende Exkurse zur Erdgeschichte, Zoologie, Physiologie und Anthropologie sollten verdeutlichen, daß keine Kraft ohne Stoff bestehe und kein Stoff ohne Kraft68, die Materie unvergänglich sei und der Mensch sich nicht wesenhaft vom Tier unterscheide. Aufgrund ihrer physiologischen und zoologischen Ausbildung waren Moleschott und Vogt eher als Büchner in der Lage, die zentralen Probleme der biologischen Wissenschaft zu pointieren - deren weltanschauliche Implikationen zu erkennen, war nicht schwer. Konnte man weiterhin von einer Lebenskraft sprechen, welche die Entwicklungsprozesse in der natürlichen Welt ermöglichte? War dies eine formbildende naturimmanente Kraft, wie der Chemiker Liebig meinte? Oder entstammte sie einer metaphysischen Instanz, auf welche die christlichen Naturforscher vertrauten, die aber von den Materialisten mitsamt dem Vitalismus abgelehnt wurde? Existierte eine vom Körper unabhängige Seele, und ließ sich mit dieser die besondere Stellung des Menschen in der Natur beweisen? Wie war der Ursprung des Lebens zu erklären - als spontane Generation aus unorganischer Materie oder als Schöpfung? Gab es das Urpaar, was auch nichtchristliche Entwicklungsdenker annahmen, oder mußte man wie Vogt von der Polygenese ausgehen, was einer rassistischen Hierarchisierung der Völker erheblichen Vorschub leistete? Ließ sich die alte Katastrophentheorie gegen die Artvariation im durchgehenden Entwicklungsgang, wie ihn dann Darwin betonte, noch aufrechterhalten? War die Natur zweckmäßig eingerichtet, folgte sie einem Ziel, und wenn ja, war dieses außerhalb der Natur definiert worden? Die drei Materialisten setzten durchaus unterschiedliche Akzente. Gemeinsam war ihnen zum einen das empirisch-mechanistische Denken und die konsequent atheistische Haltung. Zum anderen teilten sie die aufklärerische Absicht, die Naturwissenschaften in populärer Form zu präsentieren. Beides war eng miteinander verzahnt. Der Empirismus förderte die Anschaulichkeit der Darstellung und konnte auf „jede Art philosophischer Kunstsprache"69 verzichten. Die Aufklärungsintention wuchs in dem Maße, wie die Materialisten sich von traditionellen Erklärungs- und Deu67
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Gregory: Scientific Materialism (1977), S.105. Vgl. NwW 5 (1890), S.399f.; Bölsche: Zur Geschichte (1901), S. XIXf.; die biographische Skizze bei Alexander Büchner, in: Büchner: Im Dienste der Wahrheit (1900), S. V-XXIX; Schreiner: Der Fall Büchner (1977), S. 314-333. Die berühmte Formulierung Büchners in ders.: Kraft und Stoff (1855), S. 2. Büchner: Kraft und Stoff (1855), S. XIV. Vgl. Moleschott: Lehre (1850), S. V, Xf.
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tungsangeboten distanzierten und die öffentliche Meinung von ihrem antiidealistischen Anliegen zu überzeugen versuchten. Selbst Kritiker gaben zu, daß die Materialisten sprachliche Verständlichkeit dadurch gewannen, daß sie konsequent empirisch orientiert waren und „nicht mit leeren Hülsen, sondern mit reellen, stofflichen Dingen" operierten. 70 Die empirische Populärwendung führte allerdings zu sachlichen Einbußen und terminologischen Mängeln und bestätigte damit nur die Kritik der Gegner. Vor allem Büchner verwickelte sich mit seinen Kollektivbegriffen Kraft und Stoff, deren Einheit er postulierte und die er doch dualistisch sah, in zahlreiche Widersprüche. Geschulte Philosophen erkannten bald die Unklarheiten. 71 Büchner selbst entschuldigte sich bei Kollegen für die inhaltlichen und sprachlichen Simplifizierungen. Kraft und Stoff sei in einer „verbitterten Stimmung mehr hingeworfen, als geschrieben" worden.72 Selbst Moleschott vertraute Roßmäßler „ganz unter uns" an, er fühle sich von Büchner benutzt; dessen „Plattheit und Gedankenarmuth" seien ihm unerträglich. 73 Die materialistischen Bekenntnisschriften lösten eine Welle von Streitschriften aus, in denen nun Naturwissenschaftler, Philosophen, Theologen und selbstberufene Experten Position bezogen.74 Die Behandlung des Materialismus durch die Öffentlichkeit läßt dabei ähnlich wie bei der Haeckel-Virchow-Kontroverse einen Prozeß selektiver Personalisierung erkennen. Heinrich Czolbe, der vierte herausragende Materialist, wurde sowohl von den Zeitgenossen als auch von der späteren Forschung weniger als Moleschott, Vogt und Büchner beachtet - auch deshalb, weil seine Ansichten weit weniger als die der anderen zu einer klaren Antiposition
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Frauenstädt: Der Materialismus (1856), S. 9. Vgl. die klassische Kritik bei Lange: Geschichte des Materialismus (31877), daneben Lübbe: Politische Philosophie (1963/1974) und Köhnke: Entstehung (1986/1993), S.138ff. Büchner an E. A. Roßmäßler 15.11.1855 (Löbbecke-Museum, Düsseldorf). Vgl. Büchner an Rudolf Virchow Juni 1856 (AkW Berlin) und die spätere Darstellung bei Alexander Büchner, in: Büchner: Im Dienste (1900), Vorwort, S. XVIII. Tatsächlich waren die späteren Schriften Büchners sachlicher gehalten. Moleschott an E. A. Roßmäßler 27.11.1857 (Löbbecke-Museum, Düsseldorf). Vgl. die Kritik an Büchner bei Otto Ule, in: Die Natur 7 (1858), Naturwissenschaftliches Literaturblatt, Nr. 7, S. 51. Vgl. Vogt: Altes und Neues, I (1859), S. XVf. Beispiele aus der Streitschriftenliteratur sind: Der Humor (1856), eine z.T. in Reimen verfaßte, heftige Abrechnung mit den Materialisten; Michelis: Der Materialismus (1856) aus katholischer Sicht, wobei Michelis neben Moleschott, Vogt, Büchner und Czolbe auch Virchow (!), B. Cotta, H. Burmeister, Roßmäßler, Karl Müller und Otto Ule als Gegner über einen Leisten schlug; Böhner: Naturforschung (1859); Baltzer: Die neuen Fatalisten (1859) aus freiprotestantischer Perspektive; Schleiden: Ueber den Materialismus (1863) und Fabri: Briefe (21864). Eher vermittelnde Position bezogen Frauenstädt: Der Materialismus (1856) und Snell: Die Streitfrage (1858).
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V. Der literarische Markt
gegenüber den konkurrierenden weltanschaulichen Deutungsversuchen stilisiert werden konnten. In dem „Froschmäusekrieg zwischen den Pedanten des Glaubens und Unglaubens" 75 überwog die Ablehnung des krassen Materialismus. Auf allen Seiten behielten die Schriften über Jahre hinweg agitatorischen Kampfcharakter bei und setzten in einem vorher unbekannten Maße polemische Mittel ein. Anhänger und Gegner des Materialismus zogen sämtliche rhetorischen Register. Kraft und Stoff hatte das Muster geliefert. Büchner übertrieb und ironisierte, stellte Suggestivfragen und nutzte Vergleiche oder Metaphern bis hin zum „überirdischen Finger", der „gewissermaßen in dem allgemeinen Weltbrei gerührt und der Materie damit ihre Bewegung verliehen habe." 76 Im polemischen Sog des Materialismusstreits flössen wiederum die Argumente zu pauschalen Oppositionsbegriffen zusammen, die der Verunglimpfung des jeweiligen Gegners dienten: Materialismus versus Idealismus, Urzeugung gegen Schöpfung, Atheismus wider christlichen Glauben, Freiheit statt Autorität, Aufklärung an Stelle von Dunkelmännertum, Frivolität im Gegensatz zu Sittlichkeit. Solche semantischen Verkettungen und Polarisierungen waren ihrerseits eine Fortführung der Auseinandersetzung um die Radikalaufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts und um den Rationalismus des Vormärz; sie wurden später, wie in Kapitel II.3. geschildert, in den Diskussionen um die Grenzen des Erkennens und im Haeckel-Virchow-Streit aufgegriffen und lassen beide Debatten als direkte Fortsetzung des Materialismusstreits erscheinen. 77 Erwartungsgemäß wurde der polemische Grundzug der Streitschriftenliteratur auch auf den Popularitätsbegriff übertragen. Aus dem Bekenntnis der Materialisten zur Gemeinverständlichkeit zogen die Kritiker den Umkehrschluß, die populäre Form überhaupt als materialistisch und atheistisch zu diskreditieren. Die Schwächen der materialistischen Schriften boten die Chance, die angeblichen Gefahren naturwissenschaftlicher Popularisierung in kräftigen Strichen zu zeichnen. In diesem Zusammenhang forderte auch der protestantische Theologe Friedrich Fabri, die „Popularisirungsseuche" 78 einzudämmen. Der Volks-Kosmos Steinmanns wurde noch schärfer. Dem „sogenannten ,populären' Scribententhum, dieser Werbeun-
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Schulze-Bodmer: Der Froschmäusekrieg (1856). Büchner: Kraft und Stoff (1855), S. 56. Sandkühler: Materialismus (1988), S. 195f., spricht vom Streit um die Grenzen des Erkennens, wie ihn Du Bois Reymond zuspitzte, als dem „zweitenfn] Materialismusstreit". Vgl. Vidoni: Ignorabimus (1991), S. 47f£ Fabri: Briefe (21864), S. 126. Vgl. Michelis: Der kirchliche Standpunkt (1855), S. 3. Auch F. A. Lange machte die populäre Form für die philosophische Dürftigkeit der Materialisten, insbesondere Büchners, mitverantwortlich, siehe Lange: Geschichte (31877), S. 84-94,97.
4. Diversifizierung und Polarisierung nach 1848
299
teroffizierschaft für die Freicorps und Freischärler des einseitigen Materialismus unserer Zeit muß der Frei- und Werbpaß genommen und ihnen dafür der Laufpaß aus dem Lande der Wissenschaft gegeben werden." 79 Parallel zur fortdauernden Belastung des Popularisierungsbegriffs vollzog sich die Abkoppelung des Materialismusstreits vom akademischen Diskurs. Von der professionellen Wissenschaft in Deutschland wurde der krasse Materialismus selbst in den Naturwissenschaften kaum und in den philosophischen Fächern erst recht nicht akzeptiert. 80 Dagegen geriet er zur fixen Größe in der Diskussion um Popularität und verselbständigte sich als Thema in den populärwissenschaftlichen Schriften. Der Materialismusstreit bestätigte für den naturwissenschaftlichen Bereich die diskursive Dissoziierung, die das kulturelle Leben Deutschlands auf vielen Ebenen erlebte. Sie ist Teil des nachmärzlichen Prozesses, den zuletzt Klaus Christian Köhnke treffend als „Auseinanderfallen von akademischer Philosophie und der für die gebildete Öffentlichkeit allein interessanten Zeit-, Kulturkritik, politischen und praktischen Philosophie" 81 beschrieben hat. Das bedeute auch, daß sich der Typus des popularisierenden Naturwissenschaftlers in wachsender Distanz zum akademischen Räsonnement bewegte, zumal die politische Reaktion der 1850er Jahre die weltanschaulichen Dissidenten ausgrenzte.82 Dieses Wechselspiel von Distanzierung und Ausgrenzung wird daher nochmals bei der biographischen Betrachtung der Vermittler hervorgehoben werden.
79 80 81 82
Steinmann (Hg.): Volks-Kosmos, II (o.J./ca. 1859), S. 153. Gegen die Überschätzung des Materialismus argumentiert zu Recht Vidoni: Ignorabimus (1991). Köhnke: Entstehung (1986/1993), S. 112, siehe auch S. 116. Vgl. schon Lübbe: Politische Philosophie (1963/1974), S. 139. Differenziert zur Ausgrenzung Büchners durch den Senat der Universität Tübingen und das Kultusministerium nach der Veröffentlichung von ,Kraft und Stoff' Schreiner: Der Fall Büchner (1977).
300
V. Der literarische Markt
5. Die Verweltanschaulichung der naturkundlichen Literatur bis 1914 a) Der Einzug des Darwinismus und Ernst Haeckels populäre Werke Die polemisch aufgeladene, öffentliche Diskussion um die Naturwissenschaften spitzte sich mit der Rezeption von Darwins Arbeiten seit 1859 nochmals zu. Auch wenn man Person und Werk Darwins nicht mehr betrachten kann, ohne die Mythisierungen schon zu seiner Lebenszeit zu berücksichtigen,1 so läßt sich nicht bestreiten, daß Darwins On the Origin of Speeles von 1859 die Öffentlichkeit in besonderem Maße mobilisierte. Das betraf zunächst die akademische Diskussion. Selbst Rudolf Virchow, der in seiner Haltung ambivalent blieb, sprach 1863 davon, daß „in allen Zweigen der organischen Naturwissenschaften ein Zustand [ist], wie im Staate nach einer tiefgehenden politischen Erschütterung, wo Alles wieder in Frage gestellt wird, was längst abgemacht zu sein schien, wo die Autorität ihre Stärke verliert und wo zuletzt Jeder an sich selbst und der Sicherheit seines Besitzes zweifelhaft wird. Die Reorganisation eines mächtigen Heerwesens kann nicht stärkere Verwirrung in der Akten-Registratur eines Kriegsministeriums hervorbringen, als eine solche Generalrevision der gesammten organischen Natur in den ungeheuren Schränken der Herbarien".2
Zwar verhielt sich Darwin bezüglich der eigentlich sensiblen Frage, ob der Mensch aus der Evolution tierischer Organismen entstanden sei, anfangs vorsichtig. Aber seine Lehre verschaffte der antimetaphysischen, antichristlichen Bewegung enormen Rückenwind. Aus ihrer Sicht widersprach die auf Artvariation, natürlicher Selektion und ununterbrochener Entwicklung beruhende Darwinsche Evolutionslehre dem teleologischen Denken. Sie machte die Vorgabe eines göttlichen Planes der Natur überflüssig und konnte in letzter Konsequenz auf die Idee ursprünglicher Schöpfung durch Gott verzichten. Die innerakademische Diskussion verlief in Deutschland äußerst differenziert, und selbst unter den als darwinistisch bekannten Publizisten gab es erhebliche Unterschiede in den biologischen Positionen, die zudem über Darwins eigene Vorstellungen teilweise weit hinausgingen.3 Gegner und 1 2 3
Vgl. zur kritischen Wendung der Darwinismusforschung die Einleitung, Abschnitt zu Forschungslage und Quellen. Rudolf Virchow: Ueber Erblichkeit. I. Die Theorie Darwin's, in: Deutsche Jahrbücher für Politik und Literatur 6 (1863), S: 339-358, hier S. 339. Eine hervorragende Einführung in die Diskussion bietet der Katalogband von Baumunk/Rieß (Hg.): Darwin (1994), insbesondere S. 66-82. Vgl. zur Heterogenität der Darwinismus-Diskussion daneben Montgomery: Germany (1974), Weindling: Darwinism (1985), Smith, Politics (1991), S. 91-94 und schon Klein: Entwickelungsgeschichte (1870).
5. Verweltanschaulichung der naturkundlichen Literatur
301
Anhänger Darwins waren unschwer zu erkennen. Von einer klaren ZweiLager-Gruppierung, die zudem mit politisch und religiös konträren Positionen deckungsgleich gewesen wäre,4 kann jedoch auf wissenschaftlicher Ebene ebensowenig gesprochen werden wie von einem Siegeszug des Darwinismus. War für viele jüngere Wissenschaftler die Lektüre Darwins zum Erweckungserlebnis geworden, das ihnen einen neuen Sinn ihrer Forschung verschaffte, so entpuppte es sich längerfristig oft als Rausch, dem eine Ernüchterung folgte. Und gerade diejenigen, die als Protagonisten des Darwinismus hervortraten, modifizierten die Gedanken des englischen Naturforschers oft mit eigenen Lehren erheblich. Einzelelemente der neuen Evolutionslehre wurden intensiv diskutiert, z.B. das Problem der Variation, deren Ursachen und Begründbarkeit in fossilen Überresten, die Wahrscheinlichkeit einer natürlichen Urzeugung, die Existenz von organischen Typengruppen und die realen Selektionsmechanismen in Beziehung auf das seit langem diskutierte Problem der Vererbung erworbener Eigenschaften. Ebenso wurden die Grundfragen der außerchristlichen Entwicklungstheorie auf den Prüfstein gestellt: das Verhältnis von Materie und Geist, das Problem einer naturimmanenten Zweckmäßigkeit und die Verweigerung einer entwicklungsgeschichtlichen Sonderstellung des Menschen. Darwins Werk selbst wurde rasch ins Deutsche übersetzt,5 konnte indes aufgrund seiner umfangreichen, gelehrten Form kaum jenseits fachwissenschaftlicher Kreise gelesen werden. Die Diskrepanz zwischen dem komplexen Lehrgehalt, der binnenwissenschaftlichen Unklarheit über die Gültigkeit der Thesen und dem wachsendem Aufklärungsbedarf wurde weniger von professionellen Forschern, als vielmehr von publikumsorientierten Publizisten überbrückt.6 Sie übernahmen nicht nur die naheliegende Vermittlungsaufgabe, sondern verankerten die darwinistische Lehre, bevor überhaupt deren biologische Fragen ausgetestet waren, im populärwissenschaftlichen Genre. Ähnlich wie zuvor die Kosmos-Idee und die materialistischen Provokationen wurde der Darwinismus primär auf populärwissenschaftlicher Ebene als Paradigma fixiert. In dieser frühen Gestalt hat sich ,der Darwinismus' - ein in Deutschland schon früh gebrauchter, wissenschaftlich allerdings höchst fragwürdiger Singular7 - in das kollektive Gedächtnis eingegraben, ungeachtet der Diskontinuitäten und Wandlungen, die er seit 1859 erlebte.
4 5
6 7
Betont bei Junker: Darwinismus (1995), S.294-296. Hierzu die bibliographische Übersicht bei Altner (Hg.): Der Darwinismus (1981), S. 507.1860 lag die erste deutsche Übersetzung von H. G. Bronn nach der zweiten Auflage des englischen Originals vor, 1867 besorgte J. Victor Carus eine dritte deutsche Auflage, die 1884 wiederum in der siebten Auflage gedruckt wurde. Vgl. schon Krause [= Sterne]: Charles Darwin (1885), S. 95,161. Junker: Darwinismus (1995), S. 279 mit einem ersten Beleg aus dem Jahr 1861.
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V. Der literarische Markt
Indem sich die materialistischen Publizisten seit 1859 der darwinistischen Grundannahmen bemächtigten, ergab sich in Deutschland eine vordergründig schlüssige Äquivalenz von Religionskritik, Materialismus und Darwinismus. Jede der drei Ebenen schien mit den beiden anderen deckungsgleich zu sein. Die scheinbare Kongruenz belastete die notwendige Rezeption der Darwinschen Lehre indes mehr, als daß sie sie erleichterte. Die Überlappung, für die die Gegner Darwins mitverantwortlich waren, erklärt die Vehemenz des Widerstands aus konservativen Kreisen, denen wie die Schuldebatte 1877 bis 1883 zeigte - die moderne Entwicklungslehre Anlaß zu einer ganzen Reihe von pauschalisierenden Vorwürfen bot. Die öffentliche Auseinandersetzung, durch Materialismusstreit und Ignorabimus-Debatte ohnehin schon polar angelegt, wurde noch rauher. Und sie wurde in den folgenden Jahren immer wieder auf unvereinbare Antithesen zugespitzt. Offensichtlich entprach gerade dieser Mechanismus dem Bedürfnis einer Massenöffentlichkeit nach klaren Frontlinien und personalisierten Kontroversen. Der Zoologe Gustav Jäger, der Darwinismus und Christentum zu versöhnen versuchte, hielt 1869 fest, nicht nur die Behörden verlangten eine scharfe Positionsbestimmung im Darwinismusstreit. Vielmehr sei es „die öffentliche Meinung, die mit der Pistole in der Hand, mit einer Pistole, die mit Haß und Verachtung geladen ist, dem Naturforscher sein Glaubensbekenntnis abfordert. [...] Wir Darwinianer sind eigentlich in der Zwangslage, uns noch einige Semester auf die Universität zu begeben, um auch Theologie zu studiren." 8 Die Attraktivität der neuen Lehre in der Öffentlichkeit lag vor allem darin, daß sie zur weltanschaulichen Bedarfsdeckung genutzt werden konnte - sei es als Argument für eine moderne Reformvernunft, für die diffundierende Religionskritik oder für ein neues monistisches Eingestimmtsein auf die Natur am Jahrhundertende. Alfred Dove, Publizist und später Professor der Geschichte, erkannte schon 1871 die kulturelle Stimmungslage als Nährboden für die Darwinismusrezeption. Die selbstgestellte Frage „Was macht Darwin populär?" beantwortetet er zum einen mit dem „Ärgernis", das die neue Lehre verursacht habe; „ihre Popularität ist in erster Linie Popularität des Pikanten und deshalb in hohem Maße Modesache". Damit meinte Dove die mögliche Abstammung des Menschen vom Affen. Zum anderen, und das war für ihn entscheidend, entsprach Darwins Lehre „einem vielseitig vorhandenen Bedürfnisse, wir waren, wenn der Ausdruck erlaubt ist, längst Darwinisten auf so manchem anderen Gebiete, es war eine notwendige Ergänzung unserer Weltanschauung [...] die Darwinsche Hypothese, die wir als wissenschaftlich begründet zur
8
Jaeger: Die Darwinsche Theorie (1869), S. 3.
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Zeit nicht ansehen können, gewährt unleugbar unserem modernen Glauben, der freilich nicht der kirchliche mehr ist, eine tiefe Befriedigung." 9 Ernst Haeckel Der darwinistische Erklärungsansatz hielt mit dem Jenaer Zoologen Ernst Haeckel endgültig Einzug in die naturkundliche Diskussion. Mit ihm ging die Phase der Kosmos-Literatur und der älteren Entwicklungsgeschichte in die neuere Entwicklungsgeschichte über, um in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte, Haeckels erstem großen Publikumsbuch von 1868, ihren spektakulären und lange nachwirkenden Ausdruck zu finden. Im Sommer 1860 hatte Ernst Haeckel Darwins On the Origin of Speeles in der Übersetzung von Heinrich G. Bronn kennengelernt. Zu dieser Zeit war er mit meereszoologischen Forschungen beschäftigt und noch nicht habilitiert. Spontan bekannte sich Haeckel zu dem neuen Werk, das ihm die Entstehung der Arten und die Verwandtschaft der organischen Formen erklärte. 10 Trotz mancher Einwände, z.B. gegenüber Darwins Zurückhaltung hinsichtlich der Urzeugungsthese, gab sich Haeckel bereits 1862 in seiner wissenschaftlichen Monographie Die Radiolarien als Anhänger Darwins zu erkennen. Im Winter 1862/63, inzwischen zum außerordentlichen Professor ernannt, las er in Jena das erste spezielle Darwin-Kolleg. Das eigentliche Debüt des Darwinismus in der deutschen Öffentlichkeit erfolgte im September 1863 mit Haeckels Rede „Ueber die Entwickelungstheorie Darwin's" in der ersten Allgemeinen Sitzung der 38. VDNA in Stettin. Die Rede stellte nicht nur Darwins Lehre ausführlich vor, sondern enthielt bereits wichtige Modifizierungen Haeckels. Dazu gehörten die Idee des genealogischen Stammbaums, die Vorstellung, daß embryologische und Stammesentwicklung analog verlaufen, sowie die Interpretation von Lamarck, St. Hilaire, Oken und Goethe als Vorläufer des Darwinismus. Schon in Stettin wurde deutlich, daß Haeckel beabsichtigte, den Darwinismus als eine „die ganze Weltanschauung modificirende Erkenntniß" offensiv in die Öffentlichkeit zu tragen. Die „populäre Behandlung" des Themas setzte Haeckel dem „esoterische[n] Priester-Bewußtsein" 11 derjenigen Naturforscher entgegen, welche die Auseinandersetzung mit dem Darwinismus lieber als bloßes Spezialproblem in der Abgeschiedenheit wissenschaftlicher Fachpublizistik behandeln wollten. Der aufklärerische 9
Dove: Was macht Darwin populär? (1871/1981), S. 447,449,452. Vgl. Moritz Wagner: Neue Beiträge zu den Streitfragen des Darwinismus, in: Das Ausland 44 (1871), S. 289f. 10 Krauße: Ernst Haeckel (1984), S.44. Krauße bietet die bislang beste Biographie von Ernst Haeckel. Vgl. aus literaturhistorischer Sicht Gebhardt: Der Zusammenhang (1984), S. 299-329. 11 Haeckel: Ueber die Entwickelungs-Theorie (1863/1902), S. 3,5.
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Impetus verband sich mit einer auffallend dualistischen Wahrnehmung des öffentlichen Meinungsbildungsprozesses. Bevor dieser wirklich einsetzte, war für Haeckel schon eindeutig, daß „zwei schroff gegenüberstehende Parteien" in eine Kampfsituation geraten waren: ,,[A]uf der Fahne der progressiven Darwinisten stehen die Worte: ,Entwickelung und Fortschritt!' Aus dem Lager der conservativen Gegner Darwin's tönt der Ruf: ,Schöpfung und Species!' Täglich wächst die Kluft, die beide Parteien trennt, täglich werden neue Waffen für und wider von allen Seiten herbeigeschleppt; täglich werden weitere Kreise von der gewaltigen Bewegung ergriffen; auch Fernstehende werden in ihren Strudel hineingezogen".12 Für den Jenaer Zoologen konnte es nur ein Für und Wider, ein Entweder-Oder geben. Diese Haltung projizierte er von sich aus mindestens in gleichem Maße auf die öffentliche Debatte, wie das Publikum mit polaren Reaktionen auf seine Werke reagierte. Haeckel wurde zum Manichäer der Popularisierung, der den Darwinismus als Kampffeld sah, auf dem Lichtreich und Finsternis miteinander rangen. Haeckels dogmatische Schärfe wurde durch die Verbitterung über den Tod seiner Ehefrau noch verstärkt; sie starb überraschend im Februar 1864 während Haeckels intensiver Beschäftigung mit Darwins Werk.13 Im Wintersemester 1865/66 erregte Haeckel mit seiner Darwin-Vorlesung in Jena großes Aufsehen und zog zahlreiche Zuhörer an.14 In der zweibändigen Generellen Morphologie faßte der Zoologe 1866 seine Interpretation des Darwinismus als Grundlage einer Reform der biologischen Wissenschaften und der systematischen Ordnung der organischen Welt zusammen. Haeckel stellte seine Theorie des Monismus als Einheit von organischer und anorganischer Natur vor und arbeitete genealogische Stammbäume aus. Er griff in die Diskussion um die Generatio spontanea mit der These von der Autogenie (Selbstzeugung) ein und skizzierte über Darwin ausgreifend den Menschen als Produkt tierischer Ahnen. Dabei betonte er den „Causalnexus"15 zwischen Individual- und Stammesentwicklung, seit 12 13
14 15
Ebenda, S.4f. Wenn der persönliche Schicksalsschlag, der Haeckel bis zur Todessehnsucht trieb, mit der intensiven Rezeption des Darwinschen Werks und der zweifellos schon vorhandenen Neigung zur polemischen Polarisierung zusammenfiel und von einer noch radikaleren Abwendung vom Christentum gefolgt wurde, so liegt die Deutung nahe, daß die Auseinandersetzung um den Darwinismus für Haeckel eine Projektionsfläche für Affekte von Trauer und Aggression boten. Daß Haeckel seine Energien nach dem Tod Anna Sethes bewußt wieder ganz auf die Wissenschaft konzentrierte, ist offensichtlich, so in seinen eigenen Worten in: Ernst Haeckel (1984), S.85. Vgl. Schmidt (Hg.): Ernst Haeckel (1924), S. XXXIIIf.; ähnlich Weindling: Ernst Haeckel (1989), S. 318. Ernst Haeckel (1984), S. 86-88. Haeckel: Generelle Morphologie, II (1866), S.300. Vgl. ebenda Tafel I-VIII mit Entwürfen der Stammbäume und S. 427^131 zur entwicklungsgeschichtlichen Stellung des Menschen.
5. Verweltanschaulichung der naturkundlichen Literatur
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1872 von ihm als Biogenetisches Grundgesetz bezeichnet. Die Generelle Morphologie bildete mit einer Reihe späterer biologischer Abhandlungen, darunter der Systematischen Phylogenie (1894-98), das fachwissenschaftliche Rückgrat für Haeckels populäre Arbeiten. Als Haeckels „Erstlingsarbeit im Popularisieren" 16 erschien 1868 die Natürliche Schöpfungsgeschichte. Sie sollte die Ergebnisse der schwer zu lesenden Generellen Morphologie für ein breiteres Publikum aufbereiten. Das neue „Evangelium der Descendenztheorie in Deutschland", so Eduard von Hartmann, 17 erreichte bis 1909 elf Auflagen und 25 Übersetzungen. Haeckel komponierte die Natürliche Schöpfungsgeschichte nach dem Vorbild des englischen Biologen Thomas Huxley aus zwanzig Vorträgen, die auf studentischen Mitschriften seiner Jenaer Darwin-Vorlesungen beruhten. 18 Die freie Vortragsform sollte dem programmatischen Bekenntnis zur „Pflicht der Naturforscher" entsprechen, „daß sie auch die wichtigen, allgemeinen Resultate ihrer besonderen Studien für das Ganze nutzbar machen, und daß sie naturwissenschaftliche Bildung im ganzen Volke verbreiten helfen." 19 Mit seinem Popularisierungsanliegen fand Haeckel bei manchen Fachkollegen ausdrücklich Zustimmung. 20 Als Ergänzung zur Natürlichen Schöpfungsgeschichte, und wie diese aus Vorlesungsmitschriften zusammengestellt, veröffentlichte er 1874 die Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen, die bis 1910 sechs Auflagen erlebte. Ihr diente das Biogenetische Grundgesetz als roter Faden.21 Durch die Auseinandersetzung mit Virchow um den Einzug des Darwinismus in die Schulen und die sie begleitende Personalisierung der naturwissenschaftlichen Diskussion wurde Haeckel nach 1877 endgültig zum Protagonisten des Darwinismus in Deutschland. Sein Name diente als Chiffre darwinistischen Erklärungs- und Weltdeutungsanspruchs. Zwei Vortragsreisen 1876 und 1878, die Veröffentlichung von Gesammelten populären Vorträgen 1878/79 und publizistische Aktivitäten, z.B. für die Deutsche Rundschau, förderten die Prominenz des Zoologieprofessors. Aller16 17 18 19 20 21
Bölsche: Ernst Haeckel (1909), S. 198. Deutsche Rundschau 4 (1875), S. 17, Hartmann kritisierte das Werk allerdings als oberflächlich. Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868), S. III; Uschmann: Geschichte (1959), S. 45. Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868), S. 3. So bei Karl Moebius an Ernst Haeckel 30.10.1868 (EHH) und Ludwig Büchner an Haeckel 10.10.1868 (EHH). Haeckel: Anthropogenie (1874), S. 9, vgl. S.291. Haeckel akzentuierte dabei die sog. Gasträa-Theorie, d.h. die Homologie der beiden primären Keimblätter im Emryonalstadium bei allen vielzelligen Organismen; das war ein Hauptargument für die Existenz einer gemeinsamen Stammform (Gastrula), siehe ebenda S. 53f., 156ff„ 171ff„ 259,653ff. und Querner: Ernst Haeckel (1981), S. 185; Jahn/Löther/ Senglaub (Hg.): Geschichte (1982), S.405. Zum Biogenetischen Grundgesetz schon Kapitel II.3.a).
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dings strebte er nie die publizistische Umtriebigkeit an, die viele Vermittlerpersonen außerhalb der Universitäten an den Tag legten. Eine freie literarische Form blieb nur den Reisebeobachtungen vorbehalten, die Haeckel als Indische Reisebriefe (1883,51909) und Malayische Reisebriefe (1901,21909) veröffentlichte. Das bekannteste populärwissenschaftliche Werk Haeckels, Die Welträthsel, erschien 1899 und wurde 1909 schon in einer 10. Auflage gedruckt. Es stand ganz in der Tradition der weitläufigen, systematisch geordneten Entwicklungsgeschichten seit 1868. Trotz des riesigen Publikumserfolgs - unter anderem als erster Band der Volksausgaben des Kröner-Verlages und schließlich mit einer Auflage von über 400000 Exemplaren - zählte Haeckel das umfangreiche Buch „nicht zur leichten Unterhaltungslektüre" 22 . Es habe sich nicht einmal durch besondere Vorzüge der Darstellung ausgezeichnet. Die Welträthsel faßten die biologischen Erkenntnisse Haeckels zusammen und sublimierten sie auf der Ebene monistischer Philosophie. In vier Abschnitten zu Anthropologie, Seelenlehre, Kosmologie und Theologie verdichtete Haeckel seine Kritik des Christentums und des Offenbarungsglaubens, um dem die „monistische Religion" 23 entgegenzusetzen. Das Buch bot einen umfassenden weltanschaulichen Deutungsentwurf. Die Versöhnung von Naturwissenschaft und Philosophie wurde zum obersten Anliegen. Der Begriff der Naturphilosophie erfuhr eine Aufwertung, vom philosophischen und biologischen Materialismus distanzierte sich Haeckel wie schon in den vorangegangenen Werken. Stattdessen rückte ein monistischer Begriff von universaler Substanz, in der jeder Dualismus von Materie und Energie, Organischem und Anorganischem aufgehoben war und alle Materie beseelt erschien, in den Mittelpunkt. Die Welträthsel transzendierten den mechanistisch-darwinistischen Populärmaterialismus der Reichsgründungszeit in eine philosophisch durchdrungene, kaum mehr materialistisch oder auch nur konsequent anti-idealistisch zu nennende Weltanschauung. Das Werk bezeugte die Rezeption pantheistisch-hylozoistischer Gedanken und wertete den Monismus als Verknüpfung von Wissenschaft und Naturreligion auf. In den folgenden Jahren nahm Haeckels Monismus noch stärker vitalistische und idealistische Elemente auf und wandelte sich zu einem Allgott-Konzept, das an vormärzliche Naturphilosophie anknüpfte. 24 Die Lebenswunder von 1904 waren in diesem Sinne als gemeinverständliche Ergänzung der Welträthsel konzipiert. Haeckels ästhetische und philosophisch-religiöse Interessen 22 23 24
Haeckel: Die Lebenswunder (1906), Vorwort zur ersten Auflage von 1904, S. III. Haeckel: Die Welträthsel (1899), S. 381. Zu den Wandlungen des Haeckelschen Monismus vorzüglich Holt: Ernst Haeckel's Monistic Religion (1971). Ähnlich sieht Weindling: Ernst Haeckel (1989), S. 312f. eine Wandlung vom antiklerikalen Mechanisten zum Pantheisten der Jahrhundertwende.
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wurden in Kunstformen der Natur 1899-1904, Die Natur als Künstlerin 1913, Gott-Natur 1914 und Kristallseelen 1917 weiter ausformuliert. Haeckels Hauptwerke, die man als populärwissenschaftlich zu bezeichnen gewohnt ist, entsprachen kaum dem Ideal populärer Sprache. Umgangssprachliche Wendungen, rhetorische Mittel und literarische Textformen nutzte der Jenaer Ordinarius nicht. Die Verwendung literarischer Mottos und der polemische Grundtenor konnten darüber nicht hinwegtäuschen. Haeckel systematisierte und hierarchisierte seine Themen in hohem Maße, bildete eine differenzierte Nominalsprache aus und durchsetzte die Texte auf zwanghaft anmutende Weise mit fremdsprachigen Neologismen.25 Entsprechend widersprüchlich wurden die literarischen Produkte wahrgenommen. Der Zoologe Karl Möbius versicherte z.B. seinem Jenaer Kollegen mehrmals, er bewundere dessen „so klaren lesbaren Stile" und verehre ihn als „Meister verständlicher Darstellung" 26 . Umgekehrt mahnte Haeckels journalistischer Übersetzer, Ernst Krause, vertraulich dazu, die Natürliche Schöpfungsgeschichte von der ganzen Nomenklatur und den Fachausdrücken zu entschlacken. Er habe wiederholt Klagen über den gelehrten Apparat, der die Lektüre sehr erschwere, vernommen. Ähnlich äußerten sich andere Leser und die Presse.27 Haeckels Popularität lag weniger in der sprachlichen Form, als im weltanschaulichen Gehalt seiner Schriften begründet. Auch der seit der Natürlichen Schöpfungsgeschichte andauernde Streit um die Embryonenabbildungen 28 und die fachwissenschaftlichen Kontroversen, die Haeckel in Konfrontation mit vielen seiner Kollegen brachte, wurden in der außerakademischen Öffentlichkeit primär als Vorwand zur ideologischen Auseinandersetzung genutzt. Haeckel verkörperte den schließlich mit ersatzreligiösem Pathos vorgetragenen naturwissenschaftlichen Anspruch auf totale Welterklärung, die jeden anderen Sinnentwurf verwarf. Daraus erwuchs die enorme Resonanz. Haeckel selbst führte ein bürgerliches Ordinarienleben in Jena und war im Vergleich mit den Berliner Großprofessoren im nationalen Wissenschaftsbetrieb wenig präsent. Sein literarisches Auftreten als messianischer Hohepriester des Darwinismus 29 verschaffte ihm aber eine einzigartige Wirkung, um so mehr, je dogmatischer er wurde.
25 26 27 28 29
Vgl. Potonie: Plauderei (1913), S. 40 und Dethlefs: Textverfahren (1994), S. 63-87. Karl Möbius an Ernst Haeckel 9.9.1896 und 18.2.1895 (EHH Jena). Ernst Krause an Ernst Haeckel 13.6.1889 (EHH Jena). Vgl. Haeckel: Die Lebenswunder (1906), Vorwort zur Volksausgabe, S. VI. Hierzu schon Kapitel IV.3.b), vgl. auch Krauße: Ernst Haeckel (1984), S. 79-81 und Gursch: Die Illustrationen (1981). Mann: Ernst Haeckel (1980), S. 278, der von Haeckel auch als „omnipotentefm] Präzeptor" spricht, „der sich im Recht dessen fühlte, der über unumstößliche, allumfassende, allgemeingültige Wahrheiten verfügt".
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V. Der literarische Markt
Abbildung 12: Ernst Haeckels Natürliche Schöpfungsgeschichte von 1868 wurde zum Hauptwerk der populären Darwinismusinterpretation in Deutschland, hier das Titelbild.
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b) Einheit - Fortschritt - Harmonie: Die kosmische Entwicklungsgeschichte „Sehen Sie, Herr Professor [gemeint ist Ernst Haeckel A.D.], ich meine, auch die Trennung zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Weltanschauung ist solch ein naturwidriges Auseinanderreißen. Ich bin auch in dieser Hinsicht Harmoniker. Wenn Sie sagen: Natur-Wissenschaft gleich Naturphilosophie, - so erstrebe ich auch noch die Gleichung: Natur-Philosophie gleich Poesie-Philosophie - oder auch gleich All-Poesie!" Bruno Wille: Offenbarungen des Wacholderbaums. [...] Leipzig 1901, Band I, S. 155. Die populären Werke Haeckels provozierten zahlreiche Anhänger- und Antischriften. D e n H ö h e p u n k t der öffentlichen Diskussion markierten das Erscheinen der Welträthsel 1899 und die Auseinandersetzungen zwischen Haeckel und Reinke bzw. Wasmann, denen Monistenbund und Keplerbund zusätzliche Resonanz verschafften. 3 0 Aus Begeisterung für die Generelle Morphologie schrieb Friedrich Ratzel kurz nach seinem Doktorexamen 1869 in nur wenigen M o n a t e n das umfangreiche Sein und Werden der organischen Welt. Eine populäre Schöpfungsgeschichte31 D e r Schweizer Botaniker Arnold Dodel stellte 1875 aus seinen öffentlichen Vorlesungen über die Entwicklungslehre die Neuere Schöpfungsgeschichte zusammen, und der freidenkerische R e d a k t e u r August Specht legte 1876 die Populäre Entwickelungsgeschichte der Welt ( 3 1889) vor. Aufgefordert vom Verein f ü r deutsche Litteratur, eine noch volkstümlichere und weniger rigorose Fassung von Haeckels Natürlicher Schöpfungsgeschichte zu erstellen, konzipierte der Wissenschaftsjournalist Ernst Krause alias Carus Sterne 1876 Werden und Vergehen. Eine Entwicklungsgeschichte des Naturganzen in gemeinverständlicher Fassung, die 1905 bereits in der sechsten Auflage erschien. 32 Rudolf Bommeli, ebenfalls Botaniker, ergänzte 1890 die Geschichte der Erde, Wilhelm Bölsche trat wenig später mit einer zweibändigen, sachlich-zurückhaltend geschriebenen Entwicklungsgeschichte der Natur hervor. 3 3 Alle Werke orientierten sich an Haeckel, und alle fühlten sich der gemeinverständlichen Darstellungsweise verpflichtet. Die Werke der neueren Entwicklungsgeschichte ließen jedoch zwei unterschiedliche Zielrich30 31
32 33
Hierzu Kapitel IV.2-3. Ratzel: Sein und Werden (1877). Vgl. ders.: Kleine Schriften, I (1906), S.XXIV. Später distanzierte sich Ratzel von dem Frühwerk im Zuge seiner Abwendung von Haeckel und dem Materialismus; siehe Buttmann: Friedrich Ratzel (1977), S. 100-109. Daum: Naturwissenschaftlicher Journalismus (1995), S. 229-231. Für den Rezensenten der NwW 11 (1896), S.218f. war Bölsches Entwicklungsgeschichte eine Art „populärer Kosmos".
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V. Der literarische Markt
tungen erkennen. Dodel und Specht nahmen ähnlich wie Haeckel eine aggressive, kirchen- und religionsfeindliche Haltung ein. Breiten Raum erhielt bei ihnen die derbe Polemik gegen die „orthodoxen Dunkelmänner", jede „theologische Zwangsjacke" und die „krankhaft frömmelnden Kapuzinaden der Partisane des Mittelalters" 34 . Beide Autoren fanden mit dem Pioniermaterialisten Büchner im Deutschen Freidenkerbund ihre geistige Heimat. 35 Demgegenüber zeichnete sich bei anderen Autoren eine alternative Konzeption ab, je weiter der Darwinsche Ausgangspunkt zurücklag. Das traf auf Ratzel, der sich nach seiner anfänglichen Schwärmerei für Haeckel von dem Jenaer Propheten löste, sogar auf den Haeckelfreund Ernst Krause und mit Abstrichen auf Büchner, vor allem am Jahrhundertende auf Bölsche und Raoul Francé zu. Diese Autoren repräsentieren eine Variante evolutionistisch-ideologischer Naturvorstellung, die vordarwinistische und antimaterialistische Elemente aufnahm und als harmonische oder kosmische Entwicklungslehre bezeichnet werden kann. Darin trafen sie sich mit Literaten wie Bruno Wille und religiös motivierten Naturforschern wie dem Schweizer Protestanten August Nathaniel Böhner, der sich zu einem christlichen „Monismus" bekannte. 36 Diese zweite Strömung soll im folgenden bevorzugt behandelt werden. Sie hat in ihrer Ausformung als pantheistisch-panpsychischer Monismus des Fin de Siècle bislang in der Literaturgeschichte Beachtung gefunden, wird aber noch immer in ihrer Bedeutung für die Geschichte der Popularisierung in Deutschland unterschätzt - vor allem hinsichtlich ihrer Haltung gegenüber dem aggressiven Atheismus und der klassischen darwinistischen Lehre, die es so pur kaum gab.37 Die kosmische Entwicklungslehre überlagerte das Kampf- und Konkurrenzprinzip in der Natur, das die Darwinsche Lehre zunächst so betonte, durch ein finalisiertes Harmonie- und Versöhnungsverständnis. Sie betonte die Humboldtsche Kosmosidee und entfaltete deren ganzheitlich-ästhetische Züge zu ausgeprägt panoramischen Darstellungen. Das bedeutete auch, daß diese zweite Richtung postdarwinistischer entwicklungsgeschichtlicher Darstellung ihr Selbstverständnis weg von einer kausalanalytischen Naturwissenschaft hin zu einer 34 35
36 37
Specht: Populäre Entwickelungsgeschichte ( 3 1889), Vorwort zur zweiten Auflage (1879), S. IXf. Vgl. Kapitel IV.2.a) und V.4.c). Die August-Specht-Stiftung in Gotha prämierte später jährlich freigeistige Werke und unterstützte freidenkerische Schriftsteller und die Verbreitung ihrer Werke, so Henning (Hg.): Handbuch (1914), S. 145. Böhner: Monismus (1889). Vgl. Bohnen/Hansen/Schmöe (Hg.): Fin des Siècle (1984) und Schmidt: Literarische Rezeption (1974). Hamann/Hermand: Impressionismus (1972), S.70ff., 98ff., 272; dies.: Stilkunst (1973), S. 123f.; Just: Von der Gründerzeit (1973), S. 64-67; Realismus und Gründerzeit, I (1981), S. 130-135; Gebhard: Der Zusammenhang (1984), Bayertz: Die Deszendenz (1984), Daum: Das versöhnende Element (1996).
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ästhetisierenden Naturanschauung verlagerte. Allerdings geriet sie gerade damit - von ihr selbst weitgehend unbemerkt - in einen gewissen Widerspruch zum Entwicklungsgedanken. Die kosmische Entwicklungslehre war ebenso stark in der Ganzheitsvorstellung Humboldts und im Monismus Haeckels verankert wie in der Rezeption der naturwissenschaftlichen Arbeiten Goethes. 38 Gegen manchen Widerstand in der akademischen Wissenschaft des Kaiserreichs, vor allem bei Helmholtz und Du Bois-Reymond, setzte sich in der popularisierenden Literatur die Deutung Goethes als Antipode zur mechanistischen Naturwissenschaft durch: Goethe als selbständiger Begründer des Entwicklungsgedankens in Deutschland, wie Haeckel ihn sah, und als Garant der Einheit von Naturerfahrung, Sinnlichkeit und Kunstschaffen, die einen universellen, im Pantheismus mündenden Naturentwurf bot. Über die Arbeiten Rudolf Steiners und die Weltanschauungsvereine der Jahrhundertwende wurde diese Sicht zum Religionsersatz gesteigert. Die späten Arbeiten Ratzels und die Werke von Bölsche und Wille schöpften zudem in hohem Maße aus der frühneuzeitlichen und der idealistischen Naturphilosophie. Literarische Werke im Umkreis der Romantik - Jean Paul, Novalis, Lenau und Stifter - und mystische Quellen erfuhren im Zuge einer auch die Naturkunde erfassenden neoromantischen Wendung eine neue Wertschätzung. Die deutsche Mystik, vorrangig Jakob Böhme und Angelus Silesius, wurde als philosophische Naturreligion reinterpretiert. Bölsche gab etwa 1905 Des Angelus Silesius Cherubinischer Wandersmann mit einer Einleitung „Über den Wert der Mystik für unsere Zeit" im Diederichs-Verlag neu heraus.39 Mehrere Passagen seines Liebesleben in der Natur wurden durch Zitate von Angelus Silesius eingeleitet. Als intellektuelle Verbindung zwischen diesen heterogenen antipositivistischen Traditionen und der physikalisch-naturwissenschaftlichen Argumentation fungierte neben Goethe das Werk eines akademischen Außenseiters, die literarisch-naturwissenschaftliche Hinterlassenschaft Gustav Theodor Fechners.40 Fechner hatte im Vormärz Medizin studiert, sich aber 38
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Mandelkow: Goethe, I (1980), S. 174-200. In meiner Arbeit wird die Rezeption Goethes im Hintergrund bleiben, da sie in der Forschung bereits viel Beachtung gefunden hat. Bölsche (Hg.): Des Angelus Silesius Cherubinischer Wandersmann (1905); vgl. Hübinger: Der Verlag (1996). In den letzten Jahren ist eine erstaunliche Renaissance Fechners in der Historiographie zu verzeichnen, vgl. Gebhard: Der Zusammenhang (1984), S. 164-221; Berthold Oelze: Gustav Theodor Fechner. Seele und Beseelung. Münster, New York 1989; Fick: Sinnenwelt (1993), 37^48; Waldrich: Grenzgänger (1993), S. 12-37; Lenning: Von der Metaphysik (1994) und Heidelberger: Die innere Seite (1993). Heidelberger interpretiert Fechners Philosophie im Kern als nichtreduktiven Materialismus, siehe ebenda S. 99. In der populärwissenschaftlichen Literatur der Jahrhundertwende wurde Fechner vor allem als Antimaterialist gedeutet.
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bald den Schriften von Oken und Schelling zugewandt. 1823 legte er eine philosophische Habilitationsschrift vor und verfaßte im folgenden kleinere literarische Arbeiten, bis er 1834 zum ordentlichen Professor für Physik in Leipzig berufen wurde. Die extreme Arbeitsbelastung, der er sich aussetzte, führte Ende der 1830er Jahre zum physischen Zusammenbruch. Fechner lebte bis 1843 völlig zurückgezogen, halbblind und an der Grenze des Verhungerns. Im Herbst 1843 trat begleitet von einem mystischen Erlebnis eine plötzliche Besserung ein. Den Eindruck der Blumen in seinem Garten deutete Fechner als ,Seelenleuchten'. Der Gelehrte kehrte nicht mehr auf seine Professur zurück, widmete sich aber bis zum Tod 1887 intensiv dem Leib-Seele-Problem und dem Versuch, christlichen Glauben und Naturwissenschaft zu versöhnen. 41 Von dem Botaniker Matthias Schleiden heftig kritisiert, begründete Fechner 1848 im Anschluß an seine Lebenskrise in dem Buch Nanna 1848 seine Auffassung von der Beseelung der Pflanzen. In den folgenden Jahren weitete er sie dahingehend aus, daß jeder Körper Träger seelischer Prozesse, ja die gesamte Natur von Gott beseelt sei, so 1851 in Zend-Avesta. Fechner versuchte, die gängige Trennung von Organischem und Anorganischem zu überwinden und nahm das Weiterleben nach dem Tod auf höherer Bewußtseinsstufe an. Das Bekenntnis zur darwinistischen Entwicklungslehre verband er mit der Hoffnung, daß die „Tagesansicht" des spirituellen Einklangs von Mensch, Natur und Gott hinter der bloß äußeren, materialen „Nachtansicht" hervortreten werde. 42 Fechners Vorstellung von der Einheit der Natur beeinflußte seit den 1880er Jahren die kulturwissenschaftlichen Überlegungen des sogenannten Leipziger Kreises um Wilhelm Wundt, Karl Lamprecht, Karl Bücher und Friedrich Ratzel. 43 Für die Öffentlichkeit blieb sein Werk ähnlich wie die wissenschaftlichen Arbeiten Ernst Haeckels schwer verständlich. Das wachsende außeruniversitäre Rezeptionsbedürfnis führte daher am Ende des Jahrhunderts zu einer Reihe von teilweise gekürzten Neuausgaben sowie biographischen und werkgeschichtlichen Einführungen. Darum bemühte sich neben Bölsche, Wille, Ratzel und dem Psychologen Wundt an
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Vgl. Fechner: Zend-Avesta, I (31906), S. X. Ausgeführt in Fechner: Die Tagesansicht (21904). Fechners analogisches Verfahren führte ihn zur Lehre vom Parallelismus von psychischen und physischen Vorgängen und zur experimentellen Psychologie, die er auf den ästhetischen Bereich ausdehnte. Ästhetisches Gefallen deutete Fechner als Folge psychisch-neurologischer und z.T. physiologischer Vorgänge. Siehe Hermann Drüe: Die psychologische Ästhetik im Deutschen Kaiserreich, in: Ideengeschichte (1983), S. 71-98; Katherine Everett Gilbert/Helmut Kuhn: A History of Esthetics. London 1956, S. 524-549. Smith: Politics (1991), S.207f.; Chickering: Karl Lamprecht (1993), S. 295-297, 374.
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erster Stelle der Science-fiction-Autor Kurd Laßwitz.44 Fechners Aktualität, so formulierte eine Sammlung ausgewählter Texte, lag darin, daß ihm „bei aller zergliedernden Verstandesschärfe [...] ein weiches Naturgefühl eigen [ist], eine äußerst lebendige Einbildungskraft, eine Kraft der Intuition, des gefühlsmäßigen Schauens"45. Fechners Wertschätzung in der populärwissenschaftlichen Literatur bündelte die Erwartungen an eine Präsentation von Naturerkenntnis, die den „Zusammenhang der Dinge"46 in der Anschauung lebendig werden ließ. Das Bewußtsein von Totalität, die man ersehnte, konnte von der analytischen Forschung nicht mehr genährt werden. Fechners Überlegungen zur Allbeseelung gingen über Haeckels Annahme der Zellbeseelung und Atomseelen hinaus.47 Beide ließen sich aber dahingehend interpretieren, die Seelen- und Bewußtseinswelt in ein monistisches Naturverständnis einzubinden und als Teil organischer Entwicklung zu begreifen, wie es der Jenaer Physiologe Wilhelm Preyer mit seiner „Psychogenesis" forderte.48 Als Einheit wurde die Natur von der kosmischen Entwicklungslehre auch im diachronen Sinne verstanden. Das Individuum rekapitulierte nach Haeckel die Stammesentwicklung, rudimentäre Organe verwiesen auf frühere Entwicklungsstadien, Kontinuitäten im Vererbungsprozeß wurden betont, so umstritten die Vererbungsmechanismen im einzelnen zwischen Darwinisten, Neo-Lamarckisten und anderen waren. Neu war, daß die kosmische Entwicklungslehre mit den antimetaphysischen Entwürfen weitgehend darin übereinstimmte, dem Entwicklungsprozeß eine Teleologie zu unterlegen, der Darwin mit dem Prinzip der zufälligen Variation gerade entgegenzuwirken versucht hatte. Die Gleichsetzung von Antiteleologen und Antimetaphysikern verlor ihre Gültigkeit. Nachdem Haeckel bereits 1863 in Stettin vom Gesetz des Fortschritts, das in allen Lebensbereichen gelte, gesprochen hatte,49 verselbständigte sich der undarwinistische Fortschrittsgedanke in der populärwissenschaftlichen Literatur. Nach Krause war der Mensch angetrieben, dem „allgemeinsten Gesetze der lebenden Welt, dem Fortschritte"50, zu huldigen. Angesichts 44
Laßwitz: Gustav Theodor Fechner (1896). Laßwitz besorgte überdies die 2. bis 4. Neuausgabe von Fechners Nanna 1899 bis 1909 sowie die 2. und 3. Auflage von Zend-Avesta 1901 und 1906. Vgl. Gustav Theodor Fechner (1907); Wille: Das lebendige All (1905), S. 21ff.; Ratzel: Glücksinseln (1905), S. 497-509; Bölsche: Aus der Schneegrube (1909), S. 217-230. 45 Gustav Theodor Fechner (1907), S. 1. 46 So das Leitmotiv von Gebhard: Der Zusammenhang (1984). 4 7 Vgl. das fiktive Gespräch zwischen dem Ich-Autor und Ernst Haeckel in Wille: Offenbarungen, I (1901), S. 149-155. 48 Preyer: Die Seele (1882), Zitat S.IX. Vgl. ders.: Naturwissenschaftliche Thatsachen (1880), S. 199-237. 49 Haeckel: Ueber die Entwickelungslehre (1863/1902), S. 29. 50 Sterne: Werden (1876), S. 461,451.
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der „Verschmelzung von Fortschritt mit der Evolution" 51 stand die Höherentwicklung von Mensch und Natur außer Frage. Wie immer man die Artvariation und den genetischen Ursprung der Organismen beurteilte: Über das „der Natur innewohnende Gesetz eines nothwendigen Fortschritts, einer unläugbaren Vervollkommnung in der organischen Bildung ihrer Geschöpfe" 52 war man sich einig. Rudolf Bommeli erkannte 1894 in der Pflanzenwelt „die Verherrlichung des Sieges, den das Bessere über das Schlechtere, das Höhere und Edlere über das Niedrige und Gemeine errungen hat, die Verherrlichung des Fortschritts."53 Bommeli interpretierte wie sein Lehrer Dodel und der Freidenker August Specht Fortschritt auf der Basis von Konkurrenz, Über- und Unterordnung. Der Kampf um das Dasein, die mißverständliche deutsche Übersetzung für Darwins ,struggle for existence',54 bewirkte demnach die evolutionäre Vorwärtsbewegung; daß in der Natur Frieden herrsche, erschien nur als poetische Redensart. 55 Die kosmische Entwicklungslehre und mit ihr der Großteil der populärwissenschaftlichen Literatur um 1900 federte dagegen den Kampf ums Dasein weich ab. Der von Darwin entworfene Konkurrenzmodus der Entwicklung trat immer mehr in den Hintergrund zugunsten ihrer versöhnlichen Zielsetzung. Als Fluchtpunkt erschien die Vision einer umfassenden Harmonie der Naturwelt. Humboldts Vorstellung vom Kosmos als geordnetem, schmuckvollen Ganzen materialisierte sich als Telos der Weltentwicklung. In Anlehnung an Fechner wurde die Harmonietendenz des Naturgeschehens zum Naturgesetz erklärt. Bölsche hat dies in in Hunderten von Wendungen paraphrasiert und zum „Zwange der Weltlogik, der das Harmonische über das Disharmonische rein mechanisch triumphieren läßt" 56 , stilisiert. Diese Harmonie umfaßte alle Lebewesen untereinander und auch das gleichermaßen beseelte Unorganische. Die Aussicht auf das „goldne Zeitalter" 57 war eröffnet. Fechner hatte noch, ähnlich wie der Naturphilosoph Gotthilf Heinrich Schubert, die christliche Paradiesvorstel51
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Joachim Ritter: Fortschritt, in: ders. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2, Darmstadt 1972, Sp. 1032-1059, hier Sp. 1053. Moritz Wagner: N e u e Beiträge zu den Streitfragen des Darwinismus, in: D a s Ausland 44 (1871), S. 913. Bommeli: D i e Pflanzenwelt (1894), S. 629f. Vgl. schon E. Krause: Charles Darwin (1885), S. 85. Specht: Theologie (1878), S. 133. Vgl. Preyer: D e r Kampf (1869), S. 5 - 7 und ders.: Naturwissenschaftliche Thatsachen (1880), S. 68£ Bölsche: Aus der Schneegrube (1909), S. 52. Vgl. die Einleitung zu Bölsche (Hg.): D e s Angelus Silesius Cherubinischer Wandersmann (1905); ders.: D a s Liebesleben, 11.2 (1911), S. 719; Laßwitz: Gustav Theodor Fechner (1896), S. 180f.; France: D i e Harmonie (1926), S. 34,48,65; Bayertz: D i e Deszendenz (1984), S. 94-96. Sterne: Plaudereien (1886), S.270. Vgl. Büchner: D a s goldene Zeitalter (1891), z.B. S. 337; Büchner stützte sich in diesem Band in erheblichem Maße auf Aufsätze von Krause alias Sterne.
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lung von der Eintracht zwischen Mensch und Natur in den Anfängen der Welt aufrechterhalten. 58 Die Popularisierer projizierten um 1900 diese urzeitliche Harmonie in die Zukunft und ergänzten sie um die Gewißheit, daß aus dem Entwicklungsprozeß immer vollkommenere Wesen hervorgehen würden. 59 Materialisten, Religionskritiker und Kosmiker waren sich darin einig, daß der Urzustand des Menschen ein tierischer, ungeordneter gewesen sein mußte. David Friedrich Strauß und seine Anhänger hatten den alten Adam - so August Specht - ganz über Bord geworfen und durch einen affenähnlichen Stammvater ersetzt.60 Die kosmische Entwicklungslehre holte den Paradiesmenschen, will man Spechts Bild fortschreiben, wieder aus dem Weltmeer heraus, um eine neue Inthronisation, diesmal am Bug des Menschenschiffes, vorzunehmen. Der Zusammenhang der Dinge, das ritualisierte Werden und Vergehen, nicht die offene Entwicklung bildete die Leitmelodie der kosmischen Entwicklungsgeschichte. Allerdings beinhaltete sie damit einen latent antihistorischen Zug.61 Die ästhetische Kosmosvorstellung vereinnahmte nicht nur die separierten Bereiche von Organischem und Anorganischem, Mensch und Tier, Materie und Seele, sondern sie vereinheitlichte auch den Entwicklungsprozeß - was am Ende hervorkam, war am Anfang schon existent. In den Worten Bölsches: „Es treten uns zweckmäßige, harmonische, kosmische Dinge (Kosmos gleich Ordnung !) als Resultate von Entwickelungen konkret in der Welt entgegen. Davon gehen wir aus, - also von einem Schluß-Phänomen, das für uns aber zugleich eine Art Ur-Phänomen bildet." 62 Damit kehrte die kosmische Entwicklungsgeschichte zu einer Art Präformationsvorstellung zurück, die Darwin hinter sich zu lassen geglaubt hatte. Sie verdrängte Darwins Zufallsprinzip, was wiederum den klassischen antidarwinistischen Einwänden christlicher Naturforscher entsprach. Auf paradoxe Weise verlor die kosmische Entwicklungslehre durch die Dominanz der panoramischen Geschlossenheit an Raum- und Zeittiefe, eine Konsequenz, die auch in den gemalten Panoramabildern des 19. Jahrhunderts zu beobachten ist.63 Die harmonische Kosmologie schloß sich in einem evolutionären Kreis ein, ohne die innere Widersprüchlichkeit dieses Unterfangens zu realisieren. Ihre Vorstellung von Entwicklung blieb eine ahistorische, ihr Fortschritt wurde als unveränderliches Naturgesetz 58 59 60 61 62 63
Fechner: Zend-Avesta, I ( 3 1906), S. 11; Schubert: Ansichten (1840), S. 2f., 6. Sterne: Plaudereien (1886), S. 57. Vgl. Specht: Theologie (1878), S. 89; Sterne: Plaudereien (1886), S. 77. Darauf hat zuletzt Gebhard: Der Zusammenhang (1984), S. XIV hingewiesen. Bölsche: Aus der Schneegrube (1909), S. 84. Ulrich Giersch: Im fensterlosen Raum - das Medium als Weltbildapparat, in: Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts. Ausstellungskatalog, Frankfurt/M., Basel 1993, S. 94-104, hier S.97f.; Sternberger: Panorama (1974), S. 91.
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gesehen. Die Zukunft der Welt war nicht offen, sondern festgelegt - in der vollendeten Harmonie.
c) Versöhnung und Schönheit: Idealisierung und Poetisierung der Naturwissenschaft Die teleologische Harmoniewendung der Entwicklungslehre hatte weitreichende Konsequenzen. Sie förderte in der populärwissenschaftlichen Literatur, zumal wo diese den krassen Atheismus ablehnte, die Abschwächung des Konkurrenz- zugunsten des Versöhnungprinzips als evolutionärem Leitmotiv.64 An die Stelle des bellum omnium contra omnes konnte die Auffassung treten, daß nichts im Kosmos isoliert sei, alles dagegen der Gravitation von Zuneigung und Anziehung unterliege.65 Einzelne Autoren hoben die zwischengeschlechtliche Liebe als universale Antriebskraft der Evolution hervor. Darwin ließen sie damit weit hinter sich. Der hatte nur die Lehre von der natürlichen Selektion um die sogenannte geschlechtliche Zuchtwahl, die auf dem Werben der männlichen um die weiblichen Sexualpartner in der Natur basierte, erweitert. Noch während der Bismarckzeit leitete ausgerechnet der Materialist Büchner die anthropomorphisierende Harmoniedeutung der Natur im Zeichen der Liebe ein. Wenige Jahre nach Kraft und Stoff hatte Büchner noch in der Gartenlaube vom Schlachtfeld der Natur gesprochen, auf welchem stets das Eine das Andere morde oder zu unterdrücken strebe. 1879 veröffentlichte er ein Werk über Liebe und Liebesleben in der Thierwelt und betonte jetzt, vom Atom bis zum Menschen sei alle Natur von dem mächtigen Prinzip der Liebe und einem Streben nach „gegenseitiger Umarmung und Vereinigung"66 durchzogen. Wilhelm Bölsche nahm an der Jahrhundertwende das Motiv der Liebe auf und verlängerte es in die gesamte Entwicklungsgeschichte. Sein Liebesleben in der Natur, das zwischen 1898 und 1903 erstmals auf den literarischen Markt kam, bildete den Höhepunkt des erotischen Monismus67. Im romanhaften Zeitraffer durchmaß der Autor die Weltgeschichte, um allerorts deren erotischen Grundzug aufzuspüren - ob in der Verschmelzung zweier Urzellen, in der Liebe des Bazillus, im „erotischen Sturm" der Ichtyosaurier oder im „Liebesleben des Bandwurms"68. Als botanisches Gegenstück entwarf Raoul France 64 65 66 67 68
Daum: Das versöhnende Element (1996). Böhner: Monismus (1889), S. lOlff. L. Büchner: Das Schlachtfeld der Natur oder der Kampf um's Dasein, in: Die Gartenlaube 9 (1861), S. 93-95; ders.: Liebe (1885), S. 12. So die Formulierung Alfred Kellys, siehe Kelly: The Descent (1981), S. 36-48. Zum verlegerischen Kontext Hübinger: Der Verlag (1996), S. 33-35. Bölsche: Das Liebesleben, I (1909), S. 89,268.
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für die Kosmos-Gesellschaft das Liebesleben der Pflanzen; das Bändchen steigerte sich von 1909 bis 1926 auf nicht weniger als 31 Auflagen. Materialismus und Mechanismus, die alles der „Maschienentheorie" unterworfen hätten, machte Francé für die „Verhäßlichung des Lebens" verantwortlich. Die universale Sehnsucht nach Geistigkeit und gegenseitiger Hilfe habe aber eine neue frohe Botschaft hervortreten lassen. Das Pflanzenleben offenbare Intelligenz und gegenseitige Hilfe als Grundzug des Lebens und sei durch den Trieb zur „Vervollkommnung" geprägt.69 Auf naturwissenschaftlichen Gleisen Liebe und Erotik in das Zentrum der Naturbetrachtung zu schieben, blieb aber insgesamt die Ausnahme. Wichtiger wurde, die Entwicklungstheorie gegen eine doppelte Anfechtung als optimistische, versöhnliche Weltanschauung zu setzen: zum einen gegen die zeitgenössische Kulturkritik von Schopenhauer bis Eduard von Hartmann, zum anderen gegen die materialistische Religionskritik. In Anlehnung an Fechner akzeptierte die kosmische Entwicklungslehre das „Harmonie- und Erlösungsbedürfnis des Menschen"; die Frage der „Versöhnung von Optimismus und moderner Naturanschauung"70 erhielt höchste Priorität. Mit der Finalisierung der Natur auf die allseitige Harmonie hin ließ sich leicht die optimistische Tendenz71 der Entwicklungstheorie behaupten und jeder Pessimismus verwerfen. Schwieriger gestaltete sich das Verhältnis zum christlichen Schöpfungsglauben. Dem widersprachen Allbeseelung, Pantheismus und die natürliche Entstehung des Lebens aus einer spontanen Zeugung oder, wie Preyer meinte, aus der ihrerseits lebendigen feuerflüssigen Urmaterie heraus.72 In zweierlei Hinsicht zeichneten sich jedoch Annäherungen, zumindest Parallelen ab. Einerseits signalisierten die nichtmaterialistischen Popularisierer, selbst wenn sie sich als Schüler Haeckels verstanden, Verständnis für die christliche Naturvorstellung. Ausgerechnet in der darwinistischen Programmzeitschrift Kosmos erschien 1879 unter der Überschrift „Das versöhnende Element in der neuen Weltanschauung" ein „Wort zum Frieden" von Ernst Krause. Der Haeckelverehrer argumentierte, daß im Darwinismus selbst ein versöhnendes Element angelegt sei, „worauf sich alle Parteien die Hand reichen können." Der Gedanke einer mittelbaren Schöpfung würde keine religiösen Glaubensgrundsätze verletzen, die naturgeschichtlichen Lehrer hätten das religiöse Gefühl zu schonen, die Frage nach den letzten Ursachen könne ohnehin nur dem Gewissen des Einzelnen über69
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Francé: Das Liebesleben (1906/311926), S. 77,76. Im Vergleich mit dem .Liebesleben' Bölsches ist Francés Darstellung nicht nur wesentlich kürzer, was schon durch die Aufnahme in die Kosmos-Reihe bedingt war, sondern entbehrt auch der phantastisch-literarischen Einkleidung. Bölsche: Aus der Schneegrube (1909), S. 229. Ebenda, S. 53. Vgl. Daum: Naturwissenschaftlicher Journalismus (1995), S. 207-209. Preyer: Naturwissenschaftliche Thatsachen (1880), S. 33-64, vor allem S. 51f£
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lassen bleiben. Krause sprach von der „Versöhnung des Glaubens mit der Wissenschaft" und verwahrte sich dagegen, die Menschen ihrer Überzeugungen zu berauben, für die man keinen Ersatz bieten könne. 73 Von einer entgegengesetzten weltanschaulichen Position aus und beeinflußt von Fechner nahmen später Kurd Laßwitz und Friedrich Ratzel den Gedanken der Versöhnung von Wissenschaft und Glauben auf. Für Erich Wasmann und Johannes Reinke diente diese Vorstellung als wichtiges Argument gegen die Monistenbewegung. 74 Selbst Bölsche stellte 1907 in der Berliner Diskussion mit Wasmann bei aller Ablehnung des Offenbarungsglaubens frei, die „Weltanschauung des Idealen" und der „Weltversöhnung" mit der christlichen Gottesvorstellung zu verbinden. 75 Abstrahierte man von den letzten Fragen, dann war die kosmische Entwicklungslehre andererseits in hohem Maße vereinbar mit dem, was von christlicher Seite schon früh als Kosmos-Darstellungen vorgelegt wurde. Georg Hartwigs Gott in der Natur 1864 und August Nathaniel Böhners Kosmos. Bibel der Natur 1864-67 sowie sein Monismus 1889 erhoben ebenso wie Krause, Bölsche und Wille die Harmonie der Natur zum obersten Prinzip. Der Unterschied lag darin, daß sie die Naturgesetzlichkeit auf Gott zurückführten. Was hier als von Gott bewirkte Zweckmäßigkeit und Planmäßigkeit erschien, reproduzierte die kosmische Entwicklungsgeschichte später unter säkularisierten Vorzeichen mit ihrer neuen Teleologie. Für Böhner war das Naturreich „Ein [sie] großes, einheitliches Ganzes, Ein Alles umfassender Organismus" 76 , der vom „Vollkommenheitstrieb" 77 durchzogen wurde. Dies hätte auch Bölsche akzeptiert. Beide waren ähnlich weit entfernt von den Materialisten, denen sich der Organismus nur als physikalisch-chemischer Mechanismus 78 darstellte. Das versöhnende Element der neuen Weltanschauung kam erst dadurch richtig zur Entfaltung, daß es von der kosmischen Entwicklungslehre um die Kategorie des Schönen erweitert wurde. Der Prozeß der Abwendung vom idealistischen Kunsischönen zum Naturschönen kann hier nur kurz angedeutet werden, er stellt ein eigenes Kapitel der Geistesgeschichte des
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[Krause:] Das versöhnende Element (1878/79), S. 353,359. Der Aufsatz ist in modifizierter Form wieder abgedruckt in Sterne: Die Krone (1884), S. 27-47. Vgl. Sterne: Werden (1876), S. 2-4, und E. Krause [= Sterne]: Charles Darwin (1885), S. 171. Laßwitz: Religion (1904); Ratzel: Glückinseln (1905), S. 499,503. Wilhelm Bölsche, in: Plate (Hg.): Ultramontane Weltanschauung (1907), S. 78-83, hier S. 82f. Böhner: Naturforschung (1859), S. 56. Böhner: Monismus (1889), S. 145. So bei Specht: Theologie (1878), S. 106.
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späten 19. Jahrhunderts dar.79 Ernst Haeckel fällt darin eine maßgebliche Rolle zu. Der Jenaer Zoologe deutete das Kunstschöne als Fortsetzung des Naturschönen und lenkte das Augenmerk auf die Kunstformen der Natur80, die er vorzugsweise in Kleinstorganismen aufzuzeigen suchte. Schönheit, so argumentierten Haeckel und auch der Botaniker Ernst Hallier, sei ein naturimmanentes Phänomen, das sich bis zu den Zellstrukturen zurückführen lasse. Haeckel behandelte gar die „Kunsttriebe der Protisten"81. Der Formenreichtum des Mikrokosmos erschien nicht nur als genetischer Vorläufer, sondern als Vorbild für das aktuelle Kunstschaffen; Jugendstilkünstler haben sich daran orientiert. 82 Die popularisierende Literatur vertiefte die Vorstellung des Naturschönen. Sie brauchte sich hier nicht mehr ständig auf das bürgerliche Bildungswissen über ästhetische Gegenstände rückzubeziehen, sondern konnte sich auf einem weniger komplexen Reflexionsniveau in aller Ausführlichkeit der Anschauung der Natur selbst widmen. Schon in Böhners Monismus erschien die ganze Materie vom „Gesetz des Schönen" 83 durchdrungen. Bölsche hob im Analogieverfahren das „Naturgesetz des Ästhetischen" 84 in den gleichen Rang eines Axioms wie das Gesetz der fortschreitenden Harmonisierung, deren Teil es zu werden schien: „Wenn wir sehen, daß im Menschgeiste Freude am Ästhetischen, an künstlerischen Harmonien hervorbricht mit elementarer Gewalt, so dürfen wir ohne Skrupel annehmen, daß uns hier ein Grundstreben, ein Grundgefühl aller Natur begegnet, ein ästhetisches Naturgesetz gleichsam, das ebenso folgerichtig zur ästhetischen Harmonie treibt, wie das Gesetz der Schwere einen Stein fallen läßt; wer weiß, ob nicht dieser Fall des Steines sogar mit seinem Gesetz nur in jenem größeren Harmoniegesetz als eine Unterordnung hängt; doch einerlei."85 Einerlei war dies keineswegs, und das wußte auch Bölsche. Begleitete die Deszendenz des Schönen 86 den Fortschritt, dann potenzierte sie dessen Fähigkeit, die Härten der Entwicklung, den Kampf ums Dasein und die Mechanisierung der Welt, welche die physikalisch-wissenschaftliche Ana-
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Vgl. Bayertz: Die Deszendenz (1984), und in ähnlicher Fassung ders.: Biology (1990), Kockerbeck: Ernst Haeckels „Kunstformen der Natur" (1986), ders.: Zur Bedeutung (1995). Zur Kontinuität ästhetischen Denkens in der Wissenschaftskultur seit der Romantik siehe Dale: In Pursuit of a Scientific Culture (1989). So der Titel von Haeckels Werk, das in Lieferungen zwischen 1899 und 1904 in Leipzig erschien, siehe auch Haeckel: Die Natur (1913). Haeckel: Die Natur (1913), S. 12. Vgl. Hallier: Aesthetik (1890). Kockerbeck: Ernst Haeckels „Kunstformen der Natur" (1986), Mann: Ernst Haeckel (1990). Böhner: Monismus (1889), S.7. Bölsche: Hinter der Weltstadt (1901), S. 187. Ebenda, S. 186. So der treffende Ausdruck von Kurt Bayertz.
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lyse vorantrieb, zu mildern. Das ästhetische Empfinden kompensierte die „Verstandespedanterie"87, ja es wurde konstitutiv für die Sicht der Welt. Die natürliche Weltanschauung war von Roßmäßler bis Haeckel darauf begründet worden, Wissenschaft und Kunst zu vereinen;88 stets war Goethe dafür als Kronzeuge herangezogen worden. Diese Sicht wurde aber an den Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis gebunden. Am Jahrhundertende wandelte sich die Kosmosvorstellung endgültig zur künstlerischen Anschauung der Welt, die das subjektive Einstimmen in die Natur der rationalen Analyse vorzog. Diese Auffassung ließ jene Annäherungen des Menschen an die Natur zu, die der positivistische Rationalismus schon aus methodischen Gründen zurückdrängen oder negieren mußte: Intuition, individuell-subjektive Erfahrung und spirituelle Vereinigung. In dieser lebensphilosophischen Einkleidung89 rehabilitierte die ästhetische Naturlehre nicht nur romantische und naturphilosophische Vorstellungen, sondern ermöglichte eine neue Mystik des Zusammenfindens von Mensch und Gott-Natur.90 Bölsche steigerte das Verschwimmen von Natur, Kunst und Weltseele im Liebesrausch zum Absurden. Seine Reflexionen über Raffaels Madonna zu Beginn des Liebeslebens endeten mit dem Blick auf die Natur, in der Licht „auf diese Eintagsfliegen am Bach, diese Fische im Ozean [strömt]. Wie dunkel ringende Urseelen der Liebe treten sie vor dich hin. Vorauf wandernde Träume des großen Liebesgeistes, der aufwärts will. Dieser Fisch, diese Eintagsfliege ist Christus, ist Goethe, ist Raffael. Ist das Evangelium, ist Faust, ist die Madonna. Ist die Menschenliebe, der Sternentraum, die Kunst."91 Das Bild des Naturforschers paßte sich dem Ideal von Naturwissenschaft als Naturanschauung an. Aus dem von Bruno Wille karikierten, sezierenden Naturforscher, der nur Knochen, Nerven und Muskeln sehe und allen Glauben an die Schönheit unerbittlich zerstöre,92 wurde der von Fechner personifizierte „Weltanschauungskünstler"93. Der Naturwissenschaftler wandelte sich zum „Einheitsschauer"94 und „Schönheitsschau-
87 88 89 90 91 92 93
94 95
So der Ich-Autor zu seinem Wissenschaftlerfreund Oswald, in: Wille: Offenbarungen, I (1901), S. 23. Vgl. schon AdH 1 (1859), Sp. 345-350,717-720. Vgl. Schnädelbach: Philosophie (41991), S. 174-193. Vgl. Bayertz: Die Deszendenz (1984), S. 100-103 und Kolckenbrock-Netz: Poesie (1983) zur Mythisierung und Mythentransformation bei Bölsche. Bölsche: Das Liebesleben, I (1909), S. 41. Wille: Offenbarungen, I (1901), S. 43-48. Gustav Theodor Fechner (1907), S. 1, hier auf Fechner bezogen. Zu den Übergängen zwischen Forscher und Künstler auch Du Bois-Reymond: Naturwissenschaft (1890/1912), S. 421, allerdings mit deutlicher Distanzierung von der Naturphilosophie und dem bloß analogischen Verfahren. Wille: Offenbarungen, I (1901), S. 150, hier auf Ernst Haeckel bezogen. Bölsche: Hinter der Weltstadt (1901), S. 180.
5. Verweltanschaulichung der naturkundlichen Literatur
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Die monistisch-ästhetische Übersteigerung machte schließlich den Weg dafür frei, der Naturforschung religiösen Charakter zuzubilligen. Naturstudium und Kunst wurden in gleichberechtigtem Maße zu Kultushandlungen, die Naturforscher und Künstler zu den Priestern der Gemeinde. 96 Niemals mehr, konstatierte Bölsche, könne die Forschung in einen Gegensatz zu Andacht und Religion geraten; jede Forschertat werde auch eine „religiöse Tat"97 sein. Die Einpassung des Darwinismus in eine idealistische Weltanschauung 98 war gelungen, das Totalitätsbewußtsein der Welt hatte gesiegt und selbst religiösen Charakter angenommen. Daß aus der Naturwissenschaft eine All-Poesie erwachsen sollte, konnte für die sprachliche Präsentation nicht folgenlos bleiben. Die Poetisierung der Natur wurde von Bölsche, abgeschwächt auch von Wille, sowohl theoretisch reflektiert, als auch auf der Darstellungsebene umgesetzt.99 Bereits 1887 hatte Bölsche in einer Programmschrift die Grundlegung der Poesie in der darwinistischen Wissenschaft gefordert. 100 Die Leser des Liebeslebens wies Bölsche ausdrücklich darauf hin, daß das Buch nicht beanspruche, „im konventionellen Sinne als einfaches Popularisieren anderweitig und von anderen längst festgelegter fachwissenschaftlicher Materialien zu gelten." Es sei „keine popularisierende Übersetzung, sondern subjektives Eigenwerk." 101 Im Medium der freien künstlerischen Darstellung sollte die Kluft zwischen Fachwissenschaft und der Suche nach dem Ganzen überwunden werden. Humor, Erzählstil und die Du-Form seien eine wohlüberlegte Kunstfarbe 102 . Die „anthropomorphistische, vermenschlichende Form, als sei es dabei überall mit schlauen Überlegungen und sozusagen mit wohlüberdachten ortspolizeilichen Gemeindebeschlüssen zugegangen" stelle natürlich auch nur eine Märchenform dar.103 Mit ungezügelter Phantasie ließ Bölsche dann „alle Schellen lustig-souveräner Kunstform läuten" 104 . Naturbeschreibungen wurden in dichte Handlungsfolgen umgesetzt, deren Akteuere vom Bazillus bis zum Affen 96 97 98 99
100
101 102 103 104
Diese Formulierungen wörtlich bei Sterne: Werden (1876), S. 2. Bölsche: Naturgeheimnis (1906), S. 311. Eine Formulierung Bruno Willes, zitiert nach Bolle: Darwinismus (1962), S. 160. Vgl. Bayertz: Die Deszendenz (1984), S. 100 und Berentsen: Vom Urnebel (1986), S. 145-174. Zum Begriff der Poetisierung als Merkmal der naturwissenschaftlich inspirierten Literatur des Fin de Siècle siehe Hamann/Hermand: Impressionismus (1972), S. 98ff. und Gebhard: Der Zusammenhang (1984), S. XIV. Vom Typus naturalistischer Literatur, die er damit auf den ersten Blick unterstützte, entfernten sich seine eigenen literarischen Bemühungen aber deutlich; siehe Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen (1887/1976). Bölsche: Das Liebesleben, I (1909), S. Vllf. So die Formulierung ebenda, S. Vlllf. Ebenda, S. 147. So im Rückblick auf das ,Liebesleben' Bölsche: Wie das erste Kosmosbändchen entstand (1931), S. 26.
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V. Der literarische Markt
reichten. Der Autor sprang in einem fort zwischen Phänomenen der Kultur- und Naturgeschichte hin und her und paßte die erzählte Zeit ganz der subjektiven Erzählzeit an. Bölsche wob mythologische Erzählungen in die naturkundliche Darstellung ein, brachte Unvereinbares auf literarischer Ebene zusammen - die Wunder einer Probe Tiefseeschlamm oder die Philosophie eines Haselstäubchens - und nutzte alle Mittel einer anschaulichen, zugleich hochgradig redundanten Sprache, deren ästhetizistischen Charakter zu verleugnen keine Mühe mehr wert war. Impressionistische Stimmungsbilder prägten das Liebesleben ebenso wie Bölsches naturkundliche Aufsätze, die bevorzugt mit malerischen, emotional getönten Kleinpanoramen einsetzten. In blumiger Ausschmückung steigerte sich hier zur ersatzreligiösen Totalität, was fünfzig Jahre zuvor als wechselseitige Spiegelung von Mikro- und Makrokosmos von den naturkundlichen Vermittlern angelegt worden war.105 Dabei bezog sich Bölsche in seinem Liebesleben immer wieder explizit auf aktuelle naturwissenschaftliche Argumente oder Diskussionen, z.B. Haeckels Biogenetisches Grundgesetz, die Gasträa-Theorie, die Seeigel-Untersuchungen Oskar Hertwigs oder die Vererbungstheorie Weismanns; auch Forschungsinstitutionen wie die Zoologische Station in Neapel fanden häufig Erwähnung.106 In Willes Offenbarungen des Wacholderbaums handelten die beiden Protagonisten sogar über weite Strecken hinweg das Leib-Seele-Problem, den Materialismus der Naturwissenschaft und deren philosophische Probleme in Gesprächsform ab. Die Dialoge konnten auch vom Mikroskop, einem Schädel und dem beseelten Wacholderzweig übernommen werden. Sokrates, Haeckel und Fechner traten als imaginäre Gesprächspartner auf,107 bis dann die Todessehnsucht des Ich-Erzählers das subjektive Erleben ganz in den Vordergrund rückte. In solchen Texten, deren Charakter mit dem Begriff der Sachprosa kaum befriedigend bezeichnet werden kann, verschwammen am Ende des Jahrhunderts vollkommen die Grenzen zwischen fiktionaler und nichtfiktionaler Sprache. Die Verschmelzung von Naturforschung und Dichtung, wissenschaftlicher und ästhetischer Darstellung wurde dabei in gleichem Maße als schriftstellerisches Programm wie als kulturelle Syntheseleistung begriffen. Bölsche faßte beides im Begriff der „Humanisierung" der Naturwissenschaft zusammen. Dieser Vorgang bedeute die „Erhöhung dieser spezialistischen Fachwissenschaft in ein breiteres Menschheitsfach, Kulturfach, ja recht eigentlich in wirkliche ,Kultur'": 105 106 107
Beispielhaft ist das Vorwort zur Aufsatzsammlung von Bölsche: Weltblick (31904), S.IIIf. Vgl. z.B. Bölsche: Das Liebesleben, I (1909), S.219ff„ 233ff.; Bd. II.l (1911), S. 126; Bd. II.2 (1911), S.418f. Vgl. Wille: Offenbarungen, I (1901), S. 108-114,149-155,284-292; Bd. II, S. 91ff, 330ff.
5. Verweltanschaulichung der naturkundlichen Literatur
323
„Die Forschungsergebnisse ordnet er um auf allgemeine Menschheitsziele. Er verleiht ihnen ordnend eine ästhetische Form, die das rohe Kärrnerwerk adelt. Ihren Anschluß an die anderen Geistesgebiete arbeitet er heraus. Universale Gedanken betont er im Gegensatz zum Kleinkram. Unverständliches für den Nichtspezialisten wird in rastloser Umwertung geglättet, ausgeschmolzen, übersetzt. Als letzte Aufgabe erscheint überall der Eintritt in das Philosophische und Ethische, der erzieherische Wert für einen Idealismus, wie ihn unsere Kultur immerfort als Lebensluft ihrer Höhe braucht."108
Der zur Humanitätsideologie potenzierte Monismus von Bölsche und Wille stellte im Spektrum ästhetischer Naturbetrachtung um 1900 das Extrem dar. Verallgemeinerungsfähig war er ebensowenig wie der impressionistisch-eklektische Stil beider Autoren. Eine andere, von der Historiographie unbeachtet gebliebene Facette bot Friedrich Ratzel. Ratzel löste sich als Geographieprofessor in Leipzig weitgehend vom materialistischen Evolutionismus, den sein Frühwerk Sein und Werden vertrat, und wandte sich vermittelt durch die Rezeption Fechners naturphilosophischen Gedanken zu. Als bekennender Protestant arbeitete er an den Publikationsorganen des Haeckel-Gegners Eberhard Dennerts mit, der rückblickend den Geographen gern als Vorsitzenden des Keplerbundes gesehen hätte.109 Ähnlich wie Bölsche distanzierte sich Ratzel von der „rein verstandesmäßigen naturwissenschaftlichen Aufklärung" und erhob das „Sichhineindenken und Sicheinfühlen in die Natur" als mystisch eingetönten Prozeß des Erschauens des Schönen zum Vorbild.110 Auch er versuchte, einen entsprechenden sprachkünstlerischen Zugang zu etablieren, der sich als bildhafte, panoramische Naturschilderung verstand.111 Aber abgesehen von der bescheideneren Konzentration auf Geographie und Reisebeschreibung legte Ratzel anders als Bölsche und Wille der Naturschönheit den christlichen Gottesbegriff zugrunde; gegen jeden Ästhetizismus und eine übermäßige Rhetorisierung von naturbeschreibenden Texten verwahrte er sich.112
108
109 110 111 112
Bölsche: Wie und warum (1913), S. 296. Vgl. die erste Fassung in ders.: Volkstümliche Naturwissenschaft (1912), S. 236, auch abgedruckt in: Volkstümliche Naturwissenschaft (1913), S. 10. Vgl. Kapitel IV.2.c); Dennert: Hindurch (1937), S. 198. Ratzel: Über Naturschüderung (1904), S. IV, 187. Vgl. ebenda, S. 307ff„ 343-349; Ratzel: Kleine Schriften, I (1906), S. 111-126. Ratzel: Über Naturschüderung (1904), S. 375.
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V. Der literarische Markt
6. Expansion und Marktorientierung im letzten Jahrhundertdrittel „Durch nichts charakterisirt sich unser naturwissenschaftliches Zeitalter so sehr, als durch die Fluth seiner naturwissenschaftlichen Volksschriften, die nachgerade unsere Literatur beherrschen." Die Natur 36 = N.F. 13 (1887), S. 57.
Die Weltanschauungsliteratur von den Materialisten bis zu den Panpsychisten der Jahrhundertwende bildete insofern einen Leitsektor, als sie die naturwissenschaftlichen Probleme, im besonderen die Entwicklungslehre, auf die Ebene des kulturellen Diskurses verlagerte und eine erhebliche argumentative Sogwirkung hervorrief. Dem konnte sich der übrige populärwissenschaftliche Buchmarkt ebensowenig entziehen, wie er darin aufging. Im Kaiserreich entfaltete sich weit über Materialismus-, Darwinismus- und Monismusdebatte hinaus ein engmaschiges Publikationsangebot, um den Bedarf nach naturwissenschaftlicher Information zu befriedigen. Nachdem sich alle wichtigen Varianten der naturkundlichen Sachprosa schon zwischen Revolution und Reichsgründung entwickelt hatten, ging es jetzt darum, die literarische Diversifizierung zu vertiefen und bislang eher sporadisch besetzte Marktsegmente für ein Massenpublikum zu erschließen. Die verlegerischen Strategien mußten dafür weiter kommerzialisiert werden.1 a) Buchserien und die Kommerzialisierung des naturkundlichen Literaturangebots Die gesteigerte Markt- und Publikumsorientierung äußerte sich im Einsatz von Buchreihen, in der Schaffung von Buchgemeinschaften, in der Publikation repräsentativer Gesamtdarstellungen mit neuen optischen Anreizen und in einer differenzierten Praxis- und Ratgeberliteratur. Die Wiederverwertung von Presse- oder Zeitschriftenartikeln und das Engagement von Publizisten als Buchautoren trugen zu dem wachsenden Marktangebot bei. Bereits vor der Reichsgründung hatte es Versuche gegeben, populärwissenschaftliche Monographien zu Serien zusammenzustellen. Auf diese Weise ließ sich ein Mittelweg bahnen zwischen enzyklopädischer Zersplitterung und Kosmos-Darstellung, die aufgrund der Fülle des Materials erheblichen Umfang beanspruchte. Neben Roßmäßler mit seinen Büchern aus der Natur profilierte sich der Demokrat Aaron Bernstein seit 1853 mit den Naturwissenschaftlichen 1
Volksbüchern,
Vgl. Wittmann: Geschichte (1991), S. 237-300.
die bis zum Jahrhundertende
6. Expansion und Marktorientierung
325
mehrfach neu aufgelegt und sogar ins Hebräische übersetzt wurden.2 Nachdem 1867 die Verlags- und urheberrechtliche Bindung des Großteils der klassischen deutschen Autoren aufgehoben worden war, setzte sich das Serienkonzept nicht nur im belletristischen, sondern auch im naturwissenschaftlichen Bildungsbereich durch.3 Die wichtigsten Gründungen gibt Tabelle 8 wieder. Sie verdeutlicht die zunehmende Dichte an Buchreihen seit dem Ende der 1880er Jahre, wobei der Höhepunkt zwischen 1900 und 1910 erreicht wurde. An der Herausgabe der Buchserien beteiligten sich mit wenigen Ausnahmen die neuen naturwissenschaftlichen Bildungsinstitutionen, so die Urania, die Kosmos-Gesellschaft, die DNG und die Deutsche Mikrologische Gesellschaft. Sie veröffentlichten jeweils Auftragsarbeiten oder Vorträge aus dem eigenen Hause. Auch wenn die Kosmos-Gesellschaft in Stuttgart nicht alle idealtypischen Merkmale einer Buchgemeinschaft erfüllte, so funktionierte sie doch faktisch als solche. Sie erreichte mit ihren .Kosmos-Bändchen die größte Streuung. Die Publikationen wurden 1914 von über 100000 Mitgliedern der Kosmos-Gesellschaft bezogen und waren überdies frei im Buchhandel erhältlich.4 Die Bändchen, fünf pro Jahr, umfaßten nicht mehr als einhundert Seiten, reizten mit farbigen Titelbildern und metaphorischen Titeln, z.B. Streifzüge im Wassertropfen von France und Tierwanderungen in der Urwelt von Bölsche, und deckten von der Astronomie bis zur Elektrizität ein weites Themenspektrum ab. Von den 54 Bändchen bis 1914 entfielen auf den Urania-Meyer und den KosmosRedakteur Kurt Floericke allein je acht, auf Bölsche sieben.5 Neben den speziellen naturkundlichen Reihen nahmen zunehmend auch allgemeinbildende Serien naturwissenschaftliche Monographien auf und richteten teilweise gesonderte naturwissenschaftliche Abteilungen ein, vgl. ebenfalls Tabelle 8. So erschien in Webers Illustrierten Katechismen ein Katechismus der Zoologie zunächst von Christoph Giebel, später von William Marshall verfaßt, Otto Zacharias steuerte den Katechismus des Darwinismus bei.6 Für die naturkundlichen Buchreihen zeichneten häufig Wissenschaftspublizisten verantwortlich, die bereits auf langjährige journalistische Erfahrungen zurückschauen konnten: der Chemiker Otto Dammer gab die Bibliothek der gesummten Naturwissenschaften heraus; der Monist Wilhelm Breitenbach besorgte Gemeinverständliche Darwinistische Vorträ2 3 4 5 6
Der Erfolg der Wiederauflagen wurde allerdings durch Kritik am veralteten Forschungsstand begleitet, vgl. Humboldt 9 (1890), S. 214. Vgl. Schiffeis/Estermann: Nichtfiktionale deutsche Prosa (1976), S.242; Rarisch: Industrialisierung (1976), S. 64f.; Wittmann: Geschichte (1991), S. 247-249. Zur Kosmos-Gesellschaft und den Zahlenangaben Kapitel III.4.b). Im ersten Jahrgang war die Darstellung von Zell: Ist das Tier unvernünftig? (1904) als Doppelband erschienen. Giebel: Katechismus (1879), Marshall: Katechismus (21901), Zacharias: Katechismus (1892).
326
V. Der literarische Markt
ge und Abhandlungen-, Kurt Lampert, Vorstand des Naturalien-Kabinetts in Stuttgart, redigierte die Naturwissenschaftlichen Wegweiser, Siegmund Günther, Geographieprofessor und liberaler Landtagsabgeordneter in Bayern, edierte innerhalb der Reclams Universal-Bibliothek die Bücher der Naturwissenschaft-, Raoul France schließlich begründete die Naturbibliothek.
Tabelle 8: Populärwissenschaftliche Buchserien und Buchreihen seit 1852 a) Naturkundliche Buchserien und Buchreihen 1852-1875 1853-1856
1856-1859
1869-1880 1876 1886-1891 1888-1900 1889ff. 1890-1892 1891-1906 1901-1908 1902-1903 1904ff.
Aus der Natur. Die neuesten Entdeckungen auf dem Gebiete der Naturwissenschaften seit 1860 als Neue Folge. Leipzig: Abel, seit 1861: Gebhardt & Reisland Naturwissenschaftliche Volksbücher Hg. v. Aaron Bernstein. 1. Aufl. Berlin: Besser, zuletzt 51897-99, hebräische Ausgabe 1881-91 Bücher aus der Natur. Die wichtigsten Abschnitte der gesammten Naturwissenschaft in populären Darstellungen Hg. v. E. A. Roßmäßler. Leipzig: Keil Die Naturkräfte. Eine naturwissenschaftliche Volksbibliothek Hg. v. einer Anzahl von Gelehrten. München: Oldenbourg Bibliothek naturwissenschaftlicher Schriften für Gebildete aller Stände (nur ein Band erschienen) Jena: Costenoble Bibliothek der gesammten Naturwissenschaften Unter Mitwirkung von M. Alsberg, Th. Engel, Sigm. Günther hg. v. O. Dammer. Stuttgart: Weisert Allgemein-verständliche naturwissenschaftliche Abhandlungen Berlin: [Riemann] Dümmler (1900-1901 fortgesetzt als Naturwissenschaftliche Abhandlungen) Ostwald's Klassiker der exakten Wissenschaften Leipzig: W. Engelmann Naturwissenschaftliche Bibliothek Leipzig: J. J. Weber Sammlung populärer Schriften Hg. v. der Gesellschaft Urania zu Berlin Berlin: H. Paetel Gemeinverständliche Darwinistische Vorträge und Abhandlungen Hg. v. Wilhelm Breitenbach. Odenkirchen, später Brackwede: W. Breitenbach Naturwissenschaftliche Bibliothek (Heft 1-3) Berlin: G. H. Meyer Kosmos-Bändchen (unter diesem Titel offiziell seit 1922) Hg. v. Kosmos. Gesellschaft der Naturfreunde. Stuttgart: Franckh'sche Verlagshandlung
6. Expansion und Marktorientierung 1904-1912 1907ff. 1908-1912 1908ff. 1908ff.
1909-1913 1909-1910 1910-1911
327
Benzigers naturwissenschaftliche Bibliothek Einsiedeln: Benziger & Co. Mikrologische Bibliothek, seit 1909 als: Handbücher für die praktische naturwissenschaftliche Arbeit Stuttgart: Franckh'sche Verlagshandlung Naturwissenschaftliche Wegweiser Hg. v. Kurt Lampert. Stuttgart: Strecker & Schröder Naturwissenschaftliche Bibliothek für Jugend und Volk Hg. v. Konrad Höller/Georg Ulmer. Leipzig: Quelle & Meyer Bücher der Naturwissenschaft (innerhalb der Reihe Reclams Universal-Bibliothek) Hg. v. Siegmund Günther. Leipzig: Reclam Naturwissenschaftliche Volksbücher Hg. v. Kosmos. Gesellschaft der Naturfreunde. Stuttgart: Franckh'sche Verlagshandlung Naturwissenschaftliche Taschenbibliothek Wien: Hartleben Naturbibliothek Hg. unter Nitwirkung des Kuratoriums der Deutschen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft v. R. H. France. Leipzig: Thomas
b) Allgemeinbildende Buchserien und Buchreihen mit naturkundlichen Titeln 1858ff. 1866-1871 1866-1870 1886-1901 1871-1904
1873-1892
1876ca. 1878 1880-1881 1882-1907
Webers Illustrierte Katechismen. Belehrungen aus dem Gebiete der Wissenschaften und Künste Leipzig: J. J. Weber Volks-Kosmos. Himmel und Erde. Wissenschaften fürs Haus. Hamburg: Vereinsbuchhandlung Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge Hg. v. R. Virchow/F. Holtzendorff. Berlin: Lüderitz. als: Neue Folge. Hg. v. R. Virchow/W. Wattenbach. Hamburg: J. J. Richter Internationale Wissenschaftliche Bibliothek Hg. unter Nitwirkung v. H. Marquardsen/Oscar Schmidt v. I. Rosenthal. Leipzig: Brockhaus Allgemeiner Verein für Deutsche Litteratur. Serien [enthielt regelmäßig populär-naturwissenschaftliche Bücher] Berlin: Hofmann's Separat-Conto, später: Allgemeiner Verein für deutsche Literatur Sammlung gemeinnütziger populär-wissenschaftlicher Vorträge Wien: Hartleben Neue Volksbibliothek Hg. v. Rieh. Weitbrecht. Stuttgart: Levy & Müller Das Wissen der Gegenwart. Deutsche Universalbibliothek für Gebildete Leipzig: Freytag
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1886-
1914/15 1898ff.
1889ff. 1892-1907 1907ff.
Meyers Volksbücher Leipzig: Bibliographisches Institut Aus Natur und Geisteswelt. Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen aus allen Gebieten des Wissens (mit einer eigenen Abteilung für Mathematik, Naturwissenschaften und Medizin) Leipzig: Teubner Sammlung Göschen Hausschatz des Wissens (mit 6 Unterabteilungen zum Thema Natur) Berlin: Pauli's Nachf., später Neudamm: J. Neumann Wissenschaft und Bildung. Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens Hg. v. Paul Herre. Leipzig: Quelle & Meyer
Quellen: Gesamtverzeichnis des deutschen Schrifttums 1700-1910 und 1911-1965, Verlagskataloge; Zeitschriften (vgl. Literaturverzeichnis), Hauptkatalog Bayerische Staatsbibliothek. Abkürzung: ff. = über 1914 hinaus
Die Tradition der systematischen Naturgeschichte führten nach 1870 die Folgeauflagen von Brehms Thierleben fort. Sie entledigten sich aber immer mehr der anthropomorphen, erzählerischen Originalform. Auf die Brehmsche Polemik gegen den Schöpfungsglauben, die in der zweiten Auflage noch mit Zitaten von Ludwig Büchner und Thomas Huxley gestützt wurde, verzichteten sie konsequent. In der dritten Auflage von 1890 strichen die Bearbeiter alle polemischen Stellen, „die wohl niemand ergötzen konnten, viele dagegen abstoßen und verletzen mußten."7 Dagegen bekannte sich ein Teil der neueren populären Tierbücher, die seit 1880 einen Platz auf dem Buchmarkt eroberten, wieder ausdrücklich zur Tierseelenkunde8 oder löste die strenge Systematik in burleske Tiergeschichten auf.9 Die naturgeschichtliche Darstellung wurde im Kaiserreich in repräsentativen Schauwerken ausgestaltet, die neben kolorierten Drucken, mitunter durch aufgelegte Seidenblätter mit gezeichneten Erläuterungen ergänzt, das neue Medium der Photographie ausgiebig nutzten und eine Vielzahl von Autoren zu Wort kommen ließen.10 Im Standard serieller bibliophiler Ausstattung glichen sich die verschiedenen Naturgeschichten an, 7
8 9 10
So der Herausgeber E. Pechuel-Loesche in: Brehms Tierleben, I (31890), Vorwort, S.XV; vgl. ebenda S.XLIII (E. Krause) und Brehms Tierleben, I (41918), Vorwort, S. XI; Dörpinghaus: Darwins Theorie (1869), S. 195-197. Adolph und Karl Müller: Thiere der Heimath (1882-83). Die zeitgleiche Illustrirte Naturgeschichte (1882-84) war strenger positivistisch-systematisch gehalten. Meerwarth/Soffel (Hg.): Lebensbilder, I-III (1908-12). Meerwarth: Photographische Naturstudien (1905) zur Begeisterung für die Photographie als vermeintlich bestem Illustrationsmittel; tatsächlich ließ die Qualität der oft unscharfen Photographien zu wünschen übrig.
6. Expansion und Marktorientierung
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auch wenn sie grundsätzlich unterschiedliche Positionen in der biologischen Diskussion vertraten. Das Tierreich wurde z.B. 1895 bis 1897 von Berliner Naturkundlern aus dem Umfeld der DGVN prodarwinistisch im Sinne Haeckels konzipiert. Das voluminöse Vorkriegswerk Die Wunder der Natur brachte 1913/14 von Haeckel selbst über Bölsche, Bruno Bürgel und France bis Otto Zacharias Darwinisten unterschiedlichster Richtung zusammen. Dagegen stützte sich die vergleichbare Moderne Naturkunde von 1914 auf die Werke von Dennert, Reinke und Wasmann; das Sammelwerk bekannte sich zum christlichen Glauben, bezweifelte die gemeinsame Abstammung von Menschen und Tieren und lehnte die Urzeugungsthese ab.11 Andere Gesamtdarstellungen zum Tierleben enthielten sich bewußt der wissenschaftlichen Streitfragen und verzichteten auf eine literarische Einkleidung. Der Zoologe Richard Hesse und sein Kollege Franz Doflein konzentrierten sich 1910-14 in ihrem Werk Tierbau und Tierleben ganz auf eine sachliche Darstellung der modernen physiologischen und biologischen Forschung. Eine gute Schulbildung sollte zum Verständnis reichen. Die Autoren gestanden ein, daß mancher die Darstellung zu trocken finden werde. Was die Kritik rühmend manchem „populären naturwissenschaftlichen Werke nachsagt: ,es liest sich wie ein Roman', das wird niemand auf dieses Buch anzuwenden versucht sein."12 Die funktionale Trennung zwischen wissenschaftlicher und populärer Darstellung setzte sich in allen naturkundlichen Genres durch. Während Alfred Brehm und der Afrikareisende Carl Georg Schillings die erzählerische Reiseberichterstattung im Zeichen moralisierender Mahnung zu Tierund Naturschutz fortführten, 13 nutzen angesichts der Zunahme professioneller Forschungsreisen14 immer mehr Wissenschaftler den erzählerischen Reisebericht als alternatives Medium, um ihre wissenschaftlichen Erfahrungen dem Publikum vorzustellen. Carl Sachs präsentierte 1879 die Ergebnisse seiner Venezuelareise zur Untersuchung des Zitteraals, die von der Berliner Akademie der Wissenschaften angeregt und von der Humboldt-Stiftung unterstützt wurde, nicht nur in Fachpublikationen, sondern fächerte die naturwissenschaftlichen, geographischen und landeskundlichen Beobachtungen auch in narrativen Schilderungen auf.15 Ähnlich ver11 12 13 14
15
Die Wunder der Natur (1913/14); Moderne Naturkunde (1914), S. 754f£; vgl. auch Weltall und Menschheit (1906). So Hesse/Doflein: Tierbau, I (1910), S. VIII. Schillings: Mit Blitzlicht und Büchse (1905) und (1913). Vgl. Jahn/Löther/Senglaub: Geschichte (1982), S. 444f. und Olaf Breidbach: Über die Geburtswehen einer quantifizierenden Ökologie - der Streit um die Kieler Planktonexpedition von 1889, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 13 (1990), S. 101-114. Sachs: Aus den Llanos (1879). Vgl. Haeckel: Indische Reisebriefe (1883), 1909 bereits in der fünften Auflage.
330
V. Der literarische Markt
fuhren die Zoologen Franz Doflein und Carl Chun. Doflein hielt seine von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften finanzierte Amerikareise in einem stimmungsvollen Tagebuch Von den Antillen zum fernen Westen fest. Die letztgenannten Beispiele machen deutlich, daß die Wahl einer popularisierenden Darstellung am Jahrhundertende mehr als nur unterhaltende Funktion besaß. Sie war auch eine Antwort auf die wachsende gesellschaftliche Erwartung, daß moderne Forschertätigkeit legitimiert werden müsse durch die Pflicht, das akademische Tun der Öffentlichkeit transparent zu machen und auch dem außeruniversitären Publikum Einsichten in die Relevanz von Forschung zu ermöglichen. Aufschlußreich ist die Aufarbeitung der ersten deutschen Tiefsee-Expedition, die der Dampfer Valdivia 1898/99 zur Erforschung der Meeresfauna unter Leitung von Carl Chun in den Atlantik, den Indischen Ozeans und das Südpolarmeer unternahm. 16 Vertreter des Reichsamts des Innern und des Preußischen Kultusministeriums hatten nach Ablauf der Expedition den Wunsch geäußert, die Ergebnisse in einer auch für Laien nachvollziehbaren Form darzustellen. Jeder Deutsche habe Anspruch darauf, aus einem „ihm verständlichen Rechenschaftsbericht zu erfahren, in welcher Weise mit den großen, von dem Reichstag einstimmig genehmigten Mitteln geschaltet wurde." 17 Der Jenaer Fischer Verlag verfolgte daraufhin eine duale buchhändlerische Strategie, die der Cotta-Verlag ein halbes Jahrhundert zuvor in Zusammenhang mit Humboldts Kosmos noch abgelehnt hatte. Er publizierte sowohl die wissenschaftlichen Ergebnisse der Expedition in 24, von Chun herausgegebenen Bänden, als auch mit großem Erfolg und in schmuckvoller Ausstattung einen Erfahrungsbericht Aus den Tiefen des Weltmeeres von Chun, der die wissenschaftlichen Beobachtungen in eine unterhaltende, z.T. humoreske Darstellung der Reiseumstände einwob und innerhalb von drei Jahren gleich dreimal nachgedruckt wurde. 18 Der mit narrativen und anekdotischen Elementen aufgeladene essayistische Stil19 setzte sich seit 1870 in breiter Front auf dem Buchmarkt durch. Das „Belehrende im scherzenden Plaudertone" 20 zu vermitteln, wurde zur selbstgestellten Aufgabe des naturkundlichen Essayistentums, das häufig auf Vortragstexten beruhte. 21 Es fand seine verlegerische Form in Aufsatz16 17 18 19 20 21
Zeitgenössischen Berichte in: Gaea 34 (1898), S. 440-442; Gaea 35 (1899), S. 218f£; siehe Jahn/Löther/Senglaub (Hg.): Geschichte (1982), S. 444,537. Chun: Aus den Tiefen (1900), Vorwort, S. V. Chun (Hg.): Wissenschaftliche Ergebnisse, I-XXIV (1902^0); Chun: Aus den Tiefen (1900). Vgl. Lütge: Das Verlagshaus (1928), S. 224. Kelly: The Descent (1981), S.33f. Brenner: Spaziergänge (1898), S. III. Vgl. Die Natur 49 = N.F. 26 (1900), S. 11,515. Seit etwa 1870 überlagerte das unterhaltende, erzählerische Element die diskursiv-didaktisch angelegte Vortragsform, z.B. bei Mach: Populärwissenschaftliche Vorlesungen (1896/51923) und Molisch: Populäre biologische Vorträge (21922).
6. Expansion und Marktorientierung
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Sammlungen, die unter Titeln wie Naturwissenschaftliche Plaudereien22, Spaziergänge23 und Streifzüge24 aus Presse und Publizistik zusammengetragen wurden. Die plaudernden Texte schufen einen eigenen Gattungstyp: anwendungs- und erfahrungsbezogen, oft auf lokale Szenerien beschränkt und in den Einzelbeiträgen den Zeitungsumfang kaum überschreitend, im auktorialen Stil und anschaulich verfaßt, metaphorisch schon in den Überschriften - etwa „Depeschen von der Sonne" zur optischen Forschung, „Nerven des Erdballes" zur Telegraphie, „Eine himmlische Volkszählung" und „Verunglückte Gratisfeuerwerke" zur Himmelsbeobachtung 25 . Bölsche hat dieses Genre ausgiebig genutzt, um eigene Presseartikel erneut zu verwerten. Die Erzählform ließ die Grenzen zur Unterhaltungsliteratur ebenso wie zur Kinder- und Jugendliteratur undeutlich werden. Kosmos-Autor Kurt Floericke und Karl Kraepelin machten sich solche Durchlässigkeiten für pädagogisch inspirierte, unterhaltsame Naturbetrachtungen zunutze.26 Die äußerst beliebten Tierbücher von Ernest Seton Thomp'son, wie die Äosmos-Bändchen und die Höhlenkinder von Tluchor alias Sonnleithner bei der Franckh'schen Verlagshandlung verlegt, und Bonseis Biene Maja gaben allerdings den Anspruch auf, weiterhin den Blick auf die Wissenschaft zu halten; sie verstanden sich als eigene naturkundliche Belletristik.
b) Die Praxislektüre der Amateurwissenschaftler, Mikroskopierund A q u a r i e n k u n d e Der literarisch-publizistische Markt reagierte zunehmend auf das wachsende Informationsbedürfnis der Amateurwissenschaftler und Naturfreunde, die im Zusammenhang mit dem Vereinswesen als neue Klientel der nichtprofessionellen Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Fragen hervorgehoben wurden. Die vereinsmäßige Organisierung der Hobbyfor22
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Stinde: Naturwissenschaftliche Plaudereien (1873), Budde: Naturwissenschaftliche Plaudereien (1891), Marshall: Plaudereien und Vorträge (1895-1902), Bölsche: Vom Bazillus (1900), Kraepelin: Naturstudien im Garten (1901), ders.: Naturstudien im Hause (41910), Hartmann: Naturwissenschaftlich-technische Plaudereien (1908), Bölsche: Stirb (1913). Vgl. die positive Rezension zu Marshalls Zoologischen Plaudereien in: NwW 17 = N.F. 1 (1901/2), S. 312. Meyer: Spaziergänge (1885), Marshall: Spaziergänge (1898), Brenner: Spaziergänge (1898), ders.: Neue Spaziergänge (1903); vgl. auch Grottewitz: Sonntage (1907). Hartwig: Das Leben (1872), Spiller: Naturwissenschaftliche Streifzüge (1873), Zell: Streifzüge (o.J./1906). Beispiele aus Stinde: Naturwissenschaftliche Plaudereien (1873), S.89ff., 106ff.; Brenner: Spaziergänge (1898), S. 329ff.; ders.: Neue Spaziergänge (1903), S. 137ff. Curt Floericke: Der kleine Naturforscher in Flur und Feld. Nürnberg o.J. (1908), Kraepelin: Naturstudien (1901) und (1910).
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V. Der literarische Markt
scher, ihre Freizeitaktivitäten vom Botanisieren über das Bestimmen von Steinfunden beim Wandern bis zur astronomischen Beobachtung steigerte in der zweiten Jahrhunderthälfte die Nachfrage nach einer praxisbezogenen Literatur: geologische Wegweiser und Wanderführer, Bestimmungsund Exkursionsbücher, Anleitungen zum Mikroskopieren und zur Anlage von Aquarien, Herbarien oder Vivarien erlebten eine Hochkonjunktur. Nachdem die Objetivtechnik schon vor 1850 deutliche Fortschritte gemacht hatte und in Deutschland dank der Zeiss-Werke seit 1872 leistungskräftige Mikroskope in großer Zahl produziert wurden, kam den Mikroskopierbüchern eine Vorreiterrolle zu; allein 1867 erschienen vier einschlägige Werke.27 Ihre Themen waren die Konstruktion und Leistungsfähigkeit von Mikroskopen, die Technik des Sezierens, Präparierens und Konservierens, der Einsatz von Hilfsmitteln wie Pinzetten und Lampen sowie Ratschläge zum Kauf von eigenen Geräten und Präparaten, die oft mit der Nennung von einschlägigen Händlern versehen wurden.28 Mit gleicher Akribie waren die Anleitungen zum Botanisieren, zum wissenschaftlichen Reisen und die allgemeinen Handbücher für die Naturalien-Sammler verfaßt.29 Vor dem Ersten Weltkrieg war damit das Feld vom Handbuch für Amateur-Astronomen über die Wettervorhersage für Jedermann bis zur Exkursionsflora als Taschenbuch für Schüler und Laien und der gemeinverständlichen Anleitung zur Anlage naturwissenschaftlicher Sammlungen dicht besetzt.30 Die Kosmos-Gesellschaft gab eine zusätzliche Reihe Naturwissenschaftliche Volksbücher als Anleitungsliteratur heraus, die Deutsche Mikrologische Gesellschaft bemühte sich in ihrer Mikrologischen Bibliothek um praxisnahe Ratgeber, vgl. Tabelle 8. Eine besondere Rolle spielte die Aquarienkunde. Nachdem in England in den 1840er Jahren eine regelrechte Welle der Aquarienbegeisterung eingesetzt hatte, präsentierte 1856 Roßmäßler der deutschen Öffentlichkeit den „Ocean auf dem Tische", das Aquarium, als neues Mittel, „naturwissenschaftlichen Sinn zu wecken und [zu] pflegen." Sein Artikel über den 27
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Dippel: Das Mikroskop (1867), Jäger: Anleitung (1867), Reinsch: Das Mikroskop (1867), Vogel: Das Mikroskop (1867). Vgl. zuvor Quekett: Practisches Handbuch (1854) und Schilling: Hand- und Lehrbuch (1859-61). Vgl. W. W. Siede in: Elementarkurs der Mikrologie (1909), S. 111-114. Auerswald: Anleitung (1860), Schmidlin's Anleitung (1882), Held: Demonstrative Naturgeschichte (21852), Eger: Der Naturalien-Sammler (41876), Dammer (Hg.): Der Naturfreund (o.J./1885), Hinterwaldner: Wegweiser (1889), Bade: Naturwissenschaftliche Sammlungen (1899), Dahl: Kurze Anleitung (1904). Vgl. auch Neumayers Anleitung zum wissenschaftlichen Reisen, die 1906 die dritte Auflage erreichte; das umfangreiche, von Experten verfaßte Sammelwerk richtete sich zwar offiziell auch an „nicht fachmännisch Ausgebildete" (S. V), diente aber primär für wissenschaftliche Expeditionen und nicht für die Lokalforschung der Amateurwissenschaftler. Brenner: Handbuch (1898), Klein: Wettervorhersage (1907), Kraepelin: Exkursionsflora (1910), Floericke: Der Sammler (1914).
6. Expansion und Marktorientierung
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„See im Glase" in der Gartenlaube und erlangte eine beträchtliche Resonanz.31 Ein Jahr darauf legte Roßmäßler eine Anleitung zur Herstellung und Pflege des Süßwasser-Aquariums vor, die später von Alfred Brehm fortgeführt und mehrfach neu aufgelegt wurde.32 In Kenntnis der Biographie Roßmäßlers erweist sich sein Engagement für die Aquarienkunde als die Fortsetzung des gesellschaftspolitischen Engagements und der Volksbildungsaktivitäten in die „häuslichen Familienkreise" 33 hinein. Es ging dem aus dem Staatsdienst ausgeschiedenen Professor nicht allein um die liebhaberische Pflege der dekorativen „WasserMenagerie" 34 . Roßmäßlers literarische Bemühungen, das Aquarium in immer weiteren Kreisen bekannt zu machen und damit der „Verbreitung naturwissenschaftlichen Strebens bis in das Wohnzimmer der Reichen zu dienen" 35 , trug einen demokratischen Impuls in sich. Zwar waren sein Gartenlaube- Artikel und die anschließende Separatschrift zunächst darauf gerichtet, der „Natur ein Plätzchen im Salon der Reichen zu erbitten". Aber Roßmäßler vertraute zugleich darauf, daß sich aus der Eigendynamik der „Curiositäten-Liebhaberei" 36 ein echtes Naturinteresse entwickeln würde. Die Voraussetzung war, daß die technischen Möglichkeiten, d.h. die serielle und billige Konstruktion von Glasbehältern, es nicht nur den Wohlhabenden erlauben würden, ein Aquarium anzulegen.37 Roßmäßler veranlaßte sogar erstmals eine Leipziger Glaswarenhandlung zur Herstellung von Aquarien. Andere Autoren folgten dem Leipziger Zoologen mit ähnlichem Impetus. „Das Recht, ein Naturforscher zu werden, steht Jedermann zu", betonte 1859 das Hand- und Lehrbuch für angehende Naturforscher und Naturaliensammler, „es bedarf hierzu nicht der Vorzüge eines gewissen Standes oder einer gelehrten Bildung."38 Darin ging die Forderung nach sozialem Ausgleich ebenso ein wie die Ehrenrettung des verpönten Dilettantismus. Das „Lager der Liebhabereimenschen" 39 gewann gegenüber den Berufs31
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Roßmäßler: Der See (1856), S.252. Zu England vgl. Allen: The Naturalist (1976/1994), S. 117ff. und David Allen: Tastes and Crazes, in: Cultures of Natural History (1996), S. 404^07. Roßmäßler: Das Süßwasser-Aquarium (1857), die 2. und 3. Auflage (1869,1875) bearbeite Brehm, die 4. und 5. Aufl. (1880,1892) Brehms ehemaliger Mitdirektor am Berliner Aquarium Otto Hermes. Vgl. Knauer: Vergangenheit (1907) sowie Hermann Klencke: Die großen Aquarien der Gegenwart [...], in: Gaea 4 (1868), S. 29-40-, Bade: Das Süßwasser-Aquarium (1896). Zur Würdigung in einer katholischen Zeitschrift NuO 14 (1868), S. 254-270 und NuO 39 (1893), S. 382. Roßmäßler: Der See (1856), S. 256. Ebenda,S.252,255. Roßmäßler: Das Süßwasser-Aquarium (1857), S. VI. [E. A. Roßmäßler:] Das Aquarium, in: AdH 1 (1859), Sp. 251-254. Ebenda. Schilling: Hand- und Lehrbuch, I (1859), S. 11. Siehe auch Vogel: Das Mikroskop (1867), S.2f. E. L. Taschenberg: Was da kriecht (1861), S. 3.
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V. Der literarische Markt
menschen in der Praxisliteratur eine eigene Legitimation und bot sich als klassenübergreifendes Kommunikationsnetz an. „Selbsttätigkeit" und „Selbstanfertigung" 40 wurden beim Botanisieren, in der Terrarien- und Aquarienpflege zum Ideal erhoben. Das bedeutete, den Anspruch auf Entfaltung des Individuums in den dekorporierten Freiräumen der bürgerlichen Gesellschaft einzuklagen. Diesem Verlangen entsprach der Verzicht auf die exklusive, gelehrte Sprache, das Bekenntnis zur Gemeinverständlichkeit der Darstellung und die Hoffnung, daß der Bezug naturkundlicher Instrumente durch niedrigere Preise erleichtert würde.41 Die Anleitungs- und Ratgeberliteratur löste in praktischer Hinsicht den Anspruch auf Teilhabe der Bevölkerung an den Naturwissenschaften ein und schuf den Naturinteressierten eigenständige Zugänge zum Wissen. Sie konnte dabei von den praxisbezogenen Aktivitäten der Urania, des Kosmos, der DGVN und der DNG erheblich profitieren. Einen quasi autonomen Bereich bildete die Literatur der Amateurwissenschaftler aber nur bedingt. Auch sie war von den Spannungen der Popularitätsdiskussion durchzogen. So blieb der Wunsch, die Volksbildung im Praktisch-Nützlichen42 zu verankern, stets von der Mahnung begleitet, die allgemeine Bildung als Ziel im Auge zu behalten. Das liebhaberische Element sah sich unentwegt dem Vorwurf ausgesetzt, bloß „eitle Spielerei"43 zu sein. Als Folge des andauernden Rechtfertigungszwanges waren die Praxisbücher von einem kaum zu übertreffender Ernst und einer detailbewußten Planmäßigkeit durchzogen. Otto Dammer etwa warnte in seiner Anleitung zur naturwissenschaftlichen Beschäftigung 1885 insbesondere die Tierliebhaber vor Sentimentalität und Überschwenglichkeiten. 44 In der Aquarien- und Terrarienpublizistik entwickelte sich am Jahrhundertende gar eine heftige Auseinandersetzung um die Ausrichtung auf eine forscherliche Wissenschaft, die z.B. das Halten exotischer Zierfische und die Vernachlässigung der exakten Beschreibung kritisierte, oder auf eine mehr liebhaberische Laien-Wissenschaftlichkeit hin.45 „Erholung und Freude in knappen Mußestunden" 46 konnten aber, dieser Eindruck drängt sich auf, kaum ohne schlechtes Gewissen und nur mit großer Bildungsbeflissenheit propagiert werden.
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Hinterwaldner: Wegweiser (1889), S. III. Vgl. Schilling: Hand- und Lehrbuch, I (1859), S. X; Vogel: Das Mikroskop (1867), S.3f. Eger: Der Naturalien-Sammler (41876), S. 2. E. L. Taschenberg: Was da kriecht (1861), S. 3. Dammer (Hg.): Der Naturfreund (o.J./1885), S. 349. Knauer: Vergangenheit (1907), S. 180f. Zitate des Tritonforschers W. Woltersdorff ebenda, S. 181.
6. Expansion und Marktorientierung
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Abbildung 13: Das Aquarium als Gesellschaftsereignis in den 1850er Jahren, aus Roßmäßlers Schrift Das Süßwasser-Aquarium.
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V. Der literarische Markt
Abbildung 14: Anleitung zum Mikroskopieren und zum Verständnis mikroskopischer Geräte von 1854.
VI. Die populärwissenschaftliche Publizistik 1. Der Zeitschriftenmarkt und die Naturkunde Mehr noch als die Buchproduktion verdeutlicht der Zeitschriftensektor die Dynamik und Vielfalt öffentlicher Kommunikation unter den Bedingungen einer kapitalistischen Marktgesellschaft. Schon die quantitative Steigerung ist eindrucksvoll. Nach ersten Anfängen im 17. Jahrhundert entwickelt sich die Zeitschrift bereits im 18. Jahrhundert zum paradigmatischen Medium für den wissenschaftlichen Austausch und das kritische Räsonnement. Werden um 1700 ca. 60 Zeitschriften in Deutschland herausgegeben, so sind es 1780 bereits über 700. Auch für 1848 ist eine Zahl von nahezu 700 belegt, die bis 1875 aber auf über 1960 steigt.1 Analog zur Buchproduktion ist der publizistische Bereich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durch eine ungeheure Expansion und thematische Auffächerung gekennzeichnet. 2 Bis 1914 nimmt die Zahl der Zeitschriften in Deutschland auf ca. 6420 zu, das ist gegenüber dem Dreikaiserjahr eine Zunahme von 115%, im Vergleich zu 1826 gar von 1631%. 3 Darunter fallen Fachzeitschriften, Illustrierte und Hobbyblätter ebenso wie Verbandsorgane, politische oder Sportzeitschriften. Ähnlich ausgreifend ist die Entwicklung der Zeitungspresse. Um 1850 gibt es im deutschsprachigen Raum ca. 1500 Zeitungen, am Ende der 1870er Jahre allein im Deutschen Reich ca. 2400, und 1914 sind es über 4200; fast die Hälfte dieser Zeitungen entsteht zwischen 1870 und 1900. Die durchschnittliche Auflage bewegt sich 1885 bei 2 600 Exemplaren, 1906 schon bei über 6130.4 Naturwissenschaftliche Zeitschriften wurden im Untersuchungszeitraum zu einem festen Bestandteil der Publizistik und differenzierten sich zwischen rein wissenschaftlichen Organen, bibliographisch orientierten Repertorien, referierenden Jahrbüchern und populär-naturkundlichen 1
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Hier nach Lorenz: Die Entwicklung (1936), S.28. Vgl. Hans Bohrmann/Peter Schneider: Zeitschriftenforschung. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Versuch. Berlin 1975. Vgl. Rieger: Die wilhelminische Presse (1957), Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen (1962), S. 238ff.; Koszyk: Deutsche Presse, II (1966), S. 267ff.; Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918,1 (1990), S. 797-811; Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, III (1995), S. 1236-1243. Knappe Zusammenfassungen finden sich bei Wilke: Die periodische Presse (1988); Alfred Estermann: Zeitschriften, in: Glaser (Hg.): Deutsche Literatur, VIII (1982), S. 86-101; Sibylle Obenaus: Literarische und politische Zeitschriften 1830-1848. Stuttgart 1986; dies.: Literarische und politische Zeitschriften 1848-1880. Stuttgart 1987. Lorenz: Die Entwicklung (1936), S. 28,33. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918,1 (1990), S. 798.
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VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
Zeitschriften. 5 Wiederum sind die vorliegenden Statistiken zweifelhaft. Man wird aber davon ausgehen können, daß die naturwissenschaftlichen Zeitschriften an der gesamten publizistischen Produktion 1850 einen Anteil von ca. 4,5%, 1887 von etwa 4,9% und 1914 von ca. 3,5% besaßen. 6 Der Aufschwung der naturwissenschaftlichen Zeitschriften lag in diesem Zeitraum über der Anstiegsrate der Gesamtpublizistik. Die meisten Gründungen allgemeiner naturwissenschaftlicher Zeitschriften erlebten die Jahrzehnte zwischen 1840 und 1880 mit einem Höhepunkt in der nachrevolutionären Dekade. Das Vorkriegsjahrzehnt brachte hingegen einen deutlichen Umbruch, in dessen Folge zahlreiche ältere Periodika eingestellt wurden. 7 Nach 1848 gewann die naturwissenschaftliche Berichterstattung zudem einen Platz in den nichtwissenschaftlichen Medien. 8 1856 faßte die Zeitschrift Die Natur die Entwicklung des vorangegangenen Jahrzehnts zusammen: „Politische Zeitungen, belletristische Blätter, Modejournale, selbst religiöse und technische Zeitschriften öffneten bereitwillig ihre Spalten der Naturwissenschaft, um der neuen Concurrenz auf dem literarischen Markte Stich zu halten." 9 Diese Beobachtung wird bestätigt durch einen deutlich wachsenden Anteil naturwissenschaftlicher Berichterstattung in enzyklopädisch angelegten Werken wie der Gegenwart,10 in politisch-kulturellen Zeitschriften wie den Grenzboten, dem Jahrhundert und dem Phönix, den Jahrbüchern für Politik und Literatur und nach 1874 der Deutschen Rundschau. Nicht zuletzt erhoben die unterhaltenden Familienzeitschriften wie die Gartenlaube seit 1853, Westermann's Monatshefte seit 1856, Über Land und Meer seit 1858 und auch das konservative Daheim seit 1865 naturkundliche Beiträge zum festen Bestandteil des redaktionellen 5
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Den besten Überblick zur naturwissenschaftlichen Publizistik bietet noch immer Hollmann: Die Zeitschriften (1937). Vgl. daneben Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen (1962), S. 112-114,191-194,304f.; Dreihundert Jahre naturwissenschaftlich-technische Zeitschrift. Katalog zur Ausstellung in der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek von Gerhard Haas, Wolfgang Rhodius und HansUlrich Schenker. Frankfurt/M. 1978; im internationalen Zusammenhang Bernard Houghton: Scientific Periodicals. Their Historical Development, Characteristics and Control. London 1975; Meadows (Ed.): Development of Science Publishing (1980). Lorenz: Die Entwicklung (1936), S.47. Vgl. Georg Luck: Die deutsche Fachpresse. Eine volkswirtschaftliche Studie. Tübingen 1908, S. 10,18. Hollmann: Die Zeitschriften (1937), S. 59,117f. 120. Angesichts mangelnder Forschungen zur redaktionellen Stoffverteilung in den deutschen Zeitschriften lassen sich hier noch keine quantifizierbare Aussagen treffen. Zum folgenden auch Daum: Un pays (1997). Die Natur 5 (1856), S. 31. Herbert K. P. Krause: Die Gegenwart. Eine enzyklopädische Darstellung der neuesten Zeitgeschichte für alle Stände. Leipzig, F. A. Brockhaus. 1848-1856. Untersuchung über den deutschen Liberalismus. Phil. Diss. Berlin 1936 (Druck: Saalfeld 1936), S. 36-38,66-71.
1. Zeitschriftenmarkt und Naturkunde
339
Programms. 11 Dies ist für die Breitenwirkung um so entscheidender, als den Familienzeitschriften der Durchbruch zur Massenpresse gelang. Die enorme Auflage der Gartenlaube mit dem Gipfelpunkt bei 382000 Exemplaren 1875 wurde indes vor der Phase der großen Illustrierten am Jahrhundertende von keiner anderen Zeitschrift erreicht. 12 Die Popularisierung der Naturwissenschaften bildete für die Gartenlaube sogar einen entscheidenden Gründungsimpuls. Als der Verleger Ernst Keil während einer mehrmonatigen Haftstrafe den publizistischen Plan der Zeitschrift entwarf, setzte er die populäre Behandlung der Naturwissenschaften an zentrale Stelle. 13 Die Redaktion bezeichnete die Gartenlaube im Rückblick zutreffend als „Organ der Volksaufklärung auf naturwissenschaftlichem Gebiete" 14 . Diese Rolle konnte sie seit 1853 auch deshalb wahrnehmen, weil Keil drei der beliebtesten Naturkundeautoren seiner Zeit für die Gartenlaube gewann: Alfred Brehm, Roßmäßler und den medizinischen Volksaufklärer Carl Ernst Bock. Die Gartenlaube setzte auf eine anschaulich-narrative Berichterstattung zu naturkundlichen Fragen und bot der vermenschlichenden Tierseelenkunde ein breites Podium. Gewissermaßen am anderen Ende des nichtwissenschaftlichen Zeitschriftenspektrums konzentrierte sich die Deutsche Rundschau als wichtigstes kulturelles Organ des deutschen Bürgertums im neuen Nationalstaat 15 11
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Vgl. Kirschstein: Die Familienzeitschrift (1936/37), Barth: Zeitschrift (1974) sowie Mann: Die Familienzeitschrift (1952) zur Zeitschrift Über Land und Meer. Speziell zur Gartenlaube noch immer am wichtigsten der Rückblick von Feißkohl: Ernst Keils publizistische Wirksamkeit (1914). Kinzel: Die Zeitschrift (1993) vertritt die These, daß die Wissenspräsentation der Familienzeitschriften in der Tradition der alten Ökonomik gestanden und immer auf die Perspektive des Hauses bezogen gewesen sei. Barth: Zeitschrift (1974), S.437; Rarisch: Industrialisierung (1976), S. 58. Zur Verbreitung populärer Bilder von Wissenschaft in auflagenstarken Zeitschriften vgl. für die USA im 20. Jahrhundert LaFolette: Making Science (1990). Feißkohl: Ernst Keils publizistische Wirksamkeit (1914), S. 66-68. Vgl. Kirschstein: Die Familienzeitschrift (1937), S.60f., 82f., 136 und Barth: Zeitschrift (1974), S. 181-184, 214ff„ 238f., 271, 306, nach dessen Themenanalyse die Naturwissenschaften an fünfter Stelle der Sachbereiche hinter Belletristik, Geschichte, Biographie und Länderkunde rangierten. Ludwig Deibel: „Die Gartenlaube". Eine Kritik. München 1879 zielte zu einem beträchtlichen Teil auf die naturwissenschaftliche Ausrichtung der Familienzeitschrift. Die Gartenlaube 50 (1902), S. 11. Zum Typus der Rundschau-Zeitschriften Harry Pross: Literatur und Politik. Geschichte und Programme der politisch-literarischen Zeitschriften im deutschen Sprachgebiet seit 1870. Ölten, Freiburg i.B. 1963, S. 28^15,149-152; Hans-Wolfgang Wolter: Die Deutsche Rundschau, in: Heinz-Dietrich Fischer (Hg.): Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts. Pullach 1973, S. 183-200; Rüdiger vom Bruch: Kunst- und Kulturkritik in führenden bildungsbürgerlichen Zeitschriften des Kaiserreichs, in: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft (1983), S. 313-347; Karl Ulrich Syndram: Kulturpublizistik und nationales Selbstverständnis. Berlin 1989, S. 43-57.
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VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
darauf, programmatische Gelehrtenaufsätze und Berichte zu großen wissenschaftlichen Unternehmungen und Streitfragen abzudrucken. Dazu gewann die deutsche Kulturrevue prominente Lehrstuhlinhaber, z.B. Du Bois-Reymond, 16 Haeckel und dessen Gegner Reinke, den Botaniker Ferdinand Cohn, Friedrich Ratzel und Wilhelm Wundt. Herausgeber Julius Rodenberg war bereits bei der Gründung von dem Erzähler Berthold Auerbach, der über gute Kontakte zu Wissenschaftlerkreisen verfügte, dem Physiologen Adolf Fick und Hermann Helmholtz beraten worden. 17 Die „Elite der deutschen schönen Literatur mit der Elite der deutschen Wissenschaft zu gemeinsamer Arbeit" 18 zusammenzuführen, das war das publizistische Leitmotiv; es stand ganz in der Tradition, nicht ,zwei Kulturen' aufzuspalten. Vergleicht man diesen Anspruch mit den praxisnahen, erzählerischen Berichten der Gartenlaube, so zeichnet sich im Ergebnis ein arbeitsteilige und komplementäres Bemühen ab, die Naturwissenschaften in das kulturelle Leben Deutschlands zu integrieren. Ein Beobachter hatte nicht Unrecht, als er 1857 in den Naturwissenschaften den neuen „Modeartikel" der deutschen Zeitschriftenlandschaft erkannte. 19 Die Zeitschrift wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum schlechthin typischen Medium der naturkundlichen Popularisierung. 20 Aus der Erscheinungsdauer der populärwissenschaftlichen Zeitschriften, ihrem Entstehen und Eingehen formen sich gewissermaßen geologische Schichten der Popularisierungsgeschichte mit prägnanten Leitfossilien. Die behandelten Zeitschriften sind in Tabelle 9 in chronologischer Reihenfolge aufgeführt. 21 16 17 18 19 20
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Hierzu die Briefe Rodenbergs an Du Bois-Reymond, SB Berlin, Haus 2, Sammlung Darmstaedter, 211870 (12). [Julius Rodenberg:] Die Begründung der Deutschen Rundschau, in: Deutsche Rundschau 101 (1899), S. 1-39, hier S. 5-8,15,17,32. An unsere Leser, in: Deutsche Rundschau 41 (1884), S. II. Reclam: Die Aufgabe (1857), S. 162. Die Geschichte der populärwissenschaftlichen Publizistik im 19. Jahrhundert ist noch ungeschrieben, vgl. hier Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969); Hollmann: Die Zeitschriften (1937), S. 12-15, 32, 38-40, 46f, 62-77, 97f.; nur knapp dagegen Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen, II (1962), S. 192; für das Jahrbuch ,Das neue Universum' Päsch: Von den Marskanälen (1981). Ungleich intensiver ist die Problematik in England und den USA aufgegriffen worden, siehe nur Whalen/Tobin: Periodicals (1980), Terra Ziporyn: Disease in the Populär American Press. The Case of Diphteria, Typhoid Fever, and Syphilis, 1870-1920. New York et al. 1988, S.18ff.; LaFolette: Making Science (1990), Sheets-Pyenson: Populär Science Periodicals (1985); für Frankreich La science pour tous (1990), S. 71-95. Populärmedizinische und -technische Zeitschriften, die pädagogisch-naturkundliche und die auf spezielle Interessengebiete konzentrierte Publizistik - z.B. der Entomologen, Zoologen oder Tierschützer - bleibt ausgespart. Auch so ergibt sich eine materiale Fülle von 35 Organen, die im ganzen ca. 500 Jahrgänge umfaßt. Methodisch erfordert die Auswahl der Zeitschriften unterschiedliche Stra-
1. Zeitschriftenmarkt und Naturkunde
341
Die populärwissenschaftliche Zeitschrift läßt sich idealtypisch als eine periodische Veröffentlichung beschreiben, deren Konzeption von der Idee der Popularisierung naturwissenschaftlicher Kenntnisse geleitet ist, d.h. auch: die ausdrücklich die Problematik einer solchen Vermittlungsaufgabe thematisiert, etwa in Leitartikeln und Rezensionen, und die über personelle, organisatorische oder thematische Bezüge mit anderen popularisierenden Medien und Institutionen, z.B. Vereinen und Bildungsinstitutionen, verbunden ist. Sie deckt tendenziell das gesamte naturwissenschaftliche Spektrum ab und bemüht sich um direkte Kommunikation mit dem Lesepublikum, z.B. durch Einrichtung von Fragekästen, den Abdruck von Leserbriefen und die Ausschreibung von Preisaufgaben oder Prämien. Ausgehend von diesem Verständnis sollen fünf publizistische Typen unterschieden werden, die auch in Tabelle 9 nochmals genannt sind: - Sechs Periodika können in einer ersten Kategorie (A) als universal-populärwissenschaftliche Zeitschriften zusammengefaßt werden: Die Natur, Natur und Offenbarung, Aus der Heimath, Gaea, Humboldt und die Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Sie wurden zwischen 1852 und 1887 gegründet und zählten zu den langlebigsten und in der zeitgenössischen Bildungsdiskussion am meisten berücksichtigten Organen. - Eine zweite Kategorie (B) erfaßt jene Zeitschriften, die sich in chronologischer Sicht als Nachfolgegeneration mit ähnlicher Zielsetzung, aber entschieden modernisierter Form präsentierten. Es ist der Typus des naturkundlichen Magazins, das den Charakter einer populärwissenschaftlichen Illustrierten trug und nach 1900 neue verlegerische und publizistische Impulse aufnahm. Das naturkundliche Magazin war handlich aufgemacht, reich bebildert mit einem wachsenden Anteil von Photos, es zielte auf Massenauflage, nutzte die Möglichkeiten einer Buchgesellschaft oder einer überregionalen naturkundlichen Gesellschaft zum Vertrieb und bemühte sich offensiv um die Anwerbung von Lesern.22 - Unter (C) können normal-populärwissenschaftliche Zeitschriften 23 zusammengefaßt werden. Diese Organe orientierten sich an dem beschriebenen Idealtypus, tendierten aber häufiger zur Wissenschaftsberichterstat-
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tegien. Nur selten führen zeitgenössische Bibliographien gesondert populärwissenschaftliche Zeitschriften auf, ungewöhnlich daher die Systematisierung im Handwörterbuch der Zoologie (1887), S.XII und in Sperlings ZeitschriftenAdressbuch (1914), das populärwissenschaftliche Zeitschriften mit einem besonderen Zeichen markiert. Das Titelattribut populär oder seine Varianten ermöglichen eine Eingrenzung anhand von Kirchner: Bibliographie, II-IV (1977-1989) und des Gesamtverzeichnisses des deutschen Schrifttums. Am ertragreichsten erweist sich die Durchsicht der Rezensionsteile und Verlagsanzeigen der bereits bekannten Zeitschriften. Die Zeitschriften Natur und Kultur, Kosmos/Handweiser, Aus der Natur, Unsere Welt, Natur und Stein der Weisen sind die wichtigsten Beispiele. Eine sicher nicht ganz glückliche Bezeichnung, die hier vor allem beschreiben soll, daß der Anspruch hinter den universalen Periodika zurückblieb.
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VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
tung oder umgekehrt zur narrativen Populärprosa. Die normal-populärwissenschaftlichen Zeitschriften konnten aufgrund ihrer kürzeren Lebensdauer, einer mangelnden redaktionellen Ausstattung oder des Fehlens meinungsführender Journalisten nicht ähnliche Leitfunktionen wie die unter (A) genannten Journale wahrnehmen. 24 - Eine vierte Kategorie (D) umfaßt die sektoralen populärwissenschaftlichen Zeitschriften, deren Ambitionen nur einem oder wenigen Wissensgebieten galten, wobei die Astronomie besondere Vorliebe genoß. Ausgewählt wurden hier Sirius, Himmel und Erde und Das Weltall (1900ff.). - Schließlich werden unter (E) amateurwissenschaftliche Praxiszeitschrift e n g e n a n n t , d a r u n t e r Isis, Natur und Haus, Nerthus u n d Mikrokosmos.
Sie
zielten auf die praktischen Informationsbedürfnisse der Hobbyforscher, gaben Rat und Anleitung zur naturkundlichen Selbstbeschäftigung und lösten den Blick weitgehend von der Meßlatte akademischer Erkenntnisproduktion.
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Zu diesem weitgefaßten Zwischenspektrum gehörten Die begriffene Welt, Das Weltall 1854, Natur und Kunst, Die Welt, Kosmos/Naturwissenschaften, Mittheilungen aus der Werkstätte der Natur bzw. Aus allen Reichen der Natur, Der Naturforscher, Kosmos/Weltanschauung, Der Naturhistoriker, Naturwissenschaftliche Rundschau, Jahrbuch der Naturwissenschaften, Der Naturwissenschaftler, Der Naturfreund, Prometheus, Natur und Glaube und Neue Weltanschauung.
1. Zeitschriftenmarkt und Naturkunde
343
Tabelle 9: Naturkundliche Zeitschriften seit 1849 Erscheinungsdauer
Typologie
Titel
1849
C A
Die begriffene Welt Die Natur (1902 aufgegangen in Naturwissenschaftlicher Wochenschrift) Das Weltall Natur und Kunst Die Welt Natur und Offenbarung Kosmos. Zeitschrift für angewandte Naturwissenschaften Mittheilungen aus der Werkstätte der Natur, im 2. Jg. als: Aus allen Reichen der Natur Aus der Heimath Gaea (1910 aufgegangen in Naturwissenschaftliche Rundschau) Sirius Der Naturforscher (1886/87 aufgegangen in Naturwissenschaftliche Rundschau) Isis. Zeitschrift für alle naturwissenschaftlichen Liebhabereien Kosmos. Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung auf Grund der Entwicklungslehre (1887 aufgegangen in Humboldt) Der Naturhistoriker Humboldt (1891 aufgegangen in Naturwissenschaftlicher Rundschau) Jahrbuch der Naturwissenschaften Naturwissenschaftliche Rundschau Der Naturwissenschaftler (1888 aufgegangen in Naturwissenschaftlicher Wochenschrift) Naturwissenschaftliche Wochenschrift Himmel und Erde Der Naturfreund Prometheus Natur und Haus (1909 aufgegangen in Blätter für Aquarien- und Terrarienkunde) Natur und Glaube (Jahrgangszählung ab 1898, 1907 aufgegangen in Natur und Kultur) Nerthus (1905 aufgegangen in Natur und Haus) Das Weltall Natur und Kultur Kosmos. Naturwissenschaftliches Literaturblatt, Untertitel seit 1905: Handweiser für Naturfreunde Aus der Natur Mikrokosmos Neue Weltanschauung Unsere Welt Natur Der Stein der Weisen
1852-1902 1854 1854-1855 1855-1857 1855-1910 1857-1860 1858-1859
C C C A C C
1859-1866 1865-1909
A A
1868ff. 1868-1888
D C
1876-1889
E
1877-1886
C
1879-1886 1882-1890
C A
1885/6ff. 1886-1912 1887-1888
C C C
1887ff. 1889ff. 1890-1892 1890ff 1892-1909
A D C C E
1897-1906
C
1899-1905 1900ff. 1903ff. 1904ff.
E D B B
1905ff. 1907ff. 1908-1914 1909ff. 1910ff. 1914-15
B E C B B B
Genaue bibliographische Angaben enthält das Quellenverzeichnis. ff. = über 1914 hinaus
344
VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
2. Die Anfänge bis zur Neuen Ära „Eine Brücke zu schlagen über die Kluft zwischen der großen Lesewelt und den Gelehrten, eine breite bequeme Straße empor zu bahnen zu den Höhen der Wissenschaft und den lebenzeugenden Funken der Erkenntniß herabzubringen zu den gewöhnlichen Menschenkindern: das ist die Absicht, welche diese Blätter ins Dasein ruft, das ist der Zweck, welchen sie zu erreichen hoffen, indem sie die Wissenschaft zum Gegenstande der Unterhaltung machen." Die begriffene Welt. Blätter für wissenschaftliche Unterhaltung 1 (1849), S. 1.
a) Kurzlebige Vorreiter Ein erster Plan für eine populär-naturkundliche Zeitschrift stammt aus der frühen Restaurationsphase. Zwischen 1816 und 1818 spielte der Verleger Johann Friedrich Cotta mit dem Gedanken, eine naturkundliche Beilage zu seinem Morgenblatt für gebildete Stände zu schaffen, um die Wissen-
schaft „ins Leben und fürs Leben" zu bringen und ihre Forschungen „schnell und in verständlicher Sprache" zu verbreiten. 1 Cotta ersuchte zur Realisierung den Botaniker Nees von Esenbeck, der 1818 Präsident der Gelehrtenakademie Leopoldina wurde. Nees plädierte dafür, aus Fachabhandlungen das Allgemeinverständliche und Belehrende „populärer, ohne unwißenschaftlich zu werden, bekannt [zu] machen"; mit dem Publikum des Morgenblatts könne man nicht „seicht oder oberflächlich reden." 2 Der Cottaschen Redaktionsleiterin erschienen dagegen die von Nees eingesandten Manuskripte als zu weitschweifig und zu wisenschaftlich; das Publikum sei „auf Layen berechnet, und diese wollen nur kurze Lehrstunden, und mehr Thatsachen, Fragmente, wie Theorien." 3 Das Vorhaben Cottas scheiterte schließlich aus persönlichen und technischen Gründen, aber auch deshalb, weil die „Ansichten von Popularität" 4 bei Nees und dem Publikumsverleger erheblich voneinander abwichen. Die enzyklopädisch angelegte Zeitschrift Isis des GDNA-Gründers Lorenz Oken, die von 1817-1848 erschien, verstand sich nicht ausdrücklich
1 2 3 4
Johann Friedrich Cotta an Goethe 26.9.1816, zitiert nach Kuhn: Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck (1975), S. 70. Nees von Esenbeck an Cotta 16.8.1816 und 27.12.1817, zitiert ebenda, S. 73,79. Therese Huber an Nees von Esenbeck 18.12.1817, zitiert ebenda, S. 78. Nees von Esenbeck an Cotta 1.3.1818, zitiert ebenda, S. 84. Zum Scheitern des Vorhabens trugen auch eine lange Abwesenheit und anderweitige Inanspruchnahmen Cottas, Nees' Berufung zum Präsidenten der Leopoldina und Kontroversen um die Honorare bei.
2. Anfänge bis zur Neuen Ära
345
als ein popularisierendes Organ. 5 Nach 1823 fungierte Isis aber als zusätzliches Scharnier zwischen den Versammlungen der GDNA und der Öffentlichkeit, indem sie ausführlich die Tagungsberichte wiedergab. Das Jahrbuch zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse, das einmalig 1831 erschien, ließ dagegen einen erweiterten Öffentlichkeitsbezug vermissen. Es diente zu wissenschaftlichen Berichten über die lokalen Forschungen des Physikalischen Vereins in Frankfurt am Main. Eine Zwischenstellung nahm die Allgemeine deutsche Naturhistorische Zeitung ein, die zunächst 1846-1847, dann in Neuer Folge 1855-1857 von der in Dresden ansässigen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft Isis herausgegeben wurde. Sie diente als Vereinsblatt, wurde aber im gesamten deutschen Sprachgebiet und im Ausland bezogen.6 Die Allgemeine deutsche naturhistorische Zeitung bevorzugte Akademieberichte und enzyklopädisch-systematische Tierbeschreibungen mit umfangreichen taxonomischen Erläuterungen; sie bekannte sich zu einer entschieden wissenschaftlichen Ausrichtung.7 Gleichwohl engagierte die Zeitung Autoren wie Roßmäßler, Alfred Brehm und dessen Vater Christian Ludwig Brehm, die durch popularisierende Aktivitäten hervortraten, und sie ließ der Reflexion über das öffentliche Auftreten der Naturwissenschaften Raum. 8 Im Übergang von der Revolution zur Reaktion wurde erstmals in Deutschland eine Zeitschrift zum Zweck naturwissenschaftlicher Popularisierung ins Leben gerufen: Die begriffene Welt. Blätter für wissenschaftliche Unterhaltung 1849. Die Redaktion lag bei dem junghegelianischen Schriftsteller Wilhelm Jordan, der als Demokrat in die deutsche Nationalversammlung gewählt worden war, sich aber in Zusammenhang mit der Polenfrage der Rechten zuwandte. Die verlegerische Betreuung übernahm Otto Wigand. Wigand zählte seit dem Vormärz zu den herausragenden Vertretern des fortschrittlichen Bürgertums. Er verlegte die Junghegelianer, allen voran Ludwig Feuerbach und Arnold Rüge, und betreute deren bevorzugtes Publikationsorgan, die Hallischen Jahrbücher, die 1841 verboten, bis 1843 aber noch als Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst fortgesetzt wurden. 9 Wigand gab nach 1848 unter anderem naturwissenschaftliche Werke von Hermann Burmeister, Heribert Rau und Roßmäßler heraus. Die begriffene Welt spiegelte für ein knappes Jahr das Bild moderner Naturwissenschaft als einer omnipotenten Erklärungsmacht. Die Zeitschrift 5 6 7 8 9
Degen: Lorenz Oken (1955), G. A. Kertesz: Notes on Isis von Oken, 1817-1848, in: Isis 77 (1986), S. 497-503. Allgemeine deutsche Naturhistorische Zeitung N.F. 2 (1856), S. III. Allgemeine deutsche Naturhistorische Zeitung 1 (1846), S. 201, Anmerkung. Vgl. Allgemeine deutsche Naturhistorische Zeitung N.F. 2 (1856), S. IV. Sachse: Ueber naturhistorische Volksschriften (1846) und ders.: Welches sind die Aufgaben (1847). Vgl. Wiegel: Otto Wigand (1965) und Eßbach: Die Junghegelianer (1988).
346
VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
setzte sich entschieden von naturphilosophischer Spekulation und Sprache ab. Sie verwarf alle außernatürlichen Deutungsansätze und setzte an deren Stelle die „beobachtende und experimentelle Forschung", welche „die Dinge in ihre Bestandtheile, die Erscheinungen in ihre Ursachen zerlegt, die Wesen in ihrem Werden aus einem Andern, Früheren beobachtet" 10 . Die Faszination für einen rückhaltlosen Empirismus, den Entwicklungsgedanken und die mechanistische Erklärungsweise ließ Die begriffene Welt den Bogen von den Infusorien bis zur Kometenbeobachtung spannen. Bezeichnend war die Behandlung von „Elektrizität und Lebenskraft". 11 Die Zeitschrift lehnte die traditionelle Vorstellung von einer vis Vitalis ab und erkannte in der elektrischen Kraft den Schlüssel zum Verständnis natürlicher Mechanik. Nerven erschienen ihr wie Drähte, der Organismus als ein Telegraphensystem. Am gedanklichen Horizont der Begriffenen Welt zeichnete sich die Vorstellung vom menschlichen Körper als einer Art galvanische Säule ab. Zugleich lenkte die Zeitschrift ihr naturwissenschaftliches Anliegen entschieden in den öffentlichen Raum. Es gelte, die „Kluft zwischen den Gebildeten und der Masse des Volks" zu überwinden und dem „Bedürfniß des Publikums" Rechnung zu tragen. Damit waren die eigene Funktion als „Cicerone" und „Neuigkeitsbote"12 in der Welt der Wissenschaften umrissen und eine Legitimationsrhetorik angeschlagen, welche die spätere Publizistik bis 1914 verwenden sollte. Ihr Pathos wurde aber von der Realität immer wieder eingeholt. Auch Die begriffene Welt mußte bereits nach der 24. Nummer wegen mangelnder Nachfrage eine längere Pause einlegen und stellte das Erscheinen nach 48 Nummern ein.
b) Die Natur als Klassiker seit 1852 Angesichts des baldigen Scheiterns der Begriffenen Welt konnte die 1852 gegründete Zeitung zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntniß und Naturanschauung für Leser aller Stände, im Haupttitel: Die Natur, später zu Recht in Anspruch nehmen, die populär-naturwissenschaftliche Publizistik in Deutschland begründet zu haben.13 Die ungewöhnlich lange Lebensdauer von einem halben Jahrhundert machte Die Natur zum Klassiker und unerreichten Vorbild auf dem Zeitschriftenmarkt.
10 11 12 13
Die begriffene Welt 1 (1849), S. 174. Ebenda, S. 30f., 33-36, hier S. 35. Zur Abwehr der alten Lehre von der Lebenskraft siehe ebenda S. 65-67,69f. et passim. Zitate in der angegebenen Reihenfolge ebenda, S. 99,43,5. Die Natur 23 (1874), S.393; K. Müller: Otto Ule (1876), S.4311; ders.: Unser Jubiläum (1877), S. lf.
2. Anfänge bis zur Neuen Ära
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Die Initiative war von dem freiprotestantischen Verleger Gustav Schwetschke und dem Botaniker Karl Müller in Halle ausgegangen. 14 Müller zog den Lichtfreund Otto Ule hinzu, der nach seinen Vorlesungen über Humboldts Kosmos und seinem Engagement auf demokratischer Seite 1848 in die Fortbildungsschule des liberalen Pastors Hildenhagen bei Halle eingetreten war, um bald darauf in die Saalestadt überzusiedeln. Ule bemühte sich erfolgreich darum, Roßmäßler zur Mitarbeit zu bewegen. Der Zoologe war schon 1851 von Freunden zur Gründung einer Zeitschrift angeregt worden. Roßmäßler entwarf sogar das eindrucksvolle Titelbild von Die Natur und wurde trotz innerredaktioneller Bedenken für zwei Jahre offiziell als Mitherausgeber genannt. 15 Die Trennung Roßmäßlers von der Hallischen Zeitschrift erfolgte 1854 wegen interner Auseinandersetzungen und konzeptioneller Divergenzen. 16 Die Natur griff bei ihrem Erscheinen tief in den Fundus aufklärerischer Metaphorik, die mit der Humboldtschen Einheitsvorstellung und einer freireligiösen Naturapotheose verknüpft wurde. Die Zeitschrift präsentierte eine „lebendige und vernünftige Natur", die von Harmonie und gesetzmäßiger Ordnung durchzogen und in der „Alles lebendig, Alles heilig, Alles göttlich sei" 17 . Daraus leitete Ule den Zweck der Naturwissenschaft ab, die „erleuchten, versöhnen, verklären" solle. Aus dieser freireligiös-pantheistisch geprägten Anschauung heraus wurde auch das Ziel der Zeitschrift definiert: „Menschenbildung im edelsten Sinne des Wortes, Vernichtung des Aberglaubens und aller Vorurtheile durch das Licht der Wissenschaft, Erhebung des Volkslebens, auch in seinen niedrigsten und verachtetsten Kreisen, durch die Erkenntniß des Großen im Kleinen, Heiligung der Natur durch die Weihe geistiger Anschauung, das ward als die Aufgabe
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Otto Ule an E. A. Roßmäßler 4.12.1851 (Löbbecke-Museum, Düsseldorf); K. Müller: Otto Ule (1876), S.431; ders.: Unser Jubiläum (1876), S.2; Taschenberg: Zur Erinnerung (1899), S. 122; Alfred Kirchhoff: Glückauf ins zweite Jahrhundert, in: Die Natur 51 = N.F. 28 (1902), S. 4f., der zu Unrecht Ule als den eigentlichen Vater der Zeitschrift bezeichnet. Ule an Roßmäßler 10.10.1851 (Löbbecke-Museum, Düsseldorf); Roßmäßler: Abschied (1866), Sp.403f. Eine Flucht Roßmäßlers war wegen der Unsicherheit der Rechtszustände in Sachsen nicht auszuschließen und hätte nachteilige Folgen für Die Natur haben können, so O. Ule an Roßmäßler 4.12.1851 (LöbbeckeMuseum, Düsseldorf). Offensichtlich gab es Spannungen zwischen Roßmäßler und Schwetschke, der in der Frankfurter Nationalversammlung die kaiserliche Partei vertreten hatte; Auseinandersetzungen um die Honorarzahlung und um den Abdruck von Roßmäßlers Beiträgen sowie konzeptionelle Unterschiede kamen hinzu. Vgl. O. Ule an Roßmäßler 20.1.1853, 5.2.1853, 19.1.1854, 14.1.1855 sowie K. Müller an Roßmäßler 24.1.1853 (alle Löbbecke-Museum, Düsseldorf); Roßmäßler: Abschied (1866), Sp. 403. O. Ule: Die Aufgabe (1852), S. 3; siehe die gleichlautenden Formulierungen in ders.: Physikalische Bilder, I (1854), S. 18.
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VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
dieser Zeitung bezeichnet, das ist die Aufgabe der Naturwissenschaft selbst."18 Die Natur fühlte sich voll und ganz der „kosmischen Naturwissenschaft" 19 verpflichtet. Das Humboldtsche Bewußtsein, Natur nur als organisches Ganzes wahrnehmen zu können, sollte eine bloß zergliedernde Analyse transzendieren und es ermöglichen, „sich mit künstlerischen Gefühlen zu sättigen und zu einer Natur-Anschauung zu gelangen" 20 . Der im Hallischen Protestantismus verwurzelte Karl Müller versuchte, die Zeitschrift als „Kulturhebel" 21 zur sittlichen Erneuerung des Volkes zu nutzen. Er war bemüht, die „Weihe der Naturwissenschaft" 22 auf deren ethische Kraft zu gründen, wie sie sonst nur in Religion und Kunst anzutreffen sei. Müllers ethische Übersteigerungen wurden selbst von Ule und Roßmäßler mit Skepsis verfolgt und als theologischer Unsinn und Trivialität abgelehnt.23 Allerdings prägten sie Die Natur bis zu deren Ende, nachdem Ule schon 1876 starb und Müller die Zeitschrift noch über zwanzig Jahre weiterführte. Als Willi Ule, der Sohn des Gründerherausgebers, am Ende des Jahrhunderts Die Natur für drei Jahre übernahm, erhob er nochmals die ethische Bedeutung der Naturwissenschaft zur Leitvorstellung des Journals. Knapp fünfzig Jahre nach der Gründung exponierte er wieder die Naturanschauung als Antwort auf ein tiefempfundenes religiöses Bedürfnis: „Wir alle bewundern die Großartigkeit der Natur. Diese Verwunderung flößt uns Ehrfurcht und Achtung vor ihren Werken ein, erregt in uns ein Empfinden, das wir nicht anders als ein religiöses bezeichnen können. Es liegt in der Natur etwas Erhabenes, etwas Göttliches. Wer sich auch noch so erhaben über jedes religiöse Bekenntnis fühlt, im Anblick der allgewaltigen Natur wird er demütig bekennen, daß es doch etwas Höheres, etwas Übermenschliches giebt. Das aber ist die wahre Religion, welche allein aus dem Anschauen der Natur in uns erweckt wird und die um so fester wurzelt, je länger und eingehender wir diese betrachtende mehr sich unsere Kenntnis von der Natur erweitert."24
Von solcher Emphase überwölbt, entfaltete Die Natur den Lesern seit 1852 wöchentlich das gesamte Spektrum natürlicher Erscheinungen. Nicht zuletzt sollte „das Alltägliche, das Gemeine und Unscheinbare" 25 den Stoff zu den Beiträgen liefern. Die Natur sorgte für Aufsätze, die oft in Serien über mehrere Hefte geführt wurden, kleinere Mitteilungen und seit 1856 für Naturwissenschaftliche Literaturblätter mit ausführlichen Rezensionen. Ab 1868 informierten Werbeanzeigen, seit 1869 regelmäßige Litera18 19 20 21 22 23 24 25
O. Ule: Die Aufgabe (1852), S. 4. Die Natur 8 (1859), S. 355. Vgl. K. Müller: Der Deutsche (1861), S. 80. K. Müller: Der Deutsche (1861), S. 80. K.Müller: Otto Ule (1876), S. 431. K. Müller: Die Weihe (1862), S. 1. Vgl. ders.: Luthers Naturanschauung, in: Die Natur 9 (1860), S. 376. O. Ule an Roßmäßler 20.1.1853 (Löbbecke-Museum, Düsseldorf). W. Ule: Naturerkenntnis (1898), S. 13. O. Ule: Was wir bringen werden (1854), S. 2.
2. Anfänge bis zur Neuen Ära
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turberichte über Neuerscheinungen. Neben Überblicksthemen von selten mehr als vier Seiten erschienen Beiträge zu einzelnen Naturerscheinungen. Hinzu kamen Anleitungen für die Praxis, Kurzbiographien von berühmten Naturforschern und in den ersten Jahren sogar Naturgedichte, zumeist von Karl Müller verfaßt.26 Für die Einkleidung „in leichtem, gefälligem Gewände"27 sorgten zahlreiche Illustrationen, eine häufig narrative Präsentation, in der z.B. über einen „Mondscheinspaziergange"28 auf der Oberfläche des Erdtrabanten fabuliert wurde, und Landschaftsbeschreibungen, die atmosphärische Einstimmungen erzeugten. Die Zoologie nahm einen breiten Raum ein, wobei Die Natur sowohl erzählerisch-deskriptive Berichte zu einzelnen Tierarten druckte als auch Beiträge zu spezielleren Themen aus der Vergleichenden Anatomie, der Embryologie und Ökologie. Vereinzelt erschienen sogenannte zoologischkulturgeschichtliche Abhandlungen, z.B. „Der Hering in der Culturgeschichte der Deutschen" oder „Die Verbreitung des Tigers und seine Beziehungen zur Kultur des Menschengeschlechtes"29. Hier wurden tiergeographisch-biologische Beobachtungen auf menschliche Nutzanwendungen und kulturelle Gebräuche bezogen. Nicht zuletzt beteiligte sich Die Natur an der Diskussion um die Tierseelenkunde. Sie neigte dazu, Tiere als denkende, seelisch empfindende Lebewesen vorzustellen und ließ auch den „Schwanz der Thiere als Verkünder ihrer Seelenzustände"30 nicht aus. Das Echo auf Darwins On the Origin of Species war äußerst verhalten. Die wenigen Betrachtungen signalisierten nach 1859 zumeist eine ablehnende Haltung. Als erster thematisierte 1860 der ständige Mitarbeiter Heinrich Bettziech-Beta eher skeptisch die „Darwinsche Species-Theorie"31. Im nächsten Jahrgang fällte der Herausgeber Müller ein vernichtendes Urteil und sprach vom „Chaos widerstreitender Gedanken"32 bei Darwin. Müller verteidigte die Vorstellung von der ursprünglichen Konstanz aller Arten und warf Darwin vor, er rechne mit Millionen von Jahren, so daß er sich ins Unfaßbare verlieren müsse. 1864 gab Müller programmatisch vor, den Darwinismus zu bekämpfen, wo er auch aufzufinden sei.33 Folgerichtig stellte er 1869 seinen Lesern wohlwollend den Neolamarcki26 27 28 29 30 31 32
33
Z.B. das schwärmerische Gedicht „Naturgenuß", in: Die Natur 3 (1854), S. 228. O. Ule: Was wir bringen werden (1854), S. 2. Die Natur 1 (1852),S.U. Die Natur 9 (1860), S.233ff., hier vor allem S. 269-272; Die Natur 14 (1865), S. 316ff. Die Natur 13 (1864), S. 201-203. Für die Beliebtheit des Themas spricht, daß der gleiche Aufsatz nochmals veröffentlicht wurde, in: AdH 8 (1866), Sp. 285-288. Die Natur 9 (1860), S.383£,393f. Karl Müller: Darwins Schöpfungslehre, in: Die Natur 10 (1861), S. 364-366, 371-373, 375-378, 383-386, 391-394, hier S.385. Skeptisch zu dieser Zeit auch noch Otto Ule: Die menschenähnlichen Affen, in: Die Natur 14 (1865), S. 332ff. Die Natur 13 (1864), S.7. In Die Natur 27 = NF. 4 (1878), S. 10 bezeichnete sich Müller konsequent als „Nicht-Darwinianer".
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VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
sten Moritz Wagner mit dessen Migrationstheorie vor.34 Erst ein Jahr zuvor hatte Die Natur den ersten zustimmenden Beitrag zur darwinistischen Theorie aus der Feder Friedrich Ratzels, der wiederholt in der Zeitschrift schrieb, veröffentlicht. 35 Noch 1891 sah Ernst Krause in Die Natur ein dem darwinistischen Gedanken seit jeher feindliches Blatt.36 Bereits 1861 modifizierten die Herausgeber ihre ursprüngliche Konzeption. Weiterhin sollte das Bedürfnis nach übersichtlicher Belehrung befriedigt werden. Aber „ernstere Seiten unserer Wissenschaft" traten „mahnend" hervor. Das „mühelose Genießen der Früchte der Wissenschaft, jenes schmetterlingsartige Herumschweifen durch ihre Gebiete" 37 führe leicht zu Oberflächlichkeit. Es müsse zurücktreten, um die Leser auch an den rein wissenschaftlichen Forschungsergebnissen teilhaben zu lassen. Die Herausgeber beriefen sich dabei auch auf den Wandel der Rezipienten, unter denen inzwischen ein mehr wissenschaftliches Publikum gegenüber den bloßen Freunden und Liebhabern der Natur dominiere.38 In diesem Sinne leiteten die Herausgeber 1875 eine Neue Folge der Zeitschrift ein. Format und typographische Gestaltung wurden erneuert, der Preis angehoben 39 , das inhaltliche Angebot systematisiert und stark erweitert. Die aktuelle naturwissenschaftliche Berichterstattung beanspruchte fortan mehr Raum. 40 Die Natur führte eigene Rubriken für wissenschaftliche Anstalten und Sammlungen, Reisen und den Waldschutz ein, sie nahm ein ,Totenbuch der Naturforscher' und immer differenziertere Mitteilungen über wissenschaftliche Teilgebiete wie Entomologie, Ornithologie oder Ozeanologie auf. Ein eigenes Anzeigenblatt, Wetterkarten und Spalten für Leserzuschriften ergänzten das redaktionelle Spektrum. Auch der Mitarbeiterstab wuchs entsprechend an. Hatten im ersten Jahrgang außer den Herausgebern nur vier fremde Autoren geschrieben, so kamen in den folgenden Jahren regelmäßig über zehn neue Mitarbeiter hinzu, 37 allein 1875.41 Bis zur Jahrhundertwende gelang es der Zeitschrift, ein Großteil der naturkundlichen Publizisten Deutschlands als Autoren zu gewinnen.
34 35
36 37 38 39 40 41
Karl Müller: Das Migrations-Gesetz der Organismen, in: Die Natur 18 (1869), S. 6-S. Vgl. Jahn/Löther/Senglaub: Geschichte (1982), S. 388ff. Ratzel: Ein Beitrag (1868). Vgl. den prodarwinistischen Beitrag von Otto Ule: Anpassung und Nachahmung in der Thierwelt, in: Die Natur 19 (1870), S. 132-134, 137-139, sowie die wiederum abschlägigen Betrachtungen von C. Grandjean, in: Die Natur 20 (1871), S. 377-379,391f„ 399f. Krause an Ernst Haeckel 11.11.1891 (EHH). Die Natur 10 (1861), S.l. Die Natur 23 (1874), S. 393. Von vorher 25 Groschen auf 3, ab 1877 4 Mark für die vierteljährliche Subskription. Vgl. Die Natur 23 (1874), S. 394. K. Müller: Unser Jubiläum (Die Natur 1877), S. 3.
2. Anfänge bis zur Neuen Ära
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1888 zog Müller für fünf Jahre den Oberlehrer Hugo Roedel als Mitherausgeber hinzu. Gleichzeitig wurde eine Rubrik Fortschritte der Naturforschung eingerichtet, die später als Rundschauen bezeichnet wurde. Gesonderte Berichterstatter lieferten fortan Forschungsberichte über systematische Zoologie, Meereskunde, Geophysik oder die Deszendenztheorie. 42 Solche Artikel diskutierten eingehend Forschungsthesen wie die Pangenesis-Theorie Darwins oder die Keimplasma-Vorstellung August Weismanns. Von der narrativen Darstellungsweise der ersten Jahrgänge lösten sie sich vollkommen. Als nach dem Ausscheiden des Gründers Karl Müller 1896 mit Otto Taschenberg ein Experte der zoologischen Bibliographie die Herausgeberschaft der Zeitschrift übernahm, erreichte Die Natur den Höhepunkt wissenschaftlicher Ausrichtung. Taschenberg sorgte dafür, daß erstmals wissenschaftliche Vorträge aus den Versammlungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft und der zoologischen Fachsektion der GDNA, selbst Nomenklaturregeln für Beamte in der Zeitschrift veröffentlicht wurden. 43 Allerdings kehrte Taschenberg nach nur einem Jahr zu seinen bibliographischen Facharbeiten zurück. 44 Daß Willi Ule sein Nachfolger wurde, bedeutete eine Gegenreaktion. Ule knüpfte an die Gründertradition an und führte demonstrativ das alte Titelmotiv wieder ein. Theoretische Abhandlungen und Spezialuntersuchungen schloß er aus. Stattdessen sollte erneut eine leicht faßliche Darstellungsweise bevorzugt werden, die „des poetischen Schwunges" 45 nicht zu entbehren brauche. Willi Ule selbst legte in den beiden nächsten Jahrgängen mehrfach ein Bekenntnis zur Popularisierung der Wissenschaft und zu deren Wert als Gemeingut des Volkes ab.46 Der Rückbezug auf die Bildungsidee der Gründerzeit konnte aber den gewandelten publizistischen Anforderungen nicht genügen. 1902 mußte Die Natur wegen mangelnder Leserschaft kurz nach dem 50jährigen Jubiläum die Verschmelzung mit der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift bekanntgeben. 47
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So Hermann Reeker, Kurt Lampert, Siegmund Günther und Hugo Roedel. Roedel sorgte dreißig Jahre nach dem Paukenschlag Darwins für positive Berichte über den Darwinismus in Die Natur. Die Natur 45 = N.F. 22 (1896), S. 461^164; Die Natur 46 = N.F. 23 (1897), S. 1-3; Die Natur 46 = N.F. 23 (1897), S. 295. Die Natur 46 = N.F. 23 (1897), S. 565-570. Ebenda, S. 577. W. Ule: Was wir wollen (1898), S.l; ders.: Die Wissenschaft (1900), S.145. Vgl. ders.: Naturkenntnis (1898) und ders.: Zur Abwehr (1898). Die Natur 51 = N.F. 28 (1902), S. 109.
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VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
Abbildung 15: In den Veränderungen des Titelbildes der Zeitschrift Die Natur über ein halbes Jahrhunderts hinweg spiegeln sich auch Wandlungen im künstlerischen Verständnis und in der Illustrationstechnik.
2. Anfänge bis zur Neuen Ära
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Abbildung 16: Von naturwissenschaftlichen Instrumenten über geologische Funde bis zum Vulkanberg spannte die Zeitschrift Das Weltall von 1854 ihr Titelbild, ohne auf Alexander von Humboldt zu verzichten.
c) Popularisierungseifer und erste Gründungswelle 1852-1859 Auf die Etablierung von Die Natur folgte eine regelrechte Gründungseuphorie. Bis 1859 wurden sieben weitere vergleichbare Zeitschriften ins Leben gerufen. Ihr Elan, der Naturwissenschaft als „Quell des Genusses, wie der Bildung"48 allgemeine Anerkennung zu verschaffen, stand allerdings in scharfem Kontrast zu der mangelnden wirtschaftlichen Basis; Vertriebsstrukturen und Abnehmerzahlen blieben unzureichend. Nur die katholische Zeitschrift Natur und Offenbarung konnte sich auf Dauer neben Die Natur behaupten. Das Weltall als Zeitschrift für populäre Naturkunde kam 1854 über den ersten Jahrgang nicht hinaus, obwohl die beiden Hallischen Herausgeber Christoph Giebel und Julius Schaller, Professor für Philosophie, kompetente Autoren gewinnen konnten: den Geologen Bernhard Cotta und den Alpenforscher Friedrich von Tschudi ebenso wie den Schulreformer August Lüben und den Jenaer Zoologen Oscar Schmidt, später neben 48
Natur und Kunst 1 (1854), S. 1.
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VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
Haeckel ein Protagonist der darwinistischen Lehre in Deutschland. Dabei präsentierte sich die Zeitschrift im reich ausgeschmückten Titelblatt und in dem redaktionellen Panorama ähnlich wie Die Natur.*9 Auf das praktisch Wichtige und das „Unterhaltende" 50 konzentrierte sich die kurzlebige Natur und Kunst. Zeitschrift für allgemein verständliche und gemeinnützige Mittheilungen aus dem Gebiete der Naturwissenschaft 1854 bis 1855. Die Begeisterung für Zählen, Messen und technische Innovationen wie die Telegraphie und das Mikroskop bestimmten das inhaltliche Profil. Der beträchtliche zoologische Anteil lag weitgehend in den Händen von Alfred und Ludwig Brehm. 51 „Sentimentaler Naturklingklang" und „süßliche Tendenzmacherei" 52 wurden von Natur und Kunst zwar vehement abgelehnt, aber vor der Poetisierung der eigenen Sprache und rhetorischen Leserappellen scheute die Zeitschrift nicht zurück. In der Zeitschrift Die Welt, die zwischen 1855 und 1857 von einem Verein von Gelehrten und Technikern in Berlin herausgegeben wurde, herrschte ein sachlich-belehrender Ton vor. Die überwiegend technischen und physikalischen Themen gingen in die Bewunderung für die „Harmonie der ganzen Schöpfung" ein. Ihr legte Die Welt anders als Die Natur die Vorstellung eines persönlichen Gottes zugrunde. Mit der Lektüre der Zeitschrift eröffnete sich dem Leser das „große Buch der Natur" als göttliche Offenbarung: „Du wirst Dich gehoben fühlen, wenn Du Nummer für Nummer dieses Blattes mit uns durchgehst; mit der Belehrung [...] wirst Du den Hauch Gottes, der in Dir lebt, würdiger erfassen, und wenn Du als ein wirkendes Glied in der unendlichen Kette der Wesen Dich gefunden und die Harmonie der ganzen Schöpfung ahnen gelernt hast, dann wirst Du mit uns anbetend vor D e m niedersinken, der in dem All sich kundgethan und der noch heute in jedem Stäubchen urthätig und wirksam sich zeigt. Wahre Frömmigkeit wird in Dir rege; ein ächtes, religiöses Gefühl überkommt Dich und erfrischt und belebt Dich".53
Die „aufklärende Fackel der Wissenschaft" 54 hielt für drei Jahre auch Kosmos. Zeitschrift für angewandte Naturwissenschaften hoch. Herausgeber Karl Reclam bemühte sich um einen klaren Praxisbezug und forderte energisch, die Naturwissenschaften als Grundlage des öffentlichen und priva-
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Vgl. Giebel an N.N. 7.6.1854 (SB Berlin, Haus 2, Sammlung Darmstaedter, Lc 1855-8) und Die Gartenlaube 1 (1853), S.474. Natur und Kunst 1 (1854), S. 1. Vgl. die Beiträge von Ludwig Brehm, in: Natur und Kunst 1 (1854), S. 307f.; Natur und Kunst 2 (1855), S. 34-36,53-55; und von Alfred Brehm, in: Natur und Kunst 2 (1855), S. 121-123,142f„ 201f., 214t, 219f. Natur und Kunst 1 (1854), S. 120. Zum Problem der Popularität siehe Natur und Kunst 1 (1854), S. 408 und 2 (1855), S. 365 und 183. Die Welt 1 (1855), Vorwort v. 6.10.1855. Kosmos/Naturwissenschaften 1 (1857), Vorwort, S. V.
2. Anfänge bis zur Neuen Ära
355
ten Lebens anzuerkennen. 55 Neben landwirtschaftlichen und technologischen Themen griff Kosmos vor allem die ernährungsphysiologischen Anregungen Moleschotts auf. Zum Ideal wurde eine diätische Norm, die „mit mathematischer Schärfe" 56 dem menschlichen Bedürfnisse entspreche. Den Materialismusstreit beobachtete Reclam distanziert, auch wenn seine Sympathien für Vogt deutlich wurden. 57 Dem Streit um Kraft und Stoff, um die Existenz einer Seele außerhalb des Körperlichen und eine reine naturimmanente Erklärung der Welt konnte und wollte sich die Publizistik aber nicht mehr entziehen. Seit 1857 plante Otto Volger mit dem Frankfurter Verlag Meidinger, Mittheilungen aus der Werkstätte der Natur unter materialistischen Vorzeichen herauszubringen. Das Vorhaben war nicht unumstritten,58 konnte aber schließlich für ein gutes Jahr realisiert werden und sich dabei auf einen prominenten Autorenstab stützen. Neben Ludwig Brehm und seinen Söhnen Alfred und Reinhold hatte Volger u.a. auch Ludwig Büchner, Julius Frauenstädt, Roßmäßler, Karl Vogt und Moritz Willkomm engagieren können. Angesichts der langjährigen Präsenz Roßmäßlers im naturwissenschaftlichen Bildungsbereich konnte es nicht verwundern, daß der Leipziger Naturforscher 1859 mit einer eigenen Zeitschrift an die Öffentlichkeit trat. Aus der Heimath besaß ähnlich wie Die Natur einen universalistischen Zuschnitt und deckte bis hin zu regelmäßigen meteorologischen Tabellen eine immense Themenvielfalt ab. Allerdings ging die Zeitschrift zunehmend in dem spezifischen Zweck auf, Roßmäßlers Idee der Humboldt-Vereine Rückhalt und Resonanz zu verschaffen. Was die Humboldt-Vereine in der Vereinslandschaft anstrebten, unternahm Aus der Heimath parallel dazu im publizistischen Spektrum: als ein naturwissenschaftliches Volksblatt, so der Untertitel, eine konsequent anti-elitäre, demokratische Alternative zu bestehenden Bildungsangeboten zu schaffen. In der alle umfassenden Zugehörigkeit zur Natur könne das „Trennende der Standesunterschiede" 55
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Naturwissenschaft und Leben, in: Kosmos/Naturwissenschaften 1 (1857), S. lf. In diesem Zusammenhang Karl Reclam an Gottfried Kinkel 10.4.1859. (UB Bonn, Handschriftenabteilung, S 2662) und Reclam an Justus von Liebig 3.11.1856, 26.3.1857 und 24.8.1859 (SB München, Liebigiana II.B). Reclam widmete den dritten Jahrgang der Zeitschrift Liebig, nachdem der zweite Jahrgang Alexander von Humboldt dediziert worden war. Das Gesetz des Stoffwechsels im Volksleben, in: Kosmos/Naturwissenschaften 1 (1857), S. 97-99, hier S.99. Vgl. ebenda, S.132ff.; Kosmos/Naturwissenschaften 3 (1859), S. 60ff. K. Reclam: Der heutige Standpunkt des ,Seelenstreits', in: Kosmos/Naturwissenschaften 3 (1859), S. 113-116, mit harter Kritik an Wagners Physiologischen Briefen. Im privaten Brief an Liebig vom 24.8.1859 (SB München, Liebigiana II.B) urteilte Reclam schärfer über den Materialismus. M. A. F. Prestel an Volger 18.12.1857 (FDH, Frankfurt/M.). Jacob Moleschott mußte die Teilnahme wegen Arbeitsüberlastung ablehnen, schlug aber als Autoren unter anderem Karl Vogt und Hermann Burmeister vor, so Moleschott an Volger 23.4.1857 (FDH, Frankfurt/M.)
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VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
überwunden werden. Die mit Pathos vorgetragene, versöhnliche Idee von der Natur als gleichberechtigter Heimat aller Menschen ließ Roßmäßler sogar ausdrücklich auf Distanz zum „häßlichen Krieg zwischen Kirche und Naturwissenschaft" gehen.59 Der Bezugspreis von Aus der Heimath lag überdies um die Hälfte unter dem von Die Natur. Mit Aus der Heimath versuchte Roßmäßler, seine Vorstellung von naturwissenschaftlicher Publizistik zu realisieren, die er zwischen 1852 und 1854 in Die Natur nicht hatte durchsetzen können. Während Karl Müller und Otto Ule „an den Gebildeteren das Werk der Befreiung beginnen" wollten,60 zielte Roßmäßler auf eine voraussetzungslose Volksbildungsarbeit. Damit traf er ein latentes Bedürfnis; um 1860 erschien auch anderen Publizisten Die Natur schon nicht mehr volkstümlich genug.61 An das Schicksal der Humboldt-Vereine und deren strukturelle Mängel gekoppelt, mußte Aus der Heimath indes nach einigen Krisen und einem Verlagswechsel im achten Jahrgang die Segel streichen. Roßmäßlers verbitterte Bilanz, erfolgreicher gewesen zu sein, hätte er „ein mageres Wenig von Belehrung in ein dickes Viel von novellistischem Kram an Schauergeschichten, herzbrechenden Liebesgeschichten, Kriminalgeschichten, illustrirten halsbrechenden Alpenparthien und anderen derlei maulauffsperrenden Gekitzel des lüsternen Lesegaumens"62 gekleidet, war verständlich. Dieses Fazit traf aber nicht die grundsätzliche Problematik, daß Gründungseifer allein nicht ausreichte, um auf einem kompetitiven publizistischen Markt, der finanzielle Solidität und verlegerische Stärke erforderte, bestehen zu können. Daß dieser Markt antagonistische weltanschauliche Positionen zuließ, demonstrierte die Zeitschrift Natur und Offenbarung. Sie wurde auf dem Höhepunkt des Materialismusstreits 1855 als Organ zur Vermittlung zwischen Naturforschung und Glauben von katholischen Publizisten gegründet und hielt sich später mit Unterstützung der Görres-Gesellschaft63 bis 1910. Natur und Offenbarung war eine konfessionelle Milieuzeitschrift, sie erwuchs aus der apologetischen Tradition und versuchte, eine „ächte kirchliche Wissenschaft"64 zu verteidigen. Die Zeitschrift verstand sich als Speerspitze gegen den naturwissenschaftlichen Materialismus, den sie sogar mit dem Revolutionsvorwurf belegte,65 gegen den Atheismus und später auch die darwinistische Lehre. Die Zeitschrift durchzogen entsprechen59 60 61
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AdH 1 (1859), „Unser Ziel" [Vorwort], ohne Paginierung. O. Ule: Roßmäßler (1867), S. 188. Ferdinand Siegmund etwa schlug 1860 Alfred Brehm ein eher volkstümliches „naturhistorisches Journal" vor. Die Natur sei zu teuer, und überhaupt müsse aus dem Ausland „der feine gefällige Ton der Aufsätze, der schöne correcte Stil erst hier eingebürgert werden." Siegmund an Alfred Brehm 29.12.1860 (Brehm-Gedenkstätte, Renthendorf). Roßmäßler: Abschied (1866), Sp. 404. Vgl. NuO 49 (1903), Schluß, S. 777-779, im Heft ohne Paginierung. N u 0 6(1860),S.8. NuO 3 (1857), S. 4.
2. Anfänge bis zur Neuen Ära
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de Polemiken, die sich zunächst auf Büchner, Vogt und Moleschott, später insbesondere auf Haeckel, Ernst Krause und die anthropomorphisierende Tierkunde Brehms kaprizierten. 66 Bei ihrer Gründung empfahl sich Natur und Offenbarung explizit als Gegenpol zu Die Natur.61 Eine „katholische Naturwissenschaft" im öffentlichen Raum als Alternative zum „Popularisiren halb materialistischer unreifer Anschauungen" 68 zu etablieren, erforderte einen ständigen argumentativen Spagat. Natur und Offenbarung akzeptierte einerseits viele Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft und bemühte sich um deren Vermittlung. So konzentrierte man sich anfänglich darauf, die Lehre der Schöpfungstage unter Verzicht auf wörtliche Schriftauslegung mit der modernen Geologie zu vereinbaren. Friedrich Michelis begann bereits im ersten Heft mit einer Serie über die sechs Mosaischen Schöpfungstage und die Geologie, ein Thema, das die folgenden Jahrgänge bestimmte. Andererseits mußte das Journal einem naturwissenschaftlichen Deutungsanspruch, zumal wo er dezidiert im anti-kirchlichen Gewand auftrat, entgegenwirken. Sie sah sich aber auch genötigt, katholische Konservative, die z.B. auf verbal- und konkordanztheoretischen Positionen beharrten, zurückzuweisen. Es fiel vor allem den langjährigen Redakteuren bzw. Mitarbeitern Friedrich Michelis, Bernhard Altum, Carl Berthold und Erich Wasmann zu, nach anfänglich klarer Abwertung des Popularitätsbegriffs 69 Natur und Offenbarung für die allmählich als berechtigt übernommene „Forderung auf Popularität" 70 zu öffnen. In der Praxis übernahm die Zeitschrift in der thematischen und literarischen Vielfalt, der Systematisierung des Kenntnisstands und auch hinsichtlich der Tendenz zur Verwissenschaftlichung unübersehbar die redaktionellen Standards der übrigen Publizistik. Jenseits der apologetischen Antirhetorik gegen die vermeintlich tendenziöse moderne Wissenschaft trug Natur und Offenbarung ähnlich wie andere christliche Blätter nach 1897 zur kommunikativen Mobilisierung im naturkundlichen Bildungsbereich bei. Die Zeitschrift band dabei eine 66
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Exemplarisch zu Haeckel NuO 22 (1876), S. 646-655, 705-714 und NuO 39 (1893), S. 357-360; zu Krause NuO 31 (1885), S.763, NuO 33 (1887), S. 108-111 und die Rezension von Erich Wasmann in: NuO 37 (1891), S. 493-500; zu Brehm NuO 14 (1868), S. 41-45 und NuO 23 (1877), S. 187-190. NuO 1 (1855), Vorwort von Heis, Karsch, Michelis und Schellen, S.2, ohne Paginierung, mit dem tatsächlich ungerechtfertigten Vorwurf des „krassen Materialismus" an die Adresse von Die Natur. Beide Zitate NuO 13 (1867), S. 9. NuO 1 (1855), Vorwort von Heis, Karsch, Michelis und Schellen, S. 2, ohne Paginierung; NuO 7 (1861), S. 5; NuO 9 (1863), S. 571. Dagegen hatte schon in NuO 4 (1858), S. 291 der Apostolische Nuntius Ant. de Luca ausdrücklich eine „populäre Darstellungsweise" als Strategie gegen die Instrumentalisierung der Naturwissenschaften im Kampf mit dem Christentum begrüßt. Vgl. Michelis: Der Sieg (1869), S. 1 über die „wünschenswerthe Popularität". Michelis: Der Sieg (1869), S.2.
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VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
zweifellos heterogene Gruppe katholischer Publizisten ein. So zählte Friedrich Michelis, seit 1871 Altkatholik, zu den fortschrittlichen Kräften, die sich weit von verbaltheoretischen Positionen entfernten, während der Ornithologe Heinrich Bolsmann und der Jesuit Rudolf Handmann weltanschaulich und wissenschaftlich deutlich konservativere Standpunkte vertraten. 71 Zudem griff Natur und Offenbarung auf Naturkundepublizisten wie Hermann J. Klein zurück, die sich keineswegs nur im katholische Milieu bewegten. Die inhaltlichen Sonderheiten waren unverkennbar, etwa die Ablehnung der Tierseelenkunde und des Ursprungs des Menschen aus dem Tierreich oder das Beharren auf einer göttlichen Schöpfung. Aber sie ließen doch Platz für jene Elemente, die über die Deutungsantagonismen hinweg zum festen Bestandteil volkstümlicher Naturkunde in Deutschland wurden. Auch Natur und Offenbarung betonte den Gedanken der gesetzmäßigen Harmonie der Natur und deren Charakter als „Kunstwerk" 72 . In den Jahren der erregten Debatte um Darwinismus und Unterricht erklärte der Herausgeber Carl Berthold die Ästhetik der Natur zu einem Leitmotiv. 73 Alexander von Humboldt wurde allerdings wegen seiner liberalen Sympathien deutlich weniger als in der nichtchristlichen Publizistik in Anspruch genommen. An der Humboldt-Verehrung beteiligte sich Natur und Offenbarung nicht. 74
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Zu den innerkatholischen Unterschieden im Zugang zu naturwissenschaftlichen Themen siehe Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969). Michelis: Die ideale Naturauffassung (1859), S. 3,12. Vgl. NuO 2 (1856), S. 120f. Vgl. Carl Berthold: Ueber Naturschönheit, in: NuO 15 (1869), S. 456-463; ders.: Beiträge zu einer Aesthetik der Natur, in: NuO 24 (1878), S. 156ff.; ders.: Die bildenden Künste in ihrem Anschlüsse an die Natur, in: NuO 27 (1881), S. 300ff.; ders.: Poesie und Natur, in: NuO 30 (1884), S. 109ff. Vgl. NuO 5 (1859), S. 288 und NuO 27 (1881), S. 121f.
3. Konsolidierung und zweite Gründungswelle
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3. Konsolidierung, zweite Gründungs welle und der darwinistische Kosmos 1865-1890 „Eine neue Zeitschrift auf populär-naturwissenschaftlichem Gebiete! Giebt es nicht deren in Deutschland schon so viele, dass sie sich gegenseitig die Existenz verkümmern? U n d gar auf dem litterarischen Weltmarkte?" Wilhelm Foerster: U e b e r die Ziele der Popularisierung der Naturwissenschaften im Hinblick auf die Zeitschrift ,Himmel und E r d e ' , in: Himmel und E r d e 1 (1889), S. 18-30, hier S. 18.
Anderthalb Jahrzehnte nach dem Ende der Revolution hatte sich der erste Gründungseifer erschöpft. Auf das Eingehen von Roßmäßlers Aus der Heimath und die konzeptionelle Neuorientierung von Die Natur, neben der einzig Natur und Offenbarung überlebte, folgte eine publizistische Konsolidierungsphase. Sie mündete nach der Reichsgründung in eine zweite Gründungswelle; die deutsche Zeitschriftenlandschaft fächerte sich zwischen darwinistischem Bekenntnisjournal und amateurwissenschaftlichen Liebhaberblättern weiter auf. Ähnlich wie Die Natur konnte sich Gaea als Zeitschrift zur Verbreitung und Hebung naturwissenschaftlicher, geographischer und technischer Kenntnisse seit ihrer Gründung 1868 auf eine erstaunliche personelle Kontinuität stützen. Bis 1908 fungierte der Kölner Astronom und Meteorologe Hermann Josef Klein als Alleinherausgeber.1 Seine Interessen prägten die inhaltlichen Schwerpunkte von Gaea. Zwar ließ auch Gaea an der kulturellen Vorreiterrolle der Naturwissenschaft als „Fackelträgerin der neuen Zeit" 2 keinen Zweifel. Pathetische Bekenntnisse zur Volksbildung und schwärmerische Leitartikel fehlten aber. Stattdessen beschritt die Zeitschrift einen Mittelweg zwischen der „blos volksgemäßen Behandlung und der strengen Fachwissenschaft"3. Schon druckgraphisch spröder als Die Natur, verzichtete Gaea weitgehend auf erzählerische Elemente, Alltagsbelehrungen und Beiträge aus der Tierseelenkunde. Wichtiger waren Forschungsberichte, wobei auch Gaea die darwinistische Entwicklungslehre und deren Interpretation durch Haeckel nur vorsichtig aufnahm und erst allmählich zu positiven
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Schwarzbach: H e r m a n n J. Klein ( 1 9 8 5 ) und: Zur Jubelfeier der G a e a 1 8 6 4 - 1 8 8 9 , in: G a e a 25 (1889), S. 1 - 6 . G a e a 26 (1890), S. 1-4. Vgl. Die Bedeutung der Naturwissenschaft in der Kultur, in: G a e a 27 (1891), S. 3 2 1 - 3 2 4 ; Wissenschaft und Leben, in: G a e a 30 (1894), S. 1 - 3 ; Das naturwissenschaftliche Weltbild, in: G a e a 43 (1907), S. 1 - 6 . G a e a 6 (1870), Verlagsprospekt, Schlußseite.
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VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
Wertungen vordrang.4 Gaea konzentrierte sich überdies auf die großen öffentlichen Debattenthemen, darunter den Haeckel-Virchow-Streit und die Schulreform. Die fachwissenschaftliche Information wurde seit 1873 in der Vierteljahres-Revue der Fortschritte der Naturwissenschaften verstärkt, die von Klein im gleichen Verlag, Mayer in Leipzig, gewissermaßen als Supplement zu Gaea herausgegeben wurde.5 1878 übernahmen Klein und der Mayer-Verlag zusätzlich Sirius. Zeitschrift für populäre Astronomie, nachdem der Theologe und umstrittene Privatgelehrte Rudolf Falb die Redaktion 1868 begründet hatte. Für Falb besaß noch die „Herablassung von der Mandarinensprache mathematischer Formeln zur wahrhaft populären Darstellung" 6 und die gleichzeitige Befriedigung von Verstand und Gefühl im Naturgenuß Priorität. Später ging es in erster Linie um eine professionelle astronomische Berichterstattung, die Sirius zum Teil aus anderen Blättern übernahm. Wie alle astronomischen Populärzeitschriften pflegte Sirius das Bild von der Astronomie als desjenigen naturwissenschaftlichen Fachs, das am stärksten den amateurwissenschaftlichen Dilettanten offenstehe und von diesen stets Anstöße erfahren habe.7 Der Naturforscher, im gleichen Jahr wie Sirius begonnen, und in seiner Nachfolge seit 1886 die Naturwissenschaftliche Rundschau lösten sich weitgehend von der anfänglichen Prämisse, eine einfache, klare Darstellung zu verfolgen.8 Sie etablierten sich als Berichtsorgane für neueste Entwicklungen der Forschung. Am entgegengesetzten Ende des publizistischen Spektrums hielt sich von 1876 bis 1889 Isis. Zeitschrift für naturwissenschaftliche Liebhabereien. Herausgeber Karl Ruß zielte primär auf die Bedürfnisse der Amateurwissenschaftler.9 Isis gab Hinweise zur Anlage von Terrarien, Herbarien oder Aquarien, berichtete über Zoologische Gärten, Tierversteigerungen und Zuchtprobleme, diskutierte Konservierungs- und Präpariermethoden. Mit praktischem Rat („Durchlüftungs-Apparate für Aquarien") und weniger praktischen Perspektiven („Das Gürtelthier als Stubengenosse") sparte man nicht.10 Hier, zwischen Anzeigen von Naturalien4
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Kritisch Klein: Entwickelungsgeschichte (1870); gegen Haeckel und die These von der Urzeugung gerichtet Moritz Wagners Beitrag, in: Gaea 8 (1872), S. 21-26, sowie Gaea 8 (1872), S. 644-655, gestützt auf den Darwinkritiker Wigand. Gaea 8 (1872), Verlagsankündigung. Sirius 1 (1868), S. 1; siehe auch Sirius 4 (1871), S.2. Vgl. Littrow über die Dilettanten in der Astronomie, in: Sirius 2 (1869), S. 76-78; ,Urania' Volksakademie der Naturwissenschaften in Berlin, in: Sirius 21 = N.F. 16 (1888), S. 84-88; E. Niesten: Die astronomischen Gesellschaften und die Amateur-Astronomen, in: Sirius 24 = N.F. 19 (1891); Einige Worte an den Leser, in: Sirius 26 = N.F. 21 (1893), Deckblatt Innenseite. Der Naturforscher 1 (1868), Programm, S. 1. Die Naturwissenschaftliche Rundschau verzichtete bei ihrem ersten Erscheinen ganz auf den Popularitätsbegriff. Isis/Liebhabereien 2 (1877), S. 12,214; 3 (1878), S. 202f. Isis/Liebhabereien 2 (1877), S. 64f., ebenda S. 207f.
3. Konsolidierung und zweite Gründungs welle
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händlern und Mitteilungen der Taubenzüchtervereine, begann Wilhelm Bölsche seine publizistische Karriere. Bölsche referierte in der Isis schon als Schüler über Zoologische Gärten, Kröten und Frösche. 11 Selbst Isis verstärkte in den 1880er Jahren die Berichterstattung aus der Forschung. Der Versuch, sowohl der akademischen Spezialisierung als auch den amateurwissenschaftlichen Interessen gerecht zu werden, überforderte aber die Zeitschrift und trug neben geschäftlichen Schwierigkeiten, hohem Abonnementpreis und der wachsenden Konkurrenz zur Einstellung 1889 bei. 12 Drei Jahre später versuchte Natur und Haus mit nochmals beträchtlichem Erfolg, alle praktischen Gebiete abzudecken. Die Zeitschrift besaß ein festes Standbein in der Berliner populärwissenschaftlichen Szene. Ihr Herausgeber Ludwig Staby gehörte zu den Initiatoren der DGVN, der Natur und Haus bis zur Jahrhundertwende als publizistische Stimme diente. Knapp zwanzig Jahre nach Darwins epochemachendem Werk brachte Ernst Haeckel 1877 die erste und einzige Zeitschrift in Deutschland auf den Weg, die sich ganz der Verbreitung der darwinistischen Entwicklungslehre widmete. 13 Haeckel gewann für die Redaktion Ernst Krause alias Carus Sterne, den Verfasser von Werden und Vergehen; ihm wurden offiziell der Philosoph Otto Caspari und der Zoologe Gustav Jäger zur Seite gestellt. Faktisch liefen die redaktionellen Aufgaben bald bei Krause zusammen, der seit 1879 als Alleinherausgeber zeichnete. Zwar regte Krause an, neben Haeckel auch Charles Darwin auf dem Titelblatt der neuen Zeitschrift zu nennen, wies aber Haeckels Titelvorschlag „Darwinia" zurück. Man griff auf den Begriff Kosmos zurück, das im Untertitel geplante Epitheton monistisch scheiterte an der Ablehnung bei Caspari und Jäger. Im Januar 1877 erschien das erste von fortan zwölf jährlichen Heften als
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Wilhelm Bölsche: Zur Geschichte der Zoologischen Gärten, in: Isis/Liebhabereien 2 (1877), S. 38-40, S. 46f.; ders.: Ueber den Farbwechsel bei Laubfröschen, in: Isis/Liebhabereien 3 (1878), S. 124£; ders.: Die Erdkröte in der Gefangenschaft, in: Isis/Liebhabereien 4 (1879), S. 37-39. Vgl. die Bibliographie bei Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen (1887/1976), S. 121, in der allerdings Bölsches Publikationen in dem ornithologischen Journal Die gefiederte Welt, das ebenfalls von Karl Ruß herausgegeben wurde, nicht erfaßt sind. Karl Ruß: An die Leser und Mitarbeiter zum Abschied, in: Isis/Liebhabereien 14 (1889),S.409f. Hierzu ausführlich Daum: Naturwissenschaftlicher Journalismus (1995), die folgenden Ausführungen lehnen sich daran an und stützen sich auf Krauses langjährige, im Jenaer Ernst-Haeckel-Haus archivierte Korrespondenz mit Haeckel, die ein umfangreiches und seltenes Quellenkorpus darstellt. Ein vergleichbarer Quellenfundus, der so klar die personellen, programmatischen und redaktionellen Probleme eines populärwissenschaftlichen Presseunternehmens erkennen läßt, ist mir nicht bekannt geworden.
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VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
Kosmos. Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung auf Grund der Entwicklungslehre,14 Der Anspruch des darwinistischen Kosmos war kaum zu überbieten. Erst der Darwinismus habe eine kausale Welterklärung ermöglicht, die neue einheitliche Weltanschauung ziehe auch die anderen Wissenschaften ganz in ihren Bann und werde diesen nunmehr ein Forum für den Austausch bieten. Der Kosmos werde einen „kritischen und polemischen Charakter" entfalten, da sich auch die Wissenschaft am schnellsten im „selbstbewußten Kampfe ums Dasein" entwickele. Ausdrücklich wandte sich das Journal nicht allein an die gelehrte Welt sondern versprach, „das Interesse des Laien zu fesseln."15 Der Kosmos griff fortan über naturwissenschaftliche Fragen hinaus philologische, historische und gesellschaftspolitische Aspekte auf und thematisierte philosophische, ethnologische und medizinische Probleme. Damit entstand eine singulare Dokumentation entwicklungsgeschichtlicher Arbeiten und ein Vademekum darwinistischer Deutungen. Unter dem weiten Dach natürlicher Erklärungsweise wurden höchst unterschiedliche Themen versammelt: Die Anschauungen Thomas von Aquins über die Grundsätze der mechanischen Physik, die Lyrik als „paläontologische Weltanschauung" oder die Sprache des Kindes gehörten ebenso selbstverständlich dazu wie die Farbe der Vogel-Eier, das „salzfreie Urmeer und seine Consequenzen für den Darwinismus" oder „Mehrzehige Pferde der Vorzeit".16 Neben den Redakteuren und Haeckel, dessen Impavidi progrediamur ab dem vierten Band (1878/79) die Titelseite schmückte,17 zählten z.B. der Lehrer Hermann Müller, Wilhelm Breitenbach, Karl Kautsky, Henry Potonie, Wilhelm Preyer, Moritz Wagner und Otto Zacharias zu den Autoren. Gänzlich fehlten die radikalen Materialisten der 1850er Jahre; der Umstand war nicht zuletzt auf Vorbehalte bei Krause zurückzuführen. 18 Dagegen konnte die Redaktion prominente ausländische Wissenschaftler gewinnen, darunter die Engländer Thomas Huxley, Alfred R. Wallace und 14
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Krause konnte sich aber auch mit dem eigenen Vorschlag - „Prometheus. Organ der Fortschritts-Partei auf dem Gebiete der Naturforschung u. Weltdeutung" nicht durchsetzen, siehe Krause an Haeckel 12.12.1876, 27.12.1876, 31.12.1876 und 8.1.1877 (EHH). Alle Zitate aus dem „Prospekt", der dem ersten Heft des Kosmos/Weltanschauung 1.1 (1877) vorgeheftet war. Kosmos/Weltanschauung 1.1 (1877), S. 234-242; III.5 (1879), S.39ff„ 109ff.; IV.7 (1880), S.23ff.; 1.1 (1877), S. 209-218; II.4 (1878/79), S.33ff.; III.5 (1879), S.432f£ Im Kosmos kamen auch Autoren zu Wort, die von der klassischen darwinistischen Entwicklungslehre abwichen, etwa Moritz Wagner. Haeckel zeigte allerdings wenig Schreibbereitschaft; siehe Daum: Naturwissenschaftlicher Journalismus (1995), S. 242f., Anm. 49. Vgl. den Schriftwechsel zwischen Ernst Haeckel und dem österreichischen Bauernphilosophen Konrad Deubler, in: Dodel-Port (Hg.): Konrad Deubler (1886), S. 175,180f.
3. Konsolidierung und zweite Gründungs welle
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Herbert Spencer, Arnold Dodel-Port und den amerikanischen Paläontologen Othniel C. Marsh. Selbst Charles Darwin meldete sich zu Wort.19 1881 ging Kosmos in die Hände von E. Koch für die Schweizerbart'sche Verlagshandlung in Stuttgart über. An Krauses Stelle als Herausgeber trat mit dem 12. Band 1882/83 der Dresdener Zoologe und Spencer-Übersetzer Benjamin Vetter. In einer Zwischenbilanz mußte die Verlagshandlung aber 1885 feststellen, daß der Kosmos noch weit von seinem Ziel entfernt war, das gemeinsame Organ aller derer zu sein, „die sich um das Banner der Entwickelungslehre scharen". Um die selbstgesteckte Aufgabe zu erreichen, sollte das inhaltliche Spektrum des Kosmos nochmals erweitert und vermehrt Sozialwissenschaften, Religions- und Kulturgeschichte, aber auch Tagesfragen berücksichtigt werden.20 Das Reformprogramm blieb erfolglos. Seine Wirkung verpuffte auf dem publizistischen Markt, dessen Angebot sich unaufhaltsam vergrößert hatte und aus dem heraus dem Kosmos 1882 mit der Zeitschrift Humboldt eine neue Konkurrenz erwachsen war. Im Dezember 1886 verkündete Vetter das Ende des Kosmos und dessen Verschmelzung mit Humboldt. Der Herausgeber mußte eingestehen, daß es der Zeitschrift nicht gelungen war, sich die Gunst weiterer Kreise in dem Maße zu erwerben, wie man es sich erhofft hatte.21 Kosmos scheiterte wie viele andere populärwissenschaftliche Zeitschriften an strukturellen und konzeptionellen Problemen. Schon um die ökonomische Basis war es seit der Gründung nicht gut bestellt gewesen. Im zweiten Jahr verdichteten sich Anzeichen, wonach der Verleger aus Rentabilitätsgründen den Kosmos eingehen lassen wollte. Krause vermochte dies sogar nachzuvollziehen, hielt aber die Aufrechterhaltung des Journals im Dienste der Sache unbedingt für notwendig - „wir würden uns jämmerlich blamieren, wenn wir [...] wieder vom Schauplatz verschwänden."22 Die Abonnentenzahl war nach anfänglichen Schwierigkeiten im Mai 1877 auf 600, ein Jahr später auf 900 mit ansteigender Tendenz gewachsen.23 Zur gleichen Zeit sah Krause aber schon das finanzielle Unheil heraufziehen, ein so kostspieliges Journal sei für den „Existenzkampf" schlecht ausgerüstet, es lebe wegen überhöhter Honorare und vieler Originalbeiträge auf einem großen Fuße.24 Im Oktober 1878 war für Krause evident, daß der Kosmos in einer Krise steckte; er selbst befand sich im ständigen Kampf mit den anderen Redakteuren. Kaum weniger drängend 19 20 21 22 23 24
Kosmos/Weltanschauung 1.1 (1877), S. 173, 367-376; Vgl. W. Preyer: Briefe von Darwin, in: Deutsche Rundschau 67 (1891), S. 356-390, hier S. 384-387. Kosmos/Weltanschauung IX. 17 (1885), Prospekt der Verlagshandlung. Zu B. Vetter siehe ADB 39 (1895), S. 662. B. Vetter: Abschiedswort des Herausgebers, in: Kosmos/Weltanschauung X. 19 (1886), S. 482. Krause an Haeckel 13.6.1878 (EHH). Krause an Haeckel 16.6.1877,26.6.1877,13.5.1878 und 13.6.1878 (EHH). Krause an Haeckel 13.6.1878 und 21.6.1879 (EHH).
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VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
erschienen die wirtschaftlichen Probleme, die sich zum chronischen Defizit ausweiteten.25 Auch der neue Verleger konnte das Ruder nicht mehr herumreißen. Parallel zur finanziellen Malaise wurde hinter den Redaktionskulissen um das inhaltliche Profil und den journalistischen Charakter der Zeitschrift gerungen. Aus marktstrategischen wie grundsätzlichen Überlegungen heraus betonte Krause stets, daß Kosmos nur durch Wahrung seines speziellen Profils einen Platz unter den naturwissenschaftlichen Zeitschriften behaupten könne. Intern drängte er darauf, das „Partei-Interesse" zu wahren und den Kosmos als „Partei-Journal"26 zur Durchsetzung des Darwinismus zu halten. Ein Problem der Grenzziehung ergab sich auch zwischen wissenschaftlichem und populärem Anspruch. Während der offizielle Kosmos-Prospekt Fachgelehrte, das gebildete Publikum und Laien harmonisch zusammenführen wollte,27 taten sich bald Brüche in den Erwartungen des heterogenen Publikums an das Journal und in der Zielsetzung der Redaktion auf. Nach einem halben Jahr stand Krause vor einem Dilemma: Einerseits melde sich das Publikum bei ihm mit der Klage, daß das Journal zu gelehrt sei; er selbst teile die Kritik am „Vorwalten des Raisonnements" und glaube, das Publikum verlange „nach derberer Kost, nach Zergliederung vonThatsachen, Vorführung von Beispielen". Andererseits würden sich die Gelehrten passiv, wenn nicht gar ablehnend verhalten, sie fänden das Journal offensichtlich zu populär.28 Zunächst unterstützte Krause die Forderung nach weniger Gelehrsamkeit. Die Leser verlangten zu Recht eine „muntere, anregende Darstellung". Der Erfolg werde sich schon einstellen, wenn „wir uns nur dem Publikum etwas mehr accomodieren u. die Langweiligkeit in Schranken halten."29 Bald schwenkte Krause aber um und warnte vor einem „noch mehr belletristischen Charakter"30; nun gab er zu bedenken, ob es nicht besser wäre, auf die populäre Geltung zu verzichten.31 Noch kurz vor seinem Ausscheiden riet der Herausgeber im diametralen Gegensatz zu seinen früheren Absichten dem Kosmos, das beste würde sein, diesen in ein rein wissenschaftliches Journal umzuwandeln.32 Popularität als publizistisches Programm umzusetzen, blieb auch für Darwinisten ein schwieriges Unterfangen. Daß die darwinistische Lehre per se in populärwissenschaftlicher Medienpräsentation reüssieren mußte, ist allenfalls eine nachträgliche Beschönigung. 25 26 27 28 29 30 31 32
Krause an Haeckel 3.10.1879 und 15.10.1880 (EHH). Krause an Haeckel 4.12.1880 (EHH). „Prospekt", in: Kosmos 1.1 (1877), S. 1-3. Krause an Haeckel 16.6.1877 und 16.5.1877 (EHH). Krause an Haeckel 16.6.1877 und 26.6.1877 (EHH). Krause an Haeckel 13.5.1878 (EHH). Krause an Haeckel 13.9.1877 (EHH). Krause an Haeckel 28.4.1882, ebenso das Schreiben vom 21.5.1882 (EHH).
3. Konsolidierung und zweite Gründungswelle
365
Die Zeitschrift Humboldt, die den Kosmos 1886/87 übernahm, verzichtete seit ihrer Gründung 1882 unter Georg Krebs, einem vormaligen Dozenten des Physikalischen Vereins in Frankfurt am Main, auf eine weltanschauliche Festlegung. Otto Dammer und der Zoologieprofessor Theodor Eimer führten diese Linie bis 1890 fort. Sie konzentrierten sich darauf, die prekäre Balance zwischen der fortschreitenden Spezialisierung der Naturwissenschaften und deren allgemeinem Bildungsauftrag zu halten. 33 Berichte über die VDNA und die neuen naturkundlichen Bildungsinstitutionen 34 standen neben ausführlichen Mitteilungen aus der Forschung, die seit 1885 von Fachreferenten betreut wurden. Humboldt konnte den angestrebten Mittelkurs nur bis 1890 halten, zum Jahreswechsel wurde die Zeitschrift mit der Naturwissenschaftlichen Rundschau verschmolzen. Die Entwicklung von Humboldt war durchaus typisch. Die Neugründungen der Bismarckzeit wiesen durchschnittlich eine längere Lebenszeit als diejenigen der 1850er Jahre auf, mußten sich aber einer wachsenden Konkurrenz stellen und unterlagen Konzentrationsprozessen. Kleinere Journale konnten sich nicht über längere Zeit halten. Dazu gehörten Der Naturhistoriker des umtriebigen Wiener Publizisten Friedrich Knauer und Der Naturfreund, der nochmals an Roßmäßler anknüpfte, sich auf einen Verein deutscher Naturfreunde in Köln stützte und anstrebte, die lokalen und regionalen Naturvereine in Deutschland zusammenzuführen. 35 Neben der Naturwissenschaftlichen Rundschau gelang es nur drei Zeitschriften, sich mittelfristig zu etablieren: dem Jahrbuch der Naturwissenschaften, der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift und Himmel und Erde. Das Jahrbuch der Naturwissenschaften, das hier dem gattungstypologisch weit gefaßten Zeitschriftenspektrum zugezählt werden soll, präsentierte nach dem Vorbild des französischen L'Année scientifique in breit gefächerter Systematik aktuelle Berichte aus dem gesamten Bereich von Naturwissenschaften, Länder- und Völkerkunde, Handel, Verkehr und Industrie. Trotz eher zurückhaltender Aufmachung mit wenig Abbildungen gelang es dem Herder-Verlag und dem erfahrenen katholischen Redakteur Max Wildermann, ein äußerst lesefreundliches, leicht erschließbares Kompendium vorzulegen. Dem Ziel, „ein gediegener und zugleich unterhaltender Führer" 36 für die Laienwelt außerhalb des Fachpublikums zu sein, konnte das Jahrbuch bis 1915 durchaus genügen. 33 34
35
36
Programmatisch der Beitrag von Eimer: Die fortschreitende Specialisierung (1887) sowie Humboldt 6 (1887), „Programm", Umschlagseite. Dippel: Botanische Gärten und öffentliche Anlagen als allgemeines Bildungsmittel, in: Humboldt 2 (1883), S. 49-53; H. Landois: Ueber zoologische Centraianstalten, in: Humboldt 6 (1887), S. 156-159; Wilhelm Foerster: Die Gesellschaft Urania zu Berlin und ihre Veranstaltungen, in: Humboldt 8 (1889), S. 32-34. Der Naturfreund 1 (1890/91), S.145f. Vgl. zu Roßmäßler ebenda, S.lf. sowie 2 (1891/92), S. 19-21,67-69. Zum Verein deutscher Naturfreunde siehe Der Naturfreund 1 (1890/91), S. 14,28f„ 47,95,169,124-126,158-160,175. Jahrbuch der Naturwissenschaften 1 (1885/86), S. VII.
366
VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
Die Naturwissenschaftliche Wochenschrift ging 1888 aus dem Naturwissenschaftler hervor, für den noch der FDH-Gründer Otto Volger den programmatischen Leitartikel verfaßte. 37 Die „rein populäre[..] Tendenz" lenkte der neue Redakteur Henry Potonie, Botaniker und Geologe in Berlin, aber vornehmlich auf die „akademisch Gebildeten" 38 um. Als die Zeitschrift 1901 in den Jenaer Verlag Gustav Fischer überging, bekräftigte Potonie nochmals die komplementäre Zielsetzung, ließ aber am wissenschaftlichen Charakter der Wochenschrift keinen Zweifel.39 Die aktuellen Forschungsentwicklungen bestimmten die Themen. Die darwinistischen Ansätze wurden dabei von Potonie selbst, einem Anhänger der Neopositivisten Richard Avenarius und Ernst Mach, und anderen Autoren wie Friedrich Dahl äußerst kritisch beurteilt. 40 Berichte über akademische Gesellschaften und Kongresse, Universitätsinstitute und deren Personal waren an der Tagesordnung. Trotz anderslautender Ankündigung verzichteten viele Autoren keineswegs auf die Fachterminologie und führten sogar Anmerkungsapparate ein.41 Der Typus der populärwissenschaftlichen Zeitschrift befand sich im Wandel. Die Gegenüberstellung von Gelehrten und Laien tauchte zwar in der Popularisierungsrhetorik weiterhin auf, entsprach aber nicht mehr der realen Zusammensetzung der Rezipienten und deren Informationsbedürfnis. Potonie wies ähnlich wie Bölsche vor dem Ersten Weltkrieg darauf hin, wie relativ die Oppositionsbegriffe geworden waren.42 In der deutschen Gesellschaft wurden seit den 1880er Jahren professionelle Spezialforscher immer mehr zu Laien in Nachbargebieten. Dank des Ausbaus der naturwissenschaftlichen Hochschulausbildung, des Aufschwungs des Realschulwesens und der Ausdifferenzierung der außerschulischen Bildungsangebote konnte man von einem voraussetzungslosen Dilettantismus kaum mehr sprechen, zumal das naturkundliche Liebhabertum - das hatte schon die Zeitschrift Isis verdeutlicht - eigene Medien und differenzierte Informationsangebote entwickelte. Die Naturwissenschaftliche Wochenschrift paßte sich den gewandelten Strukturbedingungen an. Zum redaktionellen Kern gehörten Fachleute
37 38 39 40 41
42
Volger: Die Pflege (1887/88). H. Potonie, in: NwW 28 = N.F. 9 (1913), S. 141, in einem kurzen Rückblick auf die Gründungszeit. NwW 17 = N.F. 1 (1901), S. 2,1. Vgl. Potonie: Plauderei (1913); NwW 18 = N.F. 2 (1902/3), S. 85-91. Die Redaktion zeigte sich schon im fünften Jahrgang stolz über das Wohlwollen aus wissenschaftlichen Kreisen und gab an, daß sich der Abonenntenkreis vorwiegend aus akademisch Vorgebildeten zusammensetze, siehe NwW 5 (1890), S. 10. Potonie: Plauderei (1913), S.41; Bölsche: Volkstümliche Naturwissenschaft (1912), S. 238f.
3. Konsolidierung und zweite Gründungswelle
367
aus den naturwissenschaftlichen Museen und Instituten Berlins.43 Der Verein zur Förderung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts erhielt von der Wochenschrift publizistische Unterstützung, zeitweise amtierte der spätere Vorsitzende der GDNA-Unterrichtskommission August Gutzmer als stellvertretender Redakteur. 1901/2 übernahm die Zeitschrift das alte Flagschiff Die Natur, seit demselben Jahr fungierte die Wochenschrift auch als offizielles Organ der DGVN. Eine vergleichbare Stellung, wenn auch auf astronomische Themen spezialisiert, besaß seit 1889 Himmel und Erde als Sprachrohr der Berliner Gesellschaft Urania. Die Urania-Initiatoren der ersten Stunde, Wilhelm Foerster und Max Wilhelm Meyer, wiesen nachdrücklich darauf hin, daß der „Popularisirungs-Aufgabe" für die Beurteilung der „pädagogischen Bedeutung und des Kulturwerthes der Naturwissenschaften" 44 zentrale Bedeutung zukomme; sie müsse von der deutschen Publizistik auch angesichts des internationalen Konkurrenzkampfes verstärkt angenommen werden. Himmel und Erde sollte im Verständnis der Urania sowohl Forschungsergebnisse ,lebenswarm' darstellen, als auch das „Gebiet von unmittelbaren Frohgefühlen" 45 im Naturerkennen, das Verständnis der Natur bis hin zu eigener Mitarbeiterschaft an der Forschung kultivieren. Insbesondere wurden in der Monatsschrift Vorträge aus dem Veranstaltungsprogramm der Urania und ihres Wissenschaftlichen Theaters abgedruckt. Die Erkenntnis, daß Ton und Darstellungsweise nicht den Anforderungen des „grossen Laienpublikums" entsprachen, führten schon im dritten Jahrgang zu der Absichtserklärung, Himmel und Erde „populärer" zu gestalten und noch mehr Fachgebiete, darunter die Biologie, einzubeziehen.46 Über mangelnde publizistische Streueffekte brauchte die Urania ohnehin nicht zu klagen. Die meisten naturkundlichen Zeitschriften druckten Ankündigungen oder Vorträge der Berliner Gesellschaft, so auch Prometheus, eine Illustrirte Wochenschrift über die Fortschritte der angewandten Naturwissenschaften. Sie sah die Wärmelehre und die Deszendenzlehre als Angelpunkte einer volkstümlichen Darstellung der Forschung und erklärte die „Zeiten der Arcanisten" 47 endgültig für beendet. Trotz der inhaltlichen Schwerpunkte im Anwendungs- und technischen Bereich griff Prometheus auch naturgeschichtliche Themen auf. Prometheus markiert mit Natur und Haus den Abschluß der zweiten Gründungswelle populär-naturkundlicher Zeitschriften. 43 44
45 46 47
Neben Potonie die Zoologen Hermann J. Kolbe, Paul Matschie und Eduard von Martens. Foerster: Ueber die Ziele (1889), S. 23. Zum internationalen Vergleich auch ders.: Die Gesellschaft Urania und ihre Veranstaltungen, in: Humboldt 8 (1889), S. 32-34, hier S. 34. Foerster: Ueber die Ziele (1889), S. 26. An unsere Leser!, in: HuE 3 (1891), Vorwort der Redaktion zum ersten Heft ohne Paginierung. Prometheus 1 (1889/90), S. 2. Vgl. Prometheus 4 (1892/93), S. 1.
368
VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
Abbildung 17: Die Titelbilder der Zeitschriften Gaea und Humboldt.
3. Konsolidierung und zweite Gründungswelle
Abbildung 18
369
370
VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
4. Generationswechsel und dritte Gründungswelle seit 1900: Das naturkundliche Magazin und die „volkstümliche Wissenschaft" „Wie es im allgemeinen ein Recht auf Bildung gibt, so ist das Recht auf naturwissenschaftliche Bildung - durch belehrende Unterhaltung und unterhaltende Belehrung - eines der heiligsten deutschen Menschenrechte. [...] In dieser Verkettung von Wissenschaft, Kultur und Volk ist darum die wissenschaftliche Popularisierung der Forschungsarbeit und ihrer Resultate ein unentbehrliches Bindeglied." Antworten auf eine Umfrage der Zeitschrift Kosmos/Handweiser 1912, in: Volkstümliche Wissenschaft (1913), S. 25,31.
Am Jahrhundertende befand sich die deutsche Zeitschriftenlandschaft im Umbruch. 1 Die publizistische Diversifizierung hatte inzwischen alle Lebens- und Themenbereiche erfaßt. Im verlegerischen Bereich traten horizontale und vertikale Konzentrationsprozesse auf, am deutlichsten in Berlin mit den Großverlegern Mosse, Ullstein und Scherl. Die Auflagenzahlen periodischer Erzeugnisse stiegen nochmals an, und neue Typen allgemeinbildender und unterhaltender Zeitschriften traten hervor. Die großen Familienblätter der Reichsgründungszeit wie die Gartenlaube und Über Land und Meer machten den Illustrierten Platz. Ullsteins Berliner Illustrierte Zeitung und Scherls Woche erreichten vor dem Ersten Weltkrieg Auflagen von einer Million Exemplare. 2 In der politisch-kulturellen Publizistik folgten auf die ältere Generation der Rundschau-Zeitschriften neue meinungsbildende Blätter, z.B. Maximilian Hardens Zukunft 1892, das reformkatholische Hochland
1903 u n d die Süddeutschen
Monatshefte
1904.
Den strukturellen Wandlungen unterlag auch die naturkundliche Publizistik - sowohl hinsichtlich der verlegerischen Konzeptionen als auch in der redaktionellen Gestaltung bis hin zur graphischen Aufmachung. Daß die naturkundlichen Journale zum Überleben eines institutionellen Rückhalts bedurften und sich kommunikativ stärker vernetzen mußten, war bereits seit den 1880er Jahren deutlich geworden. Den letzten Gründungen des alten Jahrhunderts gelang es in unterschiedlichem Maße, diese Erkenntnis umzusetzen. D i e Naturwissenschaftliche Zeitschrift zur Belehrung und Unterhaltung auf positiv-gläubiger Grundlage - Natur und Glaube - suchte den Erfolg
seit 1897 über eine dezidiert antidarwinistische, apologetische Zielsetzung zu erreichen und wandte sich vornehmlich an die Landbevölkerung. Die konservative Ausrichtung blieb hinter der flexiblen Linie von Natur und 1 2
Vgl. Koszyk: Deutsche Presse (1966), S.267ff.; Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918,1 (1990), S. 797-811. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918,1 (1990), S. 809.
4. Generationswechsel und dritte Gründungswelle
371
Offenbarung zurück und warf schon bei der Rekrutierung von Mitarbeitern Probleme auf.3 Immerhin forcierte Natur und Glaube den Dialog mit dem Publikum und bat die Leser um Stellungnahmen, ob die Darstellungsweise „hinreichend .populär' gehalten" sei.4 1899 führte die Zeitschrift eine gesonderte Beilage Die Liebhaberwelt ein, um den naturkundlichen Praxisinteressen entgegenzukommen: Aquarien- und Terrarienpflege, Zimmergärtnerei, das Sammelwesen, Vogelliebhaberei, Gartenbau, Geflügelzucht, Tiersport u.a. sollten fortan „auf streng gläubigem, katholischem Standpunkte" 5 behandelt werden. Wie stark inzwischen dieser Seitenstrang geworden war, demonstrierte die Wochenschrift Nerthus (1899-1905) als Organ des Verbands der Aquarien- und Terrarien-Vereine in Deutschland. Nerthus bot sich als Nachrichtenbörse der Praxisvereine an, gab nützlichen Rat und warb für zoologisch-botanische Gesellschaftsreisen.6 Das Verbandsblatt bemühte sich zudem, das Traditionsverständnis der Amateurwissenschaftler zu festigen, indem es an Roßmäßler, Humboldt und Brehm erinnerte. 7 Auf das Laieninteresse konnte sich auch seit 1900 Das Weltall stützen. Friedrich Archenhold, der Direktor der TreptowSternwarte in Berlin, konnte der Zeitschrift unter Mitwirkung von Wilhelm Foerster und Max W. Meyer neben Himmel und Erde einen festen Platz im astronomischen Bereich verschaffen. Der endgültige Generationswechsel vollzog sich innerhalb weniger Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Die drei noch aus der Pionierphase vor der Reichsgründung stammenden* Zeitschriften - Die Natur, Natur und Offenbarung und Gaea - wurden eingestellt. Ihnen war eine Konkurrenz erwachsen, die sich entschieden auf die Anforderungen moderner Massenpublizistik einstellte. Ein neuer Typus von populärwissenschaftlicher Zeitschrift war gefordert. Kein anderes Journal verkörperte ihn so musterhaft wie der Kosmos/Handweiser für Naturfreunde8 der Franckh'schen Verlagshandlung in Stuttgart seit 1904. Kosmos präsentierte sich als naturkundliches Magazin: im handlichen Format mit übersichtlicher, plakativer graphischer Gestaltung, mit einem großen Anteil von Illustrationen und Photos, ergänzt um vielfältige Beilagen und Sonderrubriken nebst einer offensiven Leserwerbung, die zusätzliche Informations-, Erwerbs- und Aktionsangebote wie Reisen, Seminare oder Unterrichtskurse sowie die Vermittlung von amateurwissenschaftlichem Know-how einschloß.
3
J. E. Weiß, in: Natur und Glaube 2 (1899), S. lf.; ders.: Unser Programm, in: Natur und Glaube 1 (1898), S. 1-6. Vgl. Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969), S. 36f. Natur und Glaube 1 (1898), S. 32. 5 Natur und Glaube 2 (1899), S. 225. « Nerthus 2 (1900), S. 36. 7 Nerthus 5 (1903), S. 4,9-11,17,20,584. 8 So der Untertitel seit dem 2. Jahrgang, zuvor: Naturwissenschaftliches Literaturblatt. 4
372
VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
Einer solchen verlegerischen Konzeption folgten auch die liberalkatholische Zeitschrift Natur und Kultur seit 1903, Aus der Natur von Walther Schoenichen seit 1905, nach 1912 auf die Problematik des naturwissenschaftlichen Schulunterrichts konzentriert, Unsere Welt als das Journal des Keplerbundes seit 1909, die Zeitschrift der DNG Natur seit 1910 und Der Stein der Weisen 1914/15, eine Illustrierte Zeitschrift zur Verbreitung naturkundlichen und technischen Wissens. Neue Vertriebsstrukturen und die vereinsmäßige Verteilung ermöglichten Massenauflagen; die Abnehmerzahl des Kosmos von über 100000 vor 1914 blieb allerdings einzigartig.9 Nachdem sich die naturkundliche Publizistik in den vorangegangenen vier Jahrzehnten pluralisiert und spezialisiert hatte, band die Magazinform noch einmal das ganze Themenspektrum und die im populärwissenschaftlichen Raum auseinanderlaufenden Interessen zusammen. Neben Berichten aus der Forschung wurde die erzählerische Tierpsychologie neu belebt, besonders in den nicht-konfessionellen Blättern. Häusliche Studien, so der Titel einer Rubrik von Unsere Welt, traten gleichberechtigt neben sogenannte Umschau-Artikel aus den einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen und die Naturschutzidee, wie sie im besonderen vom Kosmos/Handweiser in die Öffentlichkeit getragen wurde. Der Kosmos vereinigte z.B. in einem Jahrgang Essays über die „Philosophie des Wassertropfens", „Spazierengehende Fische, musizierende Krebse und andere sonderbare Gesellen" und ein ornithologisches „Charakterbild" über den Kuckuck mit Beiträgen zur Schulreform, zur mechanischen Kausalität bei Kant und im Lamarckismus von August Pauly und einem Aufsatz des Genetikers Hugo de Vries.10 Die revueartige Mischung so verschiedenartiger Themen kennzeichnete die Magazine als Quasi-Illustrierte der Naturkunde. Der Typus des Magazins bot der naturwissenschaftlichen Popularisierung eine flexible, an der Aktualität orientierte Publikationsform. Sie erlaubte das Eingehen auf amateurwissenschaftliche Interessen ebenso wie unterschiedliche weltanschauliche Stellungnahmen. Natur und Kultur und Unsere Welt zogen gegen Haeckel, den Monistenbund und den Darwinismus ins Feld. Die Grenzen zwischen den beiden christlichen Konfessionen verloren dabei an Bedeutung, Natur und Kultur engagierte auch protestantische Autoren und ließ Dennert und Reinke zu Wort kommen. Hingegen ließ der Kosmos/Handweiser keinen Zweifel an seinen Sympathien für Haeckel und Darwin. Auch die Zeitschrift Neue Weltanschauung verteidigte Haeckel und agierte wiederum gegen den Keplerbund; Natur bot umgekehrt dem Psychovitalismus Francés ein Forum, warnte vor der Überspitzung des Weltanschauungskampfes und wurde dafür von monistischer Sei-
9 10
Vgl. zu den Zahlenangaben die Belege im Kapitel III.4.b). Kosmos/Handweiser 3 (1906), S. 9-14,38-^5,111-114,269-272,276-278.
4. Generationswechsel und dritte Gründungswelle
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te kritisiert.11 Die ideologischen Divergenzen waren nicht Zu übersehen, die unterschiedlichen Strömungen bedienten sich aber weitgehend der gleichen publizistischen Mittel und waren letztlich in einen selbstreferentiellen Diskurs eingebunden. Zwei Schlagworte steckten die gedankliche Reichweite der Naturkundepublizistik vor dem Ersten Weltkrieg ab: Kultur und Volkstümlichkeit. Daß die Popularisierung der Naturwissenschaften am Fin de Siècle als kulturelle Syntheseleistung begriffen wurde, ist bereits mehrmals ausgeführt worden. Bölsches Programm der „Humanisierung" als Geistesvorgang, der auf jede Fachwissenschaft angewendet werden sollte, wurde dabei zuerst im Kosmos/Handweiser formuliert. 12 Kosmos und Natur ließen keinen Zweifel daran, daß sie auf die „Verwertung der Naturwissenschaft unter dem Gesichtspunkte der Kultur" zielten und der Naturwissenschaft „im Wettkampfe der Kulturfaktoren" 13 zum Sieg verhelfen wollten. Zurückhaltender, jedoch mit der gleichen Tendenz, argumentierten Unsere Welt und Natur und Kultur, obwohl sie unter dem Primat christlichen Deutungsanspruchs standen. Beide Zeitschriften bauten nach 1910 die Behandlung von Naturphilosophie und Weltanschauung14 aus und bemühten sich, den Zusammenhang zwischen Natur- und Kulturwissenschaften hervorzuheben. Der Universalität des Inhalts entsprach auf allen Seiten der Publizistik das Bewußtsein, daß den Naturwissenschaften eine nahezu universale Wertigkeit in kulturellen Fragen zugebilligt werden sollte. Am deutlichsten leitete daraus der Kosmos/Handweiser den Auftrag ab, naturwissenschaftliche Kenntnisse als Grundlage allgemeiner Bildung gegen die Spezialisierungstendenzen der Wissenschaften und gegen die Aufspaltung in zwei Kulturen zu definieren. Popularisierung wurde zum Brückenschlag über den ,,tiefe[n] Riß zwischen den geistigen und den naturwissenschaftlichen Disziplinen"15. Dieses Selbstverständnis belebte jenen ausgeprägten AntiUtilitarismus neu, der schon die Rhetorik der GDNA und die realistischen Plädoyers in der Schuldebatte durchzogen hatte. Es relativierte in erstaunlichem Maße den technischen Fortschritt als Richtmaß naturwissenschaftlichen Bedeutungswerts. Das war funktional, der Naturwissenschaft konnte nicht aufgrund einer ,,platte[n] Nützlichkeit" wie in einem „vulgär-krä-
11 12
13 14 15
France: Der Geist (1913); Neue Weltanschauung 2 (1909), S. 173-175. Bölsche: Wie und warum (1913), S. 296. Vgl. die erste Fassung ders.: Volkstümliche Naturwissenschaft (1912), S. 236 im Kosmos/Handweiser, sowie auch abgedruckt in: Volkstümliche Naturwissenschaft (1913), S. 10. Hierzu schon die Kapitel III.4.c) und V.5.b) und c). L. Wilser/R. H. France: An die Leser!, in: Natur 1 (1910), S. 1. So die Rubrik in Unsere Welt nach 1911. Moderne Bildung (1904), S. 2, aus dem einleitenden Artikel im ersten Heft des Kosmos/Handweiser.
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VI. Populärwissenschaftliche Pubüzistik
merhafte[n] Ausgleich zwischen geleisteter Arbeit und Bezahlung" 16 Anerkennung als Bildungsmacht verschafft werden. Aber die anti-utilitaristische Ausrichtung wurde auch als ideeller Grundsatz verstanden und durch die Vorliebe der Zeitschrift für die untechnischen, beschreibenden Naturwissenschaften bestätigt. Die „Opfergabe", welche die Wissenschaft am „Altar der Kultur" dem Volke darzubringen habe, so betonte Raoul France, zeichne sich nicht durch die aus der Erkenntnis der Naturgesetze abgeleitete „technische Vervollkommnung" aus, technischer Fortschritt allein vertrage sich mit „Barbarei": „Das Wertvollste dieser Opfergabe ist nichts anderes als jene genußvolle Form volkstümlicher' Wissenschaft, in der wirkliche und genaue Einsicht in das Getriebe des Weltorganismus, vermählt mit philosophischem Geiste, der aus den Tatsachen und Gesetzen das Lebensweise, das ethisch Wirksame und das gemütlich Ergreifende sublimieren kann, es versteht, die Zusammenhänge zwischen dem einzelnen und dem All, zwischen Mensch und Welt, zwischen dem Ich und den Dingen so klar zu erfassen, daß auch der Mann des Volkes, wenn er nur redlich danach strebt, dieses Beste der Wissenschaft nachdenken kann."17
Die Naturwissenschaften in den Zeitschriften als „Kulturfaktor" 18 zu proklamieren, ihre „Volkstümlichkeit"19 einzufordern und sie zur „volkstümlichen Naturwissenschaft" (Bölsche) zu erheben, bedeutete im Vergleich mit der Generation Roßmäßlers und Ules mehr als nur eine sprachliche Variation des alten Themas der Gemeinverständlichkeit von Wissenschaft. Nach 1900 galt es zum einen, den veränderten bildungssoziologischen Koordinaten Rechnung zu tragen: dem demographischen Anstieg, der Ausweitung des Bildungswesens, der Ausdifferenzierung der schlichten Gegenüberstellung von Gelehrten und Dilettanten und der selbstverständlichen Präsenz von Informationsmedien. Zum anderen machte die Institutionalisierung einer personal- und kostenintensiven Forschung neue Begründungsmuster und Rechtfertigungsstrategien von Popularisierung notwendig. Die literarische Aufarbeitung der Valdivia-Expedition war in diesem Zusammenhang bereits signifikant.20 Hatte Roßmäßler 1860 noch aus einer Außenseiterposition her und ohne große Resonanz das Volksrecht auf naturgeschichtliche Bildung postuliert,21 so konnte die Stuttgarter Kosmos-Redaktion ungeteilte Zustimmung ernten, als sie 1912 eine großangelegte Umfrage initiierte, „ob das 16 17 18 19 20 21
France: Fachwissenschaft (1906), S. 257. Ebenda, S. 258; vgl. auch ders.: Der Geist (1913), S. 98f. So K. Graff, der Observator der Hamburger Sternwarte, in: Volkstümliche Wissenschaft (1913), S. 22. Hier im Prospekt „Was wir wollen!", in: Natur und Kultur 1 (1903/4), Innenseite des 1. Hefts; ebenso im Prospekt gleichen Titels, in: Aus der Natur 1 (1905/6). Siehe Kapitel V.6.a). Roßmäßler: Der naturgeschichtliche Unterricht (1860), S.27.
4. Generationswechsel und dritte Gründungswelle
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deutsche Volk ein Anrecht darauf habe, über die Fortschritte naturwissenschaftlicher Forschung in allgemeinverständlicher Form auf dem laufenden gehalten zu werden." 22 Die Antworten vom Assistenten einer lokalen Wetterdienststelle bis zum Ordinarius, vom Reichstagsabgeordneten Ernst Bassermann bis zum Schriftsteller Hermann Löns, der in verschiedenen naturkundlichen Zeitschriften Tiergeschichten veröffentlichte, stellten dieses Anrecht außerhalb jeden Zweifels. Sogar die umgekehrte Frage, ob die Wissenschaft imstande sei, die „Popularisierungsforderungen der Zeit" als eine „Pflicht" 23 anzunehmen, wurde aufgeworfen. Vor allem offenbarten die Antworten ein wissenschaftspolitisches Argument, das erst die massive staatliche Forschungsförderung im wilhelminischen Deutschland ermöglicht hatte. Eine aus Steuergeldern subventionierte Forschung müsse ihre Ergebnisse den Steuerzahlern offenlegen und damit ihre Legitimation unter Beweis stellen. 24 Das Volk, der ebenso oft strapazierte wie nebulöse Adressat der Popularisierung, gewann im 20. Jahrhundert an Konturen: als ein zahlendes Publikum, als die mit kommerziellen Mitteln gewonnene Leserschaft der Magazine, die eine Gegenleistung einforderte, und als eine politische Größe, für die die Transparenz wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion ein Kontrollinstrument darstellte. Aus solcher Volkstümlichkeit und ihren neuen quantitativen Dimensionen erwuchs der naturwissenschaftlichen Bildungsarbeit erstmals ein Selbstbewußtsein, das in den nachrevolutionären Jahren noch rein fiktiv gewesen war. Der Autor Hermann Dekker sprach an der Schwelle von 100 000 Mitgliedern der Kosmos-Gesellschaft freimütig von dem „Machtmittel", das durch die enorme Verbreitung ausgenutzt werden könnte: „Und schrieb ich ein Bändchen, so wirkt es an 100 000 Stellen, hier, dort, in Deutschland, Sibirien, Afrika - in der ganzen Welt. [...] Welche Verantwortung! Ich kann spielen auf den Seelen der Kosmosmitglieder, ich kann Saiten anschlagen, erklingen, nachhallen lassen, wie ich will. Ich fühle, ich bin eine Macht!" 25 Allerdings darf auch diese Selbstzuschreibung nicht überberwertet werden. Die Zeitschrift Kosmos der Stuttgarter Gesellschaft bildete mit ihren sechsstelligen Auflagenziffern einen Einzelfall, hinter dem die übrigen, seit 1849 vorgestellten Journale mit weitem Abstand rangierten. Ihre Auflagenhöhe bewegte sich zwischen ca. 500 und, nach 1900, ca. 5 000. Die Natur und Aus der Heimath als Pionierzeitschriften der ersten Generation wurden in 2000 bis 3000 Exemplaren, zuweilen auch weniger, gedruckt. Die Zeit22
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Kosmos/Handweiser 9 (1912), S.281. Die Ergebnisse finden sich abgedruckt ebenda, S. 281f., 353-360 sowie in erweiterter Fassung in: Volkstümliche Naturwissenschaft (1913), S. 18-38. Volkstümliche Wissenschaft (1913), S. 31 und zum Topos ,Pflicht' S. 19,20,22,27, 34. Volkstümliche Wissenschaft (1913), S. 20f., 22,28. Ebenda, S. 20.
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VI. Populärwissenschaftliche Publizistik
schrift Sirius lag 1895 bei 530, Natur und Haus im gleichen Jahr immerhin bei 3 000 Exemplaren. Auf ähnlicher Höhe bewegten sich 1908 dann die Naturwissenschaftliche Wochenschrift und Natur und Kultur, vor dem Ersten Weltkrieg erreichten immerhin Prometheus eine Auflage von 5000 Stück und die aus katholischen Kreisen organisierte Zeitschrift Unsere Welt von 10 000.26
26
AdH 5 (1863), Sp. 1 und 8 (1866), Sp. 403; Adressbuch der Deutschen Zeitschriften (1895), S. 105, 115; Sperlings Zeitschriften-Adressbuch (1908), S.165, 164; Sperlings Zeitschriften-Adressbuch (1914), S. 204f.
VII. Die Vermittler: Biographien, Generationen und Gruppen Die Geschichte der Populärwissenschaft geht nicht in der Entwicklung des Schulunterrichts, der naturkundlichen Vereine, der Bildungsinstitutionen und Printmedien auf. Popularisierung war mehr als die quasi anonyme Distribution von Wissen. Sie war immer das Werk von Menschen, die als Individuen und Gruppen, meist eher informell als formell verbunden, in die Verbreitung von Wissen kontingente, aber auch generationstypische und kulturell bedingte Lebenserfahrungen einbrachten. Die Geschichte der Wissenschaftspopularisierung ist elementar eine Geschichte der Personen, die als Bildungsvermittler auftraten, ihrer individuellen und kollektiven Merkmale, ihrer wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Sozialisation. Es ist eine Geschichte ihrer persönlichen Hoffnungen auf die Wirkungskraft naturwissenschaftlicher Volksbildung ebenso wie der Enttäuschungen über das Mißlingen der eigenen Pläne. Die personellen Träger der Populärwissenschaft genauer zu untersuchen, heißt daher nicht nur, bereits erwähnte Personen und Gruppen eingehender zu würdigen. Eine solche Betrachtung konturiert vielmehr das Gesamtphänomen präziser und lotet seine sozialhistorische Dimension nochmals aus. Diese Aufgabe ist um so notwendiger, als die Interpretation der Popularisierungsgeschichte entscheidend von der Auswahl der als relevant betrachteten Personen abhängt. Noch immer gilt als Opinio communis der Forschung, daß die öffentlichen Vermittler naturwissenschaftlicher Bildung sich primär aus dem Kreise der Materialisten und Darwinisten rekrutierten; Ludwig Büchner, Karl Vogt und Ernst Haeckel stellen in dieser Sicht Prototypen und gleichzeitig herausragende Protagonisten dar. Über solche ideologische Provenienzen hinweg werden in erster Linie einige berühmte professorale Standesvertreter der akademisch-naturwissenschaftlichen Zunft des 19. Jahrhunderts genannt: Justus Liebig, Emil Du Bois-Reymond, Hermann Helmholtz und Rudolf Virchow, ergänzt um den Sonderfall Alexander von Humboldt. 1 Diese stillschweigende Kanonisierung wird im folgenden hinterfragt, ja weitgehend aufgelöst werden. Faßt man die Trägerschicht der Popularisierung weiter und differenziert deren soziales, wissenschaftliches und ideologisches Spektrum, so ergibt sich ein quantitativ wie qualitativ erheblich verändertes, streckenweise neues Bild.
1
Vgl. zuletzt Mommsen: Das Ringen (1993), S. 788f. und Bayertz: Spreading the Spirit (1985).
378
VII. Die Vermittler
1. Die neuen „Volksnaturforscher" seit 1848 „Unter den an Zahl täglich zunehmenden berufsmäßigen Naturforschern muß man zwei Classen unterscheiden. Die einen haben bei ihrem Forschen nur die Förderung der Wissenschaft an sich im Auge, wobei sie dem sehr verzeihlichen Ehrgeiz huldigen, ihrem Namen in den Annalen der Wissenschaft einen Ehrenplatz zu erringen. Die Anderen bestimmen ihr wissenschaftliches Streben nur nach dem Grundsatze, daß vor allen anderen die Wissenschaft der Natur Gemeingut Aller sei, und ihr Ehrgeiz ist darauf gerichtet, den Dank des Volkes zu gewinnen". [Emil Adolf Roßmäßler:] Otto Ule, in: Die Gartenlaube 6 (1858), S. 664-666, hier S. 664.
Die Gartenlaube blieb nicht allein mit ihrer Beobachtung, daß sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund der auseinanderlaufenden Orientierung auf den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt einerseits und auf die Verbreitung der Wissenschaft im Volke andererseits unter den Naturforschern zwei Gruppen herausbildeten. Ihrem Beitrag über Otto Ule standen zahlreiche ähnlichlautende Kommentare zur Seite. Die Natur sprach im gleichen Sinn von den „populär-schriftstellernden Gelehrten", für die Wissenschaft nicht bloß „etwas an und für sich" sei, sondern einen „lebenweckenden und lebendurchdringenden Beruf" habe. 2 1868 stellte der Forschungsreisende Charles Martin erneut „zwei Kategorien von Gelehrten" heraus; solche, die durch ihre Forschungen und Experimente die Wissenschaft förderten, und solche, die sie verbreiten würden. 3 Die Umschreibungen von zwei Klassen oder Kategorien deuten auf eine funktionale und soziale Aufspaltung der Naturforscher in der Jahrhundertmitte hin. Tatsächlich ist nicht zu übersehen, daß die nach 1848 einsetzenden Popularisierungsbemühungen Hand in Hand gingen mit dem Entstehen einer neuen Schicht von Vermittlern. Dieser Prozeß war sowohl Folge als auch Bedingung der öffentlichen Bildungsbemühungen. Seit den 1850er Jahren meldeten sich auf der Bühne der deutschen Öffentlichkeit unüberhörbar die Vermittler naturkundlicher Bildung zu Wort. Sie griffen als Mentoren des empirischen Wissens in die zeitgenössischen Diskussionen ein und versuchten, über den akademisch-universitären Diskurs hinaus breitere Publikumsschichten anzusprechen. Erstmals exponierte sich in Deutschland eine Anzahl von Publizisten, Schriftstellern und Bildungsagenten als „Volksnaturforscher" und „naturwissenschaftliche[..] Volksschriftsteller". 4 2 3 4
Die Natur 9 (1860), Naturwissenschaftliches Literaturblatt, Nr. 3, S. 19. Martins: Von Spitzbergen, I (1868), S. XIII. [Roßmäßler:] Otto Ule (1858), S.665; Die Natur 5 (1856), S.32. Siehe auch Hess: Populäre naturwissenschaftliche Schriftsteller (1857/58).
1. „Volksnaturforscher" seit 1848
379
Man kann diese Entwicklung als Aufkommen eines neuen kulturellen Typus charakterisieren. Jene zweite Kategorie, von der die Quellen sprechen, löste sich teilweise, gänzlich oder auch zu bestimmten Zwecken von den Anforderungen professioneller Forschung und bevorzugte, davon war in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich die Rede, eine publikumsorientierte Sprache gegenüber der fachwissenschaftlichen Diktion. Die Popularisierer kristallisierten sich als Verwalter eines sich verselbständigenden Bildungsbedürfnisses parallel zur Professionalisierung der Naturwissenschaftler heraus. In dem Maße, wie die Naturforschung akademisiert und institutionalisiert wurde, formalisierte sich auch die Rekrutierung des naturkundlichen Nachwuchses, dessen Ausbildung normiert und an die Hochschulen gebunden wurde. Die weitere berufliche Tätigkeit wurde zunehmend auf akademische oder außerakademische Karrieren ausgerichtet, die sich ihrerseits durch soziale Normierungen verfestigten. 5 Die Popularisierungsbewegung profitierte beträchtlich von diesem Professionalisierungsschub, indem ihr ein immenses Potential an naturwissenschaftlich qualifiziertem Personal und entsprechendem Fachwissen zuwuchs. Die naturwissenschaftlichen Berufe ließen allerdings nur in bestimmten, noch näher zu bestimmenden Bereichen und Funktionen einen Öffentlichkeitsbezug zu. Neben ihnen, gewissermaßen außerhalb der Professionen, entstanden eigene Berufe, zu denen auch die Vermittlungsarbeit im naturkundlichen Bereich zählen sollte. Allerdings gab es für diese Tätigkeit keine geregelte Ausbildung - auch wenn die meisten der hier behandelten Personen ein naturwissenschaftliches Studium absolviert hatten - oder eine Examinierung bzw. Berufsvorbereitung; ebensowenig existierten Laufbahnmuster, korporative Interessenvertretungen oder eine offizielle Nomenklatur. Selbst eine regelmäßige Zusammenkunft von Wissenschaftsjournalisten, wie sie in Frankreich seit 1857 mit dem Cercle de la presse scientifique existierte,6 kam in Deutschland nicht zustande. Die Vermittlungstätigkeit war durchaus ein Auffangbecken für Naturforscher, die nicht in der Lage waren, ein Studium aufzunehmen, die es abbrechen mußten, nach dessen Beendigung nicht in qualifizierte Professionen oder gar die universitäre Laufbahn einsteigen konnten oder diese aus politischen Gründen aufgeben mußten. Hier lagen soziale und psychologische Einbruchstellen, die zur Spaltung in eine naturkundliche Zweiklassengesellschaft führen konnten und dazu beitrugen, daß die Vermittler mit negativen Zusschreibungen belegt wurden. Nicht selten wurden die neuen Vermittler als „Dilettanten" stigmatisiert, ein Begriff, den schon Liebig auf Moleschott anwandte. 7 1891 thematisierte Wilhelm Bölsche in seinem Ro5 6 7
Vgl. die Angaben zur Professionalisierungsgeschichte im zweiten Abschnitt der Einleitung. Benedic: Le monde (1990), S. 37. [Roßmäßler:] Otto Ule (1858), S. 665.
380
VII. Die Vermittler
man Die Mittagsgöttin die umstrittene Stellung der vermeintlichen Dilettanten. In Bölsches Werk belehrt ein Professor seinen journalistischen Freund, einen Popularisierer, der als Ich-Erzähler fungiert und sich nach spiritistischen Erlebnissen an den Gelehrten wendet: „Sie sind - wie, will ich hier nicht fragen, im wesentlichen wohl nicht durch eigene Schuld - in jene Nebenbahn des Popularisierens, des unthätigen Hinschlenderns neben der Wissenschaft geraten. Ich weiß, Sie haben Ihre Sache auch dort ernster genommen als Hunderte. Aber der Fluch, der daran haftet, rächt sich doch bei Ihnen auch. Statt den Blick dort zu lassen, wo allein Heil ist für alle Wissenschaft, nämlich bei der nüchternen, selbstlosen Arbeit, haben auch Sie sich jenen gefährlichen Seitenpfaden der glänzenden Hypothese, des geistreichen Hinausflatterns über das bisheran Gegebene zugeneigt."8
Die Realität der Bildungsvermittler stellt sich wesentlich komplexer dar. Die Ausdifferenzierung in zwei Kategorien erlaubt es nicht, die Vermittler pauschal als eine gescheiterte, deviante Personengruppe zu bestimmen, da sie nicht die Karriereleiter professioneller Forschung zu erklimmen vermochte. 9 Wohl ist zu beobachten, daß zumindest ein erheblicher Teil von ihnen jenseits des universitären Gefüges blieb. Unweigerlich gerieten sie damit fachlich und in der wechselseitigen Wahrnehmung in eine Außenseiterrolle. Die vielfachen negativen Äußerungen über die öffentlichen Vermittler spiegeln diese Trennung von wissenschaftlichem und populärwissenschaftlichem Sozialmilieu wider,10 lassen aber in ihrer stereotypen Verhärtung allenfalls indirekt strukturgeschichtliche Aufschlüsse zu. Das Aufkommen der naturkundlichen Vermittler als eines neuen kulturellen Typs läßt sich begrifflich schwer fassen. Es ist es zweifelhaft, ob diese Personengruppe treffend als Gelehrte, Gebildete oder als Intellektuelle charakterisiert werden kann. 11 Der aus der Frühen Neuzeit stammende Begriff Gelehrter ist für die Popularisierer zu universal angelegt und gleichzeitig zu elitär in seinen Konnotationen. 12 Die möglichen formalen Prädikate des Gebildeten - vom Abitur über die Promotion bis zum Professorentitel und den bürgerlichen Sozialprämierungen - erreichten viele Vermittler nicht, obgleich auch unter ihnen Akademiker in der Überzahl waren. Die Popularisierer vertraten zudem nicht die Fächer des engeren humanistischen Kanons und waren an der „Gelehrtenpolitik" 13 des Kaiserreiches nicht beteiligt. Auch die idealtypische politisch-philosophische Geisteshaltung der Intellektuellen - „theoriegeleitet, rational, kritisch und 8 9 10 11 12 13
Bölsche: Die Mittagsgöttin, I (41910), S.333f. Diese Problematik ist jetzt für die Verberuflichung der Journalisten eingehend von Requate: Journalismus (1995) aufgeschlüsselt worden. Vgl. schon im Zusammenhang mit dem Materialismusstreit Kapitel V.4.c) und für Frankreich Raichvarg/Jacques: Savants (1991), S. 44ff. Hierzu Vierhaus: Umrisse (1980). Vgl. Ringer: Die Gelehrten (1983/87). vom Bruch: Wissenschaft (1980) und ders.: Gelehrtcnpolitik (1986).
1. „Volksnaturforscher" seit 1848
381
formal"14 - läßt sich kaum als Gruppenmerkmal der naturkundlichen Vermittler verallgemeinern. Den Unschärfen des Begriffs Vermittler, der hier bewußt als wertneutraler Ausdruck gebraucht wird, entspricht die Heterogenität der damit im weitesten Sinne zu bezeichnenden Personengruppe. Trug der bürgerliche Kaufmann im naturkundlichen Verein von Bautzen, der für Vortragsveranstaltungen und Botanisierexkursionen sorgte, weniger zur Popularisierung bei als der naturwissenschaftliche Berichterstatter der Leipziger Illustrierten Zeitung? Waren der zoologische Wanderredner der G W in Ostpreußen und der Stuttgarter Ortsgruppenvorsitzende des Monistenbundes weniger Popularisierer als der Physik-Professor, der vor der VDNA das Humanitätsideal der naturwissenschaftlichen Bildung beschwor, oder der Realschullehrer, der im Naturkundemuseum seiner Heimatstadt Führungen veranstaltete? Das personelle Spektrum ist ebenso breit wie bunt gefächert. Von einem populärwissenschaftlichen Beruf und einer entsprechenden Gruppenbildung kann man daher im wissenschaftssoziologischen und professionalisierungsgeschichtlichen Verständnis nur sehr bedingt sprechen.15 Unabweisbar zeichnete sich aber nach 1848 ab, daß die naturkundlichen Vermittler ein eigenes Selbstverständnis entwickelten und ein personelles, soziales und ideologisches Referenzgefüge auszubilden begannen, das nicht homogen war, aber einen gewissen inneren Zusammenhalt aufwies. Aus geselligen Kreisen und Freundschaften sowie vergleichbaren ökonomischen Dispositionen und politisch-ideellen Übereinstimmungen heraus entstand ein populärwissenschaftliches Milieu. In ihm waren die Vermittler über gemeinsame Publikationen, Verlage, Vereinsmitgliedschaften und über private Kontakte miteinander verbunden. Diese Verknüpfungen führten im besonderen in der Pionierphase nach 1848 und am Jahrhundertende zu ideologischen Zusammenschlüssen, die sich in den im Kapitel IV beschrieben Weltanschauungsvereinigungen manifestierten. Schließlich bildete sich eine oft emphatisch aufgeladene Selbstwahrnehmung im Sinne eines „Berufs des Volkslehrers"16 aus. Zugleich wurden viele Vermittler durch die abwertende Fremdbeurteilung nolens volens in einen Gruppenzusammenhang gebracht. Der 14 15
16
Vierhaus: Umrisse (1980), S. 417, angelehnt an Theodor Geiger, Joseph Schumpeter und Karl Mannheim. Zur Diskussion des soziologischen Gruppenbegriffs und seiner Anwendung auf die Bildungs- und Intellektuellengeschichte des 19. Jahrhunderts sei hier verwiesen auf die Untersuchung von Eßbach: Die Junghegelianer (1988), S. 43-52. Von „intellectually distinct age cohorts within the [biological - A.D.] Community" bzw. „generational cohorts" spricht, angelehnt an Karl Mannheim, Nyhart: Biology (1995), S. 21 und 24, die ihrer Analyse der deutschen Morphologie im 19. Jahrhundert überzeugend eine generationelle Abfolge zugrunde legt. [Roßmäßler:] Otto Ule (1858), S. 665.
382
VII. Die Vermittler
Wunsch, die Wissenschaft für ein breites Publikum zu öffnen, wurde oft durch subjektive Erfahrungen von Zurückstellung und Benachteiligung in der akademischen Welt hervorgerufen oder verstärkt; dieser Wunsch nahm nicht wenige antiakademische Impulse auf und stärkte insgesamt die Neigung zur diskursiven Selbstbezüglichkeit und damit zur Eigenständigkeit der entsprechenden Weltbildentwürfe. Im folgenden werden jene Personen im Vordergrund stehen, die auf überregionaler Ebene in mindestens einer, tendenziell aber in mehreren der in den vorangegangenen Kapiteln behandelten Medien oder Institutionen agierten und mit ihren Veröffentlichungen auf nationaler Ebene an der naturkundlichen Diskussion teilnahmen. 17 Diese Kriterien liegen der Zusammenstellung von 72 Vermittlern in Tabelle 10 zugrunde; daß sich viele andere Namen und Vertreter anderer Wissenschaftsfelder ergänzen ließen, ist evident. Um diesen personalen Kern ist ein erweiterter Kreis von zusätzlichen 93 Personen gezogen worden, die mittelbar oder unmittelbar für die Popularisierungsgeschichte relevant sind, darunter Verleger, Schriftsteller, Wegbereiter wie Humboldt oder Forschungsreisende. Tabelle 11 umfaßt damit das gesamte Sample von insgesamt 165 Personen, die hier nach der Chronologie der Geburtsdaten geordnet sind. Auf die Generationenfolge wird im Abschnitt 6 abschließend eingegangen. Die der Zusammenfassung folgenden Kurzbiographien bündeln die personenkundlichen Angaben und nennen entsprechende Literatur und Nachschlagewerke.18 Zusätzlich bedarf es typologischer Differenzierungen, um die diffuse personelle Trägerschicht der Popularisierung fassen zu können. 19 Als heuristische Hilfe werden vier Typen unterschieden, die auch in Tabelle 10 als solche gekennzeichnet sind. Daß die Grenzen zwischen diesen Typen in der Realität durchlässig waren und einzelne Personen entweder aus diesem Schema herausfallen oder mehrere der Kategorien abdecken, ent17
18
19
Der Verzicht auf regional- und lokalhistorische Vertiefungen ist arbeitsökonomisch notwendig, verweist indes abermals darauf, wie dringlich es ist, geographisch begrenzte Fallstudien zu entwickeln, die exemplarisch populärwissenschaftliche Milieus ausleuchten. Wenn nicht gesondert ausgewiesen, beziehen sich biographische Erläuterungen im folgenden auf die dort angegebenen Informationen. Es fällt auf, wie unzureichend die klassischen biobibliographischen Nachschlagewerke Persönlichkeiten aus dem populärwissenschaftlichen Milieu verzeichnen. So ist Poggendorff s Biographisch-Literarisches Handwörterbuch zur Geschichte der exacten Wissenschaften für unseren Zweck weitgehend unergiebig. Neben dem bereits skizzierten Schriftgut des Literatur- und Zeitschriftenmarktes bilden daher Nekrologe, autobiographische Zeugnisse sowie Korrespondenzen der Beteiligten aus archivalischcn Beständen die Untersuchungsbasis. Benedic: Le monde (1990) unterscheidet in ihrer Untersuchung der französischen Popularisierer drei Gruppen: Wissenschaftler, Ingenieure und sogenannte Polygraphen, eine treffende Bezeichnung für eine schwer zu fassende, schillernde Gruppe von Publizisten, auf die im Kapitel VII.3.c) eingegangen wird.
1. „Volksnaturforscher" seit 1848
383
spricht der Ambivalenz eines jeden typologischen Vorgehens. Unter diesen Voraussetzungen werden folgende Gruppen unterschieden: (I.) Professionelle Popularisierer, die ihr berufliches Leben ganz oder zumindest über weite Phasen hinweg in den Dienst der naturwissenschaftlichen Bildungsarbeit stellten. Sie bestritten davon gänzlich oder teilweise ihren Lebensunterhalt, bildeten ein eigenes Selbstverständnis in Abgrenzung zur wissenschaftlichen Tätigkeit aus und bauten untereinander und mit vielen Vertretern der II. Gruppe ein Netzwerk persönlicher und sachlicher Verbindungen auf. Der Begriff professionell wird hier mehr deskriptiv als analytisch verstanden und nur unter den angesprochenen Einschränkungen verwendet. (II.) Okkasionelle Popularisierer, d.h. solche Vermittler, die sich für die Popularisierung zeitweise, in einer besonderen Funktion ihres Berufes oder zu einem begrenzten Zweck engagierten. Sie nahmen neben dieser Tätigkeit andere (berufliche) Aufgaben wahr und standen weitgehend oder ganz außerhalb universitärer Verpflichtungen. Häufig wirkten sie nur für begrenzte Lebensphasen in den naturkundlichen Medien und Institutionen. Zweifellos ist diese Gruppe sowohl in der Zusammensetzung als auch im Gesamtprofil besonders uneinheitlich. (III.) Universitäre oder akademische Popularisierer. Diese waren professionell in wissenschaftlichen Institutionen tätig, d.h. an Universitäten, Technischen Hochschulen, Akademien und/oder Forschungseinrichtungen. Akademisch als Unterscheidungskriterium meint hier nicht den Ausweis eines Hochschulstudiums, den auch die meisten der unter (I) und (II) genannten Personen erbrachten, sondern die soziale Verankerung im akademisch-wissenschaftlichen Bereich. Damit ist im wesentlichen das Feld der Professoren umrissen, die sich um die öffentliche Verbreitung ihrer Fachkenntnisse bemühten. Unter ihnen ragt eine Gruppe heraus, die sich (IV.) als akademische Meinungsführer und wissenschaftliche Standespolitiker bezeichnen läßt. Dazu gehörten jene naturwissenschaftlichen Ordinarien, die als professionelle Wissenschaftselite aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung an der Universität, ihrer standespolitischen Ämter und publikumswirksamen Podien zu den eigentlichen Repräsentanten der professionellen Naturwissenschaften wurden, deren korporative Interessen sie in der Öffentlichkeit und im politischen Raum vertraten. Dank ihrer Amtsgewalt, der lobbyistischen Aktivitäten und ihrer persönlichen Kontakte zum gesellschaftlichen Establishment zeichneten sie nicht nur weitgehend für die quasi offizielle Wertschätzung der Naturwissenschaften verantwortlich, sondern nahmen auch massiven Einfluß auf die Vergabe finanzieller Mittel und auf wissenschaftspolitische Weichenstellungen. Der letztgenannte Typus kommt jener Personengruppe nahe, die Frank M. Turner für das strukturell zweifellos unterschiedliche Wissenschaftssystem Großbritanniens mit Blick auf die Jahre 1880 bis 1919 ausgemacht hat. Turner spricht von der „public science" als einem „body of rhetoric,
384
VII. Die Vermittler
argument, and polemic", der von der professionellen Wissenschaftlerelite, den „public scientists", verkörpert wurde und auf jene politischen Mächte und sozialen Institutionen ausgerichtet war, von deren Ressourcen, Patronage und Kooperation die Stellung der naturwissenschaftlichen Disziplinen im gesellschaftlichen Gefüge abhing. 20
20
Himer: Public Science (1980), S. 589. Noch präziser ist die anschließende Erläuterung Turners, S. 590: „Public scientists do not propagate knowledge for its own sake, and their work may have little or nothing to do with the actual motivations or goals of scientific research. Rather they consciously attempt to persuade the public or influential sectors thereof that science both supports and nurtures broadly accepted social, political, and religious goals and values, and that it is therefore worthy of receiving public attention, encouragement, and financing. The pursuit of public science has involved lobbying various nonscientific elites, persuading the public or government that science can perform desired social and economic functions, defining as important those public issues that scientists can address through their particular knowledge or expertise, stressing professional standards among scientists, and defining the position of scientists vis-à-vis other rival intellectual or social elites, such as the clergy. At the same time the public scientist remains both scientist and citizen, and his statements may and usually do reflect honestly held civic opinion as well as views that aid the position of science in the community." Jetzt auch abgedruckt in l\irner: Contesting Cultural Authority (1993), S. 201-228, das angegebene Zitat hier S. 202.
1. „Volksnaturforscher" seit 1848 Tabelle 10: Naturkundliche Popularisierer bis 1914 (hier 72 Personen, alphabetisch geordnet) Name
Lebensdaten
Typologie1
Konfession2
Ahlborn, Friedrich Altum, Bernard Archenhold, Friedrich S. Baltzer, Eduard Bernstein, Aaron Bettziech [Beta], Heinrich Bock, Carl Ernst Boelsche, Wilhelm Braß, Arnold Brehm, Alfred Edmund Büchner, Ludwig Bürgel, Bruno Burmeister, Hermann Cohn, Ferdinand Cotta, Bernhard Dammer, Otto Dammer, Udo Dennert, Eberhard Dodel-Port, Arnold Du Bois-Reymond, Emil Falb, Rudolf Floericke, Kurt Foerster, Wilhelm France, Rudolf Heinrich Giebel, Christoph G. A. Glaser, Ludwig Günther, Siegmund Haacke, Wilhelm Haeckel, Ernst Hauchecorne, Wilhelm Heck, Ludwig Helmholtz, Hermann Jäger, Gustav Klein, Hermann Josef Klencke, Hermann Knauer, Friedrich Kraepelin, Karl Krause, Ernst = Sterne, Carus Lampert, Kurt Landois, Hermann Liebig, Justus von Marshall, William Martens, Eduard von Matschie, Paul Meyer, Max Wilhelm Möbius, Karl Moleschott, Jacob Müller, Adolf
1858-1937 1824-1900 1861-1939 1814-1887 1812-1884 1813-1876 1809-1874 1861-1939 1854-1915 1829-1884 1824-1899 1875-1948 1807-1892 1828-1898 1808-1879 1839-1916 1860-1919 1861-1942 1843-1908 1818-1896 1838-1903 1869-1934 1832-1921 1874-1943 1820-1881 1818-1898 1848-1923 1855-1912 1834-1919 1828-1900 1860-1951 1821-1894 1832-1917 1844-1914 1813-1881 1850-1926 1848-1915 1839-1903 1859-1918 1835-1905 1803-1873 1845-1907 1831-1904 1861-1926 1853-1910 1825-1908 1822-1893 1821-1910
II II, III II II II II II, III IJI II I I I II, III III II, III I II I II, III IV I I IV I II,III II III, IV II III, IV III, IV II IV I, II, III I 1,11 I II I II, III II IV I, II II II I III,IV II, III II
kath. kath. jüd. ev.,L£ jüd. ev.
Hauptthemen3
Z,Ph z,o A N WJ L,WJ M,WJ ev., ar. L, N,WJ ev. Z,WJ luth. Z, R,WJ ev., ar. N,WJ ev. A,WJ Z, G jüd. B ev. G Ch,WJ B ev. B,WJ (ar.) B Phy, Ph ref. kath., ev. M, G ev., ar. Z,0,R ev. A kath. B, Z,WJ ev. G,WJ ev. B,Z ev. Geogr ev. Z ev., ar. Z ref. G ev. Z ev. Ph luth. Z, N,WJ kath. A,WJ M, N, WJ Z,WJ kath. ev. Z,N ev. B, N,WJ ev. Z,N kath. Z ev. Ch Z,WJ ev. z ev. z A ev. z M, Phys ev. O
386 Müller, Karl [aus Halle] Müller, Karl Plate, Ludwig Potonie, Henry Preyer, William Th. Ratzel, Friedrich Rau, Heribert Reclam, Karl Reinke, Johannes Roßmäßler, Emil Adolf Ruß, Karl Schleiden, Matthias J. Schmeil, Otto Schoenichen, Walther Sokolowsky, Alexander Specht, Karl August Tliesing, Kurt Ule, Otto Virchow, Rudolf Vogt, Karl Volger, Otto Wasmann, Erich Willkomm, Moritz Zacharias, Otto
1
2 3
VII. Die Vermittler 1818-1899 1825-1905 1862-1937 1857-1913 1842-1897 1844-1904 1813-1876 1821-1887 1849-1931 1806-1867 1833-1899 1804-1881 1860-1943 1876-1956 1866 1845-1909 1879-1956 1820-1876 1821-1902 1817-1895 1822-1897 1859-1931 1821-1895 1846-1916
I II II, III II III II, III II II III, IV I I, II III II II I, II II I I IV III I, II II III I
ev., Lf. ev.
B,WJ O Z B,G Phys ev. R, Geogr kath.,dk. N M ev. B ev., dk. Z,B,WJ O,WJ B ev. Z,B ev., ar. Nsch,WJ Z ar. N Z,N ev., Lf. Ph, G,A,WJ ev. M, Anthr, N Z, Anthr, N G kath. Z,E B ev. Z,WJ
Entsprechend der im Kapitel VII. 1 vorgenommenen Einteilung nach professionellen (I), okkasionellen (II) und universitären (III) Popularisierern sowie den akademischen Meinungsführern (IV). Abkürzungen: ar. = areligiös, dk. = deutschkatholisch, ev. = evangelisch, jüd. = jüdisch, kath. = katholisch, Lf. = freiprotestantische Lichtfreunde Genannt werden die Themenbereiche, die von den aufgeführten Personen vorrangig in ihrer Vermittlungstätigkeit behandelt wurden. Als Abkürzungen dienen: A = Astronomie, Anthr = Anthropologie, B = Botanik, Ch = Chemie, E = Entomologie G = Geologie, Geogr = Geographie, L = Literatur, M = Medizin, N = allgemeine Naturwissenschaften, Nsch = Naturschutz, O = Ornithologie, Ph = Physik, Phys = Physiologie, R = Reisen, WJ = Wissenschaftsjournalismus, d.h. laufende Berichterstattung über naturwissenschaftliche Themen, Z = Zoologie.
387
1. „Volksnaturforscher" seit 1848 Tabelle 11: Generationenfolge in der Popularisierungsgeschichte (hier: 165 Personen, geordnet nach Geburtsdaten) Lebensdaten
Konfession
Berufl. Schwer;
Forster, Georg
1754-1794
luth.
W,P
Humboldt, Alexander
1769-1859
ev.
G
Fries, Jakob F. Nees von Esenbeck, Ch. Oken, Lorenz
1773-1843 1776-1858 1779-1851
1844 dk. kath.
W W W
Littrow, Joseph J. Brehm, Christian L.
1781-1840 1787-1864
kath. luth.
W,St T
Diesterweg, Adolph Bischof, Karl Gustav Mädler, Johann H. Wigand, Otto Cotta, Johann Georg
1790-1866 1792-1870 1794-1874 1795-1870 1796-1863
réf. ev. ev.
s w st V V
Spiller, Philipp Fechner, Gustav Theodor Liebig, Justus Lüben, August Schleiden, Matthias J. Schwetschke, Gustav Wagner, Rudolph Roßmäßler, Emil Adolf Bibra, Ernst von Burmeister, Hermann Cotta, Bernhard Bock, Carl Ernst Böhner, August N.
1800-1879 1801-1887 1803-1873 1804-1873 1804-1881 1804-1881 1805-1864 1806-1867 1806-1878 1807-1892 1808-1879 1809-1874 1809-1892
kath. ev. ev.
Petzholdt, Georg Alexander Hess, Moses Auerbach, Berthold Ave-Lallement, Robert Bernstein, Aaron Klencke, Hermann Rau, Heribert Schoedler, Karl L. Bettziech [Beta], Heinrich Wagner, Moritz Baltzer, Eduard Michelis, Friedrich Sachse, Carl Tr. Keil, Ernst
1810-1889 1812-1875 1812-1882 1812-1884 1812-1884 1813-1881 1813-1876 1813-1884 1813-1876 1813-1864 1814-1887 1815-1886 1815-1863 1816-1878 1816-1892 1817-1895 1818-1893 1818-1898 1818-1896 1818-1899
Name
Siemens, Werner Vogt, Karl Masius, Hermann Glaser, Ludwig Du Bois-Reymond, Emil Müller, Karl [aus Halle]
ev.
ev., dk. kath. ev. prot.
S,L W,G W s W, G V W W, P, G L, G W, M W W,P T
ev.
W P, L L, P Med, G L, P Med, P T, L S L, P W T, P W, P, G S V
ev. ev. ref. ev., (Lf)
W, L, P S,W s w L, P
jüd. jüd. jüd. ev. ka.,dk. ev. prot., Lf ka., altk.
1. Gen
388 Jordan, Wilhelm Sigismund, Berthold Ule, Otto Giebel, Christoph G.A. Tschudi, Friedrich Müller, Adolf Willkomm, Moritz Reclam, Karl Helmholtz, Hermann Virchow, Rudolf Volger, Otto Oelsner, Theodor Moleschott,Jacob Altum, Bernard Büchner, Ludwig Möbius, Karl Müller, Karl Langkavel, Bernhard Meyer, Hermann J. Bastian, Adolf Cohn, Ferdinand Hirzel, Christoph H. Czermak, Johann N. Hauchecorne, Wilhelm Müller [-Lippstadt], Hermann Brehm, Alfred Edmund Weinland, David Fr. Martens, Eduard von Hallier, Ernst Jäger, Gustav Junge, Friedrich Foerster, Wilhelm Hirsch, Max Ruß, Karl Krebs, Georg Schlagintweit, Robert Haeckel, Ernst Landois, Hermann Berthold, Carl Bolau, Heinrich Sklarek, Wilhelm Falb, Rudolf Dammer, Otto Du Prel, Carl Hummel, August Krause, Ernst [Ps. = Carus Sterne] Dohm, Anton Dreher, Eugen Caspari, Otto Preyer, William Th. Kny, Leopold
VII. Die Vermittler 1819-1904 1819-1864 1820-1876 1820-1881 1820-1886 1821-1910 1821-1895 1821-1887 1821-1894 1821-1902 1822-1897 1822-1875 1822-1893 1824-1900 1824-1899 1825-1908 1825-1905 1825-1902 1826-1909 1826-1905 1828-1898 1828-1908 1828-1873 1828-1900 1829-1883 1829-1884 1829-1915 1831-1904 1831-1904 1832-1917 1832-1905 1832-1921 1832-1905 1833-1899 1833-1907 1833-1885 1834-1919 1835-1905 1835-1905 1836-1920 1836-1915 1838-1903 1839-1916 1839-1899 1839-1898 1839-1903 1840-1909 1841-1900 1841-1917 1841-1897 1841-1916
ev.
L,P,G | ' 1. Generation P,L W,P T, P Förster, P W Med W W P Med S
ev.,Lf ev. ref. ev. ev. ev. ev.
(P)
kath. ev., ar. ev. ev. ev. ev. jüd. ref. kath. ref. ev. luth. ev. ev. luth. ev. jüd. kath. ev.,ar. kath. kath. kath., ev. kath. ev. ev.
kath.
W
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P, ZG, Aq M, ZG, L M W, G Aq, ZG, W, P S W p L, P S P
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W, M, ZG S ZG, M P P, G P P, G S L, P 2. Generation W P, G W, G W, G W
389
1. „Volksnaturforscher" seit 1848 Stinde, Julius Eimer, Theodor Hellwald, Friedrich Budde, Emil Arnold
1841-1905 1842-1898 1842-1892 1842
Dodel-Port, Arnold Hagenbeck, Carl Ratzel, Friedrich Klein, Hermann Josef Specht, Karl August Marshall, William Wildermann, Max Zacharias, Otto Günther, Siegmund Laßwitz, Kurd Vetter, Benjamin Kraepelin, Karl Reinke, Johannes Müllenhoff, Karl
1843-1908 1844-1913 1844-1904 1844-1914 1845-1909 1845-1907 1845-1908 1846-1916 1848-1923 1848-1910 1848-1893 1848-1915 1849-1931 1849
(Fr.) luth. ev. kath. Fr.
Knauer, Friedrich Heincke, Friedrich Chun, Carl Carus, Paul Dürigen, Bruno Falkenhorst, C. Ostwald, Wilhelm Meyer, Max Wilhelm Taschenberg, Otto Braß, Arnold Conwentz, Hugo Kolbe, Hermann Haacke, Wilhelm Dahl, Friedrich Breitenbach, Wilhelm Potonie, Henry Ahlborn, Friedrich Skowronnek, Fritz [Lassar-] Cohn, L. Lampert, Kurt Wasmann, Erich Schwahn, Paul Bommeli, Rudolf
1850-1926 1852-1929 1852-1914 1852-1919 1853-1930 1853-1913 1853-1932 1853-1910 1854-1922 1854-1915 1855-1922 1855 1855-1912 1856-1929 1856 1857-1913 1858-1937 1858-1939 1858-1922 1859-1918 1859-1931 1859-1920 1859
kath. luth. ev.
Dammer, Udo Gutzmer, August Schmeil, Otto Wille, Bruno Heck, Ludwig Bölsche, Wilhelm Ule, Wilhelm Dennert, Eberhard Archenhold, Friedrich S. Matschie, Paul Braeß, Martin
1860-1919 1860-1924 1860-1943 1860-1929 1860-1951 1861-1939 1861-1940 1861-1942 1861-1939 1861-1926 1861
ev.
kath. ev. ev. ev. ev. ev.
L W (P,G) P,I W ZG P,W P P P,G,(W) S P,(W) W S,L P, M S W S ZG,P S,(W)
w V,p P,W
(P)
W, G St,P W ev. mennonit. ev.
luth. jüd. ev. kath.
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M P,W
(M, P ) P
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W S L, P ZG P,L W P St M (W)
3. Gen
390
VII. Die Vermittler
Bauke, Leopold [Ps. = Theod. Zell] Plate, Ludwig Schillings, C. G. Grottewitz, Curt Sokolowsky, Alexander Hesse, Richard Floericke, Kurt
1862-1924
Schmid, Bastian Doflein, Franz Francé, Rudolf Heinrich Guenther, Konrad Schmidt, Heinrich Bürgel, Bruno Schoenichen, Walther Goldschmidt, Richard Thesing, Curt
1870-1944 1873-1924 1874-1943 1874-1955 1874 1875-1948 1876-1956 1878-1958 1879-1956
Dyrenfurth, Günter
1886-1975
1
1862-1937 1865-1921 1866-1905 1866 1868-1944 1869-1934
P
luth. ev., ar.
M,W L, P L ZG, M, P W P
ev. kath. ref.
S M,W P, G P(W)
kath.
ev. ev., ar. jüd.
L,P S
w
ev., ar.
w
P,V
Die Kürzel in der Spalte berufliche Schwerpunkte bedeuten: Aq = öffentliches Aquarium, G = Privatgelehrter, I = Industrie, L = Literatur und Schriftstellertum, M = Museum, Med = Medizin und Arztberuf, P = Publizistik und Vortragswesen, S = Schule, St = Sternwarte, T = Pfarrberuf, V = Verlag, W = Wissenschaft (inkl. Universitäten, Technische Hochschulen, Forschungsanstalten), ZG = Zoologischer Garten.
2. Professionelle Popularisierer
391
2. Professionelle Popularisierer „Wie wär's, wenn ich versuchte, mich als populärer Schriftsteller durchzuschlagen?" Max W. Meyer: Wie ich der Urania-Meyer wurde. Eine Geschichte für alle, die etwas werden wollen. Hamburg 1908, S.71.
Auch wenn sich von einer wirklichen Profession nicht sprechen läßt, so konnte die öffentliche Vermittlung naturwissenschaftlicher Bildung im 19. Jahrhundert doch zum Beruf werden: als Erwerb des Lebensunterhalts, als Leistung, die man auf dem freien Markt anbot, und nicht zuletzt als selbstdefinierte Berufung, eine kulturelle Leistung im Dienste der Volksbildung zu erbringen. In diesem Verständnis war es bei aller Heterogenität eine überschaubare Gruppe, die berufsmäßig naturkundliche Bildungsund Vermittlungsarbeit betrieb. Die für Frankreich gebrauchte Formulierung von der „clubby nature of science journalism" 1 ist übertrieben, enthält aber einen richtigen Kern. Der Kreis professioneller Popularisierer zwischen 1848 und 1914 läßt sich relativ eng ziehen. Berücksichtigt man, daß die vorgestellte Typologie durchlässig ist und die Auswahl sich auf ein eingegrenztes Wissensgebiet konzentriert, können in Deutschland zu einer Kerngruppe ca. 20 Personen gezählt werden. 2 Wer waren diese Vermittler, welche sozialen, kulturellen und politischen Kontexte repräsentierten sie, auf welche Weise fanden sie zu ihrem Beruf, worauf stützte sich ihre Tätigkeit, wie gestaltete sich ihr Verhältnis zur akademischen Welt?
a) Wege zur Populärwissenschaft als Beruf Fast alle professionellen Popularisierer konnten auf naturwissenschaftliche Studienerfahrungen an einer Hochschule zurückblicken. Die naturgeschichtlichen Interessen dominierten, während Chemie, Physik und Mathematik eher in der zweiten Reihe der Studienfächer standen. Zoologie, Botanik und Astronomie, Geologie und Ornithologie gehörten zu den bevorzugten Fachgebieten. Von den genannten Personen wiesen immer-
1 2
George: Populär Science (1974/75), S.71. In generationeller Folge: Emil Adolf Roßmäßler, Karl Müller aus Halle, Otto Ule, Otto Volger, Ludwig Büchner, Alfred Brehm, Rudolf Falb, Otto Dammer, Ernst Krause alias Carus Sterne, Gustav Jäger, Karl Ruß, Hermann J. Klein, William Marshall, Otto Zacharias, Friedrich Knauer, Max W. Meyer, Wilhelm Bölsche, Eberhard Dennert, Alexander Sokolowsky, Kurt Floericke, Raoul France, Bruno Bürgel und Curt Thesing.
392
VII. Die Vermittler
hin 15, also knapp zwei Drittel, eine Promotion auf.3 Die dabei aufgetretenen Verzögerungen und Unregelmäßigkeiten sind nicht allein auf die zeittypisch weiten Auslegungen von Promotionsanforderungen zurückzuführen, sondern deuten an, daß Abweichungen von der akademischen Norm gruppenspezifisch waren. Alfred Brehm z.B. wurde nach der Rückkehr von seiner Afrikareise 1853 auf Antrag seines Vaters an der Universität Jena immatrikuliert. Bereits nach zwei Jahren und unter dem Druck finanzieller Sorgen in der Brehmschen Familie reichte er einige Probekapitel aus seiner bevorstehenden Veröffentlichung Reiseskizzen aus Nord-Ost-Afrika sowie Beiträge aus dem Journal für Ornithologie als Promotionsgesuch ein. Brehm erhielt daraufhin ohne Abfassung einer Dissertationsschrift das Doktordiplom.4 In ähnlicher Großzügigkeit erlangten der Zoologe Gustav Jäger die Promotion in absentia in Tübingen aufgrund der günstigen Auslegung einer besonderen Klausel für Medizinstudenten5 und Ernst Krause in absentia an der Universität Rostock. Dabei gestand Krause ausdrücklich die fachlichen Unzulänglichkeiten der von ihm eingereichten botanischen Studie ein; sie sei ohne ausreichende literarische Hilfsmittel verfaßt worden. Er selbst sei „nur ein Liebhaber der Botanik, nicht ein Fachmann"6. Auch Karl Ruß erlangte 1866 die Promotion ähnlich wie Krause in Rostock.7 Der Zoologe William Marshall, der ebenso wie Krause kein Abitur vorweisen konnte, sah seine Promotionspläne wegen des ,,Uebertritt[s] zum Darwinismus" vereitelt und erreichte den Doktortitel in den Niederlanden. Ein Anhänger Darwins zu sein, mache einen zu einem „anrüchigen wenn nicht gar zu einem social gefährlichen Individuum", beklagte er sich bei Ernst Haeckel.8 Wegen Promotionsschwierigkeiten in Deutschland und ohne Gymnasialabschluß wählten auch Max W. Meyer und der Zoologe Alexander Sokolowsky den Weg über das Ausland.9 Raoul France blieb eine Promotion in Deutschland aus bürokratischen Gründen verwehrt.10 3
4 5 6
7 8 9
10
Daß Roßmäßler keine Promotion aufwies, aber später an der Tharandter Forstakademie lehrte und den Professoren-Titel erhielt, spiegelt die Offenheit der Rekrutierungsmechanismen von Hochschulpersonal im Vormärz. Haemmerlein: Der Sohn (1987), S. 133-137. Weinrich: Duftstofftheorie (1993), S. 26. Antrag des Apothekers Ernst Krause um Zulassung zur Promotion bei der philosophischen Fakultät der Universität Rostock vom 17.2.1874 (Universitätsarchiv Rostock); Ernst Krause: Die botanische Systematik in ihrem Verhältniss zur Morphologie. [...] Weimar 1866, S. VII. Gesuch des Schriftstellers Karl Ruß in Berlin um Verleihung der philosophischen Doctor-Würde vom 4.10.1866 (Universitätsarchiv Rostock). Marshall an Ernst Haeckel 27.3.1868, die letzte Ziffer im Original schwer lesbar, und 3.1.1873 (EHH Jena). Beide erlangten schließlich in Zürich den Doktorgrad, siehe Meyer: Wie ich der Urania-Meyer wurde (1908), S. 66f£; Sokolowsky an Ernst Haeckel 6.6.1892 und 9.12.1901 (EHH Jena). France: Der Weg (1927), S. 135.
2. Professionelle Popularisierer
393
Eine Hochschultätigkeit im Dozentenstatus erreichten nur fünf der professionellen Popularisierer - Roßmäßler, Volger, Büchner, Jäger und Marshall. Auch hier sind signifikante Einbrüche in der Laufbahn zu beobachten. Roßmäßler plante zwar nach der Rückkehr vom Stuttgarter Rumpfparlament die Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit an der Forstakademie Tharandt, sah sich aber an seiner früheren Wirkungsstätte massiv angegriffen, vom Amt suspendiert und einem Hochverratsprozeß ausgesetzt. Er zog sich mit geringer Pension als Privatier nach Leipzig zurück und verkörpert wie kein anderer die Wendung vom akademischen Professor zum populärwissenschaftlichen Volkslehrer.11 Volger war zwar schon im Alter von 25 Jahren in Göttingen habilitiert worden, erreichte aber ob seiner demokratischen Aktivitäten während der Revolution und der anschließenden Flucht in die Schweiz nie mehr eine Lehrstelle an einer deutschen Universität. Büchner, der 1854 an der Universität Tübingen die venia legendi erhalten hatte, wurde ein Jahr darauf wegen der Veröffentlichung von Kraft und Stoff die Lehrerlaubnis entzogen.12 Anders als Jacob Moleschott, der 1854 nach einer Verwarnung wegen angeblichen unsittlichen und frivolen Lehrverhaltens durch den Senat der Universität Heidelberg seine Dozentur niedergelegt hatte,13 und anders auch als Karl Vogt, der nach Auflösung des Stuttgarter Parlaments 1849 in die Schweiz geflohen war, kehrte Büchner nicht mehr an eine Universität zurück. Er stützte sich in den folgenden Jahren ganz auf den freien literarischen Markt und fand nach 1881 im Deutschen Freidenkerbund ein neues Forum. Gustav Jäger erhielt, nachdem sein privatunternehmerischer Zoologischer Garten in Wien 1866 gescheitert war, seit 1870 Lehraufträge in Hohenheim und Stuttgart. 1870 bat er Ernst Haeckel um Unterstützung bei seiner Bewerbung um einen Göttinger Lehrstuhl, wohl wissend, daß die Zahl seiner wissenschaftlichen Arbeiten gering war und man „in vielen Kreisen populäre Schriftstellerei ungern sieht"14. Der Erfolg blieb aus, und 1884 zog sich Jäger aus der akademischen Tätigkeit zurück. William Marshall gelang zwar nach der Rückkehr nach Deutschland die Habilitation in Leipzig, auf eine außerordentliche Professur mußte er aber fünf Jahre warten, weitergehende Hoffnungen, etwa auf die sogenannte Ritter-Professur in Jena, zerschlugen sich.15 11 12 13 14 15
Siehe schon ausführlich Kapitel III.3. Schreiner: Der Fall Büchner (1977), wonach sich die Medizinische Fakultät gegen den Lehrentzug aussprach. Vgl. Moleschott: Für meine Freunde (1894), S. 253-258. Jäger an Haeckel 10.2.1870, zitiert nach Weinrich: Duftstofftheorie (1993), S. 71. Marshall an Haeckel 6.12.1884 (EHH Jena). 1886 wurde in Jena die Ritter-Stiftung ins Leben gerufen, die sich auf eine umfangreiche Kapitaleinlage des Haeckel-Bewunderers und Philanthropen Paul von Ritter (1825-1915) stützte und aus der seit dem Wintersemester 1886/87 eine sog. Ritter-Professor am Zoologischen Institut, faktisch ein Extraordinariat, finanziert wurde. Erster Ritter-
394
VII. Die Vermittler
Daß mit Wilhelm Bölsche, Bruno Bürgel, Krause, Meyer und Ruß fünf besonders bekannte Schriftsteller kein geregeltes Fachstudium vorweisen konnten, war nicht untypisch für den popularisierenden Zugriff auf die Naturwissenschaften. Bei allem Respekt vor der fachlichen Qualifikation bemühten sich die naturkundlichen Autoren seit Roßmäßler um die Ehrenrettung des verschmähten Dilettantismus und die Verteidigung der autodidaktischen Bildung. Bevorzugt dienten Beispiele aus der Astronomie für die Überzeugung, daß auch Laien ernstzunehmende Forschungsergebnisse zu erzielen vermochten. So formulierte die Zeitschrift Sirius 1869, im Bereich der astronomischen Entdeckungen könne durch „völlige Freiheit von der Calamität der Terminologien und Classificationen" das „Corps der Dilettanten [...] wie alle Freicorps mehr Schwung als die Männer des Berufs" aufbringen. 16 Es gab keinen geradlinigen Einstieg, keine gewissermaßen natürliche Laufbahn in das populärwissenschaftliche Genre, sei es aus dem Glauben an die eigene Bestimmung heraus oder günstigen Offerten folgend. Vielmehr war der Weg dorthin fast ausnahmslos steinig und sozial wie psychologisch mit erheblichen Belastungen verbunden. Er resultierte in den meisten Fällen aus einer Mischung aus Neigung, ökonomischer Krise und akademischer Perspektivelosigkeit, die wiederum unterschiedliche Gründe haben konnte. In der Pionierphase der Popularisierung war die Aussicht, an einer Universität unterzukommen, erheblich durch politische Restriktionen beeinträchtigt. Hinter der Rhetorik von der Notwendigkeit naturwissenschaftlicher Volksbildung und der Kritik am Gelehrtentum, das sich der Öffentlichkeit verschließe, ging es für die berufsmäßigen Vermittler an den Rändern der bildungsbürgerlichen Gesellschaft um Existenzsicherung, Erwerbschancen und ideologische Überlebensfähigkeit. Es ging um die materielle und ideelle Behauptung in einer Bildungslandschaft, die ihnen einerseits mit ihren Akademisierungs- und Professionalisierungstendenzen einen „Fprschungsimperativ" (R. Steven Turner) 17 entgegensetzte, andererseits aber aufgrund ihres Bedarfs an naturwissenschaftlicher Publikumsinformation und Weltanschauung ein immenses Betätigungsfeld eröffnete. Aus dieser ambivalenten Situation ergaben sich die Friktionen zur akademischen Welt und auch Spannungen innerhalb des eigenen Milieus. Roßmäßlers schon oft angesprochener Werdegang ist exemplarisch. Wenn er unbestreitbar zum Vorreiter naturwissenschaftlicher Volksbil-
16
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Professor wurde Arnold Lang (1855-1914); vgl. Uschmann: Geschichte (1959), S. 146ff. Littrow über die Dilettanten in der Astronomie, in: Sirius 2 (1869), S. 76-78 u. 83f., hier S. 78, 83. Vgl. E. Niesten: Die astronomischen Gesellschaften und die Amateur-Astronomen, in: Sirius 24 = N.F. 19 (1891), S. 1-6. Turner: The Growth (1971).
2. Professionelle Popularisierer
395
dung in Deutschland wurde, so war es stets eine krisenhafte Existenz, bedingt durch polizeiliche Überwachung, Inhaftierungen und finanzielle Mängel. Die Wandervorträge bedeuteten für Roßmäßler nicht nur die Befriedigung seines „sittlichen Dranges", sondern auch einen „Broterwerb", den er nach der frühzeitigen Pensionierung dringend benötigte.18 Hinzu kam der innere Zwiespalt, zwar die Vermittlungstätigkeit zur Hauptaufgabe erklärt zu haben, aber auch die positive Sanktion durch die Fachwissenschaft erreichen zu wollen. Seine konchyliologischen Arbeiten nahm Roßmäßler in den 1850er Jahren wieder auf, um nicht seine „Berechtigung auch als Gelehrter" zu verlieren und „von den Fachmännern in das Nichts der ,Popularisirer' geschleudert zu werden." 19 Roßmäßlers Kollegen in der Redaktion von Die Natur, Karl Müller und Otto Ule, gaben nach 1849 ihre akademischen Ambitionen auf, da sie an der Universität Halle wegen ihrer politischen Gesinnung keine Chance sahen. Ule fand in den 1850er Jahren selbst an Realschulen kein Unterkommen und begann in dieser Phase ebenso wie Müller seine literarische Produktion anzukurbeln und die Aktivitäten auf Die Natur zu konzentrieren.20 Während sich Roßmäßler Hoffnungen machte, an dem von Ule und Hildenhagen angestrebten Projekt einer Erziehungsanstalt in Hamburg teilnehmen zu können, versuchte Ule umgekehrt über den Leipziger Naturforscher ein Buchmanuskript dem Verleger Keil anzutragen. Die Ungewißheit seiner Lage verlange, ein „möglichst anständiges Honorar" zu erzielen.21 Die schriftstellerische Tätigkeit der Vermittler begann oft in solchen biographischen Phasen, in denen sich eine erhoffte berufliche Perspektive als unrealistisch herausstellte, eine feste Anstellung in weite Ferne gerückt war, aber der Lebensunterhalt gesichert werden mußte. Philipp Spiller,22 Katholik, naturwissenschaftlicher Lehrer an einem Gymnasium in Posen und Betreuer einer meteorologischen Station, trat 1861 nach Querelen in seiner Schule aus der Kirche aus. Er wurde pensioniert und sah sich 18
19
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21 22
Roßmäßler: Mein Leben (1874), S. 142. Hinweise auf den finanziellen Aspekt der Vorträge Roßmäßlers finden sich beispielsweise im Nachlaß Rheinische Naturforschende Gesellschaft Mainz, Bd. 48, Ausschuß-Sitzung vom 10.5.1852 und Bd. 50, Diskussion im Rahmen der Generalversammlung vom 9.2.1852. Roßmäßler: Mein Leben (1874), S.284, vgl. ebenda S.155. Zur Situation Roßmäßlers auch Moleschott an Roßmäßler 10.8.1852 (Löbbecke-Museum, Düsseldorf) und Moleschott am 22.3.1852 an Dr. Schlegel, dem Konservator am Ryks-Museum in Leyden mit der Anfrage, ob es nicht eine Erwerbsmöglichkeit für Roßmäßler gebe (SB Berlin, Haus 2, Sammlung Darmstaedter 3k 1851,3a). K. Müller: Otto Ule (1876), S. 417,431. Während Müller von einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe für Ule spricht, erwähnt W. Heß in der ADB 39, S. 180 eine „mehrwöchentliche Freiheitsstrafe". Ule an Roßmäßler 1.11.1850 (Löbbecke-Museum, Düsseldorf). Spiller ist nach meiner Typologie der II. Kategorie zugeordnet, kann aber, da solche Trennungen ohnehin durchlässig sind, schon hier angeführt werden.
396
VII. Die Vermittler
genötigt, seine finanziellen Verluste durch eine um so eifrigere schriftstellerische Tätigkeit auszugleichen.23 Gustav Jäger sicherte sein Einkommen bis zur Übernahme der Lehraufträge durch „Brotschriftstellerei"24. Er faßte seit 1867 seine wissenschaftlichen Feuilletons aus der Wiener Neuen Freien Presse als Buch zusammen und publizierte über das Mikroskopieren und die Aquarienkunde.25 Noch 1871 beteiligte sich Jäger an der Gründung des privaten Tiergartens des Gastwirts Johannes Nill in Stuttgart. Ernst Krause erging es ähnlich; da ihm die Mittel fehlten, eine Apotheke zu erwerben, wandte er sich literarischen Beschäftigungen zu.26 Aus materiellen bzw. familiären Gründen mußten auch Eberhard Dennert und der ausgewiesene Ornithologe Kurt Floericke, beide für einige Zeit Universitätsassistenten an renommierten Lehrstühlen, auf den entbehrungsreichen Weg zur Habilitation verzichten. Gleiches tat Curt Thesing, der 1907 zu den Teilnehmern an der Wasmann-Diskussion in Berlin gehörte. Floericke brauchte gut fünfzehn Jahre, bis er seßhaft wurde. Er ließ sich zunächst auf den gewerblichen Handel mit Vogelbälgen und Tieren ein, führte ein Weltenbummlerdasein zwischen Kurischer Nehrung und Südamerika und mußte durch Schriftstellerei seinen Unterhalt verdienen. Erst in Stuttgart erreichte Floericke als Kosmos-Redakteur und Autor eine gewisse Stabilität der Lebensverhältnisse.27 Selbst bei Bölsche, der kaum weniger als Floericke unbürgerliche Attitüden auslebte, war die gesteigerte populärwissenschaftliche Produktion auf biographische Wendungen und materielle Erfordernisse zurückzuführen. Bölsche mußte nach dem Tod des Vaters 1891 für die Familie aufkommen.28 Derweil er dank seiner Begabung und als Teil der Berliner literarischen Avantgarde ein selbstgewähltes Bohemeleben führen konnte und zu einem der meistgefragten Autoren seiner Zeit avancierte, taten sich andere wesentlich schwerer. Alexander Sokolowsky schlug sich jahrelang mit wechselnden Anstellungen an Museen durch, arbeitete schließlich längere Zeit in Hagenbecks Tiergarten in Hamburg, hielt Vorlesungen am Kolonialinstitut, bis er 1921 jede feste Anstellung verlor und in finanzielle Not abrutschte.29 23 24
25 26
27 28 29
K. Müller: Professor Philipp Spiller (1879), S. 100. Gustav Jaeger, zitiert nach Weinrich: Duftstofftheorie (1993), S. 65; S.65-68 Angaben zu den erwähnten Buchveröffentlichungen und dem Engagement für den Nilischen Tiergarten. Jäger: Anleitung (1867), Jäger: Die Wunder (1868). Curriculum vitae des Apothekers Ernst Ludwig Erdmann Krause [1874] (Universitätsarchiv Rostock). Vgl. Daum: Naturwissenschaftlicher Journalismus (1995), S. 227t Festschrift Kurt Floericke (1917), M. Floericke: Zum Gedächtnis (1939); Gebhardt: Die Ornithologen, I (1964), S. 96; Dennert: Hindurch (1937), S. 130,172. Magnus: Wilhelm Bölsche (1909), S. 26f. Akten btf. die Vorlesungen Sokolowsky (Staatsarchiv Hamburg, Hochschulwesen - Dozenten und Personalakten - II, 376); Briefe Sokolowskys an Ernst Haeckel zwischen 1889 und 1911 (EHH).
2. Professionelle Popularisierer
397
D r . Otto HU.
Abbildung 19: Karl Müller und Otto Ule, Popularisierer in Halle, Herausgeber der Zeitschrift Die Natur und Anhänger der freireligiösen Bewegung.
398
VII. Die Vermittler
b) Tätigkeitsfelder und Erwerbschancen Professionelle Popularisierer waren in erster Linie Wissenschaftsjournalisten und damit Teil eines expandierenden Berufsfeldes, das - entgegen zeitgenössischen wie späteren Negativurteilen - sozial durchaus in der bildungsbürgerlichen Gesellschaft verankert war.30 Schreibhonorare bildeten die finanzielle Hauptquelle für die freie Bildungsarbeit. Erst mit dem Ausbau der Bildungsinstitutionen, wie sie im Kapitel III.4 skizziert wurden, eröffneten sich zusätzliche Chancen, regelmäßige Einkünfte durch Vortragstätigkeiten und Lehrkurse zu erhalten. Allerdings hatten schon seit der Jahrhundertmitte die naturkundlichen Vereine finanzielle Unterstützung mit der Einrichtung von Honorarvorträgen und der Erhebung von Eintrittsgeld bei öffentlichen Vorträgen gewährt. Mit der naturkundlichen Publizistik entstand das quasi klassische Betätigungsfeld für die Wissenschaftsjournalisten. Lukrativ konnte es aber wegen der Kurzlebigkeit und der finanziellen Krisen vieler Organe nicht sein. Die Autoren waren auf eine breitere Streuung ihrer Erzeugnisse angewiesen. Daraus ergab sich der kompilatorische und repetitive Charakter vieler ihrer Beiträge, die häufig an unterschiedlichen Orten veröffentlicht wurden. Finanziell attraktiv wurden die nichtnaturkundliche Tages-, Wochen- und Monatspresse, die weitaus höhere Auflagen als die Naturkundeblätter erzielte. Sie entwickelte ihrerseits Bedarf, naturkundliche Spalten, z.B. innerhalb der Sonntagsbeilage der Vossischen Zeitung, zu füllen bis hin zu Wetterkarten, die erstmals in der Londoner Times erschienen.31 Karl Vogt und der Geologe Bernhard Cotta waren schon in den 1840er und 1850er Jahren bemüht, sich für diese Dienste anzubieten und erhöhte Honorare zu erzielen.32 Aus solchen Engagements erwuchs als neue journalistische Aufgabe die Tätigkeit des regelmäßigen oder auch gelegentlichen 30
31 32
Zur Verberuflichung des Journalismus, seiner bürgerlichen Prägung und gegen das Stereotyp, daß Journalisten grundsätzlich keine sozial gesicherte Existenz erlangen konnten, jetzt Requate: Journalismus (1995), S. 125ff., der den Wissenschaftsjournalismus aber ausklammert, siehe ebenda S. 163, 432, Anm. 134. Vgl. daneben noch immer Groth: Die Zeitung (1930) sowie Rieger: Die wilhelminische Presse (1957), S. 55-65; Rolf Engelsing: Massenpublikum und Journalistentum im 19. Jahrhundert in Nordwestdeutschland. Berlin 1966, dessen Ergebnisse aber angesichts der regionalen Fokussierung nur unter großen Vorbehalten generalisiert werden können; Waltraud Sperlich: Journalist mit Mandat. Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und ihre Arbeit in der Parteipresse 1867 bis 1918. Düsseldorf 1983; Walter Homberg: Das verspätete Ressort. Die Situation des Wissenschaftsjournalismus. Konstanz 1989, S. 20-22; Daum: Naturwissenschaftlicher Journalismus (1995). Tarry: Ueber die Popularisirung (1876). Karl Vogt an Cotta-Verlag 5.2.1844,12.4.1844,4.11.1845 und 12.1.1847; Bernhard Cotta an Cotta-Verlag 8.4.1847,5.10.1848,17.2.1850,7.3.1851 und 10.1.1853 (alle Schreiben im CA Marbach).
2. Professionelle Popularisierer
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naturwissenschaftlichen Presseberichterstatters. Cottas Morgenblatt für gebildete Stände (bis 1865) und Das Ausland wurden zu beliebten Publikationsorganen, nicht weniger die großen Unterhaltungs- und Bildungszeitschriften wie Ueber Land und Meer, Westermann's Monatshefte und Keils Gartenlaube. Bis in das Kaiserreich hinein zogen vor allem zwei Zeitungen naturkundliche Autoren an: die Leipziger Illustrierte Zeitung und die Augsburger Allgemeine Zeitung. Das Leipziger Blatt konnte in seiner unmittelbaren Umgebung auf zahlreiche Experten der Volksbildung zurückgreifen. 33 Die naturwissenschaftlichen Berichterstatter der Allgemeinen Zeitung wiesen ein akademischeres Profil auf, und der Cotta-Verlag, dem sie gehörte, bezahlte bekanntermaßen ungewöhnlich hohe Honorare. 34 Karl Vogt und Justus Liebig, Vogts Gegner Rudolph Wagner und dessen Bruder Moritz gehörten ebenso zu den Autoren der Allgemeinen Zeitung wie Ludwig Büchner und wiederum Ernst Krause. Zum Jahrhundertende hin war das Feld schier unbegrenzt. Ruß konnte schon 1866 auf mehr als 70 von ihm belieferte Zeitschriften verweisen,35 Wilhelm Bölsche belieferte die Tagespresse zwischen Hamburg und München; Ernst Krause, Otto Zacharias und Friedrich Knauer deckten ein ähnliches Spektrum ab. Neben der Pressearbeit eröffnete sich die Chance, Beiträge für die großen Enzyklopädien, voran bei Meyer und Brockhaus, zu verfassen und sich in die Reihenwerke der Sachliteratur einzuklinken. Dies versuchte z.B. 1860 der junge Karl Ruß. Er wandte sich mit einem Manuskript an Rudolf Virchow als Herausgeber der Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, da „der Stoff ein bis jetzt erst sehr wenig populär behandelter" sei.36 Der junge Apotheker fand noch im gleichen Jahr eine Anstellung bei der Bromberger Zeitung und begann für Roßmäßlers Aus der Heimath zu schreiben. Ruß war 1862 kurzzeitig in der Arbeiterbildungsbewegung aktiv und reüssierte schließlich als ornithologischer Publizist im amateurwissenschaftlichen Milieu Berlins. Karl Reclam bemühte sich sogar, über Virchow einen Vortrag in der Berliner Singakademie zu erwirken.37 Die Popularisierer boten sich an allen ihnen erreichbaren Fronten des öffentlichen Lebens als Experten ihres neuen Genres an und konkurrierten um die wenigen besoldeten Stellen, die es überhaupt gab, d.h. im wesentlichen um Redakteursstellen bei den größeren Verlagen, später auch um Dozenturen an der Urania. So bemühten sich 1871 Friedrich von Hell33 34 35 36 37
Vgl. Schneider: Leipzig (1988) und Eberhard Seifert: Die Entwicklung der Illustrierten Zeitung Leipzig von 1843 bis 1906. Phil. Diss. Leipzig 1942, S. 533. Lohrer: Cotta (1959), S. 88-91. Curriculum vitae des Schriftstellers Karl Ruß in Berlin, Herbst 1866 (Universitätsarchiv Rostock). Ruß an Virchow 30.1.1860 (AkW Berlin, Nachlaß Virchow, Nr. 1841). Reclam an Virchow 25.3.1874 (AkW Berlin, Nachlaß Virchow, Nr. 1740).
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wald und Otto Ule, der bereits zwanzig Jahre lang Die Natur herausgegeben hatte, nachdrücklich um den Redakteursposten des Auslandes bei der Cotta'schen Verlagshandlung.38 Otto Zacharias legte drei Jahre später ebendort eine Bewerbung für eine vakante Redakteurstelle bei der Augsburger Allgemeinen Zeitung nach. Er stand 1876/77 auch als Redakteur der darwinistischen Zeitschrift Kosmos zur Diskussion und zeigte bald nach Eröffnung der Urania 1889 Interesse an einer ausreichend dotierten Stelle in der mikroskopischen Abteilung.39 Wer sich als Vermittler bereits qualifiziert hatte, besaß zumindest geringe Aussichten, selbst Angebote zu erhalten. Ernst Krause lehnte sogar das Angebot der G W ab, die Redaktion einer von ihr herausgegebenen Reihe gemeinverständlicher Bücher sowie eines Kalenders zu übernehmen. 40 Dies bedeutete nicht, daß Krause seines Unterhalts sicher sein konnte. Je mehr das Interesse an der darwinistischen Entwicklungslehre nachließ, desto weniger waren die Arbeiten des Haeckel-Bewunderers Krause gefragt. Die notwendige „Zeitungssklaverei" erschien Krause, dem Haeckel sogar finanzielle Hilfe anbot, nur noch als „Frohnarbeit" 41 . Über solche Normalitäten des journalistischen Alltags hinaus versuchten einzelne Vermittler, sich eigenständig mit innovativen Bildungsangeboten zu etablieren. Hermann J. Klein errichtete neben seinen journalistischem Engagement für Gaea, Sirius und die Kölnischen Zeitung 1881 in Köln eine private Sternwarte. In enger Zusammenarbeit mit der Kölnischen Zeitung baute er zudem eine Wetter- und Zeitwarte auf; das erleichterte meteorologische Vorhersagen und erlaubte, eine exakte Normaluhr im Gebäude des Zeitungsverlags einzurichten.42 Ähnlich erfindungsreich war Max W. Meyer mit seinem erstmals in Wien erprobten Wissenschaftlichen Theater 43 Noch als Gründungsdirektor der Berliner Urania holte ihn die tiefsitzende Erfahrung beruflicher Unsicher38
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Hellwald an Cotta bzw. Cotta'sche Verlagshandlung 3.1.1871, 26.7.1871, 27.7.1871, 25.8.1871 und 28.9.1871 (CA Marbach, Cotta Briefe); Ule an Cotta'sche Verlagshandlung 14.1.1871 und 14.2.1871 (CA Marbach, Cotta Briefe). Zacharias an Cotta 27.7.1874 und 5.8.1874 (CA Marbach, Cotta Briefe); Ernst Krause an Ernst Haeckel 26.6.1877 (EHH Jena); Weinrich: Duftstofftheorie (1993), S. 102, Anm. 154; Zacharias an Max W. Meyer 12.6.1889 (SB Berlin, Haus 2, Sammlung Darmstaedter, Lc 1891,26). Krause, Schreiben vom 21.1.1874 (AkW Berlin, Sammlung Weinhold, Nr. 741); Curriculum vitae des Apothekers Ernst Ludwig Erdmann Krause [1874] (Universitätsarchiv Rostock). Krause an Ernst Haeckel 30.12.1897 (EHH). Kleins weitgespannte Aktivitäten brachten ihm am Lebensende 1914 die Würdigung ein, der „bedeutendste Popularisator der Astronomie unserer Tage" zu sein, so die Vierteljahresschrift der Astronomischen Gesellschaft 49 (1914), S. 240. Vgl. Schwarzbach: Hermann J. Klein (1985). Zum folgenden Meyer: Wie ich der Urania-Meyer wurde (1908), S.48ff., 76ff.; Meyer an Wilhelm Foerster 19.9.1889, Seite 7 (AkW Berlin, Nachlaß Wilhelm Foerster, Nr. 65).
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heit ein. Bereits nach kurzer Zeit sah er sich internen Vorwürfen wegen Selbstreklame und Oberflächlichkeit ausgesetzt.44 Vor allem beharrte Meyer gegenüber Wilhelm Foerster darauf, die Idee des Wissenschaftlichen Theaters nicht nur im Dienste der Urania zu vermarkten, sondern daraus auch vorübergehend zusätzliche Einnahmen zu schöpfen, nachdem sich Anfragen aus dem Ausland einstellten. Mit dem Wissenschaftlichen Theater sei er auf eine „Goldgrube" gestoßen. Der sehnliche Wunsch, ein kleines Vermögen zu erwerben, erkläre sich aus bisherigen Schicksalswendungen und der andauernden Gefahr, abermals brotlos zu werden.45 Meyers Entlassung nach Kontroversen über den Neubau der Urania brachten ihn auf einen erneuten Tiefstand, zumal eine akademische Karriere verschlossen war. Bewerbungen an anderen Sternwarten blieben erfolglos, und auch die Urania lehnte ihn später bei erneuter Anfrage ab. Meyer zog sich später nach Italien zurück, rief noch 1908 zur Gründung einer GalileiSternwarte auf Capri auf und erlangte bis zu seinem Tod 1910 als Autor der Stuttgarter Kosmos-Gesellschaft eine letzte Anerkennung beim Publikum. 46 Im Vergleich zu Meyer mag die Biographie von Otto Zacharias als Erfolgsgeschichte erscheinen. Sie ist unter den Popularisierern des 19. Jahrhunderts einzigartig und doch in vielem typisch. Zacharias' publizistischen Aktivitäten war eine Mechanikerlehre, Studium und Promotion in Leipzig vorausgegangen. Es folgten Jahre als Hauslehrer in Italien und bei einem Großkaufmann, der im begeisterten Darwinisten Zacharias den erhofften Vermittler naturwissenschaftlicher Bildung gewann.47 Die umfängliche Pressearbeit bestritt Zacharias aus seinem abgelegenen Wohnort im Riesengebirge. Seit 1882 bemühte er sich um Kontakte zur Berliner Wissenschaftsszene, nicht ohne zu betonen, kein „blinder Häckelianer" mehr zu sein. Zacharias wandte sich an keinen Geringeren als den Akademiesekretär Emil Du Bois-Reymond und präsentierte sich als „Vermittler zwischen der Wissenschaft u. dem gebildeten Laienpublikum". 48 Ausdrücklich bot er Du Bois-Reymond an, dessen Auffassung von den Grenzen der Wissenschaft „im größeren Publikum populär zu machen." 49 Aber Zacharias tat alles, um nicht als bloßer „Essayist"50, sondern als selbständiger For44 45 46 47 48
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Meyer an Wilhelm Foerster 19.9.1889, Seite 2 und Meyer an Foerster 9.2.1890 (AkW Berlin, Nachlaß Wilhelm Foerster, Nr. 65). Meyer an Foerster 19.9.1889, Seite 6f., ebenda. Hierzu auch Walther Keller: Erinnerungen, Manuskript, S. 12 (Archiv der Franckh'schen Verlagshandlung Stuttgart). Thienemann: Otto Zacharias (1917), S. Ulf. Zacharias an Emil Du Bois-Reymond 3.5.1882, ähnlich auch der Brief vom 4.1.1883; Zacharias an Emil Du Bois-Reymond 23.1.1884 (SB Berlin, Haus 2, Sammlung Darmstaedter, Lc 1891,26). Zacharias an Emil Du Bois-Reymond 3.5.1882, ähnlich auch die Briefe vom 9.6.1885 und 4.12.1885, ebenda. Zacharias an Emil Du Bois-Reymond 23.1.1884, ebenda.
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scher zu gelten. Dahinter stand sein neues Interesse für süßwasserbiologische Untersuchungen, die er seit 1884 vorantrieb - und damit das Kalkül, über den einflußreichen Berliner Ordinarius finanzielle Mittel zu gewinnen. Die Strategie machte sich bezahlt. Zacharias erhielt in den folgenden Jahren Gelder von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, wandte sich wegen finanzieller Unterstützung sogar an die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft 51 und konnte seine Vorhaben schließlich in den Plan überführen, eine eigene Forschungsstelle zur Beobachtung der Süßwasser-Fauna zu errichten. 52 Ausgiebig nutzte der umtriebige Privatgelehrte seine Verbindungen zur Presse, um für die Idee der Süßwasserforschung zu werben und damit seine eigene Zukunftsplanung zu sichern. Zacharias gewann eine bemerkenswerte Zahl von Spendern, darunter die Jenaer Firma Zeiss, den Industriellen Friedrich Krupp, Großherzog Peter von Oldenburg und Fürst Heinrich XVII. von Reuss.53 Neben Du Bois-Reymond hatte er inzwischen dessen kongenialen Kollegen Virchow in die Korrespondenz eingebunden 54 und auch die wichtigen Zoologen Leuckart, Möbius und Franz Eilhard Schulze angesprochen. Als einziger aus der Kerngruppe der professionellen Popularisierer erreichte Zacharias auf diese Weise die erneute Rückkopplung an die Fachwissenschaft und die Genugtuung, mit der Eröffnung der Biologischen Station 1892 in Plön/Schleswig-Holstein eine außeruniversitäre, doch forschungsorientierte institutionelle Basis gefunden zu haben, die sogar vom Preußischen Kultusministerium gefördert wurde.55 Zacharias war zum „Selfmademan" geworden, „wie sie in der deutschen Gelehrtenkaste nur allzuselten sind".56 Die Plöner Station, anfänglich von vielen mißtrauisch als ein „Bastard zwischen Wissenschaft und Dilettantismus" 57 angesehen, wurde in den folgenden Jahren für Zacharias zum Ausgangspunkt weiterer öffentlichkeitswirksamer Aktivitäten. Daß ein solcher Erfolg unter den Journalistenkollegen Neid und Ärger erzeugte, war verständlich.58
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Kramer: Chronik (1867), S. 355. Zoologischer Anzeiger 11 (1888), S. 18-27; vgl. zum weiteren Fortgang ebenda S. 212-216 sowie die Jahrgänge der gleichen Zeitschrift 12 (1889), S. 600-604 u. 655f.; 13 (1890), S. 431; 15 (1892), S. 36-39 und 457-460. Handschriftliche Liste der Spender im Brief Zacharias an Rudolf Virchow 10.1.1894 (AKW Berlin, Nachlaß Virchow, Nr. 2.387); Zoologischer Anzeiger 12 (1889), S. 655f.; Zacharias: Über die eventuelle Nützlichkeit (1907), S. 252f. Hierzu die Briefe von Zacharias an Virchow zwischen dem 21.7.1882 und 15.3.1898 (AKW Berlin, Nachlaß Virchow, Nr. 2.387). Vgl. Zacharias: Über die eventuelle Nützlichkeit (1907), S. 251,254; Thienemann: Otto Zacharias (1917), S. Vif. France: Der Weg (1927), S. 130. Zacharias: Über die eventuelle Nützlichkeit (1907), S. 252. Daum: Naturwissenschaftlicher Journalismus (1995), S. 234f.
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Abgesehen von den wenigen Ausnahmen blieb den professionellen Popularisierern zusätzliche staatliche Förderung oder finanzielle Unterstützung verwehrt. Einzelgängertum wie beim Riesengebirgsjournalisten Zacharias und seinem Gegner Krause, dem Wetterpropheten Falb und Alfred Brehm herrschte vor. Es waren nicht selten vagierende, gesellschaftliche Randexistenzen. Ihre soziale und institutionelle Verankerung fanden sie, wenn überhaupt, im freien Vereins- und Bildungswesen. Wichtig war, daß sie in die lokalen Vereinslandschaften eingebunden und hier zu Aktivposten werden konnten. 59
c) Krisenerfahrungen, Theoriebildungen und antiakademische Impulse Die professionellen Popularisierer bildeten unverkennbar eine bunte, schillernde Personengruppe, der eine gewisse Krisenhaftigkeit stets eigen war. Jenseits von individuellen Charaktereigenschaften und Schwierigkeiten der Lebensführung ist darin eine strukturelle Problematik erkennbar. Mit der zumeist mehr erzwungenen als erwünschten Loslösung vom etablierten Forschungssystem wurden die Popularisierer in den diffusen Raum öffentlicher Medien entlassen, der ihnen ein breites Betätigungsfeld aber keinerlei existentielle Sicherheit bot. Die berufsmäßige Bildungsarbeit konnte manche Zurückweisungen kompensieren, blieb aber auch der Grund für viele subjektive Enttäuschungen und reale Nöte. Stärker noch als es wirkliche Professionen mit entsprechenden materiellen und ideellen Prämierungen zuließen oder wenigstens nach außen erkennbar machten, war daher der Weg in die Kärrnerarbeit der Popularisierung mit Krisenerfahrungen behaftet. Raoul France hat dies beispielhaft vorgelebt.60 Auf das Scheitern seiner Promotionspläne folgte zwischen 1895 und 1898 eine schwere persönliche Krise, die er allmählich mit seiner Hinwendung zu einer stark subjektiv gefärbten Naturkunde überwand. Im gleichen Maße, wie France seine Kritik am Gelehrtenbetrieb verstärkte, wurde die Unmittelbarkeit der Natur jenseits des ,,Zwiespalt[s] von Büchern, Autoritäten und Menschen" für ihn zum Heilmittel. In der von Nietzschelektüre verstärkten Abkehr von der kleinlichen Welt des beflissentlichen Bildungsbürgers entwickelte France 59
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In Halle/S. etwa stellte in der Reichsgründungszeit Otto Ule eine omnipräsente Stadtgröße dar, Karl Ruß organisierte die praxisorientierten Ornithologen und Tierschützer Berlins, Kurt Floericke spannte nach der Jahrhundertwende den Bogen vom Bund deutscher Forscher und der Süddeutschen Vogelwarte bis zur Mitgliedschaft in einer Stuttgarter Freimaurerloge und dem Monistenbund; vgl. hierzu Bolle: Monistische Maurerei (1981), S.289f. 1907 wurde der Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne als eine monistisch eingestellte Loge gegründet. France: Der Weg (1927), S. 135ff.
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seine lebensphilosophisch durchtränkte Naturvorstellung. Er stilisierte sich sogar in Augenblicken des optimistischen Ausblicks zum „Dichter" und „Gestalter neuer Welten und Gedanken" 61 . Dies einzulösen war allein im außerakademischen Feld möglich. Eine ähnlich kathartische Wirkung durch die Beschäftigung mit der Natur erlebte der Schriftsteller Curt Grottewitz. Nach einer Krisenphase wandte er sich von seinen germanistischen Interessen und der redaktionellen Tätigkeit im literarischen Bereich ab und wurde zum naturkundlichen Schriftsteller. 62 Solche biographisch bedingten Bekenntnisse zur eigenen Subjektivität und der weitgehende - zum Teil zweifellos notwendige 63 - Verzicht auf das Regelwerk professioneller Forschung, d.h. auf permanente methodische und terminologische Überprüfung, förderten im populärwissenschaftlichen Milieu die Neigung, eigenwillige Thesen oder Theorien zu entwickeln. Diese wurden mit um so größerer Beharrlichkeit nach außen vertreten, als eine offensichtliche Bereitschaft des Publikums bestand, außerakademische Wissensangebote zu rezipieren. Gunter Mann hat in diesem Zusammenhang prononciert vom „monomanen Dilettantismus" gesprochen, der von Ausschließlichkeiten und Einengungen bestimmt sei, im subjektiven Glauben, ein zentrales Erkenntnisprinzip gefunden zu haben, das der Schriftsteller einseitig, aber doch mit universalem Anspruch aufnehme und in seiner Reichweite ungebührlich ausdehne. 64 Schon Roßmäßler war nicht frei von Redundanzen im Beschwören der natürlichen Weltanschauung gewesen, Karl Müller aus Halle wurde selbst von Freunden wegen seiner Moralisierung der Naturwissenschaft gefürchtet. Aber es gab noch krassere Fälle des privaten Weltdeutertums, bei denen ein merkwürdiges Mißverhältnis zwischen der fachlichen Spezialisierung und der gesellschaftlichen Marginalität der Autoren einerseits und deren emphatischer Forderung, den eigenen Erkenntnissen universale Gültigkeit beizumessen, andererseits bestand. 65 Philipp Spiller legte z.B. 1870 seine Populäre Kosmogenie vor. Sie baute auf eigenen Theorien über Elektrizität, Magnetismus und Erdbeben auf. Spiller wollte nicht weniger als den eigentlichen Schlüssel zu Humboldts Auffassung von der Natur als organischer Ganzheit präsentieren. Danach war der gesamte Weltraum durchzogen von einem elastischen Stoff, dem Weltäther. Dieser modelliere
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Ebenda, S. 156,165. Vgl. Bölsche: Zur Erinnerung (1907). D.h. aus ökonomischen Notwendigkeiten fehlende Verzicht. Die Korrespondenzen einschlägiger Popularisierer durchziehen Klagen über den mangelnden Zugriff auf Literatur und Forschungsmittel, während sie zugleich wegen des Zwangs zur Existenzsicherung darauf angewiesen waren, in rascher Folge zu publizieren. Mann: Dilettant (1982), S. 55. Ein frühes Beispiel solcher Selbstreferentialität bietet J. W. Schmitz: Der kleine Kosmos (1852) und ders.: Die Natur (1852).
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alle vorhandenen Körper, induziere Licht, Wärme, Gravitation etc., sei Ausgangspunkt allen Lebens und damit der Gesetzgeber der Natur.66 Größeres Aufsehen erregten Gustav Jäger und Rudolf Falb. Jäger vertrat seit den 1870er Jahren seine Theorie der Seelenstoffe, die er begrifflich mit der Seele gleichsetzte und als Ausdünstungsstoffe in Lust- und Unluststoffe auffächerte. Die menschliche Entwicklung, das Affektleben, die Nahrungswahl etc. waren demnach von Individual- und Vererbungsstoffen geprägt, die wiederum als Geruch und Geschmack wahrgenommen werden konnten. Das eröffnete umgekehrt die Möglichkeit, den Menschen seelisch durch Geruchs- und Geschmacksstoffe zu beeinflussen. Dazu hatte Jäger auch ein Meßverfahren (Millsekunden) entwickelt, bei dem die Nervenreizung durch die genannten Stoffe festgehalten wurde.67 Jägers Stunde schlug auf der 52. VDNA in Baden-Baden 1879. Im Vorfeld hatte er der deutschen Presse angekündigt, den Versammelten „die menschliche Seele zu zeigen" und die „Untersuchung der Riechstoffe (Neuraianalyse)" zu demonstrieren.68 Jäger illustrierte seinen Vortrag über Gemütsaffekte durch zahlreiche Wandtafeln, die graphisch den durch seinen Nervenmesser angezeigten ,Riechwechsel' an diversen Stoffen vom Haar seiner Frau bis zur Birnensorte Gaishirtle anzeigten.69 Die Rede endete mit heftigen Schluß-Rufen im Eklat, als Jaeger über die Affektwirkung von Fäkalien referierte. Fortan zog es der Stuttgarter Duft-, Seelen- und Wolljäger, wie er von vielen genannt wurde, vor, im bald gegründeten eigenen Monatsblatt seine Theorie zu propagieren und zu einem weit ausholenden hygienischen Gesundheitsregime auszubauen. In dessen Mittelpunkt stand die Empfehlung zum ständigen Tragen von Wollkleidung. Jaegers Überlegungen übten nochmals nachhaltigen Einfluß auf die Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende und deren Bemühungen um eine natürliche Kleidung aus.70 Von der Fachwelt kaum weniger abgelehnt wurden die Theorien Rudolf Falbs, der vom katholischen Priesteramtskandidaten zum protestantischen Naturwissenschaftler konvertierte und bis 1877 die Zeitschrift Sirius herausgab. Falb erklärte Erdbeben durch Bewegungen des flüssigen Magnas aufgrund der Konstellation von Sonne und Mond und machte auch den Mondeinfluß vorrangig für die atmosphärischen Wetterlagen verantwortlich.71 66 67 68 69 70 71
Spiller: Die Entstehung (1870), S.506f., 508. Vgl. K. Müller: Professor Philipp Spiller (1879), S. 99. Jäger: Die Entdeckung (1880), S. 121ff. Zitiert nach Weinrich: Duftstofftheorie (1879), S. 192. Tageblatt der 52. VDNA in Baden-Baden 1879. Baden-Baden 1879, S. 138-144. Jäger: Mein System (1885); Krabbe: Gesellschaftsveränderung (1974), S. 108-111. Zur Kritik an Falb siehe W. Foerster: Prophetentum und Hierarchie in der Wissenschaft. Eine zeitgeschichtliche Skizze, in: Himmel und Erde 1 (1889), S. 526-531; Meyer: Die populär-wissenschaftliche Litteratur (1895), S.24; ders.: Ueber populäre Wissenschaft (1890), S. 567; W. Ule: Falbs Theorien im Lichte der
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Solche Eigenwilligkeiten und Theoriebildungen an der wissenschaftlichen Peripherie bestärkten nur den Vorwurf des Dilettantismus. Dieser potenzierte wiederum bei den Betroffenen das Trauma, von der akademischen Zunft ausgestoßen zu sein und negiert zu werden. Damit gerieten sie einmal mehr in eine kaum aufzulösende Spannung. Otto Volger etwa fühlte sich als Wissenschaftsautor und beharrte auf eigener Forschungsarbeit. Er begutachtete kritisch Autoren wie Roßmäßler, für den in seinen Augen „die ganze Welt nur Stoff zu Artikeln penny-a-line" darstellte. Zugleich polemisierte Volger gegen die „Herrn Zunftmeister", die keine populären Schriften läsen und zugleich seine eigenen Schriften mit „feige [m] Schweigen" belegen würden. Mit nur geringem Einkommen versehen und aus dem väterlichen Vermögen zehrend, war sein Trotz, selbst wissenschaftliche Arbeiten „statt wohlbezahlter Journalistenaufsätze" zu verfassen, von Fatalismus nicht frei.72 Nicht wenige antworteten auf die Vernachlässigung und Marginalisierung durch die wissenschaftliche Zunft ihrerseits mit heftigen Ausfällen gegen das akademische Establishment. Diese Antikritik war ein sozialpsychologisches Muster, das der Programmatik, Wissenschaft aus den Händen weniger eingeweihter Gelehrter zu lösen, vielfach zugrundelag und nicht unterschätzt werden sollte. Ernst Krause bot dafür ein illustres Beispiel. Seine Interessen hatten sich nach 1890 von der Naturwissenschaft auf mythologisch-archäologische, sagen- und sprachgeschichtliche Fragen verlagert. 1893 ritt der Berliner Journalist vollends Attacke gegen den „deutschen Gelehrtendünkel" und belegte die „hochwohlweisen Perückenträger der Universitäten und Akademieen" mit heftiger Polemik.73 Damit provozierte Krause indes nur eine massive Gegenkritik und mußte sich als Spottbild unter diejenigen Autodidakten einreihen lassen, die den „radikalen Lesern dadurch imponiren, daß sie den Darwin überdarwinisiren und den Häckel überhäckeln." 74 Trotz mancher Anerkennung seiner sachlichen Leistungen hatte sich Krause endgültig ins akademische Aus manövriert und bekam die ausgeteilten Schläge wieder zurück.
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Wissenschaft, in: Himmel und Erde 9 (1897), S. 529-542. Positiv dagegen Archenhold: Rudolf Falb (1903/4), S.51. Zitate in der angegebenen Reihenfolge aus der Korrespondenz Volgers an K. F. Mohr 16.5.1859,4.12.1858,26.12.1818 und 4.12.1858 (UB Bonn, S 1413). Ernst Krause (Carus Sterne): Die Trojaburgen Nordeuropas[,] ihr Zusammenhang mit der indogermanischen Troj asage von der entführten und gefangenen Sonnenfrau (Syrith, Brunhild, Ariadne, Helena), den Trojaspielen, Schwert- und Labyrinthtänzen zur Feier ihrer Lenzbefreiung. Nebst einem Vorwort über den deutschen Gelehrtendünkel. Glogau 1893, S. VII, XXVI. Ludwig Freytag: Dr. Ernst Krause (Carus Sterne), in: Das Zwanzigste Jahrhundert 4.2 (1894), S. 270-275, hier S. 270.
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3. Okkasionelle Popularisierer „Was thut der Volksschriftsteller aber anders, als daß er die Wahrheiten, welche die Männer auf den Höhen der Wissenschaft durch ihre unermüdlichen Forschungen gewonnen, zum Allgemeingut macht. Sein Beruf besteht darin, daß er das Wasser des Lebens aus dem Quell, der nur für die Aristokratie der Wissenschaft sprudelt, der Menge bietet und ihr zuruft:,Trinkt Alle daraus!'" [Moses Hess:] Ueber die populäre naturwissenschaftliche Literatur, in: Das Jahrhundert 2 (1857), S. 558.
Unter den vier Typen der Vermittler läßt sich der zweite am wenigsten mit einem klaren Gruppenprofil verbinden. Zwischen berufsmäßiger Bildungstätigkeit und universitärer Lehre eröffneten sich nach 1848 zahlreiche Gelegenheiten, ad hoc, für eine bestimmte Zeitphase oder gebunden an eine bestimmte Lebens- oder Berufssituation zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse beizutragen. Die okkasionellen Popularisierer verdeutlichen in besonderem Maße, wie ganz unterschiedliche Personen und Gruppen von dem Gedanken naturwissenschaftlicher Bildung fasziniert wurden. Entsprechend uneinheitlich waren ihre Motive und der Charakter ihrer Beiträge. Die Tabellen 10 und 11 verzeichnen dabei nur die überregional bekanntesten Personen.
a) Rekrutierung aus Lehrerschaft, Musealwesen, Zoologischen Gärten und Bildungseinrichtungen Im Kernbereich sind wiederum die Absolventen eines naturwissenschaftlichen Studiums zu verorten, d.h. hier vorrangig solche, die ihr berufliches Standbein im Schulwesen oder an einer der Forschungs-, Museal- oder Bildungsinstitutionen gewannen, die im letzten Jahrhundertdrittel ausgebaut wurden. Den Lehrerseminaren und dem höheren Schuldienst entstammten seit dem Vormärz bedeutende Verfechter naturwissenschaftlicher Bildung, die sich öffentlich zu Wort meldeten. An erster Stelle steht Adolph Diesterweg, der unter dem Einfluß der Schriften Rousseaus, der Philanthropen und Pestalozzis eine naturgemäße Erziehung zur Grundlage seines Eintretens gegen die geistliche Schulaufsicht, gegen Konfessionsschulen und die politische Orthodoxie machte. 1 An Diesterweg orientierte sich von Roßmäßler bis Friedrich Junge eine ganze Generation von schulpolitisch akti1
Vgl. Horst F. Rupp: Fr. A. W. Diesterweg. Pädagogik und Politik. Göttingen 1989; Adolph Diesterweg - Wissen im Aufbruch, Siegen 1790, Berlin 1860. Katalog zur Ausstellung zum 200. Geburtstag. Weinheim 1990; Langewiesche: Bildungsbürger (1992).
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ven Naturwissenschaftlern. Das konnte auf Impulse in der Seminarausbildung oder, nach Diesterwegs Amtsenthebung 1847, auf die durch ihn im politischen Raum unternommenen Vorstöße zurückgehen. Die von Diesterweg herausgegebenen Rheinischen Blätter für Erziehung und Unterricht seit 1827 und das Jahrbuch für Lehrer und Schulfreunde seit 1851 sorgten für einen zusätzlichen Resonanzboden. So erreichten Junge und seine Mitseminaristen noch zu Beginn der 1850er Jahre in der Lehrerausbildung die Aufforderung Diesterwegs, die Zeitschrift Die Natur von Ule und Müller zu lesen.2 Einen naturkundlichen Klassiker schuf der Lehrer Karl Ludwig Schoedler, im Vormärz Assistent in Liebigs chemischem Laboratorium, mit seinem Buch der Natur. Es war für den Schulunterricht konzipiert und erreichte bis 1884 22 Auflagen. Stärker außerschulisch orientiert waren die Publikationen der Lehrer Berthold Sigismund, Hermann Masius, Ludwig Glaser, Karl Müllenhoff und Kurd Laßwitz. Trotz weitergehender Ambitionen war Laßwitz auf seine Tätigkeit am Gymnasium Ernestinum in Gotha angewiesen, da ihm die erhoffte Universitätsprofessur versagt blieb.3 Der Neukantianer entfaltete von hier aus eine reiche schriftstellerische und editorische Tätigkeit. Sie umfaßte sowohl naturwissenschaftliche Märchen und utopische Romane, mit denen Laßwitz zum Begründer der deutschen Science-Fiction-Literatur avancierte ( A u f zwei Planeten 1897), als auch populärwissenschaftliche Essays und philosophische Arbeiten. Zwei Parallelentwicklungen verstärkten nach 1880 die Rolle der Lehrer als Mitträger popularisierender Aktivitäten. Zum einen der Ausbau der Realschulen und deren allmähliche schulpolitische Aufwertung, zum anderen die zunehmende biologisch-ökologische Orientierung in der Naturbetrachtung, die Junge und Otto Schmeil betonten. Diese Neuorientierung ging konzeptionell und personell in die Naturschutzbewegung über, in der sich nach 1900 etwa Martin Braeß und Walther Schoenichen engagierten. Neben dem Schulwesen spielten die naturwissenschaftlichen Museen eine zentrale Rolle als Nährboden und Forum für die Vermittler. Viele der Assistenten, Kustoden und Direktoren der großen Naturkundemuseen wurden zu beflissentlichen Autoren in der naturkundlichen Publizistik, zu Beiträgern der Unterhaltungspresse, gefragten Referenten der großen Vortragseinrichtungen oder Herausgebern eigener Laienzeitschriften. Signifikant ist die Profilierung einzelner im regionalen Bereich. Einen Schwerpunkt bildete die Berliner Museumslandschaft mit dem Königlichen Zoologischen Museum bzw. dem Museum für Naturkunde seit 1889. Hier wirkten die publizistisch überaus aktiven Zoologen Hermann Kolbe, Eduard von Martens und Paul Matschie, der sich ohne Promotion bis zum
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DBA 615,40. NDB 13, S. 681.
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zweiten Direktor des Berliner Museums für Naturkunde hochgedient hatte. In Hamburg war es Karl Kraepelin, der sich zunächst als Lehrer am Realgymnasium des Johanneum, parallel dazu als Protagonist im Naturwissenschaftlichen Verein, Vorsitzender der Museumskommission und schließlich von 1889 bis 1914 als Direktor des Naturhistorischen Museums einen bleibenden Ruf als Experte außeruniversitärer Bildungsarbeit erwarb. Seine Tätigkeiten strahlten weit über die Hansestadt aus und kamen nach 1900 den schulpolitischen Bestrebungen der GDNA zugute. Auf der Höhe der modernen museumspädagogischen Diskussion stehend, führte Kraepelin an dem Museum die Trennung von Schausammlung und wissenschaftlicher Sammlung ein.4 Den „Gegensatz zwischen Liebhaberei und Forschung"5 wußte er wie kaum ein anderer auszubalancieren. Was Kraepelin für Hamburg war, bedeutete Kurt Lampert für Stuttgart. Der Pfarrerssohn bemühte sich um die Königliche Naturaliensammlung, unterstützte das Lindenmuseum, unterrichtete an verschiedenen Schulen, gab zwischen 1908 und 1912 die Reihe Naturwissenschaftliche Wegweiser heraus und wirkte daneben in diversen lokalen und regionalen Vereinen. Zwei dem Musealwesen verwandte Bereiche waren personell nicht weniger, direkt oder indirekt, mit der Popularisierungsbewegung verkoppelt. Die Zoologischen Stationen, am Anfang Anton Dohms Pionierleistung in Neapel, dann Friedrich Heinckes Biologische Anstalt auf Helgoland6 und Zacharias' Plöner Einrichtung, waren der deutschen Öffentlichkeit dank des publizistischen Auftretens ihrer Gründer wohlvertraut. Diese waren mindestens so sehr daran interessiert, zusätzliche Ressourcen für ihre Institute zu mobilisieren, wie daran, ihre neuen Forschungsansätze der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Daß beide Motive nicht zu trennen waren, zeigte Anton Dohm. Der Zoologe hatte sich Ende der 1860er Jahre von seinem Lehrer Haeckel gelöst und 1872 mit dem Bürgermeister von Neapel einen Vertrag über die Errichtung der Zoologischen Station abgeschlossen. Damit brachte Dohm sein originäres Lebenswerk auf die Erfolgsbahn und bemühte sich noch im gleichen Jahr mit Macht, sein Projekt der deutschen Öffentlichkeit zu präsentieren. Dohm veröffentlichte in den Preußischen Jahrbüchern einen programmatischen Aufsatz über den gegenwärtigen Stand der Zoologie und die Gründung zoologischer Stationen, in dem er sich ganz unverhüllt darum bemühte, die Notwendigkeit neuer genetisch-physiologischer Forschungen zur Seefauna mit der Auf4
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Vgl. Kraepelin: Die Bedeutung (1888) und komprimiert ders.: Die Bedeutung der naturhistorischen, insonderheit der zoologischen Museen, in: NwW 3 (1888/89), S. 74-76,85f„ 90-93. So Kraepelin 1917, zitiert nach Weidner/Kraus: Aus der Geschichte (1988), S. 70f. Wilhelm Mielck: Die preussische Biologische Anstalt auf Helgoland, in: Ludolph Brauer/Albrecht Mendelssohn Bartholdy/Adolph Meyer (Hg.): Forschungsinstitute. Ihre Geschichte, Organisation und Ziele. Bd. II, Hamburg 1930, S. 175-199.
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forderung zu verknüpfen, daß von privater und staatlicher Seite mehr Fördermittel aufgebracht werden sollten; die so eminent wichtige Zoologie sei eine „theuere Wissenschaft" 7 . D o h m hatte auch nicht versäumt, den einflußreichen Rudolf Virchow in Berlin um Intervention bei dem Redakteur der Jahrbücher zu ersuchen, schließlich handele es sich bei der Veröffentlichung um eine „strategische Notwendigkeit" 8 . Gegenüber den prinzipiell forschungsorientierten Stationen waren die Zoologischen Gärten und Aquarien, selbst wenn sie auch wissenschaftlichen Zwecken dienten, 9 weitaus stärker publikumsorientiert. Das außerfachliche Publikum bildete die unmittelbare Rezipientenschaft und trug, zumindest in Teilen, über die Aktienausgabe zur finanziellen Konsolidierung bei. David Friedrich Weinland in Frankfurt am Main 1859-63, Gustav Jäger in Wien 1860-66 und Alfred Brehm in Hamburg 1863-66 und Berlin 1869-73/74, wo er das Aquarium Unter den Linden leitete und dort den Grottenbau und das Prinzip der Tierhaltung durchsetzte, 10 gehörten zu den Pionieren des zoologischen Ausstellungswesens. Aus ihren Erfahrungen in den Zoologischen Gärten gewannen sie wiederum zahlreiche Anregungen für eine anthropomorphisierende Tierbetrachtung und den biologischen Ansatz, Tiere in einer natürlichen Umwelt zu zeigen. Bereits 1862 hatte Weinland die Zoologischen Gärten als „wesentlich volktsthümliche Institute" definiert, die „von der öffentlichen Meinung getragen" eine „Aeußerung jenes allgemeinen Triebs nach naturwissenschaftlicher Bildung" darstellten. 11 Dabei stand Weinland angesichts der nun in rascher Folge ins Leben gerufenen Gärten das städtische Bürgertum als Trägerschicht vor Augen. Jäger und Brehm setzten ihre hier erworbenen Erfahrungen ebenso literarisch um wie die Zoo-Direktoren der nachfolgenden Generation, die jenseits ihrer administrativen Tätigkeiten eine intensive Öffentlich-
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Dohm: Der gegenwärtige Stand (1872), S.4,21. Anton Dohm an Rudolf Virchow 20.6.1872, abgedruckt in: Groeben/Wenig (Hg.): Anton Dohm (1992), S. 35f. Vgl. Groeben: Anton Dohm (1985), S. 11. Dies hieß in der ersten Jahrhunderthälfte vor allem, Beiträge zur globalen Artenbestandsaufnahme, zur Tiersystematik und Nomenklatur zu leisten, während später physiologische, biologische und verhaltensbiologische Fragen in den Vordergrund traten. Lange spielte auch der Akklimatisationsgedanke, d.h. der Versuch, exotische Tiere an die mitteleuropäischen Lebensbedingungen zu gewöhnen und damit eine Vermehrung zu ermöglichen, eine zentrale Rolle. Vgl. Jahn: Zoologische Gärten (1992) und Sally Gregory Kohlstedt: Reflections on Zoo History, in: Hoage/Deiss (Eds.): New Worlds (1996), S. 3-7. Haemmerlein: Der Sohn (1987), S. 152ff.; Strehlow: Zur Geschichte (1987), ders.: A. E. Brehms Beziehungen zu Berliner Naturwissenschaftlern vor der Gründung des Berliner Aquariums Unter den Linden, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 87,1 (1991), S. 359-366; Alfred Brehm: Grundzüge eines Planes für Errichtung eines Zoologischen Gartens in Wien. o.J. [1873], Kopie und Abschrift (Archiv für Brehmforschung, Thiemendorf). [Weinland:] Ueber den Ursprung (1862), S. 2.
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Abbildung 20: Alfred Brehm, Afrikareisender, Zoo-Direktor und Verfasser des Thierlebens.
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keitsarbeit betrieben und für zoologische Berichterstattungen in den Printmedien sorgten.12 Eine vergleichbare Funktion übernahmen die Leiter der öffentlichen Sternwarten und Mitarbeiter der Urania, darunter Friedrich Archenhold und Paul Schwahn. Solche Tätigkeiten wiesen ein deutlich fachorientiertes Profil auf. Daneben entstanden nach 1850 diverse naturkundliche Schaustellungen in lokalen Bereichen, die primär kommerziell orientiert waren und auf den bildenden Anspruch ganz oder weitgehend verzichteten. Der private Zoologische Garten des Gastwirts Gustav Werner in Stuttgart13 gehört in diese Kategorie, ebenso die Völkerschauen, der Dressur-Zirkus und schließlich der 1907 in Hamburg-Stellingen eröffnete Tierpark des Tierhändlers Carl Hagenbeck.14 Durch die breite Streuung ihrer Aktivitäten trugen die okkasionellen Popularisierer erheblich dazu bei, Museal- und Vereinswesen, Zoologische Gärten, Aquarien und Sternwarten, Publizistik und Presse miteinander zu vernetzen. Sie schufen auf diese Weise fließende Übergänge zwischen den jeweiligen wissenschaftlichen und unterhaltenden Funktionen, zwischen akademischem Diskurs und bürgerlicher Geselligkeit. Solche Polyvalenzen schufen Raum für ausgeprägte Individualisten wie Alfred Brehm oder Hermann Landois in Münster, deren Einfallsreichtum im universitären Rahmen beschnitten worden wäre und die sich kaum an bürgerliche Normalattitüden hielten. Mit Landois ist der vielleicht skurrilste Verfechter naturwissenschaftlicher Volksbildung benannt. Er war 1859 nach dem Studium der katholischen Theologie zum Priester geweiht worden, folgte aber bald seinen naturkundlichen Interessen und brachte es bis zum ordentlichen Professor für Zoologie an der Akademie in Münster. In der westfälischen Stadt entfaltete Landois eine kaum zu zügelnde Betriebsamkeit. Er gründete zoologische Vereine und das Provinzial-Museum für Naturkunde, rief 1873 zur Gründung eines Zoologischen Gartens auf, initiierte dazu eine Aktiengesellschaft und leitete dann seit 1875 den ersten Tiergarten Westfalens. Die von Landois ins Leben gerufene Zoologische Abendgesellschaft zog dort 12
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Dazu zählen Heinrich Bodinus, ein enger Freund Brehms und 1859-69 Direktor des Zoologischen Gartens in Köln, danach in Berlin; Friedrich Schlegel, bis 1886 in Breslau; Wilhelm Haacke, 1888-93 Direktor in Frankfurt am Main; Adalbert Seitz, 1893-1908 ebenfalls in Frankfurt; Ernst Schäff, 1893-1909 in Hannover; Heinrich Bolau, bis 1909 in Hamburg, und vor allem Friedrich Knauer, seit 1887 Direktor des Vivariums, später des Neuen Tiergartens in Wien, und Ludwig Heck, der 1886-88 in Köln und 1888-1931 in Berlin den Zoologischen Garten leitete. Vgl. Archiv-Nachrichten. Hg. v. d. Landesarchivdirektion Baden-Württemberg. Quellenbeilage 7, Oktober 1993, S. 5. Reichenbach: Carl Hagenbeck's Tierpark (1980), ders.: A Tale of Two Zoos: The Hamburg Zoological Garden and Carl Hagenbeck's Tierpark, in: Hoage/Deiss (Eds.): New Worlds (1996), S. 51-62.
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mit Karnevalssitzungen und plattdeutschen Theateraufführurigen Besucher an. Der ehemalige Priester15 baute sich später eine eigene Wohn- und Museumsburg am Rand des Gartens, vor der er 1900 ein Standbild seiner selbst mit einem Einflugloch für Höhlenbrüter errichten ließ. Die Anfertigung von Lehrmodellen für den biologischen Unterricht und diverse zoologische Publikationen ergänzten das Oeuvre eines Mannes, dessen Kreativität kaum Grenzen kannte, der belletristische Arbeiten und plattdeutsche Lyrik verfaßte, Herman Löns in seinen Bann zog und bis heute als Münsteraner Original gilt.16 b) Pfarrer, Forschungsreisende und Postrevolutionäre Der öffentliche Umgang mit naturwissenschaftlichen Kenntnissen wurde während des gesamten Jahrhunderts von Personen mitbestimmt, die jenseits von Fachstudiengängen, naturkundlichen Institutionen und des Schulwesen agierten, selten systematisch Bildungszwecke verfolgten und doch erheblichen Einfluß auf die kollektiven Bilder der Natur in der bürgerlichen Gesellschaft gewannen. Drei Kreise lassen sich ziehen. Im Zentrum des ersten steht das evangelische Pfarrhaus als wirkungsvolle bildungsgeschichtliche Instanz.17 Daß bis zur Generation des 1861 geborenen Eberhard Dennert ein Teil der Vermittler aus Pfarrersfamilien stammt,18 ist ein kaum auffälliges Faktum; von einem überproportional großen Anteil kann man nicht sprechen. Eher fallen einzelne Pfarrer auf, die neben ihrer kirchlichen Tätigkeit zoologische Interessen in die Öffentlichkeit trugen: Christian Ludwig Brehm, der neben Johann Andreas Naumann bedeutendste deutsche Ornithologe des Vormärz; Friedrich Tschudi, der sich allerdings 1847 vom Pfarramt zurückzog, um in den Folgejahren seine populärwissenschaftlichen Arbeiten zu forcieren; August Nathaniel Böhner, der Verfechter eines christlichen Monismus; und Karl Müller aus Friedberg in Hessen, der mit seinem Bruder Adolf zu den am meisten gelesenen naturkundlichen Autoren des Säkulums zählte.
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1876 wurden Landois die amtskirchlichen Funktionen entzogen. Werland: Münsters Professor Landois (1977). Martin Greiffenhagen (Hg.): Das evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte. Stuttgart 1984 mit dem Beitrag von Franz: Pfarrer als Wissenschaftler (1984); Oliver Janz: Bürger besonderer Art. Evangelische Pfarrer in Preußen 1850-1914. Berlin, New York, S.258ff., 198ff., der für die Zeit nach 1850 einen Trend zur berufsmäßigen Abschließung und zum Rückzug der Pfarrer aus dem Bürgertum und dessen Geselligkeit konstatiert. Zum Beispiel Eduard Baltzer, Alfred Brehm, Gustav Jäger, Kurt Lampert, Karl und Adolf Müller, Hermann und Fritz Müller, Benjamin Vetter, David Friedrich Weinland und Moritz Willkomm.
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Allen war ein Zug zur anthropomorphisierenden Naturschilderung eigen, die den Lesern das Leben der Tier- respektive Vogelwelt als Spiegel menschlicher Eigenschaften präsentierte. Die ornithologischen Charakterzeichnungen der Brüder Müller und ihre Tiere der Heimat verankerten das Tierleben nicht weniger tief in der bürgerlichen Gesellschaft als die Schriften Alfred Brehms. Ihre Publikationen tradierten naturtheologische Subtexte und harmonische Konzepte der Gottesnatur, wie sie zuvor eher in der Traktat-, Besinnungs- und Ratgeberliteratur verbreitet worden waren. 19 Nicht zufällig präsentierte sich Böhners Kosmos von 1864-67 als Bibel der Natur. Das exotische Pendant zu den naturkundlich engagierten Pfarrern bilden die Forschungsreisenden und fahrenden Privatgelehrten. 20 Afrikareisende wie Gustav Nachtigal und Gerhard Rohlfs, Südamerikaforscher wie Robert Ave-Lallemant und Ernst von Bibra, die weitgereisten Robert von Schlagintweit, Friedrich Ratzel und Kurt Floericke, Adolf Bastian, der sich bevorzugt in Asien aufhielt, Carl Georg Schillings, der Afrika mit dem Photoapparat neu entdeckte, und viele andere verwoben in ihren Erzählungen geographische, ethnologische und naturwissenschaftliche Elemente und boten gerade durch diese Mischung einen besonderen Leseranreiz. Noch ausgreifender ist ein dritter Kreis okkasioneller Vermittler, die ihren Zugriff auf naturwissenschaftliche Themen aus Kontexten gewannen, welche auf den ersten Blick eher entfernt erscheinen. In keiner anderen Phase erreichte die Idee der Popularisierung so verstreute Personengruppen wie in den Jahren der Revolution und des Nachmärz. Sie mobilisierte dabei in hohem Maße Persönlichkeiten, die keinerlei naturkundliche Ausbildung oder gar professionelle naturwissenschaftliche Betätigung aufweisen konnten. Diese Postrevolutionäre verdeutlichen die enorme Anziehungskraft des Gedankens, eine empirisch orientierte Wissenschaftslehre zum gesellschaftlich notwendigen Bildungsgut zu erklären und sie zugleich ideologisch an parallele emanzipatorische Bestrebungen zu koppeln; ihr Engagement war mittelbar oder unmittelbar politisch motiviert. Neben den Naturwissenschaftlern Nees von Esenbeck, Roßmäßler und Ule vereinnahmten die Theologen Eduard Baltzer und Heribert Rau, wie im Kapitel IV. 1 ausgeführt, die Idee volkstümlicher Naturwissenschaft für die freikirchliche Bewegung. Sie wurden dabei unterstützt von Gustav Adolf Wislicenus, dem Verleger Schwetschke und weiteren Autoren. 21 Hinzu kam eine Reihe ausgewiesener politischer Journalisten: Aaron Bern19
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Die Tradierung theologischer Naturvorstellungen - nicht nur in säkularisierter Form - in der Populärliteratur des 19. Jahrhunderts zu erforschen, ist vermutlich eine der spannendsten, weil manche Überraschung bergenden, historiographischen Aufgaben. Essner: Deutsche Afrikareisende (1985), hier auch S. 70-72 zu reisenden Naturforschern. Zum Beispiel Karl Kleinpaul, C. Scholl und H. Weißgerber.
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stein, ein Vertreter des Berliner Reformjudentums und 1849-53 Herausgeber der Urwähler-Zeitung-, Heinrich Bettziech gen. Beta, Mitarbeiter der Hallischen Jahrbücher und des Berliner Freihandelsvereins, 1848/49 radikaler Demokrat und Revolutionsberichterstatter, der von der einsetzenden Reaktion zur Flucht nach London getrieben wurde; der Junghegelianer Wilhelm Jordan; Moses Hess, Publizist für die Rheinische Zeitung und 1845 mit Friedrich Engels Herausgeber des demokratischen Gesellschaftsspiegels, der noch vor der Revolution mit den Kommunisten um Karl Marx brach, später eine Zeitlang für den ADAV tätig war und seit 1848 vorwiegend in Paris lebte. Sie alle fanden in den 1850er Jahren, wenn auch nur befristet, einen Weg zur Naturwissenschaft. Die empirisch orientierten Naturwissenschaften jenseits idealistischer Spekulation wurden für die hier exemplarisch Genannten zum Gegenstand ihrer Betrachtung in den Medien und zugleich zum Medium ihres Bemühens, eine rationale Begründung der gesellschaftlichen Ordnung voranzutreiben. Dieses Anliegen verquickte sich mit der Notwendigkeit, auch für den persönlichen Lebensunterhalt eine neue Basis zu finden. Bernstein begründete 1853 die Naturwissenschaftlichen Volksbücher, richtete ein privates chemisches und photographisches Laboratorium ein und beschäftigte sich mit Telegraphie und Wettervorhersagen. 1876 wurde er sogar an der Universität Tübingen ehrenhalber zum Dr. rer.nat. ernannt.22 Heinrich Beta schrieb als naturwissenschaftlicher Berichterstatter aus London für Die NaturP Wilhelm Jordan belebte 1849 nochmals seine demokratische Weltanschauung in dem Bemühen, die Zeitschrift Die begriffene Welt ins Leben zu rufen. In seinem epischen Werk Demiurgos (1852-54) formulierte Jordan zudem entwicklungsgeschichtliche Vorstellungen. Auch Moses Hess wurde in den 1850er Jahren in einer Mischung aus biographischen, politischen und philosophisch-ideellen Motiven von der naturwissenschaftlichen Gedankenwelt angezogen. Im Dezember 1852 äußerte Hess erstmals im Entwurf eines Briefes an Jacob Moleschott das Bedürfnis, seine gesellschaftstheoretischen Überlegungen naturwissenschaftlich zu begründen. Hess wollte mit nicht geringem Anspruch die universale Gesetzmäßigkeit der Entwicklungsgeschichte allen Lebens erforschen.24 In den folgenden Jahren kompensierte Hess mit außerordentlichem autodidaktischem Aufwand seine mangelnde Vorbildung; im Wintersemester 1853/54 besuchte er in Paris naturwissenschaftliche Vorlesungen. Die Hinwendung zum neuen Wissensbereich war mitbedingt durch den 22 23
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Vgl. Schoeps: Bürgerliche Aufklärung (1992), S.267f. Vgl. auch Beta: Die Bewirtschaftung (1868), mit einem Vorwort von Alfred Brehm; H. Beta: Der Sohn des ,alten Brehm', in: Gartenlaube 17 (1869), S. 20-22; Ernst Keil's publizistische Wirksamkeit (1914), S. 84-97. Moses Hess an Jacob Moleschott 18.12.1852, Original-Entwurf, nach einer handschriftlichen Notiz von Hess nicht abgesandt, abgedruckt in: Silberner (Hg.): Moses Hess Briefwechsel (1959), S.290.
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Zwang zur Abstinenz von jeder unmittelbaren politischen Tätigkeit, mit dem Hess 1853 das Niederlassungsrecht in Paris erkauft hatte. Rasch zeichnete sich ein bemerkenswerter Ehrgeiz ab. Hess wollte nicht nur zum Leser naturwissenschaftlicher Werke sondern zu deren Verfasser werden.25 Er begann, naturwissenschaftliche Fragen in der Revue philosophique et religieuse zu behandeln, einer maßgeblich von französischen Sozialisten geprägten philosophischen Zeitschrift. Sein schon länger gehegter Wunsch, auch in der deutschen Publizistik wieder Fuß zu fassen, erfüllte sich in der Mitarbeit an den Zeitschriften Die Natur und Das Jahrhundert; letztere führte Junghegelianer und Sozialisten des Vormärz zusammen und war in der sozialdemokratischen Arbeiterbildungsbewegung Hamburgs verankert.26 Außerdem plante Hess die Herausgabe einer Enzyklopädie der Wissenschaften, die nach dem Muster der französischen Enzyklopädisten das positive Wissen der Zeit zusammenfassen sollte.27 Sieht man von speziellen Thesen ab, die Hess im Laufe dieser Jahre entwickelte, so sind seine naturwissenschaftlichen Arbeiten durch drei Grundzüge geprägt, die sich nahtlos in die dominierenden Muster der populärwissenschaftlichen Weltbilder jener Zeit einfügen: Durch den ungebrochenen Anspruch, die Naturwissenschaften zum Ausgangspunkt einer universalen Betrachtung des Lebens zu machen und damit aufgehen zu lassen im „komparativen Studium der Schöpfungsgeschichte aller Lebenssphären"28. Durch die Suche nach einem Grundgesetz, das den Zusammenhang aller Natur- und Gesellschaftserscheinungen erkläre und das Hess im universalen Gravitationsgesetz sah, d.h. in der Lehre von der Tendenz aller Elemente, in ein Gleichgewicht zu kommen.29 Schließlich durch den Versuch, die Verbreitung naturwissenschaftlicher Bildung im Volk an den sozialen und politischen Fortschritt zu koppeln. Diese letzte Vorstellung war in dem Maße zeit- und situationsgebunden und damit in ihrem Geltungsanspruch begrenzt, wie sich keine anderen Ersatzideologien für eine unmittelbare politische und soziale Betätigung aufdrängten. Es ist bezeich25 26
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Diese Formulierung nach Na'aman: Emanzipation (1982), S. 268. Siehe Otto Ule an Moses Hess 10.9.1856, in: Silberner (Hg.): Moses Hess Briefwechsel (1959), S. 312f.; Silberner: Moses Hess (1966), S. 334f.; Na'aman: Emanzipation (1982), S. 271f. Hess lieferte bis 1859 für Die Natur zwei Artikelserien über die Sonne und ihr Licht und die Geschichte und physische Beschaffenheit des Planetensystems. Moses Hess an Jacob Moleschott April 1856, Jacob Moleschott an Moses Hess 11.6.1856, Moses Hess an Meidinger Sohn & Cie o.D. [Spätsommer 1857], in: Silberner (Hg.): Moses Hess Briefwechsel (1959), S.305f., 309f., 334f.; Hess: Naturwissenschaften (1856), S.260. So die Formel in der von Hess geplanten Einleitung zu seiner Enzyklopädie der Wissenschaft auf der Basis einer vergleichenden Schöpfungsgeschichte, zitiert nach Silberner: Moses Hess (1966), S. 348. Diese Vorstellung lehnte sich an Moleschotts Gedanken vom ewigen Kreislauf der Dinge an. Vgl. Silberner: Moses Hess (1966), S. 336-349.
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nend, daß Hess' naturwissenschaftliche Bildungstätigkeit im Jahr des italienisch-französischen Krieges gegen Österreich und der neuen nationalen Bewegung in Deutschland beinahe ebenso abrupt abbrach, wie sie begonnen hatte.30 Ähnlich wie für Baltzer, Jordan und Rau war die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften für Hess an die nachrevolutionäre Situation gebunden. Sie war Ausfluß des gesteigerten Bedarfs an empirisch-nomothetischem Wissen. Und sie wies gleichzeitig die eigene weltanschauliche Nonkonformität in einer politisch-ideologischen Konstellation aus, in der sich die alten Mächte Staat und Kirche noch einmal zu behaupten schienen. Was solche Persönlichkeiten, die ihre politisch fortschrittliche Haltung nach 1849 nicht aufgaben, zu okkasionellen Popularisierern werden ließ, war die Erkenntnis, mit der Teilhabe am Popularisierungsprozeß eine partizipatorische Gesellschaftsverfassung fördern zu können. Auf dem Wege der naturwissenschaftlichen Popularisierung sollte die konservative staatliche und kirchliche Macht indirekt - und mit Angriffen gegen veraltete theologische Positionen auch direkt - unterminiert werden. Es galt, in der innenpolitischen Situation, die sich nach der Revolution erneut verhärtete, der deutschen Öffentlichkeit in naturkundlicher Einkleidung ein liberales Alternativmodell zu präsentieren: jene seit Roßmäßler oft beschworene natürliche Weltanschauung, die auf positives Wissen, induktiv gewonnene Gesetze und rationale Überprüfbarkeit der Argumente begründet werden konnte. Allerdings war dieses Leitmotiv in seiner spezifisch postrevolutionären Variante schon bald Erosionen ausgesetzt. Die liberale Imprägnierung der Populärwissenschaft verlor an Gültigkeit aufgrund des Wechsels zu einer Generation, die nicht mehr in der Revolutionszeit politisch sensibilisiert worden war.
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Erst gegen Ende seines Lebens nahm er, diesmal mehr privatissime, die Studien nochmals auf und arbeitete an einer Dynamischen Stofflehre.
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Abbildung 21: Zwei Vermittler naturwissenschaftlicher Bildung in den 1850er Jahren: der deutschkatholische Prediger Heribert Rau und der Materialist Karl Vogt.
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c) Polygraphen als kulturgeschichtliche Chronisten Die semipolitische Ausrichtung der frühen Populärwissenschaft bildete wiederum nur für einen Teil der Publizisten die primäre Motivation und stellte nur einen Ausschnitt der meist heterogenen Beweggründe dar, sich den Naturwissenschaften zuzuwenden. Die Beschäftigung mit entsprechenden Themen erlaubte vielen Schriftstellern, einem modischen Bedürfnis nachzukommen. Naturkundliche Themen bildeten nur eine Facette ihrer ausgreifenden literarischen Tätigkeit, deren Breite zweifellos durch darstellerische Schwächen und eine kompilatorische Technik ermöglicht wurde. Ein Großteil der okkasionellen Popularisierer schrieb viel und viel Unterschiedliches. Über Naturwissenschaften zu publizieren bedeutete für sie gleichsam einen Aspekt des Selbstverständnisses als kulturgeschichtliche Chronisten ihrer Zeit. Das galt für den Privatgelehrten Ernst von Bibra, Heribert Rau und den Schriftsteller Friedrich ebenso wie für Friedrich Michelis oder den vormaligen Offizier Friedrich von Hellwald. Aaron Bernstein spannte den Bogen von einer neuen Bearbeitung des Hohen Lieds Salomos über seine Humboldtbiographie bis zu einer dreibändigen Revolution- und Reaktionsgeschichte Preußens und Deutschlands.31 David Friedrich Weinland verfaßte nach dem Rückzug aus den Ämtern am Frankfurter Zoologischen Garten und der Senckenberg-Gesellschaft Jugendbücher. Die Beispiele lassen den Typus eines Publizisten hervortreten, der seine Leser weniger an vorderster Front als vielmehr im verzweigten Rückraum einer wissenshungrigen Gesellschaft fand, die Literatur und Sachprosa, Zeitungsreportage und Fachbuch als Gattungen noch nicht streng trennte. Es war der Typus des Polygraphen, der mit flinker Feder Weltepochen und Wissensbereiche durchmaß - eine Mischung von „dilettante curieux [...] de journaliste, de conteur, d'essayiste, et parfois, de militant" 32 . Solche Polygraphen gehörten zum festen Repertoire des bildungsbürgerlichen kulturellen Lebens. Auch sie blieben oft ohne beruflichen Halt und mit ständigen Existenzsorgen behaftet. Der Arzt und Privatliterat Herman Klencke trug z.B. schon vor der Revolution dem Botaniker Esenbeck seine enttäuschten Hoffnungen auf eine adäquate Stelle vor. 33 1857 wandte er sich sich im Alter von 44 Jahren wiederum an Esenbeck als Präsidenten der Leopoldina. Flehentlich beschwörte der stellenlose Klencke das Auftauchen eines Protektors, der ihm eine Stelle als Lehrer oder Arzt verschaffen können. Es sei der „Schmerz über das vergebliche Ringen 31 32 33
Vgl. Schoeps: Bürgerliche Aufklärung (1992), S. 299f. Benedic: Le monde (1990), S. 33. Hermann Klencke an Nees von Esenbeck 13.12.1843 u. 22.9.1844 (SB Berlin, Haus 2, Sammlung Darmstaedter, 3p 1842 - 1).
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nach einer naturwissenschaftlichen praktischen Stellung" und das „Tagelöhnern des Geistes um die Existenz"34, die ihn wohl an gebrochenem Herzen sterben lassen würden. Klencke blieb darauf angewiesen, mit weiteren populären Schreibstoffen seine Existenz zu sichern. Seine Humboldtbiographie erlebte immerhin 1859 die vierte Auflage. Andere kulturhistorische und biographische Arbeiten, soziale Romane sowie eine fast endlose Folge von Beiträgen zur Gesundheitslehre und zur Rolle der Frau in der Gesellschaft, die Klenckes Konservativismus besonders deutlich werden ließen, kamen hinzu.35 Während sich am Jahrhundertende die Grenzen zwischen literarischen und wissenschaftlichen Genres in den populären Medien auflösten, wirkte die Tradition der erzählerischen Tierkunde fort und stärkte die zoologische Orientierung vieler Literaten-Naturkundler. Julius Stinde etwa reüssierte nicht nur mit Theaterkritiken und seinen Großstadtgeschichten über die Familie Buchholz als Belletrist, sondern sorgte jahrelang in dem konservativen Familienblatt Daheim sowie in der Gartenlaube für naturwissenschaftliche Berichte. Stinde konnte auf seine Erfahrungen in der Apothekerlehre und im Chemiestudium zurückgreifen. Keinen Zweifel ließ Stinde dabei an seinen Vorbehalten gegenüber dem materialistischen Enthusiasmus und dem Glauben an die Omnipotenz der Naturwissenschaft.36 Auch Fritz Skowronnek aus Ostpreußen wurde primär als Unterhaltungsschriftsteller und masurischer Heimatdichter bekannt. Als freier Schriftsteller pflegte er seit 1898 aber auch die Fischerei und das Jagdwesen als Spezialgebiete und lieferte für die Gartenlaube und zahlreiche andere Blätter regelmäßige zoologische Berichte.37 Die zoologischen Interessen des Heidedichters Hermann Löns waren nicht weniger ausgeprägt. Löns hatte das Studium der Medizin und Naturwissenschaften nie abgeschlossen, dafür schon früh ornithologische Sammlungen angelegt und in Jagd- und Vogelzeitschriften publiziert. Er setzte seine Tiergeschichten auf dem konservativen Flügel der Zeitschriftenlandschaft fort.38
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Hermann Klencke an Nees von Esenbeck 21.3.1857 (SB Berlin, Haus 2, Sammlung Darmstaedter, 3p 1842 - 1 ) . Dazu gehörten: Das Weib als Gattin ... Eine Körper- und Seelendiätik des Weibes in der Liebe und Ehe (121893) und Die Mutter als Erzieherin ihrer Töchter und Söhne zur physischen und sittlichen Gesundheit (121907). 1875 veröffentlichte er unter Pseudonym erstmals eine beißende Satire. Unter zahlreichen Anspielungen auf bekannte Naturwissenschaftler wurden in tragisch-komischen Szenen Opfer wissenschaftlicher Experimente und Gutgläubige perverser wissenschaftlicher Heilverfahren vorgestellt; z.B. die Patientinnen einer angeblichen Kur, bei der das Blut lebender Affen und Pferde getrunken wurde; siehe Valmy [= Stinde]: Die Opfer (1879), S. 5. Skowronnek: Lebensgeschichte (1925), S. 38,80f£, 117ff. Gebhardt: Die Ornithologen, I (1964), S. 221.
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Nimmt man Löns, den Zoologen Konrad Guenther, der später die eine .Deutsche Heimatlehre' entwickelte,39 oder den Lehrer Walther Schoenichen, seit 1922 Direktor der Naturdenkmalpflege in Preußen, 1935-38 auch im Reich, so zeichnet sich ein Strang konservativer Naturschutzvorstellungen und Heimatbezogenheit ab, der nicht weniger als die sozialdemokratisch orientierten Bildungsbestrebungen von Bölsche, Bürgel und Grottewitz zum Spektrum popularisierter Naturwissenschaft vor 1914 gehört.
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Siehe hier Guenther: Natur (1933).
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4. Universitäre Popularisier er „In England, in Frankreich, in Amerika haben sich die Gelehrten schon seit Langem des Kastengeistes entschlagen und des Nimbus entnebelt, an denen so viele der unserigen noch immer festhalten; in Deutschland muß sich Derjenige, welcher zum Volke sprechen will, gewissermassen zwischen dieses und den Lehrstuhl der Wissenschaft stellen, falls er hier geduldet, dort verstanden sein will." A. Brehm, in: H. Beta: Die Bewirtschaftung des Wassers und die Ernten daraus. Leipzig, Heidelberg 1868, S. IV.
Die dritte Kategorie der Popularisierer wäre idealtypisch einfach zu definieren, würde sich nicht der Eindruck aufdrängen, es habe sie in Wirklichkeit gar nicht gegeben. Folgt man den Darstellungen der vergangenen 150 Jahre, so klafft hier zumindest eine riesige Lücke. Kaum ein anderer Topos gehört so sehr zum Kanon tradierter Urteile über das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit in Deutschland wie derjenige vom deutschen Gelehrten und Professor, der die Popularisierung des Wissens geringschätzt, wenn nicht sogar ablehnt.
a) Das konventionelle Bild: Die Verachtung der deutschen Gelehrten für die Populärwissenschaft Nicht erst mit den Tagen der Revolution, seither aber besonders eindringlich, ist in unendlichen Variationen das Negativbild des in sich gekehrten, die Öffentlichkeit scheuenden, ja bewußt mißachtenden Professors in Deutschland gezeichnet worden. Der „Hochmuth" der „deutschen Mandarinen der Wissenschaft [...] als das erwählte Volk Apollo's alles Wissen im alleinigen Besitz verschließen zu dürfen" 1 , ist sprichwörtlich geworden. Klagen über den Kastengeist der deutschen Professoren, die eine publikumsbezogene Wissenschaftsdarstellung kaum schätzen, ja verachten würden, durchzogen die populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen ebenso wie die Privatkorrespondenzen ihrer Autoren. „Zopfige Vorurteile" wie die „gewählte Verachtung der Presse" 2 , eine Scheu vor dem Verfassen verständlicher Lehrbücher, die Mißachtung des Essays als darstellerische Gattung und eine deutliche Zurückhaltung, für populäre Zeitschriften zu schreiben, waren nur die wichtigsten Kritikpunkte. Noch 1897 hielt Die Natur fest, in Deutschland herrsche „trotz mannigfaltiger Bestrebungen noch immer ein gewisser Widerwille und eine deutlich erkennbare Abnei1 2
Reclam: Die Aufgabe (1857), S. 161. Schalden: „Wissenschaftlich" (1907/8), S. 474f.
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gung seitens vieler Gelehrten, die von der Wissenschaft regem Eifer und durch intensivste Arbeit gewonnenen Resultate weiteren Kreisen der Menschen zugänglich zu raachen."3 Diese Kritik hatte, wie angedeutet, für viele Vermittler eine innengewendete Seite. Karl Reclam klagte 1859 in einem Brief an Gottfried Kinkel: „Ich lehre als practischer Arzt, Schriftsteller und ewiger Privatdocent denn wie könnte in Deutschland jemand Professor werden, welcher auf Seite des Volkes stand und immer stehen wird?" 4 Die rhetorische Frage war nicht aus der Luft gegriffen. 1896 riet sogar Eduard Reyer, der Wiener Vorkämpfer der Universitätsausdehnungsbewegung, jüngeren Dozenten davon ab, zu viel Zeit auf Volkskurse zu verwenden. Man könnte sich um eine Lebensstellung bringen und den Vorwurf heraufbeschwören, die Arbeitszeit verbummelt zu haben. 5 Diese Urteile werden bestätigt durch zeitgenössische Berichte über die zögerliche Beteiligung von Universitätsdozenten an der Entwicklung der deutschen Volkshochschulbewegung.6 Die stereotypen Beurteilungen über die Geringschätzung der Popularisierung durch die deutschen Gelehrten erscheinen noch plausibler, wenn man die strukturellen Bedingungen universitärer Tätigkeit in den Blick nimmt. Die deutschen Hochschullehrer 7 besaßen eine staatlich sanktionierte Beamtenstellung, sie konnten sich der Loyalität zum Staat nicht entziehen und sahen sich primär mit forschungsorientierten Karriereanforderungen konfrontiert. Entgegen dem Humboldtschen Leitbild von der Einheit von Lehre und Forschung spielten die Leistungen in der Lehre allenfalls eine marginale Rolle für den universitären Aufstieg. Eine Bereitschaft oder gar Pflicht, die eigenen Kenntnisse über den Kreis der Schüler hinaus transparent zu halten, war nicht gefragt. Die Legitimation professioneller Arbeit schien sich einzig aus dem wissenschaftlichen Forschungsertrag zu speisen. Selbst ein der Professorenpolemik unverdächtiger Beobachter wie Hermann Helmholtz kritisierte 1877 die Nachlässigkeiten, welche die Präsentation wissenschaftlicher Arbeiten in Deutschland durchziehen würden. Der berühmte Physiologe sprach von einer „oft zu weit getriebene [n] Verachtung der Form in Rede und Schrift" 8 . Die etatistische Prägung des Universitätssystems bot zudem eine Erklärung dafür, daß der Anspruch, Wissenschaft dem Volk verständlich zu machen, als politisch verdächtig, unausgesprochen oder sogar ausdrücklich als subversiv angesehen werden konnte. 3 4 5 6 7
8
K. Schmidt: Popularisierung (1897), S. 73. Karl Reclam an Gottfried Kinkel 10.4.1859 (UB Bonn, S 2662). Reyer: Handbuch (1896), S. 101. Siehe Kapitel III.4 und die dort angegebene Literatur. Vgl. aus der Fülle der Literatur nur vom Bruch: Wissenschaft (1980), Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918,1 (1990), S. 572-578, 590-601; Ringer: Die Gelehrten (1969/1987). Helmholtz: Ueber die akademische Freiheit (1877/1896), S. 204.
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VII. Die Vermittler
Das Bild von der Entfremdung zwischen gelehrtem Wissen und dem öffentlichen Bedarf an publikumsgerechter Wissensvermittlung hat sich bis heute kaum modifiziert gehalten. Vieles deutet darauf hin, daß es auch weiterhin die aktuelle wissenschaftspolitische Debatte in Deutschland mitbestimmt.9 Die historiographische Bewertung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steht jedenfalls in ungebrochener Kontinuität zu den zitierten Quellenzeugnissen.10 Ist die Rede von universitären oder akademischen Popularisierern mithin ein Euphemismus oder kaum mehr als falscher Wein in neuen Schläuchen? Bei genauerer Analyse werden einige Züge des konventionellen Bildes durchaus bestätigt, keineswegs aber die skizzierten Urteile vorbehaltlos bekräftigt - vor allem nicht in einem zentralen Punkt: Es gab durchaus eine Reihe von universitär verankerten Gelehrten, die sich populärwissenschaftlich betätigten, und ihre Zahl nahm zum Ende des Jahrhunderts hin deutlich zu.
b) Modifizierungen: Wissenschaftler als Vermittler Jenseits persönlicher Affinitäten oder Abneigungen in Bezug auf Volksbildungsunternehmungen erwuchsen zweifellos aus dem spezifischen Zuschnitt der deutschen Universität und ihrer Personalpolitik Hemmungen gegenüber Aktivitäten, die auf den Forschungsimperativ verzichteten. Solche Aktivitäten wurden im Sozialsystem Wissenschaft nicht belohnt, sondern eher diskreditiert. Sie konnten weder unmittelbar noch mittelbar als Qualifikation für die weitere wissenschaftliche Laufbahn verwertet werden und waren angesichts der parallelen Steigerung von professionellen Anforderungen und Habilitationsalter zeitökonomisch geradezu kontraproduktiv. Nur zwei, im folgenden Abschnitt näher zu charakterisierende Gruppen von Wissenschaftlern vermochten über ein öffentliches Auftreten in Bildungseinrichtungen direkt den Interessen der akademischen Profession zu dienen: die kleine Schicht von akademischen Standesvertretern und wissenschaftspolitischen Meinungsführern sowie jene Wissenschaftler, die sich über ein Engagement in der Öffentlichkeit positive Rückwirkun9
10
Vor einiger Zeit griff z.B. der Vorsitzende des Vereins Pro Hochschul-PR das Mißtrauen deutscher Wissenschaftler gegenüber der Medienberichterstattung auf und stellte fest, in Deutschland gebe es, anders als etwa in den USA, „keine Tradition einer populären und zielgruppenorientierten Präsentation von Forschungsergebnissen", in: Süddeutsche Zeitung Nr. 285,12.12.1994. Fritz K. Ringers Analyse der deutschen Gelehrten als einer funktionalen Elite, die zugespitzt als Mandarine charakterisiert wird, knüpft ebenso daran an wie der jüngste Überblick zur Geschichte der Erwachsenenbildung, der bis in begriffliche Details hinein die Vorstellung reproduziert, große Teile der deutschen Professorenschaft hätten nur Spott und Verachtung für die Popularisierung übrig gehabt; siehe Ringer: Die Gelehrten (1969/1987), Röhrig: Erwachsenenbildung (1991), S. 451,457f.
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gen für die Durchsetzung ihrer neuen fachlichen Richtung versprachen. Der Regelfall war dies nicht. Innerhalb des akademischen Systems war eine popularisierende Tätigkeit für Wissenschaftler, die nach der Promotion und erst recht nach der Habilitation eine Professur anstrebten, wenig attraktiv. Umgekehrt rückte sie bei jenen verstärkt ins Bewußtsein, deren wissenschaftliche Karriere ohnehin schon Verzögerungen aufwies oder wenig erfolgversprechend schien, d.h. bei nicht berufenen Privatdozenten oder außerordentlichen Professoren, die keinen Lehrstuhl erhielten. Diese Personengruppe mußte sich schon aus finanziellen Gründen mit der Perspektive anfreunden, einer außeruniversitären Beschäftigung nachzugehen. Zudem suchten verstärkt solche Wissenschaftler den Weg in den öffentlichen Raum, die - aus wiederum ganz unterschiedlichen Gründen - ihre universitäre Stellung aufgaben oder aufgeben mußten. In beiden Fällen verschränken sich intentionale Motive, kompensatorische Funktionen und ideelle Beweggründe in jeweils individueller Weise. Mit dem Entstehen und der Expansion der populärwissenschaftlichen Medien zwischen 1848 und 1870 eröffneten sich in einem zuvor ungeahnten Ausmaß für Privatdozenten bzw. außerordentliche Professoren, denen die Hoffnung auf eine dauerhafte Stellung in weite Ferne gerückt war, neue Chancen, die berufliche Stagnation durch eine publizistische Nebentätigkeit zu überbrücken. Nicht selten wurde daraus die Hauptbeschäftigung. In Halle mußte Christoph Giebel nach seiner Habilitation 1848 dreizehn Jahre auf eine ordentliche Professur warten. Er übernahm während dieser Durststrecke die Leitung des Naturwissenschaftlichen Vereins für Sachsen und Thüringen und die Redaktion der Zeitschrift für die gestimmten Naturwissenschaften. 1854 gründete er mit Julius Schaller die Zeitschrift Das Weltall. Der Zoologe trug nicht nur zur gefragten KosmosLiteratur bei, sondern legte auch einige Vorträge in Buchform vor und bereitete mit seiner Naturgeschichte des Thierreiches dem Brehmschen Thierleben den Boden, ohne indes dessen lebendige Kraft zu erreichen. Diese und andere literarische Unternehmungen waren aus ökonomischen Erwägungen geradezu notwendig. Giebel war auf Schreibhonorare angewiesen. Es kam vor, daß er sechs Monate ohne Einnahmen blieb.11 Im benachbarten Leipzig boten das dichte literarische und buchhändlerische Umfeld und die seit 1859 intensivierte Tätigkeit der Bildungsvereine günstigere Bedingungen für Wissenschaftler am Rand der universitären Gesellschaft. Christoph Hirzel, seit 1852 Privatdozent für Chemie, übernahm Beiträge für die Gartenlaube, die Leipziger Illustrierte Zeitung und Roßmäßlers Bücher der Natur. Er hielt Chemie-Vorlesungen für Frauen, gab aber 1865 nach vier Jahren als außerordentlicher Professor die Lehr11
Giebel an E. A. Roßmäßler 11.4.1856 (Löbbecke-Museum Düsseldorf); Giebel an N.N. 29.1.1859 (UB Halle, Autographen Ym 219-1).
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tätigkeit auf, um die Leitung einer chemischen Fabrik zu übernehmen. Auch William Marshall verlagerte nach dem Ausbleiben einer ordentlichen Professur seinen fachlichen Schwerpunkt auf das populärwissenschaftliche Genre. Ähnlich erging es Karl Reclam, der erst zehn Jahre nach seiner Habilitation zum außerordentlichen Professor ernannt wurde. Selbst für den Arzt und Lehrstuhlinhaber Carl Ernst Bock, den bekanntesten populärmedizinischen Autor der Jahrhundertmitte, trat die akademische Forschungstätigkeit zunehmend in den Hintergrund. Nach dem Ausscheiden aus der Universität 1873 nahm er sich folgerichtig vor, die Gartenlaube noch stärker zur „Volksaufklärung" zu nutzen und zum „Popularisiren des Darwinismus" beizutragen. 12 Bei Roßmäßler, Vogt, Moleschott und Büchner kamen im weitesten Sinne politische Gründe zur Geltung. Heterogene Ursachen führten später beispielsweise die Botaniker Schleidern und seinen Schüler Ernst Hallier, die Physiologen Eugen Dreher und William Preyer und den physikalischen Chemiker Wilhelm Ostwald zum Ausstieg aus der Universität und zur Wahl, ganz oder zeitweise als publizierende Privatgelehrte zu wirken. Dem lagen teils Konflikte mit den staatlichen Universitätsträgern und der Kirche, teils individuelle Krisen und der Wunsch, die eigenen Themen außerhalb der Fachzunft verfolgen zu wollen, zugrunde. Weitaus seltener war der umgekehrte Weg. Nur wenigen Publizisten gelang der (Wieder-)Einstieg in das universitäre Leben. Es waren solche Fälle, bei denen eine besondere Kompetenz auf einem bislang institutionell vernachlässigten Gebiet eingebracht werden konnte und die Hochschulen gerade von solchen Erfahrungen wissenschaftlichen Ertrag erwarten durfte, die in der forschenden Privatexistenz gewonnen wurden. Dies hieß an erster Stelle: von Erfahrungen auf Reisen und bei der Erschließung wenig bekannter geographischer und kultureller Räume. Die Lebenswege von Moritz Wagner, Adolf Bastian und Friedrich Ratzel stehen dafür. Moritz Wagner war bis zum fünfzigsten Lebensjahr als Reisender und Redakteur bzw. Korrespondent für den Cotta-Verlag tätig. Erst nachdem Wagner seit 1855 in München in den Kreis der von Maximilian II. geförderten Wissenschaftler aufgenommen wurde, deutete sich eine feste wissenschaftliche Stellung an. Im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften unternahm Wagner zwischen 1857 und 1859 eine Forschungsreise in Mittelamerika. Nach der Rückkehr konkretisierten sich mit Unterstützung Justus Liebigs Pläne, Wagners Kenntnisse in den Dienst der ethnographischen Sammlungen des bayerischen Staats zu stellen. 13 Überregionale Bedeutung erlangte Wagner durch seine Migrationstheorie, die er seit 1868 gegen Darwins Anschauung von der Zuchtwahl als Movens der 12 13
Zitate aus zwei Briefen von Carl Ernst Bock an Ernst Haeckel o.D., 1873 o. 1874 (EHH Jena). Vgl. Smolka: Völkerkunde (1994), S. 50-123,336-340.
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natürlichen Entwicklung setzte und wiederum in der Cotta-Zeitschrift Das Ausland verbreitete. Demnach war eine entwicklungsgeschichtlich relevante Zuchtwahl unter Tieren nur aufgrund der räumlichen Separierung von Individuen möglich. Spektakulärer noch verlief der Aufstieg von Adolf Bastian. 14 Er begann nach der Promotion bei Rudolf Virchow sein berufliches Leben als Schiffsarzt und hielt sich während der Reaktionsjahre in Asien, Afrika und Amerika auf. Nach der Rückkehr veröffentlichte Bastian sein dreibändiges Werk Der Mensch in der Geschichte und faßte noch vor der Reichsgründung Fuß in Berlin als Habilitand, außerordentlicher Professor für Ethnologie und schließlich als Leiter der ethnographischen Sammlungen der Königlichen Museen und Begründer des Museums für Völkerkunde. Bastian blieb ein Sonderling, dessen genialischer Forscherdrang von der Archäologie bis zur Völkerpsychologie eine weit ausschweifende literarische Produktion hervorbrachte, ihn aber auch immer wieder aus der Gelehrtengesellschaft der Hauptstadt fortführte. Als Gegner der darwinistischen Entwicklungslehre ließ sich Bastian seit 1871 auf eine heftige Kontroverse mit Haeckel ein. In deren Verlauf warf Bastian, dessen überbordende ethnologischen Darstellungen selbst für Wissenschaftler zunehmend unleserlich wurden, dem Jenaer Zoologen wiederholt vor, falsche Aussagen zugunsten der Wirkung beim Publikum in Kauf zu nehmen. 15 Friedrich Ratzel wies einen ähnlichen Lebensweg auf. Wie Moritz Wagner kann Ratzel zu den Begründern der deutschen Völkerkunde und Anthropogeographie gezählt werden. 16 Vor dem naturwissenschaftlichen Studium hatte er eine Apothekerausbildung absolviert, die ersten Jahre nach der Promotion indes als Journalist verbracht. Ratzel berichtete für die Kölnische Zeitung vom Mittelmeer und lebte als Reiseberichterstatter in Amerika. Seit 1876 Professor für Geographie an der Technischen Hochschule München, fungierte Ratzel zwischen 1882 und 1884 gleichzeitig als Redaktionsleiter für Das Ausland. Der Geograph wußte, daß eine solche Duplizität der Aufgaben prekär war, obwohl sie in der Logik der eigenen Biographie stand. Gegenüber der Cotta'sehen Verlagshandlung bat Ratzel in den Vorverhandlungen darum, nicht oder zumindest nicht allein als Verantwortlicher genannt zu werden, da die Zunft ein „derartiges Heraustre-
14
15 16
Vgl. Koepping: Adolf Bastian (1983), Fiedermutz-Laun: Adolf Bastian (1986), Smith: Politics (1991), S. 116-120 et passim; Sigrid Westphal-Hellbusch: Hundert Jahre Ethnologie in Berlin, unter besonderer Berücksichtigung ihrer Entwicklung an der Universität, in: Festschrift zum 100jährigen Bestehen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 1869-1969. Berlin 1969, S. 157-183. Fiedermutz-Laun: Adolf Bastian (1986), S. 175-178. Vgl. Smolka: Völkerkunde (1994), S. 115-117; Buttmann: Friedrich Ratzel (1977); Smith: Politics (1991), S. 140-154,204-208 et passim.
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VII. Die Vermittler
ten aus der Studierstube"17 eifersüchtig betrachten werde und damit das Unternehmen Schaden erleiden könnte. Die Verknüpfung beider Tätigkeitsfelder nicht zum Spagat werden zu lassen, sondern als organisches Miteinander zu verstehen, motivierte Ratzel auch, im Entwurf für die Autorenwerbung die „Verbindung wissenschaftlichen Geistes mit edler populärer Form" zum Programm zu erheben. Popularität sollte dabei nicht verstanden werden als „Einzwängung eines starren Stoffes in eine ihm nicht passende Form" oder als „schielendef..] Aufklärung beliebiger Massen".18 Der Geographie-Professor wollte das Ausland als eine rein geographische Wochenschrift für Natur-, Erd- und Völkerkunde konzipiert wissen.19 Die wissenschaftlichen Interessen verfolgte Ratzel dann intensiver auf seinem repräsentativen Leipziger Lehrstuhl seit 1886. Zum Jahrhundertende hin verstärkten sich unter dem Einfluß der Lektüre von Fechner seine naturphilosophischen Neigungen, die zu religiös und mystisch durchdrungenen Arbeiten führten.20 Ratzel engagierte sich nun für die konfessionellnaturkundliche Publizistik. War der Geograph im ersten Sog des aus England überschwappenden Darwinismus 1877 mit seiner populären Schöpfungsgeschichte Sein und Werden hervorgetreten, so wurde er später wie Wagner und Bastian zu einem Antidarwinianer. Die drei letztgenannten Professoren-Publizisten gehören ebenso zur Bandbreite universitärer Vermittler wie der Begründer der modernen Bakteriologie, der Breslauer Botaniker Ferdinand Cohn, der Königsberger Chemiker Lassar-Cohn und die Zoologen Carl Chun und Franz Doflein. Man kann die Aufzählung verlängern - den prototypischen Professor, der sein Wissen auch der Öffentlichkeit vermittelte, wird man kaum finden können. Zu breit waren die populärwissenschaftlichen Aktivitäten unter den Gelehrten gestreut. Der katholische Zoologe Bernard Altum, der Freiberger Geologe Bernhard Cotta und der Physiologe Johann Nepomuk Czermak, Ludwig Plate oder Moritz Willkomm von der Tharandter Forstakademie sind andere Beispiele für die Vereinbarkeit von professoralen und publikumsbezogenen Aufgaben. Beides historisch in einen starren Antagonismus zu bringen, mag liebgewonnene Vorurteile bestätigen, wird aber von der Realität eines Zeitalters gebrochen, das die wissenschaftliche
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Friedrich Ratzel an Cotta'sche Verlagshandlung 13.4.1881 (CA Marbach, CottaBriefe). Entwurf für die Einladung zur Mitarbeiterwerbung, beigelegt dem Schreiben Ratzels an die Cotta'sche Verlagshandlung vom 4.8.1881, f. 7a (CA Marbach, Cotta-Briefe). Vertrag zwischen der Cotta'schen Verlagshandlung und Ratzel, Beilage zum Schreiben Ratzels vom 13.4.1881, f. 2a, handschriftliche Änderung Ratzels; in gleichem Sinne dessen Schreiben vom 28.1.1882 (CA Marbach, Cotta-Briefe). Zur letzten Lebensphase Ratzels vgl. Buttmann: Friedrich Ratzel (1977), S. lOOff.
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Forschungsorientierung und den Bedarf an Öffentlichkeit gleichzeitig hervorbrachte und beides wechselseitigen Beeinflussungen aussetzte. War das populärwissenschaftliche Genre vor der Reichsgründung noch stark politisch aufgeladen und ökonomisch instabil, so bot es im Zuge seiner Etablierung und der Ausdifferenzierung neuer Vermittlungsagenturen offene Flanken für einen Einstieg des Universitätspersonals. Die Kritik der Humboldt-Akademie und der späteren Volkshochschulbewegung an der mangelnden Beteiligung von Professoren ist ernst zu nehmen; gleichwohl gibt es aus dem naturwissenschaftlichen Bereich nicht wenige Hinweise darauf, daß keineswegs Verachtung für die Popularisierung die dominierende universitäre Attitüde darstellte. Spätestens am Ende des Jahrhunderts ist in der deutschen Professorenschaft eine wachsende Bereitschaft zur außeruniversitären Bildungstätigkeit zu verzeichnen. Dies war bildungsgeschichtlich ein Reflex auf die Spezialisierung der einzelnen Fächer, die nun ihrerseits auf die Transparenz anderer Disziplinen angewiesen waren. Die Öffnung hin zum außeruniversitären Publikum stellte überdies eine Antwort dar auf die nicht mehr zu übersehende Vitalität des populärwissenschaftlichen Sektors, dessen Nachfrage nach fachlich qualifiziertem Lehrpersonal eher anstieg als abnahm. Die Ambivalenzen zeigten sich deutlich in der naturkundlichen Publizistik. Einerseits war das Feld der Universitätslehrer, die in naturkundlichen Zeitschriften veröffentlichten, seit den 1880er Jahren nicht mehr zu überschauen. Andererseits unterlagen nun, darüber hat Kapitel VI.3 berichtet, einige Zeitschriften einem Prozeß der Verwissenschaftlichung, was zur erneuten Abspaltung volkstümlicher Magazine beitrug. Der Wandel im Verhältnis von institutionalisierter Wissenschaft und Öffentlichkeit vollzog sich in solchen Prozessen von Anziehung und Abstoßung, weniger in linearen Verlaufsformen. Vor dem Ersten Weltkrieg nutzten deutsche Universitätslehrer vielfältige Möglichkeiten, die eigenen Fachkenntnisse in die öffentliche Diskussion einzubringen. Dies konnte über die Weltanschauungsvereine geschehen, anläßlich der Unternehmungen der DGVN in Berlin oder im Rahmen von neuen Publikationsorganen. 21 Die bereits mehrmals zitierte Umfrage der Äawzoi-Redaktion 1912 nach der Legitimität von Popularisierung erlebte eine überwältigend positive Resonanz in der Professorenschaft. 22 Der Genetiker Richard Goldschmidt hat die Situation der Vorkriegsjahre treffend beschrieben. Es waren für Goldschmidt überaus erfolgreiche Karrierejahre, denen er nicht nur die Ernennung zum Abteilungsleiter am 21
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So bei der Gründung der Zeitschrift ,Die Naturwissenschaften', vgl. Albert Einstein: Zu Dr. Berliners siebzigstem Geburtstag, teilweise abgedruckt und zitiert nach: Davidis (Bearb.): Wissenschaft (1985), S.61. Bei diesem Projekt gelang auch der Brückenschlag zu populärwissenschaftlichen Publizisten; Curt Thesing wurde 1913 Mitherausgeber, siehe ebenda S.43f. Volkstümliche Naturwissenschaft (1913).
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Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in Berlin-Dahlem sondern auch seine „populärwissenschaftliche Lehre[..]" verdankte. Goldschmidts konservativer Münchener Lehrer, Richard Hertwig, unterstützte öffentliche Volksbildungskurse an der Universität und zog Goldschmidt dazu heran. Goldschmidts Bereitschaft, die innerdisziplinäre Diskussion zu verlassen, konkretisierte sich in den folgenden Jahren unter anderem in der Herausgabe der Reihe Verständliche Wissenschaft im Springer-Verlag, in Artikeln für die Frankfurter Zeitung und diversen Vortragsreisen. Goldschmidt war noch Jahrzehnte nach seiner Emigration in die USA stolz auf diesen „Beitrag zur Kultur Deutschlands." Er vertrat nachdrücklich die Auffassung, „daß es geradezu die Pflicht eines Wissenschaftlers ist, populärwissenschaftlich zu schreiben, vorausgesetzt natürlich, daß er die Gabe dazu hat." 23 Mit Goldschmidt als einem Hauptvertreter der noch jungen mikrobiologisch-genetischen Forschung ist für den Untersuchungszeitraum zeitlich und fachlich der äußerste Rand des Spektrums universitärer Popularisierer abgesteckt. Ihm entsprechen auf der anderen Seite jene popularisierenden Professoren der Jahrhundertmitte, die in der Zeit der deutschen Naturphilosophie aufwuchsen und die Wende zur empirischen Forschung mittrugen, ohne die Reste der deskriptiven Naturgeschichte ganz abzustreifen, z.B. Karl Gustav Bischof, Ernst Haeckel und Karl Vogt.
c) Z u m Verhältnis von Forschungsgeschichte und populärwissenschaftlichen T h e m e n Inwieweit wurde auf Seiten des universitären Personals eine öffentliche Präsentation wissenschaftlicher Kenntnisse durch fachliche Präferenzen begünstigt oder eher erschwert? In welchem Verhältnis stand die Ideenund Forschungsgeschichte der Wissenschaften selbst zur Geschichte populärer Bildungsinhalte? Schlüssige Zuordnungen sind angesichts der Heterogenität des Personenkreises und der von ihnen vertretenen Themen kaum möglich. So taugt auch hier der Ausweis einer darwinistischen Grundposition nicht zur näheren Bestimmung. Zwar können mit Ernst Haeckel, Emil Du Bois-Reymond, Arnold Dodel-Port oder Ludwig Plate einige prominente Beispiele angeführt werden. Ihnen gegenüber stehen aber Wissenschaftler, die oft irrtümlich als bloße Darwinisten bezeichnet werden, wie Karl Vogt,24 oder 23 24
Goldschmidt: Im Wandel (1963), S. 83,267,84. Vogt verteidigte vor den entscheidenden Veröffentlichungen Darwins die These von der Artkonstanz, vertrat später eine polygenetische Entwicklungstheorie und kritisierte Darwin sowie Haeckel und dessen Biogenetisches Grundgesetz. Vgl. Bröker: Politische Motive (1973), S.53ff., 118 und Bowler: Theories (1986), S. 132-134.
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die sich vom Darwinismus verabschiedeten wie Anton Dohm, Friedrich Ratzel, Moritz Wagner und Hans Driesch. In diesen Zusammenhang gehören auch erklärte Gegner der darwinistischen Selektionstheorie, die auf der Basis des Entwicklungsdenkens eigene Thesen zur Artvariation vorlegten, darunter Theodor Eimer und Johannes Reinke, oder die auf der Artkonstanz beharrten, z.B. Christoph Giebel. Entscheidend ist etwas anderes. Bei aller Unterschiedlichkeit der individuellen Erklärungsansätze wurde das Selbstbewußtsein der organischen Naturwissenschaften als nicht bloß beschreibende, sondern erklärende Wissenschaften gewaltig gestärkt durch das Entwicklungsdenken und die Einbeziehung der Physiologie. Daraus ergab sich die Bereitschaft, über die eigene Disziplin hinaus generalisierende Aussagen zum Verständnis der Natur in die Öffentlichkeit zu tragen. Von diesem neuen Selbstbewußtsein profitierte nach 1860 in erster Linie die Zoologie als die zentrale Wissenschaft vom Leben und von der Entwicklung in der Natur. Rudolf Leuckart, ein führender Vertreter des Fachs und Skeptiker des Darwinismus, zog in zwei repräsentativen Vorträgen 1877 und 1891 eine Zwischenbilanz. Sechs Jahre nach der Reichsgründung konzidierte Leuckart in seiner Leipziger Rektoratsrede, das Studium der Zoologie sei vor noch nicht langer Zeit als eine ziemlich harmlose, wenn nicht gar müßige Beschäftigung erschienen; die öffentliche Meinung ebenso wie die gelehrten Kreise hätten die Zoologie als Wissenschaft hintenangesetzt. 25 Mit der vergleichenden Entwicklungslehre und der physiologischen Forschung habe die Zoologie nunmehr das Zeitalter des Sammeins und Klassifizierens hinter sich gelassen. 1891 weitete Leuckart als Vorsitzender der im Vorjahr gegründeten Deutschen Zoologischen Gesellschaft diesen Gedanken aus. Die Herrschaft der deskriptiven Naturwissenschaften sei endgültig vorbei, die Zoologie habe die gleiche erklärende Kraft gewonnen wie Chemie und Physik. Auch wenn übertriebene Ansprüche der Darwinisten zurückgewiesen werden müßten, so würden doch alle im „Bannkreise" der darwinistischen Lehre stehen: „Der Einfluß, den sie ausübt, ist so groß und geht so tief, daß wir, so lange es überhaupt eine Zoologie giebt, nicht zum zweiten Male ein Ereignis zu verzeichnen finden, das eine so tiefgehende und nachhaltige Bewegung in unsere Wissenschaft gebracht hat." 26 Daß die Zoologie seit Karl Vogt, Ernst Haeckel und Anton Dohm der Öffentlichkeit als Leitwissenschaft vorgestellt wurde, ist nur ein Aspekt der besonderen Neigung ihrer Vertreter für publikumswirksame Darstellungen. Diese Haltung war vor allem darin begründet, daß die Zoologie und mit ihr die Nachbarfächer der ehemaligen Naturgeschichte - die Botanik und Geologie, daneben auch die Astronomie - eher als Chemie und Physik an das sinnliche Naturerleben des Alltags rückgekoppelt werden 25 26
Leuckart: Über die Einheitsbestrebungen (1877), S. 14f. Leuckart: Ansprache (1892), S. 8.
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konnten. Die naturgeschichtlichen Fächer ließen eine ästhetische Wirkung zu und beinhalteten ein beträchtliches Potential amateurwissenschaftlicher Betätigung. Auch wenn sich die beschreibende Naturgeschichte zu einer analytischen Naturwissenschaft wandelte, so erlaubte sie doch eher als die mathematisch geprägten, abstrakten Naturwissenschaften dem Laien einen eigenen Kompetenzerwerb und eine in der bürgerlichen Freizeit einzulösende Praxis - z.B. in der Tierliebhaberei, der Mikroskopie und durch das Botanisieren. Die Balance zwischen forscherlicher Ambition und Überleitung zur amateurwissenschaftlichen Betätigung verschob sich allerdings mit der Zeit und brachte neue Spannungen hervor. Zweifellos nahm im letzten Jahrhundertdrittel die Tuchfühlung der populärwissenschaftlichen Genres mit der aktuellen Forschungsentwicklung zu, wie die Forschungsberichte in der naturkundlichen Publizistik zeigen. Diese Tendenz zur Verwissenschaftlichung war nur möglich dank der Rekrutierung qualifizierter Mitarbeiter aus den Hochschulen. Wissenschaftliche Kompetenz ließ sich aber nur in Grenzen auf populäre Darstellungsweisen übertragen. Die wissenschaftliche Praxis entfernte sich spätestens mit den mikrobiologischen und experimentellen Forschungen um 1900 wieder in einem Maße von einem für Laien nachvollziehbaren Verständnis von Naturkunde, daß es zu Brechungen und einer verstärkten Trennung von universitären und populären Anforderungen kam. So hoch Richard Goldschmidts Engagement für die Volksbildung einzuschätzen ist, hinsichtlich des fachlichen Hintergrunds der universitären Vermittler war es nur bedingt repräsentativ. Viel eher traten an der Jahrhundertwende solche Wissenschaftler in der Volksbildungsarbeit hervor, die eine ganzheitliche, biologisch-ökologische Konzeption vertraten, z.B. Friedrich Dahl, Richard Hesse und Friedrich Junge. Sie kamen den mikrokosmischen Bedürfnissen der deutschen Öffentlichkeit entgegen, die seit Roßmäßler und Karl Müller gepflegt und vor 1914 insbesondere von Bölsche und France befriedigt wurden. Die Spannung zwischen universitären Wissenschaftlern und professionellen Popularisierern wurde im letzten Drittel des Jahrhunderts besonders deutlich in Themenfeldern, die sich im besonderem Maße auf außerwissenschaftliche Wissens- und Erfahrungsbestände stützten und damit in den öffentlichen Medien ein Eigenleben führen konnten. Dazu gehörten die heute oft so bezeichneten PseudoWissenschaften. Sie besaßen als Astrologie und Alchemie, seit 1800 vor allem als Mesmerismus, Magnetismus und Phrenologie eine lange Tradition populärer Rezeption 27 und zogen im Kaiserreich als einer zunehmend technisierten und vermeintlich ra27
Vgl. exemplarisch zu England Cooter: The Cultural Meaning (1984) und Alison Winter: Mesmerism and Populär Culture in Early Victorian England, in: History of Science 32 (1994), S. 317-343; zu Frankreich Darnton: Mesmerism (1968).
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tionalisierten Gesellschaft reges Interesse in ihrer Variante als Hypnotismus und Spiritismus auf sich.28 Besonderer Beliebtheit erfreute sich die Tierseelenkunde, schienen doch hier zoologische Kenntnisse leicht vermittelbar.
d) Die Tierseelenkunde und der Streit um die Renkenden Pferde' In der akademischen Diskussion befruchtete der Entwicklungsgedanke, im besonderen nach Darwins epochemachendem Werk, die Fragen nach den historischen Übergängen vom Tier zum Menschen und nach den seelischen und geistigen Potenzen der Tiere.29 Die Beschäftigung mit der Tierpsychologie wurde intensiviert; Haeckel, der frühe Ratzel und Dodel-Port setzten entsprechende Zeichen. Gerade sie repräsentierten aber nicht die Hauptlinie der psychologischen Forschung, die sich seit Fechners Psychophysik als experimentelle und zunehmend physiologisch begründete Wissenschaft verstand. Hier blieb - anders als in England - mit wenigen Ausnahmen30 der Entwicklungsgedanke im Hintergrund, während umgekehrt die Evolutionisten wenig Interesse an der klinischen Psychologie zeigten. Diese nahm kaum die unzähligen Berichte aus der Laienwelt über das intellektuelle und emotionale Leben von Tieren auf und verschloß sich als eine zunehmend professionalisierte Disziplin weitgehend den Wissensbeständen der Amateure. Immerhin hielten Auseinandersetzungen mit der traditionellen Instinktlehre und mit neolamarckistischen Erklärungsansätzen sowie die tierpsychologischen Untersuchungen Erich Wasmanns, der sich von Deutungen im Sinne einer tierischen Intelligenz scharf abgrenzte, die Diskussion offen. Der Leipziger Psychologe Wilhelm Wundt sorgte 1892 mit seinen Vorlesungen über tierische und menschliche Psychologie für ein vorläufiges Resümee, wonach das geistige Vermögen der Tiere auf assoziative Leistungen beschränkt sei. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, daß sich die universitären Publizisten nur vorsichtig auf tierpsychologische Arbeiten außerhalb der Fachwissenschaft einließen. Seit 1890 erfuhr die Tierseelenkunde auch in den naturkundlichen Zeitschriften zunehmend Kritik. Gerade damit tat sich indes ein Freiraum in der öffentlichen Behandlung des Themas auf. Es 28
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Hierzu die Fallstudien von Moritz Basler: „Lehnstühle werden verrückt". Spiritismus und emphatische Moderne: Zu einer Fußnote bei Wassily Kandinsky, in: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 1 (1993), S. 287-307 und, mit einer scharfsinnigen Reflexion über den Begriff der Öffentlichkeit, Meinel: Karl Friedrich Zöllner (1991). Vgl. Boakes: From Darwin (1984), S. 54-59, 78-83; Tembrock: Entwicklungen (1982). Z.B. den Studien zur Entwicklungsgeschichte der kindlichen Seele von Wilhelm Preyer.
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VIL Die Vermittler
waren erneut populärwissenschaftliche Medien und selbsternannte Experten, die ihn zu füllen versuchten. Viele Vermittler nutzten ausgiebig die Tierseelenkunde als thematisches Reservoir, das schier unerschöpflichen Stoff zu narrativen und anekdotischen Darstellungen bot. Die unterschiedlichen Interessenlagen spitzten sich während des letzten Vorkriegsjahrzehnts im Streit um die sogenannten denkenden Pferde zu. Der Privatgelehrte Wilhelm von Osten 31 erzielte erhebliches Aufsehen mit seinem Hengst, der, bald als Kluger Hans apostrophiert, offensichtlich durch Scharren mit dem Huf schwierige Informationen verarbeiten und Antworten auf vorgegebene Fragen des Besitzers geben konnte. Nach Berichten Ostens löste das Pferd komplizierte Rechenaufgaben, wies Denkoperationen nach und konnte Konversationen bestreiten. 32 Der Kluge Hans wurde sogar vom preußischen Kultusminister Studt geprüft. Eine Untersuchungskommission beschuldigte aber den Besitzer der Manipulation und verwarf die Intelligenztests. Die Angelegenheit wäre nach dem Tod Ostens 1909 vermutlich als Kuriosum zu den Akten gelegt worden, hätte sich nicht der Elberfelder Juwelier und Hobbyzoologe Karl Krall der Sache angenommen. 33 Krall erwarb den Klugen Hans und ergänzte die vermeintlichen Intelligenzbeweise durch weitere Experimente, Tests des Ichbewußtseins und ausgefeilte sprachliche und mathematische Übungen mit zwei weiteren Araberhengsten. Eine Zoologenkontroverse entbrannte, die Zeitschriften berichteten ausführlich über die Sache, und mit deutscher Unnachgiebigkeit formierten sich gegnerische Lager. Das Phänomen der Renkenden Pferde' wurde zweimal dem Internationalen Zoologenkongreß angetragen, wo es auf entschiedene Abwehr stieß. Während hier 1913 nochmals führende deutsche und ausländische Professoren 34 sowie die Publizisten Curt Thesing und Erich Wasmann die Pferdetests verwarfen und die seriöse tierpsychologische Forschung diskreditiert sahen, unterstützten immerhin die darwinistischen Universitätslehrer H. E. Ziegler und Plate die Tierexperimente. Sie hätten,
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Krall: Denkende Tiere (1912), S. lOf. Als Überblick zu den Vorgängen vgl. die ungetrübt positive Darstellung des Protagonisten Karl Krall: Denkende Tiere (1912) und exemplarisch NwW 28 = N.F. 12 (1913), S.241ff.; NwW 29 = N.F. 13 (1914), S. 321-6,337-341 mit scharf ablehnender Haltung; Natur 3 (1912), S. 237-242; Natur 4 (1913), S.21, 542-550; HuE 24 (1912), S. 268-275; HuE 26 (1913/14), S. 378-380; Kosmos/Handweiser 5 (1908), S. 289-293; Kosmos/Handweiser 9 (1912), Tierpsychologisches Beiblatt, S.I-VII. Vgl. die Kurzbiographie. Der Bestand der Bibliothek Karl Kralls, die der Universität München vermacht wurde und dort den Krieg unbeschadet überstand, verdeutlicht sowohl in ihrer Diversifizierung als auch in den handschriftlichen Durcharbeitungen, daß es nach 1900 durchaus möglich war, ein in sich geschlossenes Weltbild auf der Basis populärwissenschaftlicher Literatur aufzubauen. Darunter Franz Doflein, Willy Kükenthal, J. W. Spengel und Wilhelm Wundt.
4. Universitäre Popularisierer
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so Plate, fundamentale Bausteine zu einer freien naturwissenschaftlichen Weltanschauung geliefert.35 Innerhalb der Fachzunft bildeten die Darwinisten mit solchen Argumenten eine klare Minderheit. Der Kluge Hans fand dagegen Unterstützung bei den Berliner Popularisierern Ludwig Heck und Paul Matschie, im besonderen auch bei dem Afrikareisenden Schillings. Im Kosmos/Handweiser zeichnete sich das Bemühen ab, gegen die „zünftige" bzw. „strenge Wissenschaft" eine alternative Konzeption der „volkstümlichen Tierpsychologie" zu stellen.36 An dieser Stelle schied sich indes die Tierseelenkunde vom wissenschaftlichen Anspruch auf methodisches Regelwerk und Überprüfbarkeit von experimentellem Vorgehen, wie er von den meisten universitären Popularisierern aufrecht erhalten wurde.
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Natur 4 (1913), S. 543. Kurt Floericke: Tierpsychologische Umschau, in: Kosmos/Handweiser 5 (1908), S. 289-293, hier S. 289.
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VII. Die Vermittler
5. Akademische Meinungsführer und Standespolitiker Zwischen den professionellen Naturwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts gab es hinsichtlich der sozialen Positionierung, des innerakademischen Einflusses und der politischen Außenwirkung erhebliche Unterschiede. In das Blickfeld der Öffentlichkeit rückten vor allem diejenigen, die durch Amt und Funktion, besonders als gewählte Repräsentanten von wissenschaftlichen Vereinigungen, korporative berufliche Interessen artikulierten. Standesorganisationen und Fachgesellschaften boten dazu Gelegenheit mit Präsidiumsämtern und repräsentativen Vorträgen. Die gelehrten Institutionen, wissenschaftliche Akademien und die GDNA konnten als Podien genutzt werden, um den Ausbau naturwissenschaftlicher Studiengänge, die Stärkung des realistischen Unterrichts und die gesamtgesellschaftliche Relevanz naturwissenschaftlicher Bildung nachdrücklich in das öffentliche Bewußtsein einzuschreiben. Äußere Zeichen von wachsendem universitärem und politischem Einfluß setzten die Neubauten von Forschungs- und Lehranstalten, so das opulente, 1877 feierlich eröffnete Physiologische Institut Emil Du Bois-Reymonds in Berlin.1 Solche repräsentativen Formen des öffentlichen Auftretens werden vielfach mit dem Begriff der Popularisierung belegt. Angemessener ist es auch hier, von einer öffentlichkeitswirksamen Präsentation naturwissenschaftlicher Bildung oder mit dem von Frank M. Turner entlehnten Anglizismus von der „public science" zu sprechen. 2 Die Selbstinszenierung der etablierten Naturwissenschaftler und die Verlautbarungspraxis prominenter Standesvertreter besaßen eine grundsätzlich andere Qualität als die Gründung von populärwissenschaftlichen Zeitschriften oder die Beteiligung an Volksbildungsinstitutionen. Die erstgenannten Aktivitäten erforderten ein personelles Profil, das die professionellen Popularisierer gerade nicht aufwiesen, und sie unterschieden sich von dem okkasionellen Vermittlungsengagement der breiten Schicht der Privatdozenten und Professoren. Das Wirken der public scientists setzte die feste Verankerung innerhalb der akademischen Wissenschaft voraus und implizierte wissenschaftliche Meinungsführerschaft. Damit wurde der Öffentlichkeit die Erfolgsseite der Professionalisierungsentwicklung demonstriert, nicht etwa deren Krisen und Opfer gespiegelt, die von vielen Vermittlern so deutlich erlebt wurden. Die führenden Standesvertreter mußten das eine hervorheben und das andere ausblenden, wollten sie dem Auftrag kollektiver Interessenvertretung gerecht werden und gleichzeitig ihr persönliches Prestige fördern.
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Ruff: Emil du Bois-Reymond (1981), S. 63-70. Turner: Public Science (1980), jetzt auch in ders.: Contesting Cultural Authority (1993), S. 201-228.
5. Akademische Meinungsführer und Standespolitiker
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a) Justus Liebig und die Berliner Physiologen um Emil Du Bois-Reymond und Hermann Helmholtz Gemessen an der öffentlichen Prominenz läßt sich ein kleiner Kreis herausragender wissenschaftlicher Meinungsführer eingrenzen. Dazu gehören an vorderster Front Emil Du Bois-Reymond, Hermann Helmholtz und Rudolf Virchow, die mit karrierebedingten Verschiebungen schließlich als kongeniale Akteure in der preußischen Hauptstadt wirkten, sowie Justus Liebig und Wilhelm Foerster, dessen Wirken bis heute im Vergleich zu den Vorgenannten am wenigsten gewürdigt wird. Der Chemiker Liebig, 1803 geboren und damit der älteste aus diesem Kreis, verhalf noch im Vormärz seiner Wissenschaft zu einem zweifachen Durchbruch. Seit 1825 Ordinarius in Gießen, systematisierte Liebig das chemische Universitätsstudium und wies vorlesungsbegleitenden Praktika eine zentrale Rolle im Unterrichtskanon zu. Durch die Einrichtung des chemischen Laboratoriums zog Liebig eine ganze Reihe ambitionierter Studenten an und erlangte weltweiten Ruhm. Gleichwohl blieben die Strukturbedingungen des Chemiestudiums und die staatliche Unterstützung in Deutschland weit hinter seinen Vorstellungen zurück. Diesen Rückstand wertete Liebig als Teil der im deutschen Gelehrtentum und in der deutschen Gesellschaft noch immer vorherrschenden humanistischen Skepsis gegenüber den neuen, empirischen Wissenschaften. Der Chemiker sah sich veranlaßt, den Weg in die Öffentlichkeit zu gehen und von dort Druck auf die Wissenschaftsadministrationen auszuüben. 1840 trat Liebig mit einer spektakulären Polemik gegen den Zustand der Chemie in Preußen und den Mangel an staatlicher Zuwendung im größten deutschen Staat hervor. Die Schrift, von Liebig ursprünglich für die Veröffentlichung in der Augsburger Allgemeinen Zeitung gedacht, 3 stellte ein rhetorisch klug gestaltetes Plädoyer für die Stärkung der Chemie als Fach und als Ausbildungsweg dar - klug auch deshalb, weil Liebig die Reizworte der zeitgenössischen Bildungsdebatte wohlberechnet für sein Anliegen einsetzte und damit mindestens ebenso das außerwissenschaftliche Publikum wie die akademische Zunft und die politischen Entscheidungsträger ansprach. Liebig betonte das hohe Maß intellektueller Potenzen in Preußen, die immense Bedeutung der Chemie als induktiver Gesetzeswissenschaft und als unabdingbarer Bestandteil eines modernen BildungsVerständnisses. Er unterstrich das gewerbliche, industrielle und 3
Justus Liebig an Cotta'sche Verlagshandlung 28.4.1841 (CA Marbach, Cotta Briefe). Der Erstabdruck erfolgte dann doch in einer Fachzeitschrift, den Annalen der Chemie und Pharmacie. Der vollständige Titel der 1840 im Braunschweiger Verlag Vieweg erschienenen, 47seitigen Separatschrift lautete: Ueber das Studium der Naturwissenschaften und über den Zustand der Chemie in Preußen. Vgl. hierzu auch die Briefe Liebigs an seinen Verleger, abgedruckt in: Schneider (Hg.): Justus von Liebig (1986), S. 96-102.
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VII. Die Vermittler
wissenschaftliche Bedürfnis nach chemischen Kenntnissen, ohne den Verdacht des bloßen Utilitarismus aufkommen zu lassen. Die konkurrierenden Disziplinen wurden scharf angegriffen, die klassischen humanistischen Fächer, Naturphilosophie und Mathematik einer beißenden Kritik unterzogen und die fehlende naturwissenschaftliche Bildung der kulturellen und administrativen Führungsschicht angeprangert. Der Appell an die Öffentlichkeit wurde für Liebig zum Teil seiner Strategie, den Prozeß der disziplinaren Verselbständigung des chemischen Faches voranzutreiben. Im Juni 1840 schrieb der aufstrebende Chemiker an seinen Freund Friedrich Wöhler, die Schrift erfülle ihren Zweck allein darin, „auf das grosse Publicum und auf die Regierungen zu wirken. Der Himmel gebe seinen Segen dazu und emancipire uns. Die Chemie stand bisher, den anderen Fächern gegenüber, in einer sonderbaren Lage, wir werden gewissermaßen als Eindringlinge betrachtet; allein dies soll sich ändern, sie soll neben oder über den anderen stehen." 4 Liebigs Fanfarenstoß rief an den preußischen Universitäten keineswegs einhellige Zustimmung hervor. Aus den medizinischen Fakultäten und von anderen Chemikern wurden deutliche Vorbehalte gegenüber Liebigs Laboratoriumswissenschaft vorgebracht; sie knüpften an die Grundsätze der Einheit von Lehre und Forschung und der Zweckfreiheit der Forschung an.5 Tatsächlich sollte nach 1848 nicht Preußen, sondern zunächst das Großherzogtum Baden die Reorganisation des Chemiestudiums betreiben, den naturwissenschaftlichen Ausbildungssektor fördern und die Verknüpfung von Laboratoriumsarbeit, Forschung und industriellen Anforderungen beschleunigen.6 Liebig selbst baute seine Methode, dem naturwissenschaftlichen Studium durch die Ansprache an die Öffentlichkeit eine neue Legitimation zu verschaffen, für einige Zeit konsequent aus. Bereitwillig ging er 1841 auf das Angebot der Cotta'schen Verlagshandlung ein, für deren Periodika über Naturwissenschaften und ihre praktische Anwendung zu schreiben. Der „Geist der Zeit, die Bedürfnisse der Wissenschaft, des Lebens und der
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Justus Liebig an Friedrich Wöhler 1.6.1840, abgedruckt in: Wilhelm Lewicki (Hg.): Wöhler und Liebig. Briefe von 1829-1873 aus Justus Liebig's und Friedrich Wöhler's Briefwechsel in den Jahren 1829-1873. 2., ungekürzte Aufl., Bd. I, Göttingen 1982, S. 160. R. Steven Turner: Justus Liebig versus Prussian Chemistry: Reflections on Early Institute-Building in Germany, in: Historical Studies in the Physical Sciences 13 (1982), S. 129-162. Erweitert um den Abdruck der einschlägigen Stellungnahmen auf Liebigs Initiative bei Regine Zott/Emil Heuser: Die streitbaren Gelehrten. Justus Liebig und die preußischen Universitäten. Kommentierte Edition eines historischen Disputes. Berlin 1992. Borscheid: Naturwissenschaft (1973); über den von Borscheid primär behandelten Bereich der Chemie ausgreifend und im besonderen auf die Physiologie bzw. physiologische Medizin bezogenTuchman: Science (1993).
5. Akademische Meinungsführer und Standespolitiker
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Industrie" 7 würden im gelehrten Deutschland zu wenig verstanden. Aus diesem Einverständnis gingen die Chemischen Briefe in der Augsburger Allgemeinen Zeitung hervor. Die literarischen Vorschläge des Technologen Petzholdt in Dresden, den Liebig zur Erläuterung seiner Organischen Chemie vorgesehen hatte, erschienen dem Gießener Chemiker untauglich.8 Allerdings mußte Liebig 1844 Cottas Plan, ein chemisches Handwörterbuch nach dem Vorbild englischer und französischer Manuals zu verfassen, wegen Arbeitsüberlastung ablehnen. 9 Auch nach der Berufung an die Universität München 1852 und der Ernennung zum Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1859 nutzte Liebig weiter das publizistische Instrumentarium, um für sein Verständnis der Chemie und die institutionelle Stärkung seines Faches zu werben. Selbst für den Volksalmanach des Schriftstellers Berthold Auerbach lieferte Liebig Beiträge, weniger aus Freude an der literarischen Aufgabe als aus der Einsicht heraus, daß über solche Organe „die ganze Bevölkerung in Bewegung gesetzt" werden könne.10 In München trat für den inzwischen vielfach ausgezeichneten Chemiker die Vortragstätigkeit in den Vordergrund. Bereits in seinem ersten Jahr in der bayerischen Hauptstadt begann Liebig, Abendvorträge zu halten. Wegen der großen Nachfrage wurde bald die Ausgabe von Eintrittskarten notwendig.11 Für einige Jahre organisierte Liebig im Hörsaal seines neuen Instituts Vortragszyklen, an denen sich auch Kollegen aus anderen Fächern beteiligten. Aufgrund des wachsenden Publikumsinteresses und auf Wunsch der Zuhörer wurden
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Justus Liebig an Cotta 28.4.1841 (CA Marbach, Cotta Briefe); zuvor die Anfrage Cottas im Schreiben an Justus Liebig 16.4.1841 (CA Marbach, Cotta GelehrtenCopierbuch II, S.50f.). Vgl. auch Andreas Kleinert (Hg.): Justus von Liebig. „Hochwohlgeborener Freyherr". Die Briefe an Georg von Cotta und die anonymen Beiträge zur Augsburger Allgemeinen Zeitung. Mannheim, Heidelberg, Wien 1979, S. 1-11. In seinem Schreiben an Cotta vom 28.4.1841 (CA Marbach, Cotta-Briefe) hatte Liebig den ihm persönlich nicht bekannten Petzhold als einen Verfasser kenntnisreicher Schriften ins Spiel gebracht. Nachdem Liebig allerdings Petzholds Vorschläge geprüft hatte, bat er Cotta ausdrücklich darum, diese nicht zu übernehmen, da sie „weit mehr die Person als die Sache betreffen", so Liebig an Cotta 9.8.1841 (CA Marbach, Cotta-Briefe). Petzhold selbst veröffentlichte daraufhin 1844 populäre Vorlesungen über Agrikulturchemie, die er Liebig widmete; dessen Schriften würden „noch immer eine gewisse Summe wissenschaftlicher Kenntnisse voraussetzen", so Petzholdt: Populäre Vorlesungen (1844), S. V. Cotta an Liebig 24.7.1844 und 21.8.1844 (CA Marbach, Cotta Gelehrten-Copierbuch II, S. 434, 437), Liebig an Cotta 12.[ergänzt: 14., 21.]8.1844 (CA Marbach, Cotta Briefe). Liebig an Eduard Vieweg 9.5.1862, abgedruckt in: Schneider (Hg.): Justus von Liebig (1986), S. 356, siehe auch ebenda S.411 das Schreiben Liebigs vom 27.10.1868 sowie Liebig an Berthold Auerbach 19.5.1862,12.1.1867 und 9.2.1868 (DLA Marbach, A: Auerbach). Vgl. Conradi: Justus von Liebig (1985), S. 39-48.
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VII. Die Vermittler
1858 die Vorträge des vorangegangenen Winters erstmals veröffentlicht. 12 Die Teilnahme der bayerischen Königin Marie im Publikum wirkte als zusätzliche Attraktion für die Öffentlichkeit, deren Neugierde Liebig außerdem mit zahlreichen Experimentalvorführungen wach hielt. Offensichtlich wurden die Vorträge im besonderen von Frauen besucht.13 Während Liebig seit 1840 den Appell an das Publikum außerhalb der Fachzunft verstärkte, formierten sich in Berlin einige jüngere Naturforscher, um gegen verbliebene naturphilosophische Denkstrukturen ein radikal reformerisches Programm zu setzen: den Versuch, unter Ablehnung jedes Vitalismus und Idealismus, von dem auch Liebig nicht frei war, Lebensvorgänge rein kausalanalytisch auf empirischer Basis, mit chemischem und physikalischem Wissen und unterstützt durch die experimentelle Prüfung zu erklären. Auf diese Weise sollte eine organische Physik als reduktionistisch-physiologische Naturwissenschaft begründet werden. Als Vorkämpfer der neuen Richtung trat Emil Du Bois-Reymond auf. Er war auf der Suche nach einem originären Forschungsfeld, aus dem eine universitäre Karriere hervorgehen konnte. 1841 gründete Du Bois-Reymond in der preußischen Hauptstadt einen jüngeren Naturforscher-Verein, der den Modernisten ein Forum bot, um sich über die neuesten Forschungen aus Physik und Chemie auszutauschen.14 1845 ging dieser Kreis in die Physikalische Gesellschaft zu Berlin über, die sich seit 1843 als Expertenkreis um den Physiker Heinrich Gustav Magnus herauskristallisiert hatte. Zu den Mitgliedern und auswärtigen Freunden der Physikalischen Gesellschaft gehörte die aufstrebende Gilde des naturwissenschaftlich-technischen Nachwuchses: neben Du Bois-Reymond dessen Vertraute Ernst Brücke und Carl Ludwig, sowie Hermann Helmholtz, Werner Siemens, Wilhelm Beetz, zeitweise auch Virchow. Es waren vor allem die Physiologen Brücke, Du Bois-Reymond, Helmholtz und Ludwig, die - ohnehin im ständigen Kontakt untereinander den Weg einer „internen Wissenschaftspolitik" 15 beschritten, um ihren Ansatz und damit die persönliche Karriere institutionell zu verankern. Es ging darum, ein verheißungsvolles Forschungsfeld zu besetzen, die Fachterminologie zu beeinflussen und mit eigenen Lehrbüchern zu zeigen, daß man gemeinsam „wirklich eine Epoche in der Wissenschaft der Wissenschaften,
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Wissenschaftliche Vorträge (1858). Das Vorwort sprach von einem „gebildeten Publicum aller Stände". Auch die einzig erhaltene Mitschrift stammt von einer Zuhörerin, der Gattin des Hofmalers Stieler; vgl. Conradi: Justus von Liebig (1985), S. 41^15. Ruff: Emil du Bois-Reymond (1981), S. 49f. Lenoir: Politik (1992), S. 27, ähnlich S. 38: „Wissenschaftspolitik von innen"; Lenoir selbst setzt beide Ausdrücke in Anführungszeichen. Vgl. Zwei grosse Naturforscher (1927) und Dokumente einer Freundschaft (1986).
5. Akademische Meinungsführer und Standespolitiker
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der Physiologie"16 abgesteckt habe. Eine neue Schule sollte begründet werden. Bald hatten die Protagonisten die entscheidenden Sprossen der akademischen Erfolgsleiter genommen. 17 Als sich in den Reichsgründungsjahren zudem in Preußen eine neue Politik zugunsten der Naturwissenschaften abzeichnete, profitierten die reformerischen Physiologen des Vormärz gewaltig davon, und sie waren selbst daran maßgeblich beteiligt. Helmholtz erhielt unter Vermittlung Du Bois-Reymonds 1871 den Ruf auf die Physik-Professur von Magnus, was keineswegs eine selbstverständliche Wahl war. Das Physiologische Institut Du Bois-Reymonds wurde errichtet und schließlich, von Werner Siemens vorangetrieben, die PhysikalischTechnische Reichsanstalt unter der Präsidentschaft von Helmholtz ins Leben gerufen. 18 Du Bois-Reymond und seine Mitstreiter waren sich der Bedeutung öffentlicher Verlautbarungen wohl bewußt. Den emphatischen Impuls, die Naturwissenschaften zur Volkswissenschaft zu erklären und diesen Elan über populärwissenschaftliche Zeitschriften oder Vorträge auszugestalten, teilten sie aber nicht. Dies war nicht ihre Sache, zumal nicht in den 1840er und 1850er Jahren, als es galt, innerhalb des bestehenden Wissenschaftssystems die jungen Karrieren zu sichern. Du Bois-Reymond spottete 1842 sogar über die Berliner Professoren, die in der Singakademie „vor dem Pöbel der guten Gesellschaft populäre Vorträge über diverse Branchen der Wissenschaften" halten würden, und zitierte Savigny, der das Institut als ,,mündliche[s] Pfennigmagazin" bezeichnet habe.19 Daß „nach Art der Politiker ein populärer Ruf notwendig" sei und eine „populäre Durchdringung erst den wahren Nutzen" ergebe, wie Carl Ludwig im September 1850 an Du Bois-Reymond schrieb,20 war auf den Kampf um die innerakademische Anerkennung und die öffentliche Durchsetzung der eigenen Forschungsergebnisse gemünzt. Vor diesem Hintergrund gewinnt die zu Beginn unserer Untersuchung zitierte, von Du Bois-Reymond und Virchow unterzeichnete Adresse der Physikalischen Gesellschaft an die Akademie der Wissenschaften zu Berlin 16
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Du Bois-Reymond an Carl Ludwig 9.1.1853, abgedruckt in: Zwei grosse Naturforscher (1927), S. 120; im gleichen Sinne Du Bois-Reymond an Ludwig 17.2.1852, abgedruckt ebenda S. 110. Ludwig wurde 1846 Extraordinarius und drei Jahre später Ordinarius, Brücke erhielt 1848 die erste Professur. Zu Helmholtz, Du Bois-Reymond und Virchow vgl. die Kurzbiographien. Vgl. Cahan: An Institute (1989). Du Bois-Reymond an Eduard Hallmann 15.2.1842, abgedruckt in: Jugendbriefe von Emil Du Bois-Reymond (1918), S. 105-107, hier S. 106f. Carl Ludwig an Emil Du Bois-Reymond 19.9.1850, abgedruckt in: Zwei grosse Naturfoscher (1927), S. 96f. Der Begriff populär taucht in den Korrespondenzen der genannten Physiologen allein deskriptiv zur Kennzeichnung von Vorträgen oder Aufsätzen auf, die nicht rein wissenschaftlich waren, vgl. ebenda, S. 99,128, 156f.; Dokumente einer Freundschaft (1986), S. 116,156,208f., 210£, 218f.
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VII. Die Vermittler
vom Juni 1848 Konturen als ein Vorstoß der jungen Neuerer auf die Ebene der amtierenden wissenschaftlichen Elite. Der Vorstoß besaß zweifellos eine emanzipatorische, ja politische Absicht, indem er das Prinzip der Öffentlichkeit auch im akademischen System einklagte; aber er war alles andere als revolutionär. Er gab sich mit dem dilatorischen Kompromißangebot der Akademie zufrieden und erwies sich letztlich als systemkonform.21 Die Adresse verkörperte die reformerischen Interessen einer ehrgeizigen, modernen Wissenschaftlergeneration, die sich in Szene zu setzen wußte und mit Emil Du Bois-Reymond, der die Petition anregte und an die Akademie sandte, einen geradezu idealen Vertreter aufwies: akademisch hoch ambitioniert und mit einem neuen Paradigma antretend, doch auf Integration bedacht. Der Physiologe selbst hat 1849 die ambivalente Bedeutung der Adresse im Rückblick auf das Revolutionsjahr, das er anders als Virchow innerlich eher unbeteiligt betrachtete,22 formuliert. Die Adresse sei im Revolutionssommer seine „einzige politische Tat" gewesen. Sie war zeitgemäß angesichts des Budgetbewilligungsrechts der Kammern und der Notwendigkeit für eine Körperschaft, „im konstitutionellen Staat" den „Rückhalt der öffentlichen Meinung" hinter sich zu haben. Zugleich habe die Adresse die Stellung der Wissenschaft in der aufgeregten Zeit retten wollen. Die Physikalische Gesellschaft habe ihm dabei als „Hebel" gedient, wobei aber der 21
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Du Bois übersandte die „Adresse" mit Schreiben vom 10.6.1848 an die Akademie, wo sie am 12.6.1848 von Ehrenberg abgezeichnet wurde, AkW Berlin, II-V, 186 (Akten der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1812-1945, Öffentliche Sitzungen). Der „Auszug aus dem Sitzungs-Protokolle der Gesammt-Akademie vom 22ten Juny 1848" nennt 108 Unterzeichner, während die Adresse tatsächlich nur 106 Unterschriften aufweist. Die Akademieleitung versuchte zunächst, das Anliegen der Adresse auf eine Statutenfrage zu reduzieren und mittels einer modifizierten Vergabe von Eintrittskarten für die Sitzungen zu befriedigen. Immerhin fand intern die Tatsache Aufmerksamkeit, daß die Unterschriften der Petition „aus sehr verschiedenen Ständen" stammten, und schließlich wurde auch der „Werth der Öffentlichkeit" für die Wissenschaft konzidiert, so der „Auszug aus dem Sitzungs-Protokolle der Gesammt-Akademie vom 22ten Juny 1848" und der Entwurf eines Antwortschreibens vom 20.7.1848 (ebenda). Dies genügte der Physikalischen Gesellschaft. Der Vorgang sollte indes im Januar 1849 ein Nachspiel haben. Ein „Neujahrsgruß an die Akademie der Wissenschaften" in den Berlinischen Nachrichten, Nr. 4 vom 5.1.1849, klagte die Berücksichtigung der Öffentlichkeit in heftigem Ton ein. Er warf der Akademie vor, sie nehme „keinen Theil an den sichtbarsten Leiden und Bedrängnissen des Volkes"; stattdessen rechne man „in stolzer Zurückgezogenheit über einige Formeln oder ist im Beschauen eines altägyptischen Topfes verloren". Vgl. wiederum das Urteil bei Adolf von Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. I, Zweite Hälfte, S. 945, Anm. 1: „Wohin wäre die Akademie aber gekommen, wenn sie der Versuchung, sich populär zu machen, damals nachgegeben hätte!" Vgl. Du Bois-Reymond an Carl Ludwig 22.4.1848, abgedruckt in: Zwei grosse Naturforscher (1927), S. 10-20.
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Mangel an Unterstützung aus nicht-naturwissenschaftlichen Kreisen der Durchsetzungschance abträglich gewesen sei.23 Erst nach der erfolgreichen Etablierung als professionelle Wissenschaftler traten Du Bois-Reymond und Helmholtz in ihren respektablen Ämtern als Größen der öffentlichen Diskussion hervor. Du Bois-Reymond avancierte zu einem herausragenden Festredner des deutschen Kaiserreichs, dessen Themen und Ideenvielfalt im öffentlichen Auftreten ganz im Gegensatz zu seinen fachwissenschaftlichen Arbeiten, die sich weiterhin auf die Elektrophysiologie konzentrierten, nahezu unbegrenzt blieben. In dichter Folge exponierte sich der Physiologe seit 1868 bei feierlichen Anlässen, insbesondere im Rahmen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Er schöpfte aus einem immensen Fundus bürgerlichen Bildungswissens und entsprach in seinen rhetorischen Figuren und literarischen Anspielungen allem anderen als dem Bild eines auf die naturwissenschaftliche Fachsprache verengten Gelehrten. 24 Auch Helmholtz trat durch eine Reihe prominenter Reden hervor,25 galt allerdings keineswegs als glänzender Rhetor; ähnlich wie Jacob Moleschott testete er seine für eine breitere Öffentlichkeit bestimmten Vorträge zunächst im Familienkreis aus.26 David Cahan hat als zentrales Thema der Präsentationen naturwissenschaftlicher Bildung bei Helmholtz die Vorstellung von der „civilizing power of science"27 herausgearbeitet und sie nach vier Bedeutungsebenen aufgeschlüsselt: Naturwissenschaft als Möglichkeit, die Gesetzmäßigkeit der natürlichen Welt und die Stellung des Menschen darin zu erkennen; als Mittel, die Natur zu beherrschen und aus ihr Nutzen zu ziehen; als Begründung auch der ästhetischen Kultur (Helmholtz beschäftigte sich intensiv mit der physikalisch-physiologischen Begründung der Optik und pflegte eigene ästhetische Interessen); und in sozialer und politischer Funktion als Medium der nationalen Einigung in dem Maße, wie die Naturwissenschaften zur gesellschaftlichen Macht wurden. Damit sind Kernpunkte der Helmholtzschen Reden erfaßt, die über mehrere Jahrzehnte hinweg variiert wurden. Abgesehen davon, daß eine 23 24 25
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Du Bois-Reymond an Eduard Hallmann 6.1.1849, abgedruckt in: Jugendbriefe von Emil Du Bois-Reymond (1918), S. 128-132, hier S.131. Reden von Emil Du Bois-Reymond, I-II (1912). Vgl. Lübbe: Wissenschaft (1981). Helmholtz: Vorträge, I-II (1896) sowie in HörzAVollgast (Hg.): Hermann von Helmholtz (1971). Vgl. zu Leben und Werk die beiden neuesten Kompendien von David Cahan (Ed.): Hermann von Helmholtz and the Foundations of Nineteenth-Century German Science. Berkeley, Los Angeles, London 1993 und Lorenz Krüger (Hg.): Universalgenie Helmholtz. Rückblick nach 100 Jahren. Berlin 1994. Kant: Helmholtz' Vortragskunst (1994), S. 319-321; Moleschott: Für meine Freunde (1894), S. 199. Cahan: Helmholtz (1993).
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VII. Die Vermittler
solche Systematik die Wandlungen in Helmholtz' Weltbild unterschätzt, verdienen zwei weitere Aspekte Beachtung. Zum einen verband Helmholtz sein Eintreten für die physiologisch fundierten Naturwissenschaften als staatlich geförderte Disziplinen mit einer scharfen Analyse der methodischen, erkenntnistheoretischen und anwendungsbezogenen Unterschiede zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Er eröffnete damit schon in den 1860er Jahren die Perspektive auf die Differenzierung von Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, wie sie Heinrich Rickert nach 1900 vornahm. 28 Nicht unähnlich der Bestandsaufnahme Charles Percy Snows ein Jahrhundert später, konstatierte der Physiker einen beträchtlichen „Zwiespalt in der Geistesbildung der modernen Menschheit" 29 . Gleichzeitig war er sich der Gefahren der allseitigen Spezialisierung und Segmentierung der Wissensbereiche gerade an der Universität bewußt. Helmholtz rückte eindringlich die Frage nach dem „Zusammenhange der verschiedenen Wissenschaften" 30 in das öffentliche Bewußtsein. Auf Humboldts Ganzheitsverständnis bezog sich Helmholtz aber nur noch im historischen Rückblick. Allerdings zielte auch er, wie schon Liebig ein Vierteljahrhundert zuvor, auf eine zwischen Humanisten und Realisten ausbalancierte Bildungsgesellschaft. Als Leitvorstellung zeichnete sich die „Vereinigung der bisherigen literarisch-logischen und der neuen naturwissenschaftlichen Richtung" 31 ab. Zum anderen ist fraglich, ob Helmholtz' Korpus an Vorträgen und Reden schlicht als „science popularized" 32 charakterisiert werden kann. Als Kronbeweis dient häufig das Vorwort „Ueber das Streben nach Popularisirung der Wissenschaft", das Helmholtz der Übersetzung der Fragments of Science seines englischen Kollegen JohnTyndall vorausschickte. Helmholtz nahm darin 1874 das „auch in Deutschlands gebildeteren Kreisen erwachende und sich immer lebhafter äussernde Verlangen nach naturwissenschaftlicher Belehrung" ausdrücklich davor in Schutz, nur „für ein Haschen nach einer neuen Art von Unterhaltung oder für leere und fruchtlose Neugier" gehalten zu werden. Es sei „ein wohlberechtigtes geistiges Bedürfniss, welches mit den wichtigsten Triebfedern der gegenwärtigen geistigen Entwickelungsvorgänge eng zusammenhängt." 33 Das Auftreten von Helmholtz, wie schon jenes Du Bois-Reymonds, besaß jedoch einen gänzlich anderen Charakter als die zeitgleich entwickelten populärwissenschaftlichen Genres. Helmholtz wandte sich zuvörderst an die akademi-
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Rickert: Kulturwissenschaft (1926/1986). Helmholtz: Ueber das Streben (1874/1896), S.423. Helmholtz: Ueber das Verhältniss (1862/1896), S. 162. Helmholtz: Ueber das Streben (1874/1896), S. 425. Cahan: Helmholtz (1993), S. 560. Helmholtz: Ueber das Streben (1874/1896), S.422. Betont wieder bei Kant: Helmholtz' Vortragskunst (1994), S. 316.
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sehe und politische Elite, seine öffentlichen Beiträge mußten als quasi offizielle Verlautbarungen gelesen und gehört werden.34 b) Liberale Akzentsetzungen und ein Sonderfall: Rudolf Virchow, Wilhelm Foerster und Ernst Haeckel Das gesellschaftliche Selbstverständnis der meisten führenden Naturwissenschaftler wurde spätestens seit der Reichsgründungszeit auf Nation, Reich und Staat orientiert, zumal der Nationalstaat nun entschieden zum Förderer von Naturwissenschaften und Technik wurde. Im Kreis der naturwissenschaftlichen Meinungsführer markierte den neuen Fluchtpunkt niemand deutlicher als Du Bois-Reymond. Sein Diktum von der Berliner Universität als dem ,,geistige[n] Leibregiment des Hauses Hohenzollern"35, formuliert am 3. August 1870, hat Geschichte gemacht. Es signalisierte für viele das Arrangement der Naturwissenschaftler mit der etablierten politischen Ordnung.36 Dieses Arrangement wurde im folgenden Kulturkampf, während der Debatten um die Grenzen des Erkennens und um den Einzug des Darwinismus in den Schulunterricht gegen wechselnde Oppositionen kenntlich gemacht. Von einer im Sinne des Nationalstaats geschlossenen kulturellen und politischen Formierung der naturwissenschaftlichen Standespolitiker, einem dauernden Verlust ihrer öffentlichen Funktion als Vertreter einer rationalistischen Aufklärungsideologie und der permanenten Anpassung an den status quo kann man aber nicht generalisierend sprechen. Die Polyvalenzen naturwissenschaftlichen Denkens von Haeckel bis Reinke, von sozialistischen Darwinisten bis zu konservativen Anhängern des Neolamarckismus, schließlich auch das öffentliche Auftreten von Rudolf Virchow und Wilhelm Foerster setzten abweichende Akzente. Anders als der drei Jahre ältere Du Bois-Reymond trat Virchow in seiner Eigenschaft als Vertreter der professionellen Naturwissenschaft primär vor der Reichsgründung auf und bevorzugte als Forum die GDNA. Auch Virchow machte seine Kollegen mit dem nationalen Gedanken vertraut, die Rede vor der 44. VDNA in Rostock 1871 über die Aufgaben der Na34
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Daß Helmholtz 1884 aus dem Titel seiner erweiterten Redesammlung ('1865-70) das Attribut ,populär wissenschaftlich' strich, war nur ein nachträgliches Eingeständnis dieses grundsätzlichen funktionalen und formalen Unterschieds. Helmholtz gestand ein, daß schon einige der Vorträge in den ersten Auflagen kaum mehr populär genannt werden konnten. Siehe Helmholtz: Vorträge, I (1896), Vorrede zum ersten Band der dritten Auflage 1884, S. VII und Deutsche Rundschau 43 (1885), S. 153f. Emil Du Bois-Reymond: Der deutsche Krieg [1870], in: Reden von Emil Du Bois-Reymond, I (1912) S. 393^20, hier S. 418. Bayertz: Siege der Freiheit (1987).
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VII. Die Vermittler
turwissenschaften im neuen nationalen Leben Deutschlands betonte unmißverständlich, daß das realistische Weltverständnis mit dem Nationalstaat vereinbar war.37 Allerdings besaß dieses Plädoyer aufgrund der intellektuellen Entwicklung Virchows, seines politischen Engagements als führender Kopf der Deutschen Fortschrittspartei und liberaler Abgeordneter im Preußischen Landtag, später dann auch im Reichstag, eine andere Stoßrichtung als bei Du Bois-Reymond. Schon vor 1848 machte sich auch Virchow für eine physikalische Grundlegung seiner Wissenschaft stark und schuf mit seinem Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie 1847 ein zusätzliches Forum für die neue Richtung.38 Wie sehr Virchows Vorstellung einer rationalen Medizin gesellschaftspolitisch fundiert war, zeigte sein Bericht über die Typhusepidemie in Oberschlesien, die er im Auftrag der preußischen Regierung im Februar/März 1848 vor Ort analysierte. Für den Berliner Arzt stellten sich die medizinischen Symptome als Teil einer umfassenden sozialen Problematik dar. In deren Mittelpunkt stellte er den Zusammenhang von „Wohlstand, Bildung und Freiheit" 39 . Dieses Plädoyer verknüpfte Virchow mit scharfer Kritik an staatlicher und kirchlicher Bevormundung der Bevölkerung. In Virchows Vorstellung von Medizin als einer sozialen, naturwissenschaftlich begründeten Wissenschaft gingen einzelne ärztliche, bauliche und ernährungspolitische Hilfsmaßnahmen in ein umfassendes sozialpolitisches Programm über. Virchow band es ebenso an die Idee der Demokratie wie an den Gedanken der Öffentlichkeit von medizinischer Aufklärung. Beides machte der Arzt in seiner mit Rudolf Leubuscher herausgegebenen Wochenschrift Die medicinische Reform zwischen Juli 1848 und Sommer 1849 deutlich. Virchow verlangte eine „Verallgemeinerung der physiologischen Bildung", die Aufhebung der Trennung von realistischen und humanistischen Wissenschaften und eine universitäre und schulische Verankerung des medizinischen Unterrichts. „Populäre Unterweisungen, die eine allgemeine, vernünftige Diätetik, eine allgemeine Prophylaxe etc. begründen" 40 , sollten Teil der öffentlichen Gesundheitspflege werden. Virchow, der selbst im März 1848 im Berliner Straßenkampf involviert war, stellte nach staatlichen Zurechtweisungen 1849 und der Berufung nach Würzburg für einige Jahre seine politischen Aktivitäten zugunsten der Arbeiten an seiner Zellularpathologie ganz zurück.41 Die gesellschaftspolitischen und medizinreformerischen Impulse der Revolutionszeit gab er jedoch nie auf. Seit 1858, inzwischen wieder in Berlin, trat Virchow als liberaler Politiker und Parlamentarier im Verfassungskonflikt, später im Kulturkampf hervor. Mit seinen Reden vor der GDNA forcierte er die 37 38 39 40 41
Virchow: Über die Aufgaben (1871/1922). Zum folgenden der beste Überblick bei Schipperges: Rudolf Virchow (1994). Zitiert ebenda, S. 94. Zitiert ebenda, S. 83,85. Boyd: Rudolf Virchow (1991), S. 50ff.
5. Akademische Meinungsführer und Standespolitiker
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Zielvorstellung, das naturwissenschaftliche Denken allem gesellschaftlichen und moralischen Handeln zugrundezulegen und auch in den Schulen zu lehren.42 Naturwissenschaftliches Denken und dessen Verbreitung erwiesen sich aus dieser Sicht als Medium nationaler Vereinigung, wie Virchow kurz nach der Reichsgründung in einem nachdrücklichen Vorstoß für die wissenschaftliche Methode als der „Methode der ganzen Nation"43 ausführte: „Die Nation muß notwendigerweise dahin geführt werden, daß eine Verständigung ermöglicht wird, daß die innere Entwicklung, die geistige Arbeit des Volkes fortan auf gemeinschaftlichen Grundlagen weitergeführt werde. Es ist ja ganz unmöglich, daß eine heilvolle Entwicklung zustande kommt, wenn die verschiedenen Teile des Volkes mit ganz anderen Ideen erfüllt sind. Daher, meine ich, müssen wir mit allen Kräften danach streben, daß die Wissenschaft Gemeingut wird, und zwar nicht bloß auf dem nun allerdings schon weitverfolgten, und zwar segensreich verfolgten Wege der sogenannten Popularisierung, sondern vielmehr auf dem Wege der rationellen Erziehung."44
Virchows Strategie, das naturwissenschaftliche Denken als nationales Integrationsmittel zu präsentieren, war dabei aufs engste mit seiner liberalen Grundposition und dessen antisozialistischer und antikatholischer Ausrichtung verknüpft. Als daher in der Spätphase des Kulturkampfes Haeckel auf der Münchener VDNA seinerseits mit der darwinistischen Weltanschauung ein noch weiterreichendes, im Gehalt jedoch auf eine spezifische Interpretation zugespitztes Bildungsangebot für den Schulunterricht vorlegte, verwahrte sich Virchow, wie im Kapitel II.3 geschildert, mit Erfolg gegen diesen Vorstoß. Daß dies kein Rückzug aus dem Bemühen darstellte, den Naturwissenschaften in der Schule Anerkennung zu verschaffen, war offensichtlich. Virchow plädierte in seiner Berliner Rektoratsrede 1892 noch einmal dafür, die „moderne Weltanschauung ganz und gar auf dem Boden der Naturwissenschaften"45 zu erbauen. Virchows Vorgänger als Rektor der Berliner Universität, der Astronom Wilhelm Foerster, zählt ebenfalls zu den herausragenden Naturwissenschaftlern des Kaiserreichs und wirkte entscheidend mit bei der Gründung der Berliner Urania.46 Den Typus des ideologisch paßfähigen, repräsentativen Standespolitikers, den Du Bois-Reymond so überzeugend darstellte, 42
43 44 45 46
Virchow: [Ü]ber den Einfluss des naturwissenschaftlichen Unterrichts (1861), S.71f.; ders.: Ueber den naturwissenschaftlichen Unterricht (1868/1922); ders.: Über die Aufgaben (1871/1922), S. 114-118; ders.: Die Naturwissenschaften (1873/1922), S. 131f.; sowie noch in seiner berühmten Rektoratsrede ders.: Lernen und Forschen (1892). Virchow: Über die Aufgaben (1871/1922), S. 118. Ebenda, S. 111. Virchow: Lernen und Forschen (1892), S. 22. Vgl. Foerster: Lebensfragen, I—II (1902-4), ders.: Lebenserinnerungen (1911), Tiemann: Wilhelm Foersters Werk (1990).
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VII. Die Vermittler
verkörperte Foerster gleichwohl nicht - gerade wegen seines Auftretens in der Öffentlichkeit. Foerster hatte als Schüler die demokratischen Bestrebungen der Revolutionszeit mit Sympathie verfolgt und im Elternhaus starke Affinitäten zur freireligiösen Bewegung erlebt. In den folgenden Jahren des astronomischen Studiums beeindruckte ihn besonders Alexander von Humboldt, den er persönlich kennenlernte. 1859, noch nicht 27 Jahre alt, begann Foerster einen Zyklus populärwissenschaftlicher Vorträge über Astronomie und Kulturgeschichte in einem Hotel Unter den Linden. Im Februar des folgendes Jahres trat er erstmals in der Singakademie auf und begann damit eine Reihe öffentlicher Vortragsveranstaltungen, die zweimal auch Humboldt selbst zum Thema hatten.47 Es waren die frühen populärwissenschaftlichen Vorträge, die Foersters Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften verzögerten und zu dem ironischen Diktum „Kein Akademiker, aber ein Sing-Akademiker"48 führten. Der Erfolg beim Berliner Publikum stand der wissenschaftlichen Würdigung eher im Wege, als daß er sie förderte. Umgekehrt reflektierte Foerster mehr als die meisten anderen Wissenschaftler über das Verhältnis von Fachwissen und amateurwissenschaftlichem Laientum. Dem Astronomen waren aus eigenen leidvollen Erfahrungen an der Berliner Sternwarte die Gefahren eines „revolutionären Dilettantismus"49 vertraut. Foerster beließ es aber nicht bei dieser Kritik, sondern verstand sie auch als Aufforderung an die Wissenschaft, pädagogische Anstrengungen zu verstärken und mit Fortbildungseinrichtungen dem Bedürfnis nach einem populärem Zugang zum Wissen Rechnung zu tragen.50 Dieser Bereitschaft verdankte die Urania ihr Entstehen. Unter den Berliner Spitzenrepräsentanten der Naturwissenschaften wies Foerster die größte Nähe zur konkreten Volksbildungsarbeit auf. War die akademische Qualifikation Foersters über jeden Zweifel erhaben, so stießen seine gesellschaftspolitischen Aktivitäten immer wieder in staatlichen und universitären Kreisen auf Kritik. Seit Mitte der 1870er Jahre engagierte sich der Astronom für sozial-ethische Fragen, ohne den Kontakt mit Sozialdemokraten zu scheuen. Seine führenden Rolle in der DGEK wurde bereits erwähnt. Auch an der Gründung der Deutschen Friedensgesellschaft 1892 beteiligte sich Foerster.51 Es gelang ihm, das prekäre
47 48 49 50 51
Foerster: Lebenserinnerungen (1911), S.65, 67, 145, 181; ders.: Alexander von Humboldt (1883). Foerster: Lebenserinnerungen (1911), S.73. Foerster: Strenge Wisssenschaft (1899/1902), S.222. Ebenda, S. 223-231. Nach Tiemann: Wilhelm Foersters Wirken (1990), S.228, kam Foersters Unterschrift unter den berüchtigten Aufruf an die Kulturwelt 1914 unter dubiosen Umständen und ohne Foersters Kenntnis des Textes zustande.
5. Akademische Meinungsführer und Standespolitiker
449
Gleichgewicht zwischen wissenschaftlicher Arbeit und öffentlichem, quasipolitischem Engagement aufrechtzuerhalten. Vor diesem Hintergrund muß einmal mehr Ernst Haeckel als Sonderfall gelten, obwohl sich mit seinem Namen exemplarisch der Aufstieg der Zoologie als Wissenschaft und als eigenständige Diszplin unter staatlicher Förderung verknüpft.52 Doch Haeckel sonderte sich nicht nur ideologisch mit seinem System des Monismus und akademisch mit seiner darwinistischen Morphologie zunehmend von der aktuellen Forschungsentwicklung ab.53 Auch institutionell entwickelte sich das Jenaer Institut zu einer Trutzburg. Vor Ort nahm es eine beachtliche Stellung ein, im nationalen Rahmen aber errang es kaum oder gar nicht wissenschaftspolitischen Einfluß. Im Gegenteil, Haeckels Separierung von dem Berliner Wissenschaftsestablishment verstärkte sich seit dem Darwinismus-Streit 1877. In seiner Entgegnung auf Virchows Münchener Rede deklamierte Haeckel freimütig, er sei nicht „durch Ehrfurcht vor dem Berliner Tribunal der Wissenschaft, oder durch Sorge um Verlust einflussreicher Berliner Connexionen gebunden" und könne daher unbekümmert seine Überzeugungen äußern.54 Die gegenseitigen Spitzen nahmen zu, und später wurde Haeckel von der Humboldt-Stiftung, die Du Bois-Reymond maßgeblich beeinflußte, ein Reisestipendium verwehrt. Über Haeckels monistische Aufgipfelung in den Welträthseln zerbrach sogar seine langjährige Freundschaft mit dem Zoologen Carl Gegenbaur, später wandten sich auch einige von Haeckels Lieblingsschülern von ihrem Jenaer Lehrer ab.55 Haeckel kann kaum auf einer Ebene mit den Vertretern korporativer Standesinteressen behandelt werden. Mit den Berliner Hauptdarstellern hatte er spätestens seit der Münchener Kontroverse weder persönlich noch politisch viel gemein. Haeckels journalistischer Freund Ernst Krause trieb die beiderseitigen Angriffe gegen die akademische Führungsgruppe in Berlin auf die Spitze. Vor allem Bastian, Du Bois-Reymond und Virchow wurden mit Spott überzogen - als „Götzen der Menge" und „Dalai-LamaDreieinigkeit", die in der Hauptstadt verehrt würden und „deren Koth man mit Wollust frißt."56
52 53
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Uschmann: Geschichte (1959). Zuletzt hat Nyhart: Biology (1995) nachdrücklich vor einer biologiegeschichtlichen Überschätzung des Einflusses von Ernst Haeckel und Carl Gegenbaur gewarnt. Haeckel: Freie Wissenschaft (1878), S. 86. Krauße: Ernst Haeckel (1984), S.98, 109; Weindling: Ernst Haeckel (1989), S. 319-321. Ernst Krause an Ernst Haeckel 15.2.1896 und 15.2.1881 (EHH Jena).
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VII. Die Vermittler
6. Ein erstes Fazit a) Soziale Interessen und soziale Diskrepanzen Die Frage, inwieweit Popularisierung als Teil der sozialen Außenbeziehungen von Naturwissenschaftlern verstanden werden kann und damit deren berufliche Interessen spiegelt, ist in den vergangenen Jahren im besonderen von Everett Mendelsohn, Kurt Bayertz und Timothy Lenoir aufgegriffen worden. 1 Das Bemühen um Wissenschaftspopularisierung wird von ihnen als Instrument in den sozialen und ideologischen Konflikten charakterisiert, die den Aufstieg der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert begleiteten, und vorrangig auf die Interessen der professionellen Wissenschaftler zurückgeführt. Damit rückt die Gruppe der ambitionierten physiologischen Forscher um 1848 in den Mittelpunkt des Interesses. In einer solchen Deutung wird die Popularisierungsgeschichte primär aus der Geschichte der Naturwissenschaften als eines Ensembles von sich professionalisierenden Disziplinen abgeleitet. Im Appell an die Öffentlichkeit wird eine Strategie der aufstrebenden und später dominierenden Fachvertreter gesehen, die ein neues Forschungsparadigma durchzusetzen versuchten. Diese Interpretation ermöglicht zweifellos, die alte Trennung von internalistischer und externalistischer Wissenschaftsgeschichte zu überbrücken. Sie trifft zu für den speziellen Kreis der Physiologen um die Jahrhundertmitte, für die akademischen Meinungsführer und Standespolitiker. Verallgemeinerungsfähig ist dieser Ansatz jedoch nicht, vielmehr erweist er sich als unzulänglich, weil in der funktionalistischen Sicht die sozialen Dimensionen des Popularisierungsphänomens eher verdeckt und auf ein untypisches soziales Segment reduziert werden. Die selektive Koppelung von Interessen und Popularisierungsbereitschaft und eine zu enge Definition von Vermittlern führen dazu, daß die Eigentümlichkeiten der Popularisierungsgeschichte nach 1848 gerade nicht erkannt werden. Eine generelle Kongruenz von sozialen bzw. professionellen Interessen 2 der Naturwissenschaftler und den populärwissenschaftlichen Aktivitäten hat es tatsächlich nie gegeben. Diese Interessen existierten weder als kohärente Größen für die Aufschwungphase der modernen Naturwissenschaften nach 1848 noch für die Popularisierungsgeschichte. Diese Relativierung zugunsten funktional schlüssiger Erklärungen auszublenden, bedeutet, die sozial disfunktionalen Seiten der Bildungsbemühungen, die Interessenvielfalt ihrer Träger und deren soziale Diversifizierung zu überse1 2
Mendelsohn: Revolution (1974), Bayertz: Spreading the Spirit (1985), insbesondere S. 222-225; ders.: Siege der Freiheit (1987), Lenoir: Politik (1992), S. 18-52. Lenoirs Begriff der sozialen Interessen wird letztlich am Beispiel von Du BoisReymond auf das subjektive Motiv, persönlichen Erfolg zu erreichen, reduziert eine wenig trennscharfe Kategorie.
6. Ein erstes Fazit
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hen. Die Hauptträger der Popularisierungsbewegung standen keineswegs im Zentrum der sich professionalisierenden, um staatliche Anerkennung und institutionelle Expansion bemühten Wissenschaft. Sie passen nicht zu dieser Zielvorstellung der akademischen Meinungsführer und Standespolitiker. Letztere bildeten vielmehr einen eigenen Typus innerhalb des Spektrums an Personen, die das Realienwissen in den Bildungskanon der deutschen Gesellschaft einzubringen versuchten. Ihr Anliegen konnte es aufgrund ihrer sozialen und wissenschaftspolitischen Stellung sein, die Ressourcen ihrer Fächer zu stärken, diese zu universitären Disziplinen auszubauen, ihnen im akademischen und schulischen Rahmen mehr Gewicht zu verleihen und sie öffentlichkeitsfähig zu machen. Die soziale und wissenschaftspolitische Stellung der professionellen und okkasionellen Vermittler war eine völlig andere, eine geradezu entgegengesetzte. Sie operierten am Rande, wenn nicht außerhalb der Profession. Sie wiesen keine Karriere auf, die von der Ansprache an das breite Publikum profitieren konnte. Ihr Publikumsbezug schadete eher ihren akademischen Aussichten, und er mußte zumeist außerhalb der Disziplinen umgesetzt werden. Auch die professionellen und okkasionellen Vermittler vertraten soziale Interessen, die ihr Bildungsengagement mitbestimmten; nur ging es bei ihnen nicht um standespolitische Macht und Meinungsführerschaft, sondern um Existenzsicherung und das mühsame Überleben in den Spalten naturkundlicher Zeitschriften. Es ging um die Abwehr des Dilettantismusvorwurfes, um die Idee einer lebensnahen, ganzheitlichen Naturvorstellung und um volkstümliche Themen bis hin zur Tierseelenkunde, die von der aktuellen Forschungsentwicklung verworfen wurden. Die sozialen Diskrepanzen zwischen den akademischen Meinungsführern und den professionellen bzw. okkasionellen Vermittlern werden an kaum einer Stelle so deutlich wie bei den unmittelbaren Kontakten zwischen ihren Repräsentanten. Schon Liebig wurde 1844 für Karl Vogt vor dessen Berufung auf eine Professur, als Vogt sich unter anderem mit öffentlichen Vorträgen in Neuchätel über Wasser hielt und um seine wissenschaftliche Karriere bangen mußte, zur väterlichen Referenzfigur. Liebig war es, der Unterstützung versprach, z.B. durch die Vermittlung an die Augsburger Allgemeine Zeitung, und der sich der Befürchtungen von Vogt annahm, die etablierte Professorenschaft werde sich nach außen verschließen.3 Zehn Jahre später offenbarte Karl Reclam in einer geradezu anbiedernden Weise Liebig seine soziale und akademische Aussichtslosigkeit, um sich die Gunst des berühmten Chemikers zu sichern. Es fehle ihm, honni 3
Karl Vogt an Liebig 24.1.1844 und 20.5.1844 (SB München, Liebigiana II.B: Karl Vogt); Liebig an Georg von Cotta 1.2.1844 (CA Marbach, Cotta Briefe); Georg von Cotta an Vogt 10.2.1844 (CA Marbach, Cotta Gelehrten Copierbuch II, 174) und Vogt an Cotta 12.4.1844 (CA Marbach, Cotta Briefe).
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VII. Die Vermittler
soit qui mal y pense, leider ein Fürsprecher, und er werde wohl im „Fegefeuer getäuschter Hoffnungen" geläutert werden müssen.4 Im folgenden Jahr schmeichelte Reclam unverblümt dem Münchener Professor mit der Versicherung, die von ihm herausgegebene Zeitschrift Kosmos zum Organ von dessen physiologischer Chemie zu machen.5 Als Reclam 1858 in einer fragwürdigen Weise gleich mehrere Professoren und das preußische Kultusministerium wegen der Neubesetzung der Bonner Physiologieprofessur anging, diskreditierte er sich sogar bei Helmholtz und Du Bois-Reymond als Schwindler.6 Nicht weniger groß war die Kluft, die den multiliterarischen Hermann Klencke von dem Botaniker Nees von Esenbeck trennte. Ebenso hofften Otto Zacharias gegenüber Du Bois-Reymond und Virchow, Max Wilhelm Meyer gegenüber Wihelm Foerster und Ernst Krause gegenüber Ernst Haeckel auf paternalistische Unterstützung und materielle Hilfe; die genannten Beziehungen wurden bereits geschildert. Hier stießen zwei Welten, die des deutschen Ordinarius, selbst wenn er wie Nees von Esenbeck Einbußen hatte hinnehmen müssen, und die der ungesicherten Berufssucher außerhalb der naturwissenschaftlichen Profession aufeinander. Im günstigsten Falle erwies sich der Ordinarius als Gönner und Förderer der randständigen Existenzen. Größere Chancen, Gehör bei den wissenschaftlichen Standespolitikern zu finden, besaßen diejenigen Grenzgänger, die ihre öffentlichen Aktivitäten tatsächlich zugunsten der professionellen Forschung geltend machen und damit an gemeinsame Fachinteressen appellieren konnten. Mehr noch als auf Otto Zacharias trifft dies auf Anton Dohm zu. Als Dohrns Zoologischer Station in Neapel nach den ersten Jahren eine Existenzkrise drohte, formulierten Helmholtz, Virchow und Du Bois-Reymond gemeinsam eine Eingabe an den Reichstag, um das Parlament zur Sicherung des Fortbestandes der Station zu bewegen. Die zoologische Forschungsstätte in Italien, so lautete der bezeichnende Vergleich, habe die Wissenschaft von der Tierwelt in derselben Art in ein neues Stadium der Entwicklung gehoben, wie dies für die Chemie und die Physiologie durch die Gründung der chemischen und physiologischen Institute geschehen sei.7 Hier kamen zweierlei Interessen zusammen, ebenso wie später bei der Gründung der Urania
4 5 6
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Karl Reclam an Justus Liebig 4.7.1855 (SB München, Liebigiana II.B). Karl Reclam an Justus Liebig 3.11.1856 (SB München, Liebigiana II.B). Reclam widmete den dritten Jahrgang der Zeitschrift Liebig. Helmholtz an Emil Du Bois-Reymond 29.10.1858 und Du Bois-Reymond an Helmholtz 11.11.1858, abgedruckt in: Dokumente einer Freundschaft (1986), S. 193f. H. Helmholtz/Rud. Virchow/E. Du Bois-Reymond: Eingabe. Die zoologische Station in Neapel [6. März 1879. Privatdruck], abgedruckt in: Simon (Hg.): Anton Dohm (1980), S. 49-51.
6. Ein erstes Fazit
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oder der DGVN. Die sozialen Härten und unterschiedlichen Motivlagen der Vermittler wurden so aber in den seltensten Fällen aufgehoben. b) Generationenfolge, Milieubildungen und personale Vernetzungen Die Generationenfolge der Vermittler läßt sich am besten mit Blick auf das erweiterte Sample von 165 Personen zeigen, das Tabelle 11 wiedergibt. In der chronologischen Folge beginnt die Reihe der eigentlichen Vermittler, wie sie in Tabelle 10 alphabetisch festgehalten ist, mit den Geburtsjahrgängen nach 1800, d.h. mit Justus Liebig und anderen. Ältere Persönlichkeiten wie Forster, Humboldt und Oken, Littrow, Mädler und Fechner strahlten primär ideengeschichtliche Wirkungen aus, sie waren nicht oder kaum in die konkrete Volksbildungsarbeit involviert. Vor diesem Hintergrund zeichnen sich drei Generationen ab, wobei den angegebenen Zeitspannen der Geburtsjahre schon aus statistischen Gründen an den Rändern ein Spielraum von ca. fünf Jahren zugebilligt .werden soll: - Eine erste Generation, die zwischen 1805 und 1825 geboren wurde und im Vormärz, während der Revolutionsjahre und bis zur Reichsgründung aktiv war; - eine zweite Generation, deren Geburtsjahre zwischen 1835 und 1850 liegen, und die zwischen Reichsgründung und Wilhelminismus die Bühne der Öffentlichkeit betrat; - schließlich eine dritte Generation, die Revolution und Nachmärz nicht mehr erlebte. Sie wurde zwischen 1860 und 1875 geboren und trug zwischen dem Ausgang der Bismarckzeit und dem Ersten Weltkrieg zur Popularisierung bei. Die erste Generation: Popularisierung in der Epoche der Revolution
Die erste Generation erfuhr ihre gesellschaftliche und politische Sozialisation in der Restaurationsphase und im Vormärz. Sie wurde in einer Zeit ausgebildet, die noch kein differenziertes Realschulwesen, noch keine institutionalisierten naturwissenschaftlichen Studiengänge, nicht einmal genau abgegrenzte naturwissenschaftliche Fächer an der Universität kannte. In dieser Phase gab es kaum professionelle Verwendungen für studierte Botaniker, Zoologen und Geologen außerhalb des Lehrbetriebs. Umgekehrt war dessen Durchlässigkeit noch relativ groß für Einsteiger wie Roßmäßler, der Theologie studiert hatte. Die erste Generation erlebte bewußt die allmähliche Mobilisierung der Öffentlichkeit und der Medien in Deutschland. Sie erkannte die Chance, das naturkundliche Interesse in diesen Prozeß einzubringen und es mit
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VII. Die Vermittler
dem Bemühen zu verknüpfen, Wissenschaft zu demokratisieren. Ein erheblicher Teil der ersten Generation war unmittelbar an der Revolution von 1848/49 beteiligt und fand sich im liberalen und auch im demokratischen Lager wieder.8 Für sie war die Popularisierung der Naturwissenschaften eine logische Fortsetzung des Bemühens, die deutsche Gesellschaft zu einer partizipatorischen Bürgergesellschaft umzugestalten. Die politischen Vermittler - an ihrer Spitze Roßmäßler und Ule - machten nach dem erzwungenen Ende der Revolution die Naturwissenschaften außerhalb staatlicher Institutionen zu einem Feld, auf dem noch relativ unbehelligt von administrativen Einschränkungen die liberale Gesinnung aufrechterhalten werden konnte. Der Ruf nach Freiheit und Gleichheit, so Ule 1850, halle mahnend auf wissenschaftlichem Gebiete weiter.9 Nur die Hinwendung zur Natur heile die im politischen Kampf geschlagenen Wunden.10 Natur machte frei, und ihre Wissenschaft war die eigentliche „republikanische Macht im Reiche des Geistes" 11 . So setzten sich auch viele aus dieser ersten Generation im Zuge der Neuen Ära für die Arbeiterbildungsbewegung ein und vertraten den liberalen Ansatz, die soziale Frage über die Verbreitung von Wissen zu lösen. Büchner und Roßmäßler, Alfred Brehm, Otto Dammer, Ruß und Ule versuchten, die Naturwissenschaften in die lokale Bildungsarbeit der (Arbeiter-)Vereine einzubringen. Aufgrund ihrer politischen Implikationen ließ die außeruniversitäre Naturkunde nach 1848 auch solche Publizisten wie Moses Hess zu Popularisieren! werden, die nicht qua Beruf oder Ausbildung eine fachliche Qualifikation vorweisen konnten. Sie zog überdies im Zusammenhang mit dem Materialismusstreit viele in ihren Bann, die den ideologischen Fragen der neuen empirischen Wissenschaften zuvor noch hatten ausweichen können. Trotzdem wäre es einseitig, die zeitgenössische Polemik gegen die naturkundlichen Vermittler als versteckte Revolutionäre und die assoziative Verkettung mit den Materialisten 12 schlicht zu übernehmen. Daß jeder Naturforscher, der einen pantheistischen Materialismus vertrat, ein „Revolutionär" war, und jeder Schriftsteller, der diese Lehre für das Volk bearbeitete, ein „Agent der Revolution" 13 - dieses Bild ist ein Klischee aus der heftigen Streitdebatte der 1850er Jahre. Zeitgleich meldeten sich naturkundliche Publizisten mit konservativem und katholischem Hintergrund zu Wort, z.B. Bernhard Altum, Karl Bi8
9 10 11 12 13
Bernstein, Beta und Burmeister; Bock, Roßmäßler und Ule; Baltzer, Büchner und Diesterweg; Volger und Vogt, Nees von Esenbeck und Virchow können hier genannt werden. O. Ule: Das Weltall, I (1850), S. 1. O. Ule: Die Natur (1851), S. 190. Steinmann: Volks-Kosmos, II (o.J./ca. 1859), S. 346. Mustergültig bei Klencke: Sonntagsbriefe (1855), S. 7f., 34,54-57,116-118, 202-205,228t, 245f. Ebenda, S. 246.
6. Ein erstes Fazit
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schof, Hermann Klencke und die Redakteure von Natur und Offenbarung. Daraus entwickelten sich Gruppen konservativer, katholischer und protestantischer Vermittler, die später unter anderem im Keplerbund aufgingen. Es gab überdies einen harten Kern freireligiöser Autoren unter den frühen Popularisierern, zusammengesetzt teils aus Naturwissenschaftlern, die sich der Bewegung angeschlossen hatten (Esenbeck, K. Müller, Roßmäßler, Ule), teils aus Theologen, die für begrenzte Zeit das Heil in der populären Naturkunde suchten und predigten, so Baltzer und Rau. Der ersten Generation entstammen auch jene wenigen Erfolgswissenschaftler, für die der Appell an die Öffentlichkeit ein Mittel des eigenen Aufstiegs und eine Strategie darstellte, um das neue empirisch-mechanistische Forschungsparadigma an den Universitäten zur Geltung zu bringen und den sich formierenden naturwissenschaftlichen Disziplinen staatliche Unterstützung zu verschaffen. Die zweite Generation: Etablierung im Nationalstaat Die zweite Generation, zwischen 1835 und 1850 geboren, wuchs in den neuen Nationalstaat hinein. Ihr Bildungsweg und ihr Weltbild wurden durch die nachrevolutionären Jahre geformt. Ihre Vertreter waren weniger politisch als die Postrevolutionäre, weniger theologisch auch als die Freireligiösen und die schriftstellernden Pfarrer. Es waren jene Publizisten, die auf dem expandierenden Medienmarkt, in dem sich ausweitenden Vortragsnetz und dank der systematisierten Bildungsangebote der G W als Vermittler hervorzutreten vermochten. Die Leiter der Zoologischen Gärten und der Naturkundemuseen kamen hinzu, auch die ständigen Berichterstatter der Presse und die Freelancer, noch immer polygraphisch weit ausgreifend in ihren Schriften. Unbestreitbar verbreitete sich die zweite Generation um die Anhänger der darwinistischen Entwicklungslehre, die eine enorme Faszination ausübte. Der Darwinismus bot breiten Raum für popularisierende Naturforscher - der Unikehrschluß ist aber falsch. Keineswegs alle Vermittler der zweiten Generation schlössen sich dem Darwinismus an, vielmehr meldeten sich auch die Gegner mit Verve zu Wort, und ihre Zahl nahm in dem Maße zu, wie die darwinistischen Annahmen von Selektion und Variation im Naturreich durch die Forschungsentwicklung überdacht wurden. Die dritte Generation: Präsenz am Fin de Siècle Die dritte Generation mit den Jahrgängen zwischen 1860 und 1875 war im Bismarckreich großgeworden. Aus einem breit entwickelten höheren Schulwesen konnte erstmals eine größere Zahl von Absolventen die inzwischen spezialisierten fachwissenschaftlichen Studiengänge durchlaufen. Daraus und aus der Schicht der Realschullehrer sättigte sich ein immer
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größer werdendes Reservoir an Fachleuten, welche die Verbreitung von naturwissenschaftlicher Bildung zur Arbeit machten. Populärwissenschaft wurde zum Beruf, weil der Bedarf dafür stetig anstieg und sich die Kommerzialisierung der Medien durchsetzte. Die dritte Generation schaffte, was Roßmäßler nur hatte erträumen können. Die Vermittler waren überall zur Stelle, wo naturkundliche Fragen in der deutschen Öffentlichkeit verhandelt wurden: in Vereinen und Weltanschauungsorganisationen, im Feld der Amateurwissenschaftler und Laienforscher, auf den Podium der Urania und in den Redakteursstuben nahezu aller größeren Zeitungen und Zeitschriften, in Buchgesellschaften und bei Volkshochschulkursen. Ihre weltanschauliche Position mußte die dritte Generation am Jahrhundertende in einem hochpotenzierten Ideologiegemenge bestimmen. Das förderte die Inszenierung selbsternannter Sinnstifter von Bölsche über France bis Haeckel und Reinke. Popularisierende Naturforscher waren ebensowenig als Weltdeuter in der Kulturdebatte vor 1914 wegzudenken, wie auf sie in den Niederungen der amateurwissenschaftlichen Basisarbeit verzichtet werden konnte. Milieubildungen
und
Beziehungsnetze
Schon in der ersten Generation kam es durch persönliche Freundschaften und weltanschauliche Rückversicherungen unter den Vermittlern zu informellen Gruppenbildungen, die sich in einigen Regionen verdichteten. Drei Zentren sind auszumachen: Zum ersten Halle an der Saale, wo die naturkundliche Bildung in einem pietistisch und rationalistisch geprägten Umfeld und dank der Bemühungen der Franckeschen Stiftungen stets gepflegt worden war. Nach 1848 siedelte sich hier die Redaktion von Die Natur an. Burmeister, Giebel und Otto Taschenberg lehrten an der Universität, in Halle studierten unter anderem Karl Möbius, Hermann Müller-Lippstadt und Otto Schmeil. Zum zweiten Leipzig, wo Roßmäßler zum Protagonisten der naturkundlichen Bildungsarbeit wurde. Er beeinflußte hier nachhaltig Alfred Brehm und war selbst Teil der Demokratenzirkel, die sich am sogenannten Verbrecherstammtisch in einem Leipziger Lokal trafen, an dem auch der Verleger Ernst Keil teilnahm.14 Schließlich das Rhein-MainGebiet, wo Büchner, Moleschott und Volger wirkten. Das Mainzer Haus des 48er Demokraten Carl Bölsche, des Vaters von Wilhelm Bölsche, bot einen geselligen Treffpunkt für die an den Universitäten nicht mehr gelittenen Naturforscher wie Büchner, Moleschott, Roßmäßler und Vogt.15 Freundschaftliche Beziehungen bestanden in der ersten Generation im besonderen zwischen Moleschott, Ule und Roßmäßler. Die beiden erstge14 15
Schneider: Leipzig (1988). Moleschott: Für meine Freunde (1894), S. 240; Magnus: Wilhelm Bölsche (1909), S. 17t
6. Ein erstes Fazit
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nannten waren zudem verschwägert.16 Solche privaten Verbindungen mit wissenschaftlichem Hintergrund sind nicht untypisch. In Gießen unterstützte der junge Ludwig Büchner die Wahl Karl Vogts in das Frankfurter Vorparlament.17 David Friedrich Weinland hatte sich schon zu Studienzeiten mit Gustav Jäger und Eduard von Martens zu einem naturwissenschaftlichen Kränzchen verbunden, später gehörte z.B. Johannes Reinke zu einem wissenschaftlich-philosophischen Kreis um Karl Möbius.18 In der zweiten Generation rückten zwei norddeutsche Städte mit entgegengesetzter konfessioneller Prägung in den Vordergrund: Hamburg dank des Auftretens von Karl Möbius, Heinrich Bohlau und Karl Kraepelin sowie Münster in Westfalen, dessen populärwissenschaftliche Tradition Altum, Carl Berthold und Hermann Landois begründen. Es fällt auf, das sich erst jetzt, im Sog der nationalstaatlichen Hauptstadtfunktion, Berlin als Mittelpunkt naturkundlicher Laienarbeit profilierte. Erst in der dritten Generation wurde auch München durch die Präsenz der Weltanschauungsvereinigungen, das Biologische Institut Francés und anderer Fortbildungseinrichtungen zu einem eigenem Zentrum. Versuche, die Vermittler quasi formal zusammenzubinden, blieben stets auf einzelne Städte konzentriert und paßten sich zudem der ideologischen Fraktionierung des deutschen Kulturlebens an. Die Bedeutung der freidenkerischen Tradition, die Büchner, Dodel-Port und Specht verkörperten, ist im ganzen gesehen eher geringer als bisher angenommen wurde.19 Wichtiger als feste organisatorische Bindungen wurden literarische und publizistische Vernetzungen, d.h. vor allem die gemeinsame Arbeit in Redaktionen und Autorenstäben. Dabei entwickelten sich über die Generationenfolge hinweg regelrechte Filiationen in der Herausgabe und Bear-
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Beide hatten Töchter des Mainzer Georg Strecker, eines Freundes von Robert Blum und Karl Vogt, geheiratet. Dritter im Bunde war der Chemiker Adolph Strecker (1822-1871), der seine Cousine, eine dritte Strecker-Tochter, heiratete. Siehe Moleschott: Für meine Freunde (1894), S. 182ff., 195; [Roßmäßler:] Otto Ule (1858), S. 666. Schreiner: Der Fall Büchner (1977), S. 309. Binder: David Friedrich Weinland (1977), S.7; Reinke: Mein Tagewerk (1925), S. 177f. Den Anteil der Freimaurer unter den Popularisierern - dazu zählten unter anderem Alfred Brehm, Otto Caspari, Kurt Floericke, Hermann Klencke und Ludwig Plate - sowie deren Nähe zu spiritistischen und okkultistischen Kreisen (hier wären Carl Du Prel, Eugen Dreher, Rudolf Falb, Julius Stinde und Karl Krall einzubeziehen) zu untersuchen, wäre eine gesonderte Arbeit wert; vgl. Bolle: Monistische Maurerei (1981).
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beitung früherer literarischer Werke. 20 Mit solchen literarischen Bezügen schufen die Popularisierer ein Traditionsbewußtsein für ihr Handeln und signalisierten nach außen, daß diese Tradition einen festen Platz im kulturellen Gedächtnis des deutschen Bürgertums verdiente.
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Haacke, Heck und Marshall waren an der Überarbeitung von Brehms Thierleben beteiligt; Giebel besorgte eine Neuauflage von Burmeisters Geschichte der Schöpfung; Brehm, Otto und Udo Dammer, Karl Ruß und Raoul France gaben später Arbeiten von Roßmäßler heraus; Hermann J. Klein kümmerte sich um Folgeauflagen von Mädlers Wunderbau und Ules Wunder der Sternenwelt; Willi Ule bearbeitete Hellwalds Die Erde und ihre Völker neu; Fechners Schriften wurden von Laßwitz und Preyer publiziert; Bölsche gab Humboldts Kosmos und die Ansichten der Natur, Büchners Kraft und Stoff und Krauses Werden und Vergehen neu heraus; Bölsche bildete schließlich mit France und Meyer auch den Ehren- und Freundesrat der Kosmos-Gesellschaft.
Zusammenfassung „Die Naturwissenschaft k a n n und s o l l popularisirt werden." Daß kurz nach der Reichsgründung ein junger Physiker in Breslau diese These zur öffentlichen Disputation seiner Promotion vorlegte, war ungewöhnlich und kaum weniger keck als die beigestellte Aussage: „Die durch die Naturwissenschaft gegebene Weltanschauung enthält in reichem Masse poetische Elemente." 1 Die Thesen von Kurd Laßwitz, der später zum ersten Science-fiction-Autor in Deutschland werden sollte, waren nicht aus der Luft gegriffen. Sie machten zum Thema, was unzählige Zeitgenossen beobachteten oder kritisierten, selbst mittrugen oder aber bekämpften: die Popularisierung naturwissenschaftlicher Bildung in der bürgerlichen Öffentlichkeit. Die vorliegende Untersuchung hat verfolgt, in welchen gedanklichen, geographischen und personellen Kontexten sich diese Idee der Popularisierung entwickelte, von wem, in welchen Präsentationsformen und mit welchen Deutungsansprüchen sie umgesetzt wurde, auf welche Weise die Popularisierungsanstrengungen an den strukturellen Wandlungen der bürgerlichen Öffentlichkeit teilhatten und welche kulturelle Bedeutung sie dabei entfalteten. Die Aufgabe war nicht, die von Laßwitz aufgeworfene Frage nach dem Sollen zu beantworten; die Auseinandersetzungen um die Legitimität von Popularisierung sind vielmehr selbst zum Gegenstand der Betrachtung geworden. Dabei wurde ein systematisch-entwicklungsgeschichtlicher Ansatz gewählt, der die kommunikativen Ebenen, die populärwissenschaftlichen Medien und ihre Akteure häufig mit Hilfe typologischer Zugriffe auffächerte. Die bürgertumsgeschichtliche Betrachtung konnte auf diese Weise hin zur Wissenschaftsgeschichte, zur Historiographie des Vereinswesens und des literarisch-publizistischen Marktes, zur Geschichte des intellektuellen Lebens und des religiösen Denkens in Deutschland geöffnet werden. Nachdem das letzte Kapitel bereits ein erstes Fazit gegeben hat, werden zum Abschluß nur die wichtigsten Ergebnisse nochmals in einem chronologischen Durchgang zusammengefaßt, an die eingangs exponierten Problemdimensionen rückgebunden und dabei einige weiterführende historiographische Perspektiven formuliert.
1
So die 3. und die 4. These zur Inaugural-Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau von Kurd Lasswitz [sie] mit dem Titel: Ueber Tropfen, welche an festen Körpern hängen und der Schwerkraft unterworfen sind. Die Dissertation wurde am 25. Juni 1873 öffentlich verteidigt. Der Verlauf der Disputation ist nicht dokumentiert.
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Zusammenfassung
Phasen der Popularisierungsgeschichte und ihrer kommunikativen Mobilisierung Die revolutionäre Situation um 1848 markiert einen entscheidenden Ausgangspunkt der Popularisierungsgeschichte in Deutschland. Die Mobilisierung von Printmarkt und Öffentlichkeit, der Aufstieg der empirischen, physikalisch-erklärenden Naturwissenschaft und die demokratischen und liberalen Impulse in weiten Teilen des Bürgertums trugen dazu bei, naturwissenschaftliche Bildung in die „Arena der Oeffentlichkeit" 2 zu stellen. Die strukturellen Bedingungen dafür waren bereits seit dem späten 18. Jahrhundert entstanden: die Diversifizierung der naturkundlichen Buchliteratur und Publizistik, die Ausbreitung des Vereinswesens und das Aufkommen eines rationalistischen Umgangs mit Natur. In den 1840er Jahren verdichteten sich die Voraussetzungen, aus denen heraus popularisierende Impulse entstehen konnten. Die freireligiösen Gruppen der Lichtfreunde und Deutschkatholiken schrieben die natürliche Weltanschauung' und das ,Evangelium der Natur' auf ihr Banner. Humanitätsideologie, freidenkerisches Dissidententum und naturwissenschaftlicher Empirismus verbanden sich zu einer aufklärerisch-wissenschaftlichen Deutungskultur mit Weltanschauungsanspruch. Aus diesem Milieu gingen herausragende Vermittler naturkundlicher Bildung hervor, an ihrer Spitze Emil Adolf Roßmäßler und Otto Ule, für einige Zeit auch die Prediger Eduard Baltzer und Heribert Rau. Die Idee der Popularisierung griff jetzt rasch um sich. Autoren und Verleger schufen ihr einen literarischen und publizistischen Markt. Die Rezeptionsgeschichte des Kosmos von Alexander von Humboldt verdeutlicht, wie schnell populärwissenschaftliche Bestrebungen sogar ein so schwieriges Werk vereinnahmten und die Chance nutzten, es für die Öffentlichkeit aufzubereiten. Humboldt selbst plante im Herbst 1848 einen publikumsgerechten Micro-Kosmos, der aber unausgeführt blieb. Der Universalgelehrte wurde von einer wachsenden Schar volkstümlicher Epigonen überholt „die ,Kosmos' regneten gleichsam vom Himmel."3 Die Vorstellung, Wissenschaft dem Volk zu vermitteln, speiste sich in den folgenden Jahren aus der Vorstellung einer kosmischen Naturauffassung, und sie wurde zugleich radikal auf die bürgerliche Alltags- und Erfahrungswelt bezogen. Die konsequente Hinwendung zum positivistischen Empirismus und dessen kosmische Überhöhung gingen Hand in Hand. Die deutsche Öffentlichkeit erlebte eine Welle populärwissenschaftlicher Literaturangebote und Zeitschriftengründungen; Aquarienpflege und Mikroskopie hielten Einzug in den bürgerlichen Haushalt. Die private, nichtprofessionelle Beschäftigung mit der Natur blühte in der entstehenden 2 3
Die begriffene Welt 1849, S. 98. K. Müller: Otto Ule (1876), S. 417.
Phasen der Popularisierungsgeschichte
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Freizeit der bürgerlichen Gesellschaft auf und fand als amateurwissenschaftliche Beschäftigung in den naturkundlichen Vereinen ein ideales Forum. In der postrevolutionären Epoche nahm die populäre Naturkunde liberale Hoffnungen auf und versuchte, sie ersatzweise außerhalb des eigentlich politischen Raums einzulösen. Die meisten Vermittlerpersönlichkeiten entstammten einer im Vormärz politisch sensibilisierten Generation und übertrugen das Prinzip der Öffentlichkeit auf die Bereiche von Wissenschaft und Bildung. Sie begründeten damit einen populären Zugang zum Wissen, der die rasante Entwicklung der naturwissenschaftlichen Forschung in den kommenden Jahren begleitete und zu einer komplementären Populärwissenschaft ausgebaut wurde. Die Popularisierer erfüllten auf diese Weise indirekt eine gesellschaftspolitische Aufgabe. Während in Deutschland politische Reaktion und Zensur herrschten, bewahrten sie den Anspruch auf Partizipation am Wissen und auf Emanzipation durch Bildung und versuchten, diesen Anspruch ersatzweise auf naturwissenschaftlichem Felde einzulösen. Wie kein anderer vereinte Emil Adolf Roßmäßler die unterschiedlichen Facetten der Popularisierungsidee in dieser ersten Phase - als Deutschkatholik und Paulskirchenabgeordneter, Professor im Ruhestand und selbsternannter Wanderredner, als Initiator der Aquarienkunde in Deutschland und Gegenspieler Lassalles, als Vorkämpfer der Humboldt-Vereine und Zeitschriftengründer. Die Neue Ära ermöglichte es seit 1859, den politischen Liberalismus, sozialpolitische Bestrebungen und die naturwissenschaftliche Bildungsvermittlung direkt miteinander zu verknüpfen. Aus dieser Bündelung resultierte die sozialreformerische Ausrichtung der Humboldt-Vereine und der Arbeiterbildungsbewegung. Wenige Jahre zuvor war der Materialismusstreit ausgebrochen. Die radikalen Materialisten verquickten naturwissenschaftliche, philosophische und theologische Fragen zu einem brisanten Weltdeutungsgemisch, aus dem in erbitterten ideologischen Kontroversen über Jahrzehnte hinweg Funken schlugen. Die Polarisierung der Debatten verschärfte sich noch durch Darwins Veröffentlichung On the Origin of Species, durch die alle Streitfragen in das Licht einer rein innerweltlichen, rational erklärbaren Entwicklungsgeschichte gestellt wurden. Ernst Haeckel verlieh dieser Weltsicht 1868 in seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte musterhaft Ausdruck. In diesen Pionierjahren der Popularisierung zwischen Revolution und Reichsgründung, ihrem eigentlichen take-off, blieben populärwissenschaftliche Bemühungen zumeist unsichere, kurzlebige Unternehmen, z.B. bei Volgers Konzeption des Freien Deutschen Hochstifts, in der Humboldtbewegung und in der Publizistik. Erst in einer zweiten Phase nach 1870 gewann die Populärwissenschaft auch institutionell an Konturen, vor allem über die G W und die Humboldt-Akademie. Der literarische Markt baute seine Angebote von der Ratgeberliteratur bis hin zu großen entwicklungsgeschichtlichen Kompen-
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Zusammenfassung
dien aus, um die naturkundlichen Informationsbedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft zu befriedigen. Im neuen Nationalstaat wurde die öffentliche Präsentation der Naturwissenschaften zusätzlich politisch aufgeladen - im Dienste einer nationalen Methode (Virchow), einer pathetischen standespolitischen Repräsentation (Du Bois-Reymond) und im besonderen durch die politische Kontextualisierung des Darwinismus. Schon die Diskussionen um die Grenzen des Erkennens föderten antagonistische Bewertungen der Naturwissenschaft als omnipotenter Erlösungmacht oder gesellschaftlicher Gefahr. Die Münchener Tagung der GDNA 1877, der Schlagabtausch zwischen Virchow und Haeckel und die anschließenden Nachhutgefechte in den Parlamenten trieben solche Polarisierungen auf den Höhepunkt. Die Debatte um den Einzug des Darwinismus in die deutschen Schulen personalisierte zudem die Diskussion erheblich. Auf diese Weise wurden Fronten abgesteckt und argumentative Oppositionen festgelegt, von denen sich die Beurteilungen des Darwinismus und des Verhältnisses von Naturwissenschaft und Religion bis heute nicht haben lösen können. Eine dritte Phase der Popularisierungsgeschichte läßt sich zwischen den ausgehenden 1880er Jahren und dem Ersten Weltkrieg abstecken. Mit der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt und der Berliner Urania entstanden zeitgleich zwei Institutionen, die forschungsorientierte Wissenschaft und die Vermittlung naturwissenschaftlicher Bildung als komplementäre Erscheinungen im naturwissenschaftlichen Zeitalter verkörperten. Nachdem in den vorangegangenen Dekaden die populärwissenschaftlichen Zentren im sächsischen Raum, im Rhein-Main-Gebiet und den großen Städten ohne Universität, vor allem in Hamburg und Frankfurt am Main, gelegen hatten, entwickelte sich Berlin im Gefolge der Urania zum Mittelpunkt der volkstümlichen Naturkunde. Die Kommerzialisierung des naturkundlichen Bildungsangebots war spätestens seit 1890 unaufhaltsam. So setzte sich das Konzept der Buchreihe und der Buchgemeinschaft durch. Die Kosmos-Gesellschaft, die DNG und das Biologische Institut Francés, die neuen auflagestarken Naturkundemagazine und die Weiterbildungsofferten von Monistenbund und Keplerbund machten zur Ware, was die Massenöffentlichkeit des späten Kaiserreiches verlangte: eine flächendeckende Versorgung mit naturkundlicher Information für Laien. Diese Entwicklung war nur möglich, weil sich nach 1880 endgültig die populärwissenschaftliche Bildungsarbeit als Beruf außerhalb der naturwissenschaftlichen Professionen etablierte. Die berufsmäßigen Vermittler traten nicht selten als Sinnstifter und Speerspitzen der Aufklärung auf. Der Naturforscher der neueren Zeit, so hielt Gustav Jäger fest, sei „auf den Markt gegangen, er hat die Rednertribüne des Forums bestiegen, aus dem kleinen scheuen Männlein ist ein ritterlicher Held geworden, in der einen Hand die Fahne der Wahrheit, in der anderen das Schwert des Scharfsinnes und auf der Zunge die Waffe der Beredsamkeit:
Phasen der Popularisierungsgeschichte
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so tritt er heraus und nimmt den Kampf auf mit Jedermann, den Kampf gegen Vorurtheil und Selbstüberhebung." 4 Die soziale Wirklichkeit der Wissenschaftsjournalisten und Wanderredner sah jedoch eher bescheiden aus. Zwar vergrößerte sich der Kreis der Vermittler beständig, zumal die naturwissenschaftlichen Fächer immer mehr Studenten ausbildeten. Aber im Gegensatz zu der kleinen Gruppe prominenter Wissenschaftler, die sich in der Öffentlichkeit als akademische Meinungsführer präsentierten, bildeten die professionellen und okkasionellen Vermittler eine diffuse, oft existenzgefährdete Gruppe am unteren Rand der Bildungsgesellschaft. Anders allerdings, als langlebige Negativurteile über die deutsche Professorenschaft suggerieren, fanden sich immer mehr Universitätslehrer bereit, selbst an populärwissenschaftlichen Unternehmungen teilzunehmen. In dieser dritten Phase nutzten auch vermehrt kirchlich orientierte Naturwissenschaftler populärwissenschaftliche Medien. Parallel zu dem Ausbau der personellen Trägerschicht verstärkte sich am Jahrhundertende die Neigung, eine volkstümliche Naturwissenschaft zum kulturellen Integrationsmedium zu stilisieren. Mit ihr sollten die kulturellen Verluste aufgefangen werden, die von den Tendenzen zur Technisierung und Rationalisierung der Gesellschaft hervorgerufen wurden. Weniger Ernst Haeckel als dessen poetische Nachfolger machten aus der Entwicklungslehre eine Konzeption der schönen, harmonischen, ja erotischen Natur. In Abkehr von Haeckel und dessen atheistischen Anhängern, die stets weltanschauliche Konflikte provozierten, überwanden diese Nachfolger endgültig die Grenzen zwischen Fachwissenschaft und ästhetischer Naturbewunderung und überführten die populäre Naturkunde in eine versöhnliche Weltanschauung.5 Die ursprüngliche politische Prägung der Popularisierung wurde durch die Kommerzialisierung und die literarische Ideologisierung abgeschwächt, wendete sich aber am Fin de Siècle nochmals nach außen. Die erbitterten Gefechte zwischen Haeckel und Johannes Reinke bzw. Erich Wasmann, zwischen Monisten und christlichen Popularisierern beschäftigten sogar die Parlamente in Berlin. Über alle drei Phasen der Popularisierungsgeschichte hinweg wurden ähnliche kommunikative und institutionelle Formen genutzt, um der deutschen Öffentlichkeit naturwissenschaftliche Bildung zu vermitteln. Neben den literarischen Medien schuf die Ausweitung des Vereinswesens die Basisstrukturen für die naturkundliche Beschäftigung und kristallisierte neue Vereinstypen aus. Unter ihnen übernahmen die Humboldt-Vereine trotz ihrer geringen Verbreitung eine wichtige Aufgabe, indem sie erstmals die Förderung der amateurwissenschaftlichen Laienarbeit zum Programm erhoben. Im nationalen Maßstab setzte die GDNA die Akzente und spannte 4 5
Jäger: Die Wunder (1868), S. 2. Daum: Das versöhnende Element (1996).
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Zusammenfassung
fast alle deutschen Städte in das Netzwerk ihrer viel beachteten Wanderversammlungen ein. Die GDNA entwickelte sich zur öffentlichkeitsfähigen Korporation und belebte noch weit mehr als die Humboldt-Vereine die Festkultur, in deren Rahmen sich die Naturwissenschaftler als Bürger mitsamt ihren Praktiken, Frauen eine Sonderrolle zuzuschreiben - zu inszenieren wußten. In den zahlreichen Verknüpfungen zwischen solchen Medien und Institutionen entwickelte sich ein vor 1848 noch unbekanntes kommunikatives und personelles Netzwerk, das es erst erlaubt, von der Ausbildung einer Populärwissenschaft zu sprechen. Die Dynamik dieser kommunikativen Mobilisierung sollte immer wieder zu Überschreitungen in den politschen Diskurs und zu spektakulären Debatten führen, so auch bei der Einschätzung des Monismus und der Berliner Diskussion 1907 oder in den öffentlichen Gelehrtenplädoyers anläßlich der Fälschungskontroversen um Haeckel und um die Auswüchse der Tierpsychologie. Populärwissenschaft als Real-Idealismus und die Wiederverzauberung der einen Natur Popularität war keine Qualität per se, sondern immer eine diskursive Kategorie, die durch zeitgenössische Zuschreibungen konstruiert wurde. Popularisierung als Absicht und als Sprachgestaltung, Popularität in der Wirkung und in der Wahrnehmung konnten durchaus auseinanderfallen. Dabei blieb die Begrifflichkeit des Populären stets zwischen antithetischen Urteilen eingespannt. Die öffentlichen Räume, in denen sich die populärwissenschaftlichen Genres entwickelten und die sie schufen, wurden von den Zeitgenossen rhetorisch mit tiefen Gräben durchzogen. Sie stellten das Publikum oft nur vor ein Entweder-Oder: Wissenschaftlichkeit oder Unwissenschaftlichkeit, Freiheit der Lehre oder Staatsgefährdung, christlicher Glaube oder Darwinismus. Die Untersuchung hat diese Dichotomien in ihrer Genese und ihrer Ausstrahlung verfolgt, sie aber nicht zur Grundlage der Analyse und der Bewertung gemacht. Statt dessen ist betont worden, daß sich über die weltanschaulichen, politischen und formalen Antagonismen hinweg gemeinsame Erfahrungen von Natur abzeichneten und typische Deutungsmuster und symbolische Realitätsbilder 6 entstanden. Die Populärwissenschaft bewahrte oder revitalisierte all das, was die Naturwissenschaften auf ihrer Gipfelwanderung abwarfen: Anthropomorphismen und Narrativität, spiritistische und lebensphilosophische Momente, kosmologische Einheitskonzepte und neue Teleologien, moralische und ästhetische Kategorien, nicht zuletzt die so deutsche Tugend der Gemütshaftigkeit, die von den Vermittlern wie Roßmäßler und Bruno Wille immer wieder eingeklagt wurde. 6
Vondung: Probleme einer Sozialgeschichte (1976), S. 13-15.
Populärwissenschaft als Real-Idealismus
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Im Zentrum der populärwissenschaftlichen Gedankenwelt stand eine ganzheitliche Auffassung von Natur. Die Suche nach der Einheit wurde zur Antwort auf die Spezialisierung der Fachwissenschaft und die Partikularisierung der akademischen Erkenntnis. Zugleich entsprach dieses Einheitsstreben dem gesellschaftlichen Bedürfnis, eine zunehmend unüberschaubare Lebenswelt faßbar zu machen. Die „harmonische Totalauffassung der Natur"7 versprach schon in den 1850er Jahren, das „kosmische" Prinzip8 und mit ihm den ,,Gedanke[n] der Ganzheit"9 gegen alles analytische Zergliedern aufrechtzuerhalten. Das „Anschauen der Natur" und die „Naturempfindung" waren stets wichtiger als die „kalte, nüchterne und berechnende Zergliederung der Natur"10. Natur wurde vorrangig als „vollendete Harmonie"11, als „Mutter", „Umarmung" und „Heimath"12 aufgefaßt und gegen die „trockne, todte Buchstaben-Naturwissenschaft"13 abgesetzt. Sie wurde zum „Heiligthum"14 und zum „Evangelium"15. Im Naturbild der Popularisierer war der Einzelne nicht entfremdet, sondern in Wärme aufgehoben. Er war hier weit entfernt von den „Konzentrationslagern] der Intelligenz", in denen die Menschen „mit nervöser Hast den Kampf ums Dasein führend"16 die Geborgenheit verloren. Wenn solche Deutungsmuster mit erstaunlicher Konstanz ausdrücklich und als Subtexte naturkundlicher Belehrung seit 1848 fortwirken, so liegen zwei Folgerungen nahe. Zum einen erscheinen viele Anliegen der Gebildetenreformbewegung17 und des naturbezogenen und ökologischen Aufbruchs seit dem Jahrhundertende18 nicht nur als spezifische Reaktion auf die Folgen der Hochindustrialisierung, sondern auch als Fortschreibungen von Deutungsbeständen im außerwissenschaftlichen Bereich, wie sie sich im freireligiösen Milieu um 1848 besonders prägnant abzeichnen. Um so notwendiger ist es zum anderen, die außerwissenschaftlichen Naturbilder des 19. Jahrhunderts sehr viel stärker auf ihre vermeintlich vormodernen, tatsächlich aber fortwirkenden Vorbilder aus der Frühen Neuzeit rückzubeziehen, z.B. auf Vorstellungen der Harmonie und des göttlichen Wirkens in der Natur. Es wäre genauer zu untersuchen, ob die popularisierten Na7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Hess: Der Kreislauf (1857), S. 1015. O. Ule: Briefe (1856), S. 211. O. Ule: Schiller (1859), S. 355. Klencke: Sonntagsbriefe (1855), S. llf. NuO 2 (1856), S. 120. E. A. Roßmäßler, in: AdH 1 (1859), Sp. lf. K. Müller: Briefe (1854), S. 159. Spiller: Naturwissenschaftliche Streifzüge (1873), S. 5. Jouvencal: Grundzüge, I (1861), S. 20. Kalbe: Das Evangelium (1906), S. 121. Kratzsch: Kunstwart (1969), S. 28. Vgl. Krabbe: Gesellschaftsveränderung (1974). Hepp: Avantgarde (1987), Hermand: Grüne Utopien (1991), S.59ff.; Ludwig Trepl: Geschichte der Ökologie vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zehn Vorlesungen. 2. Aufl., Frankfurt/M. 1994.
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Zusammenfassung
turvorstellungen des 19. Jahrhunderts nicht beträchtliche Teile naturtheologischer Konzepte übernahmen und, statt einen bloßen Atheismus oder auch nur Agnostizismus zu verbreiten, doch eher „Gott in der Natur" 19 huldigten. Die Geschichte der Populärwissenschaft kann mithin als Ausgangspunkt dienen, um die bürgerliche Religiosität im 19. Jahrhundert noch feiner zu bestimmen. Zweifellos hatten popularisierte Naturvorstellungen einen entscheidenden Anteil am Prozeß der intellektuellen Säkularisierung und der Ausformung neuer Säkularreligionen, die sich nicht selten als szientistische Wissenschaftsreligionen verstanden. 20 Es spricht aber manches dafür, daß die naturwissenschaftlichen Bildungselemente nicht nur in dem schillernden Milieu der Unkirchlichen zwischen Atheisten, neuen praktisch-säkularen Sinnstiftungen von Ersatzreligionen und einer vagierenden Religiosität, sondern auch im Rahmen traditioneller religiös-kirchlicher Deutungssysteme eine große, ja positive Rolle spielen konnten. 21 Berücksichtigt man den ästhetisierenden Grundton populärer Schriften, ihre wissenschaftskritischen Spitzen und ihren ganzheitlich-lebensweltlichen Elan, so erscheinen jene Charakterisierungen als bloße Etiketten, mit denen so gerne die naturwissenschaftliche Weltsicht des 19. Jahrhunderts beschrieben wird: Positivismus, Materialismus, Mechanismus, Reduktionismus und Utilitarismus. Diese Ismen passen in die Interpretation von der Entzauberung, welche die Welt in der technisch-wissenschaftlichen Epoche erfahren hat, aber sie sind doch gänzlich ungenügend. Wenn das 19. Jahrhundert die „Epoche des Illusionsverlusts" (Helmuth Plessner)22 war, dann unternahmen es viele populärwissenschaftliche Texte oder auch das Wissenschaftliche Theater der Urania, die Natur wieder in illusionärer Verzauberung erstrahlen zu lassen. Auch diese Strategien und Folgen der Wiederverzauberung 23 , die sich oft genug über eine bloß „ewig gleich mahlende kalte Mühle der Kausalitätsfolge" 24 hinwegzusetzen versuchten, gehören zum naturwissenschaftlichen Zeitalter. Es dürfte aufschlußreich sein, auch den Kernbereich dessen, was gemeinhin als streng wissenschaftlich bezeichnet wird, auf Mythen von Rationalität und Aufweichungen hin zu den skizzierten Wiederverzauberungen zu untersuchen. 19 20 21
22 23 24
Hartwig: Gott (1864), Flammarion: Gott (1902). Chadwick: The Secularization (1975), Küenzlen: Der neue Mensch (1994). Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918,1 (1990), S. 507-528, 623-628; ders.: Religion (1988), S. 124-153. Vgl. Hans Erich Bödeker: Die Religiosität der Gebildeten, in: Karlfried Gründer/Karl Heinrich Rengstorf (Hg.): Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung. Heidelberg 1989, S. 145-195; Lucian Hölscher: Die Religion des Bürgers. Bürgerliche Frömmigkeit und protestantische Kirche im 19. Jahrhundert, in: HZ 250 (1990), S. 595-630, hier S. 615ff. Hellmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. 1. Aufl. 1959, Frankfurt/M. 1988, S. 101. Vgl. jetzt Harrington: Reenchanted Science (1996). Bölsche: Weltblick ( 3 1904), S. 153.
Populärwissenschaft als Real-Idealismus
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Die Popularisierer jedenfalls waren weitaus weniger materialistisch als man ihnen in ihrer vermeintlichen Funktion als Agenten der zweiten, realistischen Kultur zumeist zubilligt. Sie waren „viel idealistischer"25 als ihre Gegner annahmen. Populärwissenschaft läßt sich als geistesgeschichtlicher Typus am ehesten mit der zeitgenössischen Formel von der „Versöhnung von Idealismus und Materialismus" 26 charakterisieren. Es war ein „Realidealismus" 27 , der sich ungleich mehr auf Humboldt, Goethe und Schiller28 berief als auf Charles Darwin, Ludwig Büchner oder die radikalen Antimetaphysiker wie David Friedrich Strauß, deren kulturelle Wirkung bislang überschätzt wird.29 Gegen alle Whig Interpretationen erweisen sich die Wiederverzauberung der einen Natur, die Anpassung an das humanistische Prinzip und die Versöhnung der zwei Kulturen als Leitmotive der volkstümlichen Naturlehren. Die popularisierte Naturwissenschaft huldigte stets der klassischen Trinität des Wahren, Guten und Schönen. Herrschafts- und Leistungswissen, Bildungs- und Erlösungswissen waren in ihren Medien nie reinlich getrennt. 30 Die beiden Zuschreibungen, die in der historischen Forschung ebenso wie in der kulturellen Erinnerung noch immer mit großer Hartnäckigkeit vorgenommen werden, sind schlicht unzureichend: Naturwissenschaftliche Bildung zu popularisieren war nicht identisch mit der Vermittlung des Darwinismus oder stellte weitgehend dessen Instrument dar. Und dieses Bemühen zielte keineswegs eo ipso darauf, die Deutungsmacht der etablierten Religionen zu untergraben oder selbstverständlich den - zweifellos vorhandenen - Konflikt zwischen naturwissenschaftlichem Denken und christlichem Glauben zu verschärfen. Die populärwissenschaftlichen Genres wurden zwar in besonderem Maße für darwinistische Ideen genutzt, sie wurden aber seit der zweite Phase auch von antidarwinistischen Publizisten in Anspruch genommen. Der Darwinismus ließ unterschiedliche Weltinterpretationen zu. Der Entwicklungsgedanke, das zeigen Auto25 26 27
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Hess: Populäre naturwissenschaftliche Schriftsteller (1857), S. 939. Ebenda, S. 934. K. Müller: Otto Ule (1876), S.406. Zum Begriff Real-Idealismus in der nachmärzlichen Literatur vgl. Realismus und Gründerzeit, I (1981), S. 38-41. In den letzten Jahren deutet sich in der Historiographie eine neue Würdigung des (Neo-) Idealismus im späten 19. Jahrhundert an, siehe vom Bruch: Idealismus (1994). Vgl. exemplarisch O. Ule: Schiller (1859). Dies bedeutet auch, daß nicht mehr alle populärwissenschaftlichen Initiativen der nachrevolutionären Phase, z.B. bei Roßmäßler und im Umkreis der Zeitschrift Die Natur, pauschal als materialistisch und darwinistisch bezeichnet werden können, so bei Kelly: The Descent (1981), S. 18 und Weindling: Health (1991), S. 29. Dies auch gegen die Periodisierung bei Vogel: Volksbildung (1959), S. 98, wonach die ältere Volksbildung vor den 1890er Jahren das Bildungswissen unberücksichtigt gelassen hätte. Vgl. Lepsius: Das Bildungsbürgertum (1992/93), S. 309-312.
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Zusammenfassung
ren wie Dennert, Reinke und Wasmann, war durchaus mit christlichen Vorstellungen zu vereinbaren. Die Popularisierungsgeschichte war ideologisch nie einseitig fixiert sondern stets vieldeutig. Spätestens am Ende des 19. Jahrhunderts bemächtigten sich Ideologieträger aller Couleur naturwissenschaftlicher Vermittlungsformen: monistische Darwinisten und katholische Anhänger der Entwicklungslehre, protestantische Biologen und wertkonservative Ökologen, Anhänger des Keplerbundes und progressive Modernisten. Es ist daher verfehlt, vom Büchnerschen Modell der Popularisierung zu sprechen, das seit den 1850er Jahren bis hin zu Bölsche kontinuierlich ausgebaut und perfektioniert worden wäre.31 In der Chronologie der öffentlichen Darwinrezeption und in den populärwissenschaftlichen Naturlehren traten zum Jahrhundertende hin vielmehr Strömungen hervor, die sich deutlich von materialistischen Positionen der 1850er Jahre abgrenzten; sie griffen auf naturphilosophische und mystische Ideen sowie auf die Kosmosvorstellung der Jahrhundertmitte zurück, um eine Art idealistischer Wende zu vollziehen und eine panoramisch ausgeweitete, kosmische Entwicklungsgeschichte zu entwerfen. Wissenschaft, Kunst und religiöses Bedürfnis zu vereinen, blieb nicht allein sezessionistischen Weltanschauungsliteraten vorbehalten. Diese Zusammenschau war vielmehr über die weltanschaulichen Antagonismen hinweg bis weit in das Lager der christlich begründeten Naturwissenschaft hinein ein Merkmal popularisierender Textstrategien. Pluralisierung
der bürgerlichen
Öffentlichkeit
Die geistesgeschichtlichen Ingredienzen der populärwissenschaftlichen Naturlehren präziser zu fassen, ist ein lohnenswertes Unterfangen bei dem Versuch, die Geschichte der Popularisierung in Deutschland in die Perspektive einer sozialhistorisch fundierten und mentalitätsgeschichtlich ausgeweiteten Intellectual History zu stellen. Eine solche Intellectual History wird die politischen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen der Vermittlung von Bildung im Auge behalten müssen und zugleich von neueren diskurs- und kulturgeschichtlichen Forschungsansätzen profitieren können. Hier wird sich auch die Frage stellen, inwieweit der populärwissenschaftliche Umgang mit Wissen und die dadurch produzierten Realitätsbilder in die ,populär culture' der deutschen Gesellschaft einging.32 Dabei werden die visuellen Präsentationen von Wissenschaft, die häufig 31 32
Bayertz: Spreading the Spirit (1985), S. 221. Hierzu zuletzt Peter Burke: Populär Culture Reconsidered, in: History of Historiography 17 (1990), S. 40-49. In der angelsächsischen Geschichtsschreibung gibt es inzwischen Überlegungen, das außerakademische Wissen über Natur in seiner sozialen Tiefenstaffelung als „ethnoscience" oder „ethno-natural knowledge" zu begreifen, siehe Shapin: Science (1990), S.994 und Cooper/Panfrey: Separate Spheres (1994), S. 254.
Pluralisierung der bürgerlichen Öffentlichkeit
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unterhaltende Funktionen übernahmen und von Buchillustrationen über materiale Gegenstände, etwa als Spielzeug, bis zur Geschichte der Völkerschauen und der naturkundlichen Museen reichen, an Bedeutung gewinnen. Nicht zuletzt verspricht eine konsequente Analyse entlang geschlechtergeschichtlicher Kategorien, unser Bild der Popularisierungsgeschichte genauer auszugestalten. Der Rolle von Frauen bei der Vermittlung naturkundlicher Bildung im 19. Jahrhundert33 kommt dabei ebenso eine zentrale Bedeutung zu wie der Frage, auf welche Weise Rezipientengruppen und Begriffe von Natur geschlechtsspezifisch konstruiert wurden. In struktureller Hinsicht lassen sich die am Beispiel der Naturkunde, vor allem der Biologie, beobachteten Mechanismen der Präsentation und Transformation von Wissen im Wandel der Öffentlichkeit gleichermaßen in vielen anderen bürgerlichen Bereichen verfolgen, sei es bei medizinischen und anthropologischen Diskursen, im theologischen Raum oder bei der Wirkung von vor- und außerakademischen Erinnerungs- und Präsentationsformen in der Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts.34 Hier öffnet sich ein weites Feld für komparative Forschungen, die auch die Grenzziehung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik durchlässiger machen können.35 Auf der Basis weiterer Forschungen wird sich eine kritische Rezeptionsgeschichte entwickeln können, wenn sie die Rezipientengruppen, die Aufnahme populärer Bildungsofferten und deren quantitative Ausstrahlung verfolgen will. Jenseits allgemeiner Angaben über Alphabetisierung, Lesevermögen, die Expansion des Buchhandels, Auflagenziffern etc. ist das Publikum eine kaum bekannte Größe. Noch fehlt eine eigenständige historische Rezipientenforschung, die quantitativ zuverlässige Daten liefern und über die qualitative Wahrnehmung von Informationsangeboten mentalitäts- und bildungsgeschichtliche Wirkungen nachzeichnen müßte, um sie in historische Prozesse der Aneignung kultureller Güter einordnen zu können.36
33 34
35 36
Vgl. Barbara T. Gates/Ann B. Shteir (Eds.): Natural Eloquence. Women Reinscribe Science. Madison, Wise. 1997. Vgl. nur Weindling: Health (1989/93), als Fallstudie Christoph Gradmann: Bazillen, Krankheit und Krieg. Bakteriologie und politische Sprache im deutschen Kaiserreich, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 19 (1996), S. 81-94; Janssen: Theologie (1993), Hübinger: Kulturprotestantismus (1994), Vierhaus: Einrichtungen (1977), Hardtwig: Geschichtskultur (1990), S. 8f. Vgl. Hopwood: Producing a Socialist Popular Science (1996). Neben den deutschen Ansätzen etwa bei Rolf Engelsing und Rudolf Schenda vgl. Roger Chartier: Texts, Printings, Readings, in: Lynn Hunt (Ed.): The New Cultural History. Berkeley, Los Angeles, London 1989, S. 145-175; Robert Darnton: History of Reading, in: Peter Burke (Ed.): New Perspectives on Historical Writing. University Park, Pa. 1991, S. 140-167.
470
Zusammenfassung
Gleichermaßen steht eine international vergleichende Betrachtung der populärwissenschaftlichen Bildungsphänomene aus.37 Die Vorstellung, daß es einen fundamentalen Mangel an Popularisierungsbemühungen in Deutschland gegeben habe, kann sicher verabschiedet werden. Es gibt, dies hat die vorliegende Studie aufzeigen wollen, eine breite, farbige und zu Unrecht vollkommen unterschätzte Geschichte der Populärwissenschaft in Deutschland. Die Besonderheiten des deutschen Falls liegen nicht im Fehlen amateurwissenschaftlicher und wissenschaftsjournalistischer Traditionen, in einem Defizit an populären Präsentationsformen und nicht einmal in einer generellen Geringschätzung der Vermittlungsarbeit bei den deutschen Gelehrten. Die Eigenheiten lassen sich eher fassen in den Spannungen zwischen den außerakademischen naturkundlichen Aktivitäten und dem von einem Forschungsimperativ geprägten, staatlich verankerten Wissenschaftssystem, das es in dieser Form nicht in vergleichbaren Ländern gab, in der Problembündelung der Popularisierunggeschichte während ihrer ersten, politisch induzierten Phase nach 1848 und in den weltanschaulichen Verhärtungen des deutschen Bildungsbürgertums, das spätestens im letzten Jahrhundertdrittel in eine tiefe soziale und ideelle Krise geriet, die seine universal angelegten Begriffe von Bildung und von Öffentlichkeit aushöhlte.38 Die beeindruckende Konstituierung von naturkundlicher Öffentlichkeit seit 1848 kann zweifellos nicht allein aus ihren emphatischen Selbtzeugnissen heraus rekonstruiert werden, um der einseitigen These von der Degeneration der bürgerlichen öffentlichen Sphäre zu einer „vermachteten Arena", die das Potential kritischer Publizität eingebüßt habe,39 nun umgekehrt ein idealisiertes Bild gegenüberzustellen. Die sich ausdifferenzierenden bürgerlichen Öffentlichkeiten waren nicht allein von inklusiven Programmatiken geleitet, sie wurden auch von exklusiven Mechanismen eingegrenzt; solche Exklusionen geschahen entlang von sozialen Klassengrenzen, Geschlechterrollen und ethnischen Überzeugungen. 40 Die liberale Aufladung der Populärwissenschaft wurde zudem seit den 1870er Jahren zurückgedrängt, als nationalistische, sozialdarwinistische und rassistische Diskurse von den popularisierenden Medien aufgenommen wurden. 41 37
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Das Centre de recherche en histoire des sciences et des techniques in Paris hat vor einigen Jahren ein Großprojekt „Sciences et publics (1789-1968)" initiiert, das sowohl europäische als auch außereuropäische Länder erfaßt und aus dem 1997 einen ersten Band über Printmedien hervorgegangen ist, daraus auch Daum: Un pays (1997). Hans Mommsen: Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Kocka (Hg.): Bürger (1987), S. 288-315. Habermas: Strukturwandel (1962/1990), S. 28. Vgl. schon für das 17. und 18. Jahrhundert Rupp:The New Science (1995). Kelly: The Descent (1981), S. lOOff.; Weindling: Health (1989/93), Weingart/Kroll/ Bayertz: Rasse (1988/92).
Pluralisierung der bürgerlichen Öffentlichkeit
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Ebensowenig wie es ein homogenes Bürgertum gab, stellte auch die populärwissenschaftliche Öffentlichkeit keine Einheit dar, sondern pluralisierte sich zunehmend. Geht man von der Vielfalt bürgerlicher Öffentlichkeitsformen aus, so ergibt sich ein Bild dezentraler, lokal verankerter, allerdings oft regional, wenn nicht sogar national verknüpfter Bildungsräume. Sie wurden nicht zuletzt aus dem lokalen Vereins- und Museumswesen heraus geschaffen und boten über die Volksbildungseinrichtungen seit den Humboldt-Vereinen häufig Anknüpfungspunkte für die Arbeiterkultur. Diese Bildungsräume lassen in ihren amateurwissenschaftlichen Aktivitäten die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Bereich sehr viel durchlässiger erscheinen, als es die bisherige Forschung nahegelegt hat.42 In ihrem emphatischen Selbstverständnis oft genug gebrochen, ist die Popularisierung naturwissenschaftlicher Bildung selbst ein Spiegelbild der segmentierten und zugleich pluralistischen Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs und ihres ambivalenten Potentials an Bürgerlichkeit. 43 Die populärwissenschaftlichen Bemühungen antworteten im ganzen, soweit läßt sich bilanzieren, auf die unüberhörbar sich artikulierenden Ansprüche auf Wissen mit neuen Bildungsangeboten und Informationsmärkten; sie trugen strukturell dazu bei, die Sphäre bürgerlicher Öffentlichkeit zu erweitern und ein partizipatorisches Bildungsverständnis in Deutschland zu formulieren. Die Geschichte der Populärwissenschaft gehört untrennbar zu dem Erscheinungsbild, der Interessenvielfalt und dem kulturellen Selbstverständnis des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert.
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Vgl. zuletzt Secord: Science (1994). Nipperdey: War die Wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesellschaft? (1985/86), S. 176-178; Blackbourn: Kommentar (1987).
Kurzbiographien Unterhalb der Einträge werden Angaben zur Literatur und zu biographischen Informationen aus sechs biobibliographischen Nachschlagewerken genannt: dem Deutschen Biographischen Archiv (DBA), dessen Neuer Folge (DBA NF), der Deutschen Biographischen Enzyklopädie (DBE), der Allgemeinen Deutschen Biographie (ADB), der Neuen Deutschen Biographie (NDB) und Gebhardts Ornithologen Mitteleuropas (Gebhardt). Zusätzliche Abkürzungen: ao Prof. = außerordentlicher Professor, Begr. = Begründer, bot. = botanisch, grd. = gründete, Habil. = Habilitation, Nw = Naturwissenschaften, nw = naturwissenschaftlich, o Prof. = ordentlicher Professor, PD = Privatdozent, Pr. = Promotion, Red. = Redakteur für, Ref. = Referent bzw. Vortragender für, ref. = reformiert, St. = Studium (gefolgt von Fach und Ort), Vors. = Vorsitzender, Zool. = Zoologie, zool. = zoologisch. Ahlborn, Friedrich 4.1.1858 Göttingen - 27.10.1937 Hamburg, luth. 1879-82 St. Nw in Göttingen; 1882 Pr. in Göttingen bei E. Ehlers; bis 1884 Assistent am Zool. Institut; seit 1884 Lehrer am Realgymnasium des Johanneum in Hamburg; 1903 Ernennung zum Professor; seit 1923 im Ruhestand; 1901 Mitverfasser der Hamburger Thesen. DBA NF 13,200-204; DBE 1,56; NDB 1,107f. Altum, Bernard 31.1.1824 Münster/Westfalen -1.2.1900 Eberswalde, kath. 1845-48 St. Theologie u. Philosophie in Münster; 1849 Priesterweihe, danach Vikar; 1851-53 St. Nw u. Philologie in Münster, 1853-56 fortgesetzt in Berlin; 1855 Pr. in Berlin; Assistent Zool. Museum Berlin; 1856-57 Realschullehrer; 1857 Domvikar; 1859-69 PD Zool. Münster, 1869-1900 Prof. Zool. Forstakademie Eberswalde/Berlin; 1867-68 Geschäftsführer u. 1891-1900 geschäftsführender Präsident der Deutschen Ornithologischen Gesellschaft; 1891 Geheimer Regierungs-Rat.; Red. Natur und Offenbarung vom 10. bis 15. Jahrgang; 1879 Roter Adlerorden IV. Klasse; zool. Hauptwerk: Der Vogel und sein Leben 1868,61898; Forstzoologie 1872-75,21876-82. DBA 18,319-324; DBA NF 25,101-107; DBE 1,106; NDB 1,230; Gebhardt 1,19f. u. III, 102; Erich Wasmann, in: NuO 46 (1900), S.193-204; Ant: Die Geschichte (1967), Franzisket: Die Geschichte (1967), Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969) Archenhold, Friedrich Simon 2.10.1861 Lichtenau/Westfalen -14.10.1939 Berlin, jüd. 1882-89 St. in Straßburg u. Berlin; Schüler von W. Foerster; 1889 am Observatorium der Urania; 1890-95 Astronom am Kgl. Recheninstitut Berlin u. Dirigent der Grunewald-Sternwarte; Begr. u. 1896-31 Direktor der Treptow-Sternwarte Berlin; Mitglied im Vorstand der DGVN, Ref. der Urania u. Dozent an der Humboldt-Akademie; seit 1900 Hg. Das Weltall, 1912 Dr. h.c. Western Univ. of Pennsylvania. DBA 30,157; DBA NF 37,9-18; DBE 1,162; NDB 1,335 Auerbach, Berthold (eigentlich: Moses Baruch) 28.2.1812 Nordstetten/Württemberg - 8.2.1882 Cannes, jüd. seit 1832 St. in Tübingen, München u. Heidelberg; wegen burschenschaftlicher Aktivitäten Anklage und Festungshaft auf dem Hohenasperg, dort erster Roman Spinoza-, Beziehungen zu D. F. Strauß, F. Freiligrath und K. Marx, seit 1843 Hg. der
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Schwarzwälder Dorfgeschichten mit immensem Erfolg; versch. weitere Romane; zahlreiche publizistische Aktivitäten, Hg. von Auerbachs Volkskalendern. DBA 39,14-28; DBA NF 47,211-364; DBE 1,215; ADB 47,412-419; NDB 1,434f. Ave-Lallement, Robert 25.7.1812 Lübeck - 10.10.1884 Lübeck 1833-37 St. Medizin in Berlin, Heidelberg u. Paris; 1837 Pr. in Kiel; danach Arzt in Rio de Janeiro; 1855 Rückkehr nach Deutschland; auf Empfehlung A. von Humboldts Teilnehmer an der österr. Novara-Expedition; 1858-59 allein Reise durch Brasilien, anschließend erneute Rückkehr nach Deutschland; Arzt in Lübeck; 1869 Teilnahme an der Einweihung des Suezkanals; publizierte versch. Reiseberichte; Mitarbeit an der wissenschaftlichen Biographie Humboldts durch Bruhns. DBA 41,190-194; DBA NF 50,212f.; DBE 1,227; ADB 46,144-146; NDB 1,465f. Baltzer, Eduard 24.10.1814 Hohenleina/Sachsen - 24.6.1887 Durlach, ev., seit 1841 freiprotestantisch, Anhänger der Lichtfreunde 1834—38 St. Philologie, Philosophie u. Theologie in Leipzig und Halle/S.; 1838-41 Unterstützung für den Vater in dessen Pfarrtätigkeit; 1841 Diakon u. Hospitalprediger in Delitzsch; seit 1843 Anhänger der Lichtfreunde, 1845 zum Pfarrer der Nikolaigemeinde in Nordhausen gewählt, aber vom Konsistorium nicht bestätigt, daraufhin 1847 Grd. einer Freien Gemeinde in Nordhausen, als deren Pfarrer B. bis 1881 wirkt; 1847 Vors. des Vereins freier Gemeinden; 1848 Mitglied des Frankfurter Vorparlaments u. der Preußischen Nationalversammlung, Mitarbeit an der Charte Waldeck; 1852/53 staatliche Schließung der Gemeinde, gerichtliches Verfahren endet aber mit Freispruch; 1859 erster Vors. des Bundes freireligiöser Gemeinden; zeitweise Mitglied u. 1865-74 Vors. der Stadtverordnetenversammlung Nordhausen; 1848 Mitbegr. u. langjähriger Mitarbeiter der Nordhäuser Zeitung; Vorträge im Männerbildungsverein; B. richtete 1851 in Nordhausen den ersten Kindergarten Preußens ein; seit 1866 Vegetarier, grd. 1867 in Nordhausen den Verein für natürliche Lebensweise, den ersten deutschen vegetarischen Verein, 1868 erweitert zum Deutschen Verein für naturgemässe Lebensweise (Vegetarianer), 1868-85 Red. der Deutschen Vegetarier-Zeitung-, theolog. Werke (u.a. Das Leben Jesu 1860), arbeitsu. sozialreformerische Publikationen. DBA 53,109-113; DBA NF 63,282-311; DBE 1,282; NDB 1,570; Baltzer: Erinnerungen. Bilder aus meinem Leben. 1907; Kampe: Geschichte der religiösen Bewegung (1852-1860), Krabbe: Gesellschaftsveränderung (1974), Brederlow: „Lichtfreunde" (1976), Teuteberg: Zur Sozialgeschichte (1994) Bastian, Adolf 26.6.1826 Bremen - 3.2.1905 Port of Spain, kath. St. Jurispr., dann Medizin u. Nw in Berlin, Jena, Prag u. Würzburg; 1850 Dr. med.; 1851 als Schiffsarzt nach Australien, bis 1858 Reisen durch Amerika, Asien u. Afrika; 1860 dreibändiges Werk Der Mensch in der Geschichte-, 1861-65 Asienreise, bis 1903 nochmals verschiedene Forschungsreisen außerhalb Europas; 1867 Habil. an der Univ. Berlin, 1868 ao Prof. der Ethnologie, 1900 o Prof.; 1866-71 sechsbändiges Werk Die Völker des östlichen Asien-, seit 1868 Leitung der ethnographischen Sammlungen an den Königl. Museen, aus denen das Berliner Museum für Völkerkunde hervorging; 1869 Festrede zum Gedenken A. von Humboldts; 1869 Mitbegr. der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte u. seit 1869 Hg. Zeitschrift für Ethnologie-, mehrjähriger Vors. der Gesellschaft für Erdkunde; 1875 Streitschrift gegen Ernst Haeckel u. den Darwinismus; umfangreiches Ii-
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terarisches Werk und Sammlungstätigkeit von der Archäologie bis zur Völkerpsychologie und Religionsgeschichte, Begründer der Völkerkunde in Deutschland. DBA 59,261-270; DBA NF 72,78-107; DBE 1,317; NDB 1,626f.; Fiedermutz-Laun: Adolf Bastian (1986), Smith: Politics (199i) Bauke, Leopold (Pseudonym = Th. Zell) 18.6.1862 Ketschendorf/Fürstenwalde - 24.8.1924 1881-84 St. in Leipzig; Dr. iur.; tierpsychologischer Autor. DBA NF 76,357 Bernstein, Aaron (Pseudonym = A. Rebenstein) 6.4.1812 Danzig - 12.2.1884 Berlin-Lichterfelde, jüd. Kindheit und Jugend in Danzig; 1825-30 Besuch der Talmudschule; 1832 Übersiedlung nach Berlin; schriftstellerische Tätigkeit unter Pseudonym; 1834 Übersetzung u. Bearbeitung des Hohelieds; grd. 1838/39 eine Leihbibliothek; 1839 Mitbegr. des jüdischen Kulturvereins; Mitbegr. der Berliner Genossenschaft für Reform im Judentum u. aktiv in der jüdischen Reformgemeinde in Berlin; 1847 Hg. der ReformZeitung. Organ für den Fortschritt im Judenthum; 1848 Barrikadenkämpfer in Berlin; 1849-53 Grd. u. Red. der TJrwähler-Zeitung, danach Hg. der Volks-Zeitung-, versch. Preßprozesse und Gefängnisstrafen; seit 1840 Veröffentlichungen auch zu nw Themen, richtete in den 1850er Jahren ein chemisches.u. photographisches Laboratorium ein, Beschäftigung mit Telegraphie u. Wettervorhersagen, entwickelte patentierten Münzenprüfer, seit 1853 Hg. der Naturwissenschaftlichen Volksbücher (5. Aufl. 1897-99, versch. ausländ. Übersetzungen); dreibändige Revolutions- und Reaktionsgeschichte, verfaßte auch Novellen; 1876 Dr. rer.nat. h.c. Univ. Tübingen, Mitglied der Deutschen Astronomischen Gesellschaft; freundschaftliche Bindungen zu Berthold Auerbach u. Elisabeth Lewald; Sohn Julius B. wurde PhysiologieProfessor und Rektor der Universität Halle. DBA 91,390-394; DBA NF 110,26-38; DBE 1,475; NDB 2,133; Schoeps: Bürgerliche Aufklärung (1992) Berthold, Carl 6.7.1835 Münster - 15.10.1884 Bocholt, kath. St. Philologie an der Akademie Münster, 1859 Lehrerexamen; 1860-83 Gymnasiallehrer in Münster, Brilon u. Bocholt; 1874-84 Red. von Natur und Offenbarung-, mit H. Landois Lehrbuch der Botanik. DBA 92, 352-359; DBA NF 112,165; DBE 1,487; NuO 30 (1884), S.693-^96; Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969) Bettziech, gen. Beta, Heinrich 23.3.1813 Werben/Delitzsch - 31.4.1876 Berlin, ev. Schulbildung an den Franckeschen Stiftungen Halle/S.; 1834-38 St. Philosophie, Philologie u. Nw in Halle; von den Junghegelianern beeinflußt, Veröffentlichungen in den Hallischen Jahrbüchern-, 1838 Übersiedlung nach Berlin, 1838-48 Red. des literarischen Teils des Gesellschafters; 1846 Mitbegr. des Berliner Freihandels-Vereins; gehörte seit 1847 zum Kreis um den Leuchtthurm des Verlegers Keil; 1848/49 radikaler Demokrat und Revolutionsberichterstatter; 1850/51 Flucht vor drohendem Hochverratsprozeß nach London; dort Weiterführung der journalistischen Arbeit unter anderem für die Gartenlaube, die Leiziger Illustrierte Zeitung und das Magazin für die Literatur des Auslandes; in 1850er Jahren diverse nw Beiträge für populärwissenschaftliche Zeitschriften; 1859 Beteiligung am Schillerfest in London; noch in Londoner Zeit, in der B. mit finanziellen und gesundheitlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, konservative Wendung; 1861/2 Rückkehr nach Deutsch-
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land; schriftstellerisch und als Übersetzer tätig, nach 1868 Beschäftigung mit Fischzucht. DBA 95,175-176; DBA NF 115,95-96; DBE 1,495; ADB 46,486-493; NDB 2,184f.; Feißkohl: Ernst Keils publizistische Wirksamkeit (1914), S.35ff. Bibra, Ernst Freiherr von 9.6.1806 Schwebheim/Unterfranken - 5.6.1878 Nürnberg, kath. St. Rechtswissenschaften u. Nw in Würzburg; seit 1842 nw Schriftsteller, als Privatgelehrter verschiedene Veröffentlichungen zur Zoochemie; 1849/50 SüdamerikaReise; danach in Nürnberg ansässig; seit 1862 belletristisch tätig. DBA 98,331-337; DBE 1,512; ADB 47,758f.; NDB 2,216 Bischof, Karl Gustav 18.1.1792 Wörth/Nürnberg - 30.11.1870 Bonn, ev. 1810-14 St. in Erlangen; 1814 Pr.; 1815 PD für Chemie u. Physik in Erlangen; 1819 ao Prof., 1822 o. Prof. der Technologie u. angewandten Chemie in Bonn; Wegbereiter der empirischen Geologie in Deutschland; verfaßte ein Lehrbuch der chemischen und physikalischen Geologie; galt lange als Hauptvertreter des Vulkanismus bzw. Plutonismus in Deutschland; später Abkehr vom Plutonismus und Hinwendung zum wissenschaftlich veralteten Neptunismus. DBA 104, 232-235; DBA NF 127, 397-403; DBE 1, 542; ADB 2, 665-669; NDB 2, 261t Bock, Carl Ernst 21.2.1809 Leipzig - 19.2.1874 Wiesbaden 1827-30 St. Medizin u. Chirurgie in Leipzig; 1831 Pr.; 1831 als Hospitalarzt in der polnischen Aufstandsarmee, danach Arzt in Leipzig; 1833 Habil. Leipzig; 1839 ao Prof. Medizin; 1845 o Prof. für Pathologische Anatomie; 1845 Mitbegr. des Leipziger Turnvereins; zahlreiche populärmedizinische Darstellungen, am bekanntesten Das Buch vom gesunden und kranken Menschen 1855,131884; regelmäßige Beiträge für die Gartenlaube; 1873 Umsiedlung nach Wiesbaden. DBA 112,215-218; DBA NF 140,157-161; DBE 1,595; ADB 2,767t; NDB 2,343t; Bessinger: Carl Ernst Bock (1956) Böhner, August Nathaniel 4.4.1809 Trügleben/Gotha - 12.5.1892, ev. St. Nw, später Theologie in Leipzig und Göttingen; 1840-74 Pfarrer in Dietlikon; 1868-69 Mitglied des Züricher Grossen Rats. DBA NF 146,225 = Historisch-Biogr. Lexikon der Schweiz 2 (1924), S. 288 Bölsche, Carl 16.3.1813 Fallersleben - 1891, ev. St. Theologie seit 1834 in Göttingen u. Leipzig; 1838 theologisches Examen; seit 1841 Redakteur der Mainzer Zeitung; 1848 Demokrat; mußte 1849 journalistische Arbeit in Mainz aufgeben; seit 1851 Red. der Kölnischen Zeitung, Feuilleton-Leiter; befreundet mit L. Büchner, J. Moleschott, E. A. Roßmäßler u. K. Vogt; veranlaßte USA-Reise Fr. Ratzels. DBA 118,383; Magnus: Wilhelm Bölsche (1909) Bölsche, Wilhelm 2.1.1861 Köln - 31.8.1939 Oberschreiberhau/Riesengebirge, ev., später Freidenker Sohn von Carl B.; 1881 Abitur; bis 1883 Privatstudium im Elternhaus; 1883-85 St. Philologie, Archäologie u. Kunstgeschichte in Bonn ohne Abschluß; danach Studien
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in Paris; Studienreise nach Italien; 1887 nach Berlin, 1888 nach Friedrichshagen; bildete mit B. Wille, Julius u. Heinrich Hart den Fiedrichshagener Kreis, zu dem auch Carl u. Gerhard Hauptmann, G. Landauer und Arno Holz enge Kontakte hatten; grd. 1890 mit B. Wille und Julius Türk die Freie Volksbühne; Red. der Neuen Rundschau; 1891-93 Red. der Zeitschrift Freie Bühne; nach dem Tod des Vaters 1891 erlischt finanzielle Unterstützung, fortan gesteigerte publizistische u. Vortragstätigkeit; 1894-96 zweibändige Entwicklungsgeschichte der Natur, 1893/94 in Zürich; Mitbegr. der Freien Litterarischen Gesellschaft Berlin; Ref. für die Urania, die Humboldt-Akademie u. das Weimarer Kartell; öffentliche Vorträge, u.a. vor Arbeiterbildungsvereinen; 1898-1902 1. Aufl. des Liebesleben in der Natur; seit 1904 zahlreiche Beiträge für die Kosmos-Gesellschaft; Mitglied im Ehren- und Freundesrat des Kosmos/Handweiser mit R. France u. M. W. Meyer; 1907 Teilnehmer an der Berliner Wasmann-Diskussion; 1918 Übersiedlung ins Riesengebirge; neben nw Arbeiten für die Tagespresse und Publizistik zahlreiche essayistische u. belletristische Publikationen (u.a. Romane Paulus 1885, Die Mittagsgöttin 1891). DBA 118,383-387; DBA NF 146,446-450; DBE 1,628; NDB 2,400; Fellmann: Ein Zeuge (1988), Hamacher: Bölsche (1993) Bolau, Heinrich 17.9.1836 Hamburg - 25.5.1920 Hamburg Lehrer an einer Hamburger Bürgerschule; seit 1862 St. Zool. in Gießen, Heidelberg, München u. Berlin; 1866 Pr. in Göttingen; anschließend Lehrer am Realgymnasium des Johanneums in Hamburg, Vorsitz in der Verwaltungskommisssion des Naturhistorischen Museums Hamburg; 1875-1909 Direktor des Hamburger Zool. Gartens; 1876 Präsident des Naturwissenschaftlichen Vereins Hamburg; Mitglied der Leopoldina. DBA NF 48-50; Gebhardt II, 24f. Bommeli, Rudolf geb. 1859 Mauren/Thurgau 1885-86 St. Nw in Zürich; Schüler von Arnold Dodel-Port; Botaniker; am Jahrhundertende populärwissenschaftliche Publikationen. Matrikelverzeichnis der Universität Zürich Braeß, Martin 11.4.1861 Nossen/Sachsen - 2.2.1942 Dresden besuchte das Lehrerseminar Nossen u. St. in Leipzig; dort 1887 Pr.; bis 1924 am Dresdener Seminar tätig; Engagement für den Naturschutz, ornithologische u. tierpsychologische Arbeiten; Beiträge für die Lebensbilder der Tierwelt von Meerwarth/Soffel. Gebhardt I,47£ Braß, Arnold 22.5.1854 Arolsen/Waldeck -1915, ev. 1874-76 St. Ingenierwissenschaften, Chemie, Physik in Hannover, 1876-79 St. Mathematik und Naturwissenschaften in Leipzig; Pr. 1879 in Leipzig; 1879-83 in Halle/S.; 1884/85 Assistent bei R. Leuckart; 1885 nach Marburg; seit 1889 in Göttingen als Privatgelehrter; Mitglied im Kuratorium des Keplerbundes; 1912 Bruch mit dem Keplerbund. DBA 136,272-274
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Brehm, Alfred Edmund 2.2.1829 Renthendorf/Thüringen -11.11.1884 Renthendorf, luth. Sohn von Christian L. Brehm; 1844-46 Maurerlehre u. Besuch der Kunst- u. Handwerkschule in Altenburg; 1846-47 Architektur-St. an der Kunstakademie Dresden; 1847-52 Afrika-Expedition mit dem Baron Johann Wilhelm von Müller, der sich aber von Brehm trennt; 1853-55 St. Nw in Jena mit abschließender Pr.; 1855 Reiseskizzen aus Nord-Ost-Afrika u. Mitglied der Leopoldina; 1858 nach Leipzig, dort bis 1862 Gymnasiallehrer für Erdkunde und Naturgeschichte; 1858 Freimaurer; enge Kontakte zu E. Keil u. E. A. Roßmäßler, zahlreiche Beiträge für die Gartenlaube; 1856 Spanienreise mit Bruder Reinhold, 1860 Norwegenreise, 1862 Abessinienreise mit Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha u. Friedrich Gerstäcker; 1863-66 1. Direktor des Zool. Gartens Hamburg; 1864 erster Band des Thierlebens im Bibliographischen Institut; 1867-74 Grd. und Leitung des Aquariums Unter den Linden in Berlin; 1876 Sibirienreise mit Otto Finsch u. Graf von Waldenburg-ZeilTrauchburg, 1878 Donaureise u. 1879 Spanienreise mit Kronprinz Rudolf von Österreich, 1883/84 Vortragsreise in den USA. ADB 47, 214; DBA 140, 350-352; DBA NF 173, 50-80; DBE 2, 97; NDB 2, 569f.; Gebhardt 1,50f. u. II, 152 u. III, 104 u. IV, 72; Haemmerlein: Der Sohn des Vogelpastors (1987), ders.: Bibliographie (1991), Genschorek: Fremde Länder (1984), Schmitz: Tiervater Brehm (1986) Brehm, Christian Ludwig 24.1.1787 Schönau v.d. Walde/Gotha - 23.6.1864 Renthendorf/Thüringen, luth. 1807-9 St. Theologie in Jena; zunächst Hauslehrer, dann Pfarrer, seit 1812 in Renthendorf/Thüringen; grd. 1824 die erste ornithologische Zeitschrift Ornis\ Mitglied der Leopoldina; 1858 Dr. med h.c. Jena; bedeutender ornithologischer Sammler und Autor. DBA 140,354-355; DBA NF 173,92; DBE 2,98; ADB 3,284; NDB 2,570; Gebhardt 1,51f. u. 11,152 u.IV,72 Breitenbach, Wilhelm geb. 1856 Schüler von Hermann Müller-Lippstadt; 1877-80 St. Zool. in Jena; 1880 Pr. bei Haeckel; anschließend mehrjähriger Brasilienaufenthalt; verlegerische Aktivitäten; verfaßte 1904 eine Haeckel-Biographie; Mitglied im Deutschen Monistenbund, nach internen Kontroversen Austritt u. aktiv in der Gesellschaft Neue Weltanschauung (seit 1911 als Humboldt-Bund), seit 1908 Red. der gleichnamigen Zeitschrift. Uschmann: Geschichte (1959), S.120f. Budde, Emil Arnold 28.7.1842 Geldern - 15.8.1921 Feldafing, kath. seit 1858 ein Semester St. kath. Theologie, danach Hauslehrer; dann St. Nw, 1864 Pr. in Bonn; Lehrer für Nw in Mayen; Rückkehr nach Bonn, 1869 Habil., Kriegsberichterstatter für die Kölnische Zeitung, 1872-78 Korrespondent in Paris, später in Rom u. seit 1881 in Konstantinopel; 1887 Rückkehr nach Berlin, physikalische Studien, Red. der Fortschritte der Physik; seit 1892 als Physiker bei Siemens & Halske in Berlin, 1893-1911 Direktor des Charlottenburger Werks. DBA 158,39-42; DBA NF 193,345-355; DBE 2,191 Büchner, Ludwig 29.3.1824 Darmstadt - 30.4.1899 Darmstadt, ev. Bruder des Dichters Georg Büchner u. der späteren Frauenrechtlerin Luise Büchner; nach der Schulausbildung nochmals Teilnahme am Unterricht der Höheren
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Gewerbeschule Darmstadt; 1843^8 St. Medizin in Gießen, Straßburg, Würzburg u. Wien; 1848 Pr. in Gießen; 1848 Mitarbeit an der Zeitung Der jüngste Tag, unterstützte Karl Vogt für dessen Wahl in das Frankfurter Vorparlament u. die Nationalversammlung, Mitglied der republikanischen Bürgerwehr in Gießen; 1849 Rückkehr nach Darmstadt u. Eintritt in die väterliche Praxis, Hg. der Nachgelassenen Schriften Georg Büchners; 1852-55 Assistenz-Arzt in Tübingen; 1854 Erteilung der venia legendi in Tübingen; veröffentlichte 1855 Kraft und Stoff, daraufhin Entzug der Lehrerlaubnis, mußte akademische Laufbahn aufgeben; seither als Arzt, Privatgelehrter u. Publizist tätig, neben Jacob Moleschott u. Karl Vogt Hauptvertreter des Materialismus in Deutschland; 1860 Meister der FDH; grd. 1862 in Darmstadt einen Arbeiterbildungsverein, Auseinandersetzungen mit Lassalle; Vors. der Darmstädter Turngemeinde, 1863 Stadtverordneter; 1872/73 Vorlesungsreise in den USA; 1881 Grd. des Deutschen Freidenkerbunds; 1887 Mitbegr. Bund für Bodenreform; 1885-1891 Abgeordneter der Zweiten Kammer im Großherzogtum Hessen; Mitglied im Deutschen Schriftstellerverband; zahlreiche naturwissenschaftlich-weltanschauliche Publikationen; Ref. der G W . DBA 159,208-212; DBA NF 195,140-149; DBE 2,198; ADB 55,459-461; NDB 2, 722; Lange: Geschichte des Materialismus (31877), Dreisbach-Ohlsen: Ludwig Büchner (1969), Wittich: Vogt, Moleschott, Büchner (1971), Gregory: Scientific Materialism (1977), Schreiner: Der Fall Büchner (1977), Na'aman: Die Konstituierung (1975), S.403, 548-552, 564-567, 571-597; Offermann: Arbeiterbewegung (1979), S. 469ff. Bürgel, Bruno 14.11.1875 Berlin - 8.7.1948 Potsdam, ev. Kindheit im Berliner Scheunenviertel; als Arbeiter im Schuhmacher-, später im Buchdruckgewerbe tätig; 1895 als Hilfskraft Aufsichtstätigkeit an der Berliner Urania, Verbindung zu M. W. Meyer; vermittelt durch W. Foerster Gasthörer an der Berliner Universität; seit 1898 populärwissenschaftliche Arbeiten u. tätig in der Berliner Urania; Sozialdemokrat; insges. 21 Bücher, die in neun Sprachen übersetzt wurden, Vorträge in mehr als 350 Orten, über 1000 Artikel u. Betrachtungen (nach NDB 2,744); nw Hauptwerk Aus fernen Welten 1910. DBA NF 197,289-295; DBE 2,209; NDB 2,743f.; Bürgel: Vom Arbeiter zum Astronomen. Berlin 1919 Burmeister, Hermann 15.1.1807 Stralsund - 2.5.1892 Buenos Aires 1826-29 St. Medizin u. Nw in Greifswald u. Halle/S.; 1829 Pr. in Halle zum Dr. med. u. Dr. phil.; seit 1831 als Schullehrer in Berlin; 1834 Habil. in Berlin u. zool. Vorlesungen; 1837 ao Prof. Zool. Halle u. Direktor des Zool. Museums, 1842 o Prof.; 1848-50 Mitglied der Preußischen Ersten Kammer auf der Linken für den Wahlkreis Liegnitz, legte 1850 nach persönl. Enttäuschungen u. Krankheit Mandat nieder; 1850-52 Brasilienreise mit Unterstützung Humboldts; 1856-60 erneute Südamerika-Reise; 1861 Entlassung von der Univ. Halle auf eigenen Wunsch nach Auseinandersetzungen um die Studienordnung, Übersiedlung nach Buenos Aires/ Argentinien; 1862-92 Direktor des Museo Publico in Buenos Aires; 1869-75 Engagement für den Aufbau einer nw Fakultät der Univ. Cordoba, 1870 deren Direktor; 1890 Italienreise; sein Handbuch der Entomologie u. der Grundriß der Naturgeschichte wurden zu wissenschaftlichen Standardwerken, die Geschichte der Schöpfung (1843,71867) und die Geologischen Bilder (1850,21855) galten als populärwissenschaftliche Bücher.
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DBA 169,152-155; DBA NF 206,37-54; DBE 2,245; ADB 47,394; Gebhardt 1,59f. u. II, 153; Bericht über die Feier (1880), Schmiedecke: Die Revolution (1932), Hermann Burmeister (1993) Carus, Carl Gustav 3.1.1789 Leipzig - 28.7.1869 Dresden, luth. Besuch der Thomasschule in Leipzig; 1804-11 St. Medizin in Leipzig, 1811 Pr. u. Habil. für Vergleichende Anatomie in Leipzig; praktischer Arzt; 1814-27 Prof. der Gynäkologie an der Chirurgisch-medizinischen Akademie in Dresden; Kontakte zu Goethe; seit 1827 Kgl. Sächs. Leibarzt, Hof- u. Medizinalrat; 1862-69 Präs. der Leopoldina; Mitbegr. der Gesellschaft für Natur- u. Heilkunde in Dresden; neben Arbeiten zur Gynäkologie Schriften zur Psychologie, Charakterkunde, Naturphilosophie und Ästhetik; als Naturphilosoph von Schelling und Goethe beeinflußt; theoretische u. praktische Beschäftigung mit Landschaftsmalerei (Neun Briefe über Landschaftsmalerei 1831), Ehrenmitglied der Dresdener Kunstakademie. DBA 181, 432-438; DBA NF 217, 376-400; DBE 2, 290; ADB 4, 37f.; NDB 3, 161-163; Thieme/Becker: Allgemeines Lexikon der bildenden Künste, VI (1912), Wunsch: Der Uebergang (1941) Carus, Paul 18.7.1852 Ilsenburg/Harz -11.2.1919 St. in Tübingen, Greifswald, Straßburg; Pr. in Tübingen; Oberlehrer am Kgl. Kadettenkorps Dresden; 1881 in die USA; dort Red. The Open Court. DBA NF 217,401^-02 Caspari, Otto 24.5.1841 Berlin - 28.8.1917 Heidelberg St. in Berlin, Greifswald, München u. Göttingen; Pr. in Göttingen; 1869 Habil. in Heidelberg; ao Prot Heidelberg; Red. der Zeitschrift Kosmos/Weltanschauung; seit 1895 Privatgelehrter; Mitglied des Goethebundes u. Freimaurer. DBA 182,205; NDB NF 218,177-180 Chun, Carl 1.10.1852 Höchst a.M. -11.4.1914 Leipzig, ev. 1872-74 St. in Göttingen u. Leipzig, dort 1874 Pr.; 1878 Habil. in Leipzig, Assistent Leuckarts; 1884 verheiratet mit Lily Ulrich, der Tochter Karl Vogts; 1883-91 o. Prot Zool. Königsberg, 1891-98 Breslau, seit 1898 in Leipzig; 1901 Mitverf. der Hamburger Thesen; 1907/8 Rektor der Univ. Leipzig; 1898/99 Teilnehmer u. Leiter der Valdivia-Expedition, Bericht darüber Aus den Tiefen des Weltmeeres; Mitglied der Bayerischen und der Preußischen Akademie der Wissenschaften, geschäftsführender Sekretär der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften; Mitglied der Unterrichtskommission der GDNA; 1905 Geh. Rat; 1911 Dr. med. h.c. Univ. Oslo. DBA 190,269; DBA NF 226,178-184; DBE 2,326; NDB 3,252f. Cohn, Ferdinand Julius 24.1.1828 Breslau - 26.6.1898 Breslau, jüd. seit 1844 St. Nw in Breslau u. Berlin; Schüler von Goeppert und Nees von Esenbeck; 1847 Pr. in Berlin; physiologische Forschungen im botanischen Bereich; 1849 Mitglied der Leopoldina; 1850 Habil. für Botanik; 1857 ao, 1872 o Prof. der Botanik in Breslau; 1866 Gründung des Pflanzenphysiologischen Instituts; seit 1852 öffentliche Vorträge; seit 1856 Vors. der botanischen Sektion der Schlesischen Gesellschaft
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für Vaterländische Cultur; 1887 Geheimer Regierungsrat; Hauptwerk Die Pflanze 1882; Cohn gilt als Begründer der modernen Bakteriologie. DBA 197,102-117; DBA NF 231,287-310; NDB 3,313f.;ADB 47,503-505 Conwentz, Hugo 20.1.1855 Danzig -12.5.1922 Berlin, mennonit. Ausbildung am Danziger Realgymnasium; 1873-1876 St. Nw in Breslau u. Göttingen; Schüler der Botaniker Goeppert u. Cohn; 1876 Pr. in Breslau, anschließend Assistent am Zool. Institut Breslau; 1879 Berufung zum Leiter des Westpreußischen Provinzialmuseums in Danzig; paläobotanische, pflanzengeographische u. vorgeschichtliche Arbeiten; 1890 Ernennung zum Prof.; begr. Naturdenkmalpflege in Deutschland; 1906 Staat! Kommissar für Naturdenkmalpflege in Preußen. DBA NF 235,376-385; DBE 2,367f.; NDB 3,347; Knaut: Zurück zur Natur (1993) Cotta, Bernhard 24.10.1808 Klein-Zillbach/Meiningen -14.9.1879 Freiberg/Sachsen, ev. Sohn des Forstrats Heinrich Cotta; 1827-31 St. zunächst an der Forstakademie Tharandt, dann an der Bergakademie Freiberg; 1832 Pr. in Heidelberg und Rückkehr nach Tharandt; Mitbearb. der geognost. Karte von Sachsen, später auch von Thüringen; seit 1839 fest angestellt an der Forstakademie, 1840 zu deren Sekretär ernannt; 1842-74 Prof. Geognosie Bergakademie Freiberg; 1848 Kandidatur für die Frankfurter Nationalversammlung und Vorstand des Vaterlandsvereins und des Hirnvereins in Freiberg; veröffentlichte seit 1848 Briefe über Alexander von Humboldt's Kosmos; 1859 geadelt; 1862 Bergrat; versch. Reisen ins europ. Ausland, 1868 AltaiReise im Auftrag der russischen Regierung. DBA 204, 48-51; DBA NF 238, 340-347; DBE 2, 383; ADB 47, 538f.; NDB 3, 381; Wagenbreth: Bernhard von Cotta (1965), ders.: Bernhard von Cotta (1985) Cotta (von Cottendorf), Johann Friedrich 27.4.1764 Stuttgart - 29.12.1832 Stuttgart, ev. 1782 Beginn des St. der Mathematik u. Geschichte in Tübingen, später der Jurisprudenz; Aufenthalt in Paris; Hofgerichtsadvokat in Tübingen; kaufte 1787 von seinem Vater Christoph Friedrich Cotta das Verlagsgeschäft; gewann Schiller und später Goethe, Herder, Schelling sowie zahlreiche weitere Größen des Uterarischen u. intellektuellen Lebens als Autoren; bis 1867 blieben C. u. sein Sohn Georg die einzigen Verleger von Goethe u. Schiller; seit 1798 Hg. des Vorläufers der Allgemeinen Zeitung, die seit 1810 in Augsburg erschien; seit 1807 Hg. des Morgenblatts für gebildete Stände, 1820 um ein Kunstblatt und ein Literaturblatt erweitert; grd. 1827 in München die Literarisch-Artistische Anstalt u. 1828 die Zeitschrift Das Ausland-, seit 1815 am Württemberg. Verfassungskampf beteiligt, trat für eine fortschrittliche Staatsreform ein; 1819-30 Mitglied der Zweiten Kammer des Württemberg. Landtags; hob als erster Grundbesitzer in Württemberg die Leibeigenschaft auf; 1815 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1817 Erneuerung des Adels u. Ernennung zum Geheimen Hofrat durch Friedrich Wilhelm III. von Preußen, 1822 Freiherrenwürde durch Max Joseph von Bayern. DBA 204, 143-177; DBA NF 239, 11-86; DBE 2, 384; ADB 4, 527-533; NDB 3, 376-379; Lohrer: Cotta (1959) Cotta, Johann Georg 19.1.1796 Tübingen -1.2.1863 Stuttgart, ev. Sohn von Johann Friedrich Cotta; 1815-17 St. Philosophie, Ästhetik u. Politik in Göttingen, Heidelberg u. Tübingen; 1819-21 im Württemberg, diplomatischen Dienst in Frankfurt und Wien; 1821 Eintritt in den Verlag des Vaters; 1824-26 Red.
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des Morgenblatts; erbte den Verlag zusammen mit seiner Schwester Ida 1832; Grd. u. Red. der Deutschen Viertelsjahresschrift, 1833^9 Mitglied der Zweiten Kammer des Württemberg. Landtags; verlegte neben den Klassikern Goethe und Schiller auch Freiligrath, Geibel, Kinkel, Lenau, List, Ranke u. Lorenz von Stein, langjähriger Verleger A. von Humboldts. DBA 204,178; DBE 2, 384; ADB 4, 532f.; NDB 3,379f.; Kramer: Georg von Cotta (1985) Czermak, Johann Nepom.uk 17.6.1828 Prag -17.9.1873 Leipzig, kath. 1845-50 St. Medizin in Wien, Breslau u. Würzburg; 1850 Pr. in Würzburg; 1851 nach Prag, dort Assistent am Physiol. Institut u. Habil.; 1855 Prof. der Zool. in Graz, 1856 Prof. der Physiologie in Krakau, 1858-60 in Pesth; danach medizin. Arbeiten in Paris, London u. Prag, wo er ein Privatinstitut begründete; C. erfand den Kehlkopfspiegel; 1865-70 Prof. der Physiologie in Jena, seit 1870 in Leipzig. DBA 216,109-117; DBA NF 246,238-243; DBE 2,418; ADB 4,672f.; NDB 3,458 Dahl, Friedrich 24.6.1856 Rosenhofer Brök/Holstein - 29.6.1929 St. Nw in Freiburg i.B., Berlin u. Kiel; 1884 Pr.; 1885 Assistent am Zool. Institut in Kiel; 1887 Habil.; 1889 Teilnahme an Plankton-Expedition; 1898 Kustos am Zool. Museum Berlin; nahm 1907 an der Berliner Wasmann-Diskussion teil; wichtige Arbeiten zur biologischen u. ökologischen Forschung; führte 1908 den Begriff,Biotop' in die wissenschaftliche Diskussion ein. DBA 217,338-339; DBA NF 249,119f. Dammer, Otto 20.4.1839 Stettin - 8.10.1916 Berlin-Friedenau gehörte zum Kreis um Roßmäßler in der Leipziger Arbeiterbildungsbewegung, Mitbegr. des Arbeitervereins Vorwärts; 1862/63 Mitglied des Leipziger Zentralkomitees zur Vorbereitung eines Arbeiterkongresses; im Mai 1863 auf der Gründerversammlung des ADAV zum Bevollmächtigten für Leipzig ernannt, Vizepräsident des ADAV, stellte Ende 1864 seine politische Tätigkeit ein; seither publizistisch und redaktionell im nw Bereich tätig; Hg. der Zeitschrift Humboldt. DBA NF 251, 210; DBE 2,437; NDB 3,501; Na'aman: Otto Dammer (1973), ders.: Na'aman: Die Konstituierung (1975), Offermann: Arbeiterbewegung (1979), S.375f., Anm. 219-221 Dammer, Udo 8.1.1860 Apolda - 20.11.1919 Großrambin/Kolberg Sohn von Otto Dammer; 1877-79 Gärtnerlehre in Potsdam; 1879-84 Ausbildung am Kgl. Pomologischen Institut in Proskau; 1881-82 St. Nw in Berlin; 1882-86 am Bot. Garten in Petersburg; 1886-88 erneut St. in Berlin; 1888 Pr. in Freiburg i.B.; seit 1889 am Kgl. Bot. Museum in Berlin; gab mit Otto Dammer 1888 die 6. Aufl. von Roßmäßlers Vier Jahreszeiten heraus; Begr. und Hg. der Blätter flir Pflanzenfreunde; Ref. der DGVN. DBA 219,342; DBA NF 251,212-13 Dennert, Eberhard 31.7.1861 Pützerlin/Pommern -18.6.1942 Bad Godesberg, ev. Besuch des Realgymnasiums in Lippstadt, dort Schüler von Hermann Müller; St. Nw in Marburg u. Bonn; 1884 Pr. in Marburg, 1885 Staatsexamen; bis 1888 Assistent A. Wigands am Bot. Institut; 1888 Red. für Nw u. Medizin an der Deutschen Enzy-
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klopädie in Rudolstadt; 1889-1907 Lehrer am Evangel. Pädagogium in Godesberg; Anhänger Adolf Stoeckers u. Mitbegr. der Kirchlich-sozialen Konferenz, deren Arbeitskommission Apologetik und Naturwissenschaft D. leitete; grd. 1907 den Keplerbund, bis 1920 dessen wissensch. Leiter; Juli 1908 Prof.-Titel; konzipierte das dreibändige Dennerts Volks-Universal-Lexikon; 1903-10 Hg. der Zeitschrift Glauben und Wissen, 1909-20 Hg. der Zeitschrift Unsere Weif, 1921 Dr. theol. h.c. Erlangen; insges. 94 Bücher mit Gesamtauflage von über 300000, mehr als 3000 Flugschriften u. Zeitschriftenaufsätze (nach NDB); enge Kontakte zu A. Braß (bis 1912), G. Portig, Fr. Ratzel, J. Reinke und E. Wasmann. DBA 230,76-78; DBA NF 262,335-343; DBE 2,489; NDB 3, S. 603; Dennert: Hindurch (1937), Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969) Diesterweg, Friedrich Adolph Wilhelm 29.10.1790 Siegen - 6.7.1866 Berlin, ref. 1808-11 St. Mathematik, Nw, Philosophie u. Geschichte in Herborn u. Tübingen; Pr. in Tübingen; Hauslehrer in Mannheim; Lehrer in Worms u. 1813 an der Musterschule in Frankfurt/M., wo er das pädagogische Programm Pestalozzis kennenlernte; 1818 Direktor der Lateinschule Elberfeld; 1820 Direktor des Schullehrerseminars Mörs; grd. 1827 die Rheinischen Blätter für Erziehung und Unterricht-, 1832-47 Direktor des Seminars für Volksschulen in Berlin, 1847 des Amtes enthoben, 1850 Pensionierung; seither Privatgelehrter, Schriftsteller u. Publizist; Verf. verschiedener Lehrbücher, 1840 1. Aufl. der Populären Himmelskunde; publizist. Widerstand gegen die Schulregulative von 1854; 1858 Wahl in das Preußische Abgeordnetenhaus; stark von den Schriften Rousseaus, Pestalozzis, Schleiermachers u. der rationalistischen Kirchenkritik beeinflußt; Eintreten für eine Erneuerung und die Unabhängigkeit der Volksbildung, im besonderen für das Volksschulwesen und die Verbesserung der Lehrerbildung und gegen den konfessionellen Religionsunterricht. DBA 235, 412-421; DBA NF 271, 277-359; DBE 2, 526; ADB 5,150-153; NDB 3, 666f.; Langewiesche: Bildungsbürger (1992) Dodel-Port, Arnold 16.10.1843 Affeltraugen/Thurgau - 11.4.1908 Zürich 1860-63 Lehrerseminar in Krenzlingen; 1863-64 Lehrer in Hauptweil; 1865-69 St. in Genf, Zürich u. München; Schüler des Botanikers Nägeli; 1870 Habil. für Botanik in Zürich, 1872-74 Vorlesungen über die Darwinsche Entwicklungslehre; 1880 ao, 1883 o Prof. der Botanik in Zürich, 1903 aus gesundheitlichen Gründen emeritiert; 1899-1901 Präsident des Deutschen Freidenkerbunds, Gründungsmitglied des Deutschen Monistenbunds; spektakulärste Veröffentlichung Moses oder Darwin (16 Aufl. bis 1930). DBA 243,129-130; DBA NF 279,299-302; DBE 2,566f.; Beyl: Arnold Dodel (1984) Doflein, Franz 5.4.1873 Paris - 24.8.1924 Obernigk/Breslau, ev. 1893-95 St. Zool. u. Medizin in München; 1895/96 Hilfsassistent bei A. Goette in Straßburg; 1896-98 Hilfsassistent in München; 1887 Pr. bei R. Hertwig; 1897/98 Assistent an der Biolog. Station zur Untersuchung von Fischkrankheiten in München; 1898 Amerikareise im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; seit 1898 an der Zoolog. Staatssammlung München; 1903 Habil. Zool.; 1904/5 Ceylon- u. Japan-Reise; 1910 2. Direktor der Zool. Staatssammlung; 1912 o. Prof. Zool. in Freiburg, 1918-23 in Breslau; Forschungen zur Protozoenkunde, Tierpsychologie u. Ökologie; hohe künstlerische Begabung, malte u. verfaßte Novellen. DBE 2,581; NDB 4,40
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Dohm, Anton Felix 29.12.1840 Stettin - 26.9.1909 in München, ev. Sohn von Carl August Dohm, einem angesehenen Stettiner Entomologen; 1860-65 St. Medizin u. Zool. in Königsberg, Bonn, Berlin, Jena u. Breslau, wo er promoviert wurde; 1865/66 Assistent bei Haeckel; 1868 Habil. in Jena; seit 1870 Verhandlungen in Neapel zum Aufbau einer Zoologischen Station, 1874 Eröffnung der Station, der D. als erster Direktor bis 1909 vorstand; wandte sich philosophisch unter Einfluß F. A. Langes vom Materialismus und von Haeckel ab. DBA NF 283,232-255; DBE 2,584; NDB 4,54-56; Partsch: Die Zoologische Station (1980), Simon (Hg.): Anton Dohm (1980), Groeben (Hg.): Emil du Bois-Reymond (1985), Bauer: Bürgerwege (1991), Groeben/Wenig (Hg.): Anton Dohm (1992) Dreher, Eugen 21.1.1841 Stettin - 6.3.1900 Berlin St. Nw u. Philosophie in Bonn, Göttingen, Berlin u. Greifswald; 1867 Pr. in Göttingen; 1880 Habil. für Psycho-Physiologie in Halle; 1883 Aufgabe der Lehrtätigkeit, Reisen und schriftstellerische Arbeit; seit 1887 in Berlin; Materialismusgegner. DBA 251,270-274; DBA NF 190,106 Droßbach, Max verfaßte 1858 Die Harmonie der Ergebnisse der Naturforschung; stark von Leibniz beeinflußt. DBA NF 292,345 Du Bois-Reymond, Emil 7.11.1818 Berlin - 26.12.1896 Berlin, ref. 1837-43 St. verschiedener Fächer, dann auf Mathematik, Nw u. Medizin konzentriert in Berlin u. Bonn; Schüler von Johannes Müller; 1841 grd. Du Bois in Berlin einen Verein jüngerer Naturforscher, der 1845 in der Physikalischen Gesellschaft aufging, der Du Bois bis 1896 vorstand; vertrat mit Emst Brücke, Carl Ludwig u. H. Helmoltz die neue Schule der Physiologie; 1843 Pr. Medizin in Berlin, erste Veröffentlichungen über den Froschstrom u. das Verhältnis der Nerven zur Elektrizität; 1846 Habil. mit Untersuchungen über die tierische Elektrizität; 1849-55 Assistent bei J. Müller, 1849-53 Anatomielehrer an der Berliner Kunstakademie; 1851 Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften; 1855 ao Prof., 1858 o Prof. für Physiologie in Berlin nach der Teilung des Lehrstuhls von J. Müller u. Direktor des Physiologischen Instituts (1877 Neubau, 1878 Eröffnung); Hg. des Archivs für Anatomie und Physiologie; mehrmals Dekan der Berliner medizinischen Fakultät; ab 1867 ständiger Sekretär der physikal.-mathemat. Klasse der Preußischen Akademie der Wissenschaften; 1869/70 und 1882/83 Rektor der Berliner Universität; 1872 auf der 45. VDNA in Leipzig Rede Über die Grenzen des Naturerkennens (,Ignorabimus', 1880 ergänzt durch Die sieben Welträtsel); 1874 Mitglied u. Vors. des Physiologischen Vereins, Mitarbeit in der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie u. Urgeschichte; Vors. der Humboldt-Stiftung; zahlreiche weithin beachtete Festreden und Jubiläumsansprachen, zumeist als Sekretär der Akademie der Wissenschaften; seit den 1860er Jahren in den Wintersemestern in Berlin regelmäßig Vorträge für Hörer aller Fakultäten. DBA 122,289-300; DBA NF 150,336-348; DBE 2,631f.; ADB 48,118-126; NDB 4, 146-148; Reden von Emil Du Bois-Reymond (1912), Jugendbriefe von Emil Du Bois-Reymond (1918), Zwei große Naturforscher (1927), Engelhardt: Du Bois-Reymond (1976), Dokumente einer Freundschaft (1986), Ruff: Emil du Bois-Reymond (1981), Mann (Hg.): Naturwissen (1981), Vidoni: Ignorabimus (1991), Lenoir: Politik (1992)
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Düngen, Bruno 1.2.1853 Erdmannsdorf/Sachsen -15.2.1930 Berlin 1874-77 St. in Berlin; Dozent, später Prot an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin; enge Zusammenarbeit mit K. Ruß, 1876-85 Mit-Hg. der Zeitschrift Isis/Liebhabereien; seit 1890 Red. der Blätter für Aquarien- und Terrarienkunde; Experte für Geflügelzucht. DBA NF 296,287; Gebhardt II, 38f. Du Prel, Carl 3.4.1839 Landshut - 5.8.1899 Heiligkreuz/Tirol, kath. 1857-59 St. Jura u. Philosophie in München; 1859-71 Offizierslaufbahn; 1868 philosoph. Pr. in Tübingen; seit 1871 freier Schriftsteller, versuchte seit 1873, die Darwinsche Entwicklungslehre u. das Ausleseprinzip auf das Weltall zu übertragen (Der Kampf ums Dasein am Himmel, 3. Aufl. 1882 als Entwicklungsgeschichte des Weltalls); Beschäftigung mit Hypnotismus, Mystik u. schließlich dem Spiritismus; stark von Schopenhauer beeinflußt; 1885 Philosopie der Mystik, 1888 Monistische Seelenlehre, 1894/95 Die Entdeckung der Seele, Beiträge für die Zeitschrift Sphinx; Mitbegr. einer experimentellen Parapsychologie u. ein Hauptvertreter des Spiritismus in Deutschland, Begr. u. Ehrenpräsident der Gesellschaft für wissenschaftliche Parapsychologie in München. DBA 258,151-157; DBA NF 299,380; DBE 2,654; ADB 48,199-204; NDB 4,200f. Dyrenfurth, Günter Oskar 12.11.1886 Breslau -14.4.1975, ev., ar. St. in Freiburg, Wien u. Breslau; 1909 Pr.; 1907-12 Mitarbeiter der Geol. Karte der Schweiz; 1913 Habil. für Geologie u. Paläontologie; 1919-33 ao Prof. in Breslau; 1930 u. 1934 Himalaya-Expeditionen; 1933 in die Schweiz emigriert; nw Berichterstatter für Daheim. DBA NF 301,327-330 Eimer, Theodor 22.2.1842 Stäfa/Zürich - 29.5.1898 Tübingen, ev. ab 1862 St. Medizin u. Nw in Tübingen, Freiburg, Heidelberg u. Berlin; 1867 Dr. med. in Berlin, 1869 Dr. phil. in Würzburg; 1870 PD für Zool. in Würzburg; 1874 Inspektor des Naturhistorischen Museums Darmstadt u. ao Prof. am Polytechnikum Darmstadt; 1875-98 o Prof. der Zool. u. Vergleichende Anatomie in Tübingen; Mitbegründer der Deutschen Zoologischen Gesellschaft; Gegner der Darwinschen Selektionstheorie, vertrat Lehre von Gesetzmäßigkeiten bei Artvariation u. der Vererbung erworbener Eigenschaften; Auseinandersetzungen mit A. Weismann. DBA 273,305-307; DBA NF 319,80-82; DBE 3,62; ADB 48,300f.; NDB 4,393f. Falb, Rudolf 13.4.1838 Obdach/Steiermark - 29.9.1903 Schöneberg, kath., seit 1872 ev. St. kathol. Theologie in Graz; Priesterweihe; 1866-69 Hauslehrer; 1872 Konversion zum Protestantismus; St. Mathematik u. Nw in Prag; Lehrer an der Handelsschule Prag; 1868-77 Hg. der Zeitschrift Sirius; 1880 Amerikareise; seit 1882 als Schriftsteller und Vortragsredner in Leipzig, Berlin u. Wien; vor allem meteorologische und geologische Studien; galt als eigenwilliger Wetterprophet, der Theorien über den Zusammenhang von Sonne- und Mondstellung und Erdbeben aufstellte; auch sprachgeschichtliche und kulturhistorische Arbeiten; 1894 Hg. der geheim wissenschaftlichen Zeitschrift Teut. DBA 306,6-7; DBA NF 351,47-54; DBE 3,222; Archenhold: Rudolf Falb (1903/4)
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Falkenhorst, C. (= Pseudonym für Stanislaus von Jezewski) 5.2.1853 Zakrzewo/Westpreußen - 27.10.1913 Jena Publizist, Verfasser von Reise- u. Kolonialgeschichten. DBA NF 352,194-195 + 656,91 Fechner, Gustav Theodor 19.4.1801 Muskau/Niederlausitz - 18.11.1887 Leipzig, ev. 1817 an der Chirurgischen Akademie Dresden; ab 1817 St. Medizin u. Nw in Leipzig; 1823 Habil.; 1834-40 o Prof. der Physik in Leipzig; 1840 schweres körperliches Augen- und Nervenleiden hindert ihn in den folgenden Jahren an der Ausübung des Berufs, lebt zurückgezogen; 1846-75 Vorlesungen über Naturphilosophie u. Ästhetik; entwickelte naturphilosophisches System mit starken Einflüssen mystischer Gedanken; begriff Welt als Stufenordnung von Bewußtseinseinheiten, den gesamten Kosmos als beseelt; Begründer der Psychophysik u. der experimentellen Ästhetik; Lehre vom psychophysischen Parallelismus. DBA 309,158-166; DBA NF 355,213-269; DBE 3,238; ADB 55, 756-763; NDB 5, 37f. Floericke, Kurt 23.3.1869 Zeitz - 23.10.1934 Stuttgart, ev. bis 1909 1889-91 St. Nw in Breslau u. Marburg; 1893 Pr. über Avifauna Schlesiens in Marburg, danach Assistent bei Richard Greef; seit 1893 Reisen in Afrika, Asien, Südosteuropa u. Südamerika; lebte drei Jahre in Marokko; 1897/98 als Assistent an der Ornithologischen Zentrale in Budapest; später in Wien als Beamter im Landeseisenbahnamt, Leiter einer Lehrmittelhandlung u. freier Schriftsteller, aktiv im Vorstand des Reichsbundes für Vogelkunde und Vogelschutz; seit 1907 in der Redaktion des Kosmos Stuttgart; diverse Vortragsreisen durch Deutschland, Ref. des Weimarer Kartells; ornithologische Volkshochschulkurse in Jena; 1909 im Kosmos/Handweiser Aufruf zur Bildung von Naturschutzparks, Mitbegr. des Vereins Naturschutzpark; nach dem Austritt aus der ev. Landeskirche 1909 Vors. der Stuttgarter Ortsgruppe des Deutschen Monistenbundes; Freimaurer u. Stuhlmeister der Stuttgarter Loge des Reformfreimaurerbundes zur aufgehenden Sonne, seit 1913 Red. der Bundeszeitschrift Sonnenstrahlen; Präsidiumsmitglied im Bund deutscher Forscher; wissenschaftlicher Leiter der Süddeutschen Vogelwarte; 1914 Mitbegr. Deutsch-Spanische Gesellschaft; 1915 u. 1917 Reisen an der Ostfront auf Vermittlung der OHL; 1919 Begr. der Süddeutschen Vogelwarte; Hg. der Mitteilungen über die Vogelwelt u. Mitarbeiter von Jagdzeitschriften. DBA NF 379,175-177; DBE 3,352t; Gebhardt 1,96 u. II, 159f. u. III, 105; Festschrift Kurt Floericke (1917), M. Floericke: Zum Gedächtnis des 70. Geburtstages (o.J./1939), Bolle: Monistische Maurerei (1981) Foerster, Wilhelm 16.12.1832 Grünberg/Schlesien - 18.1.1921 Bornim/Brandenburg, ev. im Elternhaus starke Sympathien für die freireligiöse Bewegung; 1850-54 St. Astronomie in Berlin u. Bonn, dort 1854 Pr.; 1854/55 einjähriger Militärdienst; 1855-63 Assistent an der Kgl. Sternwarte Berlin; 1858 Habil. in Berlin; seit 1860 populäre Vorträge, unter anderem in der Singakademie; 1863 ao Prof. Berlin u. Mitbegr. der Berliner Astronomischen Gesellschaft; seit 1864 Mitglied der Berliner MittwochsGesellschaft für wissenschaftliche Unterhaltung; 1865-1904 Direktor der Sternwarte Berlin; 1872 Ernennung zum o Prof. an der Univ. Berlin, begr. das Seminar zur Ausbildung von Studierenden im wissenschaftlichen Rechnen; 1868-85 Direktor der Normal-Eichungskommission; Mitbegr. u. Mitglied im Kuratorium der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt; 1888/89 Mitbegr. der Berliner Urania; 1891/92
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Rektor der Univ. Berlin; zeitweise im Vorstand des Wissenschaftlichen Centraivereins; 1892 Mitbegr. Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur u. der Deutschen Friedensgesellschaft; Mitbegr. u. Vorstandsmitglied der DGVN; seit 1905 Ehrenpräsident der Conciliation Internationale, seit 1912 Mitglied des europäischen Rats der Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden. DBA 331,197-199; DBA NF 382,277-302; DBE 3,365; NDB 5,275t; Foerster: Lebenserinnerungen (1911),Tiemann: Wilhelm Foersters Wirken (1990) Forster, Georg 27.11.1754 Nassenhuben/Danzig -10.1.1794 Paris, ref. begleitete 1772-75 seinen Vater Johann Reinhold Forster u. James Cook auf der Weltumseglung (Reise um die Welt, engl. 1777, dt. 1778-80); 1779-84 Prof. für Naturgeschichte in Kassel, bis 1787 in Wilna; 1787 unvollendeter Plan, für den Verleger Campe nw Handbücher für Lehrer u. Schüler zu verfassen; ab 1788 Universitätsbibliothekar in Mainz; 1790 Reise mit A. von Humboldt durch Flandern, Holland, England u. Fankreich, literarische Auswertung in den Ansichten vom Niederrhein (1791-94); 1792/93 Mitglied der jakobinischen Mainzer Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit; 1793 Präsident des Jakobinerklubs, dann Vizepräs, des Rheinisch-deutschen Nationalkonvents; nach der Eroberung Mainz' durch gegenrevolutionäre Truppen Emigration nach Paris; 1777 Mitglied der Royal Society, 1780 der Leopoldina, 1786 der Preußischen Akademie der Wissenschaften; F. gehört zu den herausragenden Autoren der deutschen Reiseliteratur. DBA 334,15-95,241t; DBA NF 385, 56-86; DBE 3, 376; ADB 7,172-181; NDB 5, 301; Moleschott: Georg Forster (1854), Fischer: Reisen (1990) Francé, Raoul H. (Rudolf Heinrich) 20.5.1874 Wien - 3.10.1943 Budapest, kath. Besuch der Handelsakademie in Budapest; St. Medizin; Assistent am Polytechnikum Budapest; 1896 in Breslau bei F. Cohn; Promotion scheiterte aus bürokratischen Gründen; Lehrer an der Handelsakademie Budapest und Arbeit als naturkundlicher Illustrator; 1898 Mitarbeit an der Pflanzenphysiologischen Versuchsstation Ungarisch-Altenburg; Arbeit am Naturkundemuseum Budapest; seit 1901 als freier Schriftsteller in München; Beiträge für den Kosmos/Handweiser, Mitglied im Ehren- und Freundesrat des Kosmos/Handweiser mit W. Bölsche u. M. W. Meyer; Mitbegr. der Zeitschrift Mikrokosmos, Grd. u. wissensch. Leiter der Deutschen Mikrologischen Gesellschaft; seit 1910 Hg. der Zeitschrift Natur; 1907-19 Direktor des Biologischen Instituts in München, danach Rückzug als Privatgelehrter; Mitbegr. der Deutschen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft; Hg. der Zeitschrift für den Ausbau der Entwicklungslehre; in zweiter Ehe verheiratet mit Annie Francé-Harrar; vertrat Psycholamarckismus, naturphilosophische Arbeiten; 1954 wurde in München von Anton Kaiser ein Raoul-Francé-Bund gegründet. DBA NF 387, 54-62; DBE 3, 386f.; NDB 5, 313t; Francé: Der Weg zu mir (1927), Annie Harrar-Francé: So war's um Neunzehnhundert. Mein Fin de Siècle. München, Wien 1962, S. 22-27,141-148 Frauenstädt, Julius 17.4.1813 Bojanowo/Posen -13.1.1879 Berlin, seit 1833 christl. seit 1833 St. Theologie u. Philosophie in Berlin; 1841-44 Hauslehrer in Berlin, 1844-46 in Rußland; Kontakte zu Schopenhauer; grd. 1848 Lesecabinett in Berlin. DBA NF, 288-291; DBE 3,418; ADB 48,731f.
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Friedrich, Friedrich 2.5.1828 Groß-Vahlburg/Braunschweig - 13.4.1890 Plauen, ev. seit 1847 St. Theologie, Philosophie, Geschichte u. Literatur in Göttingen, Halle/S. u. Jena; Pr. in Jena; seit 1853 Mitarbeiter der Leipziger Illustrierten Zeitung; 1867 Übersiedlung nach Berlin, zeitweise Vors. des Vereins Berliner Presse; 1872 nach Eisenach, 1876 nach Leipzig, 1885 nach Dresden; Schriftsteller; zeitweise Vors. des Allgemeinen Deutschen Schriftstellerverbandes. DBA 350,301-307; DBE 3,479; ADB 49,139-142 Fries, Jakob Friedrich 23.8.1773 Barby/Elbe - 10.8.1843 Jena Schulbildung in herrnhutischen Bildungsanstalten; 1792-95 im theologischen Seminar Niesky; 1795-97 St. Philosophie u.Theologie in Leipzig, dann in Jena; 1798-1800 Hauslehrer in der Schweiz; 1801 Pr. u. Habil. in Jena; 1805 ao Prof. der Mathematik u. Philosophie in Jena, dann in Heidelberg, seit 1813 auch für Physik, seit 1816 Prot der Philosophie in Jena; 1817 Redner beim Wartburgfest; 1819 suspendiert, seit 1821 erneut Vorlesungen u. 1824 als Professor rehabilitiert, 1837 wieder volle Lehrfreiheit für Philosophie; opponierte gegen die idealistische Spekulation u. die Schellingsche Naturphilosophie. DBA 351,132-144; DBA NF 408,138-152; DBE 3,483; ADB 8,73; NDB 5,608f. Giebel, Christoph Gottfried Andreas 13.9.1820 Quedlinburg -14.11.1881 Halle/S., ev. 1841-45 St. Mathematik u. Nw in Halle; 1845 Pr. in Halle; 1848 Habil. für Paläontologie u. Geologie; Leitung des Naturwissenschaftlichen Vereins für Sachsen und Thüringen; seit 1853 Red. der Zeitschrift für die gesummten Naturwissenschaften; gab 1854 mit J. Schaller die Zeitschrift Das Weltall heraus; 1858 ao Prof. Halle, Vertreter für die Professoren Germar u. Burmeister; 1861 o Prof. Zool.; 1859-64 Naturgeschichte des Thierreichs, 1868 Vogelschutzbuch; seit 1867 Mitglied der Leopoldina; Gegner des Materialismus u. des Darwinismus. DBA 390,210; DBA NF 447,7-8; DBE 3,678; ADB 49,683f.; NDB 6,370; Gebhardt 1,112 u. II, 162; Christoph Gottfried Andreas Giebel (1881) Glaser, Ludwig 9.2.1818 Grünberg/Oberhessen - 20.1.1898 Mannheim, ev. 1835-37 Schullehrerseminar Friedberg/Hessen; 1837-39 St. Nw u. Philologie in Gießen; danach an der Höheren Gewerbe- und Realschule zu Darmstadt; 1842 Leitung einer Privatschule in Biedenkopf/Oberhessen; 1842 Pr. in Gießen; 1846 an die Landesrealschule; 1856 an die Realschule zu Friedberg; 1874 Direktor der Realschule in Bingen; 1872 Ernennung zum Prof.; seit 1879 in Mannheim im Ruhestand; Arbeiten zur Flora u. Fauna Hessens u. zur Mimikry. DBA 395,121-122; DBA NF 452,307; DBE 4,24; NDB 6,431f.; ADB 49,684; Gebhardt 1,113 Goldschmidt, Richard Benedikt 12.4.1878 Frankfurt/M. - 24.4.1958 Berkeley, Cal., jüd. 1896-1900 St. Medizin u. Zool. in Heidelberg und München; 1902 Pr. in Heidelberg bei Otto Bütschli; mehrere Aufenthalte an meeresbiologischen Stationen; 1902/3 Militärdienst; 1903-4 Assistent am Zoolog. Institut Richard Hertwigs in München; 1904 Habil. für Zool. und Vergleichende Anatomie; 1909 ao. Prof., hielt 1909/10 die erste genetische Vorlesung in Deutschland; 1913 an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in Berlin-Dahlem berufen, dort seit 1919 als 2. Direktor tätig; 1915-19 in den USA; 1936 Emigration in die USA, bis 1948 Prof. für Genetik und Zytologie in
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Berkeley; G. entwickelte die erste allgemeine und experimentell gestützte genetisch-entwicklungsphysiologische Theorie, modifizierte aber seine Ansichten mehrfach und kam in den USA zu der Vorstellung von einer Makro-Evolution. DBE 4,85; NDB 6,611f.; Goldschmidt: Im Wandel (1963) Grottewitz (eigentlich: Pfütze), Curt 22.2.1866 Grottewitz bei Leipzig - 16.7.1905 St. Literaturgeschichte, Germanistik u. Philosophie in Leipzig u. Berlin; 1890 Pr. über die Sprache in Lenzens Dramen; seit 1890 Red. des Magazins für Literatur, 1893 persönüche Krise und Wende zum naturwissenschaftlichen Schriftsteller; ertrank im Müggelsee bei Berlin. DBA NF 485,410-412; W. Bölsche: Zur Erinnerung (1907) Guenther, Konrad 23.5.1874 Riga - 26.1.1955 Freiburg i.B., ref. Besuch einer Privatschule in Riga; 1896-99 St. in Bonn, Leipzig u. Freiburg i.B.; 1899 Pr., Assistent am Zool. Institut in Freiburg; danach außereuropäische Reisen; 1902 Habil. für Zool. in Freiburg, 1913 ao Prof.; unterstützte die akademische Freilandforschung, die Vogelschutz- und Naturschutzbewegung, entwickelte eine sog. Deutsche Heimatlehre; 1933 (31949) Natur als Offenbarung. DBA NF 493,255-260; DBE 4,242; NDB 7,276f.; Gebhardt 1,128 u. II, 163 Günther, Siegmund 6.2.1848 Nürnberg - 5.2.1923 München, ev. 1865-70 St. Mathematik u. Physik in Erlangen, Heidelberg, Leipzig, Berlin u. Göttingen; 1870 Pr. in Erlangen, dort auch 1872 Habil.; 1874 PD am Polytechnikum München; 1876 Prof. für Mathematik u. Physik am Gymnasium zu Ansbach; 1886-1920 als Nachfolger Fr. Ratzels o Prof. der Geographie an der TH München; 1878-84 Mitglied des Reichstags für die Freisinnige Partei, 1894-99 u. 1907-1918 Mitglied des Bayerischen Landtags für die Liberale Vereinigung; 1876-1886 MitRed. der Zeitschrift für den mathematischen und naturwiss. Unterricht, 1892-1903 Hg. der Zeitschrift Das Ausland; Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Leopoldina; Lehrbücher u. wissenschaftshistorische Arbeiten; 1906 Mit-Hg. der Mitteilungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften-, 1911-14 Rektor der TH München. DBA NF 493,356-394; DBE 4,243; NDB 7,266£ Gutzmer, August 2.2.1860 Neuroddahn -10.5.1924 Halle, ev. 1881-83 St. Mathematik in Berlin u. Halle/S., dort 1893 Pr.; 1894-96 Assistent TH Charlottenburg; 1896 Habil. in Halle/S.; 1899 ao, 1900 o Prof. Mathematik in Jena, seit 1905 in Halle; seit 1893 im Vorstand der Deutschen Mathematiker-Vereinigung und Red. der Jahresberichte-, 1904 Vors. der Unterrichtskommission der GDNA u. des Deutschen Ausschusses für den mathematischen u. nw Unterricht; zeitweise stellvertr. Red. der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift-, Mitglied der Leopoldina u. 1922-24 deren Präsident. DBA NF 500,1-9; DBE 4,276; NDB 7,358 Haacke, Wilhelm 23.8.1855 Clenze/Lüchow - 6.12.1912 Lüneburg, ev. St. Nw in Jena, 1878 Pr. bei Haeckel, 1878/79 dessen Assistent; kurzzeitig auch Assistent bei K. Möbius in Kiel; 1881 Auswanderung nach Neuseeland, Assistent am Museum in Christchurch; 1882-84 Museums-Direktor in Adelaide; 1886 Rückkehr
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nach Deutschland; 1888-93 Direktor des Zool. Gartens in Frankfurt/M.; 1890 Habil. an derTH Darmstadt, dort bis 1897 PD; 1894 Bruch mit Haeckel; seit 1897 Privatgelehrter, zuletzt Gymnasial-Oberlehrer; vertrat eine neolamarckistische Position, prägte 1893 den Begriff der Orthogenesis; Mitarbeit an der 3. Aufl. von Brehms Tierleben, hierzu auch Ergänzungsband Die Schöpfung der Tierwelt. DBA NF 501, 103; DBE 4, 282; NDB 7, 367; Uschmann: Geschichte (1959), S. 115-117; Scherpner: Von Bürgern (1983), S. 69-75 Haeckel, Emst 16.2.1834 Potsdam - 9.8.1919 Jena, ev. bis 1910 St. Medizin in Berlin, Würzburg u. Wien; 1856 Assistent bei Rudolf Virchow; Studien an niederen Seetieren auf Helgoland u. in Nizza; 1857 Pr. zum Dr. med.; 1858 Approbation als praktischer Arzt in Berlin; entdeckte 1859/60 auf Studiemeise in Italien zahlreiche Radiolarienarten; 1861 Habil. an der med. Fakultät Jena für Vergleichende Anatomie, 1862 ao Prof. in Jena; Wintersemester 1862/63 erste Vorlesung über die Entwicklungstheorie Darwins; 1863 auf der 38. VDNA in Stettin Vortrag „Ueber die Entwickelungstheorie Darwins"; 1863 Mitglied der Leopoldina; Febr. 1864 Tod seiner ersten Frau Anna Sethe; 1865 Dr. phil. und o Prof. für Zoologie in der Philosophischen Fakultät Jena; erstes Hauptwerk 1866 Generelle Morphologie der Organismen, 1868 popularisiert in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte; 1876 u. 1878 Vortragsreisen; 1877 auf 50. VDNA in München Vortrag „Die heutige Entwickelungslehre im Verhältnisse zur Gesammtwissenschaft" mit der Forderung, die Entwicklungslehre in die Schule einzubringen, darüber Auseinandersetzung mit Virchow; zum Jahrhundertende hin Abkehr von fachwissenschaftücher Forschung u. verstärkte Hinwendung zu weltanschaulichen Fragen (1892 Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft, 1899 Die Welthrätsel); 1906 Mitbegr. des Deutschen Monistenbunds; 1909 Rücktritt vom Lehramt; 1910 Austritt aus der evangel. Kirche. H. beschäftigte sich überwiegend mit morphologischen Fragen u. Problemen der Systematik, in Deutschland bedeutendster Anhänger der darwinistischen Entwicklungslehre, die er mehrfach modifizierte (Entwurf von Stammbäumen, 1872 Biogenetisches Grundgesetz) und zu einer umfassenden monistischen Lehre ausweitete; H. brachte einen weiten Kreis von Schülern hervor (darunter A. Dohrn, Oskar u. Richard Hertwig, H. Driesch), die aber später überwiegend zu abweichenden entwicklungsgeschichtlichen u. philosophischen Positionen gelangten; starke künstlerische Neigungen, die sich in intensiver Beschäftigung mit Fragen der Naturästhetik u. eigenen Landschaftsbildern dokumentierten. DBE 4, 302; NDB 7,423-425; Schmidt: Der Kampf (1900), Schmidt (Hg.): Was wir Ernst Haeckel verdanken (1914), Schmidt: Ernst Haeckel (1924), Bölsche: Ernst Haeckel (1909), Uschmann: Geschichte (1959), Krauße: Ernst Haeckel (1984) Hagenbeck, Carl 10.6.1844 Hamburg - 14.4.1913 Hamburg, luth. Sohn des Fisch- und Tierhändlers Gottfried Hagenbeck; übernahm 1866 das väterliche Geschäft; belieferte Zool. Gärten mit Tieren aus Fangexpeditionen; Veranstaltung von sog. Völkerschauen u. seit 1887 Dressur-Zirkus; führte den sog. zahmen Dressurstil und das Freilandgehege ein, erfolgreiche Akklimatisationsversuche; 1907 Eröffnung des privaten Tierparks in Hamburg-Stellingen; Ernennung zum Königl. Preuß. Kommerzienrat. DBA NF 511,7-41; DBE 4, 324; NDB 7,487f.; Gebhardt 1,132 u. II, 164; Reichenbach: Carl Hagenbeck's Tierpark (1980)
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Hallier, Ernst 15.11.1831 Hamburg - 20.12.1904 Dachau, ev. Neffe des Botanikers Jakob M. Schleiden; 1848-51 Lehrling am Bot. Garten in Jena; danach Gehilfe in anderen Städten; holte 1854 das Abitur nach, 1854-57 St. Botanik in Berlin, Jena u. Göttingen; 1858 Pr. in Jena; 1860 Habil. u. Assistent Schleidens; 1865 ao Prof. der Botanik in Jena, 1884 Rückzug von der Universität, Privatgelehrter in München; Forschungen zur Pflanzenpathologie, Parasitologie u. Mykologie; seit 1869 Hg. der Zeitschrift für Parasitenkunde. DBA 465,264-266; DBA NF 516,180-186; DBE 4,350; NDB 7,563f. Hartwig, Georg gest. 10.3.1880 Dr. phil., Badearzt in Ostende. DBA NF 529,364 Hauchecorne, Wilhelm 13.8.1828 Aachen - 15.1.1900 Berlin, ref. 1847/48 Praktikant im Oberbergamt Bonn; 1849-53 St. in Freiberg u. Berlin; 1853 Bergreferendar, danach im Staatsdienst; 1862 Bergassessor in Saarbrücken, 1865 Berginspektor; 1866 Berufung in die Ministerialabteilung für das Bergwesen in Berlin u. anschließend zum Direktor der Bergakademie u. 1873 der Geolog. Landesanstalt in Berlin; 1876 Geheimer Bergrat, 1891 Oberbergrat; 1886 Dr. h.c. Heidelberg; führte mit Beyrich geolog. Landesaufnahme Preußens durch; Leitung der Arbeiten für eine internationale geolog. Karte von Europa; Mitbegr. u. zeitweise Vors. der DGVN; 1885 Generalsekretär des Internationalen Geologen-Kongresses in Berlin; 1890 Vors. der Internationalen Konferenz für Arbeiterschutz, 1894 Mitglied der Silber-Kommission. DBA 484, 233-235; DBA NF 533, 80-90; DBE 4, 436; NDB 8, 74f.; Zeitschrift für praktische Geologie 8 (1900), S. 62f.; Jahrbuch d. Kgl. Preuss. Geologischen Landesanstalt u. Bergakademie 23 (1902), S.XCVI-CXI Heck, Ludwig 11.8.1860 Darmstadt -17.7.1951 München, ev. St. Nw in Straßburg, Gießen, Berlin u. Leipzig; 1884 Pr. bei Leuckart in Leipzig; 1886-88 Direktor des Kölner Zool. Gartens, 1888-1931 Direktor des Berliner Zool. Gartens, den er zu einer weltweit vorbildhaften Anlage erweiterte; ließ das Berliner Aquarium errichten (vollendet 1913); veranstaltete Ausstellungen von Tierkunst im Zool. Garten; seit 1895 im Vorstand der DGVN, Ref. der Urania; Vors. der Gesellschaft für Säugetierkunde; 1906 Ernennung zum Prof., 1917 zum Geheimen Hofrat; Dr. med.vet. h.c.; Mitarbeit an der 4. Aufl. von Brehms Tierleben; Söhne Lutz u. Heinrich wurden ebenfalls Tierpark-Direktoren; Töchter mit der Familie Siemens verheiratet. DBA NF 540,51-57; DBE 4,468; NDB 8,176f. Heincke, Friedrich 6.1.1852 Hagenow/Mecklenburg- 5.6.1929 Helgoland, luth. 1869-73 St. Nw in Rostock u. Leipzig; 1873 Pr. in Leipzig; 1873-76 in Kiel Assistent bei K. Möbius am Zool. Museum; 1875 Habil., ging aber aus wirtschaftlichen Gründen in den Schuldienst; 1876-79 Oberlehrer an Oberrealschule in Kiel, 1879-91 in Oldenburg; 1892 Begr. u. Leiter der Biologischen Anstalt auf Helgoland (bis 1921); 1901 Mitverf. der Hamburger Thesen. DBA 498,212; DBA NF 547,208-210; DBE 4,507; NDB 8,279t
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Hellwald, Friedrich von 29.3.1842 Padua -1.11.1892 Tölz 1858-64 im österreichischen Militärdienst; 1866 Teilnahme am deutsch-österreichischen Krieg, danach diverse Tätigkeiten in Wien, aktiv in der dortigen Geographischen Gesellschaft; 1872-81 Red. der Zeitschrift Das Ausland für die Cotta'sche Verlagshandlung; Anhänger Darwins u. Haeckels; zahlreiche kulturgeschichtliche, ethnographische, geographische u. anthropologische Veröffentlichungen. DBA 508,86-87; ADB 50,173-181 Helmholtz, Hermann [1883] von 31.8.1821 Potsdam - 8.9.1894 Berlin, ev. 1838-42 St. Medizin in Berlin; 1842 Pr., Schüler von Johannes Müller; 1842/43 als Arzt an der Berliner Charité; 1843 Militärarzt in Potsdam; Mitglied der Physikalischen Gesellschaft Berlin, enge Kontakte zu E. Du Bois-Reymond, E. Brücke u. C. Ludwig; 1847 Schrift über die Constanz der Kraft, 1848 Anatomielehrer an der Kunstakademie u. Assistent von J. Müller am Anatomischen Museum in Berlin; 1849 ao Prof., 1851 o Prof. der Physiologie in Königsberg, 1855 in Bonn, 1858 in Heidelberg; 1862/63 Prorektor der Univ. Heidelberg; seit 1871 Prof. für Physik in Berlin; seit den 1850er Jahren öffentliche Vorträge; 1857 korrespondierendes, seit 1871 o Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften; 1877/78 Rektor der Univ. Berlin; 1873 Orden Pour le Mérite, seit 1886 Vizekanzler der Friedensklasse des Ordens, 1883 geadelt; 1886 Aufgabe des Universitätsinstituts; 1888-94 erster Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt Berlin; 1891 Wirkücher Geheimer Rat u. Exzellenz; H. gilt als der führende deutsche Physiologe und Physiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; er erfand den Augenspiegel u. das Telestereoskop und publizierte grundlegende Untersuchungen zur Optik, Akustik u. Elektrizität; mehrmals repräsentierte er die Universität Berlin bei feierlichen Anlässen im In- und Ausland. DBA 508,390-408; DBA NF 557,138-203; DBE 4,573f.; ADB 51,461-472; NDB 8, 498-501; Dokumente einer Freundschaft (1986), Cahan: An Institute (1989), David Cahan (Ed.): Hermann von Helmholtz and the Foundations on Nineteenh-Century Science. Berkeley, Los Angeles, London 1993; Tüchman: Science (1993), Lorenz Krüger (Hg.): Universalgenie Helmholtz. Rückbück nach 100 Jahren. Berlin 1994. Hess, Moses 21.1.1812 Bonn - 6.4.1875 Paris, jüd. Autodidakt; früh schriftstellerische-politische Arbeiten; seit 1842/43 Mitarbeiter der Rheinischen Zeitung u. deren Korrespondent in Paris, später Korrespondent für die Kölnische Zeitung-, 1845 mit Fr. Engels Hg. des radikaldemkoratischen Gesellschaftsspiegels-, 1845-48 wechselnd in Köln, Brüssel u. Paris tätig; Differenzen mit K. Marx, die schließlich zum Bruch führten; 1848 kurzzeitig wieder an der Rheinischen Zeitung, danach in Paris als Journalist u. Präsident des Deutschen Vereins, Flucht in die Schweiz, seit 1853 in Paris; 1851-59 Hinwendung zu Nw, nw Aufsätze in den Zeitschriften Die Natur, Das Jahrhundert u. Revue philosophique et religieuse-, 1861 Rückkehr nach Preußen; 1863 Bevollmächtigter des ADAV in Köln; später vorwiegend in Paris, zum Lebensende nochmals nw Studien; vertrat einen philosophischen Sozialismus u. die Idee eines jüdischen Staates. DBA NF 575,190-204; DBE 4,672; NDB 9, llf.; Silberner (Hg.): Moses Hess Briefwechsel (1959), Silberner: Moses Hess (1966), Na'aman: Emanzipation (1982)
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Hesse, Richard 20.2.1868 Nordhausen/Harz - 28.4.1944 Berlin, luth. St. Philologie, dann Nw in Halle/S. u. Tübingen; 1892 Pr.; 1894 Habil. in Tübingen, 1901 ao Prof. Zool.; 1909-14 Prof. Zool. an der Landwirtsch. u. Tierärztl. Hochschule Berlin; 1914 Prof. Zool. in Bonn, 1926-35 in Berlin; Untersuchungen zu Sehorganen; Hauptwerk Tierbau und Tierleben, vertrat physiologischen u. ökologischen Ansatz. DBA NF 576,135-140; DBE 4,678; NDB 9,15 Hildenhagen, Ludwig 28.5.1809 Lochau/Saalkreis - 16.2.1893 Halle/S., ev. St. Theologie in Halle u. Berlin; 1838 Pfarrer in Quetz bei Halle; leitete hier den ersten Kindergarten der preußischen Provinz Sachsen; grd. Ackerbauschule in Quetz, an der nach der Revolution auch Otto Ule lehrte; 1848 Mitglied der Preußischen Nationalversammlung u. dort als Schriftführer eingesetzt; im Nov. 1848 Teilnahme an der Steuerverweigerung, verlor deshalb 1851 das Pfarramt, Umzug nach Halle u. als Privatgelehrter tätig; Agent der Gothaer Feuerversicherungs- und Lebensversicherungsbank; führendes Mitglied im Hallischen Handwerkerbildungs- u. Gewerbeverein; 1863 Wahl in die Stadtverordnetenversammlung, seit 1872 unbesoldeter Stadtrat. Werner Piechocki, in: Hallesches Tageblatt v. 3.3.1993 Hirsch, Max 30.12.1832 Halberstadt - 26.6.1905 Bad Homburg, jüd. 1850-55 St. Philosophie, Jurisprudenz u. Staatswissenschaften in Tübingen, Heidelberg u. Berlin; Reisen durch Frankreich u. Nordafrika; kaufmännische Tätigkeit; gab Vorhaben, sich für Staatswissenschaften zu habilitieren, auf; seit 1867 in Berlin als freier Schriftsteller u. Sozialpolitiker; Arbeiten zur Nationalökonomie u. zur sozialen Frage; nach Studienreise durch England u. Schottland und Trennung vom ADAV 1868 mit dem Verleger Franz Duncker Inititive zur Gründung von Gewerkvereinen in Deutschland; seit 1869 Verbandsanwalt der Hirsch-Dunckerschen-Gewerkvereine u. Hg. Der Gewerkverein; Mitbegr. u. Ausschußmitglied der G W ; 1878 „Plan zur Gründnung einer Anstalt für populär-wissenschaftliche Vortragszyklen", aus dem der Wissenschaftliche Centraiverein bzw. die Humboldt-Akademie hervorging, deren Dozent und Generalsekretär H. wurde; seit 1869 mehrfach Abgeordneter des Reichstags für die Deutsche Fortschrittspartei bzw. die Freisinnigen sowie seit 1898 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses; langjähriger Vors. der Deutschen Friedensgesellschaft. DBA NF 588,340-350; DBE 5,63; NDB 9,205f. Hirzel, Christoph Heinrich 22.3.1828 Zürich -15.11.1908 Leipzig, ref. seit 1845 St. Chemie in Zürich u. Leipzig; 1851 Pr., seit 1852 PD für Chemie in Leipzig; 1852-56 Unterricht an der Teichmann'schen Lehranstalt u. seit 1855 an der städt. Realschule, Vorlesungen über ,Chemie für Frauen'; populärwissensch. Beiträge für die Gartenlaube u. die Leipziger Illustrierte Zeitung, verfaßte für Roßmäßlers Reihe Bücher der Natur den ersten Band; 1861-65 ao Prof. Leipzig, Aufgabe der Lehrtätigkeit nach der Gründung einer Fabrik für chemisch-technische Anlagen; Erfinder von Laborapparaten. DBA 543,446-449; DBA NF 590,445^149; NDB 9,244
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Hofmann Friedrich geb. 18.4.1813 Coburg 1834-40 St. in Jena; 1841 nach Hildburghausen, Mitarbeit am Meyerschen Konversationslexikon, später Mitarbeit an Meyers Universum; 1858 nach Leipzig, Red. der Zeitschriften Die Glocke, später Panorama des Wissens und der Gewerbe, seit 1861 ständiger Mitarbeiter der Gartenlaube; gehörte zum Leipziger ,Verbrechertisch'. DBA 555,259-263 Humboldt, Alexander von 14.9.1769 Berlin - 6.5.1859 Berlin, ev. 1787-92 St. in Frankfurt/O., Göttingen, Hamburg u. an der Bergakademie in Freiberg; 1790 Reise mit Georg Forster durch die Niederlande, nach England und Paris; 1792 Ernennung zum Assessor, dann zum Oberbergmeister im preußischen Bergdienst; 1793-96 Leitung des Bergbaus in den Fürstentümern Ansbach und Bayreuth; 1793 Mitglied der Leopoldina; 1794 Ernennung zum Bergrat, 1795 zum Oberbergrat; Ende 1796 Ausscheiden aus dem Staatsdienst auf eigenen Wunsch; 1797 Begegnung mit Goethe und Schiller in Jena; Vorbereitungen für eine längere außereuropäische Reise; 1798 mit dem französischen Botaniker A. Bonpland von Frankreich nach Spanien, Beginn der gemeinsamen Forschungsreise nach Amerika; bis 1804 Stationen in (nach heutiger Bezeichnung) Venezuela, Kuba, Kolumbien, Ecuador, Peru, Mexiko und wiederum Kuba; Mai/Juni 1804 Aufenthalt an der Ostküste der USA, Begegnung mit Thomas Jefferson; August 1804 Rückkehr nach Frankreich u. 1805 nach Berlin; Beginn der Arbeiten am amerikanischen Reisewerk, das bis 1834 in schließlich 30 Bänden erscheint; 1807 diplomatischer Auftrag in Paris, dem sich abgesehen von verschiedenen Reisen ein zwanzigjähriger Aufenthalt in der französischen Hauptstadt anschließt; 1827 Rückkehr nach Berlin; im Winter 1827/28 Kosmos-Vorlesungen; 1828 Leitung der 7. VDNA in Berlin; 1829 Rußland- und Sibirien-Reise; 1845 erscheint der erste Band des Kosmos; im März 1848 schließt sich Humboldt dem Trauerzug für die Märzgefallenen an; bis zum Lebensende Arbeit an der Fortsetzung des Kosmos. ADB 13,358-383; DBE 5,221f.; NDB 10,33-43; Klencke: Alexander von Humboldt (1859), Rau: Alexander von Humboldt (1860), Bastian: Alexander von Humboldt (1869), Bernstein: Alexander von Humboldt (1869), Gerland: Rede (1869), Redaktion der ,Gartenlaube': Ein Humboldtfest (1869), Ule: Alexander von Humboldt (1869), Bruhns (Hg.): Alexander von Humboldt (1869), Herold: Alexander von Humboldts Bedeutung (1906/7), Beck: Alexander von Humboldt (1959-1961), Hein (Hg.): Alexander von Humboldt (1985), Beck (Hg.): Alexander von Humboldt (1987-1997) Hummel, August 4.8.1839 Halle/S.- 19.1.1898 Delitzsch Besuch des Lehrerseminars Eisleben; 1863-75 Lehrer in Halle/S., seit 1875 am Lehrerseminar in Delitzsch. DBA 580,410-412 Jäger, Gustav 23.6.1832 Bürg am Kocher - 23.5.1917 Stuttgart, luth. Besuch des theologischen Seminars Urach u. des Polytechnikums Stuttgart; unbezahlte Arbeit am Naturalienkabinett in Stuttgart; 1851-56 St. Medizin u. Nw in Tübingen u. Wien; seit 1852 populär-zool. Aufsätze; 1857 Pr. in absentia in Tübingen; Übersiedlung nach Wien, Hauslehrer; 1859 Habil. für Vergleichende Anatomie in Wien; eine Professur blieb J. wegen seiner Konfession in Wien verwehrt; früher An-
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hänger der darwinistischen Entwicklungslehre; grd. 1860 in Wien öffentliches Seewasseraquarium am Michaelerplatz, aus dem 1863 Tiergarten Am Schüttel mit eigener Fischzucht hervorging, bis 1866 dessen Direktor; 1861 Mitbegr. des Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien u. Verfasser diverser wissenschaftlicher Feuilletons in der Wiener Presse; 1866 Übersiedlung nach Stuttgart; Lehraufträge an der Land- und Forstwissenschaftlichen Akademie Hohenheim, dem Polytechnikum Stuttgart und der Tierarzneischule; seit 1871 Beteiligung am Zool. Garten Nill in Stuttgart als wissenschaftlicher Leiter; 1877-79 Red. der Zeitschrift Kosmos/Weltanschauung; 1884 Rückzug aus der akademischen Tätigkeit; seit 1881 Hg. von Prof. Dr. G. Jägers Monatsblatt. Organ für Gesundheitspflege und Lebenslehre', Anhänger der Homöopathie; Vortragsreisen; J. vertrat schon vor Weismann die Lehre von der Kontinuität des Keimplasmas; er entwickelte eine Theorie von Geruchs-, Geschmacksstoffen u. seelischen (Un-)Luststoffen und erregte damit vor der 52. VDNA 1879 in Baden-Baden erhebliches Ärgernis (Die Entdeckung der Seele 1879); Propagierung eines Gesundheitsregimes mit neuem, wollenem Bekleidungssystem (Jägersche Normalkleidung); als Duft-, Seelen- und Wolljäger bekannt. DBA 596,208£; DBA NF 644,290-319; DBE 5,283; NDB 10,269; Gebhardt 1,172f.; Krabbe: Gesellschaftsveränderung (1974), Kaufmann: Gustav Jäger (1984), Weinrich: Duftstofftheorie (1993) Jordan, Wilhelm 8.2.1819 Insterburg/Ostpreußen - 25.6.1904 Frankfurt/M., ev. St. Theologie, dann Philosophie in Königsberg; 1842 Pr.; 1844 als freier Schriftsteller nach Leipzig, gehörte zu den Junghegelianern; Ausweisung aus Sachsen; 1848 zunächst Korrespondent der Bremer Zeitung in Paris, dann nach Berlin; Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung; in der Polenfrage Hinwendung zur deutschnationalen Rechten; Nov. 1848 Ministerialrat in der Marineabteilung des Reichsministeriums für Handel; nach 1849 lebenslängliche Pension; 1849 Red. der Zeitschrift Die begriffene Weif, Arbeit als Schriftsteller u. Übersetzer; versch. Reisen mit Auftritten als Rezitator der eigenen Nibelungendichtung in Europa u. den USA; vertrat in seinem Werk Demiurgos (1852-54) entwicklungsgeschichtliche Gedanken. DBA 611, 219-225; DBA NF 662, 79-88; DBE 5, 363; NDB 10, 6051; Eßbach: Die Junghegelianer (1988) Junge, Friedrich 8.12.1832 Pöütz - 25.5.1905 Kiel 1851-54 Lehrerseminar Bad Segeberg; 1854-60 Lehrer an Privatschule in Lütjenburg, 1860-62 in Plön, 1862-73 wieder in Lütjenburg; 1873-99 Lehrer an der Mädchenschule in Kiel, zuletzt deren Rektor; Bekanntschaft mit Fr. Heincke u. K. Möbius; vertrat, an Möbius u. Humboldt orientiert, eine ganzheitliche, biologische Naturbetrachtung (Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft 1885), für die er eine Lehre von zentralen Gesetzen entwickelte; Schriften zur Methodik und Reform des nw Unterrichts, insbes. der Volksschule. DBA 615,37-50; DBA NF 666,210-211; DBE 5,382; NDB 10,680; Scheele: Von Lüben (1981), S.169-177 Keil, Ernst 6.12.1816 Langensalza - 23.3.1878 Leipzig, ev. Buchhändler-Ausbildung in Weimar; seit 1837 in Leipzig im Buchhandelsgeschäft; mit Robert Blum befreundet, enge Kontakte zu Demokraten, Liberalen und der Bewegung des Jungen Deutschland; seit 1840 Feuilletons für die Zeitschrift Unser
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Planet, 1842-45 deren Red. (1843 Umbenennung in Der Wandelstern)-, begr. 1845 eigenes Verlagsgeschäft; 1846-51 Hg. der Zeitschrift Der Leuchtthurm, für die unter anderem R. Blum, J. Jacoby, Roßmäßler u. G. A. Wislizenus schrieben; 1852 sechsmonatige Inhaftierung in Hubertusburg u. Aberkennung der Ehrenrechte wegen Preßvergehens, in dieser Zeit Konzeption der Gartenlaube entwickelt, die seit 1853 erschien; K. förderte die nw Aufklärungsarbeit als ein zentrales Anliegen der Gartenlaube-, enge Verbindungen zu H. Beta, C. E. Bock u. Roßmäßler. DBA 635, 47-50; DBA NF 690,161-177; DBE 5, 485; ADB 15, 530-532; NDB 11, 402f.; Albert Fränkel: Ernst Keil. Ein Lebens- und Charakterbild, in: die Gartenlaube 26 (1878), S. 569-581; Feißkohl: Ernst Keils publizistische Wirksamkeit (1914) Kirchbach, Wolfgang 18.9.1857 London - 8.9.1906 Bad Nauheim, ev. St. Philosophie u. Geschichte in Leipzig; seit 1879 in München, seit 1888 in Dresden, seit 1896 in Berlin; Schriftsteller u. Theaterkritiker unter anderem für das Magazin für die Literatur des In- und Auslandes und die Dresdener Nachrichten-, Vors. des Giordano-Bruno-Bundes u. Dozent an der Freien Hochschule Berlin, aktiv in der Wandervogelbewegung. DBA 650,226-227; DBA NF 705,178-188; DBE 5,547; Erwähnung in NDB 11,635 Klein, Hermann Josef 14.9.1844 Köln-1.7.1914 Köln, kath. Buchhändlerlehre; St. Mathematik; 1874 Pr. in Gießen; 1865-1908 Hg. der Zeitschrift Gaea, 1878-1914 Hg. der Zeitschrift Sirius, seit 1873 Hg. der Revue der Fortschritte der Naturwissenschaften, seit 1890 Hg. des Jahrbuch der Astronomie und Geophysik; 1881 Errichtung einer privaten Sternwarte in Köln, Aufbau einer Wetter- und Zeitwarte in Zusammenarbeit mit der Kölnischen Zeitung; 1902 Ernennung zum Prof.; seine Allgemeine Witterungskunde wurde in 50000 Exemplaren aufgelegt (Schwarzbach, S. 100). DBA NF 712, 212-218; Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969), Schwarzbach: Hermann J. Klein (1985) Klencke, (Pseudonym = von Maltiz) Hermann 16.1.1813 Hannover -11.10.1881 Hannover, ev. St. Medizin u. Nw in Leipzig; Chirurg in der preußischen Armee; Arzt in Hannover, 1837 in Leipzig, seit 1839 in Braunschweig, seit 1855 wieder in Hannover; unter Einfluß von C. G. Carus Hinwendung zur Naturphilosophie; öffentliche Vorträge in Braunschweig über Physiologie, Mikroskopie, Anthropologie, Kosmographie u. Geologie; Vorschläge zur Reform des Militärmedizinalwesens, begr. Allgemeine Zeitung für Militärärzte; schriftstellerische Tätigkeit, neben Arbeiten zur Nw und Gesundheitspflege auch belletristische u. kulturhistorische Werke; verfaßte eine Biographie A. von Humboldts; Mitglied der Leopoldina. DBA 661,58-61; DBA NF 715,195; ADB 16,157£; Über Land und Meer 1871, Nr. 52, S. 3-6 Knauer, Friedrich 31.3.1850 Graz - 31.7.1926 Wien, kath. 1868-71 St. Physik u. Chemie in Wien; 1887 Dir. des Wiener Vivariums; initiierte die Wiener Tiergartengesellschaft und wurde deren Direktor; Hg. der Zeitschrift Der Naturhistoriker; 1893 Eröffnung des Neuen Wiener Tiergartens; Mitglied des Keplerbundes; Präsidiums-Mitglied des Bunds deutscher Forscher; Vors. der Österreichischen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft. DBA NF 721,228-231; DBE 5,615; Österr. Biogr. Lexikon 1815-1950, III, 433
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Kny, Leopold 6.7.1841 Breslau - 26.6.1916 Berlin, kath. kaufmännische Ausbildung; holte das Abitur nach; St. Botanik in Breslau, München u. Berlin; 1863 Pr. in Berlin; Reisen durch Südeuropa u. nach Madeira; 1867 Habil. Berlin, 1873 ao Prof. Berlin u. Direktor des Pflanzenphysiologischen Instituts Berlin; 1881-1911 gleichzeitig o Prof. an der Landwirtschaftlichen Hochschule u. Leiter des Bot. Instituts, 1891-93 Rektor; 1908 Honorarprof. Univ. Berlin; seit 1900 Vors. der DGVN. DBA 674,56-59; DBA NF 726,3-5; DBE 5,633; NDB 12,233 Kolbe, Hermann Julius geb. 2.6.1855 Halle/Westfalen aus gesundheitlichen Gründen u. wegen schwieriger Familienverhältnisse Abbruch des Studiums der Nw; 1878 Schulverwalter in Öding, seit 1877 publizistisch tätig; 1882 Assistent am Kgl. Zool. Museum Berlin, 1890 Kustos; 1883-85 Referent für Zool. für den Jahresbericht der Zool. Station Neapel; 1884/85 Red. der Berliner Entomologischen Zeitschrift. DBA 689,370f. Kraepelin, Karl 14.12.1848 Neustrelitz - 28.6.1915 Hamburg, ev. Bruder des Psychiaters Emil Kraepelin; 1868-73 St. Nw. in Göttingen u. Leipzig; 1873 Pr. in Leipzig; 1873-78 Lehrer an der Höheren Bürgerschule in Leipzig; 1878-89 Lehrer am Realgymnasium des Johanneum Hamburg; seit 1879 Mitglied der Museumskommission in Hamburg, 1889-1914 Direktor des Hamburger Naturhistorisches Museums, trennte Schausammlung von wissenschaftlicher Sammlung; 1887 Ernennung zum Prof.; seit 1901 Mitglied des Hamburger Professorenkonvents u. 1908 Mitglied des Professorenrats am Kolonialinstitut; 1901 Mitverf. der Hamburger Thesen; seit 1904 Mitglied der Unterrichtskommission der GDNA; populärwissenschaftliche u. schulpädagogische Schriften. DBA 699,156-157; DBA NF 749,282-283; NDB 12,640f.; Schäfer: Karl Kraepelins Lebensweg (1916) Krall, Karl 9.4.1863 Elberfeld - 12.1.1929 München entstammte einer Juweliersfamilie; Schulausbildung in Schulpforta; Juwelier in Elberfeld; Kontakt zum Tierpsychologen u. Privatgelehrten Wilhelm von Osten, dessen Renkendes Pferd' Hans er erwarb; mit Hans und zwei Araberhengsten diverse tierpsychologische Experimente, die K. zur Überzeugung von den Intelligenzleistungen der Tiere führten; 1925 Übersiedlung nach München, Beschäftigung mit dem Okkultismus. DBA NF 751,39-49 Krause, Ernst (Pseudonym = Carus Sterne) 22.11.1839 Zielenzig - 24.8.1903 Eberswalde, ev. Besuch der Realschule im Meseritz, Abgang nach der Untersekunda; Apothekerlehre in Zielenzig; einjähriger Militärdienst im Garnisonsdienst; nw Studien in Berlin u. dort Besuch von Universitätsvorlesungen; Apotheker in Düsseldorf und Berlin, dann Hinwendung zu literarischen u. publizistischen Arbeiten, auf die K. seinen Unterhalt stützte; 1862/63 kritische Veröffentlichungen zum Spiritismus und zu vermeintlichen Wunderpraktiken; frühe Hinwendung zum Darwinismus; 1870/71 Feldapotheker; 1874 in absentia Pr. in Rostock mit einer Arbeit über die botanische Systematik; 1876 1. Aufl. von Werden und Vergehen als popularisierender Variante von
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Haeckels Natürlicher Schöpfungsgeschichte; kontroverse Debatte darüber im Preußischen Abgeordnetenhaus 1879, nachdem der Realschullehrer Hermann Müller dieses Werk zu Lehrzwecken genutzt hatte; 1877-1882 Red. bzw. Hg. der darwinistischen Zeitschrift Kosmos/Weltanschauung; nach dem Rückzug aus der KosmosRedaktion Veröffentlichungen zu Erasmus Darwin, zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Ästhetik, außerdem kultur-, mythen- und literaturgeschichtliche Publikationen; K. zählt zu den aktivsten populärwissenschaftlichen Publizisten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. DBA 704, 123; DBA NF 753, 441^46; NDB 12, 699f.; Bölsche: Zur Erinnerung (1905), Junker: Darwinismus (1989), S. 69-72; Daum: Naturwissenschaftlicher Journalismus (1995), ders.: Das versöhnende Element (1996) Krebs, Georg 8.9.1833 Höchst/Main - 27.10.1907 1858 Pr. in Marburg; 1856 Lehrer am Realgymnasium in Wiesbaden, 1861 an der Höheren Bürgerschule, 1876-93 an der Höheren Gewerbe- u. Handelsschule in Frankfurt/M.; 1878-92 Dozent am Physikalischen Verein dort; Hg. der Zeitschrift Humboldt. DBA NF 755,439-442 Kretschmer, Robert 19.1.1818 Berghof/Schweidnitz - 25.5.1872 Leipzig Tiermaler u. Zeichner, illustrierte u.a. für die Zeitschriften Daheim, Gartenlaube, die Leipziger Illustrierte Zeitung, Über Land und Meer, Brehms Thierleben und dessen Leben der Vögel; 1862 Afrikareise mit Ernst von Sachsen-Coburg u. A. Brehm. DBA 708,400; DBA NF 758,220; Gebhardt 1,197 Lampert, Kurt 30.3.1859 Ippesheim/Franken - 21.1.1918 Stuttgart, ev. Sohn des Karrers u. liberalen bayer. Abgeordneten Friedrich L.; 1883 Pr. in Erlangen, kurzzeitig Assistent am Zool. Institut; seit 1884 an der Kgl. Naturaliensammlung in Stuttgart, zunächst als Assistent, seit 1890 als Konservator, seit 1890 als Vorstand; spezialisierte sich auf die Erforschung der Binnengewässer (Das Leben der Binnengewässer als Hauptwerk), unter seiner Leitung Ausbau der Sammlung; daneben Unterricht an Schulen; Geschäftsführer u. Vorstand des Vereins für vaterländische Naturkunde in Württemberg u. des Württ. Fischerei-Vereins, Ausschußmitglied des Württemberg. Anthropologischen Vereins u. Schriftführer im Württemb. Verein für Handelsgeographie; unterstützte das Lindenmuseum, aktiv für den Württemb. Gartenbauverein, den Württemb. Tierschutzverein, den Bund für Vogelschutz, den Württemb. Landesausschuß für Natur- und Heimatschutz u.a.; Hg. der Reihe Naturwissenschaftlicher Wegweiser. DBA 733, 101; DBA NF 781, 371-387; Gebhardt I, 206; Eichler: Zur Erinnerung (1918) Landois, Hermann 19.4.1835 Münster/Westfalen -29.1.1905 Münster/Westfalen, kath. Bruder des späteren Physiologen Leonard Landois; St. kathol. Theologie u. Nw in Münster; 1859 Priesterweihe; 1860-62 Hauslehrer; 1862-65 Lehrer an Ackerbauschule Botzlar; 1863 Pr. Zool. in Greifswald, 1864 Staatsexamen; 1865-76 Lehrer am Gymnasium in Münster; 1869 Habil für Zool. an der Akademie in Münster, 1871 Direktor des zool. u. anatomischen Museums der Akademie; 1873 ao Prof., 1876 o Prof.; seit 1872 Sektions-Direktor für Zool. der Provinz Westfalen; grd. 1871 in Münster den Verein für Vogelschutz, Geflügel- u. Singvögelzucht; 1873 Aufruf zur
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Errichtung eines Westfälischen Zool. Gartens in Münster, grd. dazu Aktiengesellschaft und kaufte 1874 ein Gelände auf, 1875 als erster Tiergarten Westfalens eröffnet; grd. Zoologische Abendgesellschaft, dort Aufführung eigener Theaterstücke; 1876 seiner Funktionen als katholischer Priester nach diversen Konflikten mit der Amtskirche enthoben; baute sich 1892 eine Wohn- u. Museumsburg am Zool. Garten; Begr. u. Direktor des Provinzial-Museums für Naturkunde in Münster seit 1892; entwickelte Lehrmodelle für den Anschauungsunterricht, versch. Medaillen auf nationalen u. internationalen Ausstellungen für Lehrpräparate; Mitglied der Leopoldina; zu seinen Schülern gehörte Hermann Löns, der L. als „volkstümlichsten Mann Westfalens" bezeichnete; 1870 mit B. Altum Lehrbuch der Zoologie, 1872 mit C. Berthold Lehrbuch der Botanik; auch dramatische u. belletristische Arbeiten (u.a. Frans Essink) u. plattdeutsche Dichtungen. DBA 733,416-422; DBA NF 783,232-273; NDB 13,506; Gebhardt 1,207f. u. II, 173 u. III, 110 u. IV, 75; Ant: Die Geschichte (1967), Franzisket: Die Geschichte (1967), Werland: Münsters Professor Landois (1977) Langkavel, Bernhard August 20.8.1825 Stettin - 8.7.1902 Hamburg 1845-^-8 St. in Berlin; nach 1849 Lehrer am Werderschen Gymnasium Berlin. DBA 739,320; DBA NF 788,200 (Lassar-) Cohn, Lassar 6.9.1858 Hamburg - 9.10.1922 Königsberg, jüd. 1877-79 St. Chemie in Heidelberg, Bonn u. Königsberg; 1880 Pr. in Königsberg; 1894-97 Prof. für Chemie in Königsberg, 1897-98 in München; 1898-1902 Privatgelehrter, 1902-9 erneut Prof. in Königsberg; arbeitete auf dem Gebiet der reinen u. angewandten organischen Chemie. DBA NF 760,165-167; NDB 3,316f. Laßwitz, Kurd (Pseudonym = Velatus) 20.4.1848 Breslau - 17.10.1910 Gotha, ev. schon als Schüler astronomische Studien in der Breslauer Sternwarte; 1866-73 St. Mathematik, Nw u. Philosophie in Breslau u. Berlin; 1873 Pr. in Breslau; 1874 Staatsexamen; Lehrer am Johanneum in Breslau u. am Gymnasium in Ratibor; seit 1876 am Gymnasium Emestinum in Gotha, 1884 Prof., 1909 Hofrat; grd. 1884 die Mittwochs-Gesellschaft zu Gotha; Studien zur Atomistik und zu Kant, vertrat Neukantianismus; philosophische u. belletristische Arbeiten; Hg. von Neuauflagen von Fechners Nanna u. Zend-Avesta; begr. als Schriftsteller die deutsche technisch-utopische u. Science-fiction-Literatur. DBA 742,181-183; DBA NF 790,260-267; NDB 13,680f.; Berentsen: Vom Urnebel (1986) Liebig, Justus [1845] von 13.5.1803 Darmstadt - 18.4.1873 München, ev. Pharmazeut. Lehre; St. in Bonn u. Erlangen, Burschenschaftler; 1822 Pr., 1822-24 Studienaufenthalt in Paris, seitdem Bekanntschaft mit A. v. Humboldt; 1824 durch Vermittlung Humboldts ao Prof., 1825 o Prof. der Chemie Gießen, richtete dort das erste chemische Universitätslaboratorium in Deutschland ein; Veröffentlichungen mit Fr. Wöhler, mit dem L. eng verbunden war; begründete bzw. entwickelte organisch-chemische Elementaranalyse, Radikaltheorie u. Agrikulturchemie; trat für Fleischextrakt als diätisches Nahrungsmittel ein; 1844 Chemische Briefe, hervorgegangen aus Beiträgen für die Augsburger Allgemeine Zeitung, seit 1852 Prof. in München; seit 1860 Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. DBA 763,192-199; DBA NF 812,91-153; ADB 18,589-605; NDB 14,497-501
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Littrow, Joseph Johann 13.3.1781 Bischofsteinitz - 30.11.1840 Wien, kath. 1798-1803 St. in Prag; 1803-7 Privaterzieher; 1807 Prof. der Astronomie in Krakau, 1809 in Kasan (Rußland), 1816-29 Socius der Sternwarte in Ofen; 1819 Prof. der Astronomie u. Direktor der Sternwarte in Wien, öffentliche Vorlesungen; 1832 Geschäftsführer der 10. VDNA in Wien; 1836 in den Adelsstand erhoben, 1838 Dr. h.c. Wien; seine Wunder des Himmels (1834) erlebten bis 1897 acht Aufl. u. erreichten noch zu seinen Lebzeiten eine Auflage von 14000 (DBA NF 821,178). DBA 772,246-285; DBA NF 821,166-179; ADB 19,11; NDB 14,7121 Lüben, August 28.1.1804 Golzow - 27.10.1874 Bremen 1820-22 am Lehrerseminar Neuzelle; 1822-25 Hilfslehrer am Seminar Weißenfels; Rektor der Bürgerschule Merseburg; 1825 Kantor u. Lehrer in Dorfs-Alsleben/Saale, richtete Präparandenanstalt ein; 1829 Lehrer, später Oberlehrer u. Rektor an der Bürgerschule Aschersleben; seit 1832 nw Lehrbücher; 1850 Rektor der Bürgerschule in Merseburg; seit 1858 Seminardirektor in Bremen; 1857-74 Red. des Pädagogischen Jahresberichts; trat für einen induktiven Anschauungsunterricht ein. DBA 787,4181; ADB 19,328-331; Scheele: Von Lüben (1981) Mädler, Johann Heinrich 29.5.1794 Berlin - 13.3.1874 Hannover, ev. 1806-12 am Friedrich Werderschen Gymansium u. Küsterschen Seminar in Berlin; seit 1813 Privatlehrer; 1819 Gründung einer Privatschule, seit 1828 Arbeit an der privaten Sternwarte des Berliner Bankiers Beer; 1831 Dozent an Diesterwegs Lehrerseminar in Berlin; 1840-65 Direktor der Sternwarte in Dorpat, Forschungen zu Doppelsternen; populärwissenschaftliches Hauptwerk 1841 Populäre Astronomie Wunderbau des Weltalls, bis 1885 acht Aufl., zuletzt hg. v. H. J. Klein; Mitglied des FDH. DBA 795,326; DBA NF 846, 59-62; ADB 20, 37-39; NDB 15, 634; Die Natur 43 = NF 20 (1894), S.337-339 Marshall, William 1.9.1845 Weimar - 16.9.1907 Leipzig St. in Jena u. Göttingen; 1867-72 Assistent am Reichsmuseum Leiden/Niederlande, Pr. in Leiden; 1872-79 Sekretär der Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach; seit 1874 niederländischer Konsul in Weimar; seit 1877 in Leipzig, Assistent beim Zoologen R. Leuckart, 1880 Habil.; 1885 ao Prof. für Zool. u. Vergleichende Anatomie; seit 1876 Mitglied der Leopoldina; Beiträge für die 3. u. 4. Aufl. von Brehms Tierleben-, Ref. der DGVN u. der G W . DBA 807,170; DBA NF 857,234; KL 1907,976; Gebhardt 1,230f. u. II, 175 Martens, Eduard von 18.4.1831 Stuttgart -14.8.1904 Berlin, ev. 1849-55 St. Medizin u. Nw in Tübingen u. München; 1853 med. Staatsexamen; 1855 Pr. in Tübingen; 1855 Forschungsreise nach Norwegen mit Johannes Müller; seit 1856 Assistent am Zool. Museum der Universität Berlin, seit 1859 als Kustos, zuletzt 1883-87 dessen 2. Direktor; 1860-64 Asienexpedition; 1873 Habil. Zool. in Berlin, 1874 ao Prof. u. Mitglied der Leopoldina; Hauptmitarbeiter der Encyclopädie der Naturwissenschaften, 1881-85 Red. des Archivs für Naturgeschichte; 1898 Geheimer Regierungsrat; Schnecken- u. Muschelexperte. DBA 807,271-273; DBA 857,304-305; NDB 16,2681; Gebhardt II, 871
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Masius, Hermann 7.1.1818 Rebnitz/Sachsen - 22.5.1893 Leipzig, ev. 1829-37 Erziehung in der Lateinschule der Franckeschen Stiftungen Halle; St. Theologie in Halle, 1842 Lehrerexamen; 1843 Lehrer an der Realschule Annaberg, 1844 am Gymnasium Salzwedel; 1848/49 Mitglied der zweiten sächsischen Kammer, 1853 Konrektor am Gymnasium Stralsund, 1854 nach Halberstadt, 1860 Direktor Realschule I. Ordnung in Dresden, 1862 erster o Prof. der Pädagogik in Leipzig; Mitarbeiter Die gesamten Naturwissenschaften, 1852 1. Aufl. der Naturstudien. DBA 810,424 = ADB 52,226-230; DBA NF 860,393-404; Gebhardt 1,232£. Matschie, Paul 11.8.1861 Brandenburg/Havel - 7.3.1926 Berlin, ev. 1878-83 St. Mathematik u. Nw in Berlin u. Halle/S.; keine Pr.; 1883-87 Mitarbeiter am Zool. Museum Berlin; seit 1887 Mitarbeiter am Museum für Naturkunde Berlin, 1890 Assistent, 1895 Kustos, 1924 2. Direktor; 1893 u. 1895 mit Unterstützung der Preußischen Akademie der Wissenschaften Rundreise durch nationale u. internationale Naturmuseen; 1884-1907 Schriftführer der Deutschen Ornithologischen Gesellschaft; organisierte 1901 den V. Internationalen Zoologen-Kongreß in Berlin; 1902 Professorentitel; Dozent der DGVN; Vertreter des zoogeographischen Prinzips u. Gegner der Anpassungslehre; Mit-Hg. der Zeitschrift Natur und Haus. DBA 812,16-17; DBA NF 862,195 = NDB 16,384f.; Gebhardt 1,233 u. II, 176 Meidinger, Hermann 1842-15.5.1898 Berlin Schwager von Karl Gutzkow, Verleger in Berlin. DBA 820,196; Erwähnung in NDB 7,354 Meier, Hermann 1828-2.11.1877 Emden abolvierte das Lehrerseminar in Emden, dort Gymnasiallehrer. ADB 52,290£ Meyer, Hermann Julius 4.4.1826 Gotha -12.3.1909 Leipzig, ev. Sohn des Verlegers Joseph Meyer, der 1826 das Bibliographische Institut gegründet hatte; nach Besuch des Gymnasiums in Hildburghausen Ausbildung als Buchhändler; 1849 nach New York, um dort Zweigstelle des Bibliographischen Instituts zu gründen, die 1854 wieder liquidiert wurde; 1855 Einritt in den väterlichen Verlag, konsolidierte nach dessen Tod 1856 das Unternehmen; seit 1861 neue Klassikerreihen; auf seine Anregung entstand seit 1863 Brehms Thierleben-, verlegte seit 1880 Dudens Wörterbuch; übernahm die Herausgabe des Konversations-Lexikons', 1874 Übersiedlung des Unternehmens nach Leipzig; 1884 Rückzug aus den Verlagsgeschäften. DBA NF 888,227; NDB 17,297f.; Sarkowski: Das Bibliographische Institut (1976) Meyer, Max Wilhelm 1853 Braunschweig - 17.12.1910 Meran verließ bereits mit 14 Jahren die Realschule; durch persönliche Vermittlung Assistententätigkeit an der Göttinger Sternwarte, danach in Leipzig u. Zürich; 1875 Pr. in Zürich; Hilfsarbeiten am meteorol. Institut Zürich; Assistent an den Sternwarten in Genf u. Neuchätel; danach in Wien, verfaßte nw Feuilletons u. entwickelte ein sog. Wissenschaftliches Theater, das er 1888-1897 als Direktor der Berliner Urania ebendort zur ständigen Einrichtung machte (,Urania-Meyer'); vorzeitige Entlas-
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Kurzbiographien
sung wegen interner Kontroversen; seit 1897 Privatgelehrter; Mitglied im Ehrenund Freundesrat des Kosmos/Handweiser mit R. France u. W. Bölsche, zahlreiche Beiträge für die Kosmos-Gesellschaft; Mitbegr. der DNG. Meyer: Wie ich der Urania-Meyer wurde (1908), France: Dr. M. Wilhelm Meyer (1911) Michelis, Friedrich 27.7.1815 Münster - 28.5.1886 Freiburg i.B., kathol., altkathol. St. Philosophie u. Theologie an der Akademie Münster; 1838 Priesterweihe; 1849 Pr.; 1849-54 Prof. für Geschichte u. Philologie an der philosophisch-theologischen Lehranstalt Paderborn, Direktor des Collegium Borromäum; 1855-64 Pastor in Albachten bei Münster; Mitbegr. der Zeitschrift Natur und Offenbarung; 1864 Prof. der Philosophie am Lyceum Hosianum zu Braunsberg; 1866 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, 1867 Mitglied des Reichstags des Norddeutschen Bundes; als Anhänger des Alt-Katholizismus wurde ihm 1871 die Tätigkeit am Lyceum untersagt; danach Reiseprediger, grd. altkatholische Gemeinde in Freiburg i.B.; nw, theologische u. literarische Schriften; Platoniker; Gegner des Darwinismus, betonte analoge Baupläne in der Natur. DBA 844, 368-373; DBA NF 896, 240-244; ADB 52, 376-384; Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969) Möbius, Karl August 7.2.1825 Eilenburg/Sachsen - 26.4.1908 Berlin, ev. 1838-1844 am Lehrerseminar Eilenburg; danach Anstellung als Volkschullehrer im Harz u. autodidaktische Fortbildung; 1849 nach Anregung A. von Humboldts Beginn des St. der Nw in Berlin, erhielt 1852 vom Köllnischen Gymnasium das Reifezeugnis zuerkannt; 1853 Pr. in Halle/S.; 1853-68 Lehrer am Johanneum Hamburg; 1854-1868 Mitglied der Museumskommission in Hamburg, 1860-67 Mitglied des Verwaltungsrats der Zool. Gesellschaft; 1864-68 Vors. des Naturwissenschaftlichen Vereins Hamburg; in diesen Funktionen Mitbegr. des Zool. Gartens u. des Naturhistorischen Museums in Hamburg; richtete 1864 in Hamburg das erste Seewasseraquarium Deutschlands ein; 1868 erster o Prof. Zool. Kiel und Direktor des Zool. Museums; 1872-88 auch Dozent an der Marineakademie in Kiel; 1874/75 Expedition nach Mauritius; 1879/80 Rektor der Univ. Kiel; öffentliche Vorträge unter anderem im Kieler Volksbildungsverein, Mitglied im Vorstand des Naturwissenschaftlichen Vereins für Schleswig-Holstein; rezipierte mit Vorbehalten die darwinistische Entwicklungslehre; seit 1887 in Berlin, 1888-1905 o Prof. u. Direktor der Zool. Sammlungen im Museum für Naturkunde, das er in eine Schausammlung u. eine wissenschaftliche Sammlung trennte; Leiter versch. wissenschaftlicher Expeditionen; Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften u. der Leopoldina; Vorträge an der Berliner Singakademie; 1901 Vors. des V. Internationalen Zoologenkongreß; Mitglied der Berliner Mittwochs-Gesellschaft für wissenschaftliche Unterhaltung; Ref. der DGVN u. der Urania; Möbius ist einer der Gründer der modernen Meeresforschung, der Biozönose- u. Ökologieforschung (Fauna der Kieler Bucht 1865-72, Die Auster und die Austernwirtschaft 1877); zu seinen Schülern gehörten u.a. F. Junge u. F. Dahl, die den Biozönose-Begriff von Möbius weiterentwickelten; er widmete sich neben den zool. Arbeiten auch Fragen der Naturästhetik. DBA 849, 400-407; DBA NF 902, 143-144; NDB 17, 606f.; Gebhardt I, 244f. u. II, 178; Karl Möbius (1981)
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Moleschott, Jacob 9.8.1822 Herzogenbusch/Holland - 20.5.1893 Rom St. in Heidelberg; 1845 med. Pr.; 1845^7 Arzt in Utrecht; 1847 Habil. für Anatomie u. Physiologie in Heidelberg, 1847-54 PD in Heidelberg; Auseinandersetzungen mit J. Liebig; veröffentlichte 1850 Lehre der Nahrungsmittel für das Volk, 1852 Der Kreislauf des Lebens u. 1854 eine Biographie Georg Forsters; 1854 vom Senat der Universität Heidelberg verwarnt, daraufhin Niederlegung der Dozentur; 1856-61 Prof. der Physiologie in Zürich, 1861-79 in Turin, seit 1879 in Rom; nach der Nationalisierung 1876 Ernenung zum Senator in Rom; neben L. Büchner u. K. Vogt gilt M. als Hauptvertreter des Materialismus in Deutschland. DBA 854,99f.; DBA NF 906,214-216; ADB 52,435^38; NDB 17,723-725; Gregory: Scientific Materialism (1977), Wittich: Vogt, Moleschott, Büchner (1971) Müllenhoff, Karl geb. 3.5.1849 Kiel St. Nw in Berlin u. Heidelberg; 1874 Pr., später Realschuldirektor in Berlin; Ref. der DGVN. DBA 865,336 Müller, Adolf 16.1.1821 Friedberg - 28.1.1910 Darmstadt, ev. Sohn des hessischen Tondichters Peter Müller; Bruder von Karl Müller; 1839 Beginn des St. der Forstwissenschaft u. Nw in Gießen; seit 1858 als Oberförster tätig, zunächst in Gladenbach, später in Krofdorf; seit 1891 im Ruhestand, Umsiedlung nach Darmstadt; Tierillustrator u. vor allem ornithologische u. tierpsychologische Studien mit seinem Bruder (Charakterzeichnungen der vorzüglichsten deutschen Singvögel, Tiere der Heimat). DBA 866,36-37; DBA NF 917,362-364; Gebhardt 1,247f. u. III, 113 u. IV, 75f.; Friedrich Hofmann, in: Die Gartenlaube 1887, S. 140; Falkenhorst: Adolf und Karl Müller (1905) Müller, Fritz (eigentlich: Friedrich) 31.3.1822 Windischholzhausen/Erfurt - 21.5.1897 Blumenau/Brasilien, ev., ar. Bruder von Hermann Müller; Apothekerlehre; 1840-44 St. Mathematik u. Nw in Berlin, 1844 Pr.; 1845 Staatsexamen; 1845-48 St. Medizin in Greifswald, zool. Studien; Tätigkeit als Hauslehrer; 1854 Umsiedlung nach Brasilien (Blumenau); 1855 Lehrer am Lyzeum in Desterro; Forschungen zu Krustaceen; 1865 Rückkehr nach Blumenau, legt hier Beobachtungsstation an, biologische Beobachtungen u. Sammlungen für das naturhistorische Museum in Rio de Janeiro; M. war einer der frühesten deutschen Anhänger Darwins (Für Darwin 1864), der ihn den „Fürst der Beobachter" nannte. DBA NF 919, 396; ADB 52, 516-518; Breitenbach: Populäre Vorträge (1910), S.153-176 Müller (häufig ergänzt: -Lippstadt), Hermann 23.9.1829 Mühlberg/Erfurt - 26.8.1883 Tirol, ev. Bruder von Fritz Müller; 1848-52 St. Nw in Halle u. Berlin; 1853-55 Lehrer in Berlin und Schwerin; 1855 Pr.; seit 1855 Lehrer an der Stadtschule Lippstadt (ab 1859 Realschule I. Ordnung); seit 1876 in der Öffentlichkeit umstritten, da er die darwinistische Lehre in den Schulunterricht integrierte, 1878 wurde der Streit darüber vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus ausgetragen; 1883 Ernennung zum Prof.; Experte der Blüten- und Insektenbiologie.
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DBA NF 921,125; ADB 52, 511f.; Krause: Prof. Dr. Hermann Müller (1883), Depdolla: Hermann Müller-Lippstadt (1941), Junker: Darwinismus (1989), S. 261-287 Müller, Karl 16.7.1825 Friedberg - 21.9.1905 Alsfeld, ev. Sohn des hessischen Tondichters Peter Müller; Bruder von Adolf Müller; St. Theologie in Gießen; seit 1851 als Pfarrer, später als Dekan in Alsfeld (Hessen); vor allem ornithologische u. tierpsychologische Studien mit seinem Bruder (u.a. Charakterzeichnungen der vorzüglichsten deutschen Singvögel, Tiere der Heimat). DBA 871,326; DBA NF 922,340-341; Gebhardt 1,250; Friedrich Hofmann, in: Die Gartenlaube 35 (1887), S. 140; Falkenhorst: Adolf und Karl Müller (1905) Müller (häufig ergänzt: von Halle), Karl August 16.12.1818 Allstedt/Sachsen - 9.2.1899 Halle/S., ev., später wahrscheinlich Anhänger der Lichtfreunde Apothekerlehre; 1843 nach Halle/S.; 1843^6 St. Nw in Halle/S.; Mitbegr. der Zeitschrift Die Natur 1852 und bis 1896 deren Hg.; Mitbegr. des Naturwissenschaftlichen Vereins für Sachsen und Thüringen (1851 nach internen Kontroversen mit Ch. Giebel ausgetreten); 1854 in erster Ehe verheiratet mit einer Schwester O. Ules; Vortrag auf dem 4. Humboldt-Fest in Halle 1862; führendes Mitglied im Hallischen Handwerkerbildungsverein u. Gewerbeverein, dort öffentliche Vortragstätigkeit; 1849 Dr. h.c. Rostock; 1896 Ernennung zum Prot; 1898 Mitglied der Leopoldina; Spezialist für Mooskunde (Deutschlands Moose 1853), blieb Gegner der Darwinschen Selektions- u. Entwicklungslehre. DBA 871, 341; O. Taschenberg: Zur Erinnerung (1899), Junker: Darwinismus (1989), S. 119-122 Nees von Esenbeck, Christian Gottfried Daniel 14.2.1776 Erbach/Odenwald - 16.3.1858 Breslau, seit 1844 deutschkath. 1796-99 St. Medizin in Jena; 1800 Pr. in Gießen; 1802-1817 Privatier u. Naturstudium auf dem Landgut Sickershausen bei Kitzingen; 1817-18 Prof. Botanik in Erlangen, 1818-1830 in Bonn, 1830-52 in Breslau, hier auch Direktor des Botanischen Gartens; seit 1839 daneben philosophische Vorlesungen; 1816-18 Verhandlungen mit dem Cotta-Verlag über eine naturkundlich-populärwissenschaftliche Beilage zum Morgenblatt; 1818-58 Präsident der Leopoldina; seit 1844 Mitgüed der deutschkath. Gemeinde, deren Vorsteher er wurde; 1846 Grd. eines Du-Vereins in Breslau; seit 1848 in der Arbeiterbewegung aktiv, Mitbegr. des Breslauer Arbeitervereins, später Präsident des Berliner Arbeiterkongresses, Mitglied der preußischen Nationalversammlung auf der demokratischen Linken, 1849 aus Berlin ausgewiesen, Rückkehr nach Breslau; polizeiliche Maßnahmen gegen ihn, 1851 suspendiert, 1852 seines Amtes enthoben. DBA 887,104-122; DBA NF 938,345-353; ADB 23,368-376; Leesch: Die Geschichte (1938/1982), S. 45-84 Oelsner, Theodor 5.8.1822 Breslau - 20.3.1875 Breslau St. in Breslau; 1848 politisch aktiv; Mitbegr. des Breslauer Handwerkervereins; Geschäftsführer der 1. u. 2. Humboldt-Feier 1859-60; 1862 Red. der Schlesischen Provinzialblätter. DBA 912,109f.
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Oken, Lorenz 1.8.1779 Ortenau/Offenburg - 11.8.1851 Zürich, kath. St. in Würzburg u. Göttingen, 1805 Habil.; 1807 ao Prof. der Medizin in Jena, 1812 o Prof. der Philosophie u. Naturgeschichte, 1819 Entzug der Lehrerlaubnis; begr. 1822 die GDNA; 1827-30 o Prof. der Physiologie in München, 1830-32 in Erlangen, seit 1832 o Prof. Naturgeschichte in Zürich; 1816-48 Hg. der Zeitschrift Isis; führte die Naturphilosophie Schellings fort. DBA 915,119-132; DBA NF 966,199-210; ADB 24,216-226 Ostwald, Wilhelm 2.9.1853 Riga - 4.4.1932 Großbothen 1872-75 St. Chemie u. Physik in Dorpat; 1878 Pr.; 1878 Habil.; seit 1881 Prof. am Polytechnikum Riga; 1887-1906 Direktor des Instituts für Physikalische Chemie in Leipzig; danach Rückzug als Privatgelehrter; verschiedene Ehrendoktorwürden, 1905 Gastprof. an der Harvard und Columbia University; 1909 Nobelpreis für Chemie; 1910-16 Präsident des Deutschen Monistenbunds u. Ref. des Weimarer Kartells; begr. die sogenannte energetische Weltanschauung. DBA 922, 214; DBA NF 974, 51-91; Daser: Ostwald Energetischer Monismus (1980) Petzholdt, Georg Paul Alexander 29.1.1810 Dresden - 5.5.1889 Freiburg i.B. 1846-72 Prof. Landwirtschaft u. Technologie Univ. Dorpat; Forschungsreise nach Rußland; stellte Liebigs organische Chemie 1844 in seinen Populären Vorlesungen über Agrikulturchemie dar. DBA NF 998,113-116 Plate, Ludwig 16.8.1862 Bremen -16.11.1937 Jena 1882-85 St. Mathematik u. Nw in Jena u. Bonn; 1885 Pr. in Jena bei Ernst Haeckel; 1887 Staatsexamen in Bonn; 1888 Habil. für Zool. in Marburg; 1893-95 wissenschaftliche Reise nach Südamerika; 1898 Titularprofessor an der Universität Berlin, zugleich Dozent für Zool. an der Tierärztlichen Hochschule; seit 1899 im Vorstand der DGVN; 1901 Kustos am Museum für Meereskunde in Berlin; 1901/2 Reisen in Griechenland u. am Roten Meer, 1904/5 in Westindien, 1914/15 in Ceylon; Kustos am Institut für Meereskunde in Berlin; 1904 o Prof. der Zool. an der Landwirtschaftl. Hochschule in Berlin; Teilnehmer an der Berliner Wasmann-Diskussion, Ref. des Weimarer Kartells; seit 1909 o Prof. Zool. in Jena als Nachfolger Haeckels; zugleich Direktor des Phyletischen Museums (1912 eröffnet), an dessen Mitwirkung Haeckel nach einer Auseinandersetzung mit Plate verzichtete; 1934 emeritiert, bis 1935 im Amt. DBA 963,242; DBA NF 1012,210-214; Uschmann: Geschichte (1959) Potonie, Henry 16.1.1857 Berlin - 28.10.1913 Berlin-Lichterfelde 1878-81 St. Botanik in Berlin; 1880-83 Assistent Bot. Garten und Hilfsmitarbeiter des Bot. Museums Berlin; Pr. 1884; seit 1885 Mitarbeiter der Geologischen Landesanstalt u. Bergakademie Berlin; seit 1891 Dozent für Paläobotanik an der Bergakademie; 1898 Bezirksgeologe; 1900 Ernennung zum Prof.; 1901 Landesgeologe, Habil.; 1913 Geheimer Bergrat; Mitglied im Vorstand der Gesellschaft für positivistische Philosophie und im Vorstand der DGVN, Anhänger von H. Spencer u. R. Avenarius; Red. der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift; Dozent an der Humboldt-Akademie, der DGVN und der Urania.
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DBA 974, 423-425; DBA NF 1022, 402-404; NwW 28 = NF 12 (1913), S.753-757, 799f.; Gothan: H. Potonie (1913) Preyer, William Thierry 4.7.1841 Mosside/Manchester-16.7.1897 Wiesbaden seit 1859 St. Medizin u. Nw in Bonn, Berlin, Heidelberg u. Wien; 1860 Island-Expedition; 1862 Dr. phil. in Heidelberg; 1865 Habil. in Bonn, PD für Zoophysik u. -chemie; 1866 Dr. med. in Bonn; 1869-88 o Prof. der Physiologie in Jena; seit 1888 in Berlin, Vorlesungen über Geschichte der Physiologie u. Hypnotismus, Mitarbeiter u. Ref. der Urania; Rückzug von der Lehrtätigkeit aus gesundheitlichen Gründen, seit 1893 in Wiesbaden; Engagement für die Verbesserung des Schulunterrichts, insbes. Stärkung des nw Unterrichts; Studien zur Seelenentwicklung des Kindes; wissenschaftliche Beschäftigung mit Hypnotismus; Hg. von wissenschaftlichen Briefen G. Th. Fechners. DBA 981,203-212; DBA NF 1027,40-47; ADB 53,116-119 Ratzel, Friedrich 30.8.1844 Karlsruhe - 9.8.1904 Ammerland/Starnberger See, ev. Apothekerlehre, 1863-65 in der Schweiz; seit 1866 St. Nw in Karlsruhe u. Heidelberg; 1868 Pr. in Heidelberg über ein zool. Thema; 1868/69 in Montpellier u. Cette; 1869 nach Dresden; Reiseberichterstatter der Kölnischen Zeitung (Zoologische Briefe vom Mittelmeer); 1870 Kriegsfreiwilliger; mehrjährige Reisen in das europäische Ausland und nach Nord- u. Mittelamerika; 1875 Rückkehr nach Deutschland; 1876 ao Prof. der Geographie an der TH München, 1880 o Prof., seit 1886 in Leipzig; 1882-84 Redaktionsleiter der Zeitschrift Das Ausland; Werke zur Geographie, Völkerkunde, Anthropogeographie, Mitbegr. der sog. Politischen Geographie (Die Vereinigten Staaten von Nordamerika 1878-80; Anthropogeographie 1882-91; Politische Geographie 1897; Die Erde und das Leben 1901-2); Hg. der Bibliothek geographischer Handbücher; ca. 150 Beiträge für die Allgemeine Deutsche Biographie. DBA 1001,233-235; DBA NF 1045,1-54; Buttmann: Friedrich Ratzel (1977), Smolka: Völkerkunde (1994) Rau, Heribert R. 11.2.1813 Frankfurt/M. - 26.9.1876 Frankfurt/M., kath., seit 1844 deutschkath. kaufmännische Ausbildung; schloß sich 1844 der deutschkath. Bewegung an, Mitbegr. der Frankfurter Gemeinde; 1844-46 St. Theologie in Heidelberg; 1847^19 Prediger der deutschkath. Gemeinde in Stuttgart, 1849-56 in Mannheim; 1856 Entzug des Predigeramts durch die Regierung, Rückkehr nach Frankfurt/M.; 1868-74 Prediger und Lehrer der deutschkath. Gemeinde in Offenbach; schriftstellerisch tätig, Verf. des Evangeliums der Natur, Mitglied der Freimaurer-Loge Socrates zur Standhaftigkeit in Frankfurt/M. DBA 1001, 313-316; ADB 27, 376-379; Biographie Heribert Rau's, in: Rau: Das Evangelium, 7. Aufl. (1891), S.l-14; Holzem: Kirchenreform (1994) Reclam, Karl 18.8.1821 Leipzig - 6.3.1887 St. Medizin in Leipzig, Prag, Wien u. Paris; 1846 Pr. in Leipzig; 1858 Habil. in Leipzig; 1868 ao Prof. Medizin; seit 1877 Polizeiarzt; 1857-60 Hg. der Zeitschrift Kosmos/Naturwissenschaften; Vorträge in der Leipziger Polytechnischen Gesellschaft; Publikationen zur Nahrungs- u. Gesundheitslehre. DBA 1005,421-424; DBA NF 1049,5; ADB 53,246
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Reinke, Johannes 3.2.1849 Ziethen/Ratzeburg - 25.2.1931, ev. 1867-71 St. in Rostock, Bonn, Berlin u. Würzburg; 1871/72 Assistent am Bot. Garten in Göttingen; 1872 Habil. in Bonn; 1873 ao Prof., 1879 o Prof. der Pflanzenphysiologie in Göttingen, seit 1885 Prof. der Botanik in Kiel; arbeitete als erster Botaniker an der Zool. Station Anton Dohms; seit 1894 Mitglied des Preußischen Herrenhauses; 1901 Mitverf. der Hamburger Thesen; Mai 1907 im Herrenhaus Angriffe auf Haeckel und den Deutschen Monistenbund; 1908 Vorträge in der Berliner Singakademie; Mitglied des Keplerbundes; befreundet mit E. Wasmann; R. galt nach 1900 als nw u. naturphilosophischer Hauptgegner Haeckels, vertrat auf der Basis des christlichen Glaubens eine modifizierte Entwicklungslehre, die die Zweckmäßigkeit in der Natur und das Wirken gestaltbildender Kräfte betonte, lehnte die These von der organischen Urzeugung ab; Hauptwerk vor 1914 Die Welt als That. DBA 1018,376; DBA NF 1058,227-231; Reinke: Mein Tagewerk (1925), Kluge: Johannes Reinke's Dynamische Naturphilosophie (1935), Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969) Rößler, Carl 6.5.1788 Wiesbaden - 1 8 6 3 kaufmännische Lehre; seit 1818 Hutfabrikant; 1853-63 Direktor der Wetterauischen Gesellschaft für die gesamte Naturkunde; 1858 Mitglied der Leopoldina; Meister des FDH; 1858 Dr. phil. h.c. Heidelberg; umfangreiche Mineraliensammlung, Freundschaft mit Leopold von Buch. DBA NF 1088,196-198; Zingel: Geschichte (1908) Roßmäßler, Emil Adolf 3.3.1806 Leipzig - 8.4.1867 Leipzig, ev., seit 1845 deutschkath. Sohn des Kupferstechers Johann Adolf Rossmässler; Beginn des St. der Theologie in Leipzig, leitete schon im zweiten Studienjahr botanische Exkursionen für Apotheker, später Beiträge für die Flora Deutschlands von H. G. L. Reichenbach; 1827-30 Leitung der Schola collecta in Weida/Thüringen; Mai 1830 Ernennung zum Lehrer für Zool. an der Forstakademie Tharandt, 1832 Ernennung zum Prof., 1839 interne Auseinandersetzung wegen R.s Anspruch auf die Leitung des Tharandter Bot. Gartens; veröffentlichte seit 1835 Iconographie der europäischen Land- und Süßwasser-Mollusken sowie zwischen 1833 und 1843 drei Lehrbücher; nw Reisen 1833 nach Wien, 1835 nach Triest, 1837 nach Berlin; 1847 Überlegungen, an die spanische Ingenieur- und Bergschule in Villaviciosa zu wechseln; erlebte 1830 die Septemberrevolution in Dresden; 1845 Mitbegr. eines Bürgervereins in Tharandt; 1845 Übertritt zum Deutschkatholizismus; 1846 Auftritt auf dem 1. Sächsischen Turnertag; Kontakte zu liberalen Abgeordneten der zweiten sächsischen Kammer; Mai 1848 im Wahlkreis Pirna Wahl in die deutsche Nationalversammlung; 1848/49 Mitglied der Nationalversammlung in Frankfurt/M. u. in Stuttgart, gehörte zur Fraktion Deutscher Hof um Robert Blum, später zum Nürnberger Hof; tätig im Schulausschüß u. Unterausschuß für das Volksschulwesen; nach der Auflösung des Stuttgarter Rumpfparlaments 1849 Suspension von Tharandter Lehrstelle; im Winter 1849/50 naturkundliche Vorlesungen in Frankfurt/M.; 1850 gewann R. den gegen ihn angestrengten Hochverratsprozeß, zog aber seinen Widerspruch gegen die Suspension zurück, Pensionierung; März 1850 Umsiedlung nach Leipzig; dort zeitweise Vorsteher der deutschkath. Gemeinde; bis 1852 nw Vortragsreisen, dabei polizeilich beobachtet und z.T. aus den Städten ausgewiesen; 1850-53 1. Aufl. Der Mensch im Spiegel der Natur, danach populärwissenschaftliche Bücher und rege publizistische Tätigkeit; 1852 u. 1853 Gefängnisstrafen; 1852 neben Karl Müller u. Otto Ule Gründungsredakteur der Zeit-
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schrift Die Natur (bis 1854); 1852 Teilnahme an der 29. VDNA in Wiesbaden; 1853 Spanien-Reise; lehnte 1853/54 Angebot ab, die Leitung einer Ackerbauschule im Thurgau zu übernehmen; 1853 u. 1856 Schweizreise; 1856/57 propagierte R. als erster in Deutschland die Anlage von Süßwasser-Aquarien; 1859 Aufruf zur Bildung eines Landesmuseums für vaterländische Naturgeschichte und Industrie in Leipzig; grd. 1859 die Zeitschrift Aus der Heimath und initiierte die Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste; 1860 Meister des FDH; seit Nov. 1860 Vorträge in Verbindung mit E. A. Bock, A. Brehm und anderen im Leipziger Hotel de Saxe; 1861 Beitritt zum Gewerblichen Bildungsverein (1862 Austritt, 1863 Wiedereintritt); Juli u. Oktober 1862 auf Demokratentreffen in Frankfurt/M. u. Teilnahme am Deutschen Schützenfest; 1862 Mitglied im neuen Verein Vorwärts (bis März 1863); Nov. 1862 - März 1863 Mitglied im Leipziger Zentral-Komitee zur Vorbereitung eines Arbeiterkongresses, wird zu dessen Vertrauensmann gewählt; Rücktritt nach der Annäherung des Komitees an Lassalle; im Juni 1863 auf dem ersten Vereinstag Deutscher Arbeitervereine in Frankfurt/M., lehnt die Präsidentschaft ab; 1863 Festgruß an das Deutsche Turnerfest in Leipzig, im Sept./Okt. 1863 Gefängnisstrafe; 1866 Ehrenpräsident des Leipziger Arbeiterbildungsvereins; Aug. 1866 Mitbegr. der Sächsischen Volkspartei; Mitglied des Deutschen Nationalverein und des VDAV. DBA 1057,156-168; DBA NF 1098,222f.;ADB 29,268-271; Roßmäßler: Ein Naturforscherleben (1863), Roßmäßler: Mein Leben und Streben (1874), Rossmässler's Ehre (1867), Ule: Roßmäßler (1867), Ule: Am Grabe (1870), Burgemeister: Emil Adolf Roßmäßler (1958), Daum: Emü Adolf Roßmäßler (1993) Ruß, Karl 14.1.1833 Baldenburg/Westpß. - 30.9.1899 Berlin Apothekerausbildung; Pharmazeut in verschiedenen norddeutschen Städten, nw Selbststudium; St. der Medizin u. Zool. in Berlin; aus gesundheitlichen Gründen Rückzug aus dem Apothekerberuf, seither journalistische Tätigkeit; 1860 Red. der Bromberger Zeitung; bemühte sich 1862 in Bromberg um die Bildung eines Arbeitervereins; seit 1863 in Berlin als nw Schriftsteller, beschäftigte sich im besonderen mit der Ornithologie; 1866 Pr. in Rostock; grd. 1875 den ersten Berliner Liebhaberverein Aegintha, seit 1878 Vors. Ornis, Verein für Vogelkunde u. -Liebhaberei in Berlin; zeitweise Vors. des Deutschen Tierschutzvereins Berlin; Meister des FDH; Hg. der Zeitschriften Die gefiederte Welt 1872-1899 u. Isis 1876-1889; trotz ähnlich anthropomorphisierender Tierbetrachtung persönl. Gegnerschaft zu A. Brehm; aktiv für Vogelschutz; Veröffentlichungen in 55 Zeitschriften u. Tageszeitungen (nach Gebhardt 1,302); Vorträge für den Berliner Handwerkerverein u. die G W . DBA 1069,312-323; DBA NF 1112,53f.; ADB 53,650f.; Gebhardt 1,301f. u. II, 185; Na'aman: Die Konstituierung (1975), S. 255-257,768 Sachse, Carl Traugott 18.12.1815 Obersteinach/Sachsen - 19.11.1863 Dresden Lehrender Mathematik u. Nw an der Kreuzschule in Dresden; 1846-47 Hg. der Allgemeinen deutschen Naturhistorischen Zeitung', im Vorstand der Gesellschaft Isis in Dresden. DBA NF 1115,166 Schillings, Carl Georg 11.12.1865 Düren - 29.1.1921 Berlin, kath. 1896/97, 1899/1900, 1901/2 u. 1903/4 Afrikareisen, dokumentiert in erzählerischen Reisebänden mit eigenen Photographien; in der Naturschutzbewegung engagiert; Ref. der DGVN. DBA NF 1146,394-398; Gebhardt 1,314f.
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Schlagintweit, Robert von 27.10.1833 München - 6.6.1885 Gießen, kath. Sohn des Münchener Augenarztes Joseph Schlagintweit u. zweitjüngster von fünf Brüdern; Alpenuntersuchungen mit Brüdern Hermann u. Adolf, 1854-57 mit beiden Forschungsreise über Ägypten nach Indien in das Himalaya-Gebirge; Aufstellung der Reisesammlungen im Schloß Jägersburg bei Forchheim; öffentliche Vorträge über die Reisen; 1864 in Hessen-Darmstadt Ernennung zum Prof. u. ab 1864 ao Prof. der Geographie in Gießen; 1868/69 u. 1880 USA-Reise; hielt insges. ca. 1350 öffentliche Vorträge in Deutschland u. den USA (DBA NF 1149,309). DBA 1105,445-459; DBA NF 1149,303-315; ADB 31,336-347 Schleiden, Matthias Jakob 5.4.1804 Hamburg - 24.6.1881 Frankfurt/M. 1824-27 St. der Rechte in Heidelberg; 1827 Dr. iur. in Heidelberg; bis 1833 Advokat in Hamburg; 1831 Selbstmordversuch, Aufgabe der juristischen Karriere; seit 1833 St. Medizin u. Nw in Göttingen u. Berlin; 1839 Dr. phil. in Jena; ao Prof. der Philosophie in Jena; 1843 Dr. med. h.c.Tübingen; 1846 ao Prof., 1850 o Prof. in der medizin. Fakultät Jena; 1855 Hofrat; 1862 Aufgabe der Professur in Jena u. Übersiedlung nach Dresden; 1863-64 Prof. der Botanik in Dorpat; 1864 wieder als Privatgelehrter in Dresden, später im Hessischen; Mitbegr. der modernen, induktiven Botanik; zahlreiche harte Auseinandersetzungen mit akademischen Kollegen, 1842 Polemik gegen J. Liebig; als populärwissenschaftliche Werke gelten Die Pflanze und ihr Leben 01848,61864) und Studien. Populäre Vorträge 1855. DBA 1107,365-376; DBA NF 1151,194-202; ADB 31,417-421 Schmeil, Otto 3.2.1860 Großkugel/Halle - 3.2.1943 Heidelberg, ev. Erziehung im Waisenhaus der Franckeschen Stiftungen in Halle/S.; St. Nw, Philosophie u. Pädagogik in Halle u. Leipzig; Besuch des Lehrerseminars in Eisleben; seit 1880 Lehrer in Zörbig, seit 1883 Volksschullehrer in Halle; 1891 Pr. bei dem Zoologen R. Leuckart in Leipzig; seit 1894 Schulrektor in Marburg; zeitweise Vors. des Deutschen Lehrer-Vereins, bekanntester u. am meisten verbreiteter nw Lehrbuchautor in Deutschland (,der Schmeil'), Übersetzungen in diverse Sprachen, schulreformerische Schriften, vertrat eine biologische Konzeption u. die Idee der natürlichen Lebensgemeinschaft. DBA NF 1157,34-35; Erhard: Otto Schmeil (1930/31), Seybold: Otto Schmeils Lebenswerk (1954/86), Schmeil: Leben und Werk (1954/1986) Schmid, Bastian 29.12.1870 Weihmichl./Bayern -1944 St. Nw u. Philosophie; Pr. in Leipzig; bis 1915 Lehrer am Realgymnasium in Zwickau; nach 1904 Mitglied der Unterrichtskommission der GDNA u. des Vereins zur Förderung des mathematischen und nw Unterrichts; Schulreformer, ab 1914 Hg. der Zeitschrift Natur. DBA NF 1157,387-388 Schmidt, Heinrich 16.12.1874 Heubach - 2.5.1935 Jena 1900 Privatassistent von Ernst Haeckel; Generalsekretär des Deutschen Monistenbundes, Ref. des Weimarer Kartells; Teilnehmer an der Berliner Wasmann-Diskussion; 1912 Archivar im Phyletischen Archiv Jena; 1916 Leiter des Haeckel-Archivs; 1919 Ernennung zum Professor; 1920-35 Direktor des Ernst-Haeckel-Hauses. DBA NF 1162,23-25; Uschmann: Geschichte (1959)
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Schoedler, Karl Ludwig 25.2.1813 Dieburg - 27.4.1884 Mainz Nach 1828 zuächst im pharmazeutischen Bereich tätig, danach Auslandsaufenthalt; 1834 nach Gießen, 1835 Assistent in Liebigs Chemischem Labor; Pr. in Gießen; Mitarbeit an nw Werken; 1842-54 Lehrer am Gymnasium zu Worms; seit 1854 Lehrer an der Provinzial-Realschule in Mainz; verfaßte das Buch der Natur (22 Aufl. bis 1884), gab Volks- u. Schulausgabe von Brehms Thierleben heraus; auch literarische Veröffentlichungen. DBA 1128,332-335; DBA NF 1174,96-98; ADB 32,213 Schoenichen, Walther 18.7.1876 Köln - 22.11.1956, ev., ar. Besuch der Latina in Halle/S.; St. Nw in Halle; 1898 Pr., 1899 Staatsexamen; 1899-1913 im höheren Schuldienst, zuerst an den Franckeschen Stiftungen, ab 1901 in Berlin-Schöneberg; 1913-15 Dozent an der Akademie in Posen; 1915-22 stellvertretender Leiter des Zentralinstituts für Erziehung u. Unterricht in Berlin; 1922-35 Direktor der Staatl. Stelle für Naturdenkmalpflege in Preußen, 1935-38 Direktor der Reichsstelle für Naturschutz; 1934 Lehrauftrag Universität Berlin; Hg. der Zeitschriften Aus der Natur, Der Naturforscher u. Der Heimatforscher, sowie der Biologischen Studienbücher u. der Naturschutzbücherei; Publikationen zur Unterrichtsmethodik u. Naturschutzbewegung. DBA NF 1177,438-445; Knaut: Zurück zur Natur (1993) Schwahn, Paul 1859 Schwerin - 20.4.1920 Berlin Red. Himmel und Erde, wissenschaftlicher Direktor der Berliner Urania. DBA NF 1201,109 Schwetschke, Gustav 5.4.1804 Halle/S. - 4.10.1881 Halle/S., seit 1840er Jahren freiprotestantisch Wurzeln des Schwetschke Verlages in Halle reichen bis ins 17. Jh. zurück; St. Philologie in Halle u. Heidelberg; Burschenschaftler, befreundet mit Arnold Rüge; 1840 Pr; 1828-43 Red. Hallischer Courier, 1843 Alleininhaber des Verlagshauses; Vors. der Freien Gemeinde Halle, 1847 Vereinigung mit der deutschkath. Gemeinde zur Vereinigten Freien Christlichen Gemeinde in Halle; 1848 Stadtverordneter Halle, Wahl in das Vorparlament u. in die Frankfurter Nationalversammlung, schloß sich dort der Kaiserpartei an, Gegner der demokratischen Linken (Kritik in Epistolae novae obscurorum virorum); langjähriges Vorstandmitglied des Börsenvereins des deutschen Buchhandels. DBA 1164,422-427; ADB 33,440-442 Siemens, Werner [1888] von 13.12.1816 Lenthe/Hannover - 6.12.1892 Berlin 1834 freiwilliger Eintritt in die preußische Artillerie; 1841 Patent für neues galvanisches Versilberungs- u. Vergoldungsverfahren; seit 1842 Bekanntschaft mit E. Du Bois-Reymond u. H. Helmholtz; 1847 Berufung in die Telegraphenkommission des preußischen Generalstabs; seit 1846 mit der Einführung des elektr. Telegraphen beschäftigt; 1849 Ausscheiden aus dem Staatsdienst; grd. mit G. Halske TelegraphenBauanstalt Siemens & Halske u. Zweiggeschäfte in Petersburg u. London; 1860 Dr. phil. h.c. Berlin; entwickelte 1866 das Prinzip des elektr. Dynamo, 1879 Anstoß zur Konstruktion elektr. Straßenbahnen; Mitwirkung am deutschen Patentgesetz (1877) u. am Aufbau der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt; bis 1866 Mitglied des
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Preußischen Abgeordnetenhauses; 1873 Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften; 1880 Geheimer Regierungsrat. DBA 1184,183 = ADB 55,203-213; DBA NF 1224,223-312 Sigismund, Berthold 19.3.1819 Stadtilm -13.8.1864 Rudolstadt 1837-42 St. Medizin in Jena, Leipzig u. Würzburg; 1842-44 Arzt in Blankenburg; 1844/45 Hauslehrer in der Schweiz; 1845-^6 Lehrer für Deutsch u. Naturgeschichte in England; 1846 in Paris, darauf bis 1850 erneut Arzt u. Bürgermeister in Blankenburg; seit 1850 Lehrer für Nw, Geographie u. Englisch in Rudolstadt; von Roßmäßler als Autor für die Bücher der Natur gewonnen (Die Familie als Schule der Natur 1857). DBA 1185,62-68; DBA NF 1225,341; ADB 34,265-267 Sklarek, 22.9.1836Wilhelm Raschkow -10.10.1915 Berlin 1854-58 St. in Berlin; 1858 Pr. Medizin in Berlin; Arbeiten im Institut E. Du BoisReymonds; aktiv im Berliner Handwerkerverein; Arzt; 1868-1885 Hg. der Zeitschrift Der Naturforscher, 1887-1912 Hg. der Naturwissenschaftlichen Rundschau; 1900 Titel eines Professors; Schwiegersohn von Aaron Bernstein, heiratete 1863 dessen Tochter Fanny, nach deren Tod 1865 die Schwester Hulda. DBA 1189, 233; DBA NF 1230, 217-221; Schoeps: Bürgerliche Aufklärung (1992), S.288,295 (u.Abb.) Skowronnek, Fritz (Pseudonyme = Fritz Bernhard, Hans Windek) 20.8.1858 Schuicken/Ostpreußen - 7.7.1939 Berlin 1878-82 St. Geschichte u. Geographie in Königsberg; 1882 Pr.; 1884-88 Lehrer; seit 1888 Journalist in Berlin, zunächst für die Liberale Korrespondenz, 1892-96 Red. u. Leitartikler der Berliner Morgen-Zeitung u. Red. des Deutschen Reichsblatts, 1897 Chefred. der Breslauer Morgen-Zeitung, seit 1898 freier Schriftsteller u. Journalist; Beiträge für diverse Berliner und Provinzzeitungen; 1890-1919 Wahlredner und -Organisator für die Freisinnigen; Unterhaltungsschriftsteller, Dramatiker, Heimatdichter Masurens; pflegte Fischerei u. Jagdwesen als Spezialgebiete. DBA NF 1230,304-311; Skowronnek: Lebensgeschichte eines Ostpreußen. Leipzig 1925 Sokolowsky, Alexander geb. 1866 St. hauptsächlich der Zool. in Jena u. Berlin; Pr. in Zürich; Dozent an der Kunstgewerbeschule Zürich; danach Anstellungen in Hamburg am Zool. Garten, dem Naturkundlichen Museum und dem Kolonialinstitut; 1910-20 Direktorialassistent am Zool. Garten Hamburg; ab 1921 ohne feste Anstellung. DBA 1192,460 Specht, Karl August 2.6.1845 Schweina - 23.6.1909 Gotha Tischlerlehre u. Autodidakt; St. Geschichte, Philosophie u. Nw in Jena; anschließend Pr.; Reisen nach Italien, in die Schweiz u. nach Frankreich; nach der Rückehr Vortragsreisen mit philosophischen, astronomischen u. entwicklungsgeschichtlichen Themen in Deutschland; 1871-72 Red. der Thüringischen Presse in Gotha; 1872 Red. des Sonntagsblatts für Freidenker, ab 1872 Hg. des Freidenker-Almanachs\ ab 1876 Red. der Zeitschrift Freie Glocken-, 1881 mit Ludwig Büchner Mitbegr. des
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Deutschen Freidenkerbunds; Dr. August-Specht-Stiftung in Gotha unterstützte freidenkerische Schriftsteller. DBA 1200,115f.; DBA NF 1238,226-228 Spiller, Philipp 26.9.1800 Einsiedel/Friedland - 14.1.1879 Berlin, kath., seit 1861 konfessionslos 1826-28 Mitglied des Seminars für Gelehrtenschule in Breslau u. tätig am MathiasGymnasium; 1828-37 Lehrer am kath. Gymnasium in Glogau, danach Lehrer für Naturgeschichte, Mathematik, Physik u. Latein am Mariengymnasium in Posen; nach anhaltenden Konflikten mit dem Direktor u. der kath. Abteilung des Unterichtsministeriums 1861 Austritt aus der kath. Kirche; 1862 nach Berlin, als nw Schriftsteller tätig, aushilfsweise auch als Lehrer; 1865 Kandidat der Fortschrittspartei für das Abgeordnetenhaus; Theorie vom atomistisch zusammengesetzten Äther, der den Weltraum erfüllt. DBA 1203,109-115; DBA NF 1242,65-67; ADB 35,189f.; Poggendorff III, 1272; K. Müller: Professor Philipp Spiller (1879) Staby, Ludwig Initiator der DGVN; Hg. der Zeitschrift Natur und Haus. Sterne, Carus siehe Krause, Ernst Stinde, Julius (Pseudonyme = Alfred de Valmy, Wihelmine Buchholz) 28.8.1841 Kirch-Rüchel/Eutin - 5.8.1905 Olsberg i.W. 1858-60 Apotheker-Lehre in Lübeck; 1860-63 St. Chemie in Kiel, Gießen u. Jena; 1863 Pr.; 1863-66 in Hamburg in einer chemischen Fabrik tätig; 1864-68 Red. des Hamburger Gewerbeblatts, seit 1865 Mitarbeit an der Zeitschrift Reform; stellte mikroskopische Präparate für das Rodigsche Institut her u. erteilte Untericht an einer höheren Knabenschule; Vorträge im Gewerbeverein u. im Arbeiterbildungsverein; 1876 Übersiedlung nach Berlin; umfangreiche journalistische u. schriftstellerische Tätigkeit; Unterhaltungs- u. plattdeutsche Literatur, 1884 Familie Buchholz (bis 1907 86 Aufl. nach DBA NF, 250) u. Folgebände über Familie Buchholz u. Frau Wilhelmine; Theaterstücke u. -rezensionen, populärwissenschaftliche Aufsätze; privates Interesse für Magie u. Spiritismus. DBA 1229,325-335; DBA NF 1268,247-253 Taschenberg, Otto 23.3.1854 Zohna/Wittenberg - 21.3.1922 Halle Schulausbildung in Halle/S., 1873 Reifeprüfung an der Latina der Franckeschen Stiftungen; St. Nw in Halle u. Leipzig; 1876 Pr.; Forschungsaufenthalt an der Zool. Station Neapel; 1879 Habil. für Zool. in Halle; 1885 Assistent am Zool. Institut; 1888 ao Prof. u. Kustos der Sammlungen des Zool. Instituts; 1887-1903 Hg. der Bibliographie Bibliotheca Zoologica; 1896-97 Hg. der Zeitschrift Die Natur. DBA 1257,116; DBA NF 1294,407^10; Gebhardt 1,357 u. II, 191 Thesing, Curt 21.4.1879 Danzig - 25.5.1956 Bad Tölz St. Nw u. Medizin in Marburg, München u. Berlin; 1902 Pr.; zeitweise Assistent am Zool. Institut der Univ. Berlin u. Dozent an der Urania und der Humboldt-Akademie; nahm 1907 an der Berliner Wasmann-Diskussion teil; seit 1911/12 Hg. der Zeitschrift Natur, 1913 Mit-Red. der Zeitschrift Die Naturwissenschaften; später Teilhaber des Verlags Walter de Gruyter, Verlag für Kulturpolitik und Verlag Naturwis-
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senschaften; nach 1933 Schutzhaft und Arbeitsverbot; Übersetzer und Hg. von Werken von Henry Ford, Woodrow Wilson und Robert Lewis-Stevenson. DBA NF 1301,47-50+ Tschudi, Friedrich von 1.5.1820 Glarus - 24.1.1886 St.GaUen, ref. Bruder des Südamerikaforschers Johann Jakob Tschudi; 1838-42 St. Theologie u. Philosophie in Basel, Bonn, Berlin u. Zürich; 1843^17 Pfarrer in Toggenburg, schloß sich der liberalen Theologie Alois Biedermanns an, Mitarbeiter der Zeitschrift Die Kirche der Gegenwart; 1847 Rückzug von Pfarramt u. Übersiedlung nach St. Gallen; Beginh der publizistischen Tätigkeit, am Vorbild A. von Humboldt orientiert; 1849-52 Hg. der Neuen Illustrierten Zeitschrift für die Schweiz; als bekanntestes naturkundliches Werk 1853 Das Thierleben der Alpenwelt-, 1864 in den Grossen Rat gewählt, 1870-73 u. 1875-85 leitete er das kantonale Erziehungswesen; 1877-85 Mitglied im Rat der Stände. DBA 1288,177 = ADB 38,744-746; DBA NF 1322,105-112; Gebhardt 1,366 Ule, Otto 22.1.1820 Lossow/Frankfurt/O. - 7.8.1876 Halle/S., ev., in 1840er Jr. Anschluß an die Lichtfreunde 1840-42 St. Theologie, dann Mathematik u. Nw in Halle, 1842-43 in Berlin; 1845 Oberlehrerexamen und Pr.; schließt sich den Lichtfreunden an; 1846 Lehrer in Frankfurt/O., seit 1847 öffentliche nw Vorlesungen, im Winter 1847/48 über Humboldts Kosmos; 1848 Anhänger der demokratischen Linken; 1848-51 Lehrer an der Fortbildungsschule des Pastors Hildenhagen in Quetz bei Halle; Gefängnisstrafe wegen Beleidigung des Ministeriums Brandenburg-Manteuffel; 1850 Umsiedlung nach Halle, Freundschaft mit Karl Müller von Halle; 1852 mit Müller u. Roßmäßler Begr. und bis 1876 erster Hg. der Zeitschrift Die Natur, unterstütze die HumboldtVereine, 1861 Vortrag auf dem 3. Humboldt-Fest, 1862 Geschäftsführer des Humboldt-Festes in Halle; initiierte Expedition zur Aufsuchung des deutschen Afrikareisenden Vogel; grd. in Halle Verein für Erdkunde u. eine selbständige FortschrittsPartei, dort auch Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr, Mitglied der Stadtverordnetenversammlung und aktiv im Handwerkerbildungsverein, Gartenbauverein, Vogelschutzverein, Wohnungsverein u.a.; 1863-66 und 1869-70 Mitglied im Preußischen Abgeordnetenhaus für die Fortschrittspartei; Wanderredner für die G W , Mitgüed der Leopoldina; zahlreiche populärwissenschaftliche Werke. DBA NF 1327, 50-52; DBA 1293, 429 = ADB 39, 180f.; [Roßmäßler:] Otto Ule (1858), K. Müller: O. Ule (1876) Ule, Wilhelm (Willi) 9.5.1861 Halle/S. - 13.2.1940 Rostock Sohn von Otto Ule; 1882-87 St. in Berlin u. Halle; 1888 Pr. in Halle; Privatdozent für Geographie Haüe; 1897-1900 Hg. der Zeitschrift Die Natur, 1907 ao Prof. Geographie Rostock, 1919-1933 o Prof.; konstruierte Instrumente zur Seenforschung. DBA NF 1327,53-58 Vetter, Benjamin 25.6.1848 Ostersingen/Schaffhausen - 2.1.1893 Dresden seit 1866 St. Medizin, später Nw in Basel u. Heidelberg; 1870 Pr.; 1871/72 Assistent am Zool. Institut Heidelberg u. Jena; 1872/73 Lehrer am Kesersteinschen Institut in Jena; 1873/74 an der Leopoldina als Bibliothekar beschäftigt; 1874 Habil. an der TH Dresden; 1878 ao Prof. Zool., 1880 Vorstand der Zool. Sammlung; 1883-86 Hg. der
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Zeitschrift Kosmos/Weltanschauung', Anhänger Darwins u. Übersetzer von Spencer, Balfour u. Romanes. DBA 1306,110 = ADB 39,662f.; Uschmann: Geschichte (1959), S.126f. Virchow, Rudolf 13.10.1821 Schivelbein/Hinterpommern - 5.9.1902 Berlin, ev. 1839 Eintritt in die Militärärztliche Akademie (Pépinière) Berlin, bis 1843 St. Medizin an der Univ. Berlin; 1843 Arzt an der Charité u. Pr.; 1846 Staatsexamen u. Ernennung zum Prosektor an der Charité; 1847 Grd. Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klassische Medizin, Entlassung aus dem militärärztl. Dienst u. Habil; Febr. 1848 im Auftrag des preußischen Kultusministeriums Untersuchung der Typhusepedemie in Oberschlesien; in der Märzrevolution Beteiligung am Barrikadenbau in Berlin u. Bekenntnis zu einem demokratischen Königtum; im Dez. 1848 zum Vors. des Demokratischen Wahlkomitees in Berlin gewählt; 1848-49 Mitglied der Berliner Physikalischen Gesellschaft u. mit R. Leubuscher Hg. der Zeitschrift Medicinische Reform; 1849 wegen Beteiligung an der Revolution Verlust der Prosektur an der Charité; 1849-56 Prof. für Pathologische Anatomie in Würzburg; 1852 im Auftrag der bayer. Regierung Untersuchung der Typhusepedemie im Spessart; 1856 Berufung nach Berlin u. dort Prof. u. Direktor des neuen Pathologischen Instituts; 1858 Veröffentlichung der Cellular-Pathologie; 1859-1902 Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung; unterstützte den Deutschen Nationalverein, 1861 Mitbegr. der Deutschen Fortschrittspartei, dort auf dem linken Flügel; 1862-1902 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses; Gegner Bismarcks (1865 Duellforderung Bismarcks nach scharfen Angriffen V.s im Abgeordnetenhaus von V. abgelehnt), 1866 gegen die Indemnitätsvorlage; 1873 Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften; unterstützte den Kulturkampf; 1877 auf der 50. VDNA in München Entgegnung auf Haeckels Forderung nach Einzug der darwinistischen Entwicklungslehre in die Schulen; seit 1879 Beteiligung an Ausgrabungen H. Schliemanns; 1880-1893 Mitglied des Reichstags; zahlreiche Redebeiträge auf der VDNA, 1886 Vorsitz der 59. VDNA in Berlin; 1892/93 Rektor der Univ. Berlin; Vorträge im Berliner Handwerkerverein; V. entwickelte die moderne Zellularpathologie; zahlreiche gesundheitspolitische, hygienische, wissenschaftspolitische Aktivitäten; Mitbegr. der deutschen anthropologischen, ethnologischen u. urgeschichtlichen Forschung, Mitbegr. u. zeitweise Präsident der Berliner (1869) und der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft (1870). DBA 1308, 387-398; DBA NF 1340, 137-282; Sudhoff: Rudolf Virchow (1922), Boyd: Rudolf Virchow (1991), Schipperges: Rudolf Virchow (1994) Vogt, Karl 5.7.1817 Gießen - 5.5.1895 Genf 1833-39 St. Medizin zunächst in Gießen, entscheidende Hinwendung zu den Nw in Liebigs Laboratorium; nach der politisch motivierten Flucht in die Schweiz 1836 Fortsetzung des Studiums in Bern; 1839 Pr. in Bern; bis 1844 nw Mitarbeiter bei L. Agassiz in Neuchâtel, zool. u. geolog. Arbeiten; in der Schweiz Begegnung mit G. Herwegh und anderen Demokraten; 1844-46 in Paris u. Italien; Korrespondent für die Augsburger Allgemeine Zeitung, 1845 Physiologische Briefe; 1847 auf Vermittlung Liebigs Berufung als Prof. der Zool. nach Gießen; 1848/49 Mitglied der Deutschen Nationalversammlung, Fraktion Deutscher Hof bzw. Donnersberg, im Stuttgarter Rumpfparlament zu einem der fünf Reichsverweser gewählt; 1849 Flucht in die Schweiz; übersetzte Robert Chambers Vestiges ofthe Natural History of Création ins Deutsche; 1852 Prof. der Geologie u. Paläontologie in Genf,
Kurzbiographien
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1872 auch o Prof. der Zool. in Genf; 1855 Streitschrift Köhlerglaube und Wissenschaft gegen R. Wagner; 1859 Plädoyer für die nationale Stärkung Deutschlands; 1861 Leiter einer wissenschaftlichen Nordkap-Expedition; 1867-70 Vortragsreisen in Deutschland, Österreich, Belgien u. Holland; Abgeordneter im Grossen Rat und seit 1878 im Schweizer Nationalrat; Vogt beharrte lange auf der Lehre von der Artkonstanz, bis er sich Darwin anschloß, vertrat aber auch später noch eine polygenetische Auffassung und kritisierte Darwin u. Haeckel; seine Lehre von der Affenähnlichkeit des Menschen im frühen Entwicklungsstadium u. die analoge Interpretation der Microcephalen brachte ihm den Beinamen Affenprofessor ein. DBA 1313,312-317; DBA NF 1345,229-237; ADB 40,181-189; Wittich (Hg.): Vogt (1971), Bröker: Politische Motive (1973), Gregory: Scientific Materialism (1977) Volger (gen. Senckenberg), Otto 30.1.1822 Lüneburg -18.10.1897 Sulzbach 1842 Beginn des St. der Nw in Göttingen; 1845 Pr.; 1847 Habil. für Geologie; Vorsitzender des Demokratischen Klubs in Göttingen; 1849-56 als Lehrer und Privatdozent in der Schweiz; 1856 Übersiedlung nach Frankfurt/M., Dozent an der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft; 1859 Grd. u. Obmann des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt/M.; seit 1863 Mitglied der Leopoldina; 1863 Kontroverse mit Haeckel auf der 38. VDNA in Stettin; 1882 nach internen Auseinandersetzungen Ausschluß aus dem FDH. DBA 1315,212t; DBA NF 1347,34-48; Adler: Freies Deutsches Hochstift (1959) Wagner, Moritz з.10.1813 Bayreuth - 31.5.1887 München, ev. Bruder von Rudolf Wagner; kaufmännische Ausbildung; Aufenthalte in Frankreich и. Algier; Reiseberichte für die Augsburger Allgemeine Zeitung, Das Ausland und das Morgenblatt des Verlags Cotta; 1838 Doktortitel durch die Univ. Erlangen; 1838-42 Red. der Allgemeinen Zeitung; 1840 nach Göttingen, nw Studien; 1843^46 Reisen in Vorderasien; 1847-50 erneut Korrespondent der Allgemeinen Zeitung u. des Morgenblatts; 1852-55 Nord- u. Mittelamerikareise mit dem Österreicher Karl Scherzer; anschließend in München seßhaft; 1857-59 wissenschaftliche Reise nach Südamerika; 1862 ao Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften u. ao Prof. München für Geographie u. Ethnographie; 1862 erster Konservator der ethnogr. Sammlungen des bayerischen Staats; W. vertrat in Abwandlung der Darwinschen Lehre seit 1868 Auffassung vom Migrationsgesetz, wonach die Entstehung u. Verbreitung von Arten durch die geographische Wanderung u. Absonderung hervorgerufen würden; wandte sich damit immer mehr von der Zuchtwahlhypothese ab; verseli. Publikationen über seine Reisen. DBA 1324, 28-30; DBA NF 1356, 382t; ADB 40, 532-543; Smolka: Völkerkunde (1994) Wagner, Rudolph 30.7.1805 Bayreuth -13.5.1864 Göttingen Bruder von Moritz Wagner; St. 1822-26 Naturgeschichte u. Medizin in Erlangen u. Würzburg; 1826 med. Pr. in Würzburg; 1827 Frankreichaufenthalt; 1829 Habil. in Erlangen; 1833^10 erster o Prof. der Zool., Vergleichende Anatomie u. Tierheilkunde in Erlangen, seit 1840 in Göttingen; seit 1862 Mitglied der Leopoldina; veröffentlichte Physiologische Briefe in der Augsburger Allgemeinen Zeitung; auf der 31. VDNA in Göttingen 1854 Vortrag über Menschenschöpfung und Seelensubstanz mit Angriffen auf Karl Vogt; bedeutende physiologische Arbeiten. DBA 1324,87-91; DBA NF 1357,228t; ADB 40,573t; Gebhardt 1,376 u. II, 193
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Kurzbiographien
Wasmann, Erich 29.5.1859 Meran - 27.2.1931 Valkenburg, kath. beide Eltern waren zum Katholizismus konvertiert; 1875 Eintritt in Societas Jesu; 1888 Priesterweihe; 1891-92 St. Zool. in Prag; seit 1890 Mitglied der Schriftleitung u. biologischer Referent für die Stimmen aus Maria Laach, tierpsychologische Schriften; 1907 öffentliche Vorträge in Berlin und Abschlußdiskussion unter Vorsitz Wilhelm Waldeyers; seit 1912 im Ignatius-Kolleg Valkenburg/Niederlande; Dr. h.c. der Universität Freiburg/Schweiz; bedeutendster katholischer Popularisierer der Nw am Jahrhundertende; befreundet mit Eberhard Dennert u. Johannes Reinke. DBA NF 1367, 215-220; Dörpinghaus: Darwins Theorie (1969), Schmitz: Nachruf (1934), Henk Struyker Boudier: Mier en Slang. Correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Erich Wasmann S.J. Zeist 1990, S. 11-19 Weinland, David Friedrich 30.8.1829 Grabenstetten/Urach - 16.9.1915 Hohenwittlingen bei Urach, ev. 1843-47 evangelisch-theologisches Seminar Maulbronn; 1847-51 St. Theologie in Tübingen, 1851-52 St. Nw; 1852 Pr. zur Frage der Urzeugung; bildete mit den Studienfreunden Gustav Jäger, Albert Günther und Eduard von Martens ein naturwissenschaftliches Kränzchen; 1852-55 Mitarbeiter des Zool. Museum Berlin; 1855-58 Leiter des Mikroskopischen Laboratoriums im Museum für Vergleichende Zool. von L. Agassiz in Cambridge/Mass. (USA); 1857 Hait-Reise; 1859-63 Wissenschaftlicher Sekretär der Zool. Gesellschaft bzw. des Zool. Gartens in Frankfurt/M.; grd. die Zeitschriften Der zoologische Garten u. Der Thiergarten-, Lehrauftrag an der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft; 1863 aus gesundheitlichen Gründen Rückzug aus allen Ämtern, private Schriftstellerexistenz im Schwäbischen, Verfasser von Jugendbüchern (Rulaman, Kuning Hartfest)-, mit A. Brehm befreundet; Mitglied des FDH. DBA 1343,341-343; DBA NF 1380,98-110; Gebhardt 1,380 u. II, 193f.; Binder: David Friedrich Weinland (1977) Wigand, Otto 10.8.1795 Göttingen - 1.9.1870 Leipzig Buchhändlerlehre; zeitweise Wanderbuchhändler für seinen älteren Bruder Karl in Ungarn, 1817-27 Buchhandlung in Kaschau, anschließend in Pest, von hier aus Ausweitung der verlegerischen Aktivitäten, gab das erste ungarische Konversationslexikon heraus u. unterstützte ungarische Reformer; begr. 1816 Verlagsexpedition in Leipzig, 1833 Übersiedlung nach Leipzig und dort Neubegr. des Verlagsgeschäfts, 1837 in den Vorstand des Börsenvereins des deutschen Buchhandels gewählt; unterstützte die Junghegelianer u. verlegte die Hallischen Jahrbücher (1841 verboten, fortgesetzt als Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst), Schriften von Arnold Rüge u. Ludwig Feuerbach, mit denen er persönlich befreundet war; Stadtverordneter in Leipzig; 1864 Rückzug aus dem Verlagsgeschäft. DBA 1365,310f. u. 1368,190-192; ADB 42,457f.; Wiegel: Otto Wigand (1965) Wildermann, Max 2.10.1845 Olfen - 29.8.1908, kath. St. Mathematik an der Akademie Münster/Westfalen u. in Berlin; 1870 Pr. in Rostock; Hauslehrer; 1872-82 Lehrer am Realprogymnasium Diedenhofen; 1882-89 Oberlehrer am Gymnasium in Saargemünd; 1889-94 Direktor der Realschule Rappoltsweiler/Elsaß; 1894-1903 Direktor des Gymnasiums u. der Realschule in Saargemünd; seit 1903 Direktor der Oberrealschule in Metz; Red. des Jahrbuchs der Naturwissenschaften. DBA 1370,62; DBA NF 1406,375-377
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Wille, Bruno 6.2.1860 Magdeburg - 4.9.1928 Senftenau Einjähriges Studium in Bonn: Theologie, dann Philosophie, Mathematik u. Physik; 1883 nach Berlin; einjähriger Militärdienst; ein Jahr als Hauslehrer in Bukarest; Pr. in Kiel; Sprecher u. Lehrer der freireligiösen Gemeinde Berlin; Red. der Demokratischen Blätter, grd. mit W. Bölsche und anderen den Ethischen Club, gehörte mit Bölsche u. den Brüdern Hart zum Friedrichshagener Kreis; März 1890 Aufruf zur Grd. der Freien Volksbühne, 1892 Mitbegr. der Neuen freien Volksbühne; gemeinsame Wohnung mit Bölsche; zeitweise in der Leitung des Deutschen Freidenkerbunds u. Red. Der Freidenker, grd. 1900 den Giordano-Bruno-Bund, 1891 mit Bölsche die Freien Hochschule; 1901 Offenbarungen des Wacholderbaums im Diederichs-Verlag; Ref. des Weimarer Kartells. DBA NF 1409,158-164 Willkomm, Moritz 29.6.1821 Herwigsdorf/Zittau - 26.8.1895 Wartenberg/Böhmen, ev. Bruder des jungdeutschen Romanschriftstellers Ernst Willkomm; St. Medizin u. Nw in Leipzig, Assistent am Bot. Garten; 1844-46 bot. Forschungsreise in Südwesteuropa; 1850 Pr.; 1852 Habil. für Botanik; 1855 ao Prot und Kustos des Universitätsherbariums; 1855-68 o Prof. für organische Naturwissenschaften in Tharandt; 1856 populärwissenschaftliches Buch Die Wunder des Mikroskops-, 1861 Vortrag auf dem Humboldt-Tag in Löbau; 1868-73 Prof. in Dorpat u. Direktor des Bot. Gartens; 1874-93 in Prag; neben bot. Forschungen landeskundliche Arbeiten über Spanien. DBA 1374,13 = ADB 43,298-300; DBA NF 1410,88-90 Wislicenus, Gustav Adolf 20.11.1803 Battaune/Eilenburg -14.10.1875, ev., freiprotestant. Besuch der Lateinschule des Waisenhauses in Halle/S.; seit 1821 St. Theologie in Halle u. Burschenschaftler; 1824 wegen Aufruhr u. Hochverrat zu Festungshaft verurteilt, 1829 begnadigt; 1834 Pfarrer in Klein-Eichstädt, seit 1841 an St. LaurentiusKirche in Halle; schloß sich den Lichtfreunden an, 1845 Streitschrift Ob Schrift? Ob Geist?, Juni 1845 Suspension vom Amt u. Einleitung eines Disziplinarverfahrens, April 1846 Enthebung vom Pfarramt; begr. in Halle die Freie Gemeinde; 1848 Vors. des Völksvereins in Halle u. Mitglied des Vorparlaments; 1853 Verurteilung zu Gefängnisstrafe wegen Äußerungen in der Schrift Die Bibel im Lichte der Bildung unserer Zeit, Flucht in die USA; 1856 Rückkehr nach Europa, ließ sich in der Schweiz nieder. DBA 1381, 302 = ADB 43, 542-545; Kampe: Geschichte (1852-60), Brederlow: „Lichtfreunde" (1976) Zacharias, Otto 27.1.1846 Leipzig - 2.10.1916 Kiel, ev. Mechanikerlehre; Hinwendung zur Astronomie mit Unterstützung von Carl Bruhns, dem Direktor der Leipziger Sternwarte; autodidaktische Fortbildung und Gymnasialbesuch; St. Philosophie u. Nw in Leipzig, u.a. bei G.Th. Fechner; 1869 philosophische Dissertation bei dem Herbartianer Drobisch; danach Reisen im Mittelmeerraum, Hauslehrer in Italien; nach Rückkehr 1869-72 Hauslehrer in Gelnhausen; früher Anhänger der darwinistischen Entwicklungslehre; Red. bei der Geraer Zeitung u. am Staatsanzeiger in Dessau; Wanderredner des Leipziger Zweigvereins der G W ; seit 1874 in Hirschberg/Riesengebirge bzw. Cunnersdorf als Privatgelehrter, journalistische Tätigkeit; um 1884 Besuch von Universitätsvorlesungen bei dem Zoologen Leuckart in Leipzig; seit 1884 süßwasserbiologische Untersuchungen, dabei Stipen-
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Kurzbiographien
dienunterstützung durch die Preußische Akademie der Wissenschaften; seit 1889 Werbung in der Öffentlichkeit um Mittel zur Errichtung einer Zool. Station zur Beobachtung der Süßwasserfauna; Aufbau der Biologischen Station in Plön/Schleswig-Holstein, 1892 Eröffnung u. Übernahme der Leitung; Unterstützung aus dem preußischen Kultusministerium; 1893-1905 Hg. der Forschungsberichte aus der Biologischen Station zu Plön, danach des Archiv filr Hydrobiologie und Planktonkunde-, 1907 Ernennung zum Prof.; seit 1909 Veranstaltung von Ferienkursen für Lehrer in Plön; eigene hydrobiologische, histologische u. zytologische Untersuchungen; Ref. der G W . DBA NF 1437,391-392; Thienemann: Otto Zacharias (1917) Zell, Th. siehe Bauke, Leopold
Anhang Abkürzungen ADAV ADB AdH AkW Berlin Anm. CA Marbach DBA DBA NF DBE DGEK DGVN DLA Marbach DNG EHH FDH GDNA GG GW GWU HuE HZ Isis/Liebhabereien Kosmos/ Handweiser Kosmos/NaturWissenschaften Kosmos/Weltanschauung NA ND N.F. NDB NPL NuH NuO NwW PTR SB Berlin SB München
Allgemeiner Deutscher Arbeiter-Verein Allgemeine Deutsche Biographie [Zeitschrift] Aus der Heimath, 1859-1866 Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin Anmerkung Schiller-Nationalmuseum / Deutsches Literaturarchiv, CottaArchiv (Stiftung der Stuttgarter Zeitung), Marbach am Neckar Deutsches Biographisches Archiv Deutsches Biographisches Archiv, Neue Folge Deutsche Biographische Enzyklopädie Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur Deutsche Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde Schiller-Nationalmuseum / Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar Deutsche Naturwissenschaftliche Gesellschaft Ernst-Haeckel-Haus der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Handschriftenabteilung Freies Deutsches Hochstift in Frankfurt am Main Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte Geschichte und Gesellschaft Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung Geschichte in Wissenschaft und Unterricht [Zeitschrift] Himmel und Erde, 1889ff. Historische Zeitschrift Isis. Zeitschrift für alle naturwissenschaftlichen Liebhabereien, 1876-1889 Kosmos. Naturwissenschaftliches Literaturblatt, [ab Jg. 2 mit dem Untertitel:] Handweiser für Naturfreunde und Zentralblatt für das naturwissenschaftliche Bildungs- und Sammelwesen, 1 (1904)ff. Kosmos. Zeitschrift für angewandte Naturwissenschaften, 1857-60 Kosmos. Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung auf Grund der Entwicklungslehre, 1877-1886 Neuauflage Neudruck Neue Folge Neue Deutsche Biographie Neue Politische Literatur [Zeitschrift] Natur und Haus, 1892ff. [Zeitschrift] Natur und Offenbarung, 1855-1910 Naturwissenschaftliche Wochenschrift, 1887-1914 Physikalisch-Technische Reichsanstalt Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung Bayerische Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung
520 StA TB UB Bonn VDAV VDNA VfZ VSWG
Anhang Stadtarchiv Taschenbuch Universitätsbibliothek Bonn, Handschriftenabteilung Vereinstag deutscher Arbeiter-Vereine Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Tabellen
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Verzeichnis der Tabellen 1: Naturwissenschaftlich-pädagogische Fachzeitschriften seit 1870 2: Naturkundliche Vereine in Deutschland seit 1743 3: Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNA) 1822-1913 4: Humboldt-Feste und Humboldt-Vereine seit 1859 5: Institutionen der Volksbildung und Erwachsenenbildung seit 1859 6: Naturwissenschaftliche Vortragsangebote der Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung - Beispiele 1886-1895 7: Weltanschauungsvereinigungen mit naturwissenschaftlicher Programmatik in Deutschland 1841-1914 8: Populärwissenschaftliche Buchserien und Buchreihen seit 1852 9: Naturkundüche Zeitschriften seit 1849 10: Naturkundliche Popularisierer bis 1914 11: Generationenfolge in der Popularisierungsgeschichte
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Verzeichnis der Abbildungen 1 Einladung zum Kellerfest anläßlich der 50. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in München 1877 Sammelmappe Sign. 4 H Nat. 156-k/l der Bayerischen Staatsbibliothek München 2 Emil Adolf Roßmäßler, Initiator der Humboldt-Vereine und Humboldt-Feste, der nach 1849 vom Professor zum bedeutendsten naturwissenschaftlichen Popularisierer in Deutschland wurde. Die Gartenlaube 18 (1867), S.629. 3 Versammlung der Teilnehmer am 2. Humboldt-Tag auf der Gröditzburg am 15. September 1860, in der Mitte der Tagungsvorsitzende Roßmäßler, hinter ihm ein Bildnis Alexander von Humboldts. Aus der Natur 2 (1860), Sp. 649f. 4 „Vergrößerung einer Fliege mittels des Hydrooxygengas-Mikroskopes" - die Tierwelt wird der bürgerlichen Gesellschaft präsentiert. Moritz Willkomm: Die Wunder des Mikroskops oder die Welt im kleinsten Räume. Für Freunde der Natur und mit Berücksichtigung der studierenden Jugend. [11856] 4., wesentl. vermehrte u. umgearb. Aufl., Leipzig 1878, S. 267. 5 Prospekt über die Urania-Säulen in Berlin AkW Berlin, Nachlaß Foerster, Nr. 64 6 Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um Ernst Haeckel nach der Jahrhundertwende - das Titelbild der Schrift von Arnold Braß: Das Affen-Problem. Professor E. Haeckel's Darstellungs- und Kampfesweise sachlich dargelegt nebst Bemerkungen über Atmungsorgane und Körperform der WirbeltierEmbryonen. Leipzig 1908. 7+8 Brehms Thierleben als eines der bekanntesten populärwissenschaftlüchen Naturbücher des 19. Jahrhunderts beeindruckte die Leser durch die Lebendigkeit seiner Abbildungen, hier das Deckblatt und eine Illustration zum Kapitel über Raubtiere. Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreiches. Große Ausgabe. 2., umgearb. u. vermehrte Aufl. Bd. 1, Leipzig 1876, S. 262-63. 9 Alexander von Humboldt als Wissenschaftsheros im Zentrum der Naturwelt und der Aufmerksamkeit der naturkundlichen Öffentlichkeit, den Kosmos in seiner Hand, umgeben von Allegorien und Abbreviaturen von Naturstudium und Technik - eine typische Darstellung aus dem nachrevolutionären Jahrzehnt. Die gesammten Naturwissenschaften. Für das Verständnis weiterer Kreise und auf wissenschaftlicher Grundlage bearbeitet [...] Bd. I, Essen 1857, Titelillustration. 10 Die empirische Analyse der Natur enthüllt das Wunderbare - 1853 berichtete Emil Adolf Roßmäßler über den „Papiernautilus": „Seitdem dieses merkwürdige Tier von der Wissenschaft der Wunder entkleidet worden ist, womit man es bis vor nicht gar langer Zeit verherrlichte, ist die Wissenschaft selbst [...] in die
Abbildungen
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Lage gekommen, von ihm an der Stelle jener geträumten Wunder Thatsachen zu berichten, die so nahe an das Wunderbare grenzen, als es die nüchterne, immer nach Gesetzen verfahrende Natur nur irgend zuläßt." Emil Adolf Roßmäßler: Der Papiernautilus, in: Die Natur 2 (1853), S. 145-147, hier S. 145. 11 „Aus dem Reich des Kleinen" - 1875 betrachtete Hermann Meier aus Emden, Lehrer und oftmaliger Autor in der naturkundlichen Publizistik, Meerestiere aus der Nordsee unter dem Mikroskop. Hermann Meier: Aus dem Reich des Kleinen, in: Die Natur 24 = NF. 1 (1875), S. 163-66, hier S. 164. 12 Ernst Haeckels Natürliche Schöpfungsgeschichte von 1868 wurde zum Hauptwerk der populären Darwinismusinterpretation in Deutschland, hier das Titelbild. Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft. Berlin 1868. 13 Das Aquarium als Gesellschaftsereignis in den 1850er Jahren, aus Roßmäßlers Schrift Das Süßwasser-Aquarium. Roßmäßler, E. A.: Das Süßwasser-Aquarium. Eine Anleitung zur Herstellung und Pflege desselben. Leipzig 1857, Innenseite zum Titelblatt. 14 Anleitung zum Mikroskopieren und zum Verständnis mikroskopischer Geräte von 1854. Quekett, John: Practisches Handbuch der Mikroskopie. Darstellung der Einrichtung, sowie practische Anleitung [...] Für Naturforscher, Aerzte, Techniker und für jeden anderen Gebildeten. Mit anderweitigen guten Hülfsmitteln deutsch bearb. v. Carl Hartmann. 2., nach der 2. Aufl. des engl. Originals verm. Ausg., Weimar 1854, Anhang. 15 In den Veränderungen des Titelbildes der Zeitschrift Die Natur über ein halbes Jahrhundert hinweg spiegeln sich auch Wandlungen im künstlerischen Verständnis und in der Illustrationstechnik. Titelbilder von 1875,1888 und 1902, vgl. Quellen- und Literaturverzeichnis. 16 Von naturwissenschaftlichen Instrumenten über geologische Funde bis zum Vulkanberg spannte die Zeitschrift Das Weltall von 1854 ihr Titelbild, ohne auf Alexander von Humboldt zu verzichten. Das Weltall. Zeitschrift für populäre Naturkunde. [...] Leipzig 1854. 17+18 Die Titelbilder der Zeitschriften Gaea und Humboldt. Vgl. Quellen- und Literaturverzeichnis. 19 Karl Müller und Otto Ule, Popularisierer in Halle, Herausgeber der Zeitschrift Die Natur und Anhänger der freireligiösen Bewegung. Die Natur 48 = N.F. 25 (1899), S. 123. Die Natur 25 = N.F. 2 (1876), S. 417.
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20 Alfred Brehm, Afrikareisender, Zoo-Direktor und Verfasser des Tierlebens. Die Gartenlaube 20 (1869), S. 20 21 Zwei Vermittler naturwissenschaftlicher Bildung in den 1850er Jahren: der deutschkatholische Prediger Heribert Rau und der Materialist Karl Vogt. Rau, Heribert: Natur, Welt und Leben. Gedichte. Leipzig 1856. Die Gartenlaube 43 (1895), S.357.
Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Unveröffentlichte Quellen Berlin: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Nachlaß Wilhelm Foerster Nachlaß Virchow Nr. II-V, 186: Akten der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1812-1945, Öffentliche Sitzungen Nr. II-V, 186/1: Adresse der „Physikalischen Gesellschaft" zu Berlin wegen Öffentlichkeit der Gesamtsitzungen der Akademie [1848] Sammmlung Weinhold, Nr. 741: Ernst Krause (Carus Sterne) Berlin: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Haus 1, Unter den Linden, Handschriftenabteilung Autographen-Sammlung: Emil Adolf Rossmässler Nachlaß Theodor Mommsen: Otto Ule Berlin: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Haus 2, Potsdamer Straße, Handschriftenabteilung Autogr. 1/1776: Alexander von Humboldt an Bernhard von Cotta Sammlung Darmstaedter - Afrika (2): Alfred Edmund Brehm - Amerika 1850 (1): Hermann Burmeister - Weltreisen (1): Adolf Bastian - 2 o 1821 (1): Christian Daniel Rauch - J 1860 (8): Karl Christian Bruhns - 2 K 1850 (2): Emil Adolf Rossmässler - 2 K 1867 (2): Carl Heinrich Reclam - 2 L1870 (12): Julius Rodenberg - 3 K 1850 (3) a: Carl Vogt - 3 K 1851 (3a): Jakob Moleschott - 3 K 1870 (7): W. Preyer - 3 P 1842 (1): Hermann Klencke - La 1866 (10): Bernhard von Cotta - Lb 1856 (11): Karl Müller, gen. v. Halle - Lc 1855 (8): Ch. G. A. Giebel - Lc 1868 (11): Karl Russ - Lc 1874 (13): Bernard Altum - Lc 1875 (13): Ernst Haeckel - Lc 1880 (17): Ernst Krause - Lc 1891 (26): Otto Zacharias - Lc 1898 (29): Carl Chun Nachlaß Emil Du Bois Reymond Nachlaß Alexander von Humboldt Bonn: Universitätsbibliothek, Handschriftenabteilung S 1413: Briefe Otto Volger an Fari Friedrich Mohr S 2648, Nr. 123-4: Briefe Alfred Brehm an H. D. F. Zander S 2620: Briefe L. Büchner an Hermann Schaafhausen
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Anhang
S 2660: Briefe Heinrich Beta an Gottfried Kinkel S 2662: Briefe C. Reclam an Gottfried Kinkel S 2901: Briefe Ernst Haeckel an M. Verworn Cambridge, Massachusetts: Houghton Library, Harvard University Briefe Alexander von Humboldt an E. A. Roßmäßler Cambridge, Massachusetts: Museum of Comparative Zoology, Harvard University b Mu 481.10.1: Briefe Hermann Burmeister an H. A. Hagen Dresden: Archiv der Technischen Universität B 30: Forstakademie Tharandt, Berichte und Verordnungen 1829-1830 B 31a: Forstakademie Tharandt, Protokolle, Verordnungen und Berichte 1831-32 B 32: Forstakademie Tharandt, Protokolle und Verordnungen 1835-36 B 34: Forstakademie Tharandt, Berichte und Verordnungen 1839 B 37: Forstakademie Tharandt, Jahresberichte, Verordnungen 1837-1838 B 35: Forstakademie Tharandt, Berichte, Verordnungen, Gesuche und Bekanntmachungen 1840 B 36: Forstakademie Tharandt, Berichte, Verordnungen 1840 (Bd. 3) B 38: Forstakademie Tharandt, Jahresberichte und Berichte 1842 B 39: Forstakademie Tharandt, Jahresberichte, Berichte, Eingaben 1843 B 40: Forstakademie Tharandt, Verordnungen, Berichte und Bekanntmachungen 1845-1846 B 52: Forstakademie Tharandt, Anzeigen, Rundschreiben 1839 B 307: Forstakademie Tharandt, Allgemeine Angelegenheiten 1841 B 308: Forstakademie Tharandt, Allgemeine Angelegenheiten 1846 B 309: Forstakademie Tharandt, Allgemeine Angelegenheiten 1847 (Bd.I) B 310: Forstakademie Tharandt, Allgemeine Angelegenheiten 1847 (Bd.II) B 311: Forstakademie Tharandt, Allgemeine Angelegenheiten 1848 B 312: Forstakademie Tharandt, Allgemeine Angelegenheiten 1849 B 313: Forstakademie Tharandt, Allgemeine Angelegenheiten 1849 B 314: Forstakademie Tharandt, Allgemeine Angelegenheiten 1850/51 Dresden: Sächsische Landesbibliothek Mscr. Dresd. h 46, Bd.I, Nr. 40-46 [Briefe Heinrich Beta an Arnold Ruge] Mscr. Dresd. h 21, Nr. 136,139 [Briefe Roßmäßler an F. A. Ebert] Msc. Dresd. App. 60, Nr. 161/h, 162 [Briefe Roßmäßler] Mscr. Dresd. App. 2341 [Brief Roßmäßler eingeheftet der Publikation „Einige Worte über Sachsens >Forstbedienten