Wissen in Bewegung: Migration und globale Verflechtungen in der Zeitgeschichte seit 1945 9783110538076, 9783110535785

Knowledge circulates beyond national boundaries and undergoes change when arriving in new contexts. The empirical studie

336 131 2MB

German Pages 416 [418] Year 2018

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Wissen In Bewegung
Foren Des Wissens
Schule Zwischen Bildungs- Und Gesellschaftspolitik
Netzwerke Für Bildung
Makedonische Flüchtlinge In Polen
Afrikawissen In Bewegung
Medien Des Wissens
Kontinuitäten Und Brüche In Der Wissensvermittlung Über Das Herkunftsland
Fehlende, Versteckte, Vorhandene Heterogenität
Spotlight On The Colonies
Klassifikation Von Migration Im Wandel
Akteurinnen Und Akteure Des Wissens
Entwicklungspolitik Als Bildungsinhalt
Altes Wissen Auf Neuen Wegen
Afrikanische Freedom Fighter Im Exil Der Ddr
Die Integration Russischsprachiger Kinder Aus Der Udssr Und Gus In Der I.E. Lichtigfeld-Schule Zu Frankfurt Am Main
Evaluation Jüdischen Kinderwissens
Autorinnen Und Autoren
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Wissen in Bewegung: Migration und globale Verflechtungen in der Zeitgeschichte seit 1945
 9783110538076, 9783110535785

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Wissen in Bewegung

Bibliotheks- und Informationspraxis

 Herausgegeben von Klaus Gantert und Ulrike Junger

Band 57

Wissen in Bewegung  Migration und globale Verflechtungen in der Zeitgeschichte seit 1945

Herausgegeben von Stephanie Zloch, Lars Müller, Simone Lässig

Gefördert im Leibniz-Wettbewerb Ein Forschungsprojekt der

Gefördert im Rahmen des Leibniz-Wettbewerbs

ISBN 978-3-11-053578-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053807-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053603-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Names: Zloch, Stephanie, 1975- editor | Müller, Lars, 1981- editor | Lässig, Simone, 1964- editor Title: Wissen in Bewegung : Migration und globale Verflechtungen in der Zeitgeschichte seit 1945 / herausgegeben von Stephanie Zloch, Lars Müller, Simone Lässig. Description: Berlin ; Boston : Walter de Gruyter GmbH, [2018] | Includes bibliographical references. Identifiers: LCCN 2018025242 (print) | LCCN 2018027770 (ebook) | ISBN 9783110538076 (electronic Portable Document Format (pdf) | ISBN 9783110535785 (print : alk. paper) | ISBN 9783110538076 (e-book pdf) | ISBN 9783110536034 (e-book epub) Subjects: LCSH: Immigrants–Education–Europe. | Africa–Study and teaching–Europe. | Learning and scholarship–History–20th century. Classification: LCC LC3736.A2 (ebook) | LCC LC3736.A2 W57 2018 (print) | DDC 371.826/912094–dc23 LC record available at https://lccn.loc.gov/2018025242 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelbild: 611202184istockphoto, fotografixx Satz: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Stephanie Zloch, Lars Müller, Simone Lässig Wissen in Bewegung Migration und globale Verflechtungen in der Zeitgeschichte seit 1945: Einleitung  1

Foren des Wissens Monika Mattes Schule zwischen Bildungs- und Gesellschaftspolitik Debatten um die Gesamtschule und die Ganztagsschule in der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er bis 1970er Jahren  39 Sascha Krannich und Stefan Metzger Netzwerke für Bildung Das bildungsbezogene Engagement von Migrantenorganisationen zwischen Integration und Transnationalität  69 Anna Kurpiel Makedonische Flüchtlinge in Polen Selbstorganisation und Wissenszirkulation  91 Stefan Esselborn Afrikawissen in Bewegung Internationale Afrikaforschung im Zeitalter der Dekolonisierung und die Rolle des International African Institute (IAI)  111

Medien des Wissens Cornelia Hagemann Kontinuitäten und Brüche in der Wissensvermittlung über das Herkunftsland Die Weitergabe von Wissen über Iran und die persische Kultur an in Deutschland aufwachsende Kinder iranischen Hintergrunds  145

VI  Inhaltsverzeichnis

Maureen Maisha Auma Fehlende, versteckte, vorhandene Heterogenität Diversität in Bildungsmaterialien in Ost- und Westdeutschland  169 Anne Bruch Spotlight on the Colonies Koloniale Informationsfilme in und über die britischen Kolonien in Afrika nach 1945  197 Thomas Kemper und Linda Supik Klassifikation von Migration im Wandel Begriffe und Operationalisierungen der deutschen Schulstatistik seit 1965  213

Akteurinnen und Akteure des Wissens Lars Müller Entwicklungspolitik als Bildungsinhalt Schule und die Produktion von Wissen über globale Ungleichheit  255 Marie Huber Altes Wissen auf neuen Wegen Die Verbreitung von Äthiopienwissen durch internationale Netzwerke 1950–1980  291 Sebastian Pampuch Afrikanische Freedom Fighter im Exil der DDR Dekoloniale Wissensbestände einer „unerwünschten deutschen Geschichte“  321 Alexa Brum Die Integration russischsprachiger Kinder aus der UdSSR und GUS in der I.E. Lichtigfeld-Schule zu Frankfurt am Main Ein Bericht aus der Praxis  349

Inhaltsverzeichnis 

Matthias Springborn Evaluation jüdischen Kinderwissens Jacob Oppenheimers Befragung jüdischer Schülerinnen und Schüler in der Bundesrepublik Deutschland 1962–1963  373

Autorinnen und Autoren  405

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Stephanie Zloch, Lars Müller, Simone Lässig

Wissen in Bewegung Migration und globale Verflechtungen in der Zeitgeschichte seit 1945: Einleitung

Wir leben in einer so aufregenden Zeit wie in keinem Abschnitt der langen Menschheitsgeschichte zuvor. Als ich ein Junge so alt wie ihr heute war, habe ich mir immer gewünscht, ich möchte in den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges oder der Völkerwanderung gelebt haben, weil da ‚soviel los war‘. Heute weiß ich als alter Mann, daß ich viel Aufregenderes und Interessanteres erlebt habe, als ich es damals im fünften oder siebzehnten Jahrhundert nach Christus hätte erleben können: daß sich nämlich heute das Bild unserer Erde und das Leben der Menschen in kürzester Frist so verändern, wie in keiner Zeit bisher.1

Als Hans Ebeling zu Beginn der 1960er Jahre die Geschichte des – bisherigen – 20. Jahrhunderts für die Hand von Jugendlichen schrieb, tat er dies unter dem Eindruck vielfältiger, auch widersprüchlicher Ereignisse: Der Zweite Weltkrieg wirkte fort, so mit dem Beginn des Eichmann-Prozesses in Jerusalem oder durch die anhaltende Teilung der Welt zwischen Ost und West, wie sie im Bau der Berliner Mauer zum Ausdruck kam. Zugleich wurden der Weltraum näher erkundet, neue Forschungsgebiete entdeckt, Arbeitskräfte für die boomende westeuropäische Wirtschaft angeworben oder Sportveranstaltungen als globale mediale Ereignisse inszeniert. Diese knappe Auflistung deutet an, wie viele unterschiedliche Akteure nach 1945 in Bewegung kamen und Zirkulationsmöglichkeiten für Wissen schufen. In vielen Fällen beförderten sie die Reflektion über bestehende Wissensordnungen und betrieben damit zugleich ihre (De-)Stabilisierung. Die Frage nach Wandlungen von Wissen und Wissensordnungen unter dem Einfluss von Migration und globaler Verflechtung in der Zeit seit 1945 steht im Mittelpunkt dieses Sammelbands. Er knüpft an die wachsende Zahl wissenszentrierter Forschungen an, die durch Diskussionen um die Wissensgesellschaft und die Stellung der Wissenschaft in der Gesellschaft2 nicht nur wissenschaft1 Ebeling, Hans: Die Reise in die Vergangenheit. Ein geschichtliches Arbeitsbuch, Band IV. Unser Zeitalter der Revolutionen und Weltkriege. Braunschweig 1961. S. 9. 2 Allgemein aus historischer Sicht zu Wissensgesellschaft: Reinecke, Christiane: Wissensgesellschaft und Informationsgesellschaft, Version 1. 0. In: Docupedia. http://www.docupedia. de/zg/Wissensgesellschaft (08.05.2018); Füssel, Marian: Auf dem Weg zur Wissensgesellschaft. Neue Forschungen zur Kultur des Wissens in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Historische https://doi.org/10.1515/9783110538076-001

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liche, sondern auch gesellschaftliche Relevanz gewonnen haben. In verschiedenen Disziplinen entwickelte sich „Wissen“ zu einem neuen Zugang oder zumindest zu einem viel diskutierten Gegenstand. In den Sozialwissenschaften geht dies einher mit der Debatte um soziale Bedingungen von Wissen,3 und jüngst haben auch die Geographie4 oder die Erziehungswissenschaft den Wissensbegriff für sich entdeckt und operationalisiert.5 Nicht zuletzt entwickelte sich in der Geschichtswissenschaft ein besonderes Interesse an der Erforschung von Wissen, wie sich in einer Reihe von programmatischen Texten und der Gründung von Forschungszentren innerhalb sehr kurzer Zeit eindrücklich zeigt.6

Forschung 34 (2007). S. 273–290; Burke, Peter: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 2001; Landwehr, Achim: Wissensgeschichte. In: Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Hrsg. von Rainer Schützeichel. Konstanz 2007. S. 801–813; Szöllösi-Janze, Margit: Wissensgesellschaft in Deutschland. Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse. In: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004). S. 277–313; Vogel, Jakob: Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der Wissensgesellschaft. In: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004). S. 639–660. 3 So z.B. Weingart, Peter: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wissenschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist 2001; Maasen, Sabine: Wissenssoziologie. 2. Aufl. Bielefeld 2009. Maasen, Sabine [u.a.] (Hrsg.): Handbuch Wissenschaftssoziologie. Wiesbaden 2012. 4 Jöns, Heike [u.a.] (Hrsg.): Mobilities of Knowledge. Cham 2017; Agnew, John A. u. David N. Livingstone (Hrsg.): The Sage Handbook of Geographical Knowledge. Los Angeles 2011. Zur Verbindung von Geschichte und Geographie siehe Holtorf, Christian: Zur Wissensgeschichte von Geografie und Kartografie. Einleitung. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 40 (2017). S. 7–16. 5 Reh, Sabine [u.a.] (Hrsg.): Wissen machen. Beiträge zu einer Geschichte erziehungswissenschaftlichen Wissens in Deutschland zwischen 1945 und 1990 (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 63). Weinheim – Basel 2017; Collins, Jenny u. Tim Allender: Knowledge Transfer, Educational Change and the History of Education. New Theoretical Frameworks. In: History of Education Review 42 (2012). S. 112–118. 6 Sarasin, Philipp: Was ist Wissensgeschichte? In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011). S. 159–172; Speich-Chassé, Daniel u. David Gugerli: Wissensgeschichte. Eine Stadtortbestimmung. In: transverse 1 (2012), S. 85–100; Lässig, Simone: The History of Knowledge and the Expansion of the Historical Research Agenda. In: Bulletin of the GHI Washington, 59 (Fall 2016), S. 29–58; Burke, Peter: What is the History of Knowledge? Cambridge 2016. Als Zentren der Wissensgeschichte entwickelten sich das Zentrum des Wissens, Zürich, und das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin; eine Verbindung zur englischsprachigen Diskussion schlägt das Deutsche Historische Institut Washington, das Wissensgeschichte seit 2015/16 zu einem seiner Schwerpunkte gemacht und einen englischsprachigen Blog etabliert hat: historyofknowledge.net. An der Universität Lund, Schweden, hat sich in den letzten Jahren der Verbund New History of Knowledge gebildet.

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Wissensgeschichtliche Perspektiven Wissensgeschichte wird im Folgenden als eine neue, produktive Forschungsperspektive verstanden, die über die klassische Wissenschaftsgeschichte hinausreicht, die in erster Linie die privilegierte Produktion von Wissen in der Wissenschaft betont hat. Wissensgeschichte, wie sie dieser Band interpretiert, lenkt den Blick hingegen, um mit Daniel Speich-Chassé und David Gugerli zu sprechen, „auf jene gesamtgesellschaftlichen Prozesse, in deren Verlauf wissenschaftliche und alltagskulturelle Deutungsweisen in einem verschränkten Wechselspiel neue Selbstverständlichkeiten über die Beschaffenheit der Welt und über die Dimensionen ihrer Geschichtlichkeit hervorbrachten.“7 Dabei ist die Spannbreite dessen, was wissenshistorisch relevant ist und so verhandelt wird, zwar groß und vielfältig, doch bildet die erkenntnisleitende Frage nach der Rolle von Wissen in der Gesellschaft und ihrem historischen Wandel stets eine strukturierende Klammer.8 Zwei unterschiedliche Akzentuierungen bestimmen derzeit die Diskussion in der Wissensgeschichte. Auf der einen Seite steht die Verschiebung von einer Wissenschaftsgeschichte im engeren Sinne hin zu einer „Sozialgeschichte des Wissens“.9 Hierzu gehört zentral die Annahme, dass es menschliche Entscheidungen sind, die Evidenz erst herstellen. Auf der anderen Seite stehen Ansätze, die durch das Zürcher Zentrum des Wissens, einem der Knotenpunkte für Wissensgeschichte im deutschsprachigen Raum, vertreten werden. Philipp Sarasin entwickelte sein Konzept von Wissensgeschichte in starker Abgrenzung zur Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte. Der Schweizer Historiker zielt auf die Substitution von Gesellschaft durch Wissen, da das einstige, sozioökonomisch fundierte Verständnis von Gesellschaft durch poststrukturalistische Ansätze überholt sei, während das durch Medien, Akteure und materielle Praktiken konturierte Feld des Wissens auch zukünftig das Denken in einem Zusammenhang ermöglichen könne.10

7 Speich-Chassé, Gugerli, Wissensgeschichte (wie Anm. 6), S. 94. 8 Für den englischen Sprachraum hat Peter Burke die lohnenswerte Aufgabe übernommen, einen Überblick über die derzeitige Forschung zur History of Knowledge zu schreiben. In Anbetracht des komplexen Feldes versucht Burke ein problemorientiertes Vorgehen entlang von vier Schneisen: Knowledge and their Histories, Concepts, Processes und Problems and Prospects, unter denen die einzelnen kurzen Beiträge in Form eines Zettelkastens bietet. Burke, What is the History of Knowledge (wie Anm. 6). 9 Burke, Peter: Die Explosion des Wissens. Von der Encyclopédie bis Wikipedia. Berlin 2014. Zum methodisch-theoretischen Vorgehen vor allem S. 9–17. 10 Sarasin, Was ist Wissensgeschichte (wie Anm. 6), S. 170–172.

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Die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte hat dieses Plädoyer als Herausforderung angenommen und in ihre eigenen Beiträge produktiv integriert. Eine Brückenfunktion nahmen praxeologische Ansätze ein, die den Blick stärker auf Akteure lenken, die zur Produktion und Verbreitung von Wissen beitragen. Dabei kann Personen ebenso wie non-human actors eine Rolle bei der Wissensproduktion und -zirkulation zugesprochen werden; insofern werden auch Diskurse, technische Strukturen, Institutionen und Medien als integraler Bestandteil der Wissensarbeit verstanden und historisch relevant. Wissen in Bewegung: Der Titel des Bandes signalisiert den großen Stellenwert, den das diskursive Feld von Zirkulation, Austausch, Interaktion, Verflechtung, Mobilität, Transfer und Grenzüberschreitung seit dem letzten Jahrzehnt in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften eingenommen hat.11 Vor diesem Hintergrund bringt der Sammelband vor allem Beiträge aus zwei Feldern unter wissensgeschichtlichen Fragenstellungen zusammen, für die eine Zirkulation von Wissen jeweils konstitutiv geworden ist: Dies ist zum einen die Globalgeschichte mit ihrem erkenntnistheoretischen Interesse an „Basisprozessen einer Weltgeschichte, die sich über Interaktionen und Zirkulation definiert“12 und zum anderen die Migrationsforschung, deren Gegenstand es ohne Ortswechsel gar nicht gäbe, und die – auch aufgrund politischer Entwicklungen – in den letzten Jahren verstärkte wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Zirkulation ist ein zentrales Konzept für die noch junge Wissensgeschichte.13 Dabei zeichnet sich erst langsam ab, was unter Zirkulation genau zu fassen ist und wie der Begriff als analytische Kategorie genutzt werden kann.14 Neben einer grundsätzlichen Abgrenzung gegenüber Vorstellungen, dass Wissen sich unverändert, gleichsam in einer Einbahnstraße von Punkt x nach Punkt y bewege, oder dass klare Ursprünge des Wissens rekonstruiert werden könnten, lenkt das Konzept die Aufmerksamkeit vor allem auf die Rahmenbedingungen und wirft damit eine Reihe von Fragestellungen auf: Wie und warum zirkuliert

11 Dommann, Monika: Alles fließt. Soll die Geschichte nomadischer werden? In: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016). S. 516–534. 12 Conrad, Sebastian: Globalgeschichte. Eine Einführung. München 2013. S. 212. 13 Grundlegend hierfür das Themenheft Zirkulationen: Nach Feierabend. Züricher Zeitschrift für Wissensgeschichte 7 (2011); AHC Conversation: Historical Perspectives on the Circulation of Information. In: The American Historical Review 116 (2011). S. 1393–1435. Sowie jüngst Österling, Johan [u.a.] (Hrsg.): Circulation of Knowledge. Explorations in the History of Knowledge. Lund 2018. 14 Zur Diskussion des Zirkulationsbegriffs siehe Gänger, Stefanie: Circulation. Reflections on Circularity, Entity, and Liquidity in the Language of Global History. In: Journal of Global History 12 (2017). S. 303–318.

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Wissen? Welche Grenzen und Hindernisse überwindet es dabei – oder auch nicht? Welche Rolle spielen klassische Sprach-, Staats- oder Disziplinengrenzen und welche der materielle Charakter von Wissen? Wie verändert sich Wissen in Zirkulationsprozessen? Diese Fragestellungen öffnen den Blick zunächst für Foren des Wissens bzw. spezialisierte Einrichtungen, deren Aufgabe die Produktion, Speicherung und Pflege von Wissen ist. Die Liste reicht hier von Klöstern über Museen bis hin zu Universitäten oder staatlichen Bürokratien.15 Darüber hinaus kann auf Akteure des Wissens fokussiert werden, die Wissen produzierten und zirkulierten.16 Schließlich sind auch Medien zu untersuchen, die Teil von Zirkulationsprozessen sind: Medien transportieren Wissen über räumliche und zeitliche Distanzen und beeinflussen dadurch in ganz eigener Weise Wissen.17 Wissen steht allerdings – trotz Zirkulation – nicht allen gleichermaßen zur Verfügung. Es muss ebenso mitgedacht werden, welche Hemmnisse oder Blockaden sich zirkulierendem Wissen entgegenstellen. So betont Sarasin, dass Wissen in Systemen oder zwischen Systemen zirkulieren könne und an die jeweiligen Bedingungen des Systems geknüpft sei; damit wirft er die Machtfrage auf.18 Eine solche Perspektive kann aber auch einen Anstoß geben, lange als relevant angesehene Grenzen anhand des Forschungsgegenstands Wissen zu überdenken: Staatliche oder disziplinäre Grenzen können gegenüber anderen Grenzen eine weit geringere Rolle spielen als vermutet. Migrantenorganisationen können beispielsweise die Zirkulation von Wissen über staatliche Grenzen hinweg in Gang setzen, während sich neue Hemmnisse innerhalb eines Landes zeigen, 15 Speich-Chassé, Gugerli, Wissensgeschichte (wie Anm. 6); daneben Förster, Larissa (Hrsg.): Transforming Knowledge Orders. Museums, Collections and Exhibitions. Paderborn 2014; Friedrich, Markus: Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte. München 2013; vgl. auch das Projekt History of Bureaucratic Knowledge am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte: https://www.mpiwg-berlin.mpg.de/research/projects/history-bureaucratic-knowledge (08.07.2018). 16 So beispielsweise Steiner, Benjamin: Colberts Afrika. Eine Wissens- und Begegnungsgeschichte in Afrika im Zeitalter Ludwigs XIV. München 2014, besonders das Kapitel „Begegnungen. Reisen und Erkundigungen an der westafrikanischen Küste“; oder die Kollektivbiographie von Umfrageforschern in Brückweh, Kerstin: Menschen zählen. Wissensproduktion durch Britische Volkszählungen und Umfragen vom 19. Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter. Berlin 2015. 17 Für Enzyklopädien: Fenske, Michaela: The Undoing of an Encylopedia. Knowledge Practices within German Folklore Studies after World War II. In: Journal of Folklore Research 47 (2010). S. 57–78; für Schulbücher: Lässig, Simone: Wer definiert relevantes Wissen? Schulbücher und ihr gesellschaftlicher Kontext. In: Das Schulbuch: Kontexte – Produktion – Unterricht. Hrsg. von Eckhardt Fuchs [u.a.]. Bad Heilbrunn 2010. S. 199–215. 18 Kilcher, Andreas P. u. Philipp Sarasin: Editorial. In: Nach Feierabend 7 (2011). S. 7–11, hier S. 10.

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wenn dieses Wissen in Bildungssysteme eingebracht werden soll. Ein anderes Beispiel ist die Wirkungsweise scheinbar neutraler Statistiken, die auf einer Reduktion komplexer Zusammenhänge basieren und gerade dadurch eine Zirkulation von Wissensbeständen über den konkreten Entstehungszusammenhang hinaus ermöglichen und in gesellschaftlichen und politischen Debatten zur Geltung bringen. In der Summe führt dies dazu, dass für jede wissensgeschichtliche Studie Grenzen, die sich für spezifische Wissensbestände auftun, individuell diskutiert werden müssen. Mit Fallbeispielen aus der Geschichte von Migration und globaler Verflechtung bietet der Band einen Beitrag zu einer solchen Diskussion um Wissensproduktion und -zirkulation, die in vielen Fällen gemeinsam betrachtet werden muss.

Wissensgeschichtliche Perspektiven auf Migration und globale Verflechtungen Eine Ursache für die begrifflichen und konzeptionellen Hürden, die eine Verständigung zwischen Wissensgeschichte, Globalgeschichte und Migrationsforschung erschweren, mag in den noch immer weit verbreiteten, zumeist recht statischen Vorstellungen von Migration liegen, die sich nur auf eine dauerhafte räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes ausrichten, oft verbunden mit einer Veränderung des rechtlichen Status.19 Neuere Arbeiten zur Migrationsgeschichte sensibilisieren hingegen dafür, wie häufig die Grenzen zwischen verschiedenen Formen von Ortswechseln verschwimmen und wie kontingent Migration vielfach ist.20 So hat der polnische Historiker Dariusz Stola am Beispiel der Migrationen im Staatssozialismus seit 1945 anschaulich vorgeführt, wie aus Verwandtschaftsbesuchen, touristischen Aufenthalten oder betrieblichen Abordnungen nach Westeuropa, Nordamerika, Asien oder Afrika Auswanderungsprozesse wurden, die je nach politischen Konjunkturen und sozialen Statuswechseln prinzipiell reversibel waren.21 Seit einiger Zeit setzt die Migrationsforschung zur Beschreibung ihres Gegenstandes daher eher auf die Begriffe Bewegung und Mobilität, wobei das Verhältnis von Mobilität und Immobilität relational gefasst und historisiert wird. 19 Diskussion gängiger Definitionen von Migration bei Hillmann, Felicitas: Migration. Eine Einführung aus sozialgeographischer Perspektive. Stuttgart 2016. S. 17–23. 20 Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich diese Erkenntnis zurückverfolgen: Lässig, Simone u. Swen Steinberg: Knowledge on the Move. New Approaches toward a History of Migrant Knowledge. In: Geschichte und Gesellschaft 43 (2017). S. 313–346, hier S. 316. 21 Diese wichtige Monographie liegt bis jetzt nur auf Polnisch vor: Stola, Dariusz: Kraj bez wyjścia? Migracje z Polski 1949–1989. Warszawa 2012.

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Entscheidend sind nicht länger allein quantitative Kriterien wie Distanz oder Dauer, sondern vor allem Wahrnehmungen von Differenz22 oder, Formen von agency stärker betonend, biographische Erfahrungen von Aufbruch und Unterwegs-Sein, die Menschen und damit auch Wissen und Weltvorstellungen in einer Gesellschaft verändert.23 Die Wissensgeschichte gehörte bislang nicht zu den bevorzugten Ansätzen der Migrationsforschung. Im Vordergrund standen rechtliche Aspekte (Staatsangehörigkeit, Aufenthaltstitel, Grenz- und Migrationsregime), die sozioökonomische Situation von Migrantinnen und Migranten, insbesondere auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, sowie für einige Migrantengruppen auch kulturelle Fragen, etwa die Erinnerungskultur deutscher Flüchtlinge, Vertriebener und Umsiedler seit dem Zweiten Weltkrieg. In drei spezielleren Themenbereichen der Migrationsforschung spielte Wissen immerhin eine, wenn auch nicht dominante Rolle. Dies betrifft zum Ersten die Bedeutung von Wissen für Migrationsentscheidungen. In der soziologischen und geographischen Forschung wurde bereits seit den späten 1950er Jahren darauf aufmerksam gemacht, allerdings zielte die Fragestellung in der Regel auf die praktische Verfügbarkeit von Informationen im Entscheidungsfindungsprozess vor einer geplanten Migration. In einer Weiterentwicklung älterer push- und pull-Modelle wurde nun die subjektive Perzeption von ökonomischen, politischen und sozialen Faktoren als maßgeblich angesehen.24 Nicht berücksichtigt wurde in dieser Perspektive das „mitgebrachte“ Wissen von Migrantinnen und Migranten und dessen Verarbeitung, Transfer und Erweiterung im Transit- wie im Zielland.25 Zum Zweiten spielt Wissen eine Rolle in der Exilforschung, wobei vornehmlich Akteure aus Wissenschaft, Politik und Kunst das Forschungsinteresse wecken. Dabei handelt es sich um Personengruppen, die über ihre soziale Stellung und politische Haltung maßgeblich zu dem von ihnen produzierten und vermittelten Wissen kamen, doch sind aus einer Elitenperspektive nur bedingt Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Reichweite von Wissensproduktion und -zirkulation zu ziehen.26 Zum Dritten haben im letzten Jahrzehnt durch eine erhöhte gesellschaftlich-politische Aufmerksamkeit für Bildung und Schule verstärkt Fragen nach der Bildungssituation von Migrantinnen und Migranten Einzug in die For-

22 Oltmer, Jochen: Migration im 19. und 20. Jahrhundert. München 2010. S. 1. 23 Pernau, Margrit: Transnationale Geschichte. Göttingen 2011. 24 Hillmann, Migration (wie Anm. 19), S. 55–60. 25 Erel, Umut: Migrating Cultural Capital. Bourdieu in Migration Studies. In: Sociology 44 (2010). S. 642–660. 26 Lässig, Steinberg, New Approaches (wie Anm. 20), S. 336.

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schung gefunden.27 Viele Analysen achten jedoch eher auf formale Qualifikationen, den „Bildungserfolg“, und konzipieren keinen eigenen Wissensbegriff. Die besondere Relevanz wissensgeschichtlicher Ansätze für die Untersuchung von Migration besteht darin, dass Migrationsprozesse die Möglichkeit bieten, Wissensstrategien und Wissenspraktiken vor dem Hintergrund unterschiedlicher Ausstattungen mit sozialem und kulturellem Kapital zu analysieren.28 Darüber hinaus bleibt die Untersuchung konkreter Formen und Inhalte von Wissen wichtig, denn sie bilden für einzelne soziale Gruppen „ein entscheidendes Kriterium für ihre Außenabgrenzung und Binnendifferenzierung“.29 Jakob Vogel formulierte dieses Postulat für die sozialgeschichtliche Arbeiterund Bürgertumsforschung des langen 19. Jahrhunderts, doch zweifellos kann dies auch für Migrantengemeinschaften und Diasporen gelten, die sich zu einem bevorzugten Gegenstand in der historischen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung entwickelt haben. Diasporen unterscheiden sich nach Miriam Rürup von übrigen ethnischen Gemeinschaften dadurch, dass sie mit einem „Programm“ und selbstbewusster Differenz zur „Mehrheitsgesellschaft“ auftreten.30 Sie zeichnen sich insbesondere durch den Bezug auf ein imaginiertes Heimatland, die Sehnsucht nach homogener Identität und durch entsprechende Strategien der Selbstethnisierung aus.31 Es liegt auf der Hand, dass die Produktion und Zirkulation, aber auch die Unterdrückung, Einhegung und Begrenzung von Wissen in dieser Konstellation eine herausragende Rolle spielt. Allerdings, und dies ist bis jetzt noch weniger erforscht, sind Diasporen immer wieder Veränderungsdruck ausgesetzt und damit auch das von ihnen genutzte Wissen. Wissensgeschichtliche Perspektiven auf das Feld der Migrationsgeschichte anzuwenden, impliziert die Notwendigkeit, Migrantinnen und Migranten als wissensgeschichtliche Akteure zu verstehen und der „Vorstellung einer historischen Pluralität von Wissenschafts- bzw. Wissensbegriffen“ Rechnung zu tra-

27 Als Überblicke: Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.): Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld 2016; Matzner, Michael (Hrsg.): Handbuch Migration und Bildung. Weinheim – Basel 2012; Fereidooni, Karim: Schule – Migration – Diskriminierung. Ursachen der Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Schulwesen. Wiesbaden 2011. 28 Lässig, Steinberg, New Approaches (wie Anm. 20), S. 322, 336, 338–340. 29 Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte (wie Anm. 2), S. 644–645. 30 Rürup, Miriam: Von der religiösen Sehnsucht zur kulturellen Differenz. Diasporakulturen im historischen Vergleich. In: Praktiken der Differenz. Diasporakulturen in der Zeitgeschichte. Hrsg. von Miriam Rürup. Göttingen 2009. S. 23. 31 Rürup, Von der religiösen Sehnsucht (wie Anm. 30), S. 28–29.

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gen.32 Dieser Ansatz berücksichtigt daher auch nicht-hegemoniales, nonkonformistisches oder subversives Wissen bzw. hebt diese Wissensformen hervor und bietet so einen Zugang, um moderne (Einwanderungs-)Gesellschaften besser zu verstehen.33 Wissensgeschichtliche Ansätze öffneten auch der Kolonialgeschichte, der Globalgeschichte und der Transnationalen Geschichte neue Perspektiven und die Wissensgeschichte wiederum verdankt Arbeiten aus diesen Feldern wichtige Impulse und Präzisierungen. Darauf verweisen unter anderem die historischen Fallanalysen eines von Rebekka Habermas und Alexandra Przyrembel herausgegebenen Sammelbands zum Verhältnis von Kolonialismus und Wissen. So wurde Wissen auch im Zeitalter des Kolonialismus mit seinen asymmetrischen Machtkonstellationen zwischen Zentrum und Peripherie nicht im Modus der Diffusion verbreitet, sondern „von vielen Orten in viele Richtungen transferiert“.34 Wissen zirkulierte nicht gleichmäßig, sondern wurde unterdrückt, ging verloren oder wurde ignoriert, veränderte sich im Zuge von Transfer und Übersetzungen und erhielt neue Bedeutungen.35 Mit den Akteuren, die zur Produktion und Verbreitung von Wissen beitrugen, waren keineswegs nur Experten und Eliten gemeint, sondern auch Vertreter der lokalen Bevölkerung, Übersetzer oder Kaufleute.36 Die lange dominierende Vorstellung, dass sich wissenschaftliches Wissen von Europa aus schrittweise über die Welt verbreitete oder in andere Regionen diffundierte, wird durch solche Beispiele in Frage gestellt und aufgelöst, ohne dass sich dabei ein allgemeingültiges, neues Modell herausgebildet hätte.37

32 Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte (wie Anm. 2), S. 650. 33 Lässig, The History of Knowledge (wie Anm. 6), S. 37, 43; Lässig, Steinberg, New Approaches (wie Anm. 20), S. 320. 34 Habermas, Rebekka u. Alexandra Przyrembel: Einleitung. In: Von Käfern, Märkten und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne. Hrsg. von Rebekka Habermas u. Alexandra Przyrembel. Göttingen 2013. S. 9–24, hier S. 10–11. 35 Habermas, Przyrembel, Einleitung (wie Anm. 34), S. 13, 17–19. Hierzu auch Dorsch, Sebastian: Translokale Wissensakteure. Ein Debattenvorschlag zu Wissens- und Globalgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 64 (2016). S. 782–783, 790. Zu Übersetzungen: Lässig, Simone: Übersetzungen in der Geschichte – Geschichte als Übersetzung? Überlegungen zu einem analytischen Konzept und Forschungsgegenstand für die Geschichtswissenschaft. In: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 189–216. 36 Habermas, Przyrembel, Einleitung (wie Anm. 34), S. 15. 37 Siehe hierzu auch Büschel, Hubertus u. Daniel Speich (Hrsg.): Entwicklungswelten. Frankfurt am Main – New York 2009; Mackenthun, Gesa [u.a.] (Hrsg.): Travel, Agency, and the Circulation of Knowledge. Münster – New York 2017; Beer, Andreas u. Gesa Mackenthun (Hrsg.): Fugitive Knowledge. The Loss and Preservation of Knowledge in Cultural Contact Zones. Münster – New York 2015; Roque, Ricardo u. Kim A. Wagner (Hrsg.): Engaging Colonial Knowledge.

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In den Blickpunkt rückten dafür nun unterschiedliche Wissensformen: So wurde die Kategorie des kolonialen Wissens für Wissensformen und -inhalte geprägt, die im Rahmen und mit den Ressourcen der Kolonialmächte produziert wurden.38 Dagegen stehen Kategorien wie indigenes, lokales oder traditionelles Wissen, die sich nicht nur in der historischen Forschung etabliert haben, sondern auch in der internationalen Politik genutzt werden.39 Die gemeinsame Wissensproduktion betonen Begriffe wie entangled knowledge40 oder PidginKnowledge, die Aushandlungsprozesse und Veränderungen von Wissen in den Mittelpunkt stellen. Nach Harald Fischer-Tiné handelt es sich um ein „KontaktWissen, das sich in einem prinzipiell unabgeschlossenen Wandlungsprozess befindet und sich aus mehreren kulturell unterschiedlich eingebetteten Ressourcen speist.“41 Die Frage nach den Wissensformen verweist auf die Orte von Wissensproduktion und -zirkulation. Ausgehend von unterschiedlichen Netzwerkkonzepten werden – etwa anhand von Kaufleuten oder Forschungsreisenden – klar definierte Punkt-zu-Punkt-Verbindungen nachverfolgt. Solche Netzwerke des Wissens werden in der Vorstellung der Räume des Wissen weiterentwickelt, die Machtasymmetrien analytisch besser fassbar macht und auf die Fluidität von Grenzen verweist.42 Im Konzept der Kontaktzonen, d.h. von lokalen Orten, an denen zwei oder mehrere Gruppen zusammentreffen, liegt der Fokus stärker auf den jeweiligen Akteuren des Wissens. Mit diesem konzeptionellen Rüstzeug ent-

Reading European Archives in World History. London 2012; Sengupta, Indra u. Ali Daud (Hrsg.): Knowledge Production, Pedagogy, and Institutions in Colonial India. New York 2011. 38 Ballantyne, Tony: Colonial Knowledge. In: The British Empire. Themes and Perspectives. Hrsg. von Sarah Stockwell. Oxford 2008. S. 177–198; Cohn, Bernard: Colonialism and Its Forms of Knowledge. The British in India. Princeton 1996. 39 Siehe hierzu das Local and Indigenious Knowledge Systems Program der UNESCO, http:// www.unesco.org/new/en/natural-sciences/priority-areas/links/related-information/about-us/ (08.05.2018) 40 Siehe beispielsweise Mackenthun, Gesa u. Klaus Hock: Introduction. In: (Hrsg.): Entangled Knowledge. Scientific Discourses and Cultural Difference. Hrsg. von Gesa Mackenthun und Klaus Hock. Münster 2012. S. 7–27. Hierin auch die Forderung nach einer „Decolonization of Scientific Knowledge“, S. 16–18. 41 Dies geschieht in Abgrenzung zum oben genannten Diffusionsmodell, aber auch in Abgrenzung zur oft genannten Hybriditätsmetapher; Pidgin Knowledge biete den Vorteil, vielfältige Bedingungen der Wissensproduktion einzubeziehen und sich nicht auf zwei relativ eindeutig zu bestimmende Ausgangselemente zu stützen. Zur Definition von Pidgin Knowledge: FischerTiné, Harald: Pidgin-Knowledge. Wissen und Kolonialismus. Zürich 2013. S. 12–13. 42 Ray, Kapil: Networks of Knowledge, or Spaces of Circulation? The Birth of British Cartography in Colonial South Asia in the late Eighteenth Century. In: Global Intellectual History 2 (2017). S. 49–66.

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stand in der Forschung zum Kolonialismus oder zur Entwicklungspolitik eine Reihe aufschlussreicher Arbeiten.43 Während wissensgeschichtliche Perspektiven für das historische Feld des Kolonialismus im langen 19. Jahrhundert schon als etabliert gelten können, werden sie für das weiter fortgeschrittene 20. Jahrhundert noch zögerlich angewandt. Dabei wurden in den technischen, politischen oder gesellschaftlichen Umbrüchen dieses Jahrhunderts Zirkulationsmöglichkeiten für Wissen und Wissensbestände einschneidend verändert. Als markantes Beispiel kann das Wissen über race gelten. Die UNESCO hat in den 1950er Jahren mit dem Statement on Race im internationalen Rahmen festgestellt, dass „Rasse“ ein soziales Konstrukt sei44 und damit klar zu erkennen gegeben, dass eine biologische Unterteilung der Menschheit in Rassen wissenschaftlich nicht tragbar ist. Trotzdem hat sich die Kategorie gehalten und teilweise wurde sogar versucht, diese wissenschaftlich zu rehabilitieren. Dies aufgreifend, fragen Adam Hochmann und Veronika Lipphardt, welches Wissen jeweils mit dem Begriff „Rasse“ verbunden, wie Erklärungspotenzial aus ihnen gezogen wurde und wie es damit zu unterschiedlichen Gebrauchskontexten kam (racial naturalism, forensische Anthropologie, genetische Anthropologie).45 Darüber hinaus ist zu bemerken, dass Wissen über race nicht nur im wissenschaftlichen Bereich produziert, sondern auch im (internationalen) Recht definiert und fortgetragen wurde,46 oder dass auch Aktivistinnen wie Schwarze Frauen in Deutschland Wissen produzieren und damit gesellschaftliche Machtverhältnisse zu verändern suchen.47 Diese Arbeiten betrachten nicht nur die gesellschaftliche Nutzung von als wissenschaftlich deklariertem Wissen, sondern auch die gesellschaftliche Wissensproduktion.

43 Habermas, Przyrembel, Einleitung (wie Anm. 34); Büschel, Speich, Entwicklungswelten (wie Anm. 37). 44 UNESCO: Statement on Race. 1951. 45 Hochman, Adam u. Veronika Lipphardt: Rasse oder Vielfalt: Was sagt die Wissensforschung? Kontroverse Annäherungen an die Kategorie race. In: Historisches Lernen als Rassismuskritik. Hrsg. von Martin Lücke [u.a.]. Schwalbach 2016. S. 21–48. 46 Für den Bereich der Gesetzgebung und die Problematik der Übersetzung internationaler Vereinbarungen siehe Cremer, Hendrik: „… und welcher Rasse gehören Sie an?“ Zur Problematik des Begriffs „Rasse“ in der Gesetzgebung (Deutsches Institut für Menschenrechte, Policy Paper, 2009). http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/policy_paper_10_und_welcher_rasse_gehoeren_sie_an_2_auflage.pdf (08.05.2018). 47 Eggers, Maureen Maisha: Knowledges of (Un)Belonging. Epistemic Change as a Defining Mode for Black Women’s Activism in Germany. In: Remapping Black Germany. New Perspectives on Afro-German History, Politics, and Culture. Hrsg. von Sara Lennox. Amherst 2016. S. 33– 45.

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Daniel Speich-Chassé analysiert die Wirkung eines anderen Konzepts auf Wissensordnungen im 20. Jahrhundert. Er fragt danach, wie mit bestimmten Wissensformen – in diesem Fall mit dem Konzept Bruttosozialprodukt – globale Ungleichheit als Wissensordnung etabliert und durch massive Komplexitätsverringerung ein Modell geschaffen wurde, das die Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern nicht nur in scheinbar objektivierte Zahlen fassen, sondern auch als Orientierung für weitere Handlungen genutzt werden konnte.48 Die beiden hier kurz skizzierten Beispiele zu race und globaler Ungleichheit verarbeiten wichtige Impulse der Kolonialgeschichte für die Wissensgeschichte und machen deutlich, weshalb viele lokal wirksame Wissensordnungen nur unter Berücksichtigung globaler Verflechtungen nachzuvollziehen sind.

Wissensgeschichte und die Zeit nach 1945 Den Kern des vorliegenden Themenbandes bildet die Produktion und Zirkulation von Wissen vor dem Hintergrund von Migrationsprozessen und globalen Verflechtungen in der Zeigeschichte seit 1945. Die räumlichen Bezugsebenen der hier versammelten empirischen Beiträge reichen von mikrohistorisch angelegten lokalen Fallbeispielen wie dem einer einzelnen Schule bis zu supranationalen Organisationen wie der UNESCO. Gemeinsam ist all diesen Fällen, dass das Lokale stets mit dem Globalen verflochten war, sei es durch Migration – ob dauerhaft oder vorübergehend, intendiert oder kontingent –, durch medialen Austausch oder oft genug durch beides. Damit bietet sich der Wissensgeschichte ein breites Forschungsfeld, um Fragen der Wissenszirkulation an konkreten Beispielen zu analysieren, und gleichzeitig die zu weiten Teilen noch bestehende Fixierung der Wissensgeschichte auf die Wissenschaft zu überwinden. So wie die Migrationsforschung oder die Globalgeschichte methoden- und theorieoffen sind, kann die Wissensgeschichte als themenoffen verstanden werden. Wissensgeschichtliche Ansätze sind nicht an ein spezielles thematisches Forschungsfeld gebunden und haben keinen exklusiven zeitlichen Schwerpunkt. So lange entsprechende Quellen vorhanden sind, können sie vielmehr für alle Zeiträume und Epochen Anwendung finden. Dennoch liegt, wie bereits festgestellt, ein Schwerpunkt wissensgeschichtlicher Arbeiten auf der Frühen Neuzeit und dem langen 19. Jahrhundert.

48 Speich Chassé, Daniel: Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie. Göttingen 2013.

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In diesem Band ist allen Beiträgen der Fokus auf der Zeit von 1945 bis zur Gegenwart gemeinsam. Daraus ergeben sich neue Fragen und Anregungen für die Forschung. Zweifellos basiert der wissensbezogene Ansatz auf einer ganzen Reihe von Voraussetzungen, die in frühere und weitaus größere Zeiträume zurückreichen. Die Konstituierung und stetige Neuformierung von Gesellschaft als Wissensgesellschaft ist historisch bereits überzeugend hergeleitet worden.49 Die Frage, welche einschneidenden Veränderungen die Produktion und Zirkulation von Wissen angesichts der gesellschaftlichen, technischen und politischen Umbrüche seit dem Zweiten Weltkrieg prägten, hat jedoch noch kaum eine systematische Antwort erfahren. Sie soll in diesem Band umrissen werden. Dabei werden drei miteinander eng verflochtene Prozesse näher untersucht: Migration, Globalisierung und Bildungsexpansion. Ein solches Untersuchungsdesign ist besonders vielversprechend für jene Länder, deren Gesellschaften nicht nur Wissensgesellschaften, sondern in jüngerer und historisch recht kurzer Zeit auch Einwanderungsgesellschaften geworden sind.50 Hierzu zählt Deutschland, das in vielen Beiträgen dieses Bandes im Blickpunkt steht, dabei aber im Vergleich und in der Verflechtung mit anderen Ländern und Regionen diskutiert wird. Die Migrationsgeschichte der Zeit seit 1945 weist aus wissensgeschichtlicher Perspektive andere periodische Verläufe und Einteilungen auf, als sie für die klassische Politik- oder Strukturgeschichte diskutiert werden. Dies betrifft zunächst die Phase der frühen Nachkriegsjahrzehnte, die in weiten Teilen Europas geprägt war durch die Auswirkungen der millionenfachen Verluste an Menschenleben und die zum Teil hermetischen Grenzziehungen im Rahmen der neuen bipolaren Weltordnung. Diese Faktoren setzten bisherigen Formen der Produktion und Zirkulation von Wissen gravierende Hindernisse entgegen. Der bedeutendste Effekt der umfangreichen Zwangsmigrationen seit Ende des Zweiten Weltkriegs schien zuallererst in der weiteren Homogenisierung von Nationalstaaten zu bestehen und nicht in Wissens- und Modernisierungsimpulsen, die Flüchtlinge, Vertriebene, Umsiedler und Displaced Persons in ihre neuen Ansiedlungsregionen mitbrachten. Die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzende Phase der Globalisierung hebt sich in mehrerlei Hinsicht von vorherigen ab. Traditionslinien bildeten zunächst Räume, Netzwerke und Lebenswelten noch bestehender

49 Vgl. etwa die in Anm. 2 genannten Arbeiten. 50 Den Wandel Europas von einem „Auswanderungskontinent hin zu einem Einwanderungskontinent“ als einen „scharfen Umbruch“, den keine andere Region der Welt so erlebt habe, konstatiert Kaelble, Hartmut: Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart. Bonn 2007. S. 423.

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Empires, in denen die Konstellationen von Kolonialismus und Wissen weiterhin Gültigkeit besaßen.51 Die Analyse kultureller Auswirkungen des kolonialen Projekts reicht daher weit über die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Dekolonisation hinaus und schließt Themenkomplexe wie Rassismus, Migration und Diversität in den Gesellschaften der einstigen imperialen Zentren ein.52 Parallel bzw. teilweise im direkten Anschluss hierzu entwickelten sich mit dem Projekt der Entwicklungspolitik neue Foren, in denen Wissen, Personen und Geld global zirkulierten. Darüber hinaus bildeten sich mit den Vereinten Nationen und verschiedenen Unterorganisationen, wie der UNESCO, weitere Foren, die erstmals globale Zirkulationsprozesse im Rahmen einer institutionalisierten Infrastruktur erlaubten und das in einer Zeit, in der sich mit dem Kalten Krieg neue Grenzen der Zirkulation auftaten.53 Mit wissensgeschichtlichen Perspektiven fällt das Augenmerk somit auf den Umstand, dass sich mit dem Westen, dem Osten und den Blockfreien drei Räume der Zirkulation festigten, in deren Rahmen Wissen sich zwar nicht frei, aber leichter bewegen konnte, wobei gleichzeitig die Verbindungen über diese neu geschaffenen Grenzen nicht aus dem Auge zu verlieren sind. Neben diesen drei Räumen sind weitere neu entstehende bzw. enger zusammenrückende Foren wie die Europäische Gemeinschaft, Islamische Liga, OPEC oder ASEAN zu nennen. In jüngster Zeit ist auch die hervorgehobene Rolle der Nichregierungsorganisationen (NGOs) beim „making of the contemporary world“ in den vielfältigsten Themenfeldern erkannt worden.54 Die technische Entwicklung und die Bildungsexpansion änderte schließlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Frage, wie Wissen zirkulieren konnte und wie – über teilweise weit entfernte Räume – Kontakte aufrechter51 Siehe Osterhammel, Jürgen: Spätkolonialismus und Dekolonisation. In: Neue Politische Literatur 37 (1992). S. 404–426. Für koloniale Traditionslinien in die „Entwicklungsarbeit“ siehe Büschel, Hubertus u. Daniel Speich Chassé: Einführung: Entwicklungsarbeit und globale Modernisierungsexpertise. In: Geschichte und Gesellschaft 41 (2015). S. 543–544. 52 Stuchtey, Benedikt: Zeitgeschichte und vergleichende Imperiengeschichte. Voraussetzungen und Wendepunkte in ihrer Beziehung. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 65 (2017). S. 336–337. 53 Duedahl, Poul: Selling Mankind. UNESCO and the Invention of Global History, 1945–1976. In: Journal of World History 22 (2011). S. 101–133. 54 Frey, Marc [u.a.]: International Organization and Global Development, 1945–1990. London 2014. NGOs dienten dabei nicht nur im globalen Maßstab der Wissenszirkulation, nach dem Zweiten Weltkrieg waren NGOs entscheidend daran beteiligt, die Politik zu prägen. Siehe am Beispiel Großbritanniens: Hilton, Matthew [u.a.]: The Politics of Expertise. How NGOs Shaped Modern Britain. Oxford 2013. Auch wenn sich solche Organisationen schon in früheren Zeiten etablierten, spielten sie doch für die Zeitgeschichte eine entscheidende Rolle.

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halten werden konnten, entscheidend. Die technische Entwicklung betraf nicht nur die Geschwindigkeit von Wissenszirkulation, sondern auch die Reichweite: Neben gedruckten Medien setzten sich erst das Radio, anschließend Fernsehen und später das Internet als Massenmedien durch, wodurch Zugänge zu Wissen nicht mehr zwingend an Lesefähigkeit gekoppelt waren.55 In vielen Staaten kam es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu umfassenden Reformen des Bildungswesens.56 Dabei zeigen die Diskussionen um Bildung vor allem in den europäischen Staaten – von Initiativen zur Schulbuchrevision nach dem Zweiten Weltkrieg57 bis zum Bologna-Prozess um den Jahrtausendwechsel – wie stark lokale Bildungsentscheidungen mit transnationalen Foren verwoben sind. Die Selbst-Anerkennung der deutschen Gesellschaft als Einwanderungsgesellschaft seit den 2000er Jahren ist eng mit einer hohen Aufmerksamkeit für bildungspolitische Fragen verknüpft gewesen. Diese Diskussionen stehen allerdings in längeren Traditionslinien und können vergleichend auch für andere Länder beobachtet werden. Als 1952 die ersten Schwarzen „Besatzungskinder“ in der Bundesrepublik Deutschland eingeschult wurden, flammte eine Debatte auf, die unter dem Leitgedanken „Kampf dem Unwissen“58 zusammengefasst werden kann. Ziel war es, zunächst Wissen über die Anzahl und die Lebensumstände der „Mischlingskinder“ zu gewinnen, daran anschließend Strategien im Umgang mit dieser Gruppe zu entwickeln und schließlich eine Öffentlichkeitsarbeit zu entwerfen, die notwendiges Wissen über diese Gruppe in die Gesellschaft vermitteln sollte. In England wiederum wurde mit dem Rampton Report 1981 von staatlicher Seite

55 Zur Medienentwicklung im 20. Jahrhundert: Daniel, Ute: Beziehungsgeschichten. Politik und Medien im 20. Jahrhundert. Hamburg 2018; Daniel, Ute u. Axel Schildt (Hrsg.): Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts. Köln u.a. 2010; Bösch, Frank: Medienumbrüche und politische Zäsuren im 20. Jahrhundert. In: Das 20. Jahrhundert vermessen. Signaturen eines vergangenen Zeitalters. Hrsg. von Martin Sabrow und Peter Ulrich Weiß. Göttingen 2017. S. 179–198; Kirby, David A.: Film, Radio, and Television. In: A Companion to the History of Science. Hrsg. von Bernard Lightman. Oxford 2016. S. 428–441. 56 Überblicke hierzu: Furck, Carl-Ludwig: Allgemeinbildende Schulen. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 6, 2: 1945 bis zur Gegenwart. Deutsche Demokratische Republik und neue Bundesländer. Hrsg. von Christoph Führ u. Carl-Ludwig Furck. München 1998. S. 251–259; Baske, Siegfried: Das Schulsystem. Primarbereich – Hauptschule – Realschule – Gymnasium – Gesamtschule. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 6, 1: 1945 bis zur Gegenwart. Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. von Christoph Führ u. CarlLudwig Furck. München 1998. S. 282–356. 57 Faure, Romain: Netzwerke der Kulturdiplomatie. Die internationale Schulbuchrevision in Europa 1945–1989. Berlin – Boston 2015. 58 Ebeling, Hans: Zum Problem der Deutschen Mischlingskinder. Bericht. In: Bildung und Erziehung. Monatsschrift für Pädagogik 7 (1954). S. 612–630, hier S. 612.

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die Frage untersucht, wie Kinder von Migrantinnen und Migranten aus den West Indies im englischen Schulsystem zurecht kämen.59 Unter dem Titel Education for All wurde dann einige Jahre später der Swann Report veröffentlicht, der das Ziel formulierte, Kindern mit Migrationshintergrund dieselben Bildungschancen zu ermöglichen wie anderen Kindern.60 Beide Beispiele zeigen, dass Menschen allein schon durch ihre Anwesenheit in bestimmten Kontexten hegemoniale Wissensbestände in Frage stellen können. Welche Implikationen dies mit sich bringen kann, ist Gegenstand kontroverser Einschätzungen in der internationalen Forschungslandschaft. Während beispielsweise für die Situation in den Vereinigten Staaten festgestellt wird, dass Migrantinnen und Migranten „increase demand on public eduaction at the local levels, both in terms of the number of students and in terms of their need for bilingual eduaction. New immigrants, especially those from Asia, tend to be better educated and benefit the United States through a brain-drain-effect“,61 gehen Autoren von Studien zu europäischen Ländern häufiger von einem Spannungsverhältnis zur „Mehrheitsgesellschaft“ aus und richten ihren aktuellen Problemfokus insbesondere auf muslimische Migrantinnen und Migranten. Für Bildung und Medien ist die wissensgeschichtliche Einsicht, dass die „Konstruktion wissenschaftlicher Evidenzen“ über Repräsentationen von Wissen verläuft,62 besonders bedeutsam. Für die Analyse solcher Repräsentationen kann systematisch von Wissensbeständen ausgegangen werden, die über Migration und globale Räume, für und von Migrantinnen und Migranten produziert und weiter getragen werden. Dabei ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten der Interaktion zwischen verschiedenen Wissensformen und -agenten, wie beispielhaft das Wirken von NGOs und Selbstorganisationen von Migrantinnen und Migranten zeigen. Dieses Potenzial wird in jüngerer Zeit im Leitbild der Di59 Der Report stellt dabei zunächst einen institutionellen Rassismus fest und schloss „We have put forward evidence to show that West Indian children as a group are failing in our education system“, siehe Conclusion. In: Rampton Report. West Indian Children in Our Schools. Interim Report of the Committee of Inquiry into Education of Children from Ethic Minority Groups. Hrsg. von Her Majesty’s Stationery Office. London 1981. S. 70. 60 Es wurde betont: „The government is firmly committed to the principle that all children, irrespective of race, colour or ethnic origin, should have a good education which develops their abilities and aptitudes to the full and brings about a true sense of belonging to Britain.“ Foreword by Keith Joseph, the Secretary of State for Education and Science. In: Swann Report. Education for All. Report on the Committee of Enquiry into the Education of Children from Ethic Minority Groups. Hrsg. von Her Majesty’s Stationery Office. London 1985. o.S. 61 LeMay, Michael C.: An Overview of Immigration to the United States, 1945–2010. In: Transforming America. Perspectives on U. S. Immigration. Bd. 3: Immigration and Superpower Status: 1945 to the Present. Hrsg. von Michael C. LeMay. Santa Barbara u.a. 2013. S. 15. 62 Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte (wie Anm. 2), S. 648.

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versität einzufangen versucht. Empirisch fragen entsprechende Studien danach, welche Repräsentationen von gesellschaftlicher Vielfalt und welche Differenzlinien in Bildungsmedien sichtbar gemacht und verhandelt werden und welche Akteure an diesen Prozessen beteiligt sind. Gleichzeitig gibt es normative Ansätze, die auf die Wertschätzung von gesellschaftlicher Vielfalt und den Abbau struktureller Diskriminierungen abheben und Diversität als gesellschaftlichen Normalfall konstruieren. Im historischen Überblick wird deutlich, dass in vielen Ländern noch in jüngster Vergangenheit, in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts und auch aktuell, speziell in rechtspopulistischen Bewegungen, Ideen ethnischer oder kultureller Homogenität die politische und gesellschaftliche Agenda bestimmten. Die hier skizzierten Prozesse erstreckten sich nicht gleichmäßig über die Zeit seit 1945. Die Frage nach möglichen Periodisierungen hat in den letzten Jahren die Geschichtswissenschaft ausführlicher beschäftigt. Dabei konzentrierten sich viele Historiker auf die 1970er Jahre, die nach Eric Hobsbawm eine Wasserscheide inmitten des „Goldenen Zeitalters“ von 1945 bis 199063 und nach der Diagnose von Lutz Raphael und Anselm Doering-Manteuffel einen „Strukturbruch“ markierten.64 Der Schwerpunkt der Überlegungen zu einem „Strukturbruch“ liegt auf der Makroperspektive von Wirtschaft und Gesellschaft. Als Beispiele zu Migration und Wissen werden die Großprozesse der internationalen, vertraglich geregelten Arbeitsmigration und die Gründung neuer Bildungsinstitutionen insbesondere im Hochschulbereich angeführt. Für die Zuwanderung aus den Gebieten der früheren Imperien65 oder für die Reformen des Bildungssystems im Primär- und Sekundärbereich66 scheinen die 1970er Jahre

63 Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 2003. S. 285. 64 Doering-Manteuffel, Anselm u. Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. 3. Aufl. Göttingen 2012; Anselm Doering-Manteuffel hat Erkenntnisse aus diesem Essay später in seinen Ausführungen zum „dritten Zeitbogen“ reflektiert: Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 62 (2014). S. 321–348. 65 Zentrale Entscheidungen auf die 1960er Jahre datiert für Großbritannien in ihrer umfangreichen Studie Karen Schönwälder: Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren. Essen 2001. 66 Alternative Datierungen von Bildungszyklen bieten u.a.: Droit, Emmanuel u. Wilfried Rudloff: Vom deutsch-deutschen „Bildungswettlauf“ zum internationalen „Bildungswettbewerb“. In: Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000. Hrsg. von Frank Bösch. Bonn 2015. S. 321–368; Titze, Hartmut: Bildungskrisen und sozialer Wandel 1780–2000. In: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004). S. 339–372.

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aber nicht einen so ausgeprägten Zäsurcharakter zu tragen.67 Darüber hinaus sind viele dieser Überlegungen und Thesen in Hinsicht auf Westeuropa und – als Referenzrahmen – Nordamerika formuliert. Andere Autoren sprechen eher von einer Formierungsphase oder – wie Konrad Jarausch – von „weichen“ Zäsuren, die Veränderungen in verschiedene Richtungen zulassen.68 Solche polyvalenten und ambivalenten Veränderungen seit den 1970er Jahren finden sich auch in Überlegungen der Globalgeschichte wieder. Diese verweist ein wachsendes „Bewusstsein für globale Zusammenhänge“69 bzw. die Zunahme eines „Interdependenzempfindens“70 als epistemologische Voraussetzungen. Sie erkennt darin aber auch methodische Herausforderungen, insbesondere in der Analyse und Darstellung von Synchronizität, die Sebastian Conrad in einem methodischen Gegensatz zur kulturwissenschaftlichen Konzentration auf Differenz sieht,71 und in einer latenten Teleologie des aktuellen Globalisierungsprozesses.72 Demgegenüber ist Benedikt Stuchtey darin zuzustimmen, „dass in der Gegenwart allzu vieles als globales Phänomen herhalten muss, was historische Wurzeln in einer nachweisbaren Imperialität gehabt hat.“73 Globale Verflechtungen sind bislang, insbesondere für die Geschichte der Bundesrepublik nach 1945 relativ selektiv erfasst worden, insbesondere in den Impulsen durch Westernisierung und Amerikanisierung. Darin kam die Orientierung „an einer Idealvorstellung des Westens“74 zum Ausdruck, auch wenn hierin jüngst ein konzeptioneller Aufbruch der deutschen Nationalgeschichte lange vor dem transnational oder global turn erkannt wurde.75 Viele Migrations67 Doering-Manteuffel und Raphael konstatieren daher auch, dass die zeithistorische Forschung für diese Themenfelder oft noch Neuland betreten muss, bevorzugt durch multiperspektivische, qualitative Fallstudien unter Einbezug der Mikroebene: Doering-Manteuffel, Raphael, Nach dem Boom (wie Anm. 66), S. 117. 68 Jarausch, Konrad: Verkannter Strukturwandel. Die siebziger Jahre als Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart. In: Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Hrsg. von Konrad Jarausch. Göttingen 2008. S. 23. Ein Überblick über die Diskussion: Geyer, Martin H.: Auf der Suche nach der Gegenwart. Neue Arbeiten zur Geschichte der 1970er und 1980er Jahre. In: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010). S. 643–669. 69 Conrad, Globalgeschichte (wie Anm. 12), S. 9–10. 70 Iriye, Akira: Einleitung. In: Geschichte der Welt. 1945 bis heute. Die globalisierte Welt. Hrsg. von Akira Iriye u. Jürgen Osterhammel. München 2013. S. 14. 71 Conrad, Globalgeschichte (wie Anm. 12), S. 23, 106. 72 Conrad, Globalgeschichte (wie Anm. 12), S. 93. 73 Stuchtey, Zeitgeschichte und vergleichende Imperiengeschichte (wie Anm. 52), S. 333. 74 Jarausch, Konrad: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995. Bonn 2004. S. 170. 75 Leendertz, Ariane: Zeitbögen, Neoliberalismus und das Ende des Westens, oder: Wie kann man die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts schreiben? in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 65 (2017). S. 198.

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und Verflechtungsprozesse nach 1945 verliefen freilich quer zu diesen Forschungsfragen und gesellschaftlichen Selbstbildern, indem sie Deutschland mit dem europäischen Osten, dem Mittelmeerraum und dem globalen Süden verbanden. Der vorliegende Band möchte diese für die Konturierung der Zeit seit 1945 vorgestellten Diskussionsstränge und Hinweise auf neue Forschungsfelder nutzen, um die Verbindung von Wissen, Migration und Verflechtungen auf breiterer empirischer Basis auszuloten.

Zur Gliederung des Bandes Die Beiträge in diesem Band gehen der Bewegung von Wissen für die Zeit nach 1945 aus drei Perspektiven nach: aus der von Foren, Medien und Akteuren des Wissens. Die einzelnen Beiträge präsentieren hierzu sowohl historische als auch sozial- und kulturwissenschaftliche Ansätze und Befunde. Sie orientieren sich an folgenden, im Verlaufe dieser Einleitung aufgeworfenen Leitfragen: In welcher Form zirkulierte Wissen im Kontext von Migration und globaler Verflechtung über räumlich voneinander entfernte Regionen? Welche Hürden stellten sich diesem Prozess entgegen? Welche Akteure waren mit welchen Interessen an diesen Prozessen beteiligt? Welche Bedingungen strukturierten diesen Prozess? Und inwieweit wurden dadurch vorhandene Wissensbestände in Frage gestellt und durch neue Wissensbestände ersetzt – oder auch nicht?

Foren des Wissens Wissen entsteht in konkreten Beziehungsgeflechten. Für Fragen der Entstehungsbedingungen wissenschaftlichen Wissens legten Bruno Latour und Steve Woolgar die mittlerweile klassischen Laborstudien vor. Naturwissenschaftliches Wissen wurde hier als sozial konstruiert begriffen und im Anschluss daran entstand eine Reihe von Studien, die der „Fabrikation von Erkenntnis“76 und der

76 Knorr-Cetina, Karin: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2002; Latour, Bruno u. Steve Woolgar: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts. Neuauflage. Princeton 1986; siehe jetzt auch: Bauer, Susanne [u.a.] (Hrsg.): Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven. Berlin 2017.

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Situationsgebundenheit von Wissen nachgingen.77 Dazu gehörte auch die Untersuchung von Infrastrukturen,78 mittels derer sich Wissen bewegen konnte, ebenso wie von Hindernissen oder Grenzen: Wissenszirkulation ist somit immer auch im Kontext konkreter Infrastrukturen und Machtverhältnisse zu sehen.79 Die historische Forschung hat dies mit verschiedenen Fallbeispielen und theoretischen Konzepten aufgegriffen. So entstand eine Reihe von Arbeiten zu wissenschaftlichen Netzwerken oder internationalen Experten.80 Ähnlich dem Konzept von Zirkulationsräumen entwickelten Esther Möller und Johannes Wischmeyer den Begriff der temporären transnationalen Bildungsräume. Sie wiesen darauf hin, dass durch personelle Netzwerke, mediale Repräsentation und Rezeption sowie institutionelle Kooperationen jenseits des Nationalstaats spezifische Foren des Wissens geschaffen wurden.81

77 vom Bruch, Rüdiger: Wissenschaft im Gehäuse. Vom Nutzen und Nachteil institutionengeschichtlicher Perspektivem. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000). S. 37–49; Haraway, Donna: Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In: Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven. Hrsg. von Susanne Bauer [u.a.]. Berlin 2017. S. 369–403. 78 Zum Begriff der Infrastrukturen siehe Star, Susan Leigh: Die Ethnographie der Infratsruktur. In: Susan Leigh Star. Grenzobjekte und Medienforschung. Hrsg. von Sebastian Gießmann u. Nadine Taha. Bielefeld 2017. S. 419–436; hierzu auch aus historischer Sicht: Dommann, Monika: Barrieren, Hinterbühnen, Infrastrukturen. Susan Leigh Stars Packungsbeilage zur Erforschung der Arbeit im Informationszeitalter. In: Susan Leigh Star. Grenzobjekte und Medienforschung. Hrsg. von Sebastian Gießmann u. Nadine Taha. Bielefeld 2017. S. 437–444. 79 Kilcher, Sarasin, Editorial (wie Anm. 18). 80 Siehe beispielsweise: Manias, Chris: Internationals of Experts, Educators, and Scholars. Transnational histories of Information and Knowledge in the Long Nineteenth Century. In: GHI London Bulletin 37:2 (2015). S. 39–58. 81 Möller, Esther u. Johannes Wischmeyer: Transnationale Bildungsräume. Koordinaten eines Forschungskonzepts. In: Transnationale Bildungsräume. Wissenstransfers im Schnittfeld von Kultur, Politik und Religion. Hrsg. von Esther Möller u. Johannes Wischmeyer. Göttingen 2013. S. 7–20. Siehe hierzu auch das Themenbeispiel der Schulbuchrevision, für die nach dem Zweiten Weltkrieg international ein Raum der Zirkulation durch personelle, inhaltliche und institutionelle Verwebungen entstand: Faure, Netzwerke (wie Anm. 57); Fuchs, Eckhardt u. Kathrin Henne: Wissensaustausch international. Schulbuchrevision und das Internationale Schulbuchinstitut in Braunschweig nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Wissen machen. Beiträge zu einer Geschichte erziehungswissenschaftlichen Wissens in Deutschland zwischen 1945 und 1990 (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 63). Hrsg. von Sabine Reh [u.a.]. Weinheim, Basel 2017. S. 108–123. Um das Konzept eines Raums der Zirkulation aufzugreifen, muss allerdings nicht auf internationale Verflechtungen fokussiert werden: Behm illustriert dies weitgehend im westdeutschen Rahmen anhand der Bildungsforschung und der Etablierung eines Forschungsinstituts. Behm, Britta: Zu den Anfängen der Bildungsforschung in Westdeutschland 1946–1963. Ein wissensgeschichtlicher Blick auf eine ‚vergessene‘ Geschichte. In: Wissen machen. Beiträge zu einer Geschichte erziehungswissenschaftlichen Wissens in Deutschland zwischen 1945 und

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In welch hohem Maße die Vermittlung von Wissen von organisatorischen Rahmenbedingungen abhängig ist, verdeutlich der erste Beitrag dieses Bandes von MONIKA MATTES, der sich den bildungspolitischen Reformdiskussionen in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1950er Jahren widmet. Diese werden als diskursive Konstrukte analysiert, um zu zeigen, wie sich die Legitimation und Akzeptanz schulischer Reformmodelle im Zusammenspiel von Bildungspolitik, Wissen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zwischen den 1950er und 1970er Jahren vollzog. Die Verfasserin kombiniert dabei zwei unterschiedliche wissensgeschichtliche Zugänge zur Debatte über Ganztagsschulen und Gesamtschulen: Zum einen, wie wissenschaftliches Wissen darüber produziert wurde und zum anderen, in welchem politischen und gesellschaftlichen Rahmen die Debatte und damit auch das damit verbundene Wissen zirkulierte. Dabei beleuchtet sie ausführlich die jeweiligen Akteurskonstellationen und Wissensnetzwerke und fragt auch danach, welche Akteure nicht eingebunden waren und welche außerdeutschen Referenzhorizonte aufschienen. Mit der zum Schluss des Beitrags angeschnittenen Erweiterung der Debatte über Ganztagsschulen und Gesamtschulen um die „Kinder ausländischer Arbeitnehmer“, so der damalige Quellenbegriff, nimmt der Beitrag auch migrationshistorische Kontexte auf. SASCHA KRANNICH, STEFAN METZGER und ANNA KURPIEL fragen, wie Organisationen von Migrantinnen und Migranten die Zirkulation von Wissen auf einer transnationalen Ebene befördert haben. In ihrem Beitrag zeigen die Soziologen Krannich und Metzger am Beispiel vor allem mexikanischer Migrantinnen und Migranten in den USA und marokkanischer Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik, dass deren Organisationen eine wichtige Scharnierfunktion über nationale Grenzen hinaus haben. Basierend auf eigener Feldforscung verdeutlichen sie für drei Bereiche – schulische, universitäre und gesellschaftliche Bildung –, dass solche Organisationen weit mehr sind als Orte der Traditionspflege. Vielmehr sind sie auch wichtige zivilgesellschaftliche Bildungsakteure, indem sie sich mit bildungspolitischen Aktionen sowohl im Aufenthalts- als auch Herkunftsland engagieren und Vorstellungen von Integration befördern. Transnationalität und Integration stehen somit nicht im Widerspruch zueinander. Organisationen von Migrantinnen und Migranten können aber auch konkurrierende Agenden aufweisen und unterschiedliche Wissensbestände zur Aushandlung bringen. Dies zeigt die Ethnologin ANNA KURPIEL am Beispiel von Organisationen makedonischer Migrantinnen und Migranten, die nach dem 1990 (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 63). Hrsg. von Sabine Reh [u.a.]. Weinheim, Basel 2017. S. 34–69.

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Ende des griechischen Bürgerkriegs 1949 in die Volksrepublik Polen gekommen waren und deren Konstruktionen von Makedonien sich auf Regionen in Griechenland, Bulgarien und Jugoslawien bezogen. Die damit verbundenen divergenten Wissensbestände hingen in hohem Maße von den Machtverhältnissen im Kalten Krieg ab. Darüber hinaus vermittelt der Beitrag ein eindrückliches Bild von den prekären und fragilen Rahmenbedingungen einer Wissenszirkulation im politischen Exil. Dies ist von besonderem Interesse, da sich die Forschung bislang zumeist auf größere Gruppen von Migrantinnen und Migranten konzentriert hat. In diesem Fall hingegen erfuhren die makedonischen Akteure eine doppelte Marginalisierung, sowohl innerhalb der polnischen Gesellschaft als auch innerhalb der von griechischen Migrantinnen und Migranten dominierten Exil-Organisationen. Im abschließenden Beitrag dieses Abschnitts widmet sich STEFAN ESSELBORN dem International African Institute (IAI) in London als Raum globaler Wissenszirkulation. Die Prozesse der Dekolonisation führten dazu, dass sich Wissen über Afrika veränderte. Das Institut war dabei kein neutraler Beobachter, sondern ein zentraler Akteur der globalen Wissensproduktion über „Afrika“ und „Entwicklung“, der es schaffte, auch neue Akteure auf dem Feld einzubinden und sich im globalen Forschungsumfeld zu etablieren. Durch die Linse des IAI kann Esselborn nicht nur zeigen, wer als Experte für Afrika gelten konnte oder mit welchen Methoden und Disziplinen Afrika erforscht werden könnte, sondern er identifiziert auch drei Dynamiken, die das Afrikawissen nachhaltig prägten: Die „Europäisierung“ der Afrikaforschung wurde Mitte der 1950er Jahre durch die Area Studies und einem Aufstieg von US-Wissenschaftlern von einer „Amerikanisierung“ der globalen Wissensproduktion zu Afrika abgelöst, während die dritte Dynamik über weitere personelle Veränderungen zu einer „Afrikanisierung“ des Wissensfeldes führte. Auf diese Weise kann Esselborn zeigen, wie das IAI als Zentrum für kulturwissenschaftliche Afrikaforschung eine zentrale Infrastruktur für die Zirkulation von Afrikawissen bot und wie Veränderungen und Kontinuitäten im Afrikawissen von Akteuren des Wissens und genutzten Ressourcen abhingen.

Medien des Wissens Wissen ist immer auch an Materialität gebunden. Die Wissenschaftsgeschichte hat sich dementsprechend auch Dingen zugewandt, mit denen Wissen produ-

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ziert wurde,82 sowie den vielfältigen Medien, die Wissen speichern, transportieren und repräsentieren. Um die Materialität des Wissens zu fassen, ist Wissensgeschichte in vielen Fällen eng mit Mediengeschichte verbunden. Beispielhaft zu nennen sind hier Arbeiten zu Hand- und Schulbüchern, denen oft der Nimbus „objektiven“ Wissens anhängt.83 Dabei hat sich vor allem für Handbücher (Textbooks) ein neues Feld eröffnet, das explizit nach der Wissensproduktion im Kontext seiner Bedingungen fragt.84 Es zeigt sich, dass Lehrbücher nicht nur der Popularisierung von bestimmten Wissensbeständen dienen,85 sondern auch eine wichtige Rolle bei wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und der Stärkung der jeweiligen Autorenposition darstellten.86 Auch die Übertragung in eine andere Sprache verändert Wissensbestände und wirkt auf den Status der Autoren zurück.87 Überträgt man nun die These, dass Textbooks nicht einfach passive Repositorien für akzeptiertes Wissen darstellen, sondern einen aktiven Teil an der Aushandlung von wissenschaftlichem Wissen haben,88 auf Schulbücher, Lexika, Ratgeberliteratur oder Bildungsfilme, so werden alle Medien, die scheinbar objektives Wissen transportieren, zu aufschlussreichen Gegenständen der Wissensgeschichte. Migrations- und Verflechtungsprozesse veränderten die Praktiken der Wissensaushandlung im 20. Jahrhundert in vielen Bereichen und sorgten damit auch für eine Infragestellung bisheriger Wissensbestände. In diesem Abschnitt wird zum einen auf Medien wie Schulbücher, Unterrichtsmaterialien und Informationsfilme fokussiert, die in normativ-didaktischer Absicht Wissen vermitteln 82 Siehe z.B den gesamten Abschnitt Tools of Science. In: A Companion to the History of Science. Hrsg. von Bernard Lightman. Oxford 2016. S. 443–586. 83 Lässig, Wer definiert relevantes Wissen (wie Anm. 17), S. 200; vgl. auch die Blog-Serie Learning by the Book. Manuals and Handbooks in the History of Knowledge, mit Einleitungen von Kerstin von der Krone https://historyofknowledge.net/2017/06/12/learning-by-the-book-manuals-and-handbooks-in-the-history-of-knowledge/ (06.07.2018) und Mathias Grote https:// historyofknowledge.net/2018/05/02/manuals-and-handbooks/ (06.07.2018) 84 Für einen Überblick siehe Vicedo, Marga: Introduction. The Secret Live of Textbooks. In: Isis. A Journal of the History of Science Society 103 (2012). S. 83–87; Simon, Josep: Textbooks. In: A Companion to the History of Science. Hrsg. von Bernard Lightman. Oxford 2016. S. 400– 413. 85 Shapiro, Adam R.: Between Training and Popularization. Regulating Science Textbook in Secondary Education. In: Isis. A Journal of the History of Science Society 103 (2012). S. 99–110. 86 Gordin, Michael D.: The Textbook Case of Priority Dispute. D.I. Mendeleev, Lothar Meyer, and the Periodic System. In: Natur Engaged. Science in Practice from the Renaissance to the Present. Hrsg. von Jessica Riskin u. Mario Biagioli. New York 2012. S. 59–82. 87 Gordin, Michael D.: Translating Textbooks: Russian, German, and the Language of Chemistry. In: Isis. A Journal of the History of Science Society 103 (2012). S. 88–98. 88 So auch Vicedo, Marga: Playing the Game. Psychology Textbooks Speak out about Love. In: Isis. A Journal of the History of Science Society 103 (2012). S. 111–125.

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sollen, während zum anderen das Medium der Statistik abstrahierende und dadurch vermeintlich objektive Wissensbestände erst zu produzieren anstrebt. CORNELIA HAGEMANN untersucht von iranischen Migrantinnen und Migranten erstellte Lehrmaterialien daraufhin, welches Wissen diese ehrenamtlich engagierten Akteure an die außerhalb Irans aufwachsenden Generationen weitergeben möchten und welches Wissen über Geschichte, Kultur oder Geographie Irans sie als zentral erachten. Konkret geht sie anhand von drei in Europa (Deutschland und Schweden) herausgegebenen und somit transnational geformten Lehrbuchreihen der Frage nach, ob und wie sich Wissensbestände über Iran seit den 1990er Jahren bei den iranischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland verändert haben. Als Kontrastfolie hierzu dienen die Schulbuchreihe Fārsī der Pahlavi-Ära aus den 1960er und 1970er Jahren sowie die Schulbuchreihe Fārsī aus der heutigen Islamischen Republik. Auf diese Weise kann deutlich herausgearbeitet werden, welche Kontinuitäten und Brüche es in der Wissensvermittlung über Iran und seine Kultur gab. Der Beitrag von MAUREEN MAISHA AUMA greift aus der Perspektive der Diversity Studies die Frage auf, welches Wissen um Diversität in den Bildungsmaterialien der Bundesrepublik Deutschland und der DDR und somit in zwei einander konträr gegenüberstehenden gesellschaftlichen Zusammenhängen konstruiert wurde. Der Beitrag bietet damit einen neuen Blick auf das geläufige Narrativ, wonach sich die alte Bundesrepublik sukzessive zu einer von Diversität verschiedenster Art geprägten Gesellschaft entwickelt habe, während die Menschen im DDR-Alltag bis 1989 wenig Gelegenheit gehabt hätten, eigene Erfahrungen mit Diversität zu machen, da der Anteil an ausländischen Studierenden, Vertragsarbeitern, politischen Exilanten oder anderen Migrantinnen und Migranten in der DDR vergleichsweise gering war und soziale Unterschiede bewusst nivelliert wurden. In ihrer Analyse lässt Auma erkennen, dass historisch ein weiteres Spektrum an Repräsentationsformen von Ungleicheitsverhältnissen möglich war, und zieht daraus auch Schlüsse für die Darstellung von Diversität in heutigen Bildungsmedien. ANNE BRUCH wendet sich anschließend einem anderen Medium zu, das zu Bildungszwecken genutzt wurde: dem kolonialen Informationsfilm. Nach dem Zweiten Weltkrieg, im Kontext der indischen Unabhängigkeit und der beginnenden globalen Blockbildung, gerieten sowohl die Praktiken der Produktion als auch die Wissensinhalte dieser Filme in Bewegung. Den Blick richtet Bruch einerseits auf Informationsfilme für ein Publikum in Großbritannien und anderseits für ein Publikum in den britischen Kolonien. Gerade für diese zweite Gruppe ist bedeutsam, dass die jeweiligen Akteure über das Medium Film auch auf Nichtalphabetisierte eingewirken konnten. Filme aus beiden Gruppen sollten vor allem die Botschaft einer Partnerschaft und wirtschaftlichen Koope-

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ration in beiderseitigem Nutzen vermitteln, verfolgten aber unterschiedliche Strategien. So wurden in den Filmen für die Kolonien Wissensbestände ausschließlich durch lokale Vertreter dargestellt. Diese Veränderungen waren auch möglich, weil eine eigene African Film Unit geschaffen wurde. Zwar blieb der Produktionsprozess in britischer Hand, aber auf diese Weise wurden Personen aus den Kolonien zumindest in den Prozess eingebunden. Trotzdem – so die zentrale These – blieben die Filme für beide Zielgruppen weitgehend einem paternalistischen Ansatz verhaftet und die Wissensbestände und -ordnungen veränderten sich nur schrittweise. THOMAS KEMPER und LINDA SUPIK behandeln schließlich die Bedeutung von Statistiken als Wissenstechnologie am Beispiel der Schulstatistiken zu Migration. Leitend ist dabei die wissenssoziologische Annahme, dass statistisches Wissen in sozialen Kontexten entsteht. In ihrem Beitrag legen sie dar, dass migrationsbezogene Kategorien der Schulstatistik so lange wie gesellschaftlich noch wenig über Migration debatiert wurde, relativ stabil blieben. Erst seit den 2000er Jahren, als die gesellschaftlichen Debatten intensiver geführt wurden, kam es durch eine neue Klassifikationspraxis zu einer regelrechten Expansion statistischen Wissens über Migration. Die unterschiedlichen Praktiken einzelner Bundesländer weisen dabei darauf hin, dass Statistik auch das Resultat heterogener Vorstellungen verschiedener Akteure ist. Trotz dieser Aushandlungsprozesse bei den Kategorienbildungen, bei der bestehende Wissensordnungen in Frage gestellt wurden, ist nach dem Fazit von Kemper und Supik die migrationsbezogenene Schulstatistik immer noch weit davon entfernt, die inzwischen (post)migrantische Gegenwartsgesellschaft zu repräsentieren.

Akteurinnen und Akteure des Wissens Der dritte Teil des Sammelbandes stellt Akteurinnen und Akteure des Wissens bzw. das vielfältige Personal der Wissensarbeit89 in den Mittelpunkt. Während sich die Wissenschaftsgeschichte schon früh Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern oder Gelehrten als Produzenten von Wissen zugewandt hat, öffnet sich die Wissensgeschichte mit ihrem Erkenntnisineresse über diesen kleinen Kreis von Personen hinaus. Zwar wird Experten weiterhin ein wichtiger Raum zugesprochen, allerdings ergänzt um die Frage, wer wann und warum als Experte galt. Darüber hinaus sind weitere Akteurinnen und Akteure neu zu entdecken. In der Forschung zum Kolonialismus wurden die in der Nachschau oft unsicht89 Sarasin, Was ist Wissensgeschichte (wie Anm. 6), S. 169–170.

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baren Akteurinnen und Akteure u.a. als Intermediaries konzeptualisiert, beispielsweise Vertreter der lokalen Bevölkerung, die sich als cultural broker zwischen Kolonialmacht und lokaler Bevölkerung bewegten.90 Das Konzept der translokalen Wissensakteure wiederum verschiebt den Fokus von einem Dazwischen zu einer Lokalisierung im Feld, womit die Selbstverortung als auch die konkreten Umstände der Wissensproduktion stärker in den Blick fallen.91 Beide Konzepte verweisen darauf, dass Orte der Wissensproduktion bzw. Foren der Zirkulation eine hervorgehobene Rolle spielen und in diesem Sinne sowohl Produktion als auch Zirkulation jeweils als gemeinsamer Prozess zu verstehen sind, an dem teilweise sehr heterogene Akteurinnen und Akteure teilnehmen.92 Eine offene Frage bleibt in dieser Matrix die jeweils gegenseitige (Dis)qualifikation als Experte oder Laie, wobei Personen oder Personengruppen in bestimmten Kontexten ein Expertenstatus zugesprochen werden kann und sie gleichzeitig in anderen Kontexten als Laien gelten. Dies hat massive Auswirkungen auf das zu produzierende oder zu zirkulierende Wissen ebenso wie auf die jeweilige Arbeitsgrundlage, die ein Zusammenwirken teilweise extrem unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure erst möglich macht. Auf diese Weise wird die lange Zeit angenommene und fortgeschriebene Dichotomie zwischen Experten und Laien bzw. Expertenwissen und Laienwissen von der neuen Wissensgeschichte kritisch hinterfragt. Mit der Perspektive auf konkrete Aushandlungsprozesse geht es nicht mehr vorrangig darum, wie Wissenschaftler Wissen produzierten und es dann verbreiteten, vielmehr öffnet sich ein weites Feld an Fragen: Wie wird Wissen als hegemonial etabliert? Wie werden Rollenzuschreibungen stabilisiert? Im Blickpunkt des letzten Abschnittes stehen somit Spannung und Koexistenz zwischen unterschiedlichen Wissens-Akteuren und einer praktischen Nutzung von Wissensbeständen. Im ersten Beitrag dieses Abschnitts wendet sich LARS MÜLLER der zentralen Frage zu, wie verschiedene Akteure gemeinsam Wissen aushandelten. Die Praktiken der Entwicklungspolitik führten nicht nur zu einer massiven Zirkula-

90 Hierzu unter anderem Habermas, Rebekka: Intermediaries, Kaufleute, Missionare, Forscher und Diakonissen. Akteure und Akteurinnen im Wissenstransfer. In: Von Käfern, Märkten und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne. Hrsg. von Rebekka Habermas u. Alexandra Przyrembel. Göttingen 2013. S. 27–48. 91 Dorsch, Sebastian: Wissen produzieren, lokalisieren und imaginieren. Von ‚falschen Karten‘ und ‚wissenschaftlichen Expeditionen‘ in der Auseinandersetzung um Guyana (1880 bis 1990er Jahre). In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 40 (2017). S. 39–63. 92 Star, Susan Leigh u. Griesemer, James R.: Institutional Ecology, ‚Translation‘ and Boundary Objects. Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907–39. In: Social Studies of Science 19 (1989). S. 387–420.

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tion von Geld, Personen und Wissen im internationalen Maßstab, sie setzten auch nationale Wissensbestände über globale Ungleichheit nachhaltig in Bewegung. Die Schule und im besonderen Schulbücher wurden von verschiedenen Akteuren als zentrale Ansatzpunkte gesehen, gesellschaftlich hegemoniales Wissen zu verändern. Müller zeigt in seinem Beitrag einerseits, wie eine Vielzahl von Akteuren jeweils versuchte, Wissen über Entwicklung in der Schule zu verankern. Hierbei fokussiert er auf die Arbeit des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) und ehemaliger Entwicklungshelfer, die als Interessenvertretungen auftraten. Anderseits zeigt er mit einer exemplarischen Schulbuchanalyse, dass Schulbuchautoren Teil der Aushandlungsprozesse waren und nicht nur gesellschaftliches common-sense-Wissen nachvollzogen. So griffen einige Schulbuchautoren Wissen über Entwicklungspolitik nicht erst auf, als die gesellschaftliche Debatte anlief, sondern setzten sich auch aktiv für Entwicklungspolitik ein. Dagegen kann aber auch gezeigt werden, dass zunehmend eine Vogelperspektive in den Schulbüchern eingenommen wurde, d.h. Autoren die Wissensform der Statistiken und Graphiken bevorzugten, um globale Ungleichheit darzustellen, während das Erfahrungswissen der Entwicklungshelfer nur schwer Eingang in Schulbücher fand. MARIE HUBER fragt nach Akteurinnen und Akteuren der Aushandlung von Wissensbeständen anhand des Wissens über Äthiopien zwischen 1950 und 1980 in internationalen Netzwerken. Die Diskurse um das äthiopische Natur- und Kulturerbe wurden von einer Vielzahl heterogener Akteure getragen. Huber wirft die Frage nach Experten und Laien auf: Internationale Akteure waren maßgeblich an der Produktion und Verbreitung von Wissen über Äthiopien beteiligt und westliche Akteure dominierten das Feld, aber sie waren auf das Wissen vor Ort angewiesen. Auf diese Weise kann ein Netzwerk nachgezeichnet werden, in dem Diskurse um Natur- und Kulturerbe mit politischen, touristischen und wissenschaftlichen Interessen verbunden waren. Huber macht deutlich, dass Wissensproduktion keine reine Angelegenheit von Experten oder Wissenschaftlern ist, dass aber in diesem Fall äthiopische Akteure marginalisiert wurden, während Entwicklungshelfern und Hobby-Archäologen ein größerer Anteil an der Wissensproduktion zugesprochen wurde. Eine Brücke zwischen dem Wissen über Afrika und dem Wissen von Migrantinnen und Migranten schlägt der Beitrag von SEBASTIAN PAMPUCH zu afrikanischen Freedom Fighters im Exil in der DDR und zu dekolonialen Wissensbestände der deutschen Geschichte. Auch bei den afrikanischen Exilanten in der DDR handelt es sich um eine zahlenmäßig vergleichsweise kleine Migranten-community, aber durch sie können die oft vernachlässigten Verbindungen zwischen Nord und Süd und damit oft marginalisierte Wissensbestände der deutsch-deutschen Geschichte greifbar werden. Pampuch nutzt die Biographie

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von Mahoma Mwaungulu, um Erfahrungswissen und migrantisches Wissen in einer mehrfachen Migrationsbewegung zu analysieren. So kam der Sohn malawischer Ngonde 1960 über Ghana mit einem Stipendium nach Leipzig, wo er studierte; nach der Unabhängigkeit Malawis kehrte er nach Afrika zurück, um 1967 wieder in die DDR zu ziehen und 1983 politisches Asyl in der Bundesrepublik zu erhalten. Das Wissen von und über Mwaungulu steht somit sowohl für eine postkoloniale als auch postsozialistische Verflechtungsgeschichte und doppelt marginalisierte Wissensbestände. Ein Aushandlungsprozess zwischen etabliertem und migrationsbezogenem Wissen ist im Falle der jüdischen Aussiedlerinnen und Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion zu beobachten. In ihrem Bericht aus der pädagogischen Praxis beleuchtet ALEXA BRUM den Umgang mit den seit den frühen 1990er Jahren neu zugezogenen Kindern an der Isaak-Emil-Lichtigfeld-Schule als Schulgemeinschaft und Institution der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main. Im Zentrum des Beitrags steht mit der Schule ein konkreter Ort der Wissensvermittlung und Wissenszirkulation. Die sich wandelnden Wissensbestände und Praktiken der Vermittlung sind nur in Relation zu den jeweiligen Schülergenerationen zu verstehen. Im konkreten Fall wird die Frage diskutiert, welches soziale und kulturelle Wissen die neu zugezogenen Juden aus der Sowjetunion mitbrachten und welches Wissen im Zuge des Integrationsprozesses in Schule und Gemeinde neu geformt wurde. Die Besonderheit des jüdischen Falls liegt darin, dass sich die neu eintreffenden Migrantinnen und Migranten bewusst für die Bundesrepublik entschieden hatten und dadurch die bereits ansässigen Juden in eine ungewohntee Rolle brachten, nämlich Integrationshelfer und Wissensvermittler für ein Land zu sein, das ihnen bis vor kurzem selbst noch als ein Aufenthaltsort von unbestimmter Perspektive erschien. Auf diese zeithistorischen Rahmenbedingungen jüdischen Lebens in der Bundesrepublik Deutschland geht abschließend der Beitrag von MATTHIAS SPRINGBORN ausführlich ein. Er untersucht die während der 1960er Jahre vom Pädagogen Jacob Oppenheimer vorgenommene Befragung jüdischer Kinder und Jugendlicher zu ihrem jüdischem Wissen. Im ersten Teil des Beitrags wird die Oppenheimer-Studie in wissenschafts- und sozialgeschichtliche Entwicklungen eingebettet und Jacob Oppenheimer auch im Hinblick auf seine eigene Biographie als Wissensproduzent ausgeleuchtet. Im zweiten Teil werden die von Oppenheimer befragten Kinder als eigenständige Akteure bei der Aushandlung von Wissen vor dem Hintergrund vielfältiger Migrationserfahrungen reflektiert. Indem Springborn die vorhandenen Mikrodaten sekundäranalytisch auswertet, kommt er nicht nur zu neuen Erkenntnissen über die Wissens- und Vorstellungswelten jüdischer Kinder, sondern auch zu einer Kontextualisierung der

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Oppenheimer-Studie in der Hochphase der Demoskopie und Umfrageforschung in der frühen Bundesrepublik Deutschland. * Die in diesem Band versammelten Beiträge gehen im Kern zurück auf zwei Tagungen am Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig, die in den Jahren 2015 und 2016 stattfanden: zum einen der Workshop Akteure in der Wissensgeschichte. Produktion, Zirkulation und Transformation von Afrikawissen nach 1945 im Rahmen des DFG-Projekts Afrikawissen. Diskurse und Praktiken der Schulbuchproduktion und zum anderen die Tagung Wissen und Welten in Bewegung. Migration und Bildung in Deutschland seit 1945 im Rahmen der Leibniz-Wettbewerb-Gruppe Migration und Bildung in Deutschland seit 1945. Die konzeptionelle Weiterentwicklung dieses gemeinsamen Forschungsfeldes von Wissens-, Migrations- und Verflechtungsgeschichte wird seither auch durch die vielfältigen Aktivitäten des Deutschen Historischen Instituts Washington, D.C. vorangetrieben. Für die Unterstützung bei der Erstellung des Bandes in Gestalt von Lektorat und Recherchen danken die Herausgeberinnen und Herausgeber Angie Slotta, Katrin Bengs und Freya Buchheister herzlich.

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 Foren des Wissens

Monika Mattes

Schule zwischen Bildungs- und Gesellschaftspolitik Debatten um die Gesamtschule und die Ganztagsschule in der Bundesrepublik in den 1950er bis 1970er Jahren Die Frage, wie schulische Bildung und Erziehung in modernen Gesellschaften zu organisieren sind, wurde in der Geschichte des westdeutschen Schulwesens hauptsächlich entlang zweier Reformprojekte verhandelt – der Gesamtschule und der Ganztagsschule. Während die Gesamtschule und die ihr zugrundeliegende Idee einer gemeinsamen Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern in längeren Denktraditionen stand, welche seit dem 19. Jahrhundert die Aufhebung der Trennung von höherem und niederem Schulwesen und die Demokratisierung der Schule durch eine Einheitsschule anstrebten und 1920 mit der Einführung der Grundschule für alle einen Teilerfolg errangen,1 rekurrierte das Konzept der Tagesheimschule auf einen heterogenen reformpädagogischen Ideenfundus, in dem der Aspekt des Schullebens eine zentrale Rolle spielte.2 Nachdem im Westen Deutschlands nach 1945 grundlegende Strukturreformen ausgeblieben waren, formulierten beide Schulkonzepte während der Bildungsreform der 1960er Jahre Gegenentwürfe zum bestehenden dreigliedrigen und halbtägigen Sekundarschulwesen. Anders als in vielen westeuropäischen Ländern gelang es der Bundesrepublik bzw. den für Bildungspolitik zuständigen Ländern in den Reformjahren allerdings weder auf eine ganztägige Schule umzustellen, noch erwies sich die Gesamtschule als politisch mehrheitsfähiges Modell. Gesamtschule und Ganztagsschule sind gleichwohl nicht nur als gescheiterte schulpolitische Experimente zu lesen. Sie können vielmehr, wie in diesem Beitrag, als Strukturierungselemente schulpolitischer Diskurse dienen und als diskursive Konstrukte analysiert werden, um zu zeigen, wie sich die 1 Die lange ideengeschichtliche Linie reicht von ersten Ideen einer allgemeinen Nationalschule in Aufklärung und Französischer Revolution über entsprechende Konzepte des ersten deutschen Parlaments 1848/1849 bis zur erstmalig und faktisch nur als Grundschule eingerichteten Einheitsschule der Weimarer Republik. Vgl. Herrlitz, Hans-Georg [u.a.] (Hrsg.): Die Gesamtschule. Geschichte, internationale Vergleiche, pädagogische Konzepte und politische Perspektiven. Weinheim 2003.; Friedeburg, Ludwig von: Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt am Main 1989. 2 Ludwig, Harald: Entstehung und Entwicklung der modernen Ganztagsschule in Deutschland. Bd. 2. Köln 1993. https://doi.org/10.1515/9783110538076-002

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Legitimation und Akzeptanz schulischer Reformmodelle im Zusammenspiel von Bildungspolitik, Wissen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zwischen den 1950er und 1970er Jahren vollzog. Wer führte die Debatten um Gesamtschule und Ganztagsschule mit welcher Reichweite und Öffentlichkeitswirksamkeit? Welcher Begründungsmuster für die jeweilige Schulform bedienten sich die an der Debatte Teilnehmenden und auf welche Wissensbestände griffen sie dabei zurück? Um die diskursiven Stränge der Ganztagsschule und Gesamtschule genauer zu erkunden, wird im Folgenden von einem breiten Wissensbegriff ausgegangen, der wissenschaftsförmiges akademisches Wissen, medienvermitteltes populäres Schulwissen und professionelles pädagogisches Handlungs- und Erfahrungswissen gleichermaßen einbezieht.3 Als vorwissenschaftliche und vermeintlich natürliche Prämissen eingelagert in dieses Wissen sind kulturelle Ordnungs- und Wertvorstellungen über Familie und Geschlecht, die wie im Fall der Ganztagsschule der 1950er Jahre rezeptionsbestimmend sein konnten. Der Beitrag nimmt drei für die schulischen Reformdebatten der Bundesrepublik markante Zeitabschnitte in den Blick: Erstens wird für die ersten Tagesheimschulen der späten 1950er Jahre rekonstruiert, wie die gewerkschaftliche Diskussion über die Fünftagewoche diesen Schulversuchen eine pädagogische wie sozialpolitische Dringlichkeit verlieh, so dass sich im Bezugsrahmen des Kalten Krieges und bürgerlicher Familienvorstellungen auch die Reformakteure im Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen hierzu positionieren mussten. Im zweiten Teil wird herausgearbeitet, wie Ganztagsschule und Gesamtschule in den 1960er Jahren in den Reformkatalogen des Deutschen Bildungsrats, der Parteien und Verbände zunächst konkurrierten, bevor die Kontroverse um die Gesamtschule die Ganztagsschule Anfang der 1970er Jahre aus der Schuldebatte verdrängte. Drittens wird schließlich gezeigt, wie die Gesamtschule konstitutiv für die neu entstehende Schulforschung war, während die Ganztagsschule in der (fach-)öffentlichen Bildungsdebatte erst um 1980 als Lösungsinstrument für gesellschaftliche Problemlagen reaktiviert wurde.

Schuldebatten der späten 1950er Jahre Für die westdeutsche Schulgeschichte sind unter dem Begriff der Restauration lange die Kontinuitäten betont worden mit dem Hinweis, dass in den Nach-

3 Zum Wissensbegriff vgl. Sarasin, Philipp: Was ist Wissensgeschichte? In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011) 1. S. 159–172.

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kriegsjahren die alliierten Pläne zur schulischen Umstrukturierung in Richtung eines comprehensive systems am Widerstand der christdemokratischen Kultusminister und konservativ-bürgerlichen Interessenskoalitionen gescheitert und die Trennung zwischen einer gymnasialen Elitenbildung und einer breiten Elementarbildung aufrechterhalten worden seien.4 In der Tat schrieb das Düsseldorfer Abkommen von 1955 als Staatsvertrag zwischen den Ländern eine dreigliedrige Schulstruktur fest, die vermeintlich sachlogisch dem hierarchischen Beschäftigungssystem entsprach und den „praktisch Begabten“ die Volksschule, den „technisch Begabten“ die mittlere Schule und den „wissenschaftlich Begabten“ die höhere Schule zuwies.5 Allerdings waren nicht nur die die Dreigliedrigkeit stützenden erbbiologischen bzw. eugenischen Begabungstheorien bereits früh in wissenschaftlichen Diskursen umstritten.6 Auch zeigt sich in einer Perspektive auf die inneren Wandlungsprozesse von Schule ein weniger statisches Bild als dies der Restaurationsbegriff nahelegt.7 Bereits Mitte der 1950er Jahre begannen in Bundesländern wie Hessen, Berlin und Niedersachsen, häufig auf Initiative sozialdemokratischer Schulräte, Schulversuche, die auf eine bessere Begabungsförderung abzielten und begabte Volksschülerinnen und Volksschüler durch einen differenzierenden Kern- und Kursunterricht im 5. bis 7. Schuljahr auf einen Mittelschulabschluss vorbereiten sollten.8 Eine von der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung (HIPF) 1955 herausgegebene Bestandsaufnahme der Schulversuche aller Bundesländer sah ihren Auftrag in der Wissenssicherung, um im Sinne einer pädagogischen Tatsachenforschung „klar festzustellen, was tatsächlich an lebendiger, in die Zukunft wei-

4 Zentral war hierbei der von Walter Dirks und Eugen Kogon früh geprägte Begriff der Restauration, den die Bildungsreformer der 1960er Jahre zur Legitimation des eigenen Reformhandelns übernehmen sollten. 5 Vgl. von Friedeburg, Bildungsreform (wie Anm. 1). 6 Vgl. Drewek, Peter: Die Begabungsuntersuchungen Albert Huths und Karl Valentin Müllers nach 1945. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung des konservativen Begabungsbegriffs in der Nachkriegszeit. In: Zeitschrift für Pädagogik 35 (1989) 2. S. 197–217.; Generell Goschler, Constantin u. Till Kössler (Hrsg.): Vererbung oder Umwelt? Ungleichheit zwischen Biologie und Gesellschaft seit 1945. Göttingen 2016. 7 Vgl. allgemein Gass-Bolm, Torsten: Das Gymnasium 1945–1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland. Göttingen 2005. 8 Konservative Reformgegner warfen diesen Versuchen die „Nachahmung der Zonenschule“ bzw. der „kommunistischen Einheitsschule“ vor. Vgl. auch Geißler, Erich E. [u.a.]: Fördern und Auslesen. Eine Untersuchung an hessischen Schulen mit Förderstufe. Frankfurt am Main 1967; Geißler, Gert: Schulgeschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis in die Gegenwart. Frankfurt am Main 2011. S. 808f.

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sender Arbeit vorliegt“.9 Die auf Fragebögen und Schulbesuchen basierende Zusammenstellung knüpfte an reformpädagogische Denktraditionen und Erfahrungen im Umkreis des Bundes Entschiedener Schulreformer der Weimarer Republik an.10 Ein solches Erfahrungswissen sollten auch die ersten, größtenteils in westdeutschen Großstädten wie Frankfurt am Main, Kassel, Hamburg und West-Berlin entstanden Tagesheimschulen bereitstellen, für dessen Verbreitung sich die 1955 in Frankfurt am Main gegründete Gemeinnützige Gesellschaft Tagesheimschule (GGT) stark machte.11 In diesem Netzwerk liefen ganz unterschiedliche pädagogische Biografien und Wissensstränge zusammen, die sich neben den „Entschiedenen Schulreformern“ aus der Landerziehungsheimbewegung und weiteren reformpädagogischen Bezügen, aber auch durch Emigrationserfahrungen aus dem angloamerikanischen Schulwesen speisten und die Schule jenseits der reinen Unterrichtsschule als „jugendgemäße Lebensstätte und Lebensschule“ konzipierten.12 Viele GGT-Mitglieder verfügten als Schul- und Stadträte, Ministerialreferenten und Lehrer aller Schultypen über institutionelle Anbindungen, die sie zu wirksamen Multiplikatoren der Erfahrungen mit Tagesheimschulen machen sollten. Für die Schubkraft, mit der sich im letzten Drittel der 1950er Jahre die Debatte um die Tagesschule über das GGT-Netzwerk hinaus entfalten konnte, waren mehrere Faktoren verantwortlich. In einem Diskurs um die sogenannte Krise der Familie lenkte die dynamische Arbeitsmarkt- und Konsumentwicklung die öffentliche Aufmerksamkeit auf die zunehmende Erwerbstätigkeit von Müttern und deren „Schlüsselkinder“.13 Gleichzeitig hatte die Forderung des DGB nach Arbeitszeitverkürzung auch für das Schulwesen die Frage 9 Chiout, Herbert: Schulversuche in der Bundesrepublik Deutschland. Dortmund 1955. S. 14. Chiout gehörte zur temporären Einrichtung der „zeitweiligen wissenschaftlichen Mitarbeiter“ an der HIPF, die als abgeordnete Lehrerinnen und Lehrer in den 1950er Jahren zu einer erziehungswissenschaftlichen „Tatsachenforschung“ beitragen sollten. Vgl. Reh, Sabine: „Angewandte Erziehungswissenschaft“. Lehrkräfte als „Zeitweilige wissenschaftliche Mitarbeiter“ der HIPF in den 1950er Jahren. In: Wissen machen. Beiträge zu einer Geschichte erziehungswissenschaftlichen Wissens in Deutschland zwischen 1945 und 1990 (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 63). Hrsg. von Sabine Reh [u.a.]. Weinheim, Basel 2017. S. 164–186. 10 Chiout, Schulversuche (wie Anm. 9), S. 13f. 11 Die Gründungen von Tagesheimschulen konnten sich auf die Empfehlung des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen zur „Errichtung von Versuchsschulen“ berufen. Vgl. Ludwig, Entstehung (wie Anm. 2), S. 463. 12 Linde, Hans: Die Tagesschule. Tagesheimschule, Ganztagsschule, Offene Schule: Ein soziologischer Beitrag zur Diskussion einer aktuellen pädagogischen Forderung. Heidelberg 1963. S. 14. 13 Mattes, Monika: Das Projekt Ganztagsschule. Aufbrüche, Reformen und Krisen in der Bundesrepublik Deutschland (1955–1982). Köln u.a. 2015. S. 38ff.

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nach der Fünftagewoche aufgeworfen und ganztägige Schulen galten als eine mögliche Antwort, den Schulstoff mit Wegfall des Samstagunterrichts zu bewältigen. Darüber hinaus wurde die Ganztagsschule nach dem „Sputnik-Schock“ 1957 mit Blick auf sowjetische und ostdeutsche Pläne zur Tagesschule Bestandteil bildungsökonomischer Mobilisierungssemantiken, um sich angesichts der technischen Fortschrittlichkeit des östlichen Systemgegners „auch in der Zukunft behaupten und im ‚Kalten Krieg der Hörsäle‘ bestehen zu können“.14

Tagesheimschule und Moderne Die ersten ganztägigen Schulen mit Fünftagewoche lösten in der Fachöffentlichkeit der betroffenen Professionen eine erhitzte Debatte aus, die in pädagogischen, erziehungswissenschaftlichen und medizinischen Zeitschriften sowie in Organen von kirchlich-weltanschaulich ausgerichteten Lehrer- und Erzieherverbänden unterschiedlicher Schultypen sowie Elternverbänden ausgetragen wurde. Zwar ging es in den schulpädagogischen Zeitschriften vereinzelt auch um konkrete Schulen und deren pädagogischen Programme. Im Vordergrund standen jedoch, hochgradig normativ, die als „natürlich“ betrachteten kulturellen Ordnungen in Schule und Familie, die von einer zeitlichen Umstellung des Schultages berührt würden. Nur eine Minderheit von Pädagogen und einzelnen, meist sozialdemokratischen Schulräten begrüßte Ende der 1950er-Jahre die Ganztagsschule als eine moderne Schule für alle Kinder und wünschenswerte bildungspolitische Vision, die, so der Hamburger Schulsenator und Erziehungswissenschaftler Hans Wenke, der „Lebensordnung unserer Zeit“ entspräche. Befürworter wie Wenke verwiesen dabei auf die mangelnden Spielmöglichkeiten für Kinder infolge von Verstädterung und Autoverkehr, die wachsende Bedeutung von Freizeit und Konsum, den Wegfall der gemeinsamen Familienmahlzeiten, die große Zahl sogenannter „unvollständiger Familien“. Da der modernen Familie die Kraft fehle, um auf diese Veränderungen zu reagieren, müsse hier die Schule einspringen und ihr altes, auf Wissensvermittlung beschränktes Selbstverständnis aufgeben.15 Damit wurde zum einen an die alte reformpädagogische Idee von der Schule als „Lebensraum“ und „Heim“ angeknüpft. Zum anderen bezog man sich auf westliche Schulsysteme, die entweder wie England

14 Abel, Heinrich: Die Auswirkungen der Arbeitszeitverkürzung (40-Stunden-Woche) auf die Schule. In: Gegenwartskunde 6 (1957) 2. S. 49–56. hier S. 50f. 15 Wenke, Hans: „Die Ganztagsschule in der Lebensordnung unserer Zeit“. In: Theorie und Praxis der Tagesheimschule. Hrsg. von der Gemeinnützigen Gesellschaft Tagesheimschule. Frankfurt am Main 1958. S. 7–23.

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und Frankreich bereits Tagesschulen hatten oder wie Schweden beabsichtigen, diese im Zuge der Fünftagewoche einzuführen.16 Die Mehrheit der Debattenteilnehmer lehnte das moderne Konzept einer Ganztagsschule für alle Kinder indessen scharf ab. Katholische Kirchenvertreter, Pädagogen- und Elternverbände sahen darin einen unzulässigen Eingriff in das Erziehungsrecht der Eltern. Dieses Recht war bereits wenige Jahre zuvor im Kampf für die konfessionelle Bekenntnisschule ins Feld geführt worden und sollte auch bei der Frage der Förder- bzw. Orientierungsstufe wieder eine Rolle spielen. Mediziner warnten vor einer Überforderung der Kinder, und auch die hohen Kosten durch Nachmittagsbetreuung dienten häufig als Einwand gegen die Ganztagsschule.17 Wenn überhaupt, war diese allenfalls als sozialkompensatorische Tagesheimschule für eine kleine Gruppe sozial unterprivilegierter Kinder vorstellbar. Als Sozialwissenschaftler Ende der 1950er Jahre im Auftrag von Stadtverwaltungen begannen, statistische Erhebungen zum nachmittäglichen Betreuungsbedarf von Schulkindern in Großstädten durchzuführen,18 befürchteten Pädagogen durch Tagesheimschulen eine zusätzliche Belastung mit unterrichtsfernen Betreuungsaufgaben. So kritisierte etwa der Reformpädagoge Rolf Osang die Friedrich-Ebert-Schule in Frankfurt am Main, deren Tagesschulzweig über Schulbezirksgrenzen hinweg Schülerinnen und Schüler „versagender“ Elternhäuser anzöge. Dort eingesetzte Lehrer könnten ihrem Auftrag als „Volksbildner und Volkserzieher […] die Kultur- und Wissensgüter des Volkes der Jugend zu vermitteln […] und die heranwachsenden Menschen lebenstüchtig zu formen und zu bilden“ kaum mehr gerecht werden.19 In der Debatte über ganztägige Schulen waren wirkmächtige Diskurse des Kalten Krieges und Antikommunismus, aber auch der Technikkritik miteinander verwoben. Die besondere Vehemenz, mit der vor der familienzerstörenden Wirkung ganztägiger Schulformen gewarnt wurde, rührte aus der im Nationalsozialismus gemachten Erfahrung des Eindringens des Staates in die Privatsphäre, die sich nun im ostdeutschen Modell fortzusetzen schien. Auch im pädagogischen Diskurs der 1950er-Jahre bildete die DDR, die die Einbeziehung von Müttern in Erwerbsarbeit betrieb und mit der Einführung der Einheitsschule einen radikalen Bruch im Schul- und Erziehungswesen vollzogen hatte, 16 Vgl. die Argumentation bei Linde, Tagesschule (wie Anm. 12), S. 155. 17 Vgl. die Auszüge aus Beiträgen von Theodor Hellbrügge und anderer Mediziner bei:Beigler, Ludwig: Fünftagewoche auch im Schulwesen. Köln 1962; Ludwig, Entstehung (wie Anm. 2), insbesondere S. 462–476. 18 Vgl. die soziologische Studie von Hans Linde, der Abteilungsleiter an der Sozialforschungsstelle der Universität Münster in Dortmund war. Linde, Tagesschule (wie Anm. 12). 19 Osang, Rolf: Tagesheimschule und Ganztagsschule. In: Lebendige Schule. Monatsschrift für Erziehung und Unterricht 13 (1958) 3. S. 143–151. S. 148.

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einen negativen Gegenentwurf, von dem man sich scharf abgrenzte.20 Nicht nur für Pädagogen des höheren Schulwesens, sondern auch für die Zeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Nordrhein-Westfalen, Neue Deutsche Schule, stellte sich mit der Verlängerung des Schultages durch die Fünftagewoche „die furchtbare Frage […] – wollen wir eine Staatsjugend oder eine Kindheit haben? Wollen wir im Sommer Pionierlager oder Ferien haben? Wollen wir aus- und abgerichtete Schlafburschen oder Kinder haben?“21 Im Anschluss an antikommunistische Deutungsmuster lässt sich die heftige Ablehnung ganztägiger Schulformen aber auch als Selbstverständigung über einen unter Lehrern und bildungsorientierten Eltern vorherrschenden Wertehaushalt und dessen Bedrohung durch die „Moderne“ lesen. Aus dieser Perspektive standen mit der Ausdehnung des Schultages auf den Nachmittag zentrale bürgerliche Werte wie Freiheit, Individualität und Selbstverantwortung, aber auch tradierte Konzepte von Familie, Elternschaft und Kindheit auf dem Spiel. Kindern und ihren Familien, so befürchtete man, drohten Zwang, Gängelung und Konformismus, wenn das öffentliche Erziehungsangebot durch ganztägige Schulen ausgeweitet würde. Die Inanspruchnahme solcher Angebote würde die elterliche Verantwortungslosigkeit fördern und schade dadurch letztlich der gesamten Gesellschaft.22 Unabhängig ob sie in Elternverbänden, im Philologenverband oder in der GEW organisiert waren – hier verhandelten männliche Vertreter der gebildeten Mittelschichten ihre Leitbilder und Wertbezüge auf der Folie einer allgemeinen Modernitätskritik.23 Veränderte Zeitrhythmen im familiären Alltag durch Industrialisierung und Urbanisierung, durch Technisierung und Massenkonsum erzeugten offenbar ein Bedrohungsgefühl, das nur durch das dem bürgerlichen Familienmodell innewohnenden Harmonieversprechen heilbar schien. Gerade für männliche Pädagogen war die mit der Ganztagsschule verbundene Verlängerung des Arbeitstages in den Nachmittag hinein eine brisante Angelegenheit. Die Erfahrung von Vormittagsschule, gemeinsamer Mittagsmahl-

20 Hagemann, Karen: Between Ideology and Economy: The „Time Politics“ of Child Care and Public Education in the Two Germanys. In: Social Politics 13 (2006) 2. S. 217–260; Hagemann, Karen u. Monika Mattes: Ideologie und Ökonomie. Die Ganztagserziehung im deutsch-deutschen Vergleich. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (2002) 41. S. 12–22. 21 Die Fünftagewoche in der Schule. In: Neue Deutsche Schule 9 (1957) Nr. 5, S. 70f, hier S. 70. 22 Zum Problem der Ganztagsschule. In: Neue Deutsche Schule 9 (1957) 4. S. 56–58; vgl. auch Brigitte Pross, Was sagen die Eltern zur Tagesheimschule? in: Klinger, Karlheinz u. Georg Rutz: Die Tagesheimschule. Grundlagen und Erfahrungen. Frankfurt am Main 1964. S. 61–64, hier S. 63. 23 Vgl. für die pädagogischen Diskurse über höhere Bildung Gass-Bolm, Gymnasium (wie Anm. 7), S. 83–90 u. S. 170.

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zeit der Familie und anschließender Regenerationspause hatte deren bildungsbürgerlich-professionelles Selbstverständnis über einen langen Zeitraum geprägt. Folglich war das bürgerliche Familienmodell mit der nichterwerbstätigen Hausfrau und Mutter bei Lehrern Teil ihrer beruflichen Identität und mental tief verankert. Wie selbstverständlich das bildungsbürgerliche Zeitprivileg nicht nur bei Gymnasiallehrern, sondern gerade auch in Lehrergewerkschaften verbreitet war, zeigt die vehemente Leserreaktion auf einen Artikel in der Neuen Deutschen Schule, in dem Herbert Frommberger, Dortmunder Stadtrat und Ganztagsschulbefürworter, Anfang 1957 sorgfältig abwägend den Diskussionsstand zur schulischen Fünftagewoche wiedergab.24 Die Flut von Leserbriefen, die jegliche Ganztagsschulpläne erbittert ablehnten, mochte einerseits damit zusammenhängen, dass die Debatte zu einem Zeitpunkt einsetzte, als die starke körperliche und psychische Belastung von Lehrkräften durch riesige Klassen und fehlende Schulräume erst allmählich abnahm. Andererseits wurde darüber hinaus deutlich, dass der hochgradig idealisierte Familienbegriff offenbar auch von gewerkschaftlich organisierten Lehrern geteilt wurde. So sei die Schule „bei allem Bemühen nie so individuell eingerichtet wie eine Wohnung“ und folglich sei „es für die Kinder nicht gut, wenn sie unbedingt länger als notwendig in der Schule zubringen“.25 Schulische Erziehung könne nur ein unzureichender Ersatz für die durch mütterliche und väterliche Handlungskomponenten geprägte häusliche Erziehung sein: „Die Gerechtigkeit und gesunde Härte des Vaters und die Liebe und Güte der Mutter, wenn man es ein wenig vereinfachend sagen darf, beide sind zu einer ordentlichen Entwicklung des Kindes nötig.“26 Das Beispiel Tagesheimschule bestätigt die Beobachtung des Historiker Robert Moellers, wonach Familie zu einem Platzhalter für solche Werte wurde, die nach 1945 nicht mehr unproblematisch der Nation zugeordnet werden konnten.27

24 Frommberger, Herbert: Die Fünf-Tagewoche in der Schule. In: Neue Deutsche Schule 9 (1957) 2. S. 15–18; Seelbach, H.: Fünf-Tage-Woche und Ganztagsschule, in: Neue Deutsche Schule 9 (1957) 4. S. 54f. 25 Problem (wie Anm. 22), S. 56. 26 Problem (wie Anm. 22), S. 57. 27 Moeller, Robert: Unbenannt und allgegenwärtig. Die Familie in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung. In: Geschichte und Geschlechter. Revision der neueren deutschen Geschichte. Hrsg. von Karen Hagemann u. Jean H. Quataert. Frankfurt am Main 2008. S. 317– 346, hier S. 334.

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Deutscher Ausschuss und Ganztagsschule – eine Leerstelle Im April 1959 präsentierte der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen seinen Rahmenplan zur Umgestaltung des öffentlichen Schulwesens, in den wissenschaftliche Expertise unterschiedlicher disziplinärer Provenienz eingeflossen war.28 Dabei hatte man die sogenannte Begabtenauslese als eines der zentralen Probleme identifiziert und Vorschläge zur Steigerung höherer Schulabschlüsse erarbeitet. Da in einer zunehmend von der Wissenschaft beeinflussten Gesellschaft der Bedarf an Abiturientinnen und Abiturienten steigen würde, sollte der Aufstieg in das höhere Schulwesen unter anderem durch eine sogenannte Förderstufe und eine Studienschule erleichtert werden.29 Mit Blick auf die heftige Ablehnung einer ganztägigen Schule verwundert es kaum, dass dieses Thema randständig blieb. Prominenten Mitgliedern des Ausschusses schienen Veränderungen in der schulischen Zeitpolitik angesichts des ideologisch verminten Geländes als politisch wenig opportun. So betonte der Religionsphilosoph Georg Picht anlässlich des vom DGB initiierten Achten Europäischen Gesprächs zum Thema „Bildung und Erziehung in Europa im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Wandel unserer Zeit“ im Juni 1959, die „ideologischen Vorurteile“ gegenüber der Tagesheimschule seien seiner Meinung so stark, dass es in dieser Frage die nächsten 20 Jahre nicht gelänge, etwas zu bewegen. Picht sah in erster Linie „psychologische Hemmnisse“ auf Seiten der Eltern. Seiner pessimistischen Einschätzung zufolge müsste für die anstehenden Bildungsreformen nicht die Ganztagsschule, sondern die her-

28 Glaser, Edith: Pädagogik und Politik. Der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen und seine Empfehlungen als ein Beitrag zur Wissensgeschichte der Erziehungswissenschaft in der frühen Bundesrepublik. In: Wissen machen. Beiträge zu einer Geschichte erziehungswissenschaftlichen Wissens in Deutschland zwischen 1945 und 1990 (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 63). Hrsg. von Sabine Reh [u.a.]. Weinheim, Basel 2017. S. 88–107. 29 Die Förderstufe und die Studienschule stellten einen Kompromiss zwischen Gegnern und Befürwortern einer späteren Selektion von Schulkindern und einer stärkeren Durchlässigkeit des Schulsystems dar. Im Rahmenplan des Deutschen Ausschusses wurde vorgeschlagen, an die vierjährige Grundschule eine zweijährige Förderstufe, die später Orientierungsstufe genannt werden sollte, anzugliedern und somit die Selektion für das dreigliedrige Schulsystem um zwei Jahre nach hinten zu verschieben. Allerdings wurde eine Ausnahme vorgesehen: Das altsprachliche Gymnasium sollte weiterhin in Klasse 5 beginnen. Vgl. hierzu z.B. Hüfner, Klaus u. Jens Naumann: Konjunkturen der Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1: Der Aufschwung (1960–1967). Stuttgart 1977.

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kömmliche Unterrichtsschule, „wie wir sie bisher haben“, zugrunde gelegt werden.30 Auch für Hellmut Becker – Jurist und als Gründungsdirektor des 1963 neu errichteten Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung31 und 1966–1975 Mitglied des Deutschen Bildungsrats einer der politisch einflussreichsten protestantisch-pädagogischen Netzwerke der Bildungsreform der 1960er Jahre – waren es pragmatisch-taktische Gründe, die den Deutschen Ausschuss zur Zurückhaltung bei der Frage der Schulzeitgestaltung veranlassten. Seiner Einschätzung zufolge sei es auf jeden Fall zu vermeiden, zu den Protesten der Philologenverbände und Kirchen auch noch die Ablehnung der Familienverbände auf sich zu ziehen. Hinter einer solchen taktischen Haltung plädierte Becker selbst jedoch für das reformpädagogische Konzept einer sogenannten Lebensschule und begründete dies wie folgt: „Praktisch können wir die menschliche und gesellschaftliche Erziehungswirkung, die wir von der Schule erwarten, gar nicht erwarten, wenn wir sie auf den Unterricht beschränken.“ Nach seinem Verständnis war eine Ausdehnung der schulischen Zeit sogar unabdingbar, da sich die Pläne mit Förderstufe und Studienschule insbesondere in ländlichen Regionen „bei grundsätzlichem Festhalten an der Vormittagsschule nicht verwirklichen“ ließen.32 Als Picht und Becker ihre zurückhaltende Position gegenüber der Ganztagsschule formulierten, befand sich die westdeutsche Bildungsreform noch in ihrer Inkubationsphase. Wie rasch sich mit dem gesamtgesellschaftlichen Normenund Wertewandel auch die Auffassungen über Schule, Familie und Erziehung in der Bundesrepublik veränderten, zeigt die große Einmütigkeit, mit der die Ganztagsschule Mitte der 1960er Jahre als Antwort auf die „Bildungskatastrophe“ (Picht) zu einem zentralen Topos im bildungspolitischen Reformprogramm geformt wurde.

30 Küppers, Heinz (Hrsg.): Bildung und Erziehung in Europa im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Wandel unserer Zeit. Achtes Europäisches Gespräch in der Engelsburg Recklinghausen. Köln 1960 (Europäisches Gespräch). S. 134f. 31 Auf Initiative Hellmut Beckers wurde 1963 das Institut für Bildungsforschung in der MaxPlanck-Gesellschaft gegründet. Das Forschungsinteresse an Becker bezieht sich derzeit auf seine Protektion gegenüber dem pädokriminellen Schulleiter der Odenwaldschule Gerold Becker. Vgl. Brachmann, Jens: Reformpädagogik zwischen Re-Education, Bildungsexpansion und Missbrauchsskandal. Bad Heilbrunn 2015; Oelkers, Jürgen: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. 34. akt. u. erw. Aufl. Weinheim 2005. 32 Küppers, Bildung (wie Anm. 30), S. 134f., S. 118.

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Ganztagsschule und Gesamtschule als konkurrierende Schulreformen Seit Anfang der 1960er Jahre stützten sich die Diskussionen um die Defizite des westdeutschen Bildungssystems zunehmend auf sozialwissenschaftliche Bestandsaufnahmen über dessen geringe soziale Durchlässigkeit und Leistungskraft und rekurrierten auf neue Paradigmata wie Heinrich Roths dynamischen Begabungsbegriff oder auf neue technik- und psychologiegestützte Ansätze in der Didaktik. Wenn Schule nun als Ort für die individuelle Chancenvergabe einerseits und für die Herstellung und Anwendung neuen erziehungswissenschaftlichen Wissens andererseits diskutiert wurde, veränderten sich im semantischen Fahrwasser westlicher Wertbezüge und der Verwissenschaftlichung pädagogischen Wissens auch die Begründungsmuster für die Tagesheimschule. Dem Ganztagsschulverband GGT gelang es, gefördert durch den Generationswechsel unter seinen Mitgliedern, eine entsprechend neu profilierte Ganztagsschule in der einsetzenden Bildungsreformdebatte zu verankern.33 Zum Kristallisationskern der Schulreformbestrebungen wurde indessen die Gesamtschule.

Westliche Referenzhorizonte War die ganztägige Schule in der Debatte um die Fünftagewoche zunächst noch in einem reformpädagogisch-geisteswissenschaftlichen Diskussionskontext als Schutzwall gegen die westliche Konsumkultur konzipiert, so wurde ihre genuine Legitimation nun aus der Öffnung gegenüber dem westlichen Wertesystem abgeleitet.34 Diese „Westernisierung“ lässt sich zusammen mit einer partiellen „Versozialwissenschaftlichung“35 nicht nur für die schulpädagogische Zeitschriftenpublizistik, sondern auch für zeitgenössische Forschungsarbeiten nachweisen. Georg Rutz, Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) und Ganztagsschulexperte für den Bildungsrat, stellte 1963/1964 durch Umfragen mit Lernenden, Eltern und Lehrkräften an 33 Vgl. Mattes, Projekt (wie Anm. 13), S. 66ff. 34 Wolfgang Hilligen, Familienerziehung und Tagesheimschule in ihren Wechselbeziehungen. In: Klinger, Karlheinz u. Georg Rutz: Die Tagesheimschule. Grundlagen und Erfahrungen. Frankfurt am Main 1964, S. 56–60, hier S. 59. 35 Vgl. allgemein Rudloff, Wilfried: Bildungsplanung in den Jahren des Bildungsbooms. In: Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik. Hrsg. von Matthias Frese, Julia Paulus und Karl Teppe. Paderborn 2003. S. 259–282. S. 268.

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vier Tagesheimschulen eine eigene empirische Datenbasis zusammen, um seine pädagogischen Auffassungen zu untermauern.36 Für Rutz sollte Schule zeitorganisatorisch so umgestaltet werden, dass sie „anteilnehmende, bewusste Staatsbürger“ hervorbringe – anstelle von „Untertanen“, die gegenüber dem öffentlichen Leben gleichgültig seien.37 Mit dem Referenzrahmen Demokratieerziehung bezog er sich wie andere jüngere Erziehungswissenschaftler auf den amerikanischen Strukturfunktionalisten Talcott Parson, der den Erfolg der Nationalsozialisten auf die undemokratischen Einstellungen der preußisch-deutschen Herrschaftseliten zurückgeführt hatte. In diesem Kontext spielten für die normative Verortung der Ganztagsschule auch die soziologischen Denkansätze Ralf Dahrendorfs eine Rolle, der unterschied zwischen den privaten Tugenden „Liebe, Opferbereitschaft, Hingabe, Innerlichkeit, Wahrhaftigkeit, Ehrfurcht, Treue“ einerseits und den sogenannten öffentlichen Tugenden wie „Fairness, Toleranz, Selbstbewusstsein, Hilfsbereitschaft, Dank, Friedwilligkeit, Gerechtigkeit“ andererseits, deren Einübung von der Kleinfamilie mangels eigener Möglichkeiten an gesellschaftliche Institutionen wie die Schule zu delegieren seien.38 Da diese demokratischen Verkehrsformen nicht „gelehrt“ werden könnten, sondern „gelebt“ werden müssten und die Halbtagsschule in ihrer bisherigen Form hierfür keinen Rahmen bieten würde, brauche es einen neuen sozialen Raum Schule.39 Der Pädagoge und SPD-Schulpolitiker Joachim Lohmann40 sah in der angelsächsischen Schule mit Einrichtungen wie Schülerbibliothek, Schulessen und Arbeitsgemeinschaften für „extracurricular acitivities“ Elemente für „ein Schulleben, das zu freiem Verhalten erzieht und die öffentlichen Tugenden herausfordert“.41 Deutsche Schulen pflegten seiner Meinung nach die „Sachintelligenz“, würden aber die „soziale Intelligenz“ nicht genügend fördern.42 Wenn 36 Rutz, Georg: Untersuchungen zur Ganztagsschule. Schwalbach 1968. 37 Georg Rutz, Die Tagesheimschule – Voraussetzung der Schulreform?. In: Tagungsbericht: Die Tagesheimschule. Wege und Möglichkeiten. Informationstagung am 5. und 6. März 1965 in Dortmund, Schulverwaltungsamt Dortmund, Dortmund 1964, S. 21–46. 38 Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Freiheit: zur soziologischen Analyse der Gegenwart. München 1965. S. 284ff. 39 Rutz, Die Tagesheimschule – Voraussetzung der Schulreform? (wie Anm. 37), S. 30. 40 Nach seiner Promotion 1964 war Lohmann wissenschaftlicher Assistent an der Universität Würzburg, 1966–1969 Gesamtschulreferent am Pädagogischen Zentrum Berlin, 1969–70 Planungsreferent beim Berliner Senator für Schulwesen, 1970–79 Stadtschulrat in Kiel. 41 Lohmann, Joachim: Die Ganztagsschule. Aufgaben und Möglichkeiten. Weinheim und Berlin 1966, S. 37f., S. 41. 42 Lohmann bezieht sich hier auf die Charakterisierung der amerikanischen Schule bei Heinrich Roth. Lohmann, Joachim: Das Problem der Ganztagsschule: Eine historisch-vergleichende und systematische Untersuchung. Ratingen 1964. S. 159f.

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die Grenze zwischen familiärem und staatlichem Erziehungsraum in den 1960er-Jahren neu gezogen wurde und eine Gewichtsverschiebung zugunsten des intervenierenden Staates akzeptabler erschien, geschah dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer auch auf social engineering43 gerichteten Bildungsreformpolitik, mit der der Staat Chancengleichheit durch Schaffung geeigneter Lernumgebungen für sozial benachteiligte Kinder herzustellen hatte.44 Indem versucht wurde, die Ganztagsschule an moderne westliche sozialund politikwissenschaftliche Wissensbestände anzuschließen, gelang es ihren Befürwortern, diese Schulform auf die parteipolitischen Reformagenden zu setzen. Die SPD hatte die Ganztagsschule bereits 1964 in ihr Programm aufgenommen,45 aber auch im konservativen Lager ließ sich ein partieller Politikwechsel ausmachen, wenn christdemokratische Kultusminister wie Paul Mikat in Nordrhein-Westfalen und Wilhelm Hahn in Baden-Württemberg Ganztagsschulversuche in ihren Ländern zunächst entschieden unterstützten.46 Selbst der Philologenverband, der ganztägige Schulformen zuvor noch unmissverständlich abgelehnt hatte, sah Mitte der 1960er-Jahre in deren Einrichtung „eine gezielte pädagogische Maßnahme zur Begabungsförderung“.47 Beide Kirchen hatten in ihrer Eigenschaft als Schulträger eigene Tagesheimschulversuche gestartet.48 Die Tatsache, dass sich innerhalb kürzester Zeit offenbar alle politischen Lager auf die Formel einigen konnten, es handle sich bei der Ganztagsschule um die „Schule der Zukunft“ in der modernen Industriegesellschaft, zeigt nicht nur die Modernisierung des westdeutschen Konservatismus. Vielmehr wurde dieser Schultyp für viele Christdemokraten zu einer Art temporärem Kompromissmodell, weil sie die von der SPD angestrebte viel umfassendere Strukturreform durch die Gesamtschule ablehnten.

43 Allgemein zum Begriff: Etzemüller, Thomas (Hrsg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009. 44 Vgl. den Überblick von Fuchs, Hans-Werner: Staatliche Eingriffe in den Zusammenhang von Bildungssystem, Familie und Gesellschaft in der Phase der Bildungsreform (1960/1970er Jahre) und ihre Wirkung. In: Zeitschrift für Pädagogik 52 (2006) 5. S. 671–681. 45 So forderten die bildungspolitischen Leitsätze des SPD-Parteivorstandes im Juli 1964 die Errichtung weiterer Tagesheimschulen für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern. Auch in dem bildungspolitischen Sofortprogramm der SPD vom 11. September 1964 wurde diese Forderung vertreten. Vgl. Lohmann, Ganztagsschule (wie Anm. 41), S. 53f. 46 Vgl. Mattes, Projekt (wie Anm. 13). 47 Deutscher Philologenverband, Bildung und Schule – Ein Beitrag des Deutschen Philologenverbandes zur bildungspolitischen Diskussion, Düsseldorf 1965, S. 25, zit. nach Ludwig, Entstehung und Entwicklung, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 522. 48 Lohmann, Ganztagsschule, (wie Anm. 41) S. 55.

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Das Reformprojekt Gesamtschule Ungleich mehr als die Ganztagsschule repräsentierte die Gesamtschule das Bestreben, das westdeutsche Schulwesen zu reformieren und zu verwissenschaftlichen. Mit dem Hamburger Abkommen von 1964 waren erstmals Schulversuche möglich geworden, die über die dreigliedrige Schulstruktur hinausgingen und unter dem Begriff Gesamtschule – den der Berliner SPD-Schulsenator CarlHeinz Evers in Abgrenzung zum politisch belasteten Terminus Einheitsschule geprägt hatte – firmierten. Für die SPD war die Gesamtschule das zentrale Reformprojekt, um das unzeitgemäße dreigliedrige Schulsystem, welches den „Bedürfnissen einer ständischen Gesellschaft unter einem autoritär-hierarchischen und klerikalen Herrschaftssystem“ entspräche, zu überwinden.49 Eine Bestandsaufnahme aller von den Länderregierungen initiierten Schulversuche von 1966 zeigt, dass die meisten darauf ausgerichtet waren, die bisherige Trennung in separate Schularten zu überwinden und Förderstufen und ähnliche Modelle mit einer in der Schullaufbahn später angesiedelten Leistungsselektion zu erproben.50 Die Idee von einer sowohl egalitären wie leistungsdifferenzierten Schule für alle entfaltete ab Mitte der 1960er-Jahre insbesondere unter jüngeren Lehrern und Erziehungswissenschaftlern eine besondere Sogwirkung.51 Ausgehend von den Reformzentren West-Berlin, Hamburg und Hessen griff die Gesamtschulbewegung rasch auf die Reformpläne der anderen SPD-regierten Länder wie Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen über und selbst CDU-Länder wie Baden-Württemberg experimentierten vorübergehend mit Gesamtschulen als Versuchsschulen.52 Die Strahlkraft, die von der Gesamtschule ausging, rührte mithin daher, dass dieses Reformprojekt neben dem Demokratisierungsanliegen neues Wis49 Beitrag der SPD zu aktuellen Problemen der deutschen Politik In: Vorstand der SPD, Programme und Entschließungen zur Bildungspolitik 1964–1975, S. 135; Angenommene Anträge. Kongreß der Lehrer und Erzieher, Nürnberg 1968. In: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 20 (1968) 7. S. 10–12. S. 10. 50 Führ, Christoph: Schulversuche 1965/66. Teil I: Gesamtdarstellung. Weinheim 1967. S. 11– 98. 51 Bei den frühen hessischen Gesamtschulen handelte es sich um additive Gesamtschulen, wo Lernende zwar unter einem Dach, aber in getrennten Haupt-, Realschul- und Gymnasialklassen unterrichtet werden; erst seit 1969/70 schwenkte das Kultusministerium von Friedeburgs auf integrierte Gesamtschulen um. Hingegen setzten Berlin und Hamburg von Anfang an auf die integrierte Variante. 52 Vgl. z.B. Gudjons, Herbert u. Andreas Köpke (Hrsg.): 25 Jahre Gesamtschule in der Bundesrepublik Deutschland. Eine bildungspolitische Bilanz. Bad Heilbrunn 1996; Frommberger, Herbert [u.a.] (Hrsg.): Pädagogisches Planspiel Gesamtschule. Berichte, Analysen und Empfehlungen zur Errichtung von Gesamtschulen. 3. Aufl. Braunschweig 1970.

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sens über Schule hervorbrachte: Dies betraf etwa die effektivere Unterrichtsgestaltung auf einer verhaltenstheoretischen Basis durch konkretisierte Lehr- und Lernziele und Leistungsmessung oder auch die verstärkte Ausrichtung der Lehrpläne auf die moderne industrielle Lebenswelt im Rahmen einer breiten Curriculum-Diskussion.53 Orte der Wissensproduktion über die Gesamtschule waren seit Mitte der 1960er Jahre die Universitäten,54 aber auch die mit diesem Reformprojekt eng verknüpften außeruniversitären Forschungseinrichtungen wie das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und das stärker praxisorientierte Pädagogischen Zentrum in Berlin. Karrieretechnisch war die Gesamtschule für Wissenschaftler und pädagogische Praktiker ungleich lohnender als die Ganztagsschule. Im Wechselverhältnis von beständig wachsender Nachfrage nach wissenschaftlich begründeter Expertise bzw. bildungspolitischem Planungswissen und der sich ausweitenden Infrastruktur der Bildungsforschung entstanden Forschungsprojekte zur Gesamtschule, mit denen vergleichsweise üppige finanzielle Mittel und Stellen verbunden waren.55 Diskussionsplattformen boten die Tagungen und Publikationen des 1969 neu gegründeten Verbandes Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule e.V., kurz GGG, und seiner Landesverbände.56 Der Ganztagsschulverband GGT war bereits Ende 1966 auf die Linie der Gesamtschulbefürworter eingeschwenkt und hatte für eine Ehe von Tagesheimschule und Gesamtschule plädiert.57 Für den GGT-Verbandsvorsitzenden und Dortmunder Schulrat Herbert Frommberger galt die Gesamtschule als die beste Form, die Ganztagsschule zu realisieren. Frommberger, der zwischen 1967 und 1969 Mitglied des Bildungsrates war, wurde der erste Geschäftsführer der GGG. In diesem Zusammenhang war er zudem Mitherausgeber des neuen Fachorgans Gesamtschule. Zeitschrift für die Sekun53 Fend, Helmut: Gesamtschule im Vergleich. Bilanz der Ergebnisse des Gesamtschulversuchs. Weinheim, Basel 1982. S. 37f. 54 Bereits 1964 erteilte z.B. das Hessische Kultusministerium Wissenschaftlern des Pädagogischen Seminars der Frankfurter Goethe-Universität den Auftrag, Auswirkungen der Förderstufe an sechs hessischen Gesamtschulen zu untersuchen. Vgl. Geißler, Fördern und Auslesen (wie Anm. 8). 55 Fend, Helmut: Bildungsforschung von 1965 bis 2008. Eine biografisch geprägte Geschichtsschreibung. In: Erziehungswissenschaft auf dem Prüfstand. Schulbezogene Forschung und Theoriebildung von 1970 bis heute. Hrsg. von Klaus-Jürgen Tillmann u. Beate Wischer. Weinheim 2009. S. 15–33. S. 22f.; Tillmann, Erziehungswissenschaften und Schulreform, S. 51–68, bes. S. 54f. 56 Frommberger, Herbert [u.a.] (Hrsg.): Gesamtschule. Wege zur Verwirklichung. Braunschweig 1969. 57 Frommberger gehörte mit Joachim Lohmann zu einer Gruppe engagierter Ganztagsschulaktivisten, die Ende der 1960er-Jahre in das Gesamtschullager überwechselte. Vgl. Hesse, Edgar: Gesamtschule und Tagesheimschule. In: Neue Deutsche Schule 19 (1967) 2. S. 37–39.

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darstufe, die, wie die enorm ansteigende Gesamtschulliteratur insgesamt, zur Popularisierung des neuen, vor allem in Schulversuchen gewonnenen akademischen und professionellen Wissens beitrug.

Gesamtschule, Ganztagsschule und der Deutsche Bildungsrat Im Deutschen Bildungsrat, welcher 1965 dem Deutschen Ausschuss als Beratungsgremium für eine langfristige Bildungsplanung nachfolgte, war die Frage nach der Zeitpolitik von Schule nur ein Nebenaspekt der mit der Gesamtschule avisierten Großreform. Die unter seiner Ägide veröffentlichten Empfehlungen, Gutachten und Studien zeigen, dass das Hauptinteresse dem mit der Gesamtschule assoziierten Themenkreis um Leistungsdifferenzierung, Lernziele und Curriculum galt.58 Der Ganztagsschule schrieb man bei der Durchsetzung der Gesamtschule vor allem eine taktische Funktion zu, um, wie ein Sitzungsprotokoll des von Hellmut Becker geleiteten Unterausschusses Experimentalprogramm im Bildungsrat im Februar 1967 vermerkt, „angesichts der in Deutschland verhärteten Vorstellungen eine Bresche für neue Schulformen [zu] schlagen“.59 Das öffentlich kaum noch kontroverse Projekt Ganztagsschule sollte in der Gesellschaft ein Klima der Akzeptanz auch für weitergehende Schulreformen erzeugen.60 Im Februar 1968 veröffentlichte die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates schließlich eine Empfehlung zur Einrichtung von Schulversuchen mit Ganztagsschulen im Rahmen eines Experimentalprogramms.61 Wesentlich umfangreicher fiel die entsprechende Empfehlung zur „Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen“ aus, die im Januar 1969 verabschiedet wurde.62 Zwar hieß es hier, dass die Gesamtschulen „ihre Aufgabe nur dann erfüllen können, wenn sie als Ganztagsschulen eingerichtet wer58 Vgl. die zahlreichen im Verlag Ernst Klett erschienenen Bände aus den Schriftenreihen „Empfehlungen“ und „Gutachten und Studien“ der Bildungskommission im Deutschen Bildungsrat. 59 Bundesarchiv Koblenz (BArch Koblenz), B 251/331, Protokoll der 3. Sitzung des Unterausschusses Experimentalprogramm im Strukturausschuss der Bildungskommission am 10./ 11.2.1967 in Berlin. 60 Ebd. 61 Einrichtung von Schulversuchen mit Ganztagsschulen, verabschiedet auf der 13. Sitzung der Bildungskommission am 23./24. Februar 1968. In: Deutscher Bildungsrat, Empfehlungen der Bildungskommission: Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen, Anhang I, Berlin 1969, S. 159–181. 62 Deutscher Bildungsrat, Empfehlungen der Bildungskommission: Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen, verabschiedet auf der 19. Sitzung der Bildungskommission am 30./ 31. Januar 1969, S. 15–157.

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den“.63 Tatsächlich geriet die Frage der schulischen Zeitorganisation gegenüber dem Strukturaspekt jedoch vollkommen in den Hintergrund. In der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung, die über den Bildungsgesamtplan beriet, kursierten zunächst noch ehrgeizige Pläne für ein schulisches Ganztagsangebot.64 Diese wurden obsolet, als mit dem Konjunktureinbruch infolge der ersten Ölkrise reformerische Großplanungen mit erhöhtem Sach- und Personalmittelbedarf grundsätzlich unter Finanzierungsvorbehalt standen.65 Zur Dämpfung des politischen Reformwillens trug zudem die Verhärtung der bildungspolitischen Fronten zwischen CDU/CSU und SPD in Sachen Gesamtschule bei; der kurze parteienübergreifenden Reformkonsens war bereits 1969/1970 erodiert, als SPD-regierte Länder wie Hessen und Berlin die Gesamtschule als Regelschule einführten. Für die im Bund und in sechs Ländern regierende SPD war die Gesamtschule die beste Organisationsform, um ihre Reformziele wie Chancengleichheit, wissenschaftlich orientierte Grundbildung für alle sowie individualisiertes Lernen durchzusetzen. CDU/CSU vertraten hingegen die Ansicht, die Unterschiede in den Lernvoraussetzungen von Kindern machten auch eine äußere Differenzierung erforderlich. Die fünf unionsregierten Länder waren daher nicht bereit, das dreigliedrige Schulsystem aufzugeben und blockierten den Bildungsgesamtplan schließlich 1973 durch ein Sondervotum gegen die Gesamtschule.66

63 Carl-Ludwig Furck, Das Schulsystem. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 6, 1: 1945 bis zur Gegenwart. Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. von Christoph Führ und CarlLudwig Furck. München 1998, S. 282–356, hier S. 331. 64 So sollte der Anteil von Ganztagsschülern im Primär- und Sekundarbereich bis 1975 aus dem Stand heraus auf 10 Prozent, bis 1980 auf 30 Prozent und bis 1985 gar auf 60 Prozent erhöht werden. Als Planungsalternative wurde eine Variante II mit 5 Prozent 1975, 15 Prozent 1980 und 30 Prozent 1985 formuliert. Bereits ab dem zweiten Entwurf wurden die Planzahlen nach unten korrigiert, bis man sie schließlich in dem verabschiedeten Bildungsgesamtplan im Juni 1973 halbiert hatte. Entsprechend sollte nun in der Planungsalternative I der Anteil von Ganztagsschülerinnen und -schülern an Vollzeitschülerinnen und -schülern im Primär- und Sekundarbereich 1975 sukzessive auf 5 Prozent, 1980 auf 15 Prozent und 1985 auf 30 Prozent erhöht werden. Alternative II sah entsprechend eine flachere Ausbaukurve vor mit 1975 2 Prozent, 1980 5 Prozent und 1985 15 Prozent. BArch Koblenz, B 136/9115, BLK, Ergebnisse der Sondersitzungen und der 7. Sitzung vom 12.7.1971. BArch Koblenz, B 136/9111, Vermerk vom 11. Dezember 1970 betr. Sitzung der BLK vom 14.12.1970; ebd., Erster Entwurf für den Bildungsgesamtplan und ein Bildungsbudget vom 22. Januar 1971, S. 42. 65 Vgl. Hartmut Heck, Der Entwicklungsstand der Ganztagsschule und ihr Stellenwert in der Bundesrepublik Deutschland. In: Die Ganztagsschule 20 (1980), Nr. 4, S. 69–80, hier S. 73. Zum Rahmen vgl. Doering-Manteuffel, Anselm u. Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2008. 66 Gass-Bolm, Gymnasium (wie Anm. 7), S. 284f.

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Schuldiskurse 1974–1980 Zu einem diskursiven Katalysator, der die parteipolitische Polarisierung in der Gesamtschulfrage vertiefte, wurde der Erlass der Hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre und Deutsch 1972–1973. Die neuen stufenbezogenen Lehrpläne für die Gesamtschule gründeten etwa beim Fach Deutsch auf Forschungen über die Schichtabhängigkeit von Sprache und über die Normativität der Hochsprache und stellten so den alten curricularen Wissens- und Wertekanon in Frage. Von der Studentenbewegung und Neuen Linken beeinflusst, entwarfen sie Schule als Sozialisationsort, an dem Gesellschaftskritik, Selbstund Mitbestimmung eingeübt und herkömmliche schulische Ordnungs- und Autoritätsverhältnisse hinterfragt werden sollten. Auf der Gegenseite machten konservative Intellektuelle, CDU, Katholische Kirche, der Philologenverband und der sich neu formierende, eher eine bürgerliche Klientel vertretende Hessische Elternverein öffentlichkeitswirksam gegen die Rahmenrichtlinien mobil und erreichten schließlich deren Zurücknahme.67 Nicht nur Hessen, auch andere SPD-Landesregierungen hofften nun darauf, der durch den erbitterten Schulstreit hervorgerufenen Verunsicherung unter Eltern wie Lehrkräften mit neuem wissenschaftlich erzeugten Wissen begegnen zu können und vergaben Forschungsaufträge an die sich institutionalisierende empirische Schulforschung.

Schulforschung Ursprünglich hatte der Bildungsrat nicht nur für Gesamtschulen, sondern auch für Ganztagsschulen ein wissenschaftlich begleitetes Experimentalprogramm mit über 40 Versuchsschulen aller Schulformen in Stadt, Land und möglichst in allen Bundesländern vorgesehen.68 Tatsächlich blieb die Ganztagsschule in der empirischen Schulforschung stark marginalisiert: Weder gab es eine Koordinierung dieser Schulversuche zu Beginn des Versuchsprogramms noch eine zentrale Dokumentation an dessen Ende. Auch fehlte es an der Entwicklung gemeinsamer Kategorien, Untersuchungsinstrumentarien und einer einheitlichen Terminologie, die eine länderübergreifende Vergleichbarkeit der Schulversuche hätten ermöglichen können. Einer der Hauptbefunde, die auf der disparaten Da67 Aber auch in der sozialliberalen Regierungskoalition selbst lösten die Pläne Widerstand vor allem in der FDP aus und sollten 1974 letztlich zum Rücktritt des Kultusministers Ludwig von Friedeburg führen. Führ 1995; von Friedeburg, Bildungsreform (wie Anm. 1). 68 Ludwig, Entstehung (wie Anm. 2), S. 548.

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tenbasis gewonnen werden konnten,69 lautete, dass sich Schulleistungen und Schulerfolge von Lernenden, die Ganztagsschulen besuchten, kaum von denen von Halbtagsschülerinnen und -schülern unterschieden, obwohl Ganztagsschülerinnen und -schüler zu einem höheren Anteil aus bildungsfernen Familien kamen.70 Im Gegensatz dazu erhielt die Erforschung der politisch umkämpften Gesamtschule ungleich mehr Aufmerksamkeit und finanzielle Ressourcen. Die bekannteste wissenschaftliche Untersuchung zur Gesamtschule entstand an der Universität Konstanz am Sonderforschungsbereich Zentrum I für Bildungsforschung unter Leitung des Schulforschers Helmut Fend. Dieser hatte 1975 durch die Kultusministerien Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen den Auftrag erhalten, die Gesamtschule und das dreigliedrige Schulsystem vergleichend zu untersuchen.71 Die Ministerien versprachen sich davon neben der wissenschaftlichen Legitimation für die Gesamtschule vor allem neues datengestütztes Steuerungswissen für deren Weiterentwicklung.72 Umfangreiche Datenmengen, die in mehreren Erhebungswellen 1976, 1977 und 1978 per Fragebogen unter Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern sowie Eltern zu Schullaufbahnen und fachlichen Leistungen von Sechst- und Neuntklässlern, zur emotionalen Lernsituation und zum Wohlbefinden von Lernenden erhoben wurden, legten die Basis für die bis dato größte Studie zum Schulsystemvergleich.73 Allerdings sollte die Fend-Studie zur Enttäuschung ihrer sozialdemokratischen Auftraggeber keine eindeutigen Hinweise liefern, dass die Gesamtschule in Bezug auf soziale Gerechtigkeit, Leistungen und Schulklima per se die bessere Schule sei.74 Die Bedeutung der Studie lag vielmehr in ihrer politischen Wirkungsmacht, hatte sie doch mit wissenschaft69 1976 beschloss die Bund-Länder-Kommission eine überregionale Auswertung der realisierten Modellversuche, welche der Erziehungswissenschaftler Heinz-Jürgen Ipfling als Sachverständiger durchführte. Heinz-Jürgen Ipfling, Modellversuche mit Ganztagsschulen und anderen Formen ganztägiger Förderung, Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, Bonn 1981. 70 Ipfling, Heinz-Jürgen u. Ulrike Lorenz: Schulversuche mit Ganztagsschulen. Bericht der Projektgruppe zur Begleitung der Schulversuche mit Ganztagschulen in Rheinland-Pfalz 1971–1977. Mainz 1979. 71 Fend, Gesamtschule (wie Anm. 53), S. 14. 72 Für den Vergleich der Gesamtschule mit dem traditionellen Schulsystem wurden außer in Hessen auch in NRW und Niedersachsen Daten zu affektiven und leistungsbezogenen Aspekten des Schulsystems erhoben z.B. zum Entscheidungsverhalten von Eltern in Bezug auf die Schulwahl ihrer Kinder oder zum Selbstverständnis und Wohlbefinden von Lehrenden und Lernenden. 73 Fend, Gesamtschule (wie Anm. 53), S. 20. 74 Vgl. die differenzierte Zusammenfassung bei Fend, Gesamtschule (wie Anm. 53).

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lichen Mitteln den parteipolitischen Streit um die Gesamtschule zumindest befriedet: Eines ihrer Hauptergebnisse lautete, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen wesentlich größer seien als die Schulsystemeffekte von Gesamtschule und traditionellem Schulsystem. Dies sollte in den 1980er Jahren für die Neuausrichtung der Schulforschung auf das Konzept der Schulqualität paradigmatisch wegweisend werden.75 Wenn der Fokus der Studie neben Leistung insbesondere auf emotionalen Aspekten wie Schulangst und Schulfreude lag, zeigt dies, dass die Schulforschung ihre Erkenntnisinteressen und Relevanzkriterien immer auch unter dem Eindruck der zeitgenössischen Schuldebatte definierte.76 Dort war die sogenannte humane Schule seit Anfang der 1970er Jahre zu einem Schlüsselbegriff und einer Diskursstrategie avanciert, die die Reformkritiker der sogenannten neokonservativen Tendenzwende nutzten, um nach der Linksbewegung des öffentlichen Meinungsklimas nach 1968 eine neue Werte- und Moralerziehung in Schule und Gesellschaft einzufordern und die politische Deutungshegemonie gerade auf pädagogischem Terrain zurückzuerobern.77 Humanisierung war dabei nicht nur eine „Leerformel der Bildungspolitiker“, die Gegner und Befürworter der Gesamtschule nutzten, sondern vielmehr auch zeitgeschichtlicher Ausdruck des allgemeinen Unbehagens nach Ende des ökonomischen Booms.78

Fachöffentliche Diskurse Mit verschärfter Krisenwahrnehmung infolge von Wirtschaftsrezession und steigender Arbeitslosigkeit war die Gesamtschule als öffentlich-mediale Projektion nicht länger der zentrale gesellschaftspolitische Reformmotor, wo sich rationalistische Planungseuphorie und pädagogischer Erziehungsoptimismus gleichsam bündelten. Vielmehr erschienen die tatsächlich realisierten Gesamtschulen nun im Licht des Humanisierungsdiskurses als technokratische „Lern75 Fend, Bildungsforschung (wie Anm. 55). 76 Mattes, Monika: Von der Leistungs- zur Wohlfühlschule? Die Gesamtschule als Gegenstand gesellschaftlicher Debatten und pädagogischer Wissensproduktion in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren. In: Wissen machen. Beiträge zu einer Geschichte erziehungswissenschaftlichen Wissens in Deutschland zwischen 1945 und 1990 (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 63). Hrsg. von Sabine Reh [u.a.]. Weinheim, Basel 2017. S. 187–206. 77 Mattes, Von der Leistungs- zur Wohlfühlschule? (wie Anm. 76), S. 194ff; Wehrs, Nikolai: Protest der Professoren. Der "Bund Freiheit der Wissenschaft" in den 1970er Jahren. Göttingen 2014;. Mut zur Erziehung. Beiträge zu einem Forum am 9./10. Januar 1978 im Wissenschaftszentrum Bonn-Bad Godesberg. Stuttgart 1979; Gass-Bolm, Gymnasium (wie Anm. 7), S. 394ff. 78 von Hentig, Hartmut: „Humanisierung“. Eine verschämte Rückkehr zur Pädagogik? Stuttgart 1993. S. 15.

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fabriken“ und inhumane, anonyme „Mammutschulen“ und lenkten die Aufmerksamkeit der schulpädagogischen Fachöffentlichkeit auf räumliche, emotionale und psychosoziale Aspekte des Schulgeschehens. Hier differenzierte sich das in Fachzeitschriften und Fortbildungen für Lehrkräfte vermittelte pädagogische Professionswissen stark aus. Die negativen Erfahrungen mit standardisierten Großbauten mündeten in Forderungen nach einer Schularchitektur, die neben natürlicher Belichtung und Belüftung vor allem überschaubare Raumstrukturen schaffe, in denen sich Lernende und Lehrende nicht verloren fühlten.79 Wie hier entsprechendes Wissen in die pädagogische Community diffundierte, zeigt etwa das Themenheft der Zeitschrift Gesamtschule über Schulbau aus dem Jahr 1974, das eine Studie des Psychologischen Instituts der Universität Hamburg vorstellte. Dieser lag eine Befragung an 17 Schulen mit jeweils 300 Schülerinnen und Schülern aus 10 Klassen zugrunde. Das dort gezeichnete Bild der räumlichen Situation der Schulen war sehr kritisch: So würde dort das „elementare motorische Bewegungsbedürfnis“ von Lernenden unterdrückt, da es kaum „Freiräume und Aktivitätszonen“ gäbe. Die Folge seien „Unruhe und Nervosität“ im Unterricht, wodurch die Lehrer-Schüler-Beziehung durch die ständigen Ermahnungen von Lehrerseite stark belastet würde.80 Ein weiterer Kritikpunkt war die an vielen Gesamtschulen praktizierte äußere Leistungsdifferenzierung im Kurssystem. Hier hatte die Fend-Studie die negativen Berichte von Lehrkräften an Gesamtschulen bestätigt, wonach schwächere Schülerinnen und Schüler durch die Fachleistungsdifferenzierung entmutigt würden.81 Aus Sicht der Pädagoginnen und Pädagogen seien damit Mechanismen etabliert worden, die den schulischen Konkurrenz- und Leistungsdruck nicht abgeschafft, sondern vielmehr perfektioniert hätten.82 Als Alternativen zur starren Dreier- oder Fünferdifferenzierung der Leistungsgruppen wurde für den Unterricht Binnendifferenzierung oder zumindest eine Zweierdifferenzierung ins Spiel gebracht.83 Sobald Schule nicht mehr nur als „Ort effizienter Produktion von Lernergebnissen“ begriffen wurde, konnten auch Anliegen der Ganztagsschule wieder wahrnehmbarer in die Debatte eingebracht werden.84 Für die Mitglieder der Ge79 Vgl. allgemein Blömer, Daniel: Topographie der Gesamtschule: zum Zusammenhang von Pädagogik und Raum. Bad Heilbrunn 2011. 80 Rödler, Jörg M.: Schulbauten aus der Sicht der Lehrer und Schüler. In: Gesamtschule 3/74. S. 18. 81 Fend, Gesamtschule (wie Anm. 53), S. 315ff. 82 Wie macht man große Schule klein? Fünf Thesen zur Reorganisation der Gesamtschule. In: Ganztagsschule 3 (1974). S.10–13. 83 Vgl. Keim, Wolfgang: Gesamtschule. Bilanz ihrer Praxis. Hamburg 1973, S. 147ff. 84 Rumpf, Horst: Was Schule lernen muß. In: Ganztagsschule 3/1974. S. 4.

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meinnützigen Gesellschaft Tagesheimschule ließ sich eine humane Schule unter Rückgriff auf reformpädagogische Ideenbestände problemlos als ganztägige Schule „vom Kinde aus“ entwerfen, die Schule als Erfahrungsraum für Kinder in den Mittelpunkt rückte.85 Die bislang realisierten Ganztagsschulen waren von diesem Ideal offenbar noch entfernt, nährten sie doch eher tradierte Befürchtungen einer Verschulung des kindlichen Alltags: Anstatt den Schülerinnen und Schülern einen „Lebensraum, der vielfältige menschliche Erfahrungen ermöglicht“, zu bieten, würde dort der Unterricht meist nur in den Nachmittag hinein verlängert.86 Dass eine Ganztagsschule auch Zeit „fürs Träumen, fürs ‚Gammeln‘ und auch für den ganz ungezwungenen Kontakt mit Gleichaltrigen“ bieten könnte, wie es auf einer Tagung 1980 hieß, brachten offenbar die wenigsten Pädagoginnen und Pädagogen mit dieser Schulform in Verbindung.87 Anstöße für eine schulische Freizeitgestaltung sollte einerseits die neu entstehende Freizeitforschung88 liefern, zum anderen boten die Erfahrungen in ganztägigen Gesamtschulen eine entsprechende empirische Basis.89

Politik und Ganztagsschule Ende der 1970er Jahre kam das Thema Ganztagsschule erneut auf die politische Agenda: Zum einen bot sie sich als Verständigungsmedium an, als die BundLänder-Kommission für Bildungsplanung einen neuen Anlauf unternahm, um in dem wegen des virulenten Gesamtschulstreits nicht umgesetzten Bildungsgesamtplan doch noch eine Einigung zwischen SPD- und CDU-regierten Ländern zu erzielen.90 Zum anderen hatte sich der wachsende Bedarf an schulischer Nachmittagsbetreuung in dem großen Ansturm auf ganztägige Gesamtschulen etwa in Hessen, Berlin oder Hamburg gezeigt. Manche christdemokratischen 85 Appel, Stefan: Fünftage-Ganztagsschule auch heute noch eine pädagogische Herausforderung. In: Die Ganztagsschule 18 (1978) 2. S. 29–40. 86 Wunder, Dieter: Ganztagsschule. Einführungsreferat auf der bildungspolitischen Konferenz des DGB 1979. In: Gewerkschaftliche Monatshefte 31 (1980) 1. S. 33–42, hier S. 34. 87 Hartmut Heck, 10 Jahre Ganztagsschularbeit – Ein Problemaufriss. In: Internationaler Arbeitskreis Sonnenberg (Hg.), Leben und Lernen in der Ganztagsschule. Dokumentation zur Internationalen Sonnenberg–Tagung vom 9.–15. November 1980, Braunschweig 1981, S. 14. 88 Opaschowski, Horst W.: Einführung in die Freizeitwissenschaft. 3. Aufl. Opladen 1997. 89 Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule e.V. (Hrsg.): Gesamtschule als Ganztagsschule. Zur pädagogischen Ausgestaltung des schulischen Freizeitbereichs. Bochum 1976. 90 Wilhelmi, Hans H.: Ganztagsschulen – Ein alternatives schulisches Angebot – Zu den Vorschlägen des Gesprächskreises Bildungsplanung. In: Internationaler Arbeitskreis Sonnenberg (Hrsg.), Leben und Lernen in der Ganztagsschule. Dokumentation zur Internationalen Sonnenberg-Tagung vom 9.–15. November 1980. Braunschweig 1981. S. 32–47.

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Kultusminister versprachen sich von der Umstellung einzelner Haupt- und Realschulen auf Ganztagsbetrieb offenbar eine Stabilisierung des dreigliedrigen Schulsystems.91 Die Initiative für die neuerliche Platzierung der Ganztagsschule im bildungspolitischen Diskurs lag beim Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBW) das, nach Auflösung des Bildungsrats 1975, für eine „kontinuierliche Politikberatung aus dem Expertenbereich“ den Gesprächskreis Bildungsplanung ins Leben gerufen hatte. Dieses Gremium warb in seinen im April 1980 publizierten Vorschlägen für den Ausbau von Ganztagsschulen als einem „alternativen schulischen Angebot“.92 Wie bereits in der Ganztagsschuldiskussion der 1960er Jahre schien diese Schulform den Beteiligten auch jetzt explizit die plausible schulpolitische Antwort auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu sein. Als politisch letztlich folgenlos gebliebene Initiative oszillierte das Kompromisspapier zwischen den zwei altbekannten Polen Sozialpolitik und moderne Pädagogik, etwa wenn auf die „veränderten Lebenssituationen von Familien“ hingewiesen wurde, insbesondere bei ganztägig erwerbstätigen Alleinerziehenden93 und Familien mit zwei voll erwerbstätigen Eltern.94 Als neues soziales Problemfeld, mit dem sich Schule auseinandersetzen müsse, benannte das Papier die rasch wachsende Zahl von Kindern „ausländischer Arbeitnehmer“.95 Nach dem Anwerbestopp 1973 hatte die migrantische Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik durch Familiennachzug kontinuierlich zugenommen, vor allem als ab 1975 das Kindergeld nur noch für die in der Bundesrepublik lebenden Kinder gewährt wurde. Kinder und Jugendliche waren als Schülerinnen und Schüler vom migrationspolitischen Zielkonflikt des erklärten Nichteinwanderungslandes Bundesrepublik in besonderer Weise betroffen. Das Prinzip „improvisierter Zweigleisigkeit“ zwischen einer gesell91 Vgl. Lühring, Holger: Ganztagsschule zwischen schulpolitischer Illusion und gesellschaftlichen und pädagogischen Erfordernissen. In: Gewerkschaftliche Monatshefte 31 (1980) 6. S. 191–195. S. 194; Ganztagsschule. Schulsystem der 80er Jahre. In: Erziehung und Wissenschaft 30 (1978) 5. S. 4. 92 Nachdem die Errichtung von Ganztagsschulen „erheblich hinter den Planungswerten“ zurückgeblieben war – 1979 betrug der Anteil von Ganztagsschülern zwischen 3 und 4 Prozent –, peilte man jetzt eine wesentlich moderatere Steigerung an mit Zielwerten, die sich je nach Ausgangslage des jeweiligen Bundeslandes für 1985 zwischen 5 und 15 Prozent und für 1990 zwischen 10 und 20 Prozent bewegten. Vgl. Ganztagsschulen. Vorschläge des „Gesprächskreises Bildungsplanung“ des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft zu einem alternativen schulischen Angebot vom 16. April 1980. In: informationen-bildung-wissenschaft Nr. 5, 22.3.1980, S. 85–91, hier S. 87. 93 1977 wurden 788.000 Alleinstehende mit 1,2 Millionen Kindern unter 18 Jahren gezählt. 94 Ganztagsschulen (wie Anm. 92), S. 87. 95 Ganztagsschulen (wie Anm. 92), S. 87f.

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schaftlichen und schulischen Integration einerseits und der Aufrechterhaltung ihrer „Rückkehrfähigkeit“ wurde auf ihrem Rücken ausgetragen.96 Wissenschaftliche Studien kamen zu dem Ergebnis, dass der Großteil ausländischer Kinder in der Schule die Zeit absitzen würde, da kaum in sprachliche Fördermaßnahmen investiert wurde. Das Wochenmagazin Spiegel konstatierte Mitte der 1970er-Jahre, dass die Kultusminister trotz einer eindeutigen Einwanderungssituation noch immer von der Fiktion ausgingen, „die Ausbildung von Ausländer-Kindern in deutschen Schulen sei nur ein vorübergehendes Phänomen“.97 Die Schulen waren bei der Integration von ausländischen Schülerinnen und Schülern weitgehend auf ihre eigene Improvisationsfähigkeit zurückgeworfen, wenngleich sich in den Folgejahren an einigen Hochschulen Lehrerfortbildungen zum Thema Ausländerpädagogik bzw. der gleichnamige Studiengang als Zusatz- oder Aufbaustudium sowie das Fach Deutsch als Fremdsprache institutionalisieren sollten. Die Frage, wie sich Schulpädagogik dadurch weiter ausdifferenzierte und wie man dieses neue Wissensfeld in den Verbänden wie der GGG und der GGT rezipierte, wäre Gegenstand einer eigenen Betrachtung.

Schluss Ganztagsschule und Gesamtschule dienten in diesem Beitrag als analytische Sonden, um anhand der bildungspolitischen Debatten der Bundesrepublik die sich wandelnden gesellschaftlichen Begründungen, Wissensbestände und Legitimationsfiguren für die Basisinstitution Schule genauer in den Blick zu nehmen. Die ersten Tagesheimschulen lösten im letzten Drittel der 1950er Jahre in einem doppelten Referenzrahmen aus Kaltem Krieg und Systemkonkurrenz einerseits und aus beschleunigtem Wirtschaftswachstum und der vom DGB angestoßenen Debatte um Arbeitszeitverkürzung und Fünftagewoche andererseits eine hochkontroverse und stark wertbezogene Debatte aus. Dabei wurde die Tagesheimschule als Anpassung schulischer Zeitgestaltung an gesellschaftliche Erfordernisse von den meist bürgerlichen Sprechergruppen aus Kirchen, Medizin, Eltern- und Lehrerverbänden als Einfallstor für „Vermassung“, „Staatssozialismus“ und Konsum kategorisch abgelehnt. Angesichts der Virulenz der Debatten vermieden es prominente Bildungsexperten im Deutschen Ausschuss wie Georg Picht und Hellmut Becker, gegen ihre eigene Überzeu-

96 Hunn, Karin: „Nächstes Jahr kehren wir zurück…“. Die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik. Göttingen 2005. S. 293. 97 Gemeine Lumpen, Sauigels – rauswerfen. In: Der Spiegel 53 (1977). S. 46–52.

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gung, die Tagesheimschule in den bildungspolitischen Reformkatalog aufzunehmen. Bereits Anfang der 1960er Jahre verschoben sich die Legitimationsstrategien für ganztägige Schulen: Diese hießen nun nicht mehr in reformpädagogischer Terminologie Tagesheimschulen, sondern galten unter Bezugnahme auf neue Wissensbestände einer sich versozialwissenschaftlichenden Schulpädagogik als bildungsökonomisches und gesellschaftspolitisches Instrument, das Bildungsreserven mobilisieren und Chancengleichheit herstellen sollte. Das Hauptinteresse der sozialdemokratischen Bildungsreformer richtete sich indes auf die Gesamtschule, die als hochumstrittenes Reformziel die schulpolitische Debatten wie auch die sich ausweitende Schulforschung maßgeblich konfigurierte. Die Ganztagsschule fungierte im Deutschen Bildungsrat vornehmlich als Konsensmodell, auf das sich beide politischen Lager taktisch bezogen: die SPD, um die Gesamtschule durchzusetzen und die CDU/CSU, um diese zu verhindern. Der hochideologische Streit führte zu einer Marginalisierung der Ganztagsschule sowohl in der (Fach-)Öffentlichkeit als auch in dem vom Bildungsrat angestrebten Forschungsprogramm. Lediglich der beim BMBW angesiedelte Gesprächskreis Bildungsplanung unternahm Ende der 1970er Jahre einen neuen Vorstoß und begründete die Notwendigkeit ganztägiger Schulen mit der Bearbeitung familien- und migrationspolitischer Problemlagen. Während sich für Gesamtschule und Ganztagsschule die schulpolitischen Thematisierungskonjunkturen relativ nachvollziehbar beschreiben lassen, trifft dies für die längerfristigen Zirkulationsbewegungen der damit verbundenen Wissensströme nur bedingt zu. Dies wird insbesondere an der u.a. vom Gesamtschulstreit ausgelösten Wissensflut deutlich, die sich auf neues, von der quantitativen Schulforschung generiertes empirisches Wissen einerseits und auf schulpädagogisches Professionswissen der Verbände und einzelnen Lehrkräfte andererseits erstreckte. Die Ergebnisse der Schulforschung lieferten, anders als von den Befürwortern der Gesamtschule erhofft, nur eine unzureichende Stütze für deren politische Legitimierung. Zusammen mit den Praxiserfahrungen von Pädagoginnen und Pädagogen an Gesamtschulen trugen sie jedoch längerfristig dazu bei, dass Schule neu perspektiviert werden konnte. Mochte die Gesamtschule mit Blick auf das Humanisierungspostulat der 1970er Jahre als sozialtechnologisch begründete „Lernfabrik“ für die gescheiterte Bildungsreform stehen. In einem diachronen Blickwinkel, der nach der Funktion der Gesamtschule als Wissenslabor für das Schulwesen insgesamt fragt, zeigen sich indessen vielfältige Aneignungsprozesse durch das dreigliedrige Schulsystem, insbesondere durch das Gymnasium. Diese Prozesse des Transfers und der Aneignung von pädagogischen Innovationen trugen maßgeblich zum Wandel des westdeut-

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schen Schulwesens bei. Sie gilt es – gerade für die 1980er und 1990er Jahre – wissensgeschichtlich noch genauer auszuloten.

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Schule zwischen Bildungs- und Gesellschaftspolitik 

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Sascha Krannich und Stefan Metzger

Netzwerke für Bildung Das bildungsbezogene Engagement von Migrantenorganisationen zwischen Integration und Transnationalität Migrantenorganisationen sind freiwillige Vereinigungen, die von Menschen im Migrationsprozess gegründet werden. Zunächst sind besagte Organisationen Orte der Geselligkeit, der Traditionspflege und des Austauschs, auch um sich in der neuen Umgebung orientieren zu können. Gleichzeitig erfüllen sie spezifische Bedürfnisse der Migrantinnen und Migranten und dienen später oftmals der Selbsthilfe, Interessenvertretung sowie der Wissensvermittlung. Migrantenorganisationen zeichnen sich nicht nur durch vielfältige Funktionen aus, sondern auch durch heterogene Aktivitäten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Aufgaben- und Gesellschaftsbereichen.1 Sie sind insbesondere in den Bereichen Kultur, Religion, Arbeit, Politik und Bildung aktiv.2 Die Gründung von Migrantenorganisationen wird oftmals durch eine fehlende Angebotsstruktur im Aufnahmekontext ausgelöst.3 So haben sich zahlreiche Moscheevereine in Deutschland gegründet, weil muslimisch gläubige Migrantinnen und Migranten kaum die Möglichkeit hatten, ihre Religion zu praktizieren.4 Migrantenorganisationen 1 Gaitanides, Stefan: Partizipation von Migrant/innen und ihren Selbstorganisationen. Dokumentation der Veranstaltung „Interkulturelle Stadt(teil)politik“. Berlin 8. –9.Dezember 2003. S. 24–33. http://www.eundc.de/pdf/63000.pdf (27.10.2017). 2 Thränhardt, Dietrich: Migrantenorganisationen. Engagement, Transnationalität und Integration. In: Migrantenorganisationen. Engagement, Transnationalität und Integration. Hrsg. von Günther Schultze u. Dietrich Thränhardt. Bonn 2013. S. 5–20. 3 Halm, Dirk u. Martina Sauer: Freiwilliges Engagement von Türkinnen und Türken in Deutschland. Stiftung Zentrum für Türkeistudien. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Essen 2005. Sowie Huhn, Daniel [u.a.]: Türkisch geprägte Fußballvereine im Ruhrgebiet. Im Abseits der Gesellschaft? Münster 2011. 4 Der Großteil der Migrantenorganisationen richtet sich zunächst maßgeblich an Mitglieder eines bestimmten Herkunftsortes bzw. eines Herkunftslandes. Im Laufe der Organisationsgeschichte kommt es aber immer wieder zu Öffnungs- und Schließungsmomenten (vgl. hierzu: Metzger, Stefan: Das Spiel um Anerkennung. Fußballvereine mit Türkeibezug im Berliner Amateurfußball. Reihe: Studien zur Migrations- und Integrationspolitik. Wiesbaden 2018), die maßgeblich auch von der Organisationsumwelt (siehe etwa zur Förderung von Migrantenorganisationen Weiss, Karin: Migrantenorganisationen und Staat. Anerkennung, Zusammenarbeit, Förderung. In: Migrantenorganisationen. Engagement, Transnationalität und Integration. Hrsg. von Günther Schultze u. Dietrich Thränhardt. Bonn 2013. S. 21–31.) und vom politischen Migrations- und Integrationsregime (Hunger, Uwe: Wie können Migrantenselbstorganisationen den Integrationsprozess betreuen? Wissenschaftliches Gutachten im Auftrag des Sachverstänhttps://doi.org/10.1515/9783110538076-003

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spielen auch eine wichtige Rolle im Bildungs- und Wissensbereich, was bisher aus wissenshistorischer Perspektive kaum untersucht wurde. Dabei haben sich bereits im 18. und 19. Jahrhundert Einwanderergruppen wie deutsche, holländische oder irische Vereine auf dem nordamerikanischen Kontinent zur Selbsthilfe und Wissensvermittlung organisiert und entscheidend bei der Gründung von eigenen Schulen und Universitäten mitgewirkt.5 Im Bildungsbereich sind Migrantinnen und Migranten sowie ihre Nachkommen nach wie vor deutlich benachteiligt.6 Das hat einerseits damit zu tun, dass viele nach Deutschland migrierende Personen mit weniger Ressourcen (ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital) ausgestattet sind bzw. diese Ressourcen im Aufnahmekontext schwieriger eingesetzt werden können.7 Andererseits kann es zu institutionellen Diskriminierungsprozessen kommen, bei denen sich bereichseigene Strukturen wie ein mehrgliedriges Schulsystem negativ auf die Bildungserfolge der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund auswirken, etwa durch Entscheidungspraktiken der Lehrenden und Schulverwaltungen beim Übergang der Lernenden auf die weiterführende Schule.8 Auch aus diesem Grund hat sich eine ganze Reihe an Migrantenorganisationen gegründet, die sich für bessere Bildungschancen von Migrantinnen und Migranten im Aufnahmeland einset-

digenrates für Zuwanderung und Integration des Bundesministeriums des Innern der Bundesrepublik Deutschland. Münster, Osnabrück 2004. Pries, Ludger: Transnationalisierung. Theorie und Empirie neuer Vergesellschaftung. Wiesbaden 2010 Hunger, Uwe u. Stefan Metzger: Von der Verleugnung zur Akzeptanz? Selbstverständnis und Fremdwahrnehmung von Migrantenorganisationen im Wandel. In: Engagierte Migranten. Teilhabe in der Bürgergesellschaft. Hrsg. Von Torsten Groß [u.a.]. Schwalbach/Ts 2017. S. 80–85.) beeinflusst werden. Insbesondere im Zuge der Professionalisierung von Migrantenorganisationen verlieren die Organisationen oftmals ihren spezifischen Herkunftsbezug und organisieren sich stärker entlang der ausgeübten Funktionen. 5 Vgl. hierzu Bade, Klaus: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 2008 und Oltmer, Jochen: Migration – Geschichte und Zukunft der Gegenwart. Darmstadt 2017. 6 Hunger, Uwe u. Dietrich Thränhardt: Vom katholischen Arbeitermädchen vom Lande zum italienischen Gastarbeiterjungen aus dem Bayrischen Wald. Zu den neuen Disparitäten im deutschen Bildungssystem. In: Integration und Illegalität in Deutschland. Hrsg. von Klaus J. Bade. Osnabrück 2001. S. 51–61; Flam, Helena: Migranten in Deutschland. Statistiken – Fakten – Diskurse. Konstanz 2007. 7 Diefenbach, Heike: Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien im deutschen Bildungssystem. Erklärungen und empirische Befunde. Wiesbaden 2010. 8 Hunger, Uwe: Bildungspolitik und „institutionalisierte Diskriminierung“ auf Ebene der Bundesländer. Ein Vergleich zwischen Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen. In: Integrationspolitik in föderalistischen Systemen. Hrsg. von Lale Akgün u. Dietrich Thränhardt. Münster 2001. S. 119–136; Gomolla, Mechtild u. Frank Olaf Radtke: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen 2002.

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zen, gleichzeitig machen sich immer mehr für einen transnationalen Wissenstransfer in ihre Herkunftsländer stark. So ergab eine explorative Studie zur Situation von Migrantenorganisationen in der Stadt Münster, dass sich etwa zwei Drittel der Migrantenorganisationen im Bereich Bildung und Weiterbildung engagieren. Zudem widmet sich ca. ein Drittel von ihnen der Sprachförderung und Wissensvermittlung in der deutschen und in der Herkunftssprache. Davon war insgesamt fast die Hälfte der befragten Migrantenorganisationen sowohl in Deutschland als auch in den Herkunftsländern aktiv.9 Somit können Migrantenorganisationen eine wichtige Scharnierfunktion für Wissenszirkulation über nationale Grenzen hinweg bilden. Inwieweit Migrantenorganisationen als Orte der Wissensproduktion dienen können und wie sie sich konkret sowohl im Aufenthalts- als auch im Herkunftsland bildungs- und wissensbezogen engagieren und wie sich dieses transnationale Engagement seit 1945 entwickelt hat, soll in diesem Artikel anhand eigener Forschungsergebnisse in Deutschland, den USA und einigen Herkunftsländern der Migrantinnen und Migranten dargestellt werden.10 Die Argumentation baut auf der Annahme auf, dass soziale Netzwerke nicht nur für den individuellen Bildungserfolg zentral sind, sondern dass sich auch die zivilgesellschaftliche migrantische Selbstorganisation im Bildungsbereich positiv auf die Bildungschancen ihrer Nachkommen auswirkt.11 Daran anknüpfend wird im vorliegenden Aufsatz die These vertreten, dass das bildungsbezogene Engagement von Migrantenorganisationen die Situation der Migrantinnen und Migranten im Aufnahmeland verbessert (Integration) und gleichzeitig positive Effekte für den transnationalen Wissenstransfer und die Entwicklung von 9 Krannich, Sascha u. Uwe Hunger: Migrantenselbstorganisationen in Münster. Ergebnisse einer Befragungsstudie der Stadt Münster. Münster: Koordinierungsstelle für Migration und Interkulturelle Angelegenheiten 2009. S. 4. 10 Hunger, Uwe u. Stefan Metzger: Kooperationen mit Migrantenorganisationen. Wissenschaftliche Expertise im Auftrag des Bundesamts für Migration und Entwicklung. Nürnberg 2011. Krannich, Sascha: Transnational Organization, Belonging, and Citizenship of Indigenous Mexican Migrants in the United States. The Case of Oaxaqueños in Los Angeles. http://unibielefeld.de/(de)/tdrc/ag_comcad/publications/wp.html (20.03.2017). Krannich, Sascha: The Reconquest of Paradise? How Indigenous Migrants Construct Community in the United States and Mexico. Münster 2017. Metzger, Stefan: Entwicklungspolitisches Engagement marokkanischer Migrantenorganisationen in Deutschland. Gutachten im Auftrag des Centrums für internationale Migration und Entwicklung. Eschborn 2015. 11 Bourdieu, Pierre: The Forms of Capital. In: Handbook of Theory and Research for the Sociology of Education. Hrsg. von John G. Richardson. New York 1986. S. 241–258. Thränhardt, Dietrich: Einwandererkulturen und soziales Kapital. Eine komparative Analyse. In: Einwanderer-Netzwerke und ihre Integrationsqualität in Deutschland und Israel. Hrsg. von Dietrich Thränhardt u. Uwe Hunger. Münster 2000. S. 15–51.

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Bildungseinrichtungen im Herkunftsland mit sich bringen kann (Transnationalität). Dazu werden einige Beispiele von bildungs- und wissensbezogenem Engagement von Migrantenorganisationen im schulischen,12 universitären13 und gesellschaftlichen14 Bereich nachgezeichnet. Ausgehend von zwei zentralen Einwanderungsländern – der Bundesrepublik Deutschland und den USA – wird die Einsatzbereitschaft sowohl in diesen Aufnahme- als auch in einigen Herkunftsländern der Migranten herausgearbeitet.

Migrantenorganisationen zwischen Integration und Transnationalität Gerade weil der Migrationsprozess in der Regel auf Wissen und transnationalen Beziehungen aufbaut, werden diese Netzwerke auch im Aufnahmekontext genutzt. Die Aktivitäten von Migrantinnen und Migranten sowie ihren Organisationen konzentrieren sich maßgeblich auf die Situation vor Ort, gleichzeitig halten sie aber auch enge Verbindungen in die Herkunftsländer, teilweise durch grenzüberschreitende Aktivitäten.15 Dabei handelt es sich sowohl um Kapitalals auch um Wissens- und Gütertransfers, etwa das Verschicken von nützlichen Gegenständen wie Computern, Instrumenten oder Werkzeug, die in den Herkunftsländern schwer zu erhalten sind. In manchen Fällen können diese transnationalen Aktivitäten entscheidend zur Entwicklung in den Herkunftsländern beitragen.16 Insbesondere die weltweiten Rücküberweisungen von Migrantinnen und Migranten in ihre Herkunftsländer sind in den letzten Jahrzehnten enorm angestiegen und übersteigen die weltweiten öffentlichen Entwicklungshilfegelder mittlerweile um mehr als das Doppelte.17

12 Siehe Kapitel 2.1. 13 Siehe Kapitel 2.2. 14 Siehe Kapitel 2.3. 15 Portes, Alejandro [u.a.]: Immigrant Transnational Organizations and Development. A Comparative Study. In: International Migration Review 41 (2007) 1. S. 242–281. Pries, Transnationalisierung (wie Anm. 4). 16 Hunger, Uwe: Vom Brain Drain zum Brain Gain. Die Auswirkungen der Migration von Hochqualifizierten auf Abgabe- und Aufnahmeländer. Bonn 2003. Portes, Immigrant (wie Anm. 15) ; Faist, Thomas [u.a.]: Transnational Migration. Cambridge 2013. Fernandez-Kelly, Patricia u. Alejandro Portes (Hrsg.): The State and the Grassroots. Immigrant Transnational Organizations in Four Continents. New York 2015. 17 United Nations Development Programme (UNDP): Human Development Report 2015. Overcoming Barriers. Human Mobilty and Development. New York 2015.

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Dabei wurde in Wissenschaft und Praxis lange Zeit davon ausgegangen, dass es sich negativ auf die Integration von migrierten Personen auswirke, wenn sie sich an ihrem Herkunftsland orientieren beziehungsweise für ihre Herkunftsländer engagieren.18 Die zentrale These war dabei, dass diejenigen, die sich weiterhin für das Herkunftsland engagieren, größere Schwierigkeiten haben werden, sich im Aufenthaltsland zu integrieren als jene, die nur noch wenige oder keine Beziehungen mehr in das Herkunftsland haben.19 Neuere Erkenntnisse aus Praxis und Wissenschaft zeigen allerdings, dass zwischen transnationalem Engagement von Migrantinnen und Migranten für ihr Herkunftsland und ihrer Integration im Aufnahmeland durchaus ein produktiver Zusammenhang bestehen kann. So engagieren sich hauptsächlich solche Personen für ihr Herkunftsland, die als gut integriert gelten und die über die für eine entwicklungspolitische Tätigkeit notwendigen Ressourcen verfügen, wie zum Beispiel einen höheren Bildungsabschluss, ein festes Einkommen und den Zugang zu Informationen und Institutionen.20 Darüber hinaus zeigen sozialwissenschaftliche Studien, dass sich durch entwicklungspolitische Arbeit nicht nur die Verbindung zum Herkunftsland intensiviert, sondern sich gleichzeitig konstruktive und partnerschaftliche Beziehungen zu Organisationen und Institutionen im Aufnahmeland ergeben können, was sich letztlich produktiv auf die soziale, ökonomische oder politische Integration der Menschen im Aufenthaltsland auswirken kann.21 So benötigen und erlernen Migrantinnen und Migranten durch ihre transnationalen Bemühungen wichtige Fähigkeiten und eignen sich Wissen an, was ihnen in ihrem Leben in Deutschland von Nutzen ist. Daraus entsteht ein Potenzial für Integrationsprozesse sowie für die Entwicklungszusammenarbeit, das zunehmend in Deutschland erkannt wird.22 Dies gilt auch 18 Esser, Hartmut: Ethnische Kolonien: „Binnenintegration“ oder gesellschaftliche Isolation? In: Segregation und Integration. Die Situation von Arbeitsmigranten im Aufnahmeland. Hrsg. von Jürgen Hoffmeyer-Zlotnik. Mannheim 1986 (Forschung, Raum und Gesellschaft). S. 106– 117. Diehl, Claudia u. Julia Urban: Die soziale und politische Partizipation von Zuwanderern in der Bundesrepublik Deutschland. Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn 1999. 19 Vgl. dazu auch Alba, Richard u. Victor Nee: Rethinking Assimilation Theory for a New Era of Immigration. In: International Migration Review 31 (1997). S. 826–876, die in ihrer Studie aufzeigen, dass sich eine Orientierung an der Herkunftsgesellschaft negativ auf den Schulerfolg von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund auswirken kann. 20 Portes, Immigrant (wie Anm. 15). Metzger, Stefan [u.a.]: Das entwicklungsbezogene Engagement von marokkanischen Migrantenorganisationen in Deutschland und Frankreich. In: Potenziale der Migration zwischen Afrika und Deutschland. Beiträge zu Migration und Integration, Band 2. Hrsg. von Tatjana Baraulina [u.a.]. Nürnberg, Eschborn 2011. S. 216–239. 21 Portes, Immigrant (wie Anm. 15). 22 Hunger, Uwe: Vier Thesen zur deutschen Entwicklungshilfepolitik für Indien. In: Aus Politik und Zeitgeschehen 27 (2005). S. 12–18. Thränhardt, Dietrich: Entwicklung durch Mi-

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für Migrantenorganisationen: die Mitglieder gut vernetzter Migrantenorganisationen bringen oft ihr Wissen und ihre Ressourcen sowohl im Aufnahmeland als auch im Herkunftsland gewinnbringend ein. Sie sind damit nicht nur wichtige Handelnde im Integrationsprozess, sondern auch immer bedeutendere Organisationen für einen transnationalen Wissenstransfer und für die Entwicklung ihrer Herkunftsländer.23

Das transnationale Engagement von Migrantenorganisationen im schulischen Bereich Ein erfolgreiches Beispiel migrantischer Selbstorganisation im Bildungsbereich in Deutschland ist die Gründung spanischer Elternvereine seit den 1970er Jahren.24 Nachdem im Zuge des Anwerbeankommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Spanien im Jahr 1960 hunderttausende Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus Spanien nach Deutschland kamen, gründeten sie mit Unterstützung der spanischen Kirche und deutscher Gewerkschaften eigene Elternvereine. Diese Vereine organisierten sich 1973 im Bundesverband der spanischen Elternvereine, die mit anderen gleichartigen Elternvereinen in Frankreich und der Schweiz in Kontakt standen und bald auch von der deutschen Bischofskonferenz gefördert wurden.25 Die spanischen Elternvereine in der Bundesrepublik Deutschland standen nicht nur den Eltern zur Seite und klärten sie über Fragen zur Beschulung ihrer Kinder im deutschen Bildungssystem auf, sondern setzten sich auch bildungspolitisch für die Aufnahme der spanischstämmigen Schülerinnen und Schüler in die Regelklassen im deutschen Schulsystem ein. Denn in einigen Bundesländern wurden noch bis in die 1990er Jahre zahlreiche Lernende mit Migrationshintergrund in so genannten „Ausländerklassen“ beschult.26 Auch die Sonderschulquote war unter Schülerinnen und Schülern mit gration: ein neuer Forschungsansatz. In: Aus Politik und Zeitgeschehen 27 (2005). S. 3–11. Riester, Andrea: Diasporas im Vergleich: Bedingungen des entwicklungspolitischen Engagements afrikanischer Migranten in Deutschland. In: Potenziale der Migration zwischen Afrika und Deutschland. Beiträge zu Migration und Integration. Band 2. Hrsg. von Tatjana Baraulina [u. a.]. Nürnberg, Eschborn 2011. S. 275–291. 23 Hunger, Migrantenselbstorganisationen (wie Anm. 4). Portes, Immigrant (wie Anm. 15). Faist, Transnational (wie Anm. 16). 24 Thränhardt, Entwicklung (wie Anm. 22). 25 Calero, Mercedes Martínez u. Sigurður A. Rohloff: Bürgerschaftliches Engagement und Bildungserfolg. Spanische MigrantInnen der ersten Generation und ihre Nachkommen in Deutschland. Wiesbaden 2016. 26 Hunger, Uwe: Bildungspolitik und „institutionalisierte Diskriminierung“ auf Ebene der Bundesländer. Ein Vergleich zwischen Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Nordrhein-

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einem ausländischen Pass deutlich höher als bei denjenigen mit deutschem Pass.27 Das Engagement der spanischen Elternvereine hat letztlich dazu beitragen, dass für Schülerinnen und Schülern mit spanischem Migrationshintergrund diese bildungspolitische Segregation weitestgehend aufgehoben wurde. Dies führte zu messbaren Bildungserfolgen, insbesondere im Vergleich zu anderen, weniger organisierten Gruppen von Migrantinnen und Migranten.28 Diesen frühen Beispielen in der Bundesrepublik folgten in den letzten Jahren zahlreiche Neugründungen von Elternvereinen anderer Herkunftsländer. In den 1990er Jahren gründeten sich zahlreichen Bildungsinitiativen und Elternvereine von migrierten Personen, die zum Beispiel aus der Türkei oder Kroatien kamen und die mit ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement die Bildungschancen ihrer Nachkommen verbessern wollten.29 Insbesondere das bundesrepublikanische Schulsystem, das in den alten Bundesländern erst in den letzten Jahren auf einen ganztäglichen Schulbetrieb umstellte, baut maßgeblich auf privat organisierte Unterstützung – ob durch die Eltern oder Nachhilfeinitiativen. Weil vielen Eltern, die nach Deutschland eingewandert sind, für diese Unterstützung schlichtweg die notwendigen Ressourcen und Kompetenzen fehlten, erhielten sie Unterstützung von zahlreichen Migrantenorganisationen. Die griechischen Migrantinnen und Migranten errichteten sogar eigene griechische Privatschulen in der Bundesrepublik Deutschland, die mit Unterstützung des griechischen Staates seit Anfang der 1970er Jahren zunächst muttersprachlichen Unterricht anboten, insbesondere zur Pflege von Sprache und Kultur. 30 Ab den 1980er Jahren setzen sie aber immer stärker auf mehrsprachigen Unterricht und richteten sich auf diesem Weg insbesondere an Schülerinnen und Schüler, die Probleme in öffentlichen Schulen in Deutschland hatten. Zwar konnten die Absolventinnen und Absolventen der sogenannten griechischen Gymnasien mit ihrem Abschluss – der in Deutschland als Realschulabschluss anerkannt wurde – nicht in Deutschland studieren. Allerdings konnten sie mit dem erworbenen Abschluss in Griechenland wiederum eine Aufnahme-

Westfalen. In: Integrationspolitik in föderalistischen Systemen. Hrsg. von Lale Akgün u. Dietrich Thränhardt. Münster 2001. S. 119–136. 27 Pichler, Edith: Junge Italiener zwischen Inklusion und Exklusion. Berlin 2010. 28 Thränhardt, Entwicklung (wie Anm. 22). 29 Winterhagen, Jenni: Katholischer Nationalkatholizismus und funktionale Integration. Die kroatischen Gemeinden in Deutschland. In: Migrantenorganisationen. Engagement, Transnationalität und Integration. Hrsg. von Günther Schultze u. Dietrich Thränhardt. Bonn 2013. S. 32–41. 30 Tsiatsios, Antonios: Die griechischen Privatschulen in der BRD und deren Beitrag zur erfolgreichen gesellschaftlichen Positionierung ihrer Schüler. Exemplarisch aufgezeigt am Beispiel einer Grundschule in Düsseldorf. Regensburg 2012.

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prüfung für griechische Hochschulen absolvieren, mit der sie auch eine Hochschulzugangsberechtigung in der Bundesrepublik Deutschland erwarben. Damit eröffneten sie den Absolventinnen und Absolventen – über den transnationalen Umweg – Möglichkeiten für einen bildungspolitischen Aufstieg in der Bundesrepublik. Mittel- und langfristig hat sich dieses bildungsbezogene Engagement positiv auf die Teilhabe in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen – zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt – ausgewirkt.31 Ähnliche bildungsbezogene Bestrebungen sind unter chinesischen und mexikanischen migrierten Personengruppen in den USA zu beobachten. Während sich die chinesischen vorwiegend in rein chinesischen Vereinen organisierten, schlossen sich die mexikanischen Migrantinnen und Migranten neben kleineren Hometown Associations (HTA), deren Mitglieder meistens aus derselben Herkunftsgemeinde in Mexiko kommen, auch mit anderen lateinamerikanischen Migrantinnen und Migranten in pan-ethnischen Latino-Organisationen zusammen, um gemeinsam für ihre geteilten Anliegen als Latinos zu kämpfen. Die relativ schlechten Bildungschancen ihrer Kinder, also der zweiten und dritten Einwanderergeneration32 sahen sie insbesondere in einer sozialen und institutionellen Diskriminierung gegenüber Latinos in den USA.33 Ein prominentes Beispiel ist zum Beispiel die Latino-Migrantenorganisation League of United Latin American Citizens (LULAC), die bereits 1929 gegründet wurde und sich neben Arbeitsrechten auch für mehr Bildungsgerechtigkeit und bessere Schulbildung für Latinos in den USA einsetzte. Dabei konzentrierten sie sich vor allem auf öffentlichkeitswirksame Aktionen wie Demonstrationen sowie auf einen engen Austausch mit Schulen. Ziel war die Sensibilisierung der Schulleitungen für die speziellen Bedürfnisse lateinamerikanischer Einwandererkinder. Ferner haben sie sich für mehr Einstellungen von Latino-Lehrkräften im Süden der USA eingesetzt. Die chinesischen Migrantinnen und Migranten hingegen konzentrierten sich vor allem auf schulische Hausaufgaben- und Nachhilfe sowie auf das Unterrichten der englischen Sprache. Dabei organisieren sie sich vor allem in gro-

31 Thränhardt, Migrantenorganisationen (wie Anm. 2). 32 Vor allem auch im Vergleich zu den erfolgreicheren asiatischen Einwanderungsgruppen, siehe Fernandez-Kelly, Patricia u. Alejandro Portes: Exceptional Outcomes. Achievement in Education and Employment among Children of Immigrants. Annals of the American Academy of Political and Social Science. Los Angeles 2008. S. 21. Portes, Alejandro u. Rubén Rumbaut: Immigrant America. 4 Aufl. Berkeley 2013. S. 68. 33 Ähnliches gilt auch für die Black Americans, die ebenfalls geringe Bildungserfolge im Vergleich zur weißen Mehrheitsbevölkerung aufweisen. Vgl. hierzu Kasinitz, Philip: Becoming American, Becoming Minority, Getting Ahead. The Role of Racial and Ethnic Status in the Upward Mobility of the Children of Immigrants. In: The ANNALS of the American Academy of Political and Social Science 620 (2008) 1. S. 128–148.

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ßen Dachverbänden mit mehreren hunderttausend Mitgliedern, darunter zum Beispiel die Chinese Consolidated Benevolent Association (CCBA), die nach wie vor Einrichtungen in mehreren US-Großstädten hat.34 In den letzten Jahrzehnten haben sich die mexikanischen Migrantenorganisationen mehr und mehr entlang spezieller Interessen und Ziele organisiert. Dies hat mit der zunehmenden Heterogenität der mexikanischen Migrantinnen und Migranten zu tun. Waren es bis in die 1980er Jahre noch überwiegend Mestizos (Mexikanerinnen und Mexikaner mit europäischen und indigenen Vorfahren), die in die USA einwanderten, sind in den letzten 30 Jahren schätzungsweise über eine Million indigene mexikanische Einwanderer wie Zapotecos, Mixtecos oder Mayas als Indocumentados – Personen mit irregulärem Aufenthaltstitel – vorwiegend nach Kalifornien und Texas gekommen.35 Die größte indigene mexikanische Migrantencommunity ist in Los Angeles ansässig. Die im Jahr 2010 gegründete Migrantenorganisation InstOax setzt sich ausschließlich und in vielfältiger Weise für die Bildungsbelange indigener Kinder und Jugendlicher sowohl in Los Angeles als auch in den Herkunftsgemeinden der Migrantinnen und Migranten im Süden Mexikos ein. Dazu gehören neben der direkten Hilfe für indigene Schülerinnen und Schüler sowie Studierende – zum Beispiel durch Stipendienvergabe, Hausaufgaben- und Nachhilfe, finanzielle Unterstützung für den Kauf von Unterrichtsmaterialien sowie die Bezahlung von Schul- und Studiengebühren – auch die Beratung und Unterstützung von häufig überforderten Eltern. Dabei geht es vor allem um die Beratung der Eltern in Bezug auf die Weiterbildungs- und Studienmöglichkeiten für ihre Kinder. Obwohl indigene Kinder und Jugendliche im Schnitt bessere Schulergebnisse erzielen als ihre mestizianischen Mitschülerinnen und Mitschüler, gehen deutlich weniger von ihnen auf ein College oder eine Universität.36 InstOax versucht die Eltern über die zahlreichen Weiterbildungs- und Studieneinrichtungen in Los Angeles zu informieren. Viele indigene Eltern ignorieren diese staatlichen Bildungsmöglichkeiten, weil sie die Zukunft ihrer Kinder eher in einfacher zugänglichen Berufsfeldern wie im Restaurant-, Hotel- oder Kfz-Gewerbe sehen. Dabei kooperiert InstOax mit verschiedenen Schulen und Universitäten, um die indigenen Schülerinnen und Schüler frühestmöglich mit höheren Bildungseinrichtungen in Kontakt zu bringen. Dazu gehören die University of California, Los Angeles, 34 Portes, Alejandro u. Min Zhou: Transnationalism and Development: Mexican and Chinese Immigrant Organizations in the United States. In: Population and Development Review 38 (2012) 2. S. 192–220. 35 Rivera-Salgado, Gaspar: The Right to Stay Home. Equity and the Struggle of Migrant Indigenous People. Los Angeles 2013. 36 Vásquez, Rafael: Ethnic Identity and Academic Achievement of Zapotec and Mestizo High School Youth in Greater Los Angeles. Dissertation. Los Angeles 2012.

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und die private Loyola Marymount University, die regelmäßig Schnupperkurse anbieten. Zudem bieten diese Universitäten spezielle Betreuungs- und Beratungsprogramme für Studierende aus Migrantengruppen an. In diesem Sinne nimmt InstOax – ähnlich wie dies spanische Elternvereine in Deutschland taten – eine Vermittlerrolle zwischen der relativ geschlossenen indigenen mexikanischen Migrantencommunity und den kalifornischen Bildungseinrichtungen wie Schulen, Colleges und Universitäten ein.37 Somit kann das bildungsbezogene Engagement der indigenen Migrantinnen und Migranten zum Schulerfolg und zu den steigenden Zahlen indigener Studierender an kalifornischen Hochschulen beitragen.38 Neben dem Einsatz für indigene Schülerinnen und Schüler in den USA kümmern sich die indigenen Migrantenorganisationen zugleich um die Bildungsbelange jener Schülergruppen in Mexiko. Während die Kinder von indigenen Migrantinnen und Migranten mittlerweile trotz aller finanzieller, sozialer und institutioneller Barrieren relativ gute Bildungsmöglichkeiten in Kalifornien genießen, haben indigene Kinder in Mexiko nur eingeschränkte Bildungschancen. Dies liegt vor allem an der starken Isolierung ländlich geprägter indigener Kommunen, in denen zumeist nur die indigene Sprache gesprochen und kein Spanisch gelehrt wird. Insgesamt wird schulischer Bildung kein besonders hoher Wert beigemessen, denn viele konzentrieren sich traditionell eher auf die handwerkliche und landwirtschaftliche Ausbildung ihrer Kinder. Dies liegt auch an der fehlenden Unterstützung von Schulen in ländlichen indigenen Gebieten durch den mexikanischen Staat, was unter anderem von der indigenen Migrantencommunity in Los Angeles stark kritisiert wird. Um dies zu ändern, versuchen die indigenen Migrantenorganisationen in den USA indirekten und direkten Einfluss auf die politischen Entscheidungstragenden in Mexiko zu nehmen. So laden sie regelmäßig Gouverneurinnen und Gouverneure sowie Parlamentsmitglieder nach Los Angeles ein, um mit ihnen die schlechten Bildungsverhältnisse in indigenen Gemeinden in Mexiko zu diskutieren. Zudem organisieren die besagten Organisationen transnationale Demonstrationen, zeitgleich vor der mexikanischen Botschaft in Los Angeles und in anderen Städten in den USA sowie vor wichtigen Verwaltungsgebäuden in Mexiko, zum Beispiel dem Senatsgebäude in Mexiko Stadt. Dabei versuchen sie indigene Politikerinnen und Politiker für ihre Sache zu gewinnen. Neben diesen politischen Aktivitäten tragen sie direkt zu einer Verbesserung der Schulen in den indigenen Gemeinden bei, insbesondere über zahlreiche translokale Vernetzungen ihrer HTAs, vor allem mit lokalen Verwaltungen in den indigenen Herkunftsgemein37 Krannich, Reconquest (wie Anm. 10). 38 Vásquez, Ethnic (wie Anm. 36).

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den sowie Organisationen und Unternehmen anderer Migrantengruppen in Los Angeles wie zum Beispiel der guatemaltekischen oder koreanischen Community. Über die HTAs schicken die indigenen Migrantinnen und Migranten für den Bau oder die Restaurierung von Schulen Gelder, die sie unter den Mitgliedern der Migrantencommunity gesammelt haben. Zudem senden sie Schulmaterialien oder Computer in die Herkunftsgemeinden. In einer Kommune in Mexiko konnten neue Lehrkräfte eingestellt werden, die von Mitgliedern der Community in Los Angeles finanziert werden. In einer anderen Herkunftskommune konnte mit Hilfe der Migrantencommunity in Los Angeles eine komplett neue Schule mit zwölf Unterrichtsräumen gebaut und mit moderner Technik, unter anderem mit Laptops und Beamern, eingerichtet werden. Die Vorsitzenden der HTAs besuchen die Schulen in den Herkunftsgemeinden regelmäßig und machen sich ein Bild von der Entwicklung vor Ort. Dabei erhalten sie von den Lehrenden wichtige Informationen darüber, an welchen Stellen es Probleme gibt und wie die Migrantencommunity in den USA helfen könnte, diese zu lösen.39

Das transnationale Engagement von Migrantenorganisationen im universitären Bereich Zahlreiche Initiativen von migrierten Personen lassen sich im universitären Bereich ausmachen. Im Rahmen einer Studie zum entwicklungspolitischen Engagement von marokkanischen Migrantinnen und Migranten zwischen Deutschland und Marokko wurden einige Studierenden-Initiativen ausgemacht, die einerseits als Selbsthilfe-Organisationen Beratungsangebote für Studierende der jeweiligen Universitäten anboten.40 Andererseits richtete sich ihr Angebot auch an interessierte Studierende in Marokko. Ein Beispiel ist in diesem Kontext das Studierendennetzwerk Dayzine, was übersetzt so viel wie unterwegs bedeutet. Dayzine wurde im Jahr 2009 von Studierenden der Universität Bochum und der FH Düsseldorf initiiert. Die Gründungsmotivation war, neu in Deutschland ankommende marokkanische Studierende bei ihrem Studium zu unterstützen. Das Angebot erfuhr eine so starke Nachfrage, dass es bald erweitert werden musste. Insgesamt richtet sich Dayzine an drei Zielgruppen: erstens am Studium Interessierte in Marokko, zweitens marokkanische Studierende in Deutschland und drittens marokkanische Absolventinnen und Absolventen in Deutschland. Für diese Zielgruppen bietet das Netzwerk persönliche Beratung, Workshops und Seminare in Deutschland sowie in Kooperation mit dem Goethe-Institut und pri39 Krannich, Reconquest (wie Anm. 10). 40 Metzger, Engagement (wie Anm. 10).

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vaten Sprachschulen auch in Marokko an. Über die Webseite des Netzwerks, ein Webradio und Online-Workshops, erreicht Dayzine zahlreiche Studierende und Studieninteressierte. Der Facebook-Seite von Dayzine folgen knapp 10.000 Menschen, davon nach eigenen Angaben etwa 3.000 in Deutschland und 7.000 in Marokko. Damit stellt Dayzine eine wichtige Institution transnationalen Wissenstransfers dar, wie es zahlreiche studentische Initiativen von migrantischen Studierenden an anderen Hochschulen in Deutschland leisten. Nicht selten sind Migrantenorganisationen im universitären Bereich im Rahmen von Städtepartnerschaften aktiv.41 In Bonn gibt es zum Beispiel eine systematische Einbindung von internationalen Studierenden in die städtepartnerschaftlichen Beziehungen. Zu jeder Städtepartnerschaft gibt es einen Partnerschaftsverein, in dem sich auch internationale Studierende entwicklungspolitisch engagieren. Bei der Entwicklung und Durchführung von solcherlei Projekten und Programmen geht die Initiative dabei oftmals von Migrantinnen und Migranten aus. So wird etwa das Projekt Kick and Learn mit Unterstützung der Stadt Bonn in der Partnerstadt Cape Coast in Ghana durchgeführt, das zu einer besseren Hochschul- und Sportbildung von ghanaischen Jugendlichen beitragen soll. Dieses Projekt wurde unter anderem von ghanaischen Migranten in Bonn angestoßen, die Mitglied im Partnerschaftsverein Bonn-Cape Coast sind. Die Stadt selbst konnte nach eigenen Angaben von den derlei Aktivitäten profitieren. So haben zum Beispiel die ghanaischen Akademiker im Partnerschaftsverein Bonn-Cape Coast zu einer Einführung des Masterstudiengangs NGOManagement an der Bonner Hochschule beigetragen. Dieser Studiengang basiert auf einem gemeinsamen Projekt zwischen der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und der University of Cape Coast in Ghana. Ziel ist ein kontinuierlicher Austausch von Studierenden, Lehrenden und Forschern. Ähnlich engagiert im Rahmen von Städtepartnerschaften sind Migrantenorganisationen in Ludwigsburg und Stuttgart. In den USA sind die Aktivitäten von Migrantenorganisationen im universitären Bereich besonders vielfältig.42 Ein großes Thema war in den letzten Jahren der Einsatz vieler Migrantenorganisationen für die gesetzliche Verabschiedung des sogenannten DREAM Acts (Development, Relief, and Education for Alien Minors), das es nicht dokumentierten Migrantinnen und Migranten erlauben würde, sich für staatliche finanzielle Unterstützung in den USA zu bewerben. Da die Studierenden mit irregulärem Aufenthaltstitel in Kalifornien vor allem aus 41 Hunger, Uwe; Krannich, Sascha u. Stefan Metzger: Integration und entwicklungspolitisches Engagement von Migranten auf der Ebene der Bundesländer und Kommunen. Wissenschaftliche Expertise im Auftrag der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Eschborn 2011. 42 Krannich, Reconquest (wie Anm. 10).

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lateinamerikanischen Ländern und China kommen, waren es überwiegend lateinamerikanische und chinesische Migrantenorganisationen, die sich für dieses Gesetz starkgemacht haben. Sie organisierten Demonstrationen und Veranstaltungen an Universitäten und luden verantwortliche Politikerinnen und Politiker dazu ein, um sie von der Notwendigkeit eines solchen Gesetzes zu überzeugen. Dies versuchten sie vor allem mit dem Argument, dass auch Studierende mit irregulärem Aufenthaltstitel sehr erfolgreich studieren und vom amerikanischen Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Bisher scheiterte das Vorhaben allerdings am Widerstand konservativer Vertreterinnen und Vertretern der Politik sowie aus dem Rechtswesen. Aufgrund der fehlenden politischen Unterstützung und der hohen finanziellen Hürden versuchen Migrantenorganisationen, Studierende auch direkt zu unterstützen. Die bereits oben angesprochene indigene mexikanische Migrantenorganisation in Los Angeles, InstOax, vergibt regelmäßig Stipendien an bedürftige indigene Studierende mit guten Hochschulleistungen. Die mit 500 USDollar monatlich dotierten Stipendien werden zu Semesterbeginn feierlich mit einer Urkunde an die Studierenden überreicht. Darunter sind indigene Studierende an renommierten kalifornischen Universitäten wie zum Beispiel der University of California, Los Angeles (UCLA). Überhaupt gibt es einige Paradebeispiele von indigenen mexikanischen Wissenschaftlern, die dank der Unterstützung der Migrantencommunity eine Hochschulkarriere eingeschlagen haben. Dazu gehören zwei Professoren von der UCLA, die sich in ihren wissenschaftlichen Arbeiten mit mexikanischer Migration auseinandersetzen und gleichzeitig in Migrantenorganisationen in Kalifornien und in ihrem Herkunftsland Mexiko aktiv sind. Sie waren beide bereits Vorsitzende einer Migrantenorganisation und leiten Bildungsworkshops zu Themen wie indigenes Empowerment oder der Hochschulpolitik in den USA. Die beiden sind somit ein gutes Beispiel für den fruchtbaren Zusammenhang zwischen der Integration im Aufnahmekontext und dem gleichzeitigen transnationalen Engagement im Herkunftsland. Noch weiter gehen die chiapanekischen Migrantenorganisationen in den USA, die in Kooperation mit der autonomen Universität Tuxtla Guttiérez in ihrem südmexikanischen Herkunftsstaat Chiapas ein Online-Studienprogramm für chiapanekische Migrantinnen und Migranten in den USA aufgebaut haben. Dieses Programm ermöglicht ihnen einen Bachelorabschluss von der autonomen Universität Tuxtla-Guttiérrez in den Bereichen Betriebswirtschaft, Tourismus und Informatik zu erwerben. Das Programm ist für viele chiapanekische migrantische Jugendliche attraktiv, weil ein Bachelorabschluss bereits nach zwei – anstatt der in den USA üblichen vier – Jahren für relativ geringe Gebühren (ca. 250 Dollar pro Semester) erworben werden kann. Allein im Jahr 2011 haben sich 50 Chiapanecos in dieses Programm eingeschrieben. Dieses

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transnationale Online-Programm ist auch als Antwort der Migrantenorganisationen auf den erschwerten Wissenszugang und die fehlenden Studienmöglichkeiten von illegalen Migranten in den USA zu verstehen.43

Das transnationale Engagement von Migrantenorganisationen im gesellschaftlichen Bereich Migrantenorganisationen leisten wichtige gesellschaftliche Bildungsarbeit. Dies kann ausschließlich innerhalb der Migrantenorganisationen unter den Mitgliedern geschehen, oder in Zusammenarbeit mit politischen Institutionen, Unternehmen oder anderen zivilgesellschaftlichen Partnern. So haben in Berlin-Neukölln zahlreiche Migrantinnen mit Unterstützung von kommunalen Stellen das Projekt „Stadtteilmütter“ initiiert.44 Nach Vorbild des Rucksack-Projekts in Rotterdam (Holland), wenden sich so genannte Multiplikatorinnen gezielt an migrierte Familien und packen ihnen einen Rucksack mit Informationen zur Förderung ihrer Kinder. Mit diesen Materialien zu den Themen Erziehung, Bildung und Gesundheit besuchen die Stadtteilmütter Einwandererfamilien in ihrem Stadtteil. Die Stadtteilmütter haben zumeist selbst eine Migrationsgeschichte und können die Situation der eingewanderten Familien aus eigener Erfahrung nachvollziehen. Zudem genießen sie aus diesem Grund oftmals mehr Vertrauen und besseren Zugang zu den Familien als herkömmliche in der Sozialarbeit tätige Personen.45 Um die Hausbesuche durchzuführen, werden die vormals arbeitslosen Frauen an über 30 Kurstagen fortgebildet. Das Projekt qualifizierte auf diesem Weg nach Angaben der Koordinatoren allein in der Pilotphase von 2006 bis 2008 mehr als 150 Frauen. Mittlerweile dient das Projekt als bundesweites Vorbild, das zahlreiche andere Mütter- und auch Väterprojekte in anderen Städten inspiriert. Sie regen dabei nicht nur andere Mütter zur Förderung ihrer Kinder an, sondern machen auch auf die Situation von Frauen mit Migrationshintergrund aufmerksam. Ähnlich wie die Stadtteilmütter leisten mittlerweile zahlreiche Migrantenorganisationen in Deutschland eine solche gesellschaftliche Bildungsarbeit, die über den schulischen und universitären Bereich weit hinausgeht.46

43 Krannich, Reconquest (wie Anm. 10). 44 Rehlinger, Alix: Stadtteilmütter in Neukölln. Pilotprojekt, Kurzbeschreibung. Berlin 2007. 45 Hunger, Metzger, Kooperationen (wie Anm. 10). 46 Großer-Kaya, Carina u. Özcan Karadeniz: Väter auf dem Weg. Erfahrungen und Herausforderungen der interkulturellen Väterarbeit. In: Engagierte Migranten. Teilhabe in der Bürgergesellschaft. Hrsg. von: Groß, Torsten [u.a.]. Schwalbach/Ts. 2017. S. 245–250.

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Ein Beispiel für den transnationalen Einsatz in diesem Bereich sind Fraueninitiativen, die von Migrantinnen in Deutschland gegründet wurden und andere Fraueninitiativen in ihren Herkunftsländern unterstützen. Die Gründungsmotivation ist dabei oftmals ein Selbsthilfe- und Empowerment-Gedanke, um zunächst die Situation der Frauen in Deutschland zu verbessern. Mittelfristig engagieren sich zahlreiche Projekte aber auch für Frauen in den Herkunftsländern, wie am Beispiel marokkanischer Frauengruppen in Deutschland deutlich wird.47 Da Frauen bisher kaum in herkömmlichen Migrantenorganisationen aus Marokko partizipierten, gründeten einige Frauen eigene Initiativen in Aachen und Düsseldorf – so etwa den Verein Oum el Banine, der 2008 von einer Gruppe Frauen mit marokkanischem Migrationshintergrund ins Leben gerufen wurde. Der Verein richtet sich insbesondere an Frauen und Mütter aus Düsseldorf, die aus Marokko und aus anderen Maghreb-Ländern stammen. Zusammen mit anderen marokkanischen Migrantenorganisationen sowie mit Unterstützung der marokkanischen Chaabi-Bank, die in Düsseldorf einen Sitz hat, bot der Verein Hausaufgabenhilfe für Jugendliche mit Migrationshintergrund in Düsseldorf sowie Lesenachmittage für Mütter und Kinder in der Stadtbücherei an. Transnational engagiert sich die Gruppe für eine Schule in Marokko, außerdem sammelte sie in Düsseldorf Säuglingskleidung für Krankenhäuser in Marokko. Auch der 2003 gegründete Verein Marokkanische Frauenvereinigung e.V. setzt sich mit seinen Mitgliedern in Aachen und Umgebung für Frauen und Kinder in Marokko ein. Nachdem eine kleine Gruppe des Vereins mit Unterstützung der staatsnahen Fundation Hassan II. Frauen in einem Dorf im Süden Marokkos besuchte, wollte die Gruppe den ortsansässigen Verein bei der Errichtung eines Frauenzentrums, das unter anderem für Bildungs-, Ausbildungs- und Beratungsprojekte genutzt werden soll, unterstützen. Diese Beispiele zeigen, wie bildungsbezogenes Engagement in Deutschland und im Herkunftsland Hand in Hand gehen. Mexikanische Migrantenorganisationen in den USA bieten EmpowermentWorkshops, die sich an indigene Migrantinnen und Migranten richten, in Kalifornien an. In diesen Workshops sollen sie lernen, mit alltäglicher Diskriminierung umzugehen und ihre Interessen und Ziele selbstbewusst zu artikulieren und zu verfolgen. Die Vorsitzenden der Migrantenorganisationen sehen diese Workshops deshalb als wichtige Bildungsmaßnahme, weil sie dabei helfen können in der Schule, der Universität und im Beruf erfolgreicher zu werden. Dabei sind viele indigene Jugendliche selbst aktiv und organisieren eigene Empowerment-Veranstaltungen und Programme. Dazu nutzen sie auch die sozialen Medien, um sich schneller auszutauschen und ihr Wissen transnational zu ver47 Metzger, Engagement (wie Anm. 10), S. 20–21.

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netzen. In der kalifornischen Stadt Oxnard gestaltet die indigene Jugendgruppe Tequio Youth Group das Projekt Don’t call me Oaxaquita, in dem sich indigene Studierende, vorwiegend ursprünglich aus dem mexikanischen Bundesstaat Oaxaca kommend, über ihre Diskriminierungserfahrungen austauschen. Zudem teilen sie Wissen über Universität, Jobsuche oder das alltägliche Zusammenleben aus. Die Projektveranstaltungen werden regelmäßig über soziale Medien verbreitet, unter anderem mithilfe eines projekteigenen YouTube-Kanals. Da die Veranstaltungen neben Englisch und Spanisch auch in indigenen Sprachen durchgeführt werden, wird das Angebot auch von indigenen Jugendlichen in Mexiko angenommen. Ähnlich nutzen andere Migrantenorganisationen die sozialen Medien zur Bildungsarbeit. Die transnationale Migrantenorganisation Frente Indígena de Organizaciones Binacionales (FIOB) – mit Organisationszweigen in Los Angeles, San Diego und Oaxaca – bietet indigene Sprachseminare für die jüngere Generation an. Damit verfolgt FIOB das Ziel, die Jugendlichen mehr mit der Sprache ihrer Vorfahren in Berührung zu bringen. Zuhause wird mit den Eltern vorwiegend Spanisch und in der Schule oder Universität Englisch gesprochen. Zudem werden sogenannte Sensibilisierungskurse für Polizisten oder Rechtsanwälte sowohl in den USA als auch in Mexiko von FIOB angeboten. In diesen Kursen geht es darum, die Behörden im Umgang mit und für die Belange von indigenen Migrantinnen und Migranten aufmerksam zu machen, um Fällen wie zum Beispiel dem folgenden vorzubeugen: ein indigener Migrant wurde von einem kalifornischen Polizisten verhaftet, nur weil der Polizist nicht wusste, dass die Person weder Englisch noch Spanisch verstand. Zu den zahlreichen transnationalen Bildungsinitiativen der Migrantenorganisationen im gesellschaftlichen Bereich gehören schließlich die finanzielle und ideelle Unterstützung von zivilen Bildungs- und Sprachprogrammen im Herkunftsland oder die Organisation von Bildungsreisen dorthin. Die indigene Migrantencommunity in Los Angeles organisiert zum Beispiel jährlich eine Reise für indigene Kinder und Jugendliche in die Herkunftskommunen ihrer Eltern in Mexiko. Die Absicht der Migrantenorganisationen ist es dabei, den Kindern und Jugendlichen die kulturellen Wurzeln ihrer Eltern näherzubringen und das indigene Wissen über Generationen weiterzugeben. Das Reiseprogramm besteht deswegen aus Besuchen von Schulen und Universitäten, Museen und Theatern, historischen und archäologischen Stätten sowie politischen Institutionen und lokalen Behörden. Dadurch soll ein Bewusstsein unter den Kindern und Jugendlichen für die indigene Identität der Eltern und deren transnationales Engagement geschaffen werden. Viele von ihnen haben durch die Reise zum ersten Mal Mexiko besucht und erst dadurch ein größeres Interesse für die Entwicklung des Landes entwickelt. Einige der Reiseteilnehmer wurden

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später aktive Mitglieder in den transnationalen Migrantenorganisationen in Los Angeles.48

Fazit Insgesamt wurde durch die empirischen Beispiele in Deutschland und den USA deutlich, dass zwischen Integration im Aufnahmekontext und Einsatzbereitschaft im Herkunftskontext kein Widerspruch besteht. Vielmehr legen die skizzierten Beispiele nahe, dass die gewonnenen Ressourcen durch die Selbstorganisation sowohl dem Bildungserfolg im Aufnahmekontext als auch dem bildungsbezogenen Engagement im Herkunftskontext zugutekommen können. Das angesprochene Engagement äußert sich in unterschiedlichen Formen und erstreckt sich auf unterschiedliche Bereiche – von der schulischen über die universitäre bis hin zur gesellschaftlichen Bildung. Dabei muss sich die migrantische Einsatzbereitschaft auf den einzelnen Gebieten nicht voneinander ausschließen. Im Gegenteil: Zumeist ergänzen sich die verschiedenen Aktivitäten und werden häufig parallel von ein und derselben Migrantenorganisation sowohl im Aufnahme- als auch im Herkunftsland durchgeführt. Dabei werden die Projekte zumeist von den Mitgliedern der Migrantenorganisationen selbst finanziert und häufig in Kooperation mit anderen zivilgesellschaftlichen, staatlichen sowie privatwirtschaftlichen Handelnden durchgeführt. Das beschriebene Engagement hängt jedoch stark von den mitgebrachten Ressourcen – dem ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital – der Beteiligten ab. Nur diejenigen Migrantinnen und Migranten, die über genügend finanzielle Mittel, ausreichend Zeit, das notwendige Wissen sowie die Kontakte und Netzwerke im Aufenthalts- und Herkunftsland verfügen, können es sich leisten in Migrantenorganisationen transnational aktiv zu sein. Die Erfahrungen der Menschen selbst und ihre persönlichen Interessen spielen eine entscheidende Rolle. Nicht jeder aus dem akademischen Bereich mit Migrationshintergrund engagiert sich in seiner Freizeit zivilgesellschaftlich in einer Migrantenorganisation. Und nur ein vergleichbar geringer Teil der Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland führt ein transnationales Leben. Ferner können die Möglichkeitsstrukturen im Aufnahme- und Herkunftsland das transnationale Engagement beeinflussen.49 Die kolumbianische Migrantengruppe in den USA war zum Beispiel aufgrund des politischen Konfliktes in Kolumbien über Jahrzehnte 48 Krannich, Reconquest (wie Anm. 10). 49 de Haas, Hein: Engaging Diasporas. How Governments and Development Agencies can support Diaspora

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kaum transnational aktiv.50 Zudem muss das transnationale Engagement von Migrantenorganisationen nicht zwangsläufig positive Auswirkungen im Herkunftsland haben.51 So kann es zum Beispiel sein, dass dadurch auch negative Entwicklungen angestoßen oder verschärft werden. Dies war zum Beispiel während des Balkankrieges in den 1990er Jahren der Fall, als sich kroatische Migrantengruppen im Ausland organisierten und mit Spenden und anderen Unterstützungsleistungen den Konflikt eher verschärften als befriedeten.52 Zudem können private oder kollektive Geldtransfers von Migrantenorganisationen zu Abhängigkeiten der Empfangenden in der Herkunftsländern führen, wenn das Geld nicht für Investitionen in Bildung, sondern für rein konsumtive Zwecke des alltäglichen Bedarfs ausgegeben wird.53 Dennoch haben die Beispiele gezeigt, dass die durch die Selbstorganisation gewonnenen Ressourcen sowohl für die Verbesserung der Situation im Aufnahme- als auch im Herkunftskontext genutzt werden können. Damit werden Migrantenorganisationen nicht nur zentrale Institutionen im Integrationsprozess, sondern auch wichtige zivilgesellschaftliche Bildungsakteure. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind gerade in Wissensgesellschaften wichtig, da sie das staatlich-organisierte Bildungssystem herausfordern, aber auch ergänzen und verbessern können. Migrantenorganisationen können sich dabei an gesellschaftliche Gruppen richten, die bisher teilweise nur schwer erreicht wurden. Auf dem Weg zu transnationalen „Bildungslandschaften“54 können Migrantenorganisationen eine wichtige Scharnierfunktion einnehmen, indem sie den Wissenstransfer von einem Land ins andere ermöglichen. Obwohl Migrantenorganisationen bereits in zahlreichen Projekten mit staatlichen Einrichtungen im Bildungsbereich zusammenarbeiten, haben die Staaten – sowohl der deutsche, der US-amerikanische sowie die, die Herkunftsländer betreffenden – noch nicht Involvement in the Development of Origin Countries. International Migration Institute, Oxford 2006. 50 Bouvier, Virginia: A Reluctant Diaspora? The Case of Colombia. In: Diasporas in Conflict. Peace-Makers or Peace-Wreckers? Hrsg. von Hazel Smith u. Paul Stares. Tokyo 2007. S. 129–152, hier S. 129. 51 Kapur, Devesh: Remittances: the new development mantra? G-24 Discussion Paper Series 29. Genf 2004, Rother, Stefan: Changed in migration? Philippine return migrants and (un) democratic remittances. In: European Journal of East Asian Studies 8(2) (2009). S. 245–274. 52 Smith, Hazel u. Paul Stares (Hrsg.): Diaspora in Conflict. Peace-Makers or Peace-Wreckers? Tokyo 2007. 53 Massey, Douglas u. Emilio Parrado: Migradollars. The Remittances and Savings of Mexican Migrants to the USA. In: Population Research and Policy Review 13 (1994). S. 3–30. 54 Mack, Wolfgang: Bildung in sozialräumlicher Perspektive. Das Konzept Bildungslandschaften. In: Lokale Bildungslandschaften. Perspektiven für Ganztagsschulen und Kommunen. Hrsg. von Peter Bleckmann u. Anja Durde. Wiesbaden 2009. S. 57–66.

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das gesamte bildungspolitische Potenzial von Migrantenorganisationen erkannt. Es bleibt daher spannend zu beobachten, wie sich das bildungsbezogene transnationale Engagement von Migrantenorganisationen weiterentwickeln und möglicherweise institutionalisieren wird, vor allem in der Zusammenarbeit mit anderen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren.

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Anna Kurpiel

Makedonische Flüchtlinge in Polen Selbstorganisation und Wissenszirkulation Bei nationalen, ethnischen oder religiösen Minderheiten widmen sich eigene Organisationen em Anliegen, die Verbindung zur ihrer Kultur, Tradition und nationalen Identität aufrechtzuerhalten. Sich in Organisationen zusammenzuschließen rührt aus der Absicht, einen institutionellen Raum in der Fremde zu gewinnen, der es ermöglicht, Wissen aus dem Heimatland zu transferieren und innerhalb der Minderheitengemeinschaft und über diese hinaus zu verbreiten. Dieses Wissen hat wiederum die Aufgabe, die nationale oder ethnische Identität bei dem Einzelnen und der Gruppe insgesamt zu stärken; auch soll es der Bevölkerungsmehrheit Kenntnisse über die Minderheit vermitteln. Allerdings waren und sind jedoch einige Minderheiten nicht in der Lage, effektive Organisationen aufzubauen. Ein Beispiel dafür sind die makedonischen Flüchtlinge des Griechischen Bürgerkriegs, die während der langen Dauer ihres Exils in Polen keine eigene, dauerhafte Organisation ins Leben gerufen haben, obwohl sich ihre Lage im Zuge der politischen und sozialen Umbrüche in Polen und Ostmitteleuropa verändert hat. Die politischen Rahmenbedingungen im Gastland und der Status der Minderheit sowie ihre vielgestaltigen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Abhängigkeiten sind Faktoren, die Selbstorganisation und Wissenszirkulation innerhalb des bestehenden Netzwerks beeinflussen. Dieser Beitrag stützt sich auf archivalische Erhebungen sowie Interviews mit Makedoniern, die als Flüchtlinge nach Polen gelangten.1 Ich möchte darlegen, wie diese sich organisierten, und unterteile besagten Vorgang in mehrere Zeitabschnitte. Diese bestimmen sich nach der jeweiligen politischen Situation in Polen und im damaligen Ostblock. Jede Etappe dieser Selbstorganisation brachte eine andere Art von Wissenszirkulation mit sich bzw. eine neue Variante davon, während der vorherige Wissensbestand negiert wurde; im Hinblick darauf kam es daher offenbar bei den Mitgliedern der Organisation zu einer kognitiven Dissonanz.2 1 Ich habe vierzig biographische Interviews durchgeführt mit Flüchtlingen, die heute in Polen, der Republik Makedonien und Kanada leben. Archivalische Erhebungen habe ich in folgenden Archiven durchgeführt: Archiv Neuer Akten (AAN), Warschau; Archiv des Instituts des Nationalen Gedächtnisses (AIPN), Warschau; Staatsarchive Wrocław (APWr) und Szczecin (APSz); Staatsarchiv Skopje. 2 Burke, Peter: What is History of Knowledge? Cambridge 2016. S. 8. https://doi.org/10.1515/9783110538076-004

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Wie Simone Lässig bemerkt, unterliegt das Wissen im Laufe der Geschichte ständigen Umformungen.3 Es wird in der Gesellschaft ausgehandelt und von vielen Seiten beeinflusst, was die makedonischen Bürgerkriegsflüchtlinge hervorragend exemplifizieren. Lässig betont die wechselseitige und untrennbare Abhängigkeit von Wissen und „Nichtwissen“ (Glauben, Überzeugungen).4 Bei der Wissenszirkulation unter den makedonischen Bürgerkriegsflüchtlingen fungierte als wesentlicher Bestandteil des „Nichtwissens“ eine Propaganda, wie sie von der Kommunistischen Partei Griechenlands (KPG) und der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR) eingesetzt wurde.5 Stärker als das Konzept Wissen ist Propaganda emotional gefärbt und situativ veränderlich; wird eine neue politische Plattform installiert, oktroyiert diese auch ihr eigenes Narrativ, wie die Realität zu sehen sei. Propaganda und Ideologie können somit als „strategische Praktiken“ aufgefasst werden.6 Die Makedonierinnen und Makedonier, die – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – lange Zeit eine Minderheit innerhalb der Minderheit bildeten, unterlagen aufgrund von Abhängigkeiten seitens Polens wie Griechenlands unablässig propagandistischer Pression. Das für die Minderheit essentielle Wissen um die eigene Identität, Kultur und Sprache veränderte sich im Verlaufe des Exils der Flüchtlinge aus Griechenland in Polen und wurde zudem politisch instrumentalisiert; dazu gehörte auch die Frage, ob ihnen überhaupt erlaubt werden sollte, sich zu organisieren. Der Propaganda und den sich mit der Zeit wandelnden Exilorganisationen stand das „volkstümliche“ oder „traditionelle Wissen“7 gegenüber, wie es von der älteren Generation und insbesondere den Frauen vermittelt wurde. Für diese Art von Wissen gab es jedoch im Zuge der makedonischen Selbstorganisation weder vor noch nach 1989 Platz. Daher ist hier nur am Rande hinzuzufügen, dass dieses Wissen vor allem Religion und religiöses Brauchtum einschloss, die beide im offiziellen Diskurs der Volksrepublik Polen untersagt waren.

3 Lässig, Simone: The History of Knowledge and the Expansion of the Historical Research Agenda. In: German Historical Institute Washington DC. Bulletin 59 (Fall 2016). S. 29–58. 4 Dazu schreibt Peter Burke: „As for historians, they are well advised to extend the concept of knowledge to include whatever the individuals and groups they are studying consider to be knowledge.“ Burke, What is History (wie Anm. 2), S. 7. 5 Die Propaganda stand im Dienst gleich mehrerer Ideologien, weil neben dem Kommunismus auch der Panhellenismus eine Rolle spielte. 6 Dazu McCarthy, E. Doyle: Knowledge as Culture. The New Sociology of Knowledge. London 1996. 7 Lässig, History of Knowledge (wie Anm. 3), S. 51.

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Wie ich des Weiteren darlegen möchte, führte die Abhängigkeit der makedonischen Minderheit von Griechenland, das eine Art kultureller Hegemonie8 ausübte, dazu, dass es den Makedonierinnen und Makedoniern in Polen schwer fiel, sich selbst zu organisieren. Eine weitere Folge war, dass ihr Wissen um die eigene Identität und Kultur schwand und allenfalls noch in entstellter Form nach außen, also in die polnische Mehrheitsgesellschaft hinein vermittelt werden konnte.

Zur Vorgeschichte der Flucht nach Polen Die Makedonierinnen und Makedonier waren politische Flüchtlinge, die gemeinsam mit der ethnisch griechischen Bevölkerung während und nach dem Griechischen Bürgerkrieg von 1946 bis 1949 nach Polen gelangten. Zwei Faktoren gaben den Ausschlag dafür, ob und wie sie an dem Krieg teilnahmen. Der erste Faktor war der geographische, da die slawischsprachige makedonische Bevölkerung den Nordteil des Landes bewohnte – Ägäis-Makedonien, denjenigen von drei Teilen des sogenannten Großmakedonien, der nach den Balkankriegen an Griechenland angeschlossen worden war.9 Diese Region befand sich unter der Kontrolle griechischer Partisanen, die als Demokratische Armee Griechenlands (Dimokratikos Stratos Elladas, DSE) kämpften, dem bewaffneten Arm der KPG. Viele Einwohner Nordgriechenlands wurden, häufig gegen ihren Willen, in die Einheiten des DSE eingezogen und kämpften damit auf Seiten der griechischen Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die monarchistische Rechte. Der zweite Faktor war ideologischer Natur. Viele Makedonierinnen und Makedonier waren Anhänger der griechischen KP, weil sie mit den Parolen von Internationalismus, Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger und eines kommunistischen Griechenland sympathisierten. Für sie war der Gleichheitsgrundsatz deswegen so wichtig, weil Griechenland gegenüber den Makedonierinnen und Makedoniern eine intensive Hellenisierungspolitik betrieb und die makedonische Sprache verboten war; makedonische Vor-, Familien- und Ortsnamen wurden ins Griechische übersetzt. Noch vor Ende des Bürgerkriegs entschieden die griechischen Kommunisten im Frühjahr 1948, alle Kinder im Alter von zwei bis vierzehn Jahren aus den 8 Dazu beispielsweise Jackson Lears, T. J.: The Concept of Cultural Hegemony: Problems and Possibilities. In: The American Historical Review 90:3 (1985). S. 567–593. 9 Die anderen beiden Teile sind Pirin-Makedonien, das Bestandteil von Bulgarien ist sowie Vardar-Makedonien, das zu Serbien gehört. Aus diesem formte Tito die Volksrepublik Makedonien, eine der föderativen Republiken Jugoslawiens.

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von ihnen kontrollierten Gebieten auszusiedeln. Offiziell hatte dies den Zweck, die Kinder vor dem eskalierenden Krieg zu schützen. Doch tatsächlich ging es vor allem darum, die Erwachsenen ohne Einschränkungen für die Kriegsanstrengung mobilisieren zu können, Frauen nicht ausgenommen. Die Kinder der griechischen Kommunisten gelangten nach Überquerung der Gebirgsgrenze zwischen Griechenland und Jugoslawien in die damals mit der KPG befreundeten Ostblockstaaten Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Polen, die Tschechoslowakei und die SBZ/DDR. Nach Polen kamen in drei Transporten etwa 3.300 Kinder, davon die Hälfte von Ihnen war makedonisch.10 Der Bürgerkrieg endete 1949 mit der Niederlage der Kommunisten. Das bedeutete für ihre Soldaten, deren Familien und die Bevölkerungsmehrheit von Ägäis-Makedonien das Exil. Ihr Fluchtweg führte nunmehr über Albanien. Wegen des Konflikts zwischen Josip Broz Tito und Stalin hatte Jugoslawien seine Grenze für die die KPdSU unterstützenden Griechen geschlossen und war für einige Jahre zum vorrangigen Feind für die griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge geworden. Die erwachsenen Flüchtlinge gelangten auf dem Land- und Wasserweg in dieselben Länder wie zuvor die Kinder, mit Ausnahme Jugoslawiens und der DDR; als Aufnahmeland kam die UdSSR hinzu. 1950 betrug die Gesamtzahl der Flüchtlinge in Polen 10.722, darunter 5.344 griechische und 5.378 makedonische.11 In den Anfangsjahren herrschte bei den Flüchtlingen aus Griechenland noch die Stimmung vor, in die Heimat zurückkehren zu wollen und den Kampf wieder aufzunehmen. Doch im Laufe der Zeit schwand diese Hoffnung. Für die Kinder, die zunächst in Niederschlesien in Erholungsheimen untergebracht waren, wurde eine zentrale Staatliche Erziehungseinrichtung in Zgorzelec (OstGörlitz) geschaffen, die später nach Police (Pölitz) bei Szczecin (Stettin) verlegt wurde. Auch die Erwachsenen wurden zuerst in Zgorzelec untergebracht, was den Ort über Jahre im Volksmund zur „griechischen Hauptstadt“ werden ließ; anschließend wurden sie über Unternehmen und Staatliche Landwirtschaftsbetriebe in den neuen polnischen Westgebieten und den Bieszczady (Ostbeskiden) verteilt. Die Tatsache, dass in der gegebenen politischen Situation eine Rückkehr ausgeschlossen war, führte zum Aufbau eigener Auslandsstrukturen und der führenden Organisation – dem Nikos-Belojannis-Verband der Politischen Flüchtlinge aus Griechenland in Polen, der bis Ende der 1980er Jahre die Tages-

10 Stand von 1950. AAN, Zentralkomitee der PZPR (KC PZPR) 237/ XXII-416, fol. 23, Berichtsnotiz, Frage der griechischen Flüchtlinge. 11 Ein kleiner Teil der Flüchtlinge bestand überdies aus Walachen. AAN, Zentralkomitee der PZPR (KC PZPR) 237/ XXII-416, fol. 23, Berichtsnotiz, Frage der griechischen Flüchtlinge.

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zeitung Dimokratis mit der makedonischsprachigen Beilage namens Demokrat herausgab. Damit waren Möglichkeiten der Wissenszirkulation geschaffen.

Die Exil-Organisationen im Überblick: Wissenszirkulation unter sich wandelnden politischen Vorzeichen Die Organisationsgeschichte lässt sich entlang der historischen und politischen Entwicklungsphasen im Ostblock und der jeweilig vorgegebenen Linie der kommunistischen Parteien schreiben, in diesem Falle also besonders der KPG und der PZPR. Der Verband der Politischen Flüchtlinge aus Griechenland in Polen (auch Belojannis-Verband genannt) war kurz nach der Ankunft in Polen gegründet worden und betreute sowohl griechische als auch makedonische Flüchtlinge. Letztere gründeten als Minderheit drei nur kurzlebige Organisationen, die recht bald von den polnischen Behörden für illegal erklärt wurden. Dies waren in den Jahren 1952–1956 die Organisation Ilinden und zu Beginn der 1960er Jahre die Agäische Morgenröte (Egejska Zora) und der Makedonische Verband (Makedonska Zajednica). Eine Zäsur bildet das Jahr 1984. Der Verband der Politischen Flüchtlinge aus Griechenland in Polen wurde aufgelöst. An seiner Stelle entstand die Gesellschaft der Griechen in Polen, die bereits vom Namen her offenbar den makedonischen Teil ausschloss. Dieser mussten sich also den griechischen Vereinen anschließen oder eigene Organisationen gründen. Zu diesem Zeitpunkt war die makedonische Minderheit kaum mehr wahrnehmbar. Die meisten Mitglieder waren bereits in den 1950er Jahren nach Bulgarien sowie in den 1960er und 1970er Jahren in die jugoslawische Volksrepublik Makedonien ausgereist. In Polen blieb, wer eine Familie mit einem polnischen Ehepartner gegründet hatte, sowie die wenigen, die als einzige Möglichkeit für sich die Ausreise nach Griechenland sahen, die aber weiter aus politischen Gründen unmöglich war.12 Die Zeit nach 1984 und der Auflösung des Flüchtlingsdachverbands lässt sich in zwei Unterabschnitte aufteilen: Zunächst die Zeit des Bestehens der Gesellschaft der Makedonier in Polen, die 1989 gegründet wurde, Flüchtlinge makedonischer Nationalität versammelte und Anfang des 21. Jahrhunderts wieder 12 Für die Makedonierinnen und Makedonier war zur Ausreise nach Griechenland eine Erklärung ihrer griechischen Herkunft erforderlich. Dies war inakzeptabel für alle, die sich so lange im Kampf um ihre eigene nationale Identität gesehen hatten.

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aufgelöst wurde, und weiterhin die jüngste Zeit, da vor einigen Jahren Internetportale aufkamen, über die sich die Makedonierinnen und Makedonier in Polen informell und selbständig informieren und miteinander in Kontakt treten können. Die Möglichkeiten der Wissenszirkulation hing für die makedonischen Personen in Polen lange Zeit engstens von der jeweiligen politischen Großwetterlage und der gerade verbindlichen Leitlinie von KPG, KPdSU und PZPR ab; heute dagegen kommt es ganz auf die kleine Minderheitengruppe an, die noch in Polen verblieben ist. Die von der KPG abhängigen Makedonierinnen und Makedonier hatten nur sehr geringe Möglichkeiten zu einer autonomen Betätigung. Andererseits konnte ihre Lage als Minderheit innerhalb der Minderheit sie möglicherweise zur Affirmation ihrer eigenen Identität besonders motivieren. Wie im Falle vieler anderer Organisationen, insbesondere solcher von Minderheiten und unter Verhältnissen eingeschränkter Bürgerrechte wie in Volkspolen, schwankte die Selbstorganisation der makedonischen Verbliebenen zwischen eigenen Bestrebungen und äußeren Limitationen.13 Aus wissensgeschichtlicher Perspektive bedeutete dies: Änderten sich die politischen Rahmenbedingungen, änderte sich auch die Art der Wissensirkulation massiv.

Kontroverse Inhalte und Varianten makedonischen Wissens Was die nationale Identität der aus Makedonien kommenden Personen in Griechenland wie im Exil zu einem heiklen Problem machte, war die sogenannte „makedonische Frage“. Die Identität der Makedonierinnen und Makedonier war zuerst während des „Balkanischen Völkerfrühlings“ Ende des 19. Jahrhunderts zur Sprache gebracht worden und wurde von den Achsenmächten konsequent in Frage gestellt, insbesondere von Griechenland und Bulgarien. Der langjährige Kampf, der einen Höhepunkt im Ilinden-Aufstand von 1903 fand, war getragen von der Bestrebung, einen selbständigen makedonischen Staat aufzubauen und Anerkennung für die eigenständige nationale Identität zu finden. Obwohl die KPG nationale Gleichheit postulierte, setzten sich die Versuche, die Makedonierinnen und Makedonier zu hellenisieren, auch in Polen fort – auch wenn dies nunmehr unter der Parole geschah, gemeinsam gegen den „Monarchofaschismus“ und für ein „kommunistisches Griechenland“ zu kämpfen und die Einheit der Partei zu wahren. 13 Dies kann in den Kategorien des Verhältnisses zwischen Wissen und Macht beschrieben werden; dazu Foucault, Michel: Archeologia wiedzy. Warszawa 1977.

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Ein gesondertes, wenn auch eng mit der Identitätsfrage verbundenes Problem war die Frage der makedonischen Sprache; dabei ging es darum, frei eines der verschiedenen Idiome sprechen und einen makedonischen Vor- und Familiennamen tragen zu dürfen.14 Anfangs war die makedonische Sprache verboten und galt als „titoistisch“, obwohl die makedonische Minderheit offiziell ein Recht auf Unterricht der Muttersprache hatte; zugleich war griechischer Sprachunterricht obligatorisch. Die Sprachfrage war nicht zuletzt deswegen so heikel, weil das Sprachverbot vor dem Krieg ein Instrument der griechischen Minderheitenpolitik gewesen war. Ein weiteres Problem war die Diskussion um das Heimatland. Es gab dafür drei Optionen: Griechenland als persönliche, engere Heimat, die Jugoslawische Republik Makedonien, die Tito aus einem der drei Teile des geteilten Großmakedonien als ideologisches „Vaterland“ gebildet hatte, oder auch, was in den ersten Jahren des Exils von der KPG lanciert wurde, Bulgarien.15 Welche dieser Optionen den Makedonierinnen und Makedoniern jeweils zugesprochen wurde, wechselte stets mit der politischen Lage im Ostblock.

Die Anfänge in den 1950er Jahren: Die Makedonierinnen und Makedonier in griechischen und eigenen Organisationen Die wichtigste Organisation, welche die Flüchtlinge aus Griechenland in Polen repräsentierte, war der Verband der Politischen Flüchtlinge aus Griechenland in Polen. Er entstand 1953, war als juristische Körperschaft anerkannt und durfte Zweigorganisationen im Land aufbauen.16 Sitz des Verbands war Wrocław (Breslau). Unter diesem Dachverband waren Regionalfilialen mit eigenen Stadt14 Die makedonischen Flüchtlinge führten sehr oft verschiedene Versionen ihrer Vor- und Familiennamen, eine griechische, eine makedonisch-bulgarische, eine makedonisch-jugoslawische und eine polnische: Daraus erklärt sich der Haupttitel meines Buches („Vier Vornamen, zwei Nachnamen“): Kurpiel, Anna: Cztery imiona, dwa nazwiska. Macedońscy uchodźcy wojenni na Dolnym Śląsku. Poznań 2015. 15 Ein Teil von Großmakedonien, Pirin-Makedonien, gehörte zu Bulgarien; dort waren folglich auch Makedonierinnen und Makedonier ansässig. Darüber hinaus lag die Kommunistische Partei Bulgariens auf einer Linie mit der KPG und der KPdSU und befand sich zwangsläufig im Widerspruch zur Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ). 16 Terzudis, Christos: Trzydziestolecie pobytu w Polsce uchodźców politycznych z Grecji i działalność ich Związku im. Nikosa Belojannisa (Wybrane problemy). In: Rocznik Dolnośląski 7 (1981). S. 237.

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vorständen tätig, die Aufenthalts- und Leseräume für die Flüchtlinge aus Griechenland betrieben, bei denen zusätzlich manchmal ein kleiner Beherbergungsbetrieb für griechische und makedonische Personen bestand. Im Laufe der Jahre änderte sich die Anzahl der städtischen Vereinsvorstände und der Kulturräume; gewöhnlich gab es um die dreißig, zum Beispiel waren es 1961 29 Leseräume, davon allein 17 in der damaligen Wojewodschaft Wrocław; 1965 waren es 30 Stadtvorstände, 1967 27, 1968 33.17 Den Statuten zufolge war der Belojannis-Verband „eine Massenorganisation zur Aufnahme von griechischen und makedonischen Emigranten, die sich auf dem Gebiet der Volksrepublik Polen aufhalten“.18 Neben ideologischen Parolen wie „Kampf um den Frieden“ und „Aufbau des Sozialismus“ waren Vereinszwecke: „die in der Form nationale, im Inhalt sozialistische griechische und makedonische Kultur zur vertiefen und zu entwickeln und dabei auf alle kulturellen, edukativen und sozialen Errungenschaften Volkspolens zurückzugreifen“, „die Jugend und die Älteren die griechische und makedonische Sprache, die Geschichte des Heimatlandes und seines Kampfes um soziale und nationale Befreiung zu lehren“ und „die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den griechischen und makedonischen Flüchtlingen und der griechischen Bevölkerung zu stärken und zu erweitern“. Verbandsmitglied konnte „jeder in der Volksrepublik Polen lebende Grieche und Makedonier“ werden.19 Wie erkennbar ist, sollte der Verband die Interessen von Exilierten aus Griechenland wie Makedonien gleichermaßen vertreten, doch lag die Zahl der makedonischen Mitglieder weit hinter den griechischen Genossen zurück.20 In den Dokumenten des Verbands wurden die Makedonierinnen und Makedonier bis Ende der 1960er Jahre genannt, stets nach dem Muster „die griechischen und makedonischen Emigranten“, „die griechischen und makedonischen Genossen“, etc. Bestimmte Veranstaltungen wie Lesungen und Vorträge richteten sich ausdrücklich an die makedonischen Mitglieder oder handelten von makedonischen Angelegenheiten, etwa der Vortrag Die slavomakedonische Sprache, eine Lesung zu makedonischen Angelegenheiten oder auch eine Musterunterrichtsstunde für Lehrer der makedonischen Sprache.21 Darüber hinaus beging der Ver17 AIPN, BU 1585/22385, Protokolle der Finanzrevision im Flüchtlingsverband. 18 Ein Entwurf der Statuten findet sich in AAN, 237/XXII – 853, fol. 8–13. 19 AAN, 237/XXII – 853, fol. 8f. 20 Anfang 1964 betrug die Mitgliederzahl des Verbands 8755, davon 7296 mit griechischer, 1443 makedonischer und 16 Personen mit ‚anderer Nationalität‘; dies war bereits nach der Massenausreise von Makedonierinnen und Makedoniern. AIPN, BU 1585/22390, Tätigkeitsbericht des Flüchtlingsverbands, 2.3.1964. 21 AIPN, BU 1585/22381, fol. 2f., Arbeitsplan des Flüchtlingsverbands für das 1. und 2. Quartal; Arbeitsplan für das 1., 2., 3. und 4. Quartal 1959 sowie Ausführung für das 1. und 2. Quartal.

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band makedonische Nationalfeiertage, vor allem den Jahrestag des Ilinden-Aufstands, denjenigen der Makedonischen Revolution und den der Gründung der Nationalen Befreiungsfront (Ethnikó Apelevtherotikó Métopo, EAM). Presseorgan des Belojannis-Verbands und wichtigstes Mitteilungsmedium der Exilgemeinschaft war die Zeitung Dimokratis, deren erste Nummer am 4. Juni 1950 erschien.22 Anfangs war der Dimokratis eine Tageszeitung, ab 1957 erschien er zweimal die Woche, ab April 1959 noch wöchentlich,23 ab 1976 nur noch einmal im Monat.24 Als die Entscheidung fiel, den Verband in die Gesellschaft der Griechen in Polen umzuwandeln, wurde auch beschlossen, die Zeitung einzustellen. Wie bereits erwähnt, gehörte zum Dimokratis eine makedonischsprachige Beilage mit dem Titel Demokrat; anfangs hatte diese drei Seiten (und fünf Seiten auf Griechisch), anschließend zwei (und zwei Seiten auf Griechisch). 1971 wurde jedoch die makedonische Beilage aufgegeben, und zwar mit einer einzigen Begründung: „Wegen der Ausreise der Makedonier [hauptsächlich nach Bulgarien, A. K.] verliert die makedonische Fassung der Zeitung ihre Existenzberechtigung.“25 Der Dimokratis befasste sich mit dem Leben der Emigrantinnen und Emigranten in Polen, mit Fragen der Gewerkschaften, mit Kultur sowie Bildung und mit aktuellen Vorgängen in Griechenland, die aus anderen Exilzeitungen entnommen waren. Die Informationen waren eingebettet in politische Kommentare mit einer stets linientreuen ideologischen Ausrichtung. Korrespondentinnen und Korrespondenten sowie Lesende versorgten das Blatt mit Informationen aus dem Emigrantenmilieu, die von schwankendem inhaltlichen und literarischen Wert waren.26 Gelegentlich gab es eine Rubrik über Sommerlager und Kinderheime, in denen auch Zuschriften der Kinder selbst abgedruckt wurden – allesamt im selben Propagandastil gehalten. Bis 1955 waren die Spalten angefüllt mit politischer Propaganda über die schlechte Lage in Griechenland unter der neuen Rechtsregierung. Im Kontrast dazu wurden die technischen Errungenschaften in Volkspolen und im Ostblock insgesamt gebührend berücksichtigt, etwa die Elektrifizierung des flachen Landes, die Wirtschaftspläne und dergleichen mehr. Seit 1955 änderte sich der Ton merklich. Es gab seither mehr Material zu Jugoslawien und der Welt insgesamt, Informationen zu den einzelnen kommunistischen Parteien wie der indonesischen, der französischen oder chinesischen, zu der Lage in Vietnam und in ausgewählten afrikanischen Län22 Wojecki, Mieczysław: Uchodźcy polityczni z Grecji w Polsce 1948–1975. Jelenia Góra 1989. S. 148. 23 APWr, 1262 1/23, Jahresplan von „RSW“ Prasa-Książka-Ruch in Wrocław für 1959. 24 AIPN, BU 1585/22394, Schreiben des Flüchtlingsverbands an „RSW“ Prasa-Książka-Ruch. 25 AIPN, BU 1585/22394, Schreiben des Flüchtlingsverbands an „RSW“ Prasa-Książka-Ruch. 26 APWr, 1262 1/26, 27, Jahresplan von „RSW“ Prasa-Książka-Ruch in Wrocław für 1963.

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dern. Zum Tag des Kindes gab es eine Kinderbeilage mit Ratespielen und Kreuzworträtseln. Ab diesem Zeitpunkt nahm die Zahl der Berichte über die Vorbereitungen zur Feier des Ilinden-Aufstands und anderen Festlichkeiten ab.27 Anscheinend erfüllte der Demokrat für die makedonischen Emigrantinnen und Emigranten in Polen nicht die ihm zugedachte Rolle, nämlich das Exil näher zusammenzubringen – auch wenn das Blatt seit 1956 und der Zeit seiner höchsten Aktivität Aufrufe brachte, sich aktiv zu beteiligen.28 Meist waren die makedonischsprachigen Seiten, auch wenn sie noch so ostentativ vorgewiesen wurden, nicht mehr als eine bloße Beilage zu der griechischen Zeitung. Die makedonischen Zeitzeugen können sich heute jedenfalls kaum mehr daran erinnern, was der Demokrat damals schrieb.29 Die Lage der Makedonierinnen und Makedonier in Griechenland und in Polen hing stark von der Kräfteverteilung in Europa ab. Der Konflikt zwischen Tito und Stalin warf unweigerlich seinen Schatten auf die ersten Jahre ihres Exils. Obwohl Jugoslawien zu den engsten Verbündeten der KPG gezählt hatte, ergriffen die griechischen Kommunisten nun Partei für Stalin und die KPdSU. Daher stellte Tito seine Hilfe für die griechischen Partisanen ein und wurde so zum Erzfeind der KPG, dem auch die Niederlage im Bürgerkrieg zum Vorwurf gemacht wurde. Für die Makedonierinnen und Makedonier in Griechenland hatte das kaum zu unterschätzende Folgen. Alles, was mit Makedonien und seinen Menschen zu tun hatte, wurde plötzlich unter Generalverdacht gestellt, galt als feindlich und wurde mit dem damals schlimmsten aller Etiketten versehen: „titoistisch“. Die makedonische Sprache galt als titoistisch, wurde verboten und durch die von der KPG propagierte „slavomakedonische“ Sprache ersetzt, die ein Gemisch aus Makedonisch, Bulgarisch und Russisch war. Makedonische Organisationen wie die Nationale Befreiungsfront (Narodnoosloboditelen Front, NOF) und die Antifaschistische Frauenfront (Antifašistki Front na Ženata, AFŽ), die vor und während des Bürgerkrieges aktiv gewesen waren, wurden gleichfalls als titoistisch denunziert und aufgelöst. Auf Initiative des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der KPG, Nikolaos „Nikos“ Zachariadis, wurde an ihrer Stelle die „slavomakedonische“ nationalrevolutionäre Organisation namens Ilinden gegründet. Ihren Namen bezog die Organisation von dem größten nationalen Befreiungsversuch Makedoniens; sie bestand von 1952 bis 1956 und Zachariadis’ Propaganda zufolge sollte sie alle 27 Jahrgänge des Dimokratis finden sich in der Jagiellonischen Bibliothek Krakau sowie im Schlesisch-Lausitzer Lesesaal der Universitätsbibliothek Wrocław. 28 Beispielsweise in der Ausgabe vom 25./26. November 1956. 29 Dies ist meine Schlussfolgerung aus den Interviews, die ich 2009–2011 führte.

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Ägäis-Makedonierinnen und -Makedonier versammeln, die über Ostmitteleuropa verstreut waren. Der Gründungskongress fand vom 1. bis 3. April 1952 in Krościenko im Karpatenvorland statt und unterstrich besonders die Notwendigkeit, um die nationalen Rechte und die Gleichberechtigung der makedonischen Menschen zu kämpfen und ihre Diskriminierung zu beenden.30 Der Demokrat berichtete über den Kongress, lobte den Enthusiasmus der Delegierten31 und betonte die Notwendigkeit, dass makedonische und griechische Menschen brüderlich Seite an Seite kämpften.32 „Unter dem Kampfeszeichen ‚Ilinden‘ soll sich die makedonische Nation entschlossen vorwärtsbewegen!“, lautete eine Schlagzeile.33 Trotz wortstarker Verlautbarungen und Ansprachen besaß die Organisation keinen großen Einfluss auf die makedonische Minderheit in Polen, weil sie bei formaler Autonomie unter dem Dach des Belojannis-Verbands tätig war. Die von Ilinden verkündeten Parolen waren typisch für die frühen 1950er Jahre. Charakteristisch waren ein aggressiver Ton und eine latente Paranoia, wobei unablässig der innere Feind unter den Emigrierten in Polen gesucht wurde. Tatsächlich wurden die makedonischen Menschen zu einem kollektiven Sündenbock, der sich ständig im Visier des polnischen wie des griechischen Geheimdienstes befand. Die sogenannte slavomakedonische Sprache der Vorträge und Lesungen hatte nicht viel mit der tatsächlich von den makedonischen Exilierten gesprochenen Sprache zu tun. Es ging nur oberflächlich darum, die Makedonierinnen und Makedonier in der Suche nach der eigenen Identität zu bestärken, das prioritäre Ziel war jedoch, Griechenland von der Rechtsregierung zu befreien. Daher blieb auch der Heimatstaat der makedonischen Menschen Griechenland oder gegebenenfalls Bulgarien, das Makedonien kulturell nahestand und auf derselben politischen Linie lag wie die KPG. Der Demokrat rief die Makedonierinnen und Makedonier in den 1950er Jahren zur Ausreise nach Bulgarien auf und berichtete über das ausgezeichnete Leben, das bereits Ausgereiste dort führten. Viele entschlossen sich daher zur Ausreise aus Polen, auch wenn sie dafür die bulgarische Staatsangehörigkeit annehmen mussten.

30 Kirjazovski, Risto: Makedonskata politička emigracja od egejskiot del na Makedonija vo istočna Evropa. Skopje 1989. 31 Dimokratis vom 6.4.1952. 32 Dimokratis vom 8.4.1952. 33 Dimokratis vom 9.4.1952.

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Tauwetter, Hoffnungen auf Selbständigkeit und eine neue Konzeption von „Vaterland“ Die Auflösung von Ilinden in Polen sowie anderen Ländern und vor allem die Änderungen innerhalb von KPG und PZPR nach dem Zwanzigsten Kongress des Zentralkomitees der KPdSU leiteten eine neue Etappe in der Geschichte der makedonischen Emigration in Polen ein. Darin sahen die makedonischen Exilierten – so wie andere nationale Minderheiten in dieser Zeit – eine Chance. Auch das Tauwetter in der KPG gab den makedonischen Aktivistinnen und Aktivisten wieder eine Stimme, die sich besonders in Zgorzelec, Legnica (Liegnitz) und Wrocław zu organisieren und für ihre nationalen Rechte zu kämpfen versuchten. Am 8. November 1956 schrieb der Demokrat unter der Überschrift „Ein makedonischer Verein wird gebraucht“: In der Volksrepublik Polen und anderen Ländern, in denen der Sozialismus herrscht und die nach der marxistisch-leninistischen Theorie regiert werden, besitzen die nationalen Minderheiten das uneingeschränkte Recht, zu leben wie vollberechtigte Staatsbürger, sie haben das Recht, frei zu leben und ihre Nationalkultur zu entfalten. Dieses Ziel genießt die volle Unterstützung der Regierung. In der Volksrepublik Polen lebt eine große Zahl makedonischer politischer Emigranten aus Ägäis-Makedonien, die sich danach sehnen, ihre Nationalkultur zu entwickeln, die makedonischen Gebräuche, zu lernen und ihre Muttersprache zu bereichern. Dieser ganz und gar berechtigte Wunsch zeigt sich in dem Bedürfnis, einen makedonischen Verein zu gründen, der diese Ziele koordinieren und anleiten würde.

Anschließend folgt der Vorschlag, den neuen Verein der PZPR zu unterstellen und sie unabhängig vom Belojannis-Verband zu machen, der, wie es heißt, „ernsthafte Mängel bei der Entwicklung der makedonischen Nationalkultur“ aufweise, da der Verband nicht in der Lage sei, „gleichzeitig zwei Nationalkulturen zu entwickeln“.34 Allerdings weigerte sich der Belojannis-Verband, die makedonischen Genossinnen und Genossen aus seiner Organisationsstruktur zu entlassen. Stattdessen entschuldigte er sich bei den makedonischen Mitgliedern für frühere Versäumnisse. Diese Entschuldigung und die Zusicherung bevorstehender Änderungen sollte offiziell belegen, dass ein neuer Verein der Existenzberechtigung entbehre. Dagegen wurde die Einheit der Partei betont. Wer sich abspalten wollte, wurde als „Revisionist“ bezeichnet. Daher beschloss die makedonische Gruppe, ihre Tätigkeit in der Illegalität fortzusetzen. Es folgte die Gründung zweier neuer Untergrundorganisationen: 34 Kirjazovski, Makedonskata politička emigracja (wie Anm. 30), S. 207f.

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die Ägäische Morgenröte in Legnica und die Makedonische Gemeinschaft in Szczecin. Ihre Ziele waren, die makedonische Jugend zu erziehen, Wissen über Makedonien, dessen Kultur, Sprache und politische Entwicklungen zu vermitteln und zugleich gegen Diskriminierungen der Makedonierinnen und Makedonier (nicht zuletzt innerhalb der Exilorganisationen) vorzugehen. Beide Organisationen verstanden sich als Antwort auf die obwaltende griechische Hegemonie und ihre Hauptaufgabe sahen sie in der Vermittlung von Wissen als Grundlage einer makedonischen nationalen Identität. Um dieses Ziel zu verfolgen, bedienten sich die Aktiven aller Art Aufrufe an die makedonischen Flüchtlinge, die in den Städten kolportiert oder von privat weitergereicht wurden. Außerdem wurden Schriftsätze an höhere Instanzen gesandt, in denen Beschwerden über die Lage der Makedonierinnen und Makedonier formuliert und um Abhilfe gebeten wurde.35 Beide Organisationen bestanden nur zwei Jahre, bevor die KPG sie auflöste36: die Morgenröte 1960/1961, die Gemeinschaft 1961/1962. Es ist wenig wahrscheinlich, dass sie über die lokale Dimension hinaus Widerhall bei der Minderheit fanden und dieser auf dem Weg zur nationalen Identität weiterhalfen. Mit dem Tauwetter nach Stalins Tod wurde der primäre Feind der KPdSU, Tito, rehabilitiert, daher kehrte Jugoslawien in den Diskurs von KPG und Belojannis-Verbands zurück und wurde damit auch für die makedonische Minderheit in Polen wieder zum Thema. Da die Mitglieder dieser Gruppe keine Möglichkeit sahen, in ihre Heimat in Griechenland zurückzukehren, wurde somit das ideologische Vaterland zu einer Option: die Volksrepublik Makedonien. Diese hieß nunmehr das „liebe Vaterland“.37 Die Korrespondenz zwischen den makedonischen Personen in Jugoslawien und Polen intensivierte sich, nicht zuletzt durch die Aktivitäten der Ägäischen Morgenröte und Makedonische Gemeinschaft. Auch im Demokrat trat die jugoslawische Teilrepublik in Erscheinung, diesmal in positivem Licht. Die Makedonierinnen und Makedonier reisten in großer Zahl aus Polen nach Jugoslawien aus. Wer sich dagegen zu bleiben entschloss, konnte die aus der Volksrepublik Makedonien gelieferte Zeitung Nova Makedonija („Neues Makedonien“) lesen. Auch wenn es keine fest strukturierte Selbstorganisation der Makedonierinnen und Makedonier mehr gab, so öffneten sich doch im Bildungsbereich neue Räume der Wissenszirkulation über Makedonien, seine Sprache und Kultur. So 35 APWr, Wojewodschaftsleitung der PZPR (KW PZPR), 74/XIV/34, fol. 78f., Aufruf „An alle Makedonier“, Abschrift des handschriftlichen Schreibens; Stadtarchiv (AM) 1.997.4.36/101– 102, Protest an den Landesrat des N. Belojannis-Verbands in der Volksrepublik Polen. 36 Kirjazovski, Makedonskata politička emigracja (wie Anm. 30). 37 AM, 1.997.4.36/102–103, Protest an den Landesrat des N. Belojannis-Verbands in der Volksrepublik Polen.

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wie sie ihres ideologischen Vaterlandes gewahr wurden, begannen die Makedonierinnen und Makedonier die der Hellenisierung wie auch die bulgarischen Einflüsse im Exil zu hinterfragen: „Sind wir denn Bulgaren, so dass der Verband uns bulgarisches Material liefert?“38 Auch die Verwendung der slavomakedonischen Sprache wurde zunehmend verweigert. Auf einem Fortbildungskurs für Lehrkräfte widersetzten sich diese der Kunstsprache erfolgreich, so dass das polnische Bildungsministerium entschied, in Polen neue Lehrbücher für die Sprache, Geschichte und Kultur Makedoniens zu erstellen, die in der makedonischen Literatursprache geschrieben sein sollten, wie sie offiziell in der jugoslawischen Teilrepublik benutzt wurde. Diese Lehrbücher wurden von makedonischen Flüchtlingen in Polen geschrieben, unter anderem von dem an der Universität Wrocław arbeitenden Kole Simiczijew (Simičiev). Auch unter den Kindern ließ sich damals ein stärkeres Interesse an Wissen über Makedonien als Ausdruck einer Identitätssuche beobachten. Dies geht aus der Magisterarbeit eines früheren Erziehers griechischer Kinder in Police, Edward Kaniuk, hervor.39 Interessanterweise waren die makedonischen Kinder damals, in den sechziger Jahren, bereits im hohen Maße polonisiert.40

Die Entwicklungen seit den 1980er Jahren: Der Verein der Makedonier in Polen Der Verband der Flüchtlinge aus Griechenland in Polen bestand bis 1984. In dem Jahr wurde er zum Verein der Griechen in Polen umgewandelt, dessen Hauptzweck die Pflege der griechischen Kultur im Ausland war. Die vorher im Verband mitgeführten makedonischen Mitglieder blieben damit außen vor, zumin38 AM, 1.997.4.36/102–103, Protest an den Landesrat des N. Belojannis-Verbands in der Volksrepublik Polen. 39 Kaniuk, Edward: Świadomość narodowa u dzieci greckich i macedońskich – wychowanków Państwowego Ośrodka Wychowawczego w Policach i jej wpływ na kształtowanie się postaw społecznych dzieci. Poznań 1962 (Typoskript im Besitz der Verf.). 40 Die Erziehung sah die Polonisierung als Methode zur Erziehung und Unterrichtung der Kinder aus Griechenland vor; dazu der Bericht von dem für die Erziehung Verantwortlichen: Sprawozdanie Dyrektora Naczelnego Państwowego Ośrodka Wychowawczego, magistra Wacława Kopczyńskiego, dotyczące przyjęcia dzieci z Macedonii Egejskiej. In: Makedonskite begalci vo Polska. Problemi na vospitanieto i obrazovanieto na decata i na mladinata. Dokumenši 1948–1975/Macedońscy uchodźcy w Polsce. Zagadnienia wychowania i kształcenia dzieci i młodzieży. Dokumenty 1948–1975. Bd. 1. Hrsg. von Petre Nakovski. Skopje 2008. Die Kinder eigneten sich die polnische Sprache und Kultur schnell an und wurden zu Übersetzerinnen undd Übersetzer für die erwachsenen Flüchtlinge; dazu Kurpiel, Cztery imiona (wie Anm. 14).

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dest offiziell. Tatsächlich aber blieben viele von ihnen auch in der griechischen Gesellschaft dabei, da sie das Herkunftsland über eine eigene makedonische nationale Identität stellten.41 Ein Teil der Betroffenen sah sich jedoch außerstande, sich mit der griechischen Organisation zu identifizieren. 1988 fand in Skopje, damals noch Hauptstadt der Föderativen Jugoslawischen Republik Makedonien, der erste Weltkongress der Flüchtlingskinder aus Ägäis-Makedonien statt, an dem auch eine große makedonische Gruppe aus Polen teilnahmen. Wahrscheinlich wurde unter dem Eindruck dieser Veranstaltung sowie der Gründung der weltweit tätigen Gesellschaft der Ägäis-Makedonierinnen und -makedonier (Nezaborav) in Skopje ein Jahr darauf der Verein der Makedonier in Polen gegründet, und zwar am 6. April 1989. Gründer und Vereinsvorsitzender war der in Gdańsk (Danzig) lebende Makedonier Mito Aleksowski (Aleksovski); gerade mit ihm wird der Verein bis zum heutigen Tag assoziiert und identifiziert. Am 10. Juni 1989 fand der erste Landeskongress der Makedonier in Polen statt. Daran nahmen etwa 50 Personen teil, darunter Makedonier aus verschiedenen polnischen Städten und geladene Gäste, unter anderem der Erste Botschaftsrat der jugoslawischen Botschaft, ein Vertreter des Wojewodschaftsamts in Gdańsk und ein Vertreter des dortigen Fremdenregistraturbüros. Trotz anfänglichen Interesses fiel der Verein der Makedonier jedoch rasch auseinander. Es wurde erstens nicht viel getan, um den Makedonierinnen und Makedoniern in Polen ein Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln. Die Anstrengungen des Gründers richteten sich darauf, das infolge des Griechischen Bürgerkriegs verlorene Eigentum zurückzuerhalten und Kriegsentschädigungen zu bekommen; ansonsten beschränkte er sich auf Aufrufe zur kritischen Lage der noch in Griechenland lebenden makedonischen Emigranten. Sehr viel weniger Zeit wurde dagegen auf die Vermittlung von Wissen über die makedonische Sprache und Kultur verwendet. Ein zweiter Faktor war die erfolgreiche Integration in Polen. Wer in Polen bleiben wollte, assimilierte sich meist an die Mehrheitsgesellschaft, besonders wer eine Ehe mit einem polnischen Partner einging. Damit ließ auch das Interesse an Makedonien oder einer Rückkehr nach Griechenland nach. Bezeichnend sind die Gründe, die eine Makedonierin für den Misserfolg der makedonischen Organisationsgründung angibt: Denn die Griechen schaffen das! Und sie haben solche [Organisationen]… ich weiß nicht, wieso. Ich kann das nicht verstehen. Irgendwie schaffen wir es nicht, uns zu [organisieren], jeder kocht sein eigenes Süppchen. Wir hatten nie ein Vaterland – vielleicht auch 41 So der Makedonier Konstaninos Christou, der in der Gesellschaft der Griechen in Westpommern aktiv ist.

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deshalb? Das kommt mir so vor, das kommt daher. Wirklich. Es gab keins, weil immer Krieg war. Um dieses Makedonien, um alles! Dass das… das kommt mir so vor, das ist die Ursache davon. Wirklich.42

Eine starke und sichere Identität begünstigt Affirmation innerhalb einer Minderheitenorganisation. Die Makedonierinnen und Makedonier, die zwischen ihrer verlorenen Heimat Griechenland, ihrem ideologischen Vaterland Republik Makedonien und ihrer neuen Heimat Polen schwankten, besaßen keine einfache Wahl bei der Selbstidentifikation. Der Misserfolg des Makedoniervereins lässt sich schließlich noch auf eine weitere Weise interpretieren. Als der Verband der Politischen Flüchtlinge aus Griechenland in Polen zerfiel, fanden sich die makedonischen Flüchtlinge in der Lage wieder, die sie eigentlich seit Langem herbeigesehnt hatten, nämlich der der völligen Selbstbestimmung. Doch nach der langen Abhängigkeit überwogen nun eher Ratlosigkeit und Resignation. Das Interesse galt ohnehin zunehmend weniger der Stabilisierung der Minderheitengruppe in Polen als vielmehr der Herausbildung einer transnationalen makedonischen Gemeinschaft in der ganzen Welt, gestützt vornehmlich auf Gruppen in Kanada und Australien. Die transnationalen Netzwerke erwiesen sich dabei als stärker als die lokalen. Viele Makedonierinnen und Makedonier unterhalten mittlerweile Kontakte zu anderen Kontinenten; die Hauptstadt der makedonischen transnationalen Gemeinschaft ist heute Toronto.43 Dies prägt auch die Wissenszirkulation.

Neue Wege der Gemeinschaftsbildung Einige Jahre lang verfügten die makedonischen Emigrierten in Polen über keine eigene Organisation; es gab auch keine Anstrengungen, sich auf nationaler oder lokaler Ebene selbst zu organisieren. Dies hat sich jedoch vor einiger Zeit geändert. Mit der Verbreitung des Internets und vor allem der sozialen Medien setzte eine bis jetzt andauernde Selbstorganisation in Netzwerken ein. Dazu gehören insbesondere Facebookgruppen und -seiten wie Freunde Makedoniens, von denen sich all diejenigen angesprochen fühlen sollen, die „sich für diesen schönen Ort auf der Erde voller Musik, Wein, Tanz, Geschichte und Hoffnung begeistern“. Daneben gibt es geschlossene Gruppen, deren Mitglieder sich für Makedonien und seine Menschen interessieren. 42 Interview mit Fota Sołomanow (Solomanov), 11.5.2011, Warschau. 43 Bei meinen Untersuchungen in Toronto stellte ich 2013 fest, dass die makedonischen Menschen aus Polen dort eine transnationale Untergruppe bilden.

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„Ich bin auch aus Makedonien, habe aber mit niemandem Kontakt. Meine Eltern leben nicht mehr, deshalb fürchte ich, meine Sprache zu vergessen. Gibt es eine Organisation, die Leute dieser Abstammung zusammenbringt?“, fragt im Blog Mein Makedonien Mirosława Koserka-Januszkiewicz.44 Die Antwort des Bloggers Zdravko Stamatovski lautet: „Ja, es gibt die Polnisch-Makedonische Gesellschaft und eine Gruppe von Makedoniern, die mit Polen zu tun haben, wir schreiben häufig in unserer eigenen Facebook-Gruppe ‚Makedonier in Polen‘.“ Die am 5. Februar 2013 ins Leben gerufene Gruppe umfasst 296 Personen;45 ihre Themen sind die Republik Makedonien und makedonische Angelegenheiten in Polen – Filme zum Balkan, makedonische Kulturtage, neue Publikationen über Makedonien usw. Die Mitglieder dieser Gruppe sind jedoch meist erst in den letzten zwanzig Jahren nach Polen gekommen, zum Beispiel als Studierende, oder auch polnische Liebhaber Makedoniens. Ähnlich verhält es sich mit der erwähnten Polnisch-Makedonischen Gesellschaft, die von einer Makedonierin aus Żyrardów in Masowien gegründet wurde. Für diesen Beitrag wichtiger erscheint noch eine andere Gruppe: ‚Griechen, Makedonier – Police, Szczecin, Pommern, Grenzgebiet‘. Diese wurde 2015 von dem Szczeciner Künstler und Fotografen Andrzej Łazowski als Kunstprojekt gegründet. Es handelt sich also nicht um eine griechische oder makedonische Initiative von unten, doch sieht es ganz danach aus, dass die Gruppe etabliert hat. Zwar dominieren in der Gruppe griechische Themen, wie sie vor allem von der Gesellschaft der Griechen Westpommerns in Polen publik gemacht werden, darunter Informationen aus Griechenland und über griechische Einrichtungen wie zum Beispiel Restaurants; zu sehen sind die griechische Fahne und die griechischen Nationalfarben; doch einige Einträge handeln von den Flüchtlingen makedonischer Nationalität, beispielsweise zur Fertigstellung und Aufführung des wegweisenden Dokumentarfilms Der Makedonier. Der Gruppe gehören 315 Mitglieder an,46 davon sind viele einstmalige Flüchtlinge, die trotz ihres Alters fleißig von den neuen Medien Gebrauch machen. Allem Anschein nach kommt die Gruppe sogar dem Bedürfnis nach, sich zu organisieren und zu treffen. Sie vermittelt Wissen über die griechische und in geringerem Umfang die makedonische Kultur, aber auch zum Alltagsleben der Makedonierinnen und Makedonier in Polen.

44 Moja Macedonia. Macedonia widziana oczyma Macedończyka mieszkającego w Polsce od ponad 25 lat. https://mojamacedonia.wordpress.com/moja-macedonia/macedonczycy-w-polsce/ (24.2.2018). 45 Stand vom 28.5.2017. 46 Stand vom 28.5.2017.

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Das Internet hat den über die Welt verstreuten makedonischen Menschen erleichtert, Kontakt zu halten und Informationen auszutauschen. Auch wenn einige Gruppen bestehen, überwiegen doch persönliche Kontakte zwischen Personen, die in Polen und vor allem in Makedonien oder Kanada leben. Die neuen Medien haben die Distanzen und die Hindernisse für eine weltumspannende Kommunikation schrumpfen lassen.47 Dagegen gibt es immer noch keine gemeinsame virtuelle Organisation der makedonischen Flüchtlinge aus Griechenland in Polen.

Fazit Die Selbstorganisation der Makedonierinnen und Makedonier in Polen illustriert ihre komplizierte Geschichte im Exil und steht in einem engen Zusammenhang mit Wissenstransfer sowie -zirkulation und dem jeweils konfligierenden oder dialogischen Verhältnis zwischen unterschiedlichen Wissensangeboten. In einer Zusammenfassung aller Etappen der makedonischen Selbstorganisation lässt sich erstens von einem Übergang aus dem Zustand kultureller Hegemonialisierung in einer postkolonialen Ratlosigkeit sprechen, was den Zusammenhang zwischen Wissen und Macht betrifft; zweitens von einer „griechischen“, „bulgarischen“ und „jugoslawischen“ Etappe, was die jeweils dominierende Ideologie und Propaganda betrifft; und drittens über die Wissenszirkulation beim Übergang von der Propagandapresse in den Zeiten des Kalten Krieges zu den egalitären sozialen Medien. Einen Wechsel der Perspektive stellt die Frage dar, wie das Verhältnis zwischen der makedonischen Selbstorganisation und der polnischen Mehrheitsbevölkerung aussah. Die Flüchtlinge aus Griechenland werden heute praktisch mit ethnischen Griechen gleichgesetzt und nur wenigen ist bekannt, dass in den frühen Jahren die Hälfte davon makedonischer Herkunft war.48 Zgorzelec, das bisweiligen immer noch ‚Griechische Republik‘ genannt wird, hat heute nicht nur einen „Griechischen Boulevard“ und zwei Gedenktafeln für die griechischen Flüchtlinge, sondern auch ein jährlich stattfindendes „Festival des Griechischen Lieds“. Von dem makedonischen Anteil dagegen ist nicht die 47 Beispielsweise Danforth, Loring M.: The Macedonian Conflict. Ethnic Nationalism in a Transnational Word. Princeton 1995; Briggs, Asa u. Peter Burke: Społeczna historia mediów. Od Gutenberga do Internetu. Warszawa 2010. 48 Zum wiederholten Mal bestätigte das die Diskussion, die unlängst durch die polnischen Medien ging anlässlich das Buches von Sturis, Dionisos: Nowe życie. Jak Polacy pomogli uchodźcom z Grecji. Kraków 2017.

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Rede. Die makedonischen Flüchtlinge des Griechischen Bürgerkriegs sind ein markantes Beispiel dafür, dass eine Minderheit ohne eigene Organisation kaum wahrgenommen wird. Sie braucht ein Organ, das sie im öffentlichen Raum repräsentiert und Wissen über ihre Kultur und Geschichte vermittelt. Die über Polen verstreuten Makedonierinnen und Makedonier sind auf sich allein gestellt zu schwach. Die Geschichte der makedonischen Minderheit in Polen fällt daher immer wieder in den Bereich von „Nichtwissen“ und „Nichtgedächtnis“. Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Quellen Archiwum Akt Nowych (AAN), Warschau: AAN, KC PZPR (Zentralkomitee der PZPR) 237/ XXII–416, fol. 23, 237/XXII – 853, fol. 8–13. Archiwum Instytutu Pamięci Narodowej (AIPN), Warschau: AIPN, BU 1585/22381, fol. 2f., BU 1585/22385, BU 1585/22390, BU 1585/22394. Archiwum Miejskie (AM), Wrocław: AM, 1.997.4.36/101–102, 1.997.4.36/102–103 Archiwum Państwowe, Wrocław: APWr, KW PZPR (Wojewodschaftsleitung der PZPR), APWr, 1262 1/23, 74/XIV/34, fol. 78f; Zeitung Deimokratis mit Beilage Demokrat, 1950–1984. Interviews Biographische Interviews, geführt von Anna Kurpiel, 2009–2011.

Literatur Briggs, Asa u. Peter Burke: Społeczna historia mediów. Od Gutenberga do Internetu. Warszawa 2010. Burke, Peter: What is History of Knowledge? Cambridge 2016. Danforth, Loring M.: The Macedonian Conflict. Ethnic Nationalism in a Transnational Word. Princeton 1995. Foucault, Michel: Archeologia wiedzy. Warszawa 1977. Jackson Lears, T. J.: The Concept of Cultural Hegemony: Problems and Possibilities. In: The American Historical Review 90:3 (1985). S. 567–593. Kaniuk, Edward: Świadomość narodowa u dzieci greckich i macedońskich – wychowanków Państwowego Ośrodka Wychowawczego w Policach i jej wpływ na kształtowanie się postaw społecznych dzieci. Poznań 1962. Kirjazovski, Risto: Makedonskata politička emigracja od egejskiot del na Makedonija vo istočna Evropa. Skopje 1989. Kurpiel, Anna: Cztery imiona, dwa nazwiska. Macedońscy uchodźcy wojenni na Dolnym Śląsku. Poznań 2015.

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Lässig, Simone: The History of Knowledge and the Expansion of the Historical Research Agenda. In: German Historical Institute Washington DC. Bulletin 59 (Fall 2016). S. S. 29– 58. McCarthy, E. Doyle: Knowledge as Culture. The New Sociology of Knowledge. London 1996. Moja Macedonia. Macedonia widziana oczyma Macedończyka mieszkającego w Polsce od ponad 25 lat. https://mojamacedonia.wordpress.com/moja-macedonia/macedonczycyw-polsce/(24.2.2018). Nakovski, Petre (Hrsg.): Makedonskite begalci vo Polska. Problemi na vospitanieto i obrazovanieto na decata i na mladinata. Dokumenši 1948–1975/Macedońscy uchodźcy w Polsce. Zagadnienia wychowania i kształcenia dzieci i młodzieży. Dokumenty 1948–1975. Bd. 1. Skopje 2008. Sturis, Dionisos: Nowe życie. Jak Polacy pomogli uchodźcom z Grecji. Kraków 2017. Terzudis, Christos: Trzydziestolecie pobytu w Polsce uchodźców politycznych z Grecji i działalność ich Związku im. Nikosa Belojannisa (Wybrane problemy). In: Rocznik Dolnośląski 7 (1981). S. 231–251. Wojecki, Mieczysław: Uchodźcy polityczni z Grecji w Polsce 1948–1975. Jelenia Góra 1989.

Stefan Esselborn

Afrikawissen in Bewegung Internationale Afrikaforschung im Zeitalter der Dekolonisierung und die Rolle des International African Institute (IAI) A painting used to hang in the ante-room of former President Kwame Nkrumah. The painting was enormous, and the main figure was Nkrumah himself, fighting, wrestling with the last chains of colonialism. The chains are yielding, there is thunder and lightning in the air, the earth is shaking. Out of all this, three small figures are fleeing, white men, pallid. One of them is the capitalist, he carries a briefcase. Another is the priest or missionary, he carries the Bible. The third, a lesser figure, carries a book entitled ‘African Political Systems’: he is the anthropologist, or social scientist in general. If the chains symbolize political colonialism, the fleeing men symbolize economic, cultural and scientific colonialism respectively.1

Wissen in Bewegung – diese Diagnose passt auf die internationale Afrikaforschung zwischen 1945 und 1965 in mehr als einer Hinsicht besonders gut. Zum einen erlebte das Feld in dieser Zeit weltweit einen beispiellosen Boom, der von einem zunehmend regen Austausch zwischen Wissenschaftlern verschiedener Länder, einer gesteigerten Zirkulationsgeschwindigkeit von Wissen dank einer wachsenden Zahl von Fachzeitschriften und -publikationen sowie einer Zunahme internationaler Kontakte und Konferenzen begleitet wurde. Zweitens war der fragliche Zeitraum aber auch von grundlegenden politischen Umwälzungen gekennzeichnet, die gemeinhin unter dem Begriff der Dekolonisierung zusammengefasst werden.2 Dies führte auch auf der Ebene des Wissens und der Wissenschaft zu signifikanten Neuausrichtungen und Verschiebungen. In ganz besonderer Weise gilt dies für den gemeinhin unter Afrikanistik oder African Studies gefassten Bereich der Forschung, d.h. der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit afrikanischen Kulturen und Gesellschaften. Wie das in dem vorangestellten Zitat beschriebene Wandbild Kwame Nkrumahs bereits andeutet, gehörte diese Forschungsrichtung aus naheliegenden Gründen zu den am stärksten symbolisch aufgeladenen und daher auch politisch umkämpften Wis1 Galtung, Johan: Scientific Colonialism. The Lessons of Project Camelot. In: Transition 30 (1967). S. 10–15, S. 13. 2 Für einen Überblick über die politische Seite der Dekolonisierung vgl. etwa Betts, Raymond F.: Decolonization. New York, London 2004 sowie immer noch Gifford, Prosser u. William Roger Louis: Decolonization and African Independence. The Transfers of Power, 1960–1980. New Haven 1988. https://doi.org/10.1515/9783110538076-005

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sensfeldern. Wer als Experte für afrikanische Kulturen und Gesellschaften gelten sollte, mit welchen Mittel und Methoden man diese richtig erforschte, welche Disziplinen und Ansätze Relevanz beanspruchen konnten, zu welchem Zweck und für wen Wissen produziert werden sollte und nicht zuletzt wo – all das musste vor dem Hintergrund der Ereignisse in den 1950er und 1960er Jahren komplett neu ausgehandelt werden und war daher grundlegenden Änderungen unterworfen. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht stellt diese komplexe Verflechtung von Wissensbewegungen eine beträchtliche Herausforderung dar, steht sie doch quer sowohl zu den traditionell nach Disziplinen organisierten Ansätzen der Wissenschaftsgeschichte als auch der üblicherweise nationalen bzw. imperialen Ausrichtung der (post-)kolonialen Geschichte. Um einen umfassenderen Überblick über das Feld der Wissensproduktion zum Thema Afrika zu erhalten, bedarf es daher eines Ansatzes, der die Zirkulation von Wissen über unterschiedliche Arten von Grenzen hinweg verfolgen und in ihren jeweiligen Kontexten verankern kann. Eine Möglichkeit dafür bietet der Zugang über Institutionen, der nicht zufällig sowohl in der inter-/transnational ausgerichteten politischen Geschichte als auch in der wissensgeschichtlich orientierten Wissenschaftsgeschichte in den letzten Jahren an Popularität gewonnen hat.3 Der Fokus auf Institutionen hat dabei nicht nur den Vorteil, zuvor unsichtbare Interaktionen und Austauschprozesse sichtbar zu machen; er verspricht auch einen Blick auf personelle, organisatorische sowie nicht zuletzt materielle und finanzielle Infrastrukturen von Wissensbewegungen.4 Auf diese Weise werden Strukturen und Entwicklung nicht nur des jeweiligen wissenschaftlichen Feldes

3 Für die politische Geschichte vgl. beispielsweise Iriye, Akira: Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Contemporary World. Berkeley 2002; Sluga, Glenda: Editorial. The Transnational History of International Institutions. In: Journal of Global History 6 (2011). H. 02. S. 219–222; Herren, Madeleine: Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung. Darmstadt 2009 (Geschichte Kompakt); für die Wissenschaftsgeschichte vgl. Tuchman, Arleen Marcia: Institutions and Disciplines. Recent Work in the History of German Science. In: The Journal of Modern History 69 (1997). H. 2. S. 298–319; vom Bruch, Rüdiger: Wissenschaft im Gehäuse. Vom Nutzen und Nachteil institutionengeschichtlicher Perspektiven. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000). H. 1. S. 37–49; für ein gelungenes Beispiel etwa Gugerli, David [u.a.]: Die Zukunftsmaschine. Konjunkturen der ETH Zürich, 1855–2005. Zürich 2005. 4 Aus ebendiesem Grund nehmen auch die Archive internationaler Organisationen eine besondere Stellung in der transnationalen Geschichte ein, wie Rothschild, Emma: The Archives of Universal History. In: Journal of World History 19 (2008). H. 3. S. 375–401 argumentiert.

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im Sinne Pierre Bourdieus, sondern auch des weiteren Wissensfeldes zugänglich.5 Einen besonders günstigen Ausgangspunkt für eine Betrachtung der afrikabezogenen Wissensproduktion in den ersten Nachkriegsjahrzehnten bietet diejenige Institution, die für die Produktion, Finanzierung und Publikation der Insignie verantwortlich zeichnete, die auf Nkrumahs Wandbild den „wissenschaftlichen Kolonialisten“ kennzeichnet: das International African Institute (IAI). Das 1926 gegründete Institut war eine der ältesten und bis weit in die Nachkriegszeit hinein auch eine der wichtigsten Institutionen, die sich mit der wissenschaftlichen Erforschung afrikanischer Sprachen, Kulturen und Gesellschaften beschäftigten. Es ging ursprünglich auf die Initiative einer Gruppe linguistisch interessierter Missionare um den schottischen Missionsfunktionär Joseph H. Oldham zurück, dem es gelang, koloniale Amtsträger, europäische Afrikawissenschaftler und private Geldgeber – darunter vor allem die philanthropischen Stiftungen der amerikanischen Ostküste – für die neue Organisation zu gewinnen. Trotz seiner nicht nur geographischen Nähe zum britischen Colonial Office verstand sich das Institut dabei einerseits von Beginn an als eine internationale „coordinating agency, a central bureau and a clearing house for information“, wie es der erste Vorstandsvorsitzende Lord Frederick Lugard ausdrückte. Andererseits nahm es aber auch aktiven Anteil an der Produktion von Afrikawissen, wobei es seinen Anspruch auf streng wissenschaftliche Arbeitsweise mit einer dezidierten Anwendungsorientierung zu verbinden suchte.6 Vor diesem Hintergrund wird der vorliegende Beitrag den Versuch unternehmen, gewissermaßen durch die Linse des IAI einen Blick auf die unterschiedlichen Austausch- und Zirkulationsprozesse im Wissensfeld der afrikanischen Sprachen, Kulturen und Gesellschaften von den 1950er bis in die 1970er Jahre zu werfen. Aus dieser Perspektive lassen sich innerhalb des Nachkriegsbooms der Afrikawissenschaften drei unterschiedliche Expansionsbewegungen identifizieren, die im Folgenden jeweils mit einer Bewegungsrichtung afrikabe-

5 Lipphardt, Veronika u. Kiran Klaus Patel: Neuverzauberung im Gestus der Wissenschaftlichkeit. Wissenspraktiken im 20. Jahrhundert am Beispiel menschlicher Diversität. In: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008). S. 425–454, S. 430f definieren das Wissensfeld als einen „Kommunikationszusammenhang zu einem bestimmten Wissensinhalt, der über die Grenzen der Wissenschaft hinausreicht“. Der Bourdieu’sche Begriffs des „wissenschaftlichen Feldes“ als teilautonomer gesellschaftlicher Bereich mit eigenen Regeln strukturiert durch die Verteilung wissenschaftlichen Kapitals, wird also um bestimmte nichtwissenschaftliche Handelnde erweitert; vgl. Bourdieu, Pierre: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes. Konstanz 1998. 6 Lugard, Frederick: The International Institute of African Languages and Cultures. In: Africa. Journal of the International African Institute 1 (1928). S. 1–12, S. 1f.

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zogenen Wissens beziehungsweise entsprechender Wissensträger in Verbindung gebracht werden sollen. Wie der oben verwendete Begriff der Zirkulation bereits andeutet, schloss dies gegenläufige und querliegende Wissensbewegungen keineswegs aus, sondern setzte sie geradezu voraus. Obwohl die identifizierten drei Dynamiken teilweise bereits von den Akteuren selbst in ähnlicher Weise beschrieben wurden,7 sollten sie weniger als Tatsachenbeschreibung denn als idealtypische Abstraktionen gelesen werden, die den Blick auf den Zusammenhang von Topographie und spezifischen Vorstellungen von Inhalt, Methodik, Aufgabe sowie disziplinärer Ausrichtung in der afrikanistischen Wissensproduktion lenken helfen. Erstens kam es nach dem Kriegsende zu einem substantiellen Auf- und Ausbau systematischer kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschungsprogramme auf Seiten der europäischen Kolonialmächte, die sich wesentlich an dem in der Zwischenkriegszeit im Umfeld des IAI entwickelten Modells der angewandten Ethnologie orientierten. Da daran nun erstmals auch kleinere Kolonialnationen wie Belgien oder Portugal teilhatten und gleichzeitig eine starke Zunahme des interkolonialen Wissensaustauschs zu beobachten war, lässt sich von einer Europäisierung der Afrikaforschung sprechen. Zweitens setzte – nach eher vorsichtigen Anfängen Ende der 1940er – speziell ab Mitte der 1950er im Kontext des Area-Studies-Programms auch in den USA eine konzertierte Förderung von afrikabezogener Wissenschaft ein. Dies führte zu einem spektakulären Aufstieg der US-Afrikawissenschaften und einer nachhaltigen Amerikanisierung der globalen Wissensproduktion zum Thema Afrika. Drittens entstanden mit der Gründung von Hochschulen und Universitäten in Afrika selbst ab den 1950er Jahren nicht nur neue geographische Schwerpunkte in der Afrikaforschung. Die Mehrzahl der dort tätigen Wissenschaftler – unter ihnen eine zunehmende Zahl von Afrikanern – verfolgte explizit das Ziel einer geographischen, personellen und auch inhaltlichen Afrikanisierung des Wissensfeldes. Wie für den Maler von Nkrumahs Wandbild stand für die meisten Zeitgenossen, ebenso wie für viele spätere Beobachter, außer Frage, dass das IAI mit der ersten der beschriebenen Dynamiken zu identifizieren war.8 In der Tat ist 7 Vielleicht am deutlichsten bei Wallerstein, Immanuel: The Evolving Role of the Africa Scholar in African Studies. In: African Studies Review 26 (1983). H. 3/4. S. 155–161. 8 Exemplarisch für den postkolonialen Blick auf das IAI sei hier die knappe Erwähnung in der von der UNESCO herausgegebene Gesamtdarstellung der Geschichte Afrikas genannt, die das Institut als Ausgangspunkt eines „style of African studies which was at the behest of the colonial system and was subsequently responsible for the type of ethnographic scrutiny to which Africans and their societies and cultures came to be subjected“ bezeichnet; Sow, Alfa u. Mohamed Abdulaziz: Language and Social Change. In: Africa since 1935. UNESCO General History of Africa, Vol. VIII. Hrsg. von Ali Mazrui. London [u.a.] 1993. S. 522–552, hier S. 526.

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festzustellen, dass das Institut als Folge dieser Veränderungen letztlich seine zentrale Stellung im Feld verlor. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, spielte das Institut dennoch auch in den anderen beiden Wissensbewegungen eine teils nicht unerhebliche Rolle – nicht nur als Gegenmodell und Negativfolie, sondern auch durch Integration, Vermittlung und teils aktive Mitgestaltung. Gerade am Beispiel des IAI wird deutlich, dass die unterschiedlichen Dynamiken in der Afrikaforschung einander nicht nur zeitlich überlagerten, sondern auch inhaltlich, personell und organisatorisch oft enger miteinander verflochten waren, als es auf den ersten Blick scheint.

Europäisierung: Das IAI als Dachinstitut der spätkolonialen Afrikanistik Das Internationale Afrikainstitut führte bei seiner Gründung – und offiziell bis zum Ende der Zwischenkriegszeit – den Namen International Institute for African Languages and Cultures (IIALC).9 Es war kein Zufall, dass die afrikanischen Sprachen dabei an erster Stelle genannt wurden. Bis kurz vor seiner Gründung hatte sich das Kompetenzfeld des geplanten Institutes noch ausschließlich auf die Linguistik beschränkt.10 Dies hatte einerseits mit dem Ursprung des Instituts in missionarischen Kreisen zu tun, die sich zu Beginn der 1920er Jahre intensiv mit dem Problem der Verwendung afrikanischer Sprachen im Schulunterricht auseinandersetzten. Andererseits waren die Gründer des Instituts aber auch der Ansicht, dass sich die relativ konkreten Problemstellungen der Sprachwissenschaft besser dazu eigneten, skeptische Kolonialbeamte vom praktischen Wert der Humanwissenschaften zu überzeugen, als die notorisch schwer zu greifenden „Kulturen“.11 Erst mit dem sozialanthropologisch ausgerichteten sogenann9 Die Umbenennung in International African Institute wurde erstmals bereits 1931 beschlossen, verzögerte sich aus satzungsrechtlichen Gründen aber offiziell bis 1939, wobei etwa die Institutszeitschrift Africa bis Anfang 1946 den alten Namen benutzte. Aus Gründen der Verständlichkeit wird in dem vorliegenden Beitrag in der Folge ausschließlich der spätere Name verwendet. 10 Die Erweiterung auf Kulturen beziehungsweise Ethnologie wurde wohl im Mai 1925 erstmals ernsthaft diskutiert; vgl. Archiv der School of Oriental and African Studies, International Missionary Council, London (SOAS IMC), Box 204: Notes on conversation between W. [A.L. Warnshuis, S.E.], Prof. Richter, Major Vischer and Mr. Oldham at Bremen on 16th May, 1925. 11 Report on Progress of Work During the Period October 1926-October 1929. In: Africa: Journal of the International African Institute 3 (1930), H. 1. S. 90–102, S. 93; Smith, Edwin W.: The Story of the Institute. A Survey of Seven Years. In: Africa: Journal of the International African Institute 7 (1934). H. 1. S. 1–27, S. 75.

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ten Five Year Plan der 1930er Jahre unter der intellektuellen Schirmherrschaft des polnisch-britischen Ethnologen Bronislaw Malinowski gelang es dem IAI, ein Modell angewandter kultur- bzw. sozialwissenschaftlicher Afrikaforschung zu entwickeln, das den Ansprüchen seines Führungszirkels genügte. Bezeichnenderweise wurde dieses zunächst nicht von den europäischen Kolonialmächten, sondern über die US-amerikanische Rockefeller Foundation finanziert.12 Tatsächlich trug der Fünfjahresplan des Instituts entscheidend dazu bei, dass sich speziell die Sozialanthropologie bis zum Ende der 1930er Jahre im britischen Raum als anerkanntes Feld kolonialer Expertise etablierte. Dies lässt sich nicht zuletzt an Lord Hailey’s 1938 erschienener monumentaler African Survey ablesen, die dem Themenfeld breiten Raum einräumte.13 Vor dem Hintergrund der schwierigen finanziellen und politischen Lage kam es vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs allerdings nicht mehr zu konkreten institutionellen Konsequenzen. Das änderte sich erst mit der kolonialen Entwicklungsoffensive der 1940er Jahre, die – in der oft zitierten Formulierung von D.A. Low und John Lonsdale – teilweise Züge einer „second colonial occupation“ annahm.14 Im Gefolge der großen Kolonialentwicklungsprogramme wie dem Colonial Development and Welfare Act (CDW) von 1945 standen nun erstmals auch für die Kolonialforschung substantielle staatliche Geldmittel bereit.15 Davon konnte auch die Afrikanistik profitieren: Ausgestattet mit einem vergleichsweise üppigen Budget aus den Töpfen des CDW übernahm der 1944 eingerichtete, überwiegend mit Fachwissenschaftlern besetzte Colonial Social Science Research Council (CSSRC) umgehend eine führende Rolle in der Förderung afrikabezogener Kultur- und 12 Aufgrund seiner Bedeutung für die Disziplinengeschichte der (britischen) Ethnologie ist der Fünfjahresplan zweifellos der am besten untersuchte Aspekt der Geschichte des IAI; vgl. v.a. Kuklick, Henrika: The Savage Within. The Social History of British Anthropology, 1885–1945. Cambridge 1991, S. 182–241; Stocking, George W.: Philanthropoids and Vanishing Cultures. Rockefeller Funding and the End of the Museum Era in Anglo-American Anthropology. In: The Ethnographer’s Magic and Other Essays in the History of Anthropology. Hrsg. von George W. Stocking. Madison, Wisconsin 1992. S. 178–211. 13 Vgl. Tilley, Helen: Africa as a Living Laboratory. Empire, Development, and the Problem of Scientific Knowledge, 1870–1950. Chicago 2011; Hodge, Joseph M.: Triumph of the Expert. Agrarian Doctrines of Development and the Legacies of British Colonialism. Athens, Ohio 2007, Kap. 4. 14 Low, Donald Anthony u. John Lonsdale: Introduction. Towards the New Order. In: History of East Africa. Bd. 3. Hrsg. von Donald Anthony Low u. Alison Smith. 1976, S. 1–64, hier S. 13. 15 Hodge, Triumph (wie Anm. 13), Kap. 7; Havinden, Michael u. David Meredith: Colonialism and Development. Britain and its Tropical Colonies, 1850–1960. London, New York 1993, Kap. 10–11; Morgan, David J.: Developing British Colonial Resources. 1945–1951. London 1980 (The Official History of Colonial Development 2). Kap. 2.

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Sozialwissenschaften in Großbritannien ein.16 Zudem finanzierte er den Aufund Ausbau einer Reihe sozialwissenschaftlicher Forschungsinstitute in Afrika selbst – nach dem Vorbild des bereits 1937 eröffneten Rhodes-Livingston Institute (RLI) in Nordrhodesien.17 Sozialwissenschaftliche Afrikaforschung sei in Großbritannien mittlerweile eine „affaire d’état“ und Grundlage aller Kolonialpolitik, so fasste der französische Afrikawissenschaftler Jean Richard-Molard 1947 durchaus neidisch zusammen – im Gegensatz zu Frankreich, wo derartige Dinge immer noch als Luxus betrachtet würden.18 Zu diesem Schluss war Richard-Molard anlässlich einer im Juli 1947 vom IAI ausgerichteten internationalen Konferenz zu dem Thema „Stand und Aussichten afrikanischer Kultur- und Sprachforschung“ gelangt, zu der Vertreter aus Großbritannien, Frankreich, Belgien, Portugal, Italien, den Niederlanden, Schweden und den Vereinigten Staaten sowie fast sämtlichen britischen und einigen französischen Kolonien in Afrika erschienen waren.19 Dabei stellte sich heraus, dass sich der spätkoloniale Boom der Afrikaforschung keineswegs auf 16 Bis 1950 verfügte der CSSRC immerhin über ein Gesamtbudget von 300.000 Britischen Pfund, das vor dem Hintergrund der politischen Situation zu einem erheblichen Teil für Projekte in Afrika ausgegeben wurde. Verglichen mit den insgesamt 6 Millionen Pfund, die der CRC in diesem Zeitraum ausgab, war dies keine große Summe, nach den bisherigen Standards der Sozial- und Kulturwissenschaft jedoch beispiellos; vgl. Mills, David: British Anthropology and the End of Empire. The Rise and Fall of the Colonial Social Science Research Council, 1944–1962. In: Revue d’Histoire des Sciences Humaines 6 (2002). S. 161–188. Dagegen konnte die sogenannte Scarbrough Commission von 1944–1947, die den ersten systematischen Versuch zum Aufbau regionalwissenschaftlicher Kapazitäten in Großbritannien darstellte, kaum nachhaltige Impulse für die Entwicklung der dortigen Afrikanistik setzten; vgl. Fage, John D.: British African Studies since the Second World War. A Personal Account. In: African Affairs 88 (1989). H. 352. S. 397–413, hier S. 403f. 17 Die beiden wichtigsten waren das East African Institute for Social Research (EAISR) in Makerere (Uganda) sowie das West African Insitute of Social and Economic Research (WAISER) in Ibadan (Nigeria). Zum RLI vgl. Brown, Richard: Anthropology and Colonial Rule. Godfrey Wilson and the Rhodes-Livingstone Institute, Northern Rhodesia. In: Anthropology and the Colonial Encounter. Hrsg. von Talal Asad. London 1973. S. 173–197; Schumaker, Lyn: Africanizing Anthropology. Fieldwork, Networks, and the Making of Cultural Knowledge in Central Africa. Durham, NC 2001. 18 Archiv der Universität Dakar, Institut Fondamental d’Afrique Noire, Dakar (UCAD IFAN), D1/2: Rapport sur la participation de l’Institut Français d’Afrique Noire au congrès de l’International African Institute tenu à Londres du 2 au 4 juillet 1947. 19 Vgl. Conference on African Anthropological and Linguistic Research and Meetings of the Executive Council of the Institute 2–4 July 1947. In: Africa: Journal of the International African Institute 17 (1947). H. 4. S. 269–274. Die Einladung eines Repräsentanten der deutschen Afrikanistik war diskutiert worden, scheiterte aber letztlich am Widerstand der belgischen IAI-Vorstandsmitglieder; vgl. Archiv des International African Institute in der Bibliothek der London School of Economics (LSE IAI), London, 2/20: Minutes of the Bureau vom 30.1.1947.

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Großbritannien beschränkte. Wie Richard-Molard mit Genugtuung feststellte, waren auch die französischen Aktivitäten auf dem Gebiet der kultur- und sozialwissenschaftlichen Afrikaforschung so umfangreich, dass sie unmöglich in die auf dem Kongress veranschlagte halbe Stunde passten.20 Ermöglicht wurde dies durch ein Netz an staatlichen Gremien, Kommissionen und Instituten in Frankreich und seinen afrikanischen Kolonien, das fast ein Spiegelbild der entsprechenden britischen Organisationen darstellte.21 Besonders beeindruckt zeigte sich Richard-Molard allerdings von den Fortschritten der kleineren Kolonialmächte. Belgien, das noch in der Zwischenkriegszeit auf diesem Gebiet eher als Nachzügler galt, verfügte mittlerweile über eine den Briten und Franzosen fast vergleichbare Forschungsinfrastruktur. Selbst das oft als rückständig apostrophierte, politisch autoritäre Portugal hatte seine Kolonialforschungen zentralisiert und systematisiert. In der Summe schlug sich die stark zunehmende staatliche Förderung in einem steilen Anstieg des Forschungsvolumens nieder: Ein gut informierter amerikanischer Beobachter verzeichnete für das Jahr 1953 insgesamt 215 laufende sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungsprojekte, die von den Institutionen der Kolonialmächte finanziert wurden – wobei allein 124 auf Großbritannien, 50 auf Frankreich, 20 auf Belgien und 21 auf Portugal entfielen.22 Dieser Ausbau der jeweiligen nationalen bzw. imperialen Forschungsprogramme fand nicht in Isolation voneinander statt, sondern wurde von einer markanten Zunahme an interkolonialen Kontakten und Koordinationsbemühungen begleitet, die sich institutionell auf unterschiedlichen Ebenen manifestierten – von der 1945 erstmals stattfindenden regionalen Konferenz der WestAfrikanisten (CIAO) bis zum 1949 gegründeten Wissenschaftlichen Rat der Comission pour la Coopération Technique en Afrique (CCTA), des Kooperationsrats der Kolonialmächte in Afrika.23 Obwohl das IAI als kleine, nicht-staatliche Organisationen nur über vergleichsweise geringe Ressourcen verfügte, nahm es in 20 UCAD IFAN, D1/2: Rapport sur la participation de l’Institut Français d’Afrique Noire au congrès de l’International African Institute tenu à Londres du 2 au 4 juillet 1947. 21 Auch Frankreich besaß nun ein zentrales Office de la recherche scientifique coloniale (ORSC, später ORSTOM), einen Conseil Supérieure des Recherches Sociologiques Outre-Mer (CSRSOM), der Mittel des CDW-Äquivalent FIDES verwaltete sowie zahlreiche Forschungsinstitute in Afrika, darunter das Institut Français d’Afrique Noire (IFAN) in Dakar. 22 Coleman, James: Research on Africa in European Centers. In: African Studies Bulletin 2 (1959). H. 3. S. 1–33, hier S. 4. 23 Zur CCTA/CSA vgl. Gruhn, Isebill V.: The Commission for Technical Co-Operation in Africa, 1950–65. In: The Journal of Modern African Studies 9 (1971). H. 3. S. 459–469; Kent, John: The Internationalization of Colonialism. Britain, France, and Black Africa, 1939–1956. Oxford 1992, Kap. 11; zur CIAO vgl. Notes and News. In: Africa: Journal of the International African Institute 15 (1945) H. 3. S. 159–165.

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den interkolonialen Wissensnetzwerken eine zentrale Position ein. Unter der Führung seines neuen Direktors, dem walisischen Ethnologen Daryll Forde, hatte das Institut seit Mitte der 1940er Jahre einen notwendig gewordenen Generationenumbruch erfolgreich hinter sich gebracht.24 Forde hatte das akademische Profil des Instituts weiter geschärft: Er drängte den noch in der Zwischenkriegszeit durchaus erheblichen Einfluss von Missionaren und Kolonialverwaltern im IAI zugunsten professioneller Wissenschaftler zurück und befestigte mit einer neu eingerichteten Bibliothek und diversen Dienstleistungen zu Bibliographie und Fachinformation seine Stellung als zentrales wissenschaftliches Informationszentrum.25 Zudem gelang es Forde und seiner Mannschaft, die entscheidenden wissenschaftlichen Persönlichkeiten der wichtigsten kolonialwissenschaftlichen Programme und Organisationen fast ohne Ausnahme im Vorstand des Instituts zu versammeln.26 Aber auch theoretisch-methodisch stand das IAI in den 1940er und frühen 1950er Jahren an der Spitze seines Feldes. Hatte der Fünfjahresplan der Zwischenkriegszeit noch eine eher beschränkte Reichweite gehabt,27 so wurde das zugrundeliegende Forschungsmodell in der Nachkriegszeit geradezu zum Inbegriff der spätkolonialen Afrikaforschung. Die britische Sozialanthropologie – mit ihrer stark sozialwissenschaftlichen, strukturfunktionalisitischen Ausrichtung, ihrer Methodik der intensiven Feldforschung und ihrer Konzentration auf spezifische, lokal begrenzte Stammeseinheiten – bildete nicht nur innerhalb

24 Als Administrativdirektor, Generalsekretär, Herausgeber der Institutszeitschrift und der Publikationsreihe hatte Forde von 1944 bis zu seinem Tod 1973 eine extrem starke Position innerhalb des IAI inne; zu Fordes Person vgl. Fortes, Meyer: Daryll Forde, 1902–1973. In: Proceedings of the British Academy. Bd. 62. S. 459–483; Last, Murray: Forde, (Cyril) Daryll (1902– 1973). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online Edition. Oxford 2004. 25 Neben einer Reihe von publizierten Spezialbibliographien veröffentlichte das IAI unter anderem die regelmäßige Notes and News-Sektion in der Institutszeitschrift Africa, ab 1950 ergänzt durch die African Abstracts als wissenschaftlichem Abstract Service. 26 Als Beispiele seien hier stellvertretend herausgegriffen: Für Großbritannien neben Forde selbst Audrey Richards (Mitglied des CSSRC und erste Direktorin des EAISR); für Frankreich Hubert Deschamps (Leiter der humanwissenschaftlichen Kommission des ORSC und des CRSOM) und Théodore Monod (Leiter des IFAN); für Belgien Frans Olbrechts (Leiter der humanwissenschaftlichen Kommission der zentralen belgischen Forschungsinstitution IRSAC); für Portugal António Mendes-Correa (Präsident der Junta das Missões Geográficas e de Investigações Coloniais, die die portugiesische Kolonialforschung koordinierte). Mit Ausnahme von Forde gehörten alle Genannten zudem dem Wissenschaftlichen Rat (CSA) der CCTA an. 27 Dies gilt vor allem international; vgl. L’Estoile, Benoît de: Internationalization and Scientific Nationalism. The International Institute of African Languages and Cultures Between the Wars. In: Ordering Africa. Anthropology, European Imperialism, and the Politics of Knowledge. Hrsg. von Helen Tilley u. Robert J. Gordon. Manchester, New York 2007. S. 95–117.

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des CSSRC erklärtermaßen die Leitdisziplin, sondern erfreute sich auch international eines exzellenten Rufs. Das IAI trug dazu einen erheblichen Teil bei. So zeichnete es zum einen verantwortlich für das „central showpiece of British anthropological theorizing“28 dieser Zeit: Eine Reihe komparativer Sammelbände zu verschiedenen sozialen Systemen afrikanischer Gesellschaften, angefangen mit den enorm einflussreichen African Political Systems (1940), die schon bald auch in Übersetzungen herausgebracht wurden.29 Der vergleichende Ansatz wurde zum anderen empirisch untermauert mit der Veröffentlichung zahlreicher monographischer Einzelstudien sowie dem mit Abstand umfangreichsten Einzelprojekt des Instituts in dieser Zeit, der Ethnographic Survey of Africa (ESA). Die Reihe, die letztlich auf insgesamt 60 Einzelbände anwachsen sollte, setzte sich das Ziel, eine ethnographische Beschreibung des gesamten afrikanischen Kontinentes anzubieten. Dies sollte nicht nur die empirische Basis für die komparative Herausarbeitung afrikanischer sozialer Systeme verbessern, sondern vor allem auch den sogenannten Afrikapraktikern die Resultate ethnologischer Feldforschung in leicht verdaulicher Form zugänglich machen. Obwohl die Finanzierung vorwiegend vom britischen Colonial Office stammte, verfügte das Projekt von Beginn an auch über eine interkoloniale Komponente. Unter den sieben nach geographischen Regionen eingeteilten Serien befanden sich neben fünf englischsprachigen auch zwei französischsprachige zu den französischen Territorien sowie zum belgischen Kongo, die unter der Ägide von Wissenschaftlern sowie Forschungsinstitutionen der entsprechenden Nationen entstanden. Dank Fordes aktiver Gesamtherausgeberschaft sowie einer strikten Standardisierung von Terminologie, Umfang, Darstellungsweise und inhaltlichem Aufbau erlangte die Serie dennoch eine bemerkenswerte Kohärenz und Vergleichbarkeit, die wesentlich zu ihrem Erfolg gerade auch beim praktischen Publikum beitrug.30 28 Moore, Sally Falk: Anthropology and Africa. Changing Perspectives on a Changing Scene. Charlottesville 1996, S. 13. 29 Fortes, Meyer u. E.E Evans-Pritchard (Hrsg.): African Political Systems. London, New York, Toronto 1950 [1940]. Weitere Veröffentlichungen des IAI nach diesem Muster waren Forde, Daryll u. Arthur Radcliffe-Brown: African Systems of Kinship and Marriage. London: International African Institute 1950; Forde, Daryll (Hrsg.): African Worlds. Studies in the Cosmological Ideas and Social Values of African Peoples. London, New York, Toronto 1954; Biebuyck, Daniel (Hrsg.): African Agrarian Systems. Studies Presented and Discussed at the Second International African Seminar, Lovanium University, Jan. 1960. London 1963; sowie Fortes, Meyer u. Germaine Dieterlen (Hrsg.): African Systems of Thought. Studies Presented and Discussed at the Third International African Seminar in Salisbuy, Dec. 1960. London 1965. 30 Insbesondere war der inhaltliche Aufbau entlang von neun sogenannten „Datenpunkten“ vorgegeben; vgl. A Handbook of African Languages, in: Africa 3 (1946), S. 156–159; LSE IAI 16/ 1: Outline of Proposed Programme of Work on the Ethnographic Survey of Africa vom 6.12.1944.

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Als weitgehend ungewollte Nebenwirkung tendierten diese Darstellungen allerdings dazu, das Bild eines urtümlichen und ahistorischen Afrikas zu zeichnen, das in eine große Zahl größerer und kleinerer Stammesgebiete zerfiel und dessen Bewohner nach den Regeln angeblich traditioneller und unveränderlicher sozialer Systeme lebten. Zwar waren sich die meisten der beteiligten Wissenschaftler der Komplexität und historischen Wandelbarkeit afrikanischer Sozialstrukturen durchaus bewusst. Die grundlegende Stoßrichtung und der Aufbau der Bände, der die Darstellung „der Igbo“, „der Wolof“ oder „der Tswana“ verlangte, ließ die Bemühungen um Differenzierung aber in den Hintergrund treten.31 Ab 1954 legte das IAI zudem ein neues Stipendienprogramm auf, mit dessen Hilfe Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern aus verschiedenen europäischen Staaten auf ausgedehnte Feldforschungsaufenthalte nach Afrika geschickt wurden.32 Erklärtes Vorbild war der Fünfjahresplan der Zwischenkriegszeit, an das die Neuauflage allerdings weder im Hinblick auf die wissenschaftlichen Ergebnisse noch auf ihre wissenschaftspolitische Bedeutung heranreichen konnte. Ebenso wie sein Vorgänger wurde auch das neue Stipendienprogramm nicht von den Kolonialmächten finanziert, sondern von einer privaten Stiftung aus den Vereinigten Staaten: Der Ford Foundation, die sich mittlerweile als Hauptsponsor des schnell wachsenden afrikawissenschaftlichen Programms der USA hervortat.

Amerikanisierung: Das IAI und die Area Studies Bereits seit seinen frühesten Entwürfen hatte das IAI eine dezidiert transatlantische Ausrichtung.33 Aus Sicht der Gründer war eine substantielle Unterstützung aus den USA eine zentrale Voraussetzung für die Entstehung des Instituts gewesen – nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus strategischen Gründen, um 31 Vgl. die Analyse in Tonkin, Elizabeth: West African Ethnographic Traditions. In: Localizing Strategies. Regional Traditions of Ethnograhic Writing. Hrsg. von Richard Fardon. Edinburgh 1990. S. 137–151. 32 Für einen Überblick vgl. Report of the Administrative Director, April 1960–March 1961. In: Africa: Journal of the International African Institute 31 (1961) H. 3. S. 270–277. 33 Dies lag nicht zuletzt daran, dass das Institut seinen Ursprung im Umkreis des anglo-amerikanischen International Missionary Council (IMC) hatte. Nach den Berichten einiger Teilnehmer fanden die frühesten konkreten Diskussionen über die Gründung des späteren IAI in New York statt; vgl. LSE IAI 1/2: Conference to be held in London on September 21–23, to discuss the establishment of an International Bureau in London for the study of African Languages and Tribal Cultures, 1925, S. 2.

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sich einen gewissen Grad von Unabhängigkeit gegenüber den britischen Kolonialbehörden zu erhalten.34 In wissenschaftlicher Hinsicht war der Beitrag der Vereinigten Staaten dagegen zunächst kaum der Rede wert. Wie das IAI bei seinen wiederholten Bemühungen einer intensiveren Kontaktaufnahme feststellen musste, wurde Afrika im amerikanischen akademischen Mainstream in der Zwischenkriegszeit – abgesehen von wenigen Einzelkämpfern wie dem Ethnologen Melville Herskovits oder dem Historiker Raymond Buell – so gut wie gar nicht thematisiert. Die Auseinandersetzung mit dem afrikanischen Kontinent und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern blieb auf das missionarische Milieu sowie die Historically Black Colleges and Universities (HBCU) der Südstaaten beschränkt. Letztere waren allerdings nicht nur durch ihre schlechte materielle Ausstattung benachteiligt, sondern wurden auch vom überwiegenden Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft – inklusive dem IAI – schlicht ignoriert.35 Der Zweite Weltkrieg änderte die Situation. Die plötzliche militärische und nachrichtendienstliche Nachfrage nach kulturellem, sozialwissenschaftlichem und linguistischem Wissen zu zuvor oft als exotisch betrachteten Weltregionen führte zum Beginn einer systematischen Förderung dieser Wissenszweige unter dem Dach des sogenannten Area-Studies-Programms.36 Obwohl sich dieses zunächst auf strategisch wichtige Regionen wie Ostasien, Lateinamerika und die Sowjetunion konzentrierte, rückte in diesem Kontext auch der Aufbau einer eigenen Afrikaforschung auf die Agenda. Noch 1944–1945 scheiterte ein erster Versuch des IAI, mit der Gründung einer Art amerikanischer Zweigstelle an dieser Entwicklung teilzuhaben, an einem Mangel potenzieller Mitglieder.37 Spätestens mit der Gründung des ersten African Studies Center an der Northwestern University 1948 begann aber ein systematischer Ausbau der US-Afrikanistik, ge34 Dies formulierte ganz explizit der schottische Missionsfunktionär Joseph H. Oldham, der strategische Kopf hinter der Institutsgründung; vgl. SOAS IMC 204: Oldham an A.L. Warnshuis, vom 26.3.1925. 35 Vgl. Gershenhorn, Jerry: „Not an Academic Affair“. African American Scholars and the Development of African Studies Programs in the United States, 1942–1960. In: The Journal of African American History 94 (2009). H. 1. S. 44–68. 36 Vgl. Wallerstein, Immanuel, The Unintended Consequences of Cold War Area Studies. In: The Cold War and the University. Toward an Intellectual History of the Postwar Years. Hrsg. von Noam et al Chomsky. New York: New Press 1997. S. 195–231; Szanton, David: The Origin, Nature and Challenges of Area Studies in the United States. In: The Politics of Knowledge. Area Studies and the Disciplines. Hrsg. von David Szanton. Berkeley 2004. S. 2–22. 37 Eine von der Rockefeller Foundation eigens zu diesem Zweck bei dem afroamerikanischen Soziologen Ralph Bunche in Auftrag gegebene Studie befand 1946, die Vereinigten Staaten hätten bis auf Weiteres zur Afrikaforschung noch „wenig beizutragen“; vgl. Rockefeller Archive Center, Sleepy Hollow (RAC), GEB 1.2 637.1 288 3005: Interview JD/Donald Young vom 5.11.1946.

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tragen von einem zunehmenden politischen Interesse vor dem Hintergrund des Kalten Krieges.38 Dieser nahm vor allem ab 1954 eine geradezu atemberaubende Geschwindigkeit auf, als die Ford Foundation – damals die größte private Stiftung der Welt und das finanzielle Rückgrat des Area-Studies-Programms – die Afrikaforschung in ihr Portfolio aufnahm.39 Methodisch, inhaltlich und auch personell orientierte sich die amerikanische Afrikanistik dabei zunächst relativ eng am britischen Vorbild. Das IAI, weiterhin der wichtigste Kooperationspartner der amerikanischen Stiftungen in Europa, nahm dabei die Rolle des transatlantischen Mittlers ein, der beim Transfer von Wissen und Know-How ebenso behilflich war wie bei der Organisation von Feldforschungsmöglichkeiten für die wachsende Zahl der amerikanischen Afrikaforscher. Ein Mitarbeiter der Rockefeller Foundation ging 1949 sogar so weit zu erklären, der „natural way of developing African studies in this country“ sei die Entsendung von Amerikanern zur Mitarbeit im Internationalen Institut. Denn, wie er hinzufügte: „They are far ahead of us.“40 Noch 1956 bezeichnete eine interne Beurteilung der Ford Foundation das Institut als „the single most important scholarly research ressource on Africa“, unverzichtbar für die im Aufbau befindliche amerikanische Afrikaforschung.41 Darüber hinaus trat das IAI auch als Vermittler zu den europäischen Kolonialmächten auf, die ihrerseits den anschwellenden Zustrom potenziell unkontrollierbarer amerikanischer Forschender in ihre Territorien mit einiger Skepsis betrachteten – selbst in Großbritannien war zeitweilig die Rede von einer „American invasion“.42 Als die CCTA 1952 über die mögliche Gründung einer neuen Organisation beriet, durch die sich die amerikanische Forschungstätigkeit in Afrika „kanalisieren 38 Robinson, Pearl: African Studies in Search of Africa. The Case of the United States. In: The Study of Africa. Volume 2: Global and Transnational Engagements. Hrsg. von Paul Tiyambe Zeleza. Dakar u. London 2007. S. 235–276; Martin, William u. Michael West: The Ascent, Triumph and Disintegration of the Africanist Enterprise, USA. In: Out of One, Many Africas. Reconstructing the Study and Meaning of Africa. Hrsg. von William Martin u. Michael West. Urbana [u.a.] 1999. S. 85–122. 39 Von 1954 bis 1961 finanzierte die Ford Foundation den Aufbau von insgesamt zehn AfricanStudies-Zentren an unterschiedlichen amerikanischen Universitäten; gleichzeitig ermöglichte sie über das Foreign Area Felllowship Program (FAFP) bis 1975 etwa 350 amerikanischen Forschenden Feldforschungen in Afrika; vgl. Sutton, Francis X. u. David R. Smock: The Ford Foundation and African Studies. In: Issue: A Journal of Opinion 6 (1976). H. 2/3. S. 68. 40 RAC RF 1.1 475 1,4: Interview David H. Stevens mit Forde vom 7.10.1949. 41 RAC FF R2111 Grant 54–59, Section 1: Docket Excerpt. International African Institute von 1956. Vgl. auch RAC FF, R2111 Grant 54–59, Section 4: Memorandum Melvin Fox: International African Institute vom 4.9.1956. 42 So der britische Ethnologe Meyer Fortes: The National Archives, Kew (TNA), CO 927/249: Minute E.M. Chilver vom 9.12.1952.

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und regulieren“ ließe, machte das britische Colonial Office den Vorschlag, diese Aufgabe stattdessen dem IAI zu übertragen.43 Obwohl der Plan offiziell nicht weiter verfolgt wurde, entsprach dies doch zumindest in Teilen der bereits gängigen Praxis auf Seiten der Stiftungen.44 Da die Institutsführung zudem einmal mehr entscheidende Schlüsselfiguren in den Vorstand kooptieren konnte, verwundert es nicht, dass das IAI auch finanziell ganz erheblich vom neuen amerikanischen Interesse an Afrika profitierte.45 Speziell die Ford Foundation wurde ab 1954 auf Anhieb zum mit Abstand wichtigsten Geldgeber des Internationalen Instituts. Über die folgenden 20 Jahre kam sie für über 40 Prozent des gesamten Institutsbudgets auf.46 Wissenschaftlich gelang es dem IAI ab dem Ende der 1950er Jahre allerdings immer weniger, die aufstrebende amerikanische Afrikaforschung in seine Strukturen zu integrieren. Zwar lesen sich die Mitgliedstatistiken durchaus spektakulär: Während 1938 gerade einmal 6 Prozent aller IAI-Mitglieder eine Adresse in Nordamerika angaben, waren es 1948 schon mehr als 11 Prozent, 1955 fast ein Viertel, 1962 mehr als ein Drittel, und 1978 über 40 Prozent.47 Dies spiegelte allerdings mehr einen Anstieg der Rezeption als der aktiven Beteiligung aus den USA wieder. Eine entsprechende Umgestaltung des Vorstands oder der Insti-

43 TNA CO 927/249: Minute E.M. Chilver vom 9.12.1952 (dort auch der gesamte Vorgang). 44 So bestand etwa die Carnegie Corporation 1947/1948 bei der Finanzierung einer Studie des amerikanischen Missionsprofessors J. Merle Davis ausdrücklich darauf, die letztliche Verantwortung über das Projekt an das IAI (und nicht den IMC) zu übergeben, um eventuelle Verwicklungen mit den britischen Kolonialbehörden zu vermeiden; vgl. Columbia University Libraries, New York (CUL), CC III.A B 185, F14: Shepardson an Hailey vom 23.1.1947, sowie Shepardson an Forde vom 20.1.1948. 45 Der Ethnologe Melville Herskovits, Leiter des Afrikazentrums an der Northwestern University und der profilierteste amerikanische Afrikawissenschaftler der 1940er, hatte bereits in den späten 1930er Jahren vereinzelt an den Vorstandssitzungen des IAI teilgenommen und wurde von 1947 bis 1960 erneut Vorstandsmitglied. Als zweiter amerikanischer Vertreter schloss sich ihm ab 1954 der Soziologe William Oscar Brown an, Direktor des im selben Jahr gegründeten Bostoner Afrikazentrums und Hauptberater der Ford Foundation in Afrikafragen. 46 Zwischen 1954 und 1973 subventionierte die Ford Foundation das IAI mit insgesamt 567.250 Dollar in sieben Tranchen; vgl. RAC FF, R2111 Grant 54–59; RAC FF, R2111 Grant 54–59A–E und RAC FF, R2111 Grant 58–21. Selbst verglichen mit den rund 20 Millionen Dollar, die die Stiftung in diesem Zeitraum (nach Sutton/Smock: Ford Foundation, S. 68, wie Anm. 39) insgesamt in den Bereich der African Studies investierte, war dies eine beträchtliche Summe. 47 Vgl. LSE IAI 1/25: List of Members at 30 June, 1938; LSE IAI 1/26: Report of the Administrative Director Presented to the Executive Council at its Meeting in Brussels on April 6th, 1948, S. 1; LSE IAI 1/33: Report of the Administrative Director. April 1954–March 1955, S. 1; Report of the Administrative Director. April 1962–March 1963. In: Africa: Journal of the International African Institute 33 (1963). H. 4. S. 353–358; LSE IAI 1/55: Journal Circulation 1978 vom 21.4.1979.

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tutsführung blieb aus.48 Stattdessen entwickelten sich in den USA mit der Gründung der amerikanischen African Studies Association (ASA-USA) 1958 als nationaler Dachorganisation und der Etablierung des Joint Committee on African Studies (JCAS) unabhängige Koordinationsstrukturen.49 Dies lag zum einen daran, dass sich die US-amerikanische Afrikaforschung seit Mitte der 1950er inhaltlich wie disziplinär zunehmend am modernisierungstheoretisch geprägten Mainstream der US-Area Studies orientierte. Anstelle der ethnologisch fundierten Annäherung an vermeintliche traditionelle Kulturen und kleinteilige Stammeseinheiten dominierte an den neuen Afrikazentren in Nordamerika nun vor allem die politik-, wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Erforschung der neuen Nationalstaaten und ihres vorgeblich unvermeidlichen Weges in die Moderne – nicht immer mit den allerhöchsten empirischen Ansprüchen.50 Mit der politischen Lage verschob sich zweitens die amerikanische Wahrnehmung der engen Verbindungen des IAI zu den europäischen Kolonialmächten. Schon Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre hatte der amerikanische Ethnologe Melville Herkovits – obwohl gleichzeitig selbst Mitglied des IAIVorstands – das Institut gegenüber Vertretern verschiedener Stiftungen als eine Art vom britischen Colonial Office ferngesteuerter, imperialistischer Tarnorganisation dargestellt, die keine amerikanische Unterstützung verdiene. Allerdings taten die Stiftungen diese Invektiven zu dieser Zeit noch als persönliche Animositäten zwischen Wissenschaftlern ab.51 Dies änderte sich jedoch zu Beginn der 1960er. Als das britische Vorstandsmitglied Meyer Fortes im Herbst 48 Die Beteiligung von Amerikanern ging dort in den 1960er Jahren sogar wieder zurück: Die drei amerikanischen Vorstandsmitglieder von 1959 (Brown, Herkovits und der Linguist Joseph Greenberg) schieden bis 1969 alle aus dem Vorstand aus und wurden lediglich durch den Politikwissenschaftler James S. Coleman ersetzt. 49 Robinson, Pearl: Area Studies in Search of Africa. In: The Politics of Knowledge. Area Studies and the Disciplines. Hrsg. von David Szanton. Berkeley 2004. S. 83–123; Grubbs, Larry: Secular Missionaries. Americans and African Development in the 1960s. Amherst [u.a.] 2009, S. 42–48; Martin, The Ascent (wie Anm. 38). 50 Zur US-amerikanischen Modernisierungstheorie vgl. Latham, Michael E.: Modernization as Ideology. American Social Science and „Nation Building“ in the Kennedy Era. Chapel Hill 2000; Gilman, Nils: Mandarins of the Future. Modernization Theory in Cold War America. Baltimore, London 2003; sowie speziell für den afrikanischen Fall v.a. Grubbs, Secular (wie Anm. 49), hier Kap. 2 und 3. 51 Vgl. RAC RF 1.1/475/1/4: Interview Roger F. Evans mit Herskovits vom 8.2.1946; Interview Herskovits mit Leland DeVinney vom 4.5.1950. Tatsächlich tat sich Herskovits schon relativ früh als Unterstützer der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen hervor (während er allerdings gleichzeitig in den USA seine afroamerikanischen Kollegen aktiv behinderte); vgl. Gershenhorn, Jerry: Melville J. Herskovits and the Racial Politics of Knowledge. Lincoln, Nebraska 2004.

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1961 in New York mit Mitarbeitenden der Ford Foundation zusammentraf, sah er sich mit der unverblümten Frage konfrontiert, „whether it was not time for the Institute to dissolve itself or to re-constitute itself under some other name, the argument being that it belongs to the ‚Colonial‘ era“.52 Dass die amerikanische Stiftung das IAI trotzdem weiter unterstützte, hatte im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen existierte Anfang der 1960er Jahre noch keine andere Organisation, die in der Lage gewesen wäre, die Rolle als internationales Informationszentrum der Afrikawissenschaft glaubwürdig und effizient auszufüllen. Zweitens hoffte man in New York, dass es dem IAI gelingen würde, gewissermaßen eine Brücke zwischen der alten und der neuen Afrikaforschung zu bauen. Mehr als die Hälfte der Ford-Gelder floss zwischen 1959 und 1972 in die so genannten Internationalen Afrikanischen Seminare, eine Reihe von insgesamt 13 kleineren, aber prominent besetzten Konferenzen, die bevorzugt Modernisierungsthemen wie den „Sozialen Wandel in Afrika“, „Neue Eliten“ oder „Moderne Migration“ behandelten.53 Durch ihre Ausrichtung auf afrikanischem Boden waren sie ausdrücklich als Mittel zur Integration afrikanischer Forschender in die globale Forschungslandschaft gedacht – nicht zuletzt mit dem Hintergedanken, dadurch den westlichen Einfluss in Afrika „zu einem entscheidenden Zeitpunkt“ zu stärken.54

Afrikanisierung: Das IAI und die postkoloniale Afrikaforschung Bereits auf der Londoner Konferenz von 1947 hatte der scheidende Vorstandsvorsitzende, Lord Hailey, seine Kollegen im Internationalen Afrikainstitut nachdrücklich dazu aufgefordert, „that we should use every endeavour to secure the 52 LSE IAI 35/1: Fortes an Forde vom 9.10.1961. 53 Vgl. Southall, Aidan (Hrsg.): Social Change in Modern Africa. Studies Presented and Discussed at the First International African Seminar, Makerere College, Kampala, January 1959. London [u.a.] 1961; Lloyd, Peter (Hrsg.): The New Elites of Tropical Africa. Studies presented and discussed at the sixth International African Seminar at the University of Ibadan, Nigeria, July 1964. London 1966; Amin, Samir (Hrsg.): Modern Migrations in Western Africa. Studies presented and discussed at the 11th International African Seminar, Dakar, April 1972. London 1974. Als Blaupause diente dabei eine 1954 vom IAI im Auftrag der UNESCO ausgerichtete Konferenz zur Urbanisierung in Afrika im ivorischen Abidjan; vgl. Social Implications of Industrialization. Prepared under the auspices of Unesco by the International African Institute. Paris: UNESCO 1956. 54 RAC FF, R0364, Section 1: University of Chicago, International African Institute (London), African Studies: Recommended Action von 1957.

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collaboration of those Africans whose attainments in scholarship may fit them to take a share in our work.“55 In dieser reichlich gewundenen Formulierung spiegelt sich die ambivalente Beziehung des Instituts zu Afrikanerinnen und Afrikanern als afrikanistischen Wissensproduzierenden in der Zwischenkriegszeit. Einerseits passte das nachdrückliche Engagement des Instituts für die Wertschätzung afrikanischer Sprachen und Kulturen als kulturelle Errungenschaften gut zur Agenda vieler afrikanischer Intellektueller der Zwischenkriegszeit. Andererseits war das IAI vor allem in seiner Frühzeit keineswegs frei von kolonialen und rassistischen Vorurteilen, was angesichts der persönlichen und professionellen Hintergründe vieler seiner führenden Mitglieder kaum überraschen kann. Die Beteiligung afrikanischer Forschender am IAI blieb daher lange Zeit auf einige wenige, wenn auch teils prominente Ausnahmefälle beschränkt. So erhielt etwa der spätere kenianische Präsident Jomo Kenyatta – nach langen internen Diskussionen und gegen den ausdrücklichen Widerstand Lugards – in den 1930er Jahren ein gering dotiertes Stipendium, um ihm sein Studium der Anthropologie bei Malinowski in London zu erleichtern.56 Gleichzeitig blieb nicht nur Lugard der „rabbit turned poacher“ – wie Kenyatta selbst die Situation des afrikanischen Afrikanisten einmal beschrieb 57 – grundsätzlich suspekt: Statt objektive Wissenschaft zu produzieren, so glaubte die IAI-Spitze, würden sie zu politisch motivierter Propaganda neigen.58 Der großen Mehrzahl der Afrikanerinnen und Afrikanern war zudem eine Mitarbeit im Institut schon dadurch verwehrt, dass sie keinen Zugang zu höherer akademischer Bildung hatten: Hochschulen oder gar Universitäten existierten in den Kolonien des subsaharischen Afrika (mit Ausnahme Südafrikas) nicht. Im Jahr 1947 war allerdings abzusehen, dass sich dies bald ändern würde. Wie Hailey berichte, planten mehrere Kolonialmächte in naher Zukunft die Eröffnung von Institutionen der höheren Bildung in ihren afrikanischen

55 Hailey, William: The Past and Future of the Institute. In: Africa: Journal of the International African Institute 17 (1947). H. 4. S. 229–234, hier S. 234. 56 LSE IAI 2/1: International Institute of African Languages and Cultures: Bureau Minutes vom September 1931, S. 94 (Treffen vom 26.10.1934) und S. 129 (Treffen vom 18.12.1936). Dem späteren nigerianischen Präsident Benjamin Nnamdi Azikiwe wurde dagegen 1934 eine Förderung aus zumindest teilweise eindeutig als rassistisch zu bezeichnenden Gründen verweigert. 57 Kenyatta, Jomo: Facing Mount Kenya. The Tribal Life of the Gikuyu. With an Introd. by B. Malinowski. London 1938, S. xviii. 58 Interessanterweise versuchte Malinowski 1936, Lugard doch noch von einer Förderung Kenyattas zu überzeugen, indem er argumentierte, die in seinen Seminaren gelehrte „detached scientific method“ werde einen „depoliticising influence“ auf Kenyatta ausüben; LSE IAI 39/ 139: Malinowski an Lugard vom 7.12.1936.

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Territorien.59 Nicht zuletzt auf Druck der erstarkenden Unabhängigkeitsbewegungen entstanden seit Ende der 1940er zuerst im britischen Raum, dann auch in den französischen und belgischen Gebieten die ersten Hochschulinstitute.60 Diese operierten zunächst noch de facto als Außenstellen von Universitäten im jeweiligen kolonialen Mutterland, welche auch den überwiegenden Teil des Lehrpersonals stellten.61 Erst nach der politischen Unabhängigkeit wurden sie eilig zu selbstständigen Universitäten umgewandelt, wobei die enge Anbindung an die akademischen Systeme der ehemaligen Kolonialmächte teils noch länger bestehen blieb.62 Dennoch entwickelten sich die neuen Institutionen bereits in den 1950er Jahren zu wichtigen Keimzellen einer neuen Richtung der Afrikaforschung, die gerade wegen der engen Verbindungen zu Europa eine transformierende Wirkung entfalten konnte. Einerseits machten die Faszination der politischen Aufbruchsstimmung, die relativ große Zahl an verfügbaren Stellen sowie die oft sehr gute Bezahlung die neuen Institute zu einer durchaus attraktiven Option für junge, kreative und oft politisch engagierte Forschende aus Europa und Nordamerika. Für nicht wenige von ihnen bedeutete dies einen ersten intensiven Kontakt mit afrikanischen Themen und Perspektiven, welche sie später zum Teil in den westlichen akademischen Diskurs gewissermaßen reimportie-

59 Hailey, Past and Future (wie Anm. 55), S. 234. 60 Im britischen Bereich wurden für diese sogenannten University Colleges meist bereits in der Zwischenkriegszeit gegründete Sekundärschulen aufgewertet, etwa Ibadan in Nigeria (1947), Khartoum im Sudan (1947), Achimota in Ghana (1948), Fourah Bay in Sierra Leone (1948) und Makerere College in Uganda (1949); vgl. Nwauwa, Apollos: Imperialism, Academe and Nationalism. Britain and University Education for Africans, 1860–1960. London 1996; Ashby, Eric: African Universities and the Western Tradition. London 1964. Die ersten Hochschuleinrichtungen im frankophonen Teil Afrikas waren das Universitätszentrums Lovanium in Léopoldville (1949) und das Institut des Hautes Etudes in Dakar (1950). 61 Noch 1962 waren rund drei Viertel der Lehrstellen an den anglophonen Hochschulen Afrikas mit Nicht-Afrikanern besetzt, während der Anteil für den französischen und belgischen Bereich sogar noch deutlich höher lag; vgl. Carr Saunders, Alexander: The Staffing of Higher Education in Africa. In: The Development of Higher Education in Africa. Report of the Conference on the Development of Higher Education in Africa, Tananarive, 3–12 September 1962. Hrsg. von UNESCO. Paris: UNESCO 1963. S. 91–154. 62 Für eine Übersicht über die Entwicklung des afrikanischen Hochschulwesens vgl. Tadesse, Zenebeworke: From Euphoria to Gloom? Navigating the Murky Waters of African Academic Institutions. In: Out of One, Many Africas. Reconstructing the Study and Meaning of Africa. Hrsg. von William Martin u. Michael West. Urbana [u.a.] 1999. S. 145–154; Ajayi, Jacob F. u. a.: The African Experience with Higher Education. Athens, Ohio 1996, Kap. 3 bis 5, sowie Lulat, Y. G-M.: A History of African Higher Education from Antiquity to the Present. A Critical Synthesis. Westport 2005, Kap. 4 und Kap 6.

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ren sollten.63 Andererseits boten die neuen Hochschulen trotz der numerischen Dominanz von europäischen Einflüssen eine essentiell wichtige Plattform für eine erste Generation afrikanischer Forschender, die in den Nachkriegsjahren nicht nur mit wissenschaftlichen Abschlüssen, sondern auch mit panafrikanischen und nationalistischen Ideen im Gepäck aus Europa und den USA nach Afrika zurückkehrten. Die Erforschung afrikanischer Kulturen und Gesellschaften war für viele von ihnen unauflöslich mit dem politischen Projekt der Schaffung einer intellektuellen Grundlage für unabhängige und selbstbewusste afrikanische Staaten verbunden. Dies galt ganz besonders für die afrikanische Geschichte, die sich in den 1950er Jahren aus dem Windschatten der imperialen Geschichte löste und zu einer Art Leitdisziplin der neuen „Unabhängigkeitssfrikanistik“ entwickelte.64 Dem Internationalen Institut gelang es zunächst relativ gut, die neuen Orte und Methoden der afrikanistischen Wissensproduktion in sein Netzwerk einzubinden. Die erwähnten Afrikanischen Seminare ergaben mit ihren Tagungsorten eine recht repräsentative Karte der wichtigsten universitären Zentren des so genannten tropischen Afrikas in den 1960er Jahren.65 Doch obwohl die Mehrzahl der Seminarteilnehmenden an Institutionen in Afrika tätig war, blieb die Beteiligung afrikanischer Wissenschaftler enttäuschend gering – zur Frustration der Ford Foundation, die schon in der Planungsphase mehrfach und unmissverständlich auf eine möglichst substantielle Einbindung von afrikanischen Perso63 Für das anglophone Afrika schätzte John Fage, der selbst von 1949 bis 1959 – für „rather more than twice as much money as my UK possibilities“ (Fage, British African Studies [wie Anm. 16], S. 400) – am Ghana University College lehrte, die Zahl der britischen Wissenschaftler mit Lehrauftrag an afrikanischen Institutionen um 1962 auf etwa 750. Allein für das Fach der Geschichte listet er 20 spätere Lehrstuhlinhaber an britischen Universitäten auf, die zuvor an den afrikanischen Hochschulen unterrichtet hatten; vgl. Fage, British African Studies (wie Anm. 16) S. 404–407. 64 Vgl. Neale, Caroline: Writing ‚Independent‘ History. African Historiography, 1960–1980. Westport, London 1985; Jewsiewicki, Bogumil u. David S. Newbury: African Historiographies. What History for which Africa? Beverly Hills 1986; Eckert, Andreas: Nationalgeschichtsschreibung und koloniales Erbe. Historiographien in Afrika in vergleichender Perspektive. In: Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich. Hrsg. von Christoph Conrad u. Sebastian Conrad. Göttingen 2002. S. 78–111. 65 Im Einzelnen waren dies: In Ostafrika das Makarere College mit dem EAISR (1959), die Haile Selassie University in Äthiopien (1966), sowie Dar-es-Salam in Tansania (1968); in Westafrika die beiden nigerianischen Universitäten in Zaria (1964) und Ibadan (1964), die University of Ghana (1965), sowie Fourah Bay College in Sierra Leone (1969); im Süden des Kontinents die University of Rhodesia in Salisbury/Harare (1960) und die University of Zambia mit dem ehemaligen Rhodes-Livingston-Institut (1972); im frankophonen Raum die Universität Lovanium im Belgischen Kongo (1960), zweimal die Universität Dakar (1961 und 1972), sowie schließlich die Universität Niamey (1972).

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nen gedrängt hatte.66 Selbst das 1961 stattfindende Seminar zur afrikanischen Geschichte leistete zwar in wissenschaftlich-methodischer Hinsicht durchaus einen Beitrag zur Afrikanisierung des Forschungsfeldes, hatte aber lediglich zwei aktive afrikanische Vortragende.67 Ein afrikanischer Wissenschaftler nannte das Dakar-Seminar daher einige Jahre später sogar ausdrücklich als Negativbeispiel für die eurozentrische Ausrichtung der internationalen Afrikaforschung der frühen 1960er.68 Eine noch deutlichere Sprache spricht der Blick auf die Institutszeitschrift Africa: Unter den 107 Autorinnen und Autoren, die zwischen 1960 und 1965 publiziert wurden, stammten 85 aus Europa, 25 aus Nordamerika, und gerade einmal 7 aus Afrika. Zur Erklärung dieser Zahlen verwies das IAI auf wissenschaftliche Standards, die man nicht zugunsten politischer Interessen kompromittieren dürfe.69 Geradezu exemplarisch für die widersprüchlichen Ergebnisse der Selbstafrikanisierungsversuche des Instituts steht der nigerianische Historiker Kenneth Onwuka Diké, der – nach einem kurzlebigen und erfolglosen Experiment mit dem ghanaischen Sozialwissenschaftler Kofi Busia zu Beginn der 1950er Jahre70 – 1957 effektiv als erster Afrikaner in den IAI-Vorstand aufgenommen wurde. Diké galt nicht nur als einer der intellektuellen Pioniere einer neuen afrikanischen Geschichte, die erstmals afrikanische Handelnde in den Vordergrund rückte. Als Gründer des nigerianischen Staatsarchivs, der Historical Society of Nigeria und ihrer einflussreichen Zeitschrift sowie als erster afrikanischer Rektor des University College (beziehungsweise ab 1962 der Universität) Ibadan war er auch ganz wesentlich am Aufbau wissenschaftlicher Infrastrukturen in Afrika beteiligt. Damit wurde Diké zu einer emblematischen Figur für den Aufschwung einer politisch engagierten, zugleich aber auch wissenschaftlich international angesehenen afrikanischen Afrikanistik zu Beginn der 1960er Jahre. Wie kaum ein

66 RAC FF R0364 Section 4: Melvin Fox an Swayzee vom 10.6.1957; Fox an Daryll Forde vom 11.7.1957; Fox an Forde vom 21.6.1957; Fox an Forde vom 20.9.1957. 67 Vgl. Vansina, Jan, Raymond Mauny u. Louis-Vincent Thomas (Hrsg.): The Historian in Tropical Africa. Studies Presented and Discussed at the Fourth International African Seminar at the University of Dakar, Senegal 1961. London 1964. 68 Obichere, Boniface: The Contribution of African Scholars and Teachers to African Studies, 1955–1975. In: Issue: A Journal of Opinion 6 (1976). H. 2. S. 27–32, hier S. 31. 69 LSE IAI 35/1: Memorandum to the Officers and Trustees of the Ford Foundation Concerning the Activities of the International African Institute vom 12.5.1961. 70 Kofi A. Busia, Soziologieprofessor am University College Ghana (und späterer Premierminister Ghanas von 1969–1972), wurde 1952 in den IAI-Vorstand gewählt. Da das Institut aber nicht bereit war, die Kosten für seine Teilnahme an den Vorstandssitzungen zu übernehmen, trat er nach zwei Jahren wieder zurück, ohne sein Amt wirklich angetreten zu haben; vgl. die Korrespondenz zwischen Busia und Forde überliefert in LSE IAI 37/147.

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anderer verkörperte er die angestrebte dreifache Afrikanisierung der Afrikaforschung – geographisch, personell und intellektuell.71 Vor diesem Hintergrund scheint es fast erstaunlich, dass Diké überhaupt zu einer Mitarbeit im IAI-Vorstand bereit war, dem noch bis Mitte der 1960er nicht weniger als fünf etliche ehemalige hohe Kolonialbeamte angehörten.72 Tatsächlich scheint der nigerianische Historiker eine Art persönlichen Kompromiss zwischen internationaler wissenschaftlicher Kooperation und seiner politischen Überzeugung geschlossen zu haben: Obwohl er offiziell seinen Sitz im IAI-Vorstand aufnahm, weigerte er sich in der Praxis bis 1971 aus politischen Gründen, an den jährlichen Vorstandssitzungen teilzunehmen, solange diese nicht in Afrika stattfanden.73 Auf der anderen Seite traute der IAI-Direktor Daryll Forde seinem Vorstandsmitglied noch 1957 nicht einmal die Leitung eines der Afrikanischen Seminare zu: „Diké lack[s] impact“, teilte er der Ford Foundation mit.74 Zu einem wirklichen Problem für das IAI wurde diese seltsame Afrikanisierung ohne Afrikaner aber erst, als zu Beginn der 1960er mit dem Internationalen Afrikanistenkongress (ICAS) eine Organisation entstand, die dem Institut als Zentrum der internationalen Wissenszirkulation Konkurrenz zu machen versprach. Interessanterweise ging dies auf eine Initiative der im Westen zuvor kaum beachteten sowjetischen Afrikanisten zurück, die eine antikoloniale Koalition mit afrikanischen Wissenschaftlern zu schmieden hofften, indem sie letzteren die Führungsrolle in einer neuen internationalen Organisation antrugen.75 Trotz einer gewissen Skepsis gegenüber den politischen Motiven der Sowjetwissenschaftler erhielt die Idee nicht nur Unterstützung von Seiten der inter71 Vgl. Brizuela-García, Esperanza: The History of Africanization and the Africanization of History. In: History in Africa 33 (2006). S. 85–100. Zu Diké (1917–1983) siehe Kaese, Wolfgang: Akademische Geschichtsschreibung in Nigeria. Historiographische Entwicklung und politischsoziale Hintergründe, ca. 1955–ca. 1995. Münster [u.a.] 2000, Nwaubani, Ebere: Kenneth Onwuka Diké, ‚Trade and Politics‘, and the Restoration of the African in History. In: History in Africa 27 (2000). S. 229–248, Nwauwa, Apollos: Kenneth Onwuka Diké. In: The Dark Webs. Perspectives on Colonialism in Africa. Hrsg. von Toyin Falola. Durham 2005. S. 309–328. 72 Dies waren der belgische Vorstandsvorsitzende Alfred Moeller de Laddersous, der stellvertretende Vorsitzende und Schatzmeister Sir George Beresford-Stooke, der Kolonialhistoriker und französische Konsultativdirektor Hubert Deschamps, sowie die Ehrenmitglieder Lord Hailey und Robert Delavignette. 73 So berichtete sein amerikanischer Vorstandskollege: Coleman, James: Report on a Survey of African Studies by James S. Coleman, o.O. [1966], S. 19, überliefert in: RAC, FF R2111, Grant File 54–59, Section 5.2. 74 RAC, FF, R0364, Grant File 58–21, Section 4: Telephone Call from Mr. Melvin Fox, Ford Foundation, June 20th 1975 vom 20.6.1975. 75 Vgl. Marung, Steffi: Peculiar Encounters with the ‚Black Continent‘. Soviet Africanists in the Global 1960s and the Expansion of the Discipline. In: Self-Reflexive Area Studies. Hrsg. von Mathias Middell. Leipzig 2013. S. 103–134, bes. S. 131–133.

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nationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft, sondern auch finanzielle Förderung von Seiten der Ford Foundation. Einmal mehr war es Kenneth Diké, der 1962 als erster Präsident die feierliche Gründungskonferenz des ICAS in Accra eröffnete.76 Das IAI war in die Konferenzvorbereitungen zwar offiziell eingebunden, jedoch ausdrücklich nicht als internationale Dachorganisation, sondern lediglich als Vertreter der britischen Afrikanistik.77 Seine Führungsriege zeigte sich von der neuen Initiative beeindruckt: Auf der Vorstandssitzung 1961 beschäftigte sich eine längere Diskussion nicht mehr mit der Frage der Einbindung von Afrikanern in die europäische Afrikawissenschaft, sondern vielmehr der Einbindung der alten, europäischen Afrikanistik in die neue globale Ordnung der Afrikawissenschaft. Man befürchtete, so der britische Ethnologe Meyer Fortes, „that the body of expertise and knowledge existing among European specialists who had a long tradition of service to African studies, might not be put to full use in future, when the initiative might pass to scholars in the U.S., Africa and the U.S.S.R.“78 Als Antwort auf die ICAS organisierte das IAI 1964 seine eigene Afrikanistenkonferenz in Afrika. Die so genannte Tropical African Studies Conference (TASC) in Ibadan, auf der knapp 90 Vertreter der namhaftesten afrikanistischen Zentren in Europa, Afrika und Amerika den aktuellen Stand und die zukünftige Ausrichtung der internationalen Afrikaforschung diskutierten, demonstrierte noch einmal die immer noch exzellente Vernetzung des IAI. Obwohl die Konferenz sowohl personell als auch organisatorisch eng mit dem Afrikanistenkongress verflochten war – unter anderem wurden beide von Diké als Präsident geleitet und von der Ford Foundation finanziert – standen beide im Hinblick auf die internationale Organisation der Afrikanistik in direkter Konkurrenz zueinander. Dies wurde deutlich in einem Resolutionsvorschlag auf der TASC, der die offizielle Erklärung des IAI zum globalen Kommunikationszentrum der Afrikaforschung zum Ziel hatte. Die gerade eben erst gegründete ICAS wurde dabei umgekehrt als Vertretung allein der afrikanischen Afrikaforscher behandelt. Trotz der Unterstützung einiger namhafter westeuropäischer Forschender scheiterte dieses Vorhaben allerdings am entschiedenen Widerstand der Teilnehmenden aus Afrika und den sozialistischen Ländern, die den ICAS als einzig legitimes internationales Organ ansahen.79

76 Vgl. Bown, Lalage u. Michael Crowder (Hrsg.): The Proceedings of the First International Congress of Africanists. Accra, 11th–18th December 1962. 77 LSE IAI 23/8: Diké an Forde vom 2.4.1962; Forde an Diké vom 8.5.1962. 78 LSE IAI 35/1: Executive Council Minutes 1961 (Auszug), Abs. 1095. 79 Vgl. LSE IAI 23/10: Tropical African Studies Conference, Programme Item III.2: Liaison and Co-ordination of Activities among African Studies Centres, S. 4–5.

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Nicht nur aufgrund der gescheiterten Informationszentrums-Initiative lässt sich die Tropical African Studies Conference mit einiger Berechtigung als entscheidende Wegmarke für das Ende des IAI als inoffizielles Dachinstitut der Afrikaforschung lesen. Wie der amerikanische Politikwissenschaftler James Coleman feststellte, der 1966 das Institut und seine Position im Feld in einem detaillierten Report an die Ford Foundation analysierte, hatte der relative Bedeutungsverlust des IAI vor allem zwei Gründe.80 Zum einen hatte das Institut die Gelegenheit verpasst, sich rechtzeitig und deutlich genug von seiner kolonialen Vergangenheit zu distanzieren. Zwar veranstaltete das IAI im Rahmenprogramm der Ibadan-Konferenz nicht nur sein erstes Vorstandstreffen auf afrikanischem Boden in seinem mittlerweile fast vierzigjährigen Bestehen, sondern konnte dabei auch immerhin fünf ausgewiesene antikoloniale afrikanische Intellektuelle in seinem Führungszirkel präsentieren. Gleichzeitig gehörten dem Gremium aber weiterhin ebenfalls fünf ehemalige Kolonialgouverneure an, sowie zusätzlich zwei Missionsvertreter und ein Emissär der Immer-Noch-Kolonialmacht Portugal.81 Während persönlich Coleman die „rather unfashionable reluctance – indeed deliberate policy not – to repudiate the colonial past“ eher als Zeichen von Prinzipientreue zu interpretieren schien, musste er gleichzeitig konstatieren, dass das Institut dadurch für einen großen Teil der Afrikaforschenden als internationales Koordinationszentrum nicht länger „psychologically acceptable to the bulk of Africanists, and particularly to hypersensitive Afrophiles and Africans“ sei.82 Noch wichtiger war seiner Ansicht nach zweitens die methodische, inhaltliche und disziplinäre Ausdifferenzierung, die mit dem explosionsartigen Wachstum der African Studies in den 1960er Jahren einhergegangen war. Während das IAI im Bereich der afrikanischen Ethnologie seine zentrale Stellung in Forschung und Publikationswesen im Wesentlichen behauptet hatte, konnte diese Mitte der 1960er nicht mehr als alleinige Leitwissenschaft eines Feldes gelten, das sich von Geschichte über Rechts-, Wirtschafts- und Politikwissen-

80 Coleman: Report on a Survey (wie Anm. 73). 81 Neben Diké, mittlerweile stellvertretender Vorsitzender, waren dies der Senegalese Alioune Diop (Herausgeber der Zeitschrift Présence Africaine und einer der zentralen Figuren der négritude-Bewegung), der Ghanaer Nana Kobina Nketsia IV (Rektor der Universität Ghana und Kwame Nkrumahs Berater in kulturellen Fragen), der kongolesische Bischof Martin Bakole (Vizerektor der Universität Lovanium in Kinshasa) sowie der Sierra-Leoner Arthur T. Porter (Rektor der Universität Sierra Leone). Zu den in Anm. 72 genannten Kolonialgouverneuren kamen der katholische Pater Vaast Van Bulck, der protestantische Missionar Reverend H. Wakelin Coxill sowie der portugiesische Ethnologe Jorge Dias. 82 Coleman: Report on a Survey (wie Anm. 73), S. 21

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schaften bis hin zu Kunst und Naturwissenschaft erstreckte.83 Darüber hinaus waren in der Ethnologie bereits 1964 in Ibadan ernsthafte Anzeichen einer schwerwiegenden Krise zu erkennen, die, wie der britisch-südafrikanische Ethnologe Aidan Southall warnte, sogar die „destruction of the discipline“ als eine „real possibility“ erscheinen ließ.84 Für viele Afrikanerinnen und Afrikaner galt Mitte der 1960er insbesondere die britische Sozialanthropologie nach dem Muster der African Political Systems und der Ethnographic Survey als Synonym für eine rückwärtsgewandte Kolonialwissenschaft – als „handmaiden of colonialism and exalter of primitivism“, wie Coleman zusammenfasste.85 Auch unter westlichen Afrikanisten wurde der Gedanke, dass die Ethnologie durch ihre Assoziation mit dem Kolonialismus unrettbar kompromittiert und daher dem baldigen Verschwinden geweiht sei, eine Zeit lang lebhaft diskutiert.86 Eine inhaltlich-methodische Neuausrichtung des IAI wurde allerdings nicht nur von der zunehmend konservativen Institutsführung um Daryll Forde abgelehnt, sondern auch von der sich rapide verschlechternden allgemeinen Konjunktur der Afrikaforschung erschwert.87 Dies zeigte sich besonders deutlich nach Fordes Tod 1973, der das Institut nicht nur in eine Identitätskrise stürzte, sondern auch den Weg für umfassende Reformen freizumachen schien. Während ein Teil des Vorstands eine Aufgabe der globalen Ambitionen und einen Rückzug nach Europa befürwortete, setzte sich ein anderer nachdrücklich für den Umzug des Instituts in die nigerianische Hafenstadt Lagos ein, um auf die-

83 Nach Colemans Analyse waren in der ersten Hälfte der 1960er etwa ein Drittel des Vorstands sowie rund 65% der Beiträge in der Institutszeitschrift Africa der Disziplin der Ethnologie zuzurechnen, wohingegen die von Coleman sogenannte Gruppe der „generalisierenden Sozialwissenschaften“ – Politikwissenschaft, Soziologie, Ökonomie und Psychologie – zusammengenommen auf lediglich etwa 10 bis 15 Prozent des Vorstands und 5 Prozent der Artikel in der Institutszeitschrift kam; vgl. Coleman: Report on a Survey (wie Anm. 73), S. 8, sowie Annex C und D. 84 LSE IAI 23/10: Tropical African Studies Conference: Report on Session II: 1. Tropical Cultures and Social Insititutions, S. 1. 85 Coleman: Report on a Survey (wie Anm. 73), S. 31. 86 Vgl. etwa (zustimmend) Hooker, James R.: The Anthropologists’ Frontier. The Last Phase of African Exploitation. In: The Journal of Modern African Studies 1 (1963). H. 4. S. 455–459; (ablehnend) Lewis, I. M.: Introduction. In: History and Social Anthropology. Hrsg. von I. M. Lewis. London [u.a.] 1968. S. ix–xxviii. 87 Der für gewöhnlich exzellent informierte Ansprechpartner des IAI bei der Ford Foundation, Melvin Fox, war 1973 der Meinung, der „extreme lack of funds that characterizes IAI current operations“ und die dadurch nötige „pinch-penny policy“ habe die fortschrittliche Fraktion im IAI-Vorstand erheblich bei der Entwicklung alternativer Ideen und Programme behindert; RAC FF R2111, Section 4: Fox an Haskell Ward vom 1.6.1973.

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se Weise internationale Relevanz zurückzugewinnen.88 Auch wenn es zu dieser physischen Bewegung nach Afrika letztlich nicht kam, verfolgte das IAI unter Fordes Nachfolger David Dalby doch einen konsequenten Afrikanisierungskurs. Ab 1975 hatte das Institut einen afrikanischen Vorstandsvorsitzenden, den nigerianischen Historiker J.F. Ade Ajayi, einen afrikanischen stellvertretenden Vorsitzenden, den Kongolesen Tharcisse Tshibangu Tshishiku sowie mehr afrikanische als europäische Vorstandsmitglieder. Zusammen mit einer Rückbesinnung auf die praktischen Ursprünge des IAI, etwa in der Linguistik, versuchte Dalby auf diese Weise neue Einnahmequellen für das Institut gerade auch von Seiten der afrikanischen Staaten zu erschließen.89 Allerdings war der Zeitpunkt für eine solche Neuausrichtung denkbar ungünstig: Vor dem Hintergrund der zunehmend schwierigen wirtschaftlichen und politischen Lage eines Großteils der afrikanischen Staaten, der um sich greifenden Desillusionierung mit Entwicklungspolitik und des abnehmenden Interesses des zunehmend mit sich selbst beschäftigten Westens durchlebte die Afrikaforschung als Ganzes nicht nur in finanzieller Hinsicht eine Krisenzeit.90 Das IAI war bis 1980 de facto zahlungsunfähig und musste nicht nur seine Ambitionen als Dachinstitut, sondern auch ständiges Büro und seine permanenten Angestellten aufgeben. Wie Ajayi beklagte, existierte das Institut Ende der 1980er Jahre „in one room with no full-time staff“91 als Untermieter der London School of Economics (LSE) und kämpfte mit dem verbreiteten Eindruck, es würde nicht länger existierten. Erst in den 1990er Jahren gelang mit einer neuen Satzung der Wiederaufbau – wobei das IAI seine frühere dominante Stellung im Feld allerdings nicht wieder erreichen konnte.

88 Der Lagos-Vorschlag stammte von J.F. Ade Ajayi und Michael Crowder, der im Falle eines Umzugs das Amt des IAI-Direktors übernommen hätte; vgl. LSE IAI 10/7: Notes on a Meeting Between Sir Arthur Smith, Professor Jacob Ajayi, Professor Michael Crowder, and Professor John Middleton held in London on 31 July 1973 vom 31.7.1973. 89 Dalby, David: The Future Role of the International African Institute. In: Africa: Journal of the International African Institute 44 (1974). H. 4. S. 323–330. 90 Vgl. Crowder, Michael: „Us“ and „Them“. The International African Institute and the Current Crisis of Identity in African Studies. In: Africa: Journal of the International African Institute 57 (1987). H. 1. S. 109–122. 91 LSE IAI 1/74: Minutes of the 61st Meeting of the Executive Council, London, 20. bis 21.12. 1988, S. 17.

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Konklusion: Strukturen, Dynamiken und Grenzen der Wissensbewegungen Das Wissensfeld der afrikanischen Sprachen, Kulturen und Gesellschaften durchlief zwischen 1945 und 1975 eine Periode dramatischer Veränderungen. Im Windschatten der politischen Dekolonisierung des größten Teils des afrikanischen Kontinents erlebten auch die Afrikawissenschaften eine Zeitspanne außergewöhnlicher Dynamisierung und extrem schnellen Wachstums, aber auch weitreichender inhaltlicher, disziplinärer und methodischer Verschiebungen. Gleichzeitig geriet auch die Topographie der globalen Wissensproduktion zum Thema Afrika in Bewegung. Während die europäischen Kolonialmächte wie Großbritannien, Frankreich, Belgien oder auch Portugal ihre Kolonialforschungsprogramme intensivierten, brachten sich ab Mitte der 1950er Jahre die USA mit ihrem enorm umfangreichen Area-Studies-Programm sowie nicht zuletzt die unabhängigen afrikanischen Staaten mit ihren neuen Universitäten und Hochschulen als ernstzunehmende Zentren der Afrikaforschung in Stellung. Der politische Dekolonisierungsprozess Afrikas setzte somit gewissermaßen eine (weitere) Globalisierung der Wissensproduktion zum Thema Afrika in Gang, was nicht nur eine erhebliche Konkurrenz um Ressourcen und Deutungsansprüche, sondern auch einen regen konzeptuellen wie personellen Austausch zwischen mehreren Kontinenten mit sich brachte. Das Internationale Afrikainstitut fungierte in dieser Situation als einer der Knotenpunkte, die diese Wissensbewegungen in der Praxis erst ermöglichten. Das IAI wirkte als eine zentrale Infrastruktur für die Zirkulation von Wissen – d.h. Inhalten, Konzepten und Methoden der Afrikaforschung – und Wissensträgern – d.h. Personen, aber auch Medien sowie forschungsrelevantem materiellem wie immateriellem Kapital, wie Finanzmitteln und Zugang zum Forschungsfeld. Die konkrete Form seines Netzwerks kanalisierte diese Ströme und Bewegungen und nahm auf diese Weise Einfluss auf die Struktur des gesamten Feldes. Das betraf insbesondere die Inklusion bzw. Exklusion bestimmter Akteure und Lokalitäten der Wissensproduktion, die ihrerseits wiederum eng mit den Konjunkturen wissenschaftlicher Ansätze und theoretisch-methodischer Konzepte verbunden war. Gerade weil diese Struktur nicht statisch war, sondern neue Handelnde und Orte der Wissensproduktion bis zu einem gewissen Grad integrieren konnte, entwickelte sie eine gewisse Beharrungskraft, indem sie die unterschiedlichen Dynamiken innerhalb des Feldes miteinander verband. Ein sauberer Bruch zwischen kolonialer und postkolonialer Afrikaforschung, wie ihn das eingangs zitierte Wandbild beschwört, ist zumindest beim

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Blick auf das IAI nicht zu erkennen. Vielmehr bildete die politische Dekolonisierung Afrikas hier den Auftakt zu einer Übergangsphase. Bis Mitte der 1970er Jahre existierten innerhalb des Instituts – wie auch im wissenschaftlichen Feld der Afrikanistik insgesamt – die beschriebenen drei Dynamiken in einer komplexen Mischung aus Konkurrenz und Kooperation parallel zu einander. Der spektakulär gescheiterte späte Afrikanisierungsversuch des IAI ist dabei – jenseits der Fehlkalkulationen der Institutsführung – einerseits wohl durch die Tatsache zu erklären, dass seine konkrete Verortung in London schlecht zur angestrebten neuen Rolle passte. Zum Anderen verweist er aber auch auf das paradoxe Ergebnis des Dekolonisierungsprozesses für die wissenschaftliche Erforschung Afrikas. Deren wichtigste Zentren und namhafteste Persönlichkeiten, etliche von ihnen in Afrika geboren, sind heute – als Folge politischer Instabilität, ökonomischer Probleme sowie nicht zuletzt der oft beschriebenen Krise der afrikanischen Hochschulsysteme – wieder fast ausschließlich in Europa und Nordamerika zu finden.92

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92 Vgl. Banya, Kingsley u. Juliet Elu: The Crisis of Higher Education in Sub-Saharan Africa. The Continuing Search for Relevance. In: Journal of Higher Education Policy and Management 19 (1997). H. 2. S. 151–166; Lulat, History (wie Anm. 62).

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 Medien des Wissens

Cornelia Hagemann

Kontinuitäten und Brüche in der Wissensvermittlung über das Herkunftsland Die Weitergabe von Wissen über Iran und die persische Kultur an in Deutschland aufwachsende Kinder iranischen Hintergrunds Was Menschen über die Welt, in der sie leben, wissen oder zu wissen meinen, ist nie vollkommen unabhängig vom Kontext, in welchem sie sich bewegen. Die Weltbilder und Wissensbestände, die sie sich zu eigen machen, sind vom gesellschaftlichen Umfeld ihrer Sozialisation stark geprägt, verharren jedoch nicht unbedingt starr in dessen Rahmen. Wissen zirkuliert zwischen Menschen und Gruppen und reagiert dabei auf „‚Anstöße‘ aus anderen Wissensfeldern aus unterschiedlichen sozialen Räumen.“1 Durch die Migration in ein anderes Land verändern sich diese Anstöße von außen teils signifikant. Migrantinnen und Migranten bringen dabei nicht nur ihr Wissen in die neue Gesellschaft mit, sondern werden von dieser in ihren eigenen Wissensbeständen herausgefordert. Dies betrifft auch das Wissen über das Herkunftsland. Angehörige der ersten Generation, die dort sozialisiert wurden, dort zur Schule gingen und mit den dortigen Wissensbeständen und Wertvorstellungen vertraut sind, tragen in der neuen Umgebung – zum Teil bewusst, zum Teil auch unbewusst – ganz entscheidend dazu bei, welches Wissen über das Herkunftsland, bzw. die Bezugskultur an ihre Kinder und die nachfolgenden Generationen weitergegeben wird. Dies geschieht – für die Forschung schwer greifbar – vor allem im privaten Bereich der eigenen vier Wände, jedoch auch über die Zivilgesellschaft, etwa über die Arbeit von Kultur- und Bildungsvereinen. Wissen wird hier nicht nur von „spezialisierten Einrichtungen erzeugt und [ge]pflegt“,2 sondern auch von nicht spezialisierten Privatpersonen in der Migration, die über ein ehrenamtliches Engagement im Bereich der Bildung ganz entscheidend zur Weitergabe von Wissen beitragen.

1 Sarasin, Philipp: Was ist Wissensgeschichte? In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011). S. 159–172, hier S. 164. 2 Speich-Chassé, Daniel u. David Gugerli: Wissensgeschichte. Eine Standortbestimmung. In: Kulturgeschichte – eine historiographische Skizze. Traverse Zeitschrift für Geschichte (2012). S. 85–100, hier S. 85. https://doi.org/10.1515/9783110538076-006

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Von welchen Faktoren diese Ehrenamtlichen dabei beeinflusst werden, und wie sich die weitergegeben Wissensbestände und Weltbilder räumlich sowie zeitlich bedingt verändern, wird in diesem Beitrag beispielhaft anhand der Inhalte von Schul- und Lehrbüchern behandelt, die iranische Migrantinnen und Migranten im selbstorganisierten Persischunterricht für in Deutschland aufwachsende Kinder verwenden. Teilweise entscheiden sich die Lehrkräfte für die Verwendung aus ihrem Herkunftsland stammender Schulbücher, teilweise lehnen sie diese aus verschiedenen Gründen ab und greifen auf im Ausland herausgegebene Lehrbücher zurück oder produzieren diese selbst. Simone Lässig zufolge sind Schulbücher „ein Spiegel des Wissens, das die jeweils beteiligten gesellschaftlichen Akteure als besonders relevant (oder aber irrelevant) für die Gesellschaft und deren künftige Entwicklung eingestuft haben.“3 Analog dazu spiegelt sich in der von den iranischen Migrantinnen und Migranten getroffenen Auswahl an Lehrmaterialien, welches Wissen diese privat ehrenamtlich engagierten Akteure an die außerhalb Irans aufwachsenden Generationen weitergeben möchten, und welches Wissen über Geschichte, Kultur oder Geographie Irans sie als zentral erachten. Anhand der auf Iran bezogenen Inhalte dreier außerhalb Irans herausgegebener Lehrbuchreihen soll der Frage nachgegangen werden, ob und wie sich die Ansichten hierüber seit den 1990er Jahren bei den iranischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland verändert haben. Die Schulbuchreihe Fārsī der Pahlavi-Ära aus den 1960er und 1970er Jahren, sowie die Schulbuchreihe Fārsī aus der heutigen Islamischen Republik bilden hierbei einen wichtigen Bezugsrahmen, um Kontinuitäten und Brüche in der Wissensvermittlung über Iran und seine Kultur festzustellen.4 Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die iranische Migration in die Bundesrepublik und die Situation des Persischunterrichts für iranische Kinder in Deutschland gegeben. Daran anschließend werden die in Köln gedruckte Reihe Fārsī Nouāmūzān, die aus Schweden stammende Lehrbuchreihe Fārsī Biyāmūzīm Bīyāmūzīm, sowie die von einem überregional in Deutschland agierenden Lehrerverein herausgegebene Reihe Farsi für zweisprachig aufgewachsene Kinder einzeln vorgestellt. In einer diese drei Reihen miteinander vergleichenden Gegenüberstellung werden daraufhin besagte Kontinuitäten und Brüche aufgezeigt.

3 Lässig, Simone: Wer definiert relevantes Wissen? Schulbücher und ihr gesellschaftlicher Kontext. In: Schulbuch konkret: Kontexte – Produktion – Unterricht. Vortrag der Fachtagung am Georg-Eckert Institut im November 2008. Hrsg. von Eckhardt Fuchs [u.a.]. Bad Heilbrunn 2010, S. 199–215, hier S. 200. 4 Zur Unterscheidung werden die Bücher aus der Zeit vor der Islamischen Revolution im Folgenden als Fārsī Pahlavī bezeichnet und die der Islamischen Republik als Fārsī IR.

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Iranerinnen und Iraner in Deutschland und Persischunterricht für iranische Kinder in der BRD Bereits vor der Islamischen Revolution 1979 lebten zwischen 17.000 und 20.000 iranische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in der Bundesrepublik Deutschland.5 Ein wichtiges Zentrum iranischen Lebens war zum Beispiel Hamburg, wo sich bereits ab den 1920er und vor allem in den 1950er Jahren einige Händler und Kaufleute und deren Familien ansiedelten. Darüber hinaus zog es in den 1950er und 1960er Jahren auch immer mehr iranische Studierende, die zum großen Teil der städtischen Mittel- und Oberschicht entstammten, an Universitäten der BRD.6 Viele von ihnen engagierten sich politisch gegen die Herrschaft des Schahs Mohammad Reza Pahlavi und vernetzten sich dabei auch transnational: Anfang der 1960er Jahre wurde die Confederation of Iranian Students – National Union (CISNU)7 als Zusammenschluss im Ausland studierender Iranerinnen und Iraner gegründet. Politische Aktivitäten der Auslandsopposition wurden hier gebündelt. In Deutschland erlangte zum Beispiel die Organisation der Proteste gegen den Schah-Besuch 1967 große gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Im Zuge der Proteste in Iran, die zum Sturz Mohammad Reza Pahlavis führten, kehrten einige seiner politischen Gegner in ihre Heimat zurück um den dortigen Umschwung mitzugestalten, wurden von den politischen Entwicklungen nach der Revolution jedoch enttäuscht. Die Entstehung der Islamischen Republik, die bald massiv gegen oppositionelle Gruppen vorging, löste eine massenhafte Flucht vor allem in die USA, nach Kanada, Australien und Europa aus. Viele Iranerinnen und Iraner begaben sich erneut ins Exil und kehrten zum Beispiel wieder in ihr Studienland Deutschland zurück. Unter den politisch Verfolgten befanden sich außerdem sowohl Angehörige des alten Systems als auch Demokraten, Liberale, Linke und Kommunisten, die aktiv am Sturz der Pahlavi-Dy5 Nur wenige Iranerinnen hielten sich in der BRD auf. Die meisten von ihnen als nicht berufstätige Ehefrauen iranischer Männer. Die Zahl der weiblichen Studierenden betrug im Wintersemester 1971/72 lediglich 180. Vgl. Schröder, Günter [u.a.]: Die iranische Gemeinschaft in Deutschland. In: Ethnische Minderheiten in Deutschland. Hrsg. von Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung. Berlin 1994. Kapitel 3.1.5. (ohne Seitenangabe) 6 Auch in der DDR nahmen einige Iranerinnen und Iraner ein Studium auf. Vgl. z.B. Schirazi, Asghar: Germany X. The Persian Community in Germany. In: Encyclopaedia Iranica (EIr). Hrsg. von Ehsan Yarshater. Bd. 1. London u.a. 1985. Bd. 10 (6). London u.a. 2001. S. 572–574. http:// www.iranicaonline.org/articles/germany-x (24.07.2017). 7 Mehr zur CISNU siehe z.B. Matin-Asgari, Afshin: Confederation of Iranian Students. In: Encyclopaedia Iranica (EIr). Hrsg. von Ehsan Yarshater. Bd. 1. London u.a. 1985. Bd. 6 (2) London u.a. 1992. S. 122–125. http://www.iranicaonline.org/articles/confederation-of-iranian-students (29.11.2016).

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nastie beteiligt gewesen waren. Des Weiteren suchten Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten sowie viele Frauen im Ausland Schutz vor Einschränkungen und Unterdrückung durch die neue islamische Gesetzgebung. Hinzu kamen durch den Iran-Irak-Krieg 1980–1988 zahlreiche Kriegsflüchtlinge, darunter insbesondere männliche Jugendliche und junge Männer – mit ihren Familien oder alleine –, die so der Entsendung an die Kriegsfront entgingen. Eine starke Inflation, hohe Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit vor allem unter jungen Menschen veranlasst zudem bis heute viele Iranerinnen und Iraner dazu, aus wirtschaftlichen Gründen auszuwandern. Weltweit wird die Zahl im Ausland lebender Iranerinnen und Iraner heute auf vier bis sechs Millionen geschätzt.8 In Deutschland besitzen ca. 52.000 Menschen die iranische Staatsangehörigkeit.9 Insgesamt liegt die Anzahl derer, die durch eigene Migrationserfahrung oder der ihrer Eltern Iran als Bezugsland sehen, wahrscheinlich zwischen 100.00010 und 130.000.11 In Hamburg wurde aufgrund der Größe der dortigen Iranischen Kolonie bereits Ende der 1950er Jahre Persischunterricht für die Kinder der iranischen Händler und Kaufleute angeboten.12 Mit dem verstärkten Zuzug iranischer Migrantinnen und Migranten in die Bundesrepublik durch die Folgen der Islamischen Revolution und den Iran-Irak-Krieg, entstanden ab den 1980er Jahren in zahlreichen deutschen Großstädten meist ehrenamtlich organisierte, in Eigenbezeichnung oft Persisch-Schule (Madrese-ye Fārsī) genannte Unterrichtsangebote für in Deutschland aufwachsende Kinder. Dabei handelt es sich nicht um Schulen im eigentlichen Sinne, sondern um wöchentlich in ein bis zwei Stunden am Nachmittag stattfindenden Persischunterricht, den die Kinder frei8 Malek, Amy: Vertrieben, neu verwurzelt, transnational. Überlegungen zu Theorie und Praxis von ‚Iranischsein‘ außerhalb Irans. In: Identität und Exil. Die iranische Diaspora zwischen Gemeinschaft und Differenz. Hrsg. von Heinrich Böll Stiftung und Transparency for Iran. Berlin 2015 (Reihe Demokratie 40). S. 26–34. https://www.boell.de/sites/default/files/identitaet-undexil_iranische_diaspora_zwischen_gemeinschaft_und_differenz.pdf (20.10.2016), S. 26. 9 Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland. Red.-Schluß: 1. August 2011. Wiesbaden 2011. S. 52. 10 Schröder, Gemeinschaft (wie Anm. 5). 11 Horz, Christine: Medien – Migration – Partizipation. Eine Studie am Beispiel iranischer Fernsehproduktion im Offenen Kanal. Bielefeld 2014. S. 190. 12 Der vorliegende Beitrag ist Teil eines Promotionsprojekts zur Selbstorganisation iranischer Migrantinnen und Migranten im Bereich der Bildung, für welches neben Archivrecherchen Zeitzeugeninterviews geführt werden. Der erwähnte Persischunterricht in den 1950er Jahren wurde laut Angaben mehrerer Gesprächspartner von einer inzwischen verstorbenen iranischen Lehrerin gehalten. Dazu, wer ihn veranlasste – die im Entstehen begriffene Moschee-Gemeinde (heute IZH) oder (als Herkunftssprachenunterricht) die Stadt Hamburg – gibt es verschiedene Aussagen, die sich bisher noch nicht verifizieren ließen.

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willig, beziehungsweise auf Betreiben ihrer Eltern hin besuchen.13 Je nach Nachfrage wurde und wird diese Art von Unterricht vielerorts in mehreren Klassenstufen angeboten und findet häufig in Räumlichkeiten deutscher Regelschulen statt, die angemietet oder von den städtischen Behörden zur Verfügung gestellt werden. Die Organisation des Unterrichts läuft meist über Vereine, die mancherorts extra für diesen Zweck gegründet wurden und sich andernorts neben den Persisch-Schulen auch weiteren kulturellen oder sozialen Aufgaben widmen. Die iranischen Migrantinnen und Migranten begegneten mit ihrem ehrenamtlichen Engagement dem Mangel an herkunftssprachlichem Persischunterricht an deutschen Regelschulen in den 1980er und 1990er Jahren. Den oft noch in Iran sozialisierten Kindern wurde an den Persisch-Schulen die Möglichkeit geboten, ihre Sprachkenntnisse aufrecht zu erhalten sowie Schreib- und Lesekenntnisse zu erwerben bzw. zu vertiefen. In den letzten Jahren sind die Zahlen der Schülerinnen und Schüler an den Persisch-Schulen stetig gesunken, wohingegen das Angebot an Herkunftssprachenunterricht Farsi, bzw. Dari für iranisch- und afghanisch-stämmige Kinder und Jugendliche an deutschen Regelschulen – immer noch stark abhängig von der Bildungspolitik des jeweiligen Bundeslandes – gewachsen ist. Nicht immer fand dabei eine Kooperation der deutschen Schulbehörden mit den bereits existierenden Vereinen der iranischen Migrantinnen und Migranten statt.14 Die ehrenamtlich organisierten Persischklassen richten sich heute häufig auch an Kinder der zweiten und dritten Generation oder aus mehrsprachigen Familien, die Persisch nicht unbedingt auf muttersprachlichem Niveau beherrschen. In einigen Städten werden die Angebote außerdem auch von Kindern und Jugendlichen afghanischen Hintergrundes wahrgenommen. Abgesehen von den Persisch-Schulen und dem Herkunftssprachenunterricht an deutschen Regelschulen bietet sich iranischen Kindern und Jugendlichen darüber hinaus die Möglichkeit, Nachmittags- und Samstagskurse an den zum Beispiel in Hamburg und Frankfurt am Main von der Islamischen Republik Iran betriebenen Privatschulen für Diplomatenkinder zu besuchen.

13 Die Eigenbezeichnung Persisch-Schule wird im Folgenden in dem Bewusstsein übernommen, dass es sich dabei um selbstorganisierte Unterrichtsangebote iranischer Migrantinnen und Migranten für ihre in Deutschland aufwachsenden Kinder handelt. 14 In Düsseldorf existiert zum Beispiel seit 1986 eine Persisch-Schule, die vom Verein Freunde der iranischen Sprachen und Kultur e.V. organisiert wird. Seit kurzem bietet auch die Stadt Düsseldorf Herkunftssprachenunterricht Farsi an deutschen Regelschulen an. Zwar gab es im Vorfeld Gespräche mit dem Verein, letztlich wurde jedoch keine gemeinsame Lösung gefunden und von der Stadt eine eigene Lehrkraft eingestellt, so dass die beiden Angebote nun parallel zueinander bestehen.

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In Deutschland zum Einsatz kommende Schulbücher Im Persischunterricht für in Deutschland aufwachsende Kinder kommen verschiedene Lehrmaterialien zum Einsatz. An den offiziellen Schulen der Islamischen Republik aber auch an einigen der ehrenamtlich organisierten PersischSchulen werden die vom Ministerium für Bildung herausgegebenen jeweils aktuellen Lesebücher Fārsī IR und Arbeitshefte Ketāb-e kār. Fārsī der Islamischen Republik Iran verwendet. Als Argumentation hierfür wird zum Beispiel angeführt, man wolle den Kontakt zum Herkunftsland Iran aufrechterhalten, könne sich vor der Existenz der Islamischen Republik nicht verschließen und ermögliche darüber hinaus den Schülerinnen und Schülern bei Besuchen in Iran durch die Verwendung der dortigen Schulbücher leichter mit den dortigen Gleichaltrigen Kontakt aufzunehmen.15 Vereinzelt benutzen Lehrkräfte in ihrem Unterricht noch die Lehrbuchreihe Fārsī Pahlavī in Exemplaren aus den 1970er Jahren. Viele der in Deutschland engagierten Persischlehrkräfte sehen die Verwendung iranischer Schulbücher jedoch kritisch und ziehen es vor, außerhalb Irans entwickelte Lehrbuchreihen in ihrem Unterricht zu verwenden oder selbst Lehrmaterialien zu produzieren.

Der Schah muss weg, der Rest kann bleiben – Die Reihe „Fārsī Nouāmūzān“ Die vierbändige Persisch-Lehrbuchreihe Fārsī Nouāmūzān16 wurde Ende der 1990er in Köln für den Eigenbedarf einer dortigen Persisch-Schule privat herausgegeben und für diesen auf Nachfrage vom Kölner BM-Druckservice nachgedruckt.17 Für den vorliegenden Beitrag wurden der zweite und dritte Band der Reihe von 1999 untersucht. Diese sind bis heute über iranische Buchläden und Internetportale zu beziehen. Der vierte Band ist vergriffen. Als erster Band fungiert inzwischen ein 2011 vom Berliner Gardoon-Verlag herausgegebenes Lehrbuch. Dieses suggeriert über Titel- und Schriftbild sowie den Namen Fārsī Nouāmūzān, zur Kölner Schulbuchreihe zu gehören, entspricht jedoch nicht der ursprünglichen Ausgabe. Laut Aussage des Initiators der Reihe wurden die Bü15 Interview mit Herrn H., 11.11.2016. 16 In etwa: „Persisch für Anfänger“. 17 Nach Angaben des Herausgebers fanden die Bücher für ihn überraschend außerdem unter den iranischen Volksmudschaheddin im Irak Verbreitung. Interview mit Herrn E. am 13.09.2016.

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cher aus dem konkreten Bedarf an Persischlehrbüchern heraus entwickelt, nachdem die Lehrkräfte der von ihm geleiteten Kölner Persisch-Schule vorher knapp zwei Jahre nur mit Kopien gearbeitet hatten. Die alten Lehrbücher der Schahzeit sowie die neuen Lehrbücher aus der Islamischen Republik seien aufgrund ihrer propagandistischen Inhalte hingegen nicht für die Verwendung im Unterricht geeignet gewesen.18 Im persischsprachigen Vorwort der Bände wird darauf hingewiesen, dass die Reihe zum Großteil aus Lektionen früherer Grundschullehrbücher übernommen ist, die nun nach Überprüfung und Überarbeitung für die Schülerinnen und Schüler außerhalb Irans neu gedruckt wurden. Tatsächlich handelt es sich bei den untersuchten Bänden Fārsī Nouāmūzān 2 und Fārsī Nouāmūzān 3 um Kopien der entsprechenden Bände der Fārsī Pahlavī-Reihe der 1960er und 1970er Jahre. Abgesehen vom jeweils einseitigen persischen und deutschen Vorwort wurde den Büchern nichts hinzugefügt. Allerdings sind alle Inhalte entfernt, die im Zusammenhang mit der Herrschaft des Schahs Mohammad Reza Pahlavi oder seines Vaters Reza Schah Pahlavi stehen: Die Auslassung ganzer Kapitel ist bereits anhand der nicht durchgehenden Nummerierung im Inhaltsverzeichnis der Bände ersichtlich und betrifft zum Beispiel Texte über den Thronprinzen, den Geburtstag des Schahs oder die bis 1979 geltende iranische Nationalhymne. Doch auch innerhalb der Kapitel wurden jegliche Verweise auf die Pahlavi-Ära entfernt. So wurde zum Beispiel ein Text über die Hauptstadt Teheran um eine Passage über eine Statue Reza Schah Pahlavis und dessen Verdienst um den Eisenbahnbau gekürzt.19 Auch Abbildungen wurden dementsprechend geändert. So taucht etwa die iranische Flagge, abweichend von den ursprünglichen Büchern, in der Reihe Fārsī Nouāmūzān durchgehend nur ohne Löwenemblem auf20 oder aus der Zeichnung eines Jungen, der einen Brief in einen Briefkasten wirft, wurden alle Briefmarken, die ursprünglich neben ihm abgebildet waren und teilweise das Konterfei Mohammad Reza Pahlavis oder seines Sohnes trugen, entfernt.21 Diese Kürzungen und Auslassungen sind auch auf den politischen Hintergrund des Herausgebers zurückzuführen, der bereits in den 1960er Jahren als Student nach Deutschland gekommen und in der CISNU gegen die Herrschaft des Schahs engagiert war.22 Eine weitere Kürzung eines 18 Interview mit Herrn E., 13.09.2016. 19 Espahangizi, Kambiz (Hrsg.): Fārsī Nouāmūzān 3. Köln 1999 und Vezārat-e āmūzeš va parvareš/Sāzmān-e ketābhā-ye darsī-ye Īrān (Hrsg.): Fārsī. Sevom-e dabestān. Teheran 1351 h.š. (1972/1973) jeweils S. 86–89. 20 Z.B. Espahangizi, Kambiz (Hrsg.): Fārsī Nouāmūzān 2. Köln 1999, S. 17 oder Espahangizi, Fārsī Nouāmūzān 3 (wie Anm. 19), S. 44. 21 Espahangizi, Fārsī Nouāmūzān 3 (wie Anm. 19), S. 28–29. 22 Interview mit Herrn E., 13.09.2016.

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kompletten Kapitels, das sich mit dem Čahāršanbe Sūrī-Fest beschäftigt, kann hingegen als Anpassung an die Bedingungen des Persischunterrichts für Schülerinnen und Schüler außerhalb Irans gesehen werden: auf das ausgelassene Kapitel folgen zwei Lesetexte, die sich mit dem zeitlich kurz darauf folgenden Nourūz-Fest23 beschäftigen. Im nur einmal die Woche stattfindenden Persischunterricht in Köln erschien es zeitlich vermutlich nicht machbar, alle diese Texte zu lesen. Der in Anlehnung an die Kölner Reihe vom Berliner Gardoon Verlag herausgegebene Band Fārsī Nouāmūzān 1 kopiert ebenfalls andere Lehrbücher. Dabei entspricht der erste Teil des Buches – Einübung des Schreibens von rechts nach links sowie Einführung der Buchstaben des Alphabets – dem ersten Band von Ketāb-e kār. Fārsī der Islamischen Republik Iran.24 Der zweite Teil des Buches – erste Schreib- und Leseübungen – ist wiederum eine Kopie des ersten Bandes von Fārsī Pahlavī.25 In den Büchern wird vor allem Wissen aus dem kulturellen Bereich über Iran vermittelt. Neben dem Nourūz-Fest wird auch das Herbstfest Mehregān und die Feier zur längsten Nacht des Jahres Šab-e Yaldā thematisiert. Moderne und klassische persische Literatur spielt eine besondere Rolle, verdeutlicht wird dies sowohl durch die Einfügung einzelner kurzer Gedichte als auch durch die Präsentation der berühmten Dichter Ḥāfeẓ und Saʿdī. Außerdem sind Geschichten des persischen Nationalepos Šāhnāme sowie dessen Verfassers Ferdousī ganze Kapitel gewidmet. Die Geschichte Irans wird nur am Rande thematisiert, etwa bei der Vorstellung einzelner Sehenswürdigkeiten in den Städten Teheran und Schiras. Die Tatsache, dass auch geographisches Wissen über Iran keine Rolle spielt erklärt sich damit, dass mit der Fārsī Pahlavī-Reihe Schulbücher kopiert wurden, denen, eingebunden in einen Fächerkanon, vor allem die Aufgabe zukam, persische Sprache und Literatur zu vermitteln. Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der Herausgeber der Bücher auf einen konkreten Mangel an Lehrmaterialien reagierte und es mit Sicherheit die einfachste und pragmatischste Lösung war, die iranischen Lehrbücher der 1960er und 1970er Jahre lediglich um strittige Inhalte zu kürzen und dann im Unterricht einzusetzen. Dieser Vorgang zeigt jedoch auch, dass die Lehrkräfte in Köln zwar die Herrschaft Mohammad Reza Pahlavi strikt abgelehnt hatten, 23 Das persische Neujahr Nourūz beginnt zum kalendarischen Frühlingsanfang am 20./21. März. Čahāršanbe Sūrī steht mit den Feierlichkeiten zum neuen Jahr in Zusammenhang und wird in der Nacht zum letzten Mittwoch des Jahres gefeiert. 24 Vezārat-e āmūzeš va parvareš/Sāzmān-e pažuheš va barnāmerīzī-ye āmūzešī (Hrsg): Ketāb-e kār. Fārsī. Avval-e dabestān. Teheran 1390 h.š. (2011/2012). http://chap.sch.ir/books/3851 (21.02.2017) S. 2–33. 25 Vezārat-e āmūzeš va parvareš/Sāzmān-e ketābhā-ye darsī-ye Īrān (Hrsg.): Fārsī. Avval-e dabestān. Teheran 1347 h.š. (1968/1969), ab S. 13.

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aber nicht die gesamte in dieser Zeit in Iran vorherrschende Wissensordnung in Frage stellten. Da die Kürzungen bewusst erfolgten, ist davon auszugehen, dass Inhalte auch bewusst stehen gelassen wurden. So zum Beispiel das Kapitel Respekt gegenüber der Flagge in Band 3. Ein Mädchen unterhält sich hier mit seinem Vater darüber, was eine Flagge eigentlich zu bedeuten hat. Lediglich um den letzten Abschnitt über die iranische Nationalflagge mit Löwenemblem gekürzt, wird über die Bedeutung des Respekts gegenüber der Flagge Irans gesprochen und, dass man immer aufzustehen habe, wenn diese gehisst wird.26 Obwohl im Deutschland der 1990er Jahre unüblich, sind auch die Sätze des Mädchens, in denen sie über den täglichen Morgenappell in der Schule, bei dem die Flagge gehisst und die Nationalhymne gesungen wird, spricht, stehen gelassen. Weder der zeitliche Abstand von mehr als zwanzig Jahren noch die räumliche Entfernung zu Iran hielten den Herausgeber von Fārsī Nouāmūzān davon ab, diesen Schulbuchtext zu übernehmen, in dem nationalistische Vorstellungen von Zugehörigkeit transportiert werden. Unabhängig von der Migration in ein anderes Land wird dadurch an Konzepte nationaler iranischer Identität angeknüpft, die sich ab dem 19. Jahrhundert ausprägten.27 Spätestens ab den 1920er Jahren fanden diese auch über Schulbücher Verbreitung. So erinnert zum Beispiel Vejdani an den folgenden aus einem Geschichtsschulbuch dieser Zeit stammenden sprichwörtlich gewordenen Satz: „Unser Land ist Iran, wir sind Iraner und unsere Vorfahren waren Iraner.“28 Ähnliche Formulierungen finden sich auch in den Schulbüchern der späten Pahlavi-Ära und sind somit als Wissensinhalte in den Lehrbüchern der Reihe Fārsī Nouāmūzān ebenfalls erhalten geblieben. Dadurch wird eine Kontinuität nationaler iranischer Identität auch außerhalb Irans hergestellt. Der Umgang mit Wissen ist in der Kölner Lehrbuchreihe allein durch die politische Positionierung gegenüber Iran und innerhalb der iranischen (Exil-) Community bestimmt. Die eingangs erwähnten neuen Anstöße durch das Leben in einem anderen Land als Iran mögen im Unterricht zur Sprache gekommen sein, spielen in den Lehrwerken jedoch – sei es aus Pragmatismus – keinerlei Rolle.

26 Espahangizi, Fārsī Nouāmūzān 3 (wie Anm. 19), S. 43–44. 27 siehe z.B. Ashraf, Ahmad: Iranian Identity iv. 19th–20th Century. In: Encyclopaedia Iranica (EIr). Hrsg. von Ehsan Yarshater. Bd. 1. London u.a. 1985. Bd. 13 (5) London u.a. 2006. S. 522– 530. http://www.iranicaonline.org/articles/iranian-identity-iv-19th-20th-centuries (24.07.2017). 28 Vejdani, Farzin: Making History in Iran. Education, Nationalism and Print Culture. Stanford 2015, S. 40. Zur nationalistischen Ausprägung iranischer Idenitität im Laufe des 20. Jahrhunderts außerdem z.B. Ashraf, Identity (wie Anm. 27), S. 522–530.

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Zwischen Pragmatismus, Vorgaben und neuen Ideen – Die Reihe „Fārsī Biyāmūzīm“ Ebenfalls in den 1990ern entstand in Schweden die inzwischen sieben Bände, bzw. mit dem Band für die Vorschule acht Bände, umfassende Persisch-Lehrbuchreihe Fārsī Biyāmūzīm.29 Die ersten Bücher erschienen ab 1994, zunächst in schwarz-weiß im extra gegründeten Sam Publishing Verlag. Seitdem sind sie in mehreren überarbeiteten Auflagen erschienen, inzwischen durchgehend in Farbe. Die Bücher werden über den Onlineshop farsibookshop.com vertrieben, sind für den Gebrauch im Herkunftssprachenunterricht an schwedischen Regelschulen hin konzipiert und kommen hauptsächlich in Schweden zum Einsatz. Nach Angaben des Herausgebers werden sie jedoch auch in Deutschland, Österreich, Frankreich, England, Dänemark, Finnland, den USA, Kanada und Australien genutzt.30 Auf der Website des Onlineshops heißt es, die Bücher seien aus dem Bedarf an Persischlehrbüchern, die sich an außerhalb Irans aufwachsende Schülerinnen und Schüler richten, heraus entstanden. Sie seien speziell dafür entwickelt, die begrenzten Fähigkeiten dieser zu berücksichtigen und die Themen, die sie beschäftigten, mit einzubeziehen. Außerdem wird darauf hingewiesen, dass der Herkunftssprachenunterricht in Schweden Teil des Curriculums ist und die Schülerinnen und Schüler benotet werden. Der Persischunterricht folge den Richtlinien des schwedischen Bildungsministeriums, was bedeute, dass die Schülerinnen und Schüler am Ende der 9. Klasse mit Geschichte, Geographie und wichtigen Ereignissen Irans vertraut sein sollten.31 Die Reihe Fārsī Biyāmūzīm unterscheidet sich rein äußerlich durch ein anderes Format, A4, und eine modernere Bildsprache von der Fārsī-Pahlavī-Reihe und Fārsī Nouāmūzān. Es gibt weitaus mehr und abwechslungsreicher gestaltete Übungsteile sowie viele in den anderen beiden Reihen nicht auftauchende Themen und Texte. Beim Vergleich der Lehrwerke miteinander wird jedoch deutlich, dass sich auch in den Bänden von Fārsī Biyāmūzīm viel aus den Persisch Grundschullehrbüchern der 1960er und 1970er Jahre wiederholt: Ein29 In der Doppelbedeutung des Verbs āmūḫtan kann der Titel der Reihe sowohl Lasst uns lernen als auch Lasst uns lehren bedeuten. Für den vorliegenden Beitrag wurden die Bände 1–4 untersucht, da die Bände 5–7 in Deutschland nur äußerst selten im Unterricht zum Einsatz kommen. 30 Zur geschätzten Stückzahl der einzelnen Bände gibt der Herausgeber Tavakoli in einer Email vom 6. Januar 2017 an, dass bisher ca. 13.000 Exemplare des ersten Bands, ca. 8.000 des zweiten Bands und jeweils ungefähr 5.000 Exemplare des dritten und vierten Bands gedruckt und verkauft wurden. In Deutschland wird zum Beispiel an der Persisch-Schule in Münster mit der Reihe Fārsī Biyāmūzīm unterrichtet. 31 http://farsibookshop.com/en/about-us.html (09.01.2018).

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zelne Sätze, längere Passagen und teilweise ganze Texte sind wortwörtlich übernommen. Während sich im zweiten Band der schwedischen Lehrbuchreihe keine Übernahmen aus Fārsī-Pahlavī finden, stammen in den Bänden 1, 3 und 4 jeweils fast die Hälfte der Texte aus Kapiteln der entsprechenden Bände der alten Bücher aus der Schahzeit oder sind an diese angelehnt. Ausgelassen wurden auch hier alle mit der Pahlavi-Herrschaft in Verbindung stehenden Inhalte. Übernommen wurden hingegen vor allem Texte folgender Themenkomplexe: 1. Erzählungen und Kurzgeschichten aus persischer und internationaler Literatur 2. Sachtexte aus der Tier- und Pflanzenwelt 3. Lebensgeschichten beeindruckender Persönlichkeiten der Weltgeschichte 4. Lebensgeschichten bedeutender Persönlichkeiten der persischen Wissenschafts- und Literaturgeschichte 5. Texte zur Landeskunde Iran Für die Themenkomplexe 1–4 wurden die Texte größtenteils wortwörtlich übernommen, wobei einige Anpassungen an das Sprachniveau der im Ausland aufwachsenden Kinder vorgenommen wurden; so sind etwa längere Texte auf mehrere Kapitel aufgeteilt und mehr Wörter als im Original als Lernwörter markiert und erklärt als in den ursprünglichen Büchern. Texte aus dem Themenkomplex 5 wurden hingegen meist nur in Versatzstücken wortwörtlich übernommen. Oft wurden weitreichende inhaltliche Änderungen vorgenommen und teils nur die Grundidee oder die Struktur eines Textes übernommen. So zum Beispiel bei einem Text über einen Besuch bei der Großmutter in Band 3.32 Der Beginn der Geschichte und einige weitere Sätze sind wortwörtlich aus einem Text aus FārsīPahlavi übernommen,33 jedoch wird die Großmutter im Original anlässlich des Šab-e Yaldā-Fests besucht, während in der Version des Textes in Fārsī Biyāmūzīm das Čahāršanbe Sūrī -Fest gefeiert wird. Im selben Band ist außerdem der Text Unsere Hauptstadt Teheran 1 zu erwähnen.34 Dieser ist an den gleichnamigen Text aus dem Schulbuch der Schahzeit angelehnt:35 Einleitend und auch später im Text sind einige Sätze wortwörtlich übernommen. Auch der Ablauf des Besuchs Teherans und die besichtigten Orte ähneln sich stark. Auffallend dabei ist die Vermeidung, Straßennamen zu nennen, die im Zuge der Islami32 Tavakoli, Bahram (Hrsg.): Fārsī biyāmūzīm! Ketāb-e sevom. 2. Aufl. in Farbe. Märsta 2014, S. 18–19. 33 Vezārat-e āmūzeš va parvareš, Fārsī. Sevom-e dabestān. [Fārsī Pahlavī] (wie Anm. 19), S. 47–49. 34 Tavakoli, Fārsī Biyāmūzīm! Ketāb-e sevom (wie Anm. 32), S. 74–75. 35 Vezārat-e āmūzeš va parvareš, Fārsī. Sevom-e dabestān. [Fārsī Pahlavī] (wie Anm. 19), S. 86–89.

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schen Revolution umbenannt wurden. So wird zum Beispiel die heutige Valīʿasr-Straße, früher als Pahlavi-Straße bekannt, lediglich als die längste Straße Teherans bezeichnet und ihr Ausgangs- und Endpunkt benannt, deren Namen sich nicht geändert haben. Auch für die Reihe Fārsī Biyāmūzīm gilt, dass die Übernahme von Texten aus den Fārsī-Pahlavī-Bänden wahrscheinlich die einfachste und pragmatischste Möglichkeit war, auf den Bedarf an Lehrmaterialien zu reagieren.36 Die schwedische Lehrbuchreihe beschreitet jedoch auch neue und eigene Wege in der Wissensvermittlung. Für den zweiten Band dienten zwar wohl die Schulbücher der Islamischen Republik zumindest als kleine Anregung – mit dem zweiten Band der Fārsī-IR-Reihe hat Fārsī Biyāmūzīm 2 eine Erzählung über den Wasserkreislauf gemeinsam37 – er enthält jedoch keine Texte aus den alten Schulbüchern der Schahzeit mehr. Insgesamt konzentriert er sich vor allem zu Beginn stark auf das Thema Tiere. Nach und nach fließen dann über Übungswörter und kurze Texte erste Informationen über Iran und die persische Kultur ein. Gegen Ende des Bandes folgen gezielt vier Kapitel zur Irānšenāsī, in etwa Iranistik bzw. Irankunde, in denen geographische Kenntnisse sowie die klimatischen Bedingungen in verschiedenen Landesteilen Irans angesprochen werden. Den Band abschließend ist noch ein Text über Persepolis als Sehenswürdigkeit eingefügt, in dem auch erste historische Aspekte – achämenidisches Großreich und Zerstörung Persepolis durch Alexander den Großen – angerissen werden.38 Der erste, dritte und vierte Band der Fārsī Biyāmūzīm-Reihe enthalten neben dem aus Fārsī-Pahlavī Übernommenen ebenfalls viele neue Texte. Diese befassen sich zum einen mit internationalen Themen – etwa mit internationalen Organisationen wie den UN, der UNESCO oder UNICEF. Iran taucht hierbei teils als Referenzpunkt auf.39 Zum anderen liefern die neu hinzugefügten Texte weiteres Wissen über die persische Kultur und viele landeskundliche Informationen 36 Ähnlich ging man in der frühen Islamischen Republik vor: Die Grundschullehrbücher, die dort in den 1980ern verwendet wurden, waren um Monarchie-bezogene Inhalte gekürzte Abschriften der Fārsī Pahlavī-Reihe, die mit neuem Bildmaterial – unter anderem sowohl Frauen als auch Mädchen immer nur mit Kopftuch – und geänderten Namen – die Protagonisten Sārā und Dārā wurden durch Akbar und Akram ersetzt – neu verlegt wurden. Siehe z.B. Ǧomhūrī-ye Eslāmī-ye Īrān/Vezārat-e āmūzeš va parvareš (Hrsg.): Fārsī. Avval-e dabestān, Teheran: Sahāmī ʿĀm 1363 (1984/85). 37 Tavakoli, Bahram u. Azar Arfaazadeh (Hrsg.): Fārsī biyāmūzīm! Ketāb-e dovom-e ebtedāyī. Moṣavvar va rangī: barāy-e dāneš āmūzān-e ḫāreğ az kešvar = Farsi 2. A Read and Exercise Book in Persian Language. 3. Aufl. in Farbe. Märsta 2013, S. 102–103 und Fārsī-IR 2, S.74–75. 38 Tavakoli, Fārsī Biyāmūzīm! Ketāb-e dovvom-e ebtedāyī (wie Anm. 37), S. 154–156. 39 So wird in einem Text über Kinderarmut weltweit etwa angemerkt, dass es auch in Iran, vor allem in Teheran Kinderarmut und Kinderarbeit gebe. Tavakoli, Fārsī Biyāmūzīm! Ketāb-e sevom (wie Anm. 32), S. 58–59. In einem Text über die Vereinten Nationen (ebd., S. 113–114) wird

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über Iran. Geballt wird die Geographie Irans im vierten Band in drei Kapiteln zur Sprache gebracht.40 Auch Wissen über die Geschichte Irans wird in den neu hinzugefügten Texten teilweise am Rande vermittelt.41 In Band 4 von Fārsī Biyāmūzīm sind schließlich der Iranischen Altertumsgeschichte drei Kapitel gewidmet. Der erste Text setzt mit der Besiedlung des heutigen Gebiets Irans ein und berichtet über die Lebensweise von Medern und Persern sowie über deren Grenzkämpfe mit den Assyrern.42 Der zweite Text ist den Achämenidenkönigen Kyros II und Dareios I gewidmet, berichtet über militärische Erfolge gegen Lydien und Babel sowie den Bau der Königsstraße, die eine schnelle Nachrichtenübermittlung im großen Achämenidenreich ermöglicht habe.43 Der dritte Text erzählt zunächst vom durch die Eroberung Alexander des Großen eingeleiteten Ende des Achämenidenreichs und berichtet anschließend über den Aufstieg der Arsakiden bzw. des Partherreichs. Im Fokus stehen deren anhaltenden Kämpfe gegen die sich im Westen nähernden Römer. Besonders kommt die gewonnene Schlacht zwischen Orodes II und dem römischen Feldherrn Marcus Licinius Crassus zur Sprache, nach der die Römer gezwungen gewesen seien, „sich nicht mehr nach Asien zu begeben.“44 Welches Wissen über Iran und die persische Kultur in Fārsī Biyāmūzīm vermittelt wird, scheint von zwei Parametern bestimmt: Erstens von der pragmatischen Beurteilung, welche Texte unproblematisch aus der Fārsī-Pahlavī-Reihe oder anderen Büchern und Schulbüchern übernommen werden können bzw. nur einiger Anpassungen bedürfen und zweitens von den bereits erwähnten Vorgaben des schwedischen Bildungsministeriums, infolgedessen sich die Schülerinnen und Schüler im Herkunftssprachenunterricht auch Wissen über Kultur, Geschichte und Geographie des jeweiligen Herkunftslandes aneignen sollen. Die Übernahme von Texten aus Fārsī-Pahlavī erfolgt dabei viel kritischer als noch in Fārsī Nouāmūzān und gerade Texte, die Wissen über Iran und die persische Kultur vermitteln, werden teils stark überarbeitet. Zum einen vermutlich, um sich politisch neutral zu zeigen, was etwa an der Vermeidung von Straßennamen deutlich wird: Weder akzeptiert man das System der Islamischen Republik, noch zeigt man sich rückwärtsgewandt und auf die Schahzeit fokussiert. jedoch zum Beispiel die Gelegenheit Iran als eines der Gründungsmitglieder der UN 1945 zu erwähnen nicht genutzt. 40 Tavakoli, Bahram (Hrsg.): Fārsī bīyāmūzīm! Ketāb-e čahārom va tamrīn = Farsi 4 – En läs och övningsbok i det persiska språket. A Read and Exercise Book in Persian Language. 2. Aufl. in Farbe. Märsta 2014, S. 58–67. 41 Tavakoli, Fārsī Biyāmūzīm! Ketāb-e čaharom va tamrīn (wie Anm. 40), S. 14–15. 42 Tavakoli, Fārsī Biyāmūzīm! Ketāb-e čaharom va tamrīn (wie Anm. 40), S. 99–100. 43 Tavakoli, Fārsī Biyāmūzīm! Ketāb-e čaharom va tamrīn (wie Anm. 40), S. 102–103. 44 Tavakoli, Fārsī Biyāmūzīm! Ketāb-e čaharom va tamrīn (wie Anm. 40), S. 106–109.

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Zum anderen, um die Wissensinhalte für die im Ausland aufwachsenden Kinder auf das zu konzentrieren, was man für wesentlich hält, wie sich beim erwähnten Text über den Besuch bei der Großmutter zeigt: In der Version des Textes aus der Fārsī-Pahlavī-Reihe berichtet die Großmutter ausführlich über die Ursprünge des Šab-e Yaldā-Fests und einige Bräuche, die es in ihrer Jugend noch gab. Das dadurch bereits Mitte der 1960er Jahre als alt gekennzeichnete Wissen über bestimmte Bräuche hat in den Büchern der Fārsī Biyāmūzīm-Reihe keinen Platz mehr und wird durch die Festigung des Wissens über das populärere Čahāršanbe Sūrī-Fest ersetzt. Auch in den Büchern der Fārsī Biyāmūzīm-Reihe finden sich vereinzelt nationalistische Vorstellungen von Iran etwa wenn Sätze wie „Wir lieben Iran“ als Übungssätze verwendet werden.45 Durch die Übernahme von Textstellen aus der Fārsī-Pahlavī-Reihe wie zum Beispiel „In jeder Ecke unseres Heimatlandes gibt es solche altertümlichen Werke. Wir müssen die Werke unserer Väter kennen“,46 „Unsere Hauptstadt Teheran“ oder „in unserem Land Iran“,47 ist Iran an vielen Stellen eindeutig nicht nur als Herkunfts- sondern als Heimatland angesprochen und die Zugehörigkeit durch Formulierungen wie „wir, die Leute Irans“48 klar festgestellt. Auch hier findet sich also einerseits eine außerhalb Irans weiterbestehende Kontinuität iranischer nationaler Identität. Andererseits werden Wissensinhalte über die persische Kultur teilweise auch ohne eine eigene Positionierung vermittelt, indem zum Beispiel von „den Iranern“ gesprochen wird, die bereits seit Jahrhunderten Čahāršanbe Sūrī feiern.49 Die Tatsache, dass sich die Kinder, an die sich Fārsī Biyāmūzīm richtet, nicht in Iran befinden, klingt thematisch nur an wenigen Stellen an, spiegelt sich jedoch in den erwähnten Anpassungen an das niedrigere Sprachniveau der Schülerinnen und Schüler sowie in der neuen didaktischen Aufbereitung der Übungsteile wider. Schweden findet als neuer Wohnort allerdings keine besondere Erwähnung und taucht lediglich in einem Text über Alfred Nobel auf.50 Auch Europa als Region spielt in den Büchern nicht unbedingt eine größere Rolle, als in den Schulbüchern der Schahzeit, in denen Texte von Autoren wie

45 Tavakoli, Fārsī Biyāmūzīm! Ketāb-e čaharom va tamrīn (wie Anm. 40), S. 20. Dieses und folgende Zitate aus persischen Lehrbüchern wurden von der Verfasserin dieses Beitrags selbst ins Deutsche übersetzt. 46 Tavakoli, Fārsī Biyāmūzīm! Ketāb-e čaharom va tamrīn (wie Anm. 40), S. 18. 47 Tavakoli, Fārsī Biyāmūzīm! Ketāb-e čaharom va tamrīn (wie Anm. 40), S. 139. 48 Tavakoli, Bahram (Hrsg.): Fārsī biyāmūzīm! Ketāb-e avval-e ebtedāyī bā tamrīn (ğadīd) Bok 1 farsi. En läs och övningsbok i det persiska språket för bokstavsinlärning = A Read and Exercise Book in Persian Language for Learning Letters of the Alphabet. 3. Aufl. in Farbe. Märsta 2015, S. 165. 49 Tavakoli, Fārsī Biyāmūzīm! Ketāb-e čaharom va tamrīn (wie Anm. 40), S. 90. 50 Tavakoli, Fārsī Biyāmūzīm! Ketāb-e sevom (wie Anm. 32), S. 88.

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zum Beispiel Oscar Wilde oder Hans Christian Andersen bereits zum Kanon gehörten. In Fārsī Biyāmūzīm findet sich kein Hinweis darauf, dass die Fārsī-PahlavīReihe für die Erstellung der Bücher herangezogen wurde. Außerdem sind in den alten Büchern vorhandene Quellenangaben zu einigen Texten nur teilweise übernommen worden: Die Autorenschaft von europäischen Schriftstellern wie zum Beispiel Oscar Wilde ist dabei immer erhalten geblieben,51 während Hinweise auf iranische Autoren oder Jugendmagazine hingegen größtenteils entfernt wurden.52 Aufgrund dieser Unterlassungen ist es für die Texte der Fārsī Biyāmūzīm-Reihe, die nicht aus den alten Lehrbüchern der Schahzeit stammen, nicht abschließend zu klären, ob sie eigenständig verfasst wurden oder ob sie aus anderen Büchern, Lehrbüchern, oder Zeitschriften, die für diesen Beitrag nicht vorlagen, übernommen sind.

Andere Umstände erfordern andere Themen – Die Reihe „Farsi für zweisprachig aufgewachsene Kinder“ Seit 2013 wird die Reihe Farsi für zweisprachig aufgewachsene Kinder von einem überregional agierenden in Köln ansässigen Lehrerverein der persischen Sprache in Deutschland e.V. herausgegeben und über dessen Website kanun-amuzgaran. de vertrieben. Bisher sind Bände für das erste, zweite und dritte Schuljahr sowie ein Band für die Vorschule erschienen. Den Autorinnen ist die schwedische Lehrbuchreihe Fārsī Biyāmūzīm bekannt. Einige unterrichteten bereits selbst mit diesen Büchern und es bestehen teilweise Kontakte zu deren Herausgeber. Für die Entwicklung einer eigenen Persischlehrbuchreihe werden verschiedene Gründe aufgeführt. So kritisieren die Autorinnen der neuen Reihe an den schwedischen Büchern, sie enthielten viele Fehler und bezögen sich zu stark

51 Das Märchen Der glückliche Prinz von Oscar Wilde in Vezārat-e āmūzeš va parvareš, Fārsī. Sevom-e dabestān. [Fārsī Pahlavī] (wie Anm. 19) als zusammenhängender Text, S. 111–115, in Tavakoli, Fārsī Biyāmūzīm! Ketāb-e sevom (wie Anm. 32) auf drei Kapitel aufgeteilt, S. 40–41, S. 44–45 und S. 47. 52 Der Text Ganğnāme in Band 4 stammt zum Beispiel laut Vezārat-e āmūzeš va parvareš/Sāzmān-e ketābhā-ye darsī-ye Īrān (Hrsg.): Fārsī. Čahārom-e dabestān. Teheran 1351 h.š. (1972/ 1973) von Moḥammad Bāqer Hūšyār (S. 14–16) oder der Text Dāstān Nevesī-ye Kūdakān (Band 3, S. 140–142) stammt laut Angaben in Vezārat-e āmūzeš va parvareš, Fārsī. Sevom-e dabestān. [Fārsī Pahlavī] (wie Anm. 19) aus der Zeitschrift Payk-e dāneš āmūz. Obwohl beide Texte in Fārsī Biyāmūzīm größtenteils wortwörtlich übernommen wurde, fehlen dort diese Hinweise. (Tavakoli, Fārsī Biyāmūzīm! Ketāb-e čaharom va tamrīn (wie Anm. 40), S.17–18 und Tavakoli, Fārsī Biyāmūzīm! Ketāb-e sevom (wie Anm. 32), S. 103–104.

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auf alte Schulbücher.53 Natürlich sei man ebenfalls von den Schulbüchern der Fārsī-Pahlavī-Reihe beeinflusst, da man als Kind selbst mit ihnen Persisch gelernt habe. Direkt übernommen habe man jedoch nichts und auch Bücher der Fārsī-IR-Reihe sowie im Ausland produzierte Lehrbücher nur als Inspiration herangezogen. Die neuen Schulbücher sollen zudem konkret auf die Bedürfnisse in Deutschland aufwachsender Kinder zugeschnitten sein.54 Vorstandsangehörige des Lehrervereins sind sich dessen bewusst, dass die Förderung der Herkunftssprache als Teil des schwedischen Curriculums völlig andere Voraussetzungen für den Persischunterricht schafft als in Deutschland, wo vieles nur auf ehrenamtlicher Basis stattfindet. Sie wollen mit der eigenen Lehrbuchreihe den Lehrkräften in Deutschland ein für die hiesigen Voraussetzungen geeignetes Lehrmittel an die Hand geben und hoffen zudem, mit den Büchern auch Kinder der zweiten und dritten Einwanderergeneration ansprechen zu können.55 Die Reihe Farsi für zweisprachig aufgewachsene Kinder thematisiert die Situation, nicht in Iran zu leben aber „iranisch“ zu sein, gleich zu Beginn des Vorschulbands in einem kurzen Dialog zwischen zwei Kindern.56 Im ersten Band ist Iran als Bezugsland weniger gegenwärtig als im für die erste Klasse vorgesehenen Band von Fārsī Biyāmūzīm, in dem sich zum Beispiel bereits viele Übungswörter auf iranische Esskultur oder iranische Geographie bezogen. In Farsi für zweisprachig aufgewachsene Kinder spielen stattdessen iranische Vornamen eine überaus große Rolle zur Einübung der eben erlernten Buchstaben.57 Gezielt vermittelt werden in diesem ersten Band lediglich grobe Kenntnisse über die Feste Čahāršanbe Sūrī und Nourūz, die Farben der iranischen Flagge und die Lage der Hauptstadt Teheran.58 In den folgenden Bänden werden landeskundliche Kenntnisse weiter ausgebaut und vertieft. Als Bezugsrahmen dient hierbei häufig ein europäischer Kontext. So wird zum Beispiel das Šab-e

53 Interview mit Frau A., 23.06.2017. 54 Interview mit Frau I., 13.03.1016. 55 Interview mit Herrn Z. und Frau. K., 30.05.2016. 56 Auf die Frage hin, ob sie „iranisch“ sei, antwortet das Mädchen mit „ja“, der Junge entgegnet „sowohl iranisch, als auch deutsch“, da sein Vater Iraner und seine Mutter Deutsche sei. Amoozandeh, Afrooz u. Parivash Afshari: Vorbereitungsbuch Farsi für Zweisprachig aufgewachsene Kinder. 2. Ausgabe Berlin 2015, S. 2–3. 57 Zum Vergleich: Im ersten Band von Fārsī Biyāmūzīm tauchten insgesamt knapp 30 verschiedene Vornamen auf, in Farsi für zweisprachig aufgewachsene Kinder Band 1 sind es über 50. Der Großteil der Namen ist in beiden Büchern persischen Ursprungs, nur vereinzelt werden in Iran gebräuchliche Namen arabischen Ursprungs verwendet. 58 Amoozandeh, Afrooz [u.a.]: Farsi 1 für Zweisprachig aufgewachsene Kinder. 4. Ausgabe Berlin 2016, S. 146.

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Yāldā-Fest dem Weihnachtsfest gegenübergestellt59 oder Großbritannien und Deutschland als Vergleichsländer genannt, um darzustellen, wie groß Iran ist.60 Zwar beziehen sich die meisten landeskundlichen Wissensinhalte auf Iran, allerdings wird auch dem Nachbarland Afghanistan ein eigener Text gewidmet. Des Weiteren wird in einigen Übungen sowie mithilfe einer Erzählung über ein aus Afghanistan stammendes Mädchen, das neu in die Klasse kommt, der Anwesenheit von Schülerinnen und Schülern afghanischen Hintergrunds im Unterricht Rechnung getragen. Besonders erwähnt wird dabei an mehreren Stellen, dass die Menschen in Afghanistan ebenfalls Nourūz feiern.61 Die Kinder, die als Protagonisten in den Bänden von Farsi für zweisprachig aufgewachsene Kinder vorkommen, wohnen unter anderem in Hamburg, London, oder Malmö und nur vereinzelt auch in Iran. Sie bekommen Besuch von ihren Verwandten aus Iran, oder fahren diese dort besuchen. Jedoch leben Onkel und Tanten teilweise auch außerhalb Irans, entweder in der gleichen Stadt wie die Kinder selbst oder zum Beispiel in Holland und Paris. Im Urlaub ist nicht Iran alleiniges Reiseziel, sondern die Kinder fahren nach Spanien oder Griechenland, besuchen zu Weihnachten eine Freundin in Schweden oder besichtigen mit ihren Eltern die Pfaueninsel im Wannsee bei Berlin. Außerdem haben sie Freundinnen und Freunde, die nicht unbedingt einen iranischen Hintergrund haben. Es wird immer wieder thematisiert, dass das Persisch der Schülerinnen und Schüler nicht perfekt sei, sich durch den Persischunterricht aber verbessere. Persisch sprechen, lesen und schreiben zu lernen wird als wichtig und schön beschrieben, sei es um eine Geheimsprache in Deutschland zu haben oder um sich bei Besuchen der Verwandtschaft in Iran besser zurechtzufinden und mit den Großeltern unterhalten zu können.62 Das Aufwachsen in einem mehrkulturellen Zusammenhang wird in Band 3 in einem eigenen Text angesprochen: Das erzählende Ich berichtet hier über den in der Nachbarschaft wohnenden Leonard, dessen Vater Iraner und dessen Mutter Deutsche ist. Dadurch feiert Leonard mit seinen Eltern sowohl Weihnachten, als auch Nourūz und kennt Geschichten über den Weihnachtsmann ebenso wie Geschichten über ʿAmū Nourūz und Hağī Fīrouz.63 Der europäische Kontext, in dem sich die Kinder bewegen, sticht so immer wieder heraus. 59 Amoozandeh, Afrooz [u.a.]: Farsi 2 für Zweisprachig aufgewachsene Kinder. 1. Ausgabe Berlin 2015, S.43. 60 Amoozandeh, Afrooz [u.a.]: Farsi 3 für Zweisprachig aufgewachsene Kinder. 1. Ausgabe Berlin 2017, S. 32. 61 Amoozandeh, Farsi 3 (wie Anm. 61), S. 65. 62 Amoozandeh, Farsi 1 (wie Anm. 59), S. 149; Amoozandeh,Farsi 2 (wie Anm. 60), S.5; Amoozandeh, Farsi 3 (wie Anm. 61), S. 4; Amoozandeh, Farsi 3 (wie Anm. 61), S. 73. 63 Amoozandeh, Farsi 3 (wie Anm. 61), S. 69.

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Zwar werden in Farsi für zweisprachig aufgewachsene Kinder keine Texte wörtlich aus Fārsī-Pahlavī übernommen, einige Anregungen oder traditionelle Themen bleiben jedoch, wie bereits erwähnt, weiterhin erhalten. So finden sich zum Beispiel in beiden Reihen Texte zur Bedeutung von Büchern oder über Hans Christian Andersen.64 Auch über das Telefon wird in beiden Reihen berichtet. Aus dem ursprünglichen Text aus Fārsī-Pahlavī ist dabei nichts wörtlich übernommen und als große Ähnlichkeit lediglich die Information erhalten, Alexander Graham Bell habe das Telefon erfunden. Erweitert wurde der Text dagegen um die – im heutigen oft über mehrere Kontinente verteilten iranischen Familienleben äußerst wichtige – Möglichkeit des Videoanrufs, indem das erzählende Ich berichtet: „Ich und mein Bruder telefonieren jede Woche mit Bild mit unserer Familie.“65 Ähnlich wie in Fārsī Biyāmūzīm finden sich außerdem auch Hinweise darauf, dass die Bücher der Fārsī-IR-Reihe als Anregung dienten. So wurde zum Beispiel die Idee übernommen, den Wasserkreislauf in Form einer Erzählung vorzustellen. Allerdings wird hier die Reise einer Schneeflocke und nicht die einer Welle nachvollzogen und es erfolgt die Quellenangabe, es handele sich bei dem Text um eine Zusammenfassung eines Buchs des iranischen Kinderbuchautors Ṣamad Behrangī.66 Die Abkehr von rein iranischen Themen und Zuwendung zu einem europäischen Kontext ist von den Autorinnen bewusst gewählt. Angesichts sinkender Teilnehmendenzahlen und der Tatsache, dass viele Kinder nur auf Druck ihrer Eltern überhaupt noch den Persischunterricht besuchen, wollen sie ihre Bücher stärker auf die Lebenswelt ihrer Schülerinnen und Schüler ausrichten, um dadurch ihr Interesse am Erlernen der Sprache zu stärken.67 Die Reihe Farsi für zweisprachig aufgewachsene Kinder ist somit von den für diesen Beitrag untersuchten Werken die am stärksten von der Auseinandersetzung mit neuen Wissensbeständen und Weltbildern geprägte Lehrbuchreihe.

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Amoozandeh, Farsi 3 (wie Anm. 61), S. 88. Amoozandeh, Farsi 3 (wie Anm. 61), S. 77. Amoozandeh, Farsi 3 (wie Anm. 61), S. 80. Interview mit Frau A., 23.06.2017.

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Kontinuitäten und Brüche in der Wissensvermittlung über Iran und die persische Kultur Aus den vorangegangenen Beschreibungen der in Deutschland verwendeten Lehrbücher zeigt sich die bis heute teils starke Kontinuität der zu vermittelnden Wissensordnungen. Über zwanzig Jahre nach der Abdankung Mohammad Reza Pahlavis erschien es den iranischen Lehrkräften rund um den Herausgeber der Kölner Reihe Fārsī Nouāmūzān in den 1990er Jahren noch nicht notwendig, die altbekannte Wissensordnung ihrer Jugend aus der Schahzeit in ihren Lehrbüchern gravierend umzuwandeln. Die Notwendigkeit, auf die Konfrontation mit neuen Wissensbeständen im Persischunterricht zu reagieren, kommt im Interview mit dem Herausgeber der Reihe jedoch zur Sprache. Er merkt an, er habe den Schülerinnen und Schülern auch iranische Geschichte vermittelt. Besonders sei er dabei auf die vorislamische Geschichte Irans eingegangen, da diese von der Islamischen Republik unterschlagen werde. Doch auch am deutschen Geschichtsunterricht übt er Kritik. Seine Schülerinnen und Schüler seien mit vielen Fragen zu ihm gekommen, wenn dort Iran bzw. Persien erwähnt wurde. Über die hiesige Geschichtsvermittlung urteilt er: „Sie haben ihre eigenen politischen Ziele, die Europäer. Ihr Ziel ist es zu sagen, aha, da ist ein Europäer [Alexander der Große] hingegangen und hat es [das Persische Reich] besiegt.“68 Hingegen werde nicht erwähnt, dass die Armeen Alexanders und auch die Armeen der Mongolen und der Araber sich in Iran auflösten. Auch verschweige man die häufigen Niederlagen der Römer gegen Iran.69 Eine Vertiefung des Wissens über iranische Geschichte ist hier also vor allem dadurch motiviert, dem Eurozentrismus im deutschen Geschichtsunterricht etwas entgegenzusetzen. Dabei stellt die Fokussierung auf die vorislamische Zeit sowohl eine Fortsetzung der in der Pahlavi-Ära stark betriebenen Rückbesinnung auf das antike Persische Großreich als auch eine bewusste Abkehr von der in der Islamischen Republik betriebenen Geschichtsschreibung dar. Ähnlich verhält es sich in der schwedischen Fārsī Biyāmūzīm-Reihe. Der bereits erwähnte Text über die Arsakidendynastie lässt sich mit seiner Betonung auf die Kämpfe zwischen Partherreich und Rom wie eine Antwort auf die Kritik des europäischen Geschichtsbilds des Herausgebers von Fārsī Nouāmūzān lesen. Durch die Übernahme vieler Schulbuchtexte aus Fārsī-Pahlavī ist darüber hinaus in Fārsī Biyāmūzīm ebenfalls 68 Interview mit Herrn E., 13.09.2016. 69 Interview mit Herrn E., 13.09.2016.

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eine Kontinuität zu Wissensbeständen aus der Zeit vor der Islamischen Revolution zu erkennen. Jedoch wird durch die Abänderung vieler dieser übernommenen Texte und die Tatsache, dass im zweiten Band keine Texte aus Fārsī-Pahlavī mehr enthalten sind, auch eine fortschreitende Emanzipation von der alten Wissensordnung der Schahzeit deutlich. Den neuen Wissensbeständen der Islamischen Republik wird dabei allein schon durch die Bildsprache, beispielsweise sind nirgends Mädchen und Frauen in Kopftuch abgebildet, und auch die Auslassung jeglicher islamischer Feste oder Symbole ebenfalls eine klare Absage erteilt. In Farsi für zweisprachig aufgewachsene Kinder spielen Wissensbestände aus der Islamischen Republik keine Rolle und auch die der Schahzeit sind nur noch marginal enthalten. Die iranischen Migrantinnen und Migranten schaffen sich heute ihre eigene Vorstellungswelt von Iran, das als Bezugs- und Sehnsuchtsland erhalten bleibt und als solches zur eigenen Identifikation einen nicht unerheblichen Beitrag leistet. Der Umstand, dass sich die Schülerinnen und Schüler selbst nicht mehr in Iran befinden, spielte in der Kölner Reihe Fārsī Nouāmūzān noch keine Rolle. In Fārsī Biyāmūzīm wird diese Tatsache an einigen Stellen aufgegriffen, wo sich die Schülerinnen und Schüler stattdessen befinden, wird allerdings nicht direkt angesprochen. Durch die verstärkte Ansprache internationaler Themen werden die globalen Vernetzungen, in denen sich die Schülerinnen und Schüler bewegen, jedoch zumindest angedeutet. In den ab 2014 erschienenen Büchern der Reihe Farsi für zweisprachig aufgewachsene Kinder sind die Kinder nun klar als Angehörige einer transnationalen bzw. europäisch-iranischen Gemeinschaft angesprochen, die in Schweden, Großbritannien oder Deutschland lebt und Kontakte zu ihrer Familie sowohl in Iran als auch in Europa und der Welt pflegt. Die Inhalte und zu vermittelnden Wissensbestände veränderten sich zunächst aus der Situation des Exils heraus. Die iranischen Migrantinnen und Migranten, die meist aus politischen Gründen ihre Heimat verlassen hatten, sahen keine Möglichkeit, die in Iran verwendeten Schulbücher für ihre Kinder weiterhin zu benutzen. In der Lehrbuchreihe des persischen Lehrervereins zeigt sich, dass inzwischen andere Parameter in den Vordergrund gerückt sind. Die Reihe entsteht nicht rein aus einer politischen Ablehnung der in Iran vermittelten Inhalte heraus, sondern aus dem Bewusstsein, dass sich die in Deutschland aufwachsenden Kinder in einer anderen Lebenswelt befinden. Die Bücher sind nicht auf eine Rückkehr nach Iran ausgerichtet, sondern unterstützen die Formung einer Diaspora- als Kulturgemeinschaft, die Sprache und gewisse Feste miteinander teilt, dabei jedoch fest in Europa verortet ist. Iran war in den vorgestellten außerhalb Irans produzierten Persischlehrbüchern zunächst Heimat- und Sehnsuchtsland, ein Ort, an den man zurückkehren wollte. Im Laufe der Zeit tauchte es dann immer mehr nur noch als Herkunfts- bzw. Bezugsland auf, dessen

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Sprache man spricht, das man mit seiner Verwandtschaft in Iran und der Welt teilt, dessen – nicht-islamische – Feste man feiert. In der Reihe Farsi für zweisprachig aufgewachsene Kinder des persischen Lehrervereins lässt sich sogar erkennen, dass das Bezugsland Iran immer mehr durch die persische Bezugskultur und Sprache abgelöst wird. In einem Text über Nourūz heißt es: „Seit alten Zeiten feiern die Leute Irans, Afghanistans und einiger anderer Länder ein Fest am Frühlingsanfang.“70 So wird das Frühlingsfest aus einem iranspezifischen Kontext gelöst und steht nun in einem überregionalen und transnationalen kulturellen Zusammenhang.

Fazit und Ausblick Die politische Einstellung der Autorinnen und Autoren der im Ausland produzierten Bildungsmedien nimmt klar Einfluss auf die Wissensinhalte über Iran und die persische Kultur, die in ihnen vermittelt wird, stellt jedoch nicht den einzigen Faktor dar. Die Eins-zu-Eins-Übertragung der alten Grundschullehrbücher der Schahzeit in der Kölner Reihe Fārsī Nouāmūzān zeigt die starke Verwurzelung in der Wissenskultur des verlorenen Herkunftslandes. In der schwedischen Lehrbuchreihe Fārsī Biyāmūzīm ist diese bereits aufgeweicht. Wissensbestände aus der Welt spielen eine größere Rolle; das Wissen über Iran und die persische Bezugskultur wird Anpassungen unterzogen, die auch von den Vorgaben des schwedischen Curriculums für den Herkunftssprachenunterricht beeinflusst sind. Die neue in Deutschland entstehende Reihe Farsi für zweisprachig aufgewachsene Kinder ist vor allem von der Bedeutung der persischen Sprache als Schlüssel zur Kultur des Herkunftslandes bestimmt. Diese wird soweit in den Fokus gerückt, dass inhaltliche Aspekte, die bereits über diese Kultur berichten, nur in dem Maße erhalten bleiben, wie sie von den zu unterrichtenden Schülerinnen und Schülern angenommen werden. Das Erlernen der Sprache hat oberste Priorität, Wissen über Iran und die persische Kultur ist hier nur soweit von Bedeutung, wie es diesem Zweck zuarbeiten. Die iranischen Migrantinnen und Migranten treffen die Entscheidungen darüber, welches Wissen auf welche Art und Weise an die im Ausland aufwachsenden Kinder weitergegeben werden soll, nicht in einem isolierten Raum. Zwar gibt es, wie eingangs erwähnt, keine „spezialisierte Einrichtung“, die bestimmt, welches Wissen an die nachfolgenden im Ausland aufwachsenden Generationen iranischen Hintergrunds weitergegeben wird. Doch die im Bereich der Bil70 Amoozandeh, Farsi 2 (wie Anm. 60), S. 64.

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dung engagierten Persischlehrkräfte schaffen sich ihren eigenen diskursiven Raum, in welchem diese Frage debattiert wird. Bei der Kölner Reihe Fārsī Nouāmūzān handelte es sich dabei noch um einen kleinen lokalen Kontext. Die in Schweden entwickelte Reihe Fārsī Biyāmūzīm wurde und wird, wie bereits erwähnt, in mehrere andere Länder verkauft und der Herausgeber steht unter anderem auch in Kontakt zu Lehrkräften in Deutschland. Seit Anfang der 2000er Jahre fanden Treffen europäischer Persischlehrkräfte unter anderem in Berlin, Krakau, Wien und London statt und beförderten den Austausch über Bildungsfragen iranischer Migrantinnen und Migranten über Ländergrenzen hinweg. Das bei diesen Treffen gestärkte Bewusstsein für die gravierend unterschiedlichen bildungspolitischen Voraussetzungen in verschiedenen europäischen Ländern beförderte dabei das Bedürfnis, sich auch auf nationaler Ebene stärker zu vernetzen. So ging aus einem von iranisch-schwedischen Lehrkräften 2007 in Berlin initiierten Treffen die Gründung des Lehrervereins der persischen Sprache in Deutschland e.V. hervor. Gründungsmitglieder dieses Vereins bemängeln, dass es in fast jeder deutschen Großstadt bereits seit Jahren Persisch-Schulen gäbe, jedoch bisher jede für sich ohne Kontakt zu anderen vor sich hin gearbeitet habe.71 Um den meist ehrenamtlich engagierten Persischlehrkräften aus ganz Deutschland eine Plattform zu bieten, veranstaltet der Verein daher seit seiner Gründung jedes Jahr in einer anderen deutschsprachigen Stadt ein Lehrerseminar. Neben Vorträgen über Lehrmethoden und dem Erfahrungsaustausch zwischen den Lehrkräften wird auf diesen Seminaren außerdem teils heftig über die vom Verein herausgegebene Lehrbuchreihe Farsi für zweisprachig aufgewachsene Kinder debattiert.72 Sowohl in Fārsī Biyāmūzīm als auch in Farsi für zweisprachig aufgewachsene Kinder wird dazu aufgefordert, sich mit Anregungen und Kritik unter angegebenen Emailadressen oder Telefonnummern zu melden. Nach dem Motto Kein Lehrbuch ist jemals fehlerfrei wird jede neue Ausgabe der Lehrbücher überarbeitet, auch indem eingegangene Verbesserungsvorschläge eingearbeitet werden. Durch soziale Medien und neue Kommunikationswege wird der Austausch zwischen Lehrkräften und Lehrbuchautorinnen und Autoren über regionale und nationale Kontexte hinweg weiterhin 71 Interview Herr Z. und Frau K., 30.05.2016. 72 Kritisiert wurde auf dem Seminar 2015 in Aachen zum Beispiel, dass die Autorinnen die Reihenfolge der Buchstaben für das Erlernen des Alphabets änderten. Dem Team der Autorinnen wurde hier vorgeworfen, aus feministischen Beweggründen den für Kinder schwer zu schreibenden Buchstaben „mīm“ dem Buchstaben „be“ vorgezogen zu haben, damit die Kinder „Māmān“ (Mama) vor „Bābā“ (Papa) schreiben lernen. Weiterhin wurde bemängelt, man hätte für viele Beispiele einen iranischen Kontext finden können. Dem setzten die Autorinnen entgegen, der Vorstellungswelt der in Deutschland aufwachsenden Kinder sei zum Beispiel Holland viel näher als irgendeine iranische Provinz.

Kontinuitäten und Brüche in der Wissensvermittlung über das Herkunftsland 

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befördert. Die im Bildungsbereich engagierten iranischen Migrantinnen und Migranten schaffen sich so ihren eigenen diskursiven Raum. Darin wird die Frage verhandelt, welches Wissen an die nachfolgenden Generationen, die außerhalb Irans leben, weitergegeben werden soll.

Quellen Lehrbücher Amoozandeh, Afrooz u. Parivash Afshari: Vorbereitungsbuch Farsi für Zweisprachig aufgewachsene Kinder. 2. Ausgabe Berlin 2015. Amoozandeh, Afrooz, Parivash Afshari, Mahvash Houshmand, Mehrnaz Hadipour u. Zahra Nouri Daryany: Farsi 1 für Zweisprachig aufgewachsene Kinder. 4. Ausgabe Berlin 2016. Amoozandeh, Afrooz, Parivash Afshari, Mahvash Houshmand u. Maryam Ebrahimi: Farsi 2 für Zweisprachig aufgewachsene Kinder. 1. Ausgabe Berlin 2015. Amoozandeh, Afrooz, Parivash Afshari, u. Mahvash Houshmand: Farsi 3 für Zweisprachig aufgewachsene Kinder. 1. Ausgabe Berlin 2017. Espahangizi, Kambiz (Hrsg.): Fārsī Nouāmūzān 2. Köln 1999. Espahangizi, Kambiz (Hrsg.): Fārsī Nouāmūzān 3. Köln 1999. Ǧomhūrī-ye Eslāmī-ye Īrān/ Vezārat-e āmūzeš va parvareš (Hrsg.): Fārsī. Avval-e dabestān. Teheran 1363 h.š (1984/85). Ǧomhūrī-ye Eslāmī-ye Īrān/ Vezārat-e āmūzeš va parvareš (Hrsg.): Fārsī. Čahārom-e dabestān. Teheran 1363 h.š (1984/85). Tavakoli, Bahram (Hrsg.): Fārsī biyāmūzīm! Ketāb-e avval-e ebtedāyī bā tamrīn (ğadīd) Bok 1 farsi. En läs och övningsbok i det persiska språket för bokstavsinlärning = A Read and Exercise Book in Persian Language for Learning Letters of the Alphabet. 3. Aufl. in Farbe. Märsta 2015. Tavakoli, Bahram (Hrsg.): Fārsī biyāmūzīm! Ketāb-e čahārom va tamrīn = Farsi 4 – En läs och övningsbok i det persiska språket. A Read and Exercise Book in Persian Language. 2. Aufl. in Farbe. Märsta 2014. Tavakoli, Bahram (Hrsg.): Fārsī biyāmūzīm! Ketāb-e sevom. 2. Aufl. in Farbe. Märsta 2014. Tavakoli, Bahram u. Azar Arfaazadeh (Hrsg.): Fārsī biyāmūzīm! Ketāb-e dovom-e ebtedāyī. Moṣavvar va rangī: barāy-e dāneš āmūzān-e ḫāreğ az kešvar = Farsi 2. A Read and Exercise Book in Persian Language. 3. Aufl. in Farbe. Märsta 2013. Vezārat-e āmūziš va parvareš/Sāzmān-e ketābhā-ye darsī-ye Īrān (Hrsg.): Fārsī. Avval-e dabestān. Teheran 1347 h.š. (1968/1969). Vezārat-e āmūzeš va parvareš/Sāzmān-e ketābhā-ye darsī-ye Īrān (Hrsg.): Fārsī. Sevom-e dabestān. Teheran 1351 h.š. (1972/1973). Vezārat-e āmūzeš va parvareš/Sāzmān-e ketābhā-ye darsī-ye Īrān (Hrsg.): Fārsī. Čahārom-e dabestān. Teheran 1351 h.š. (1972/1973). Vezārat-e āmūzeš va parvareš/Sāzmān-e pažuheš va barnāmarīzī-ye āmūzešī (Hrsg): Ketāb-e kār. Fārsī. Avval-e dabestān. Teheran 1390 h.š. (2011/2012). http://www.chap.sch.ir/ books/1977 (11.01.2018).

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Sonstige Quellen Interviews, geführt von Cornelia Hagemann, 2016–2017. Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland. Red.-Schluß: 1. August 2011. Wiesbaden 2011.

Literatur Ashraf, Ahmad: Iranian Identity iv. 19th–20th Century. In: Encyclopaedia Iranica (EIr). Hrsg. von Ehsan Yarshater. Bd. 1. London u.a. 1985. Bd. 13 (5). London u.a. 2006. S. 522–530. http://www.iranicaonline.org/articles/iranian-identity-iv-19th-20th-centuries (24.07.2017). Horz, Christine: Medien – Migration – Partizipation. Eine Studie am Beispiel iranischer Fernsehproduktion im Offenen Kanal. Bielefeld 2014. Lässig, Simone: Wer definiert relevantes Wissen? Schulbücher und ihr gesellschaftlicher Kontext. In: Schulbuch konkret: Kontexte – Produktion – Unterricht. Vortrag der Fachtagung am Georg-Eckert-Institut im November 2008. Hrsg. von Eckhardt Fuchs [u.a.]. Bad Heilbrunn 2010. S. 199–215. Malek, Amy: Vertrieben, neu verwurzelt, transnational. Überlegungen zu Theorie und Praxis von ‚Iranischsein‘ außerhalb Irans. In: Identität und Exil: Die iranische Diaspora zwischen Gemeinschaft und Differenz. Hrsg. von Heinrich Böll Stiftung und Transparency for Iran. Berlin 2015 (Reihe Demokratie 40). S. 26–34. https://www.boell.de/sites/default/files/ identitaet-und-exil_iranische_diaspora_zwischen_gemeinschaft_und_differenz.pdf (20.10.2016). Matin-Asgari, Afshin: Confederation of Iranian Students. In: Encyclopaedia Iranica (EIr). Hrsg. von Ehsan Yarshater. Bd 1. London u.a. 1985. Band 6 (2). London u.a. 1992. S. 122–125. http://www.iranicaonline.org/articles/confederation-of-iranian-students (29.11.2016). Sarasin, Philipp: Was ist Wissensgeschichte? In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011). S. 159–172. Schirazi, Asghar: Germany X. The Persian Community in Germany. In: Encyclopaedia Iranica (EIr). Hrsg. von Ehsan Yarshater. Bd 1-. London u.a. 1985– . Band 10 (6) 2001. S. 572–574. http://www.iranicaonline.org/articles/germany-x (24.07.2017). Schröder, Günter [u.a.]: Die iranische Gemeinschaft in Deutschland. In: Ethnische Minderheiten in Deutschland. Hrsg. vom Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung. Berlin 1994. Kapitel 3.1.5. (ohne Seitenangabe). Speich-Chassé, Daniel u. David Gugerli: Wissensgeschichte. Eine Standortbestimmung. In: Kulturgeschichte – eine historiographische Skizze. Traverse Zeitschrift für Geschichte (2012). S. 85–100. Vejdani, Farzin: Making History in Iran. Education, Nationalism and Print Culture. Stanford 2015.

Maureen Maisha Auma

Fehlende, versteckte, vorhandene Heterogenität Diversität in Bildungsmaterialien in Ost- und Westdeutschland Die Diversitätsforschung ist ein relativ junger Forschungsansatz. Empirische Studien aus der Analyseperspektive von Diversität sind bislang vor allem im Bereich von Policy und Management vorzufinden.1 In diesem Artikel wird indes ein Forschungszugang diskutiert, der nachzuvollziehen versucht, wie Diversitätswissen gleichzeitig mit den in Bildungsmaterialien konstruierten Alltagsvorstellungen hergestellt wird. Damit sollen die Repräsentationspolitiken von Bildungsmaterialien unter dem Aspekt von Diversität, die Ermöglichung oder Verhinderung der Wahrnehmung von Heterogenität und den damit zusammenhängenden Macht- und Differenzverhältnissen, zum Thema gemacht werden. Die Materialien, die für diese Analyse ausgewählt wurden, sind geformt durch die jeweils spezifische Gesellschaftsgeschichte der beiden deutschen Staaten DDR und BRD zwischen 1949 und 1990.2 Die Situation der Zweistaatlichkeit wird in diesem Beitrag als ein spezifischer gesellschaftlicher Zusammenhang verstanden. Zwei Konzepte für die Gestaltung eines inzwischen als Vielfaltspolitik bezeichnetes Phänomen werden hier also erwartet. Die in Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Heterogenität entstandenen Bildungsmedien einer ab einem festgelegten Zeitpunkt willkürlich aufgeteilten Gesellschaft bilden aus meiner Sicht einen prägnanten Möglichkeitsraum – gar eine Art Laborsituation – für die Beobachtung variierender wissensgeprägter Schwerpunktsetzungen. Diversitätsspezifisches Ost- respektive Westschulbuchwissen entstand unter der Bedingung der Etablierung spezifischer Gesellschaftssysteme. Diese Wissensbestände sind einerseits geprägt durch die jeweiligen politischen und ökonomischen Transformationsprozesse sowie andererseits durch die an ihnen beteiligten Akteurinnen und Akteure sowie Netzwerke. Das diversitätsgeprägte Gesell-

1 Vgl. die Publikationsreihe „Diversity und Hochschule“ im Beltz Juventa-Verlag, z.B. Klein, Uta u. Daniela Heitzmann (Hrsg.): Diversity und Hochschule. Theoretische Grundlagen und empirische Bestandsaufnahme. Weinheim 2012. 2 Das Sample meiner Forschung umfasst Bildungsmaterialien der zwei deutschen Staaten von vier Dekaden (1949–1990). In diesem Beitrag analysiere ich exemplarisch aus diesem Sample zwei Geschichtsschulbücher (DDR/BRD der 1950er Jahre). https://doi.org/10.1515/9783110538076-007

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schaftswissen wurde vor dem Hintergrund der Zweistaatlichkeit und des Kalten Krieges teils in direkter Abgrenzung und Konkurrenz entwickelt.3 Didaktische Medien stellen spezifische Wissensformate dar.4 Sie gleichen einem Massenmedium, da ihr Publikum mit allen schulpflichtigen Personen aus einem großen Segment der Gesellschaft besteht.5 Durch dieses Massenmedium können gesellschaftliche Umstände einschließlich Pluralität und Ungleichheit aufgegriffen und thematisiert werden. Konstruktionen von Gesellschaft werden sowohl auf Bild- als auch auf Textebene produziert. Eine Analyse des in Bildungsmaterialien enthaltenen Diversitätswissens, respektive Dominanzwissens6 soll Einblicke in die spezifische Repräsentation von Diversität in den zwei Versionen Deutschlands ermöglichen. Die Thematisierung von Diversität wird in diesem Beitrag verstanden als ein systematisiertes Aufgreifen und Abbilden gesellschaftlicher Pluralität. Diversitätsgeprägte Wissensbestände bezeichnen hier den gezielten Einbezug sozial konstruierter Differenzen und die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Barrieren in Konstruktionen der sozialen Wirklichkeit. Geschlechterhierarchien oder kolonial geprägte Rangordnungen gehen als Differenzwissen und Differenzbilder in kulturelle Medien ein. Sie können in den Bildungsmedien einer Gesellschaft als hegemoniales Wissen aufgenommen oder als Ungleichheitswissen kritisch thematisiert werden. Spezifische sozialhistorische Bedingungen und Politiken, wie Bildungs-, Familien-, Gleichstellungs-, Sexual- sowie Vielfaltspolitik, sind für das Sichtbarmachen, beziehungsweise das Vorhandensein von Heterogenität, für das Verdrängen also das Fehlen von Heterogenität, oder für die Überlagerung und Umdeutung, im Sinne von verdeckter, impliziter Heterogenität, von Diversität entscheidend. Sie forcieren oder verhindern eine Thematisierung von gesellschaftlicher Pluralität, den Realitäten von Exklusion und damit zusammenhängenden Diskriminierungsrisiken. Aus einer wissenshistorischen Perspektive7 soll hier der Zusammenhang zwischen Gleichheitspolitiken und Repräsentationsmustern der DDR und der BRD, wie er in dem jeweiligen Schulbuchwissen nachzuvollziehen

3 Vgl. Hong, Young-Sun: Cold War Germany, the Third World, and the Global Humanitarian Regime. New York 2015. S. 13f. 4 Vgl. Stein, Gerd: Schulbuchwissen, Politik und Pädagogik. Untersuchungen zu einer praxisbezogenen und theoriegeleiteten Schulbuchforschung. Kastellaun 1977. S. 11f. 5 Wiater, Werner (Hrsg.): Schulbuchforschung in Europa – Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektive. Bad Heilbrunn 2003. S. 7f; Schiffauer, Werner und Thijl Sunier: Die Nation in Geschichtsbüchern. In: Staat, Schule, Ethnizität. Politische Sozialisation von Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern. Hrsg. von Werner Schiffauer [u.a.] Münster 2002. S. 37–65. 6 Dies umfasst sowohl kulturell-hegemoniale Sprachbilder als auch Alltagskonstruktionen. 7 Vgl. Gugerli, David und Daniel Speich-Chassé: Wissensgeschichte. Eine Standortbestimmung. In: Traverse Themenheft „Kulturgeschichte“ 1 (2012). S. 85–100.

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ist, untersucht werden. Inwiefern existieren bereits Kritiken an kolonialgeprägten und geschlechterhierarchischen Differenzen in Ostschulbüchern und Westschulbüchern? Werden Differenzen, Dominanzen und Marginalisierungen dramatisiert, normalisiert oder problematisiert? Die bildanalytische Studie Mosambik im pädagogischen Raum der DDR befasst sich mit den hierarchischen Blickverhältnissen (Produktion von Differenzbildern) in der Bildungszusammenarbeit der DDR mit der VR Mosambik in den 1980er Jahren.8 Sie steht exemplarisch für eine noch nicht weit etablierte Forschungsrichtung, die sich mit kolonialgeprägten Repräsentationsmustern sozialistischer Bildung befasst. Trotz der offiziellen antikolonialen Rhetorik sozialistischer Staaten sind koloniale Blickmuster in vielen Fällen ungebrochen und unterschwellig in den untersuchten Bildquellen wirksam. Diese Studie bezieht sich allerdings nicht explizit auf Bildungsmedien, sondern in erster Linie auf die Dokumentation der pädagogischen Wirklichkeit. Sie ist für meinen Ansatz dennoch relevant, weil sie der Frage nachgeht, wie Differenzen in Konzepten, Routinen und Medien der globalen Bildungszusammenarbeit vor dem Hintergrund des ausgehenden Kolonialismus und des Kalten Krieges wirksam werden. Eine explizite Thematisierung von Migrationsprozessen und den damit zusammenhängenden Diversifizierungsprozessen hat, zumindest in Geschichtsschulbüchern, deutlich zugenommen.9 Damit wurde ein Perspektivwechsel initiiert, durch den die Dominanz eines nationalgeprägten historischen Narrativs abgenommen hat. Vielschichtige Betrachtungen von miteinander zusammenhängenden geschichtlichen Ereignissen einschließlich von Migrations- und Diversifizierungsprozessen bestimmen die neuere Geschichtsschreibung in deutschen Geschichtsschulbüchern.10 Zudem hat sich der Kreis der Adressatinnen und Adressaten von Geschichts- und Erinnerungsunterricht vor allem durch Migrationsrealitäten pluralisiert.11 Diese Entwicklungen sind bedeutend für meine Analyse davon, wie ein vielfältiges Bild von geschichtlichem Handeln, Gesellschaft und Alltag repräsentiert wurde und zukünftig durch Bildungsmedien dargestellt werden kann.

8 Schuch, Jane: Mosambik im pädagogischen Raum der DDR. Eine bildanalytische Studie zur „Schule der Freundschaft“ in Staßfurt. Wiesbaden 2013. 9 Lässig, Simone: History, Memory, and Symbolic Boundaries in the Federal Republic of Germany: Migrants and Migration in School History Textbooks. In: Migration, Memory, and Diversity: Germany from 1945 to the Present. Hrsg. von Cornelia Wilhelm. New York, Oxford 2017. S. 111–154, hier S. 124f. 10 Lässig, History (wie Anm. 9), S. 124f. 11 Lässig, History (wie Anm. 9), S. 127.

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Zweimal Deutschland, zweimal Diversität? Migration, Diversität und Differenzproduktion in den zwei deutschen Staaten 1949–1990 Die Situation der Zweistaatlichkeit Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, beginnend mit der Staatsgründung der DDR 1949 bis zur Wiedervereinigung 1990, ist eine politische und gesellschaftliche Besonderheit.12 Aus dieser Neugründungssituation entstanden teils sehr polarisierte Selbstverständnisse, politische Orientierungen, Gesellschaftsbilder und konkrete Politiken.13 Es ist aus Sicht der Diversitätsforschung aufschlussreich, den spezifischen Einfluss der Zweiten Welt auf die Gestaltung von Diversität und auf konkrete Vielfaltspolitiken der DDR zu rekonstruieren. Es ist ebenfalls aussagekräftig, den Einfluss der Ersten Welt auf die Gestaltung von Diversität und auf konkrete Vielfaltspolitiken der BRD nachzuvollziehen. Hier gilt es, die jeweils spezifische politische Orientierung14 in ihrer Wirkung auf die Beziehungsgestaltung mit und der damit zusammenhängenden Darstellung der Gesellschaften und Subjekten der Dritten Welt in den jeweiligen Schulbuchwelten einzuschätzen.15

Das Wettrennen um globalen Einfluss: Spannungs- und Ungleichheitsverhältnisse in der Schulbuchsozialisation Die zueinander in Konkurrenz stehenden Machtblöcke wetteiferten um Einfluss sowie um die Kontrolle von Märkten, Rohstoffen und globalem Prestige. Ihre konkurrierenden Machtinteressen wurden auch in der Gestaltung ihrer Beziehung zur Dritten Welt manifest.16 Die einsetzende Unabhängigkeit ehemali-

12 Greiffenhagen, Martin u. Sylvia Greiffenhagen: Zwei politische Kulturen? Wissenschaftliche und politische Unsicherheiten im Umgang mit der deutschen Vereinigung. In: Bürger und Staat 50 (2000). S. 179–185, hier S. 179; vgl. Poutrus, Patrice: Migranten in der „Geschlossenen Gesellschaft“. Remigranten, Übersiedler, ausländische Studierende, Arbeitsmigranten in der DDR. In: Handbuch Staat und Migration vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. von Jochen Oltmer. Berlin, Boston 2016. S. 967–995, hier S. 967; vgl. Hong, Cold War (wie Anm. 3), S. 1f. 13 Thumfart, Alexander: Die Politische Integration Ostdeutschlands. Frankfurt am Main 2002. S. 37f. 14 Greiffenhagen, Kulturen (wie Anm. 12), S. 183; Hong, Cold War (wie Anm. 3), S. 3f. 15 Vgl. Flucke, Franziska [u.a.] (Hrsg.): Der Kalte Krieg im Schulbuch. St. Ingbert 2017. 16 Hong, Cold War (wie Anm. 3), S. 5; Dinkel, Jürgen: Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik (1927–1992). Berlin, Boston 2015. S. 77.

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ger Kolonialgesellschaften konfrontierte die Erste Welt mit der Situation eines potenziellen Kontrollverlustes und mit dem Verlust des globalen Status als Kolonialmacht.17 Die beginnende Selbstverwaltung befreiter Kolonialgesellschaften bot daher eine günstige Gelegenheit, gewissermaßen für die eigene Gesellschaftsordnung zu werben und dabei eine Machtausweitung und neue Kontrolle zu initiieren.18 So wurde die Dritte Welt – eine ursprüngliche Bezeichnung für die Blockfreiheit; nicht-alliierte junge postkoloniale Nationen der südlichen Hemisphäre – eingebunden in das globale Wettrennen um hegemoniale Vormacht.19 Die Polarisierung der Gesellschaftssysteme der Ersten und Zweiten Welt weitete sich im globalen Maßstab aus. Das stellte für die jungen unabhängigen afrikanischen Nationen, die ihre Nationsbildung als unmittelbare Aufgabe zu bewältigen hatten, eine folgenreiche Entwicklung dar. Die Einflussnahme und Kontrolle der Ersten und Zweiten Welt erstreckten sich aber auch auf Migrations-, Arbeits- und Sportpolitik sowie soziale und kulturelle Zusammenarbeit.20 Hinter diesem globalisierten Beziehungsgefüge wirkten Kolonialordnungen sowie ideologische Prägungen und polarisierte Politikkonzepte weiter.21 Die Sicherung des jeweiligen globalen Status als erfolgreiches Modell für neue postkoloniale Gesellschaften prägte die politischen Kulturen, die Migrationspolitik, Entwicklungszusammenarbeit und die Darstellung des Verhältnisses zur Dritten Welt in den jeweiligen kulturellen Artefakten der DDR und der BRD. Kann hier jedoch von unterschiedlichen Repräsentationsmustern gesprochen werden? Gibt es ein spezifisches Muster der Thematisierung und Abbildung von gesellschaftlicher Pluralität in Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutsch-

17 Deutschland war nach dem Ersten Weltkrieg und zu den Bedingungen des Versailler Vertrags keine Kolonialmacht mehr, seine imperialen Bestrebungen hielten aber noch bis zum Verlust des Zweiten Weltkriegs an. Hitler hegte Pläne, zunächst den ‚Lebensraum Osten‘ und danch den ‚Ergänzungsraum‘ Afrika (zurück-) zu erobern. Vgl. Oguntoye, Katharina: Eine afro-deutsche Geschichte. Zur Lebenssituation von Afrikanern und Afro-Deutschen in Deutschland von 1884 bis 1950. Berlin 1997. S. 126f ; Oguntoye, Katharina: Afrikanische Zuwanderung nach Deutschland zwischen 1884 und 1945. http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/afrikanische-diaspora/59383/zuwanderung-1884–1945?p=all (15.02.2018); Kum’a Ndumbe III, Alexandre: Was wollte Hitler in Afrika? NS-Planungen für eine faschistische Neugestaltung Afrikas. Frankfurt am Main 1993. S. 74f. 18 Mignolo, Walter: The Darker Side of Western Modernity. Global Futures, Decolonial Options. Durham NC 2011. S. XII, XIV, XVIIIf. und XXIII. 19 Vgl. Haug, Wolf Fritz: Hegemonie. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. http://www.inkrit.de/e_inkritpedia/e_maincode/doku.php?id=h:hegemonie (07.01.2018); Mignolo, Modernity (wie Anm. 18), S. XVII, und S. XXIII; Hong, Cold War (wie Anm. 3), S. 3f. 20 Dinkel, Bewegung (wie Anm. 16), S. 99f. 21 Hall, Stuart: Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht. In: Rassismus und kulturelle Identität – Ausgewählte Schriften 2. Hamburg 1994. S. 137–179, hier S. 137f.

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land? Und reicht die Periode von 40 Jahren aus, um einen solchen Unterschied herauszubilden?

Schulbuchsozialisation: Ost- bzw. Westschulbuchwissen als eine Einführung in die jeweilige politische Kultur? Bildungsteilnehmerinnen und -teilnehmer in der DDR und der BRD erlebten eine Schulbuchsozialisation, an der sich klar eine Ost- respektive Westsozialisation ablesen lässt. Die Bilder gesellschaftlicher Pluralität in den verfügbaren Schulmaterialien vermittelten die Beziehung ihres jeweiligen Staates zu kolonisierten Gesellschaften und prägten ihre Vorstellungen von Menschen afrikanischer Herkunft.22 Das in ihren Schulbüchern enthaltenen Gesellschaftswissen, die Bilder über die Vergangenheit und die Gegenwart ihrer jeweiligen Nation enthielten zudem Aussagen und Vorstellungen über die Geschlechterordnung, über Geschlechterdifferenz und über Konzepte und Ideen, wie die Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu gestalten seien. Ihre Schulbücher leisteten einen nicht unerheblichen Beitrag zu ihrem Verständnis gesellschaftlicher Pluralität und Ungleichheit. Schulbücher, insbesondere Geschichtsschulbücher, werden infolgedessen in Anlehnung an Schiffauer als eine wesentliche Einführung in die politische Kultur des jeweiligen Staates verstanden.23 Diese spezifischen Wissensbestände haben Auswirkung auf die Sozialisation von Lernenden.24 Es verbindet sich darüber gewissermaßen Wissen über die Geschichte des politischen Systems mit solchem über Lebensgeschichten seiner Mitglieder.25 Nationale Ideologien stehen in einem Wechselverhältnis mit der Herstellung sozial konstruierter Differenzen, deren Sichtbarmachung und deren möglicher Veränderung. Sie formen daher zu einem wesentlichen Teil die jeweiligen Gesellschaftsbilder von Schulbuchwelten. Sie konstituieren zugleich die Selbst- und Weltbilder der in deren Institutionen eingebundenen, migrationserfahrenen Bildungsteilnehmerinnen und -teilnehmern.26 Schulbücher stellen insofern eine 22 Schuch, Mosambik (wie Anm. 8), S. 226f ; Höhne, Thomas [u.a.]: Bilder von Fremden. Was unsere Kinder aus Schulbüchern über Migranten lernen sollen. Frankfurt am Main 2005. S. 18. 23 Vgl. Schiffauer, Werner [u.a.] (Hrsg.): Staat, Schule, Ethnizität. Politische Sozialisation von Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern. Münster 2002. S. 3. 24 Vgl. Auma, Maureen Maisha [u.a.] (Hrsg.): Diversität und Diskriminierungskritik in der Schulbuchsozialisation. Opladen. In Vorbereitung; Stein, Schulbuchwissen (wie Anm. 4), S. 11f. 25 Schiffauer, Staat (wie Anm. 23), S. 4; 6; 8; 10. 26 Vgl. Grünheid, Irina u. Paul Mecheril: Symbolische In- und Exklusionsphänomene im Schulbuch. Weihnachten, Europa und ‚die Anderen‘. In: Studien zu Differenz, Bildung und

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bedeutende Sozialisationsinstanz dar. Sie sind ein Vehikel für Gesellschaftsbilder samt den darin enthaltenen sozialen Normen. Sie sind eine wichtige Referenz für soziale Informationen, für Wissen über politische Zusammenhänge einschließlich Ungleichheitsverhältnisse. Dieses in Schulbüchern implizit vorhandene, national spezifische Differenzwissen gilt es hier zu untersuchen. Die spezifischen Repräsentationsmuster von Migration und Diversität in Ost- und Westdeutschland erlauben Rückschlüsse auf den jeweiligen konsensorientierten Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt. Diese Abbildungsmuster und Wissensformen haben auch Auswirkung darauf, wie rassistisch markierte Gruppen wahrgenommen und pädagogisch-politisch behandelt werden.27 Der wissenshistorische Zugang soll unterschiedliche Wege des Aufgreifens von Migration und Diversität sowie ihre Effekte sichtbar machen. Ausgehend von einem diversitätstheoretischen Erkenntnisinteresse wird empirisch untersucht, inwieweit sich eine sozialistische Vielfaltspolitik28 und Vielfaltswissen von marktwirtschaftlicher Vielfaltspolitik und einem entsprechenden Vielfaltswissen unterschied. Das gesellschaftliche Feld dieser empirischen Auseinandersetzung ist die Thematisierung migrationsbedingter Diversität in den jeweils spezifischen Bildungsartefakten, hier vor allem in den gleichstellungsorientierten Aspekten. Die gegenwärtige Reflexion der in ost- und westdeutschen Schulbüchern vermittelten Differenzordnungen zeigt eine Machtasymmetrie zwischen den beiden Versionen Deutschlands. Ideologiekritische Untersuchungen fokussieren sich in erster Linie auf die übermäßige Einflussnahme der DDR auf die Konstruktion von Schulbuchinhalten. Diese Einflussnahme wird als Indoktrinationsversuch aufgefasst.29 Eine kritische Haltung zu Instrumentalisierungsversuchen ist nachvollziehbar und auch sehr sinnvoll. Es ist aus meiner Sicht jedoch wichtig, neue Einseitigkeiten nicht nur dadurch zu produzieren, dass lediglich das als besiegt geltende System in Kritik gerät. Diese asymmetrische Kritik der deutsch-deutschen Verhältnisse manifestiert sich auf mehreren Ebenen. In den Schulbuchwelten von Geschichtsbüchern wird die DDR in der

Kultur. (Re-)Konstruktive Inklusionsforschung. Differenzlinien, Handlungsfelder, Empirische Zugänge. Hrsg. von Jürgen Budde [u.a.]. Opladen 2017. S. 287–305, hier S. 287f. 27 Grünheid, In- und Exklusionsphänomene (wie Anm. 26), S. 288. 28 Unter anderem Gleichstellungs-, Migrations- sowie Geschlechterpolitik, nternationale Solidarität, Umgang mit sozial konstruierten Differenzen, Ungleichheitsverhältnissen, und den Folgen des deutschen Kolonialismus. 29 Vgl. Werner, Karen: Rezension zu: Stürmer, Verena: Kindheitskonzepte in den Fibeln der SBZ/DDR 1945–1990. https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22333 (07.01.2018).

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Regel von ihrer Auflösung her rückwärts gedeutet.30 Simone Lässig konstatiert, dass Sozialismus dadurch stets als eine zum Scheitern verurteilte Sackgasse erscheint.31 Diese Bewertung von ihrem Scheitern her ist maßgebend für eine eher einseitige Skepsis gegenüber den Motiven der DDR. Es macht Sinn, die Instrumentalisierung von Schulbüchern als Werbung für sozialistische Ideale und Utopien zu thematisieren. Es gehört zu einem diversitätsorientierten Zugriff, alle beteiligten Seiten auf die Möglichkeiten und Grenzen der gesellschaftlichen Verfahren, Routinen und ihren Effekten hin machtkritisch zu untersuchen. Die Mechanismen der Hegemoniesicherung in der BRD sind aus meiner Sicht ebenso kritikwürdig. Die Spuren von Hegemoniesicherung weisen auf von ideologischen Machtinteressen keineswegs freie Produktionsbedingungen in Westdeutschland. Eine einseitige Zuschreibung ideologischer Machtinteressen erscheint mir nicht schlüssig. Es bestanden sowohl in der Zweiten als auch in der Ersten Welt ideologisch aufgeladene, hegemoniale Überlegenheitsinteressen. Der Sputnikschock von 1957 ist ein prägnantes Beispiel. Er löste eine bildungsbezogene Debatte und Politik aus. Diese hatten umfangreiche Bildungsreformen und Bildungsexpansionen in der Ersten Welt zur Folge. Schulbuchbilder polarisieren die beiden Systeme, indem die Konsumgesellschaft des Westens anhand von Bildquellen als leuchtendes, überlegenes Beispiel etabliert wird. Die für die DDR häufig verwendeten Bildquellen rufen hingegen Assoziationen eines grauen Alltags voller freudloser Zumutungen auf. Bei der Visualisierung der DDR dominieren Bilder von grauen Plattenbauten und langen Menschenschlangen vor Lebensmittelläden.32 Der Rahmen der Historisierung Westdeutschlands ist insgesamt eine Fortschritts- und Erfolgserzählung. Die Historisierung der DDR trägt hingegen die Konnotation einer Misserfolgsgeschichte.33 Ideologiekritische Betrachtungen müssen beide deutschen Staaten in den Fokus bekommen. Die teils noch sehr polarisierenden Charakterisierungen der BRD als Verfechterin von Meinungsvielfalt, Freiheitsrechten und Wohlstand auf der einen und der DDR als gekennzeichnet durch sozialistische Bevormundung, Meinungsmonopole, Willkür und Mangelwirtschaft auf der anderen Seite greifen zu kurz.34 Es ist aus meiner Sicht 30 Lässig, Simone: Repräsentationen des „Gegenwärtigen“ im deutschen Schulbuch. http:// www.bpb.de/apuz/59797/repraesentationen-des-gegenwaertigen-im-deutschen-schulbuch? p=all (07.01.2018). 31 Lässig, Repräsentationen (wie Anm. 30). 32 Lässig, Repräsentationen (wie Anm. 30). 33 Lässig, Repräsentationen (wie Anm. 30). 34 Mannewitz, Tom: 25 Jahre nach der Widervereinigung. Welche Demokratie wollen die Deutschen? http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/199207/25-jahrenach-der-wiedervereinigung-welche-demokratie-wollen-die-deutschen (07.01.2018).

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produktiver, die Widersprüche der DDR-Gesellschaft in den Blick zu nehmen, sprich das Nebeneinander von Globalisierung, verordneter internationaler Solidarität, praktizierter Zensur und das faktische Reiseverbot zu untersuchen. Demgegenüber stehen die Widersprüche der BRD-Gesellschaft, namentlich das Nebeneinander von Globalisierung, die langzeitige Weigerung sich offiziell als Einwanderungsland einzuordnen, die lange Leugnung der eigenen Kolonialgeschichte, die Praxis eines geschlechterhierarchisch segregierten Arbeitsmarktes, das lange Festhalten an der Hausfrauen-Ehe und die anhaltenden Versuche, den Ostblock ökonomisch und politisch zu deskreditieren und zu destabilisieren. Es erscheint mir sinnvoll, beide deutschen Staaten als unterschiedlich konturierte, aber dennoch zusammenhängende Möglichkeitsräume zu konzipieren, anstatt beide Gesellschaftsmodelle hierarchisch aufeinander zu beziehen.

Diskriminierungskritische Schulbuchforschung: Das Recht auf eine faire Repräsentation „Schulbücher sollen eigentlich nicht diskriminieren, sondern Gleichstellung fördern“.35 Zwei neuere Studien sind zentral für das Paradigma der diskriminierungskritischen Schulbuchforschung: Im April 2012 wurde die von der GEW in Auftrag gegebene Studie Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans* und Inter* von der Max-Träger-Stiftung publiziert.36 Melanie Bittner untersucht in dieser Studie, welche Geschlechterkonstruktionen in aktuellen Schulbüchern zu finden sind und wie Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Inter* dargestellt werden. Bittner findet heraus, dass es in aktuellen Schulbüchern durchaus Versuche gibt, Geschlechterstereotype zu durchbrechen. Gleichzeitig aber werden noch immer traditionelle Vorstellungen davon propagiert, welche Hobbys Mädchen oder Jungen bevorzugen. Eine gerechte Verteilung der Reproduktionsarbeit wird nicht hinreichend thematisiert. Die Zuständigkeit für die Aufteilung von Hausarbeit ist noch immer weitgehend weiblich kodiert. Die fehlende Repräsentation von LSBTI*35 Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hrsg.): Broschüre Praxis GO! Geschlecht und sexuelle Vielfalt: Praxishilfen für den Umgang mit Schulbüchern. Frankfurt am Main 2013. S. 15. 36 Bittner, Melanie: Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans* und Inter*: Eine gleichstellungsorientierte Analyse von Melanie Bittner. https://www.gew.de/ausschuesse-arbeitsgruppen/weitere-gruppen/ag-schwule-lesben-transinter/ratgeber-praxishilfe-und-studie/gleichstellungsorientierte-schulbuchanalyse/ (07.01.2018).

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Akteurinnen und Akteuren muss problematisiert werden. Homosexualität werde in einigen Biologiebüchern thematisiert, hier bestehe aber nach wie vor Raum für Verbesserungen. In der Welt der untersuchten Englischbücher existieren Lesben, Schwule oder Regenbogenfamilien gar nicht. Zudem wird nur ein kleiner Teil gesellschaftlicher Zugehörigkeitsverhältnisse und Lebensweisen thematisiert. Nur Verheiratete oder Singles werden dargestellt, Geschiedene oder Patchwork-Familien kommen kaum vor. Von Fach zu Fach wird Pluralität unterschiedlich stark aufgegriffen. Die tatsächlich existierende Vielfalt von Menschen und Lebensformen wird in Schulbüchern heute noch nicht hinreichend, d.h. systematisch widergespiegelt.37 Im März 2015 erschien die vom Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration in Auftrag gegebene Schulbuchstudie Migration und Integration.38 Die Studie hat zum Gegenstand, ob und wie Schulbücher Integration, Migration und die damit einhergehende gesellschaftliche Vielfalt widerspiegeln. Die forschungsleitende Frage lautet: Wer wird in Schulbüchern als Teil unserer Gesellschaft dargestellt und wer nicht? Ein Ergebnis der Studie ist, dass die „Problematisierung von Migration gegenüber der Darstellung von Diversität als Normalfall überwiegt.“ Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Migrationsthemen überwiegend „konfliktträchtig und krisenhaft“ thematisiert werden. Die Auftraggebenden der Studie sprechen demzufolge „Empfehlungen für die Bildungspraxis und -politik aus, wie eine zeitgemäße Darstellung von Vielfalt in Schulbüchern gelingen kann.“39 Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen die Notwendigkeit, diversitätssensible Schulbücher zu produzieren, die (migrationsbedingte) Vielfalt widerspiegeln und deren Chancen für die Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen.40 Diskriminierungskritische Schulbuchforschung zielt darauf ab, eine Thematisierung von Ungleichheitsverhältnissen und Diskriminierungsstrukturen voranzutreiben und eine faire Repräsentation von gesellschaftlichen Gruppen in Schulbuchwelten zu untersuchen und anschließend zu realisieren. Es soll daher vor allem nachvollzogen werden, welche Mitglieder von sozialen Gruppen als Handelnde relativ häufig dargestellt werden und welche sehr stark unterreprä37 Bittner, Geschlechterkonstruktionen (wie Anm. 36), S. 6f. 38 Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hrsg.): Schulbuchstudie Migration und Integration. https://www.bundesregierung.de/Content/Infomaterial/BPA/IB/ Schulbuchstudie_Migration_und_Integration_09_03_2015.pdf;jsessionid=06996FC7548ADE6D4B51C03FEA8D4381.s3t2?__blob=publicationFile&v=7 (07.01.2018). 39 Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hrsg.): Presseinformation: Schulbuchstudie „Migration und Integration“. https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/schulbuchstudie-migration-und-integration/ (07.01.2018). 40 Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Presseinformationen (wie Anm. 39).

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sentiert sind bzw. bleiben. Diskriminierungskritische Schulbuchforschung untersucht Diskriminierungsrisiken, d.h. ob spezifische Gruppenzugehörigkeiten wie z.B. muslimisch sozialisierte Personen oder jene mit Fluchterfahrung mit einer starken negativen Hervorhebung korrelieren. Und schließlich weist die angesprochene Schulbuchforschung eine Gleichstellungsorientierung auf. Sie prüft daher die Erfüllung des staatlichen Auftrags zur Gleichbehandlung.41 Die historische Analyse ist für die aktuelle Diskussion relevant, weil sie aufzeigen kann, welche vielfältigen Repräsentationsformen von Ungleichheitsverhältnissen möglich sind.

Bildungsmaterialien als kulturelle Artefakte Eine Sicht auf Bildungsmaterialien als kulturelle Artefakte ist bedeutend für diesen Forschungszugang.42 Didaktische Materialien sind Lernartefakte, mittels derer nicht nur Fachwissen, sondern immer zugleich auch gesellschaftliche Selbstbilder vermittelt werden. Bildungsmedien sind vielschichtige, kulturhistorisch machtdurchzogene Vermittler der sozialen Welt und der politischen Kultur einschließlich der herrschenden gesellschaftlichen Normen. Schulbücher sind insofern Wissensarchive und Bedeutungsträger der politischen Kultur.43 Sie enthalten konsentierte Narrative und Repräsentationen idealer, teils utopischer Gesellschaftsentwürfe. Um die vielschichtigen Ebenen von diversitätsgeprägtem Wissen in Bildungsmaterialien zu erfassen, sind folgende Fragen zentral: Wie wird in den Wirklichkeitskonstruktionen von Bildungsmaterialien das Wir imaginiert und diskursiv vermittelt? Wie verhält sich dieses Wir zu der zunehmenden Pluralisierung der Gesellschaft? Inwiefern handelt es sich um ein inklusives Wir? Wie nimmt die Wir-Konstruktion Bezug auf Heterogenität? Wie bezieht sich die Wir-Konstruktion auf das Gewebe sozial konstruierter Differenzen? Sind Polarisierungen und Dramatisierungen Bestandteil der Wir-Konstruktion? Ergeben sich aufgrund kulturalisierender Zuschreibungen homogenisierende Norm-Positionen und deren Abweichungen? Ich frage hier nach der Machtwirkung von Alltagskonstruktionen als Teil von Differenzdiskursen.44 Diese wirken 41 Bittner, Geschlechterkonstruktionen (wie Anm. 36), S. 17f. 42 Reh, Sabine u. Joachim Scholz: Schülerzeitungen als Artefakte. Schulkulturen in den 1950er und 1960er Jahren. In: Die Materialität der Erziehung. Kulturelle und soziale Aspekte pädagogischer Objekte. Hrsg. von Karin Priem [u.a.]. Weinheim 2012 (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 58). S. 105–123, hier S. 106f. 43 Schiffauer, Staat (wie Anm. 23), S. 3f. 44 Eggers, Maureen Maisha: Anerkennung und Illegitimierung. Diversität als marktförmige Regulierung von Differenzmarkierungen. In: Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Bei-

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mit Bezug auf gesellschaftliche Hierarchien sozial platzierend. Es ist aus meiner Sicht wichtig, die Doppelgesichtigkeit, sprich die ambivalente Funktion von Bildungsmaterialien in den Fokus zu nehmen. Einerseits fungieren besagte Materialien als Teil einer demokratischen Sozialisierung. Zudem bergen sie die Möglichkeit, die eigene Position in den sozialen Strukturen lernend nachzuvollziehen. Sie bilden eine bedeutende Lernfolie für die Suche nach Möglichkeiten für eigenes gesellschaftliches Engagement. Andererseits aber wirken Bildungsmaterialien als gewaltförmig subjektivierende Instanzen.45 Das in ihnen enthaltene Differenzwissen trägt zur Konservierung sozialer Hierarchien bei. Sie fungieren zudem in Mittlerfunktion auch als Legitimation kultureller Hegemonien und des Gesellschaftswissens der herrschenden Klassen.

Koloniales Ordnen in ost- und westdeutschen Bildungsmaterialien; Zwei Darstellungstraditionen? Das Beziehungsgefüge zwischen der Dritten, der Zweiten und der Ersten Welt ist kulturhistorisch und globalpolitisch nachhaltig von der vergesellschaftenden Wirkung der Kolonialordnung geprägt.46 Im Überschneidungsfeld der Globalstrategien marktwirtschaftlicher im Westen bzw. sozialistischer Gesellschaftssysteme im Osten durch Kolonialordnungen entstanden spezifische Diskurse und kolonialgeprägtes Wissen. Die jeweilige Politik und die daraus hervorgehenden Thematisierungen und Darstellungsweisen kolonisierter Menschen fanden auch in Schulbuchwelten Eingang. Die Spuren kolonialordnender Beziehungsgeflechte und globaler Hegemonien sind in der Gegenwart von Bildungsmaterialien lesbar – weit nach dem formalen Ende dieser asymmetrischen, weltpolitischen Anordnung.47 Die Vermittlung und Normalisierung kulturellhegemonialer Gesellschaftsbilder basiert auf Ungleichheitsordnungen. In diesem Beitrag werden hauptsächlich zwei Dominanzverhältnisse, also zwei Wege der Produktionen von Differenzwissen näher betrachtet. Geschlechterhierarchien und rassistisch geprägte Hierarchien werden als intersektional miteinander verzahnte Ungleichheitsordnungen untersucht. Die hierarchische Geschlechterordnung steht zunächst im Fokus, da dieses Diskriminierungsverhältnis inzwischen auf einer etablierten Gesellschaftskritik und einer breiten ge-

träge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft. Hrsg. von Anne Broden u. Paul Mecheril. Bielefeld 2010. S. 59–86, hier S. 60. 45 Grünheid, In- und Exklusionsphänomene (wie Anm. 26), S. 299f. 46 Mignolo, Modernity (wie Anm. 18), S. XXIII. 47 Schuch, Mosambik (wie Anm. 8), S. 226f.

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sellschaftlichen Anerkennung basiert.48 Die Einführung des Gender Mainstreamings und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, kurz AGG, sowie gleichstellungspolitischer Maßnahmen mit dem Ziel Geschlechterhierarchien zu transformieren sind sowohl diskursiv als auch in den sozialen Strukturen Deutschlands verankert. Dennoch sind Spuren des geschlechtlichen Ordnens, d.h. hierarchischer Geschlechterdifferenzen in Schulbüchern erkennbar.49 In seiner Studie Impliziter Rassismus und kulturelle Hegemonie im Schulbuch? Rassismuskritische Analyse und objektivhermeneutische Rekonstruktion orientiert sich Florian Grawan am gesellschaftlichen Umgang mit einer verpönten Differenzproduktion.50 Rassismus ist aus dieser Perspektive zwar sozial unerwünscht, aufgrund der kolonialgeprägten Ordnung dennoch fester Bestandteil der gesellschaftlichen Struktur Deutschlands und somit implizit in kulturelle Artefakten des Alltags – einschließlich Bildungsmaterialien – als Differenzwissen eingewoben. Dieser Umstand führe dazu, so Grawan, dass rassistische Diskurse und Konstruktionen als implizites Wissen in Schulbücher eingegangen seien.51 Rassismus als gesellschaftliches Diskriminierungsverhältnis weist zwar ebenfalls einen formellen Bezug zum AGG auf, im Vergleich zu Sexismus als Diskriminierungsverhältnis fehlen jedoch bislang systematische Gleichstellungspolitiken wie das Gender Mainstreaming, die darauf abzielen, eine nachholende Gerechtigkeit herzustellen bzw. Gleichstellung Schritt für Schritt zu realisieren. Mit diesen beiden Diskriminierungsverhältnissen im Blick gilt es nachzuvollziehen, wie Differenzwissen in der DDR und in der BRD vermittelt wurde. Es geht darum zu untersuchen, wie Sprachbilder und Blickverhältnisse von Bildungsmedien gesellschaftliche Differenzen verschärften. Anders gefragt: Wurden Geschlechter- sowie kulturalisierende Stereotype ungebrochen reproduziert? Wurden Ungleichheitsverhältnisse wie Rassismus und Sexismus benannt und/oder problematisiert? Wurden Techniken der Differenzproduktion wie die Verwendung fixierender Bilder, drastischer Zeichnungen, Dramatisierungen, polarisierender Deutungsrahmen oder Kontrastierungen eingesetzt?

48 Bittner, Geschlechterkonstruktionen (wie Anm. 36), S. 17. 49 Bittner, Geschlechterkonstruktionen (wie Anm. 36), S. 75f. 50 Grawan, Florian: Impliziter Rassismus und kulturelle Hegemonie im Schulbuch? Rassismuskritische Analyse und objekthermeneutische Rekonstruktion. https://repository.gei.de/bitstream/handle/11428/137/782613454_2016_A.pdf?sequence=2&isAllowed=y (07.01.2018). S. 3. 51 Grawan, Rassismus (wie Anm. 50), S. 59f.

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Koloniales Ordnen in der sozialistischen Repräsentationspolitik Die Analyse sozialistisch geprägter Repräsentationsmuster in Bildungsmaterialien ergibt einen ambivalenten Umgang mit sozial konstruierten Differenzen. Einerseits werden gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse durchaus thematisiert und auch problematisiert. Das bezieht sich vor allem auf imperialistische oder kapitalistische Verhältnisse, auf ungleiche Vermögensverteilung und auf die Ausbeutung der Arbeitskraft von Menschen, die wenig oder kein Kapital besitzen.52 Es findet eine explizite Thematisierung von globalgeprägten Ungleichheiten in der Form von Kritik an imperialistischer Weltpolitik statt. In einer Lesefibel von 1988 wird die Lebenswelt eines rassistisch markierten elfjährigen Kindes namens Pepe aufgerufen, das als Lohnarbeiter Orangen pflückt: In Pepes Heimat ist es warm und sonnig. (…) Auf riesigen Feldern müssen Männer und Frauen und sogar Kinder von früh bis spät schwer arbeiten. Auch Pepes Eltern, seine Geschwister und er gehören dazu. Aber was sie ernten, gehört ihnen nicht. Einige reiche Leute besitzen die Felder. Sie verkaufen die Früchte an andere Länder. Das Geld dafür behalten sie fast alles für sich. Die Arbeiter und ihre Familien bekommen nur wenig Lohn. Er reicht nicht einmal für so viel Brot, daß alle satt werden können. Deshalb hat Pepe oft Hunger. (…) Die Kinder der Arbeiter können oft nicht in die Schule gehen. Wie gerne würden Pepe und seine Freunde so viel lernen wie die Kinder bei uns!53

Beispiele für die Thematisierung von kapitalistischer Ausbeutung sind auch in einem Geschichtsbuch der fünften Klasse zu finden. Hier wird insbesondere die Möglichkeit des Widerstands der Unterdrückten durch Auflehnung betont. Klassen und Klassenkämpfe werden explizit durch Schulbuchwissen vermittelt.54 Auf der anderen Seite wird die Kritik lediglich auf Lebenswelten außerhalb des sozialistischen Gesellschaftssystems gerichtet. Eine Idealisierung der sozialistischen Gesellschaft, die Utopie eines friedlichen, harmonischen Lebens, ist die Norm. Anlässe zum Feiern des eigenen Gesellschaftsmodells werden beständig hervorgehoben, darunter Feiern zum Frauentag am 8. März oder zum Tag der NVA am 1. März. Auch von Friedensfahrten wird zahlreich in den Lesefibeln berichtet.55 Ein NVA Soldat besucht eine Schulklasse am 1. März und erzählt von seiner Arbeit. Ein Lied über die Volksarmee mit Kindern in der Rolle 52 Vgl. Stürmer, Verena: Kindheitskonzepte in den Fibeln der SBZ/DDR 1945–1990. Bad Heilbrunn 2014. S. 94f; Knopke, Lars: Schulbücher als Herrschaftssicherungsinstrumente der SED. Wiesbaden 2011. S. 231. 53 Auszug aus ‚Unsere Fibel‘ von 1988: Vgl. Stürmer, Kindheitskonzepte (wie Anm. 52), S. 94. 54 Knopke, Schulbücher (wie Anm. 52), S.231. 55 Stürmer, Kindheitskonzepte (wie Anm. 52), S. 98f.

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der NVA-Soldaten wird auf einer Doppelseite abgebildet. Die aktive Beteiligung der Kinder und ihrer Familien an der politischen Gestaltung der Gesellschaft wird hervorgehoben, ebenso Solidarität als bedeutsamer Wert sozialistischer Gesellschaften. In diesen Konstruktionen werden Kinder als moderne sozialistische Persönlichkeiten sowie als gesellschaftskritische und politisch interessierte Personen angesprochen. Die Gesellschaftskritik bezieht sich jedoch implizit auf alles außerhalb des sozialistischen Systems. Das eigene System wird als gerecht, wenn auch eher utopisch charakterisiert. Geschlechterhierarchien werden zwar kritisiert anhand einer Orientierung an Leitbildern der modernen sozialistischen Frau bzw. des modernen sozialistischen Mannes,56 gleichzeitig werden aber hierarchische Geschlechterordnungen gezeigt. Familiennahe Aufgaben werden meist geschlechterstereotypisch zugeordnet. Die Zuständigkeit für Familien- und Erziehungsarbeit wird weiblichen Personen, kodiert als Mutter beziehungsweise Großmutter, zugeschrieben. Dennoch sind beide Elternteile als Erwerbstätige in Lesefibeln der DDR sichtbar.57 Teilweise ist sogar die mütterliche Erwerbstätigkeit häufiger thematisiert als die des Vaters. Eltern sind selbstverständlicher Teil der politischen Aktivitäten ihrer Kinder, wie beispielsweise beim Pioniergelöbnis, der Friedensfahrt und so weiter. Kinder agieren in geschlechtsheterogenen Gruppen. Geschlechterdifferenz wird somit entdramatisiert. Dennoch sind stereotype, als geschlechtsspezifisch kodierte Aktivitäten abgebildet: Mädchen spielen eher mit Puppen, während Jungen eher mit dem Baukasten oder Drachen spielend oder Maikäfer fangend abgebildet werden. Mädchen werden häufiger als freundlich, hilfsbereit und ängstlich charakterisiert, während Jungen als wissbegierig, abenteuerlustig und sportlich gezeichnet werden.58 Weiterhin ist an der sozialistischen Repräsentationspolitik zu problematisieren, was Lars Knopke als die Instrumentalisierungsrealität dieser Bildungsmaterialien bezeichnet.59 „Das Instrument, mit dem herrschaftssichernde Inhalte innerhalb der Mathematikschulbücher transportiert werden, sind Rechenauf-

56 Dölling, Irene: Frauen- und Männerbilder: Eine Analyse von Fotos in DDR-Zeitschriften. In: Zwischenzeiten: Frauenforschung in der DDR. Hrsg. von Regine Othmer-Vetter. Weinheim 1990 (Feministische Studien 8). S. 35–49, hier S. 36f; Nickel, Hildegard Maria: Geschlechtertrennung durch Arbeitsteilung: Berufs- und Familienarbeit in der DDR. In: Zwischenzeiten: Frauenforschung in der DDR. Hrsg. von Regine Othmer-Vetter. Weinheim 1990 (Feministische Studien 8). S. 10–19, hier S. 18; Gysi, Jutta u. Dagmar Meyer: Leitbild: Berufstätige Mutter – DDR-Frauen in Familie, Partnerschaft und Ehe. In: Frauen in Deutschland 1945–1992. Hrsg. von Gisela Helwig u. Hildegard-Maria Nickel. Bonn 1993. S. 139–65, hier S. 139f. 57 Stürmer, Kindheitskonzepte (wie Anm. 52), S. 94. 58 Stürmer, Kindheitskonzepte (wie Anm. 52), S. 172f. 59 Knopke, Schulbücher (wie Anm. 52), S. 265.

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gaben. Pioniere und später FDJ-Mitglieder sind regelmäßig deren Gegenstand, ebenso wie Soldaten oder Waffen.“60 Knopke kritisiert hier die Praxis, Aufgabenstellungen in DDR-Schulbüchern mit Werbung entsprechenden Informationen über die SED und die Parteizugehörigkeit zu verknüpfen. In einem Mathematikschulbuch der vierten Klasse werden die Schülerinnen und Schüler dazu aufgefordert, etwas über einen Parteitag der SED vorzulesen.61 Die Präsenz der SED sowie die positive Thematisierung der Partei und/oder Parteizugehörigkeit ist auch in Schulbüchern der Muttersprache der vierten Klasse zu finden.62 Zudem werden Feindbilder im Sinne des Kalten Krieges in Schulbuchtexten gezeichnet: In der Einführung in das Fach in Klasse sechs betonen die Schulbuchautoren, dass die Erkenntnisse der Physik in sozialistischen Staaten zum Nutzen der Menschen angewandt würden, während dem Kapitalismus der verbrecherische Umgang mit diesen Erkenntnissen unterstellt wird. Als Beispiel führen die Autoren die Kernenergie an, deren Missbrauch sie in der nuklearen Aufrüstung des Imperialismus sehen, kontrastiert zur friedlichen Nutzung im Sozialismus und insbesondere in der DDR.63

Die Aufgabenstellungen und Schulbuchtexte weisen darüber hinaus eine ausgesprochene Militarisierung auf.64 Das steht im krassen Gegensatz zu der expliziten Friedenserziehung als sozialistische Grundorientierung. Problematisch ist auch die Betonung einer sozialistischen Führungsrolle, sogar ihre Universalisierung als richtige, logische, wünschenswerte und auch globalpolitisch sinnvolle Lösung für alle Gesellschaften. Diese normative Setzung eröffnet eine Hierarchisierung von Gesellschaftssystemen und weist implizit auf eine fehlende Wertschätzung von Pluralität hin.

Koloniales Ordnen in der freien marktwirtschaftlichen Repräsentationspolitik Repräsentationspolitiken in Bildungsmaterialien, die von dem freien marktwirtschaftlichen Selbstbild geprägt sind, normalisieren auf Basis ihres politischen Selbstverständnisses kulturell-hegemoniale Gesellschaftsbilder. Im Nachkriegswestdeutschland sind vor allem die Normalisierung von Geschlechterhierarchien, Bürgerlichkeit und kulturalisierenden Darstellungspraktiken in Kritik ge60 Knopke, Schulbücher (wie Anm. 52), S. 231. 61 Knopke, Schulbücher (wie Anm. 52), S. 87. 62 Knopke, Schulbücher (wie Anm. 52), S. 87. 63 Knopke, Schulbücher (wie Anm. 52), S. 206. 64 Knopke, Schulbücher (wie Anm. 52), S. 216.

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raten.65 Ein recht umfangreicher Teil dieser Problematisierungen bezieht sich auf westdeutsche Lesefibeln sowie Erstlesebücher und die darin reproduzierten Stereotypen und Hierarchien.66 Besonders interessant für die Diversitätsforschung sind die gleichstellungsorientierten, diskriminierungssensiblen Untersuchungen, die aus der Perspektive einer emanzipatorischen Sexualpädagogik Kritik an der Propagierung einer asexuellen, geschlechterstereotypen sozialen Welt in westdeutschen Bildungsmaterialien formulieren.67

Exemplarische Untersuchung zweier Schulbücher Eine vergleichende Untersuchung von zwei Geschichtsschulbüchern aus der BRD von 1950 und der DDR von 1957 verdeutlicht die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den spezifischen Repräsentationsmustern der 1950er Jahre beider

65 Vgl. folgende Studien: Krüger, Udo Michael: Das Fremdbild des Mädchens und der Frau in Schullesebüchern der BRD. In: Informationen für die Frau 3 (1971). S. 11–17; Sollwedel, Inge: Patriarchat oder kritische Frauenbilder. Zum Leitbild westdeutscher Lesebücher. In: Bankrott der Männerherrschaft. Materialien zu Problemen der Frauenemanzipation. Hrsg. von Otto Gmelin u. Helene Saussure. Frankfurt am Main 1971. S. 92–134; Rauch, Renate: Bollwerk des Patriarchats. Klischees in Schulbüchern. In: Betrifft: Erziehung 10 (1977). S. 70–74; Glötzner, Johannes: Heidi häkelt Quadrate, Thomas erklärt die Multiplikation. Rollenklischees in neuen Mathematikbüchern. In: Sexismus in der Schule. Der heimliche Lehrplan der Frauendiskriminierung. Hrsg. von Ilse Brehmer. Weinheim, Basel 1982. S. 154–158; Zumbühl, Ursula: Learning English and Sexism. In: Sexismus in der Schule. Der heimliche Lehrplan der Frauendiskriminierung. Hrsg. von Ilse Brehmer. Weinheim, Basel 1982. S. 94–102; Enders-Dragässer, Uta: Männliche Selbstbestätigung und bürgerliche Normalität im deutschen Schulbuch. Heilmittel gegen die multikulturelle Gesellschaft? In: Informationsdienst zur Ausländerbeirat 3 (1986). S. 81–85; Langner, Ingo: Frauen: Randfiguren des Lebens. Untersuchung zur Darstellung von Mädchen und Frauen in Mathematikbüchern. In: Pädagogik heute 3 (1987). S. 20–22. 66 Vgl. Ott, Christine: Sprachlich vermittelte Geschlechterkonzepte. Eine diskurslinguistische Untersuchung von Schulbüchern der Wilhelminischen Kaiserzeit bis zur Gegenwart. Berlin, Boston 2017. 67 Vgl. folgende Studien: Richter, Annegret: Die asexuelle Welt der Lesebücher. In: Sexualpädagogik 4 (1972) 2. S. 69–76; Henke, Jürgen: Aspekte des heimlichen Lehrplans in Schulbüchern. Eine deskriptive Gruppenanalyse von Sachbüchern der Grundschule unter dem Geschichtspunkt soziosexuellen Lernens. Frankfurt am Main 1980; Schaeffer-Hegel, Barbara: Der lange Marsch der Samenzellen. Sexismus in schulischer Aufklärungsliteratur. In: Ästhetik und Kommunikation 47 (1982). S. 95–107; Schliep, Angelika: Bio-Bücher – allgemein: halb so viele Frauen wie Männer, dafür im Kapitel Sexualerziehung auch mal doppelt so viele … In: Frauen + Schule – Zeitschrift für Mädchen- und Frauenbildung 7 (1985). S. 15–17.

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deutscher Staaten.68 In dem BRD-Geschichtsbuch Wege der Völker69 von 1950 wird ein dominanzkulturelles Repräsentationsmuster sichtbar, nach welchem die Geschichte vor allem als ein männlicher, bürgerlicher sowie heteronormativer Handlungsraum konzipiert wird. Diese soziale Gruppe wird in den Diskursen und den Blickverhältnissen des BRD-Geschichtsbuchs70 mit ihrem Lebens-, Handlungs- und Arbeitsmodell überrepräsentiert und sogar in weiten Teilen idealisiert. Große historische Ereignisse werden mittels männlicher, vorwiegend bürgerlicher Biographien personifiziert und als die Entscheidungen von Männern dargestellt, die allesamt als kluge politische Strategen oder einfallsreiche Wissenschaftler und Forscher inszeniert und vermittelt werden.71 Die Führungsrolle dieser sozialen Gruppe wird naturalisiert und universell gesetzt. Auf insgesamt 100 Seiten behandelt dieses Schulbuch aus westdeutscher Sicht in chronologischer Abfolge die politisch-historischen Entwicklungen des Zeitraumes 1849–1949 in Deutschland. Dieses aus insgesamt 40 Einzelkapiteln bestehende Schulbuch enthält zehn Kapitel, die in ihrer Überschrift Hinweise auf geschlechtliches Ordnen enthalten.72 Die männlich konnotierten Überschriften tragen folgende Bezeichnungen: Ein neuer Mann, Aus dem Leben eines großen Staatsmannes, Ein Held des Friedens oder Ein Arzt jagt Bazillen. Die weiblich konnotierten Überschriften tragen folgende Bezeichnungen: Eine Frau mahnt zur Nächstenliebe, Mütter auf der Flucht oder Aus den Jugendtagen des Frauen68 Vgl. Hell, Elisabeth [u.a.]: Wieviel Heterogenität steckt in Schulmaterialien? Zur Konstruktion von Geschlechternormen in BRD- und DDR-Geschichtsschulbüchern der 50er Jahre. In: Diversität und Diskriminierungskritik in der Schulbuchsozialisation. Hrsg. von Maureen Maisha Auma [u.a.]. Opladen. In Vorbereitung. Es handelt sich bei diesem Artikel um einen überarbeiteten Projektbericht, entstanden im Projektseminar: „Fehlende, vorhandene, versteckte Diversität in Bildungsmaterialien in Ost- und Westdeutschland“ von Prof. Dr. Maureen Maisha Eggers an der H. Berlin, SoSe 2015. 69 Wege der Völker. Hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft deutscher Geschichtslehrer unter der Leitung von Fritz Wuessing u. Thies Wilken. Bd. 3. Berlin 1950. 70 Ich bin Lars Müller dankbar für die hilfreichen Hinweise auf Kontextmaterialien (Werbeblätter und die kritische Würdigung dieser Reihe durch die Heidelberger Arbeitsgemeinschaft Neue Schule). Die sieben Bände dieser Reihe sollten eigentlich ganz explizit jegliche Einseitigkeit vermeiden. Sie sollten ein neues Heldenideal aufzeigen, eines das nicht in einer Kriegsverherrlichung münden, sondern vielmehr Kultur-, Zivilisations- und Kunstgeschichte gleichwertig mit Politikgeschichte besprechen sollte. Dieses Geschichtsbuch entstammt also einer Reihe, welche Geschichtsschreibung anders praktizieren wollte, nicht als nationalgeprägte, kriegsverherrlichende Geschichtsschreibung. Dennoch sind sozial konstruierte Differenzen und Hierarchien die Norm. 71 Vgl. Bothe, Alina u. Dominik Schuh (Hrsg.): Geschlecht in der Geschichte: Integriert oder separiert? Gender als historische Forschungskategorie. Bielefeld 2014. S. 10f; Hell, Heterogenität (wie Anm. 68). 72 Hell, Heterogenität (wie Anm. 68).

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studiums. Darüber hinaus sind ganze Kapitel männlichen Protagonisten wie Otto von Bismarck, August Bebel oder Cecil Rhodes gewidmet. Es gibt insgesamt 17 Abbildungen in diesem Geschichtsbuch. Darauf sind fünf Frauen und im Vergleich vierundsechzig Männer dargestellt. Die eklatante Unterrepräsentation weiblicher Personen wird hier als fehlende Diversität interpretiert. Auf drei Abbildungen sind rassistisch markierte Akteurinnen und Akteure abgebildet. Die Bildunterschriften verorten die Kontexte dieser Bilder geopolitisch außerhalb der BRD; beispielsweise „Lincoln auf dem Sklavenmarkt“ oder „Robert Koch in Afrika“. Auch hier wird nach einer Logik des geschlechtlichen Ordnens repräsentiert, männliche Akteure werden in starkem Kontrast zu den vornehmen Anzügen der weißen, bürgerlichen, männlichen Protagonisten in einfacher Arbeitskleidung abgebildet. Die weiblichen Personen sind fast nackt in den Abbildungen. Hier werden sowohl rassistische Diskurse als auch kolonialgeprägte Blickverhältnisse gezeigt. Die Biographien von weißen Protagonisten wie Abraham Lincoln werden ausführlich thematisiert. Versklavte Personen und Akteurinnen, wie beispielsweise Ehepartnerinnen, Mütter, Schwestern und Töchter der gleichen Epoche erscheinen hingegen als Nebendarstellerinnen. In der Darstellung des Wirkens des Mediziners Robert Koch werden seine Handlungen, vor allem sein Kampf gegen Krankheiten, pointiert gezeichnet. Seine Ehepartnerin wird lediglich in Abhängigkeit dargestellt. Ihre Tätigkeiten werden als Hilfsarbeiten zu seiner wichtigen Forschung kontextualisiert. Sie füttert die Kaninchen und Mäuse, die er für seine Versuche benötigt. Ihre weitere Tätigkeit besteht darin, die von ihm sezierten Tiere in einem Kachelofen zu verbrennen.73 Weibliche Personen werden nahezu ausschließlich als Sorgearbeiterinnen historisiert. Hier berichtet bspw. eine Frau von der Flucht vor russischen Panzerwagen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Protagonistin erzählt von zahlreichen toten Kindern, ihre eigene vierjährige Tochter erfriert ebenfalls auf der Flucht. Sie hebt dazu in ihrer Erzählung hervor: „Mutterliebe ist sicher die größte Liebe. Aber wie groß alle Liebe sein mag, wir sind doch nur schwache Geschöpfe.“74 Russische Soldaten werden hier zudem sehr negativ – als Feindbild – charakterisiert. Die Beschreibung des Werdegangs der Ärztin Franziska Tiburtius, die in die Schweiz gehen musste, um Medizin studieren zu können, bildet hier eine Ausnahme in der Darstellung. Dennoch wird auch in dieser Erzählung betont, dass die Protagonistin ihre Arbeit als Erzieherin lediglich ausbauen wollte, weil sie die „Berufung zur Ärztin in sich spürte“. Sie wird mehr als Sorgearbeiterin inszeniert, nicht in erster Hinsicht als Akademikerin. Insgesamt wird die west73 Wege der Völker (wie Anm. 69), S. 81. 74 Wege der Völker (wie Anm. 69), S. 81.

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deutsche Geschichtsschreibung als eine Fortschrittgeschichte narrativ strukturiert.75 Besonders eklatant erscheint hier die Thematisierung von Ehrungen. Dargestellt werden diejenigen von Robert Koch, der mit dem Lorbeerkranz des Siegers ausgezeichnet wird, und von Gustav Stresemann, Aristide Briand und Fridtjof Nansen, die den Friedensnobelpreis erhalten. Hier fehlt eine Thematisierung von Heterogenität gänzlich, denn Ehrungen werden ungebrochen stereotyp männlich dargestellt. Es fehlt zudem eine kritische Stellungnahme bzw. ein Kommentar zu Geschlechterhierarchien. Das ist verwunderlich, da bei der Thematisierung des Werdegangs der Ärztin Franziska Tiburtius durchaus kritisch angemerkt wird, dass sie gegen „das Mißtrauen und die Gegnerschaft der Behörden“ ankämpfen musste, und ebenso gegen die Vorbehalte ihrer „männlichen Kollegen und (…) Patienten“.76 Die selbstverständlich männliche Kodierung von Ehrungen wird insofern normalisiert. Diese Kritik an der dominanzkulturellen bzw. geschlechterhierarchischen Normalisierung in Geschichtsschulbüchern der BRD ist seit Jahrzehnten bereits Gegenstand gleichstellungsorientierter Schulbuchforschung.77 Die daraus resultierende gesellschaftliche Produktion weiblicher Geschichtslosigkeit durch westdeutsches Schulbuchwissen wird als ein Zeichen fehlender Diversität interpretiert. Im Vergleich zum BRD-Geschichtsschulbuch Wege der Völker ist die Darstellungsweise des DDR-Geschichtsschulbuches Geschichte und Gegenwartskunde: 1945–195678 vielmehr als eine Repräsentation des Kollektivs aufgebaut. Damit wird Geschichtsschreibung als Wiedergabe der Biographie eines begabten Einzelkämpfers in Teilen aufgebrochen. Diesen Umstand lese ich als eine versteckte Diversität. Auf insgesamt 127 Seiten behandelt das DDR-Schulbuch in chronologischer Abfolge die politisch-historischen Entwicklungen des Zeitraumes 1945–1956 in Deutschland. Das Geschichtsschulbuch besteht aus drei Themenblöcken. Die ersten beiden Blöcke (insgesamt 67 Seiten) befassen sich mit den Themen Die 75 Hell, Heterogenität (wie Anm. 68). 76 Wege der Völker (wie Anm. 69), S. 81. 77 Vgl. folgende Studien: Borries, Bodo von: Männergeschichten für Mädchenhirne? In: Das Schulbuch – zwischen staatlichem Zugriff und gesellschaftlichen Forderungen. Hrsg. von Horst E. Schallenberger u. Gerd Stein. Kastellaun 1978. S. 187–222; Mreschar, Renate: Auch Frauen machen Geschichte. Schulbücher verschweigen weibliches Wirken. In: Erziehung und Wissenschaft 5 (1978). S. 16–17; Borries, Bodo von: Weibliche Geschichtslosigkeit: „Angeboren“ oder „erlernt“? In: Sexismus in der Schule. Der heimliche Lehrplan der Frauendiskriminierung. Hrsg. von Ilse Brehmer. Weinheim/Basel 1982. S. 119–128. 78 Mühlstädt, Herbert (Hrsg.): Geschichte und Gegenwartskunde 1945–1956. Berlin 1957. Dieses Lehrbuch wurde von einem Redaktionskollektiv (Herbert Mühlstädt, Ehrenfried Schenderlein, Gerhard Ziegler und Werber Ziegner) der Abteilung Geschichtsunterricht des VWV Verlags erstellt.

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antiimperialistischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg und Deutschland von 1945 bis 1949. Hier werden vor allem Geschehnisse im Vorfeld der Gründung der DDR vermittelt. Der dritte Block von insgesamt 60 Seiten Die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik und Die Durchführung des 1. Fünfjahrplans vermittelt Geschehnisse nach der Staatsgründung. Dieses Geschichtsschulbuch enthält nur ein Unterkapitel, dessen Überschrift Hinweise auf geschlechtliches Ordnen gibt. Es handelt sich dabei um das Kapitel Aus der Verfassung der DDR. Das entsprechende Unterkapitel trägt die Überschrift Die Gleichberechtigung der Frau. Es sind insgesamt 76 Bilder und Grafiken in diesem Schulbuch vorhanden. Auf den Abbildungen sind 111 weibliche und 459 männliche Personen dargestellt. Hier ist parallel zum BRD-Geschichtsbuch eine Unterrepräsentanz weiblicher Akteurinnen festzustellen und damit ein Hinweis auf fehlender Diversität. Dort wo rassistisch markierte Handelnde abgebildet sind, in insgesamt drei Abbildungen,79 sind diese Personen ausdrücklich als sozialistische Mitstreiterinnen und Mitstreiter gekennzeichnet. Die beiden Bildunterschriften hierzu lauten „Mao Tse-Tung mit chinesischen jungen Pionieren“ und „Delegierte aus kolonialen Ländern ziehen zur Eröffnung der III. Weltfestspiele ins Walter Ulbricht Stadion ein“. Die darauf abgebildeten Personen sind in kontextspezifischer Kleidung inszeniert, diese ist ähnlich wie für die weißen sozialistischen DDR-Bürgerinnen und -Bürger als Arbeiter- bzw. Bauernkleidung dargestellt. Das kann als eine gleichstellungsorientierte Darstellungsweise, also versteckte, implizite Diversität, gelesen werden. Gleichzeitig besteht eine Darstellungsnorm dieses Schulbuches darin, Arbeitende an Maschinen abzubilden, wie Hochöfen, im Maschinenraum, an der Melkmaschine oder der Elektronen-Schnellrechenmaschine. Die Abbildung rassistisch markierter Personen an einer Maschine, hier einem Traktor, wird von der Bildunterschrift „Bauern machen sich mit dem Traktor bekannt (Farbholzschnitt von Li Tji)“ begleitet. Zu schließen ist hier auf eine generell sehr hohe Bewertung von Technik in der sozialistischen Gesellschaft sowie auf eine kolonialistisch geprägte hierarchische Konstruktion.80 Chinesische Personen müssen sich laut Bildunterschrift offenbar erst mit dem Traktor vertraut machen. Sie werden als Lernende in der internationalen sozialistischen Gemeinschaft inszeniert, in der das technische Know-How aus der Zweiten Welt zu kommen scheint. Insgesamt kann die Repräsentationspolitik des DDR-Geschichtsschulbuches als bestimmt durch einen expliziten Aufruf der sozialistischen Jugend zur aktiven Mitgestaltung des Aufbruchs charakterisiert werden. Die Blickverhältnisse folgen einer sozialistischen Ästhetik. Protagonistinnen und Protagonisten tra79 Vgl. Mühlstädt, Geschichte (wie Anm. 78), Abb. 11, S. 21; Abb. 51, S. 89, Abb. 13, S. 23. 80 Hell, Heterogenität (wie Anm. 68).

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gen alle eine weiße Sportuniform beim festlichen Aufmarsch der demokratischen Sportbewegung in Leipzig. Die abgebildete Kleidung ordnet geschlechtlich. Die Akteurinnen tragen kurze, eng anliegende, Figur betonende Kleider, während die Akteure in Hosen und eng anliegende, muskelbetonte Trägerhemden gekleidet sind.81 Die Abbildungen weisen eine starke Uniformierung auf. Es bestehen kaum individuelle Unterschiede oder Unterscheidungsmerkmale. Die inszenierte Einheit in Form und Bewegung der Menschenmassen weist auf eine fehlende Diversität hin. Jugend als Attribut ist die Norm. Hier ist ebenfalls eine fehlende Diversität in den Punkten Generationen und Alter festzustellen. Weibliche Personen werden ganz explizit als Erwerbstätige angesprochen und im Erwerbsleben bildlich und sprachlich repräsentiert. Im Unterkapitel Die Gleichstellung der Frau wird Folgendes vermittelt: Die Frauen, die im beruflichen und politischen Leben den Männern gleichgestellt sind, haben natürlich auch im Familienleben die gleichen Rechte wie die Männer. Das ‚Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau‘ legt fest, daß die Familienangelegenheiten gemeinsam von Mann und Frau zu entscheiden sind, zum Beispiel die Wahl des Wohnsitzes oder die Erziehung der Kinder.82

In dem analysierten DDR-Geschichtsschulbuch wird bereits 1957 auf die gerechte Aufteilung von Männern und Frauen für die Sorge- und Erziehungsarbeit hingewiesen. Mit dem Ziel der Vollerwerbstätigkeit im Blick stellen weibliche Mitglieder der Gesellschaft eine wichtige Arbeitsressource dar. Lohngerechtigkeit wird in diesem Geschichtsschulbuch explizit thematisiert. Diese Repräsentation der gesellschaftlich gewünschten Geschlechterverhältnisse folgt ganz dem Leitbild der sozialistischen Arbeiterin und Mutter. Frauen werden dazu angehalten, kinderreiche Familien anzustreben. Gleichzeitig werden sie bei genauerem Hinsehen häufiger im Bereich der Reproduktionsarbeit abgebildet. Es wird betont, dass Frauen sich eigentlich nicht für Schwerstarbeit eignen. Hier greifen doch wieder Geschlechternormen durch. Das gesellschaftliche Wirken männlicher Bürger wird, kodiert als Handlungen unter Brüdern, hierarchisch hervorgehoben. In einem Kapitel zum Thema Gründung der sozialistischen Einheitspartei wird Geschichte im Wesentlichen als bestehend aus Verbindungen zwischen Männern, die stellvertretend für das sozialistische Kollektiv stehen, kodiert. Auf einer Abbildung werden Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl gezeigt. Sie geben sich die Hand als Zeichen der Vereinigung. Die Bildunterschrift dazu lautet: „Der historische Händedruck“. Im Bildhintergrund sind zwei große Porträts von Karl Marx und Friedrich Engels zu sehen. Der Text zu diesem Ab81 Vgl. Mühlstädt, Geschichte (wie Anm. 78), Abb. 48, S. 85. 82 Vgl. Mühlstädt, Geschichte (wie Anm. 78), S. 84.

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schnitt lautet: „30 Jahre Bruderkampf finden in diesem Augenblick ihr Ende. Wer einen geschichtlichen Blick hat, der sieht heute Millionen von Sozialisten hinter uns stehen“.83 Im Bereich der Thematisierung von Ehrungen kann hingegen zumindest eine versteckte Diversität festgestellt werden. Von sieben verschiedenen Medaillen ist zwar lediglich eine einer weiblichen Persönlichkeit gewidmet, die Clara-Zetkin-Medaille für Frieden, Einheit, Demokratie und Aufbau. Es werden jedoch sowohl weibliche als auch männliche Personen als „Helden der Arbeit“ mit Medaillen ausgezeichnet. Insofern kann festgestellt werden, dass das analysierte DDR-Geschichtsschulbuch in der hierarchischen Reproduktion geschlechtsspezifischer Erinnerungsakte weniger verstrickt ist. Der Anteil von vorhandener und versteckter Diversität sowie Gesellschaftskritik fällt sowohl hinsichtlich von Geschlechterhierarchien als auch hinsichtlich von rassistisch geprägten Hierarchien höher aus als im westdeutschen Geschichtsschulbuch. Das scheint an der Betonung des Kollektivs im Gegensatz zu der spezifischen geschichtsdidaktischen Repräsentationspolitik der BRD zu liegen. Diese Politik scheint individualisierte, biographisch angelegte (Lebens-) Geschichten weißer, männlicher, bürgerlicher, heteronormativer Personen zu normalisieren und zugleich als Maßstab für alle als Arbeits- und Lebensmodells zu universalisieren. Diese partikulären Lebensmodelle erscheinen somit als Richtwert dessen, was als Bürger/Mensch/Humanist gedacht werden kann und per Schulbuchwissen vermittelt wird. Einschränkend muss erwähnt werden, dass die hier untersuchten Geschichtsschulbücher aus den 1950er Jahre sind. Seitdem ist viel an Gleichstellungspolitik umgesetzt worden. Es kann daher von mehr erreichter und auch thematisierter Gleichstellung ausgegangen werden. Es muss mit einem gesellschaftlichen Wandel und einem Wandel in der Thematisierung gerechnet werden. Daher wäre es aus meiner Sicht produktiv, systematisch Schulbücher der unterschiedlichen Fächerkulturen beider Staaten der 1960er, der 1970er und der 1980er Jahre vergleichend zu untersuchen.

Schlussbetrachtung Die Betonung von Meinungspluralität in der BRD hat nach meiner Analyse recht wenig konkrete Diversität in den Repräsentationsmustern westdeutscher Bildungsmaterialien hervorgebracht. Eine plurale Repräsentation der Gesellschaft, die das Handlungsspektrum von Frauen sichtbarmachen könnte, wurde dadurch nicht umgesetzt. Die propagierte, sozialistische, internationale Solidarität 83 Vgl. Mühlstädt, Geschichte (wie Anm. 78), S. 45.

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hat hingegen teilweise eher zu einer Uniformierung als zu einer Repräsentation von Diversität beigetragen. Damit führte die sozialistische Orientierung am Kollektiv eher zu einer Verhinderung der Sichtbarkeit und Normalisierung einer bedeutenden Diversitätsdimension, die die vielfältigen Lebensmuster ihrer Gesellschaftsmitglieder hätte sichtbarmachen können. Die gegenseitig genährten Feindbilder der BRD und DDR zu Zeiten des Kalten Krieges haben Spuren hinterlassen.84 Und der Prozess der Wiedervereinigung ist aus ostdeutscher Perspektive zudem vielfach mit Entwertungserfahrungen einhergegangen. Wie Ingrid Miethe feststellt, sind „Ost und West nicht nur verschieden (Differenz), sondern vor allem durch ein Machtgefälle gekennzeichnet (Dominanz)“.85 Diese hierarchisch vorstrukturierte Beziehung zuungunsten des Ostens gilt es in weitere Untersuchungen analytisch einzubinden. Damit geraten sowohl die jeweils spezifischen Produktionsbedingungen von Bildungsmedien als auch die habituellen Prägungen der an ihrer Erstellung beteiligten Schulbuchautorinnen und -autoren sowie Schulbuchredaktionen in den Fokus. Die Praxisformen dieser Personen sind bedeutend für die Aufnahme und Verbreitung von diversitätsgeprägtem Schulbuchwissen. Es besteht Bedarf an Untersuchungen darüber, wie die Bild- und Textproduzentinnen und -produzenten beider Gesellschaftssysteme die Vielfalts- und Gleichstellungsdiskurse ihrer jeweiligen Zeit in Schulbuchwissen umgesetzt haben und wie dieses Handeln spezifische Darstellungstraditionen angestoßen hat. Eine wissenshistorische Perspektive auf Vielfaltsphänomene und Ungleichheitsverhältnisse in den Bildungsmedien der DDR und BRD ermöglicht einen Einblick, wie Differenzlinien, aber auch Gleichberechtigung vor dem Hintergrund einer Systemkonkurrenz sichtbargemacht und verhandelt wurden. Eine wesentliche Bedeutungsdimension dieser Schulbuchrepräsentationen ist ihre Einbettung in globale Zusammenhänge. Gleichzeitig aber fehlen nach wie vor die (Quellen-)Stimmen von kolonisierten Menschen als verbale und visuelle Sprecher86 bzw. die Sicht- und Wahrnehmungsweisen von Akteurinnen und Akteuren der Dritten Welt auf die deutsche und europäische Geschichte als Globalgeschichte.87 Der Anteil von Lernenden mit Migrationshintergrund an deutschen Schulen steigt weiter an. Diese Pluralisierung wird nicht hinreichend in den Quellenstimmen deutscher Schulbücher gespiegelt. Aus Sicht der Diversitäts84 Vgl. Miethe, Ingrid: Dominanz und Differenz. Verständigungsprozesse zwischen feministischen Akteurinnen aus Ost- und Westdeutschland. In: Irritation Ostdeutschland. Geschlechterverhältnisse in Deutschland seit der Wende. Hrsg. von Eva Schäfer [u.a.]. Münster 2005. S. 218– 234, hier S. 219. 85 Miethe, Dominanz (wie Anm. 84), S. 218. 86 Lässig, Repräsentationen (wie Anm. 30). 87 Lässig, Repräsentationen (wie Anm. 30).

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forschung ist ein zukunftsweisender Ansatzpunkt das Bestreben, Geschichte als eine Konstruktion verständlich zu machen.88 Solche Angebote der Geschichtskultur in Schulbüchern zielen darauf ab, Lernende dazu zu befähigen, unterschiedliche Erzählmuster kennenzulernen und den Umgang mit einem breiten Spektrum von teils widersprüchlichen Bild- und Textquellen konstruktiv zu erlernen.

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88 Lässig, Repräsentationen (wie Anm. 30).

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Anne Bruch

Spotlight on the Colonies Koloniale Informationsfilme in und über die britischen Kolonien in Afrika nach 1945 Im Januar 1948 organisierte das British Film Institute in London eine Konferenz zum Thema The Film in Colonial Development.1 Mit hochrangigen Politikern und Filmwissenschaftlern, u.a. dem britischen Kabinettsminister für Kolonialfragen, Arthur Creech Jones, sowie dem führenden britischen Dokumentarfilmer John Grierson2 besetzt, beschäftigte sich diese Tagung mit der Frage, wie das Colonial Office Filme sowohl in Großbritannien als auch in den Kolonien einsetzen könne, um auf der einen Seite den Briten ein wirklichkeitsnahes Bild von Afrika zu vermitteln und auf der anderen Seite „to teach the people of the colonies to run the show themselves“.3 Mit dieser doppelten Zielvorgabe wurde ein Reformprozess in Gang gesetzt, der das veränderte politische Verhältnis zwischen dem britischen Mutterland und den Kolonien nach 1945 widerspiegeln sollte. Filme spielten bei der Vermittlung und Verbreitung von kolonialen Bildern, die zur Formation von Wissensbeständen und Bildgedächtnissen führten, eine

1 British Film Institute (Hrsg.): The Film in Colonial Development. A Report of a Conference. London 1948. 2 John Grierson (1898–1972) war ein führender britischer Dokumentarfilmregisseur dessen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Filmtheorie der 1920er Jahre sowie erste Produktion Drifters (1929) die britische Dokumentarfilmschule etablierte. Nach Tätigkeiten beim Empire Marketing Film Board und der Filmabteilung des General Post Office in den 1930er Jahren übernahm er nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen 1946 und 1948 bei der UNESCO die Position des Direktors der Informationsabteilung und war sowohl für die Filmproduktionen als auch das Breitenbildungsprogramm der UNESCO zuständig. Kurz darauf wurde er als Filmgutachter des Central Office of Information berufen. Bei der Londoner Konferenz sprach Grierson als Vertreter der UNESCO über die Bedeutung von Bildung. Er bezeichnete sie in seinem Vortrag als unabdingbar für die Verbesserung der Lebensbedingungen in den britischen Kolonien in Afrika und hob die besondere Bedeutung des Lehrfilms hervor. Zu der Verbindung zwischen der britischen Dokumentarfilmbewegung und der UNESCO siehe Rosaleen Smyth: Grierson, the British Documentary Movement, and Colonial Cinema in British Colonial Africa. In: Film History 25:4 (2013). S. 82–113. 3 K.W. Blackbourne: Financial Problems and Future Policy in British Colonies. In: The Film in Colonial Development. A Report of a Conference. Hrsg. vom British Film Institute. London 1948. S. 33–35, hier S. 35. https://doi.org/10.1515/9783110538076-008

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besondere Rolle.4 Nicht nur weil durch und mit den Filmen Wissen generiert und verbreitet wurde, sondern dieses visuelle Wissen die soziale Konstruktion von Wirklichkeit widerspiegelt.5 Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts und verstärkt ab 1919 durch die Gründung der British Instructional Films Ltd. waren Filme eingesetzt worden, um nicht nur britischen Schulklassen, sondern auch einem breiteren Publikum eine Vorstellung von der Größe und Bedeutung des Empire zu verdeutlichen.6 Das Medium Film wurde sowohl vom Colonial Office als auch vom Empire Marketing Board als essentieller Bestandteil einer weitreichenden imperialen Informationspolitik angesehen.7 So bekräftigte der Sekretär des Colonial Committee, J. Russell Orr, in einem Vortrag vor der Royal African Society 1931, dass „a successful film has a greater circulation than any newspaper and than any book except the Bible“.8 Im Zentrum der filmischen Darstellung standen dabei in erster Linie der britische Primat, die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Kolonien sowie der „critical import of imperial loyalty“, wie es der Historiker Tom Rice formulierte.9 Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges und der nachfolgenden Dekolonisierungsphase im britischen Empire wandelte sich jedoch die politische Einstellung gegenüber den Kolonien. Diese Veränderung wurde auch in der kolo4 Siehe hierzu Astrid Erll: Medium des kollektiven Gedächtnisses – ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff. In: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität. Hrsg. von Astrid Erll u. Ansgar Nünning. Berlin/New York 2004. S. 3–22. 5 Vgl hierzu René Tuma u. Lisa-Marian Schmidt: Soziologie des visuellen Wissens – Vorläufer, Relevanz und Perspektiven. In: Visuelles Wissen und Bilder des Sozialen. Aktuelle Entwicklungen in der Soziologie des Visuellen. Hrsg. von Petra Lucht, Lisa-Marian Schmidt u. René Tuma. Wiesbaden 2013. S. 11–30. 6 Siehe hierzu James Burns: Cinema and Society in the British Empire, 1895–1940. Houndmills, Basingstoke 2013, insbesondere Kapitel 3: Uplifting the Empire: Colonial Cinema and the Educational Film-Movement, 1913–1940, S. 93–132; sowie Tom Rice: Exhibiting Africa: British Instructional Films and the Empire Series (1925–8). In: Empire and Film. Hrsg. von Lee Grieveson u. Colin MacCabe. Houndmills, Basingstoke 2011. S. 115–133. 7 Sowohl das Colonial Office als auch das Empire Marketing Board unterhielten eigene Film Units. Finanziert wurden sie durch die beiden staatlichen Institutionen. Organisator des Empire Marketing Film Board war John Grierson. 8 J. Russel Orr: The Use of Kinema in the Guidance of Backward Races. In: Journal of the Royal African Society 30 (1931). S. 238–244, hier S. 238. Russel Orr war vorausgehend Director of Education in Kenya. 9 Tom Rice: British Instructional Films, http://www.colonialfilm.org.uk/production-company/ british-instructional-films (07.01.2018). Rice bezieht sich hier auf John Mackenzie: Propaganda and Empire. The Manipulation of British Public Opinion, 1880–1960. Manchester 1984. Die British Instructional Films Ltd. wurde 1919 gegründet und 1933 aufgelöst. Neben Lehrfilmen zu naturwissenschaftlichen Themen produzierte sie die zwölfteilige Serie „The Empire“, die zwischen November 1925 und August 1928 in die britischen Kinos kam.

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nialen Filmpolitik des Colonial Office zum Ausdruck gebracht, das dem Ministerium für Kolonialfragen unterstand. Die Neuausrichtung verfolgte dabei eine Doppelstrategie. Sie sah zum einen vor, Filme für das britische Publikum zu produzieren, die „visualise today our colonial responsibilities in a manner constructive and positive“ und die helfen sollten, „a greater understanding in this country of the problems, we have to solve“ zu generieren.10 Zum anderen war geplant, eine eigenständige afrikanische Filminstitution zu gründen, die in ihrer Zusammenarbeit mit den „native units in the other Colonies […]“ darauf abzielte, den „true regard for decentralisation and the part which the natives will play in it“ zu garantieren.11 Wichtigster Akteur für den Richtungswechsel in diesem Bereich des staatlichen Filmsektors war die Colonial Film Unit (CFU), die als Unterabteilung des Ministry of Information 1939 gegründet worden war.12 Bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1955, die Folge der geopolitischen und wirtschaftlichen Veränderungen war, produzierte die CFU 339 Informationsfilme, die sowohl für ein britisches Publikum als auch für Vorführungen in den Kolonien vorgesehen waren. Diese Filme stellen einen aufschlussreichen Quellenkorpus dar, da sie Ausdruck kultureller sowie politischer Auffassungen staatlicher Institutionen waren und diese in komplexe Filmbilder und Narrative übersetzten, die durch bearbeitete Bildsequenzen (Kamera, Schnitt, Licht), Kommentar und Musik bestimmt wurden. Durch ihre vermeintliche Realitätsnähe wurden insbesondere Informations- und Dokumentarfilme als Mittel der Verbreitung und Vermittlung von Wissen weiträumig eingesetzt.13 Die Filme artikulierten sowohl das von Creech Jones konstatierte „reservoir of knowledge“ der Filme als auch politische Geltungsansprüche.14 Gleichzeitig waren diese Filme immer von bereits bestehenden Diskurstraditionen präformiert und mussten sich, um als politisch legitim und plausibel wahrgenommen zu werden, in diese einschreiben. Zugleich kon10 Arthur Creech Jones: Opening address. In: The Film in Colonial Development. A Report of a Conference. Hrsg. vom British Film Institute. London 1948, S. 4–8, hier S. 4. 11 John Grierson: The Film and Primitive People. In: The Film in Colonial Development. A Report of a Conference. Hrsg. vom British Film Institute. London 1948. S. 9–15, hier S. 13 und S. 14. 12 Rosaleen Smyth: The Development of British Colonial Film Policy, 1927–1939, with Special Reference to East and Central Africa. In: Journal of African History 20:3 (1979). S. 437–450. 13 Vgl. hierzu David A. Kirby: Film, Radio, and Television. In: A Companion to the History of Science. Hrsg. von Bernard Lightman. Chichester 2016. S. 428–440; Alexandra Przyrembel: Empire, Medien und die Globalisierung von Wissen im 19. Jahrhundert. In: Von Käfern, Märkten und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne. Hrsg. von Rebekka Habermas u. Alexandra Przyrembel. Göttingen 2013. S. 197–220. 14 Creech Jones, Opening address (wie Anm. 10), S. 7. Creech Jones bezieht sich mit dieser Formulierung insbesondere auf die Filme des British Film Institute (BFI).

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ditionierten sie ästhetische Seh- sowie politische Sichtweisen und sollten dem Zuschauer helfen, Zusammenhänge (neu) zu erfassen.15 Obgleich die Bedeutung dieser Filme für Informations- und Propagandazwecke von offizieller Seite beständig betont wurden, wird dieser Filmbestand als Quelle erst seit wenigen Jahren ausführlicher untersucht.16 Um sich mit der Produktion, Zirkulation und Transformation von visuellen Wissensbeständen im staatlichen Filmbereich auseinanderzusetzen, werden im Rahmen dieses Beitrags eine Reihe von Informationsfilmen der Colonial Film Unit analysiert und kontextualisiert. Diese hier untersuchten Filme wurden zwischen 1947 und 1955 für unterschiedliche Öffentlichkeiten produziert. Während der erste Beitragsteil sich mit Filmen beschäftigt, die für ein britisches Publikum hergestellt wurden, konzentriert sich der zweite Teil auf Filme, die für die britischen Kolonien in Afrika vorgesehen waren. Beide Filmgruppen zeigen auf unterschiedliche Weise die ersten Versuche auf, die öffentliche Wahrnehmungen in Bezug auf den Themenbereich Kolonialismus zu verändern, da die indische Unabhängigkeit 1947 und der Beginn des Kalten Krieges mit seiner politischen Blockbildung die Bedeutung Großbritannien als Weltmacht verlagerte. Die Kolonien sollten in den Filmen verstärkt als Partner dargestellt werden, die zu beiderseitigem Nutzen kooperierten. Demzufolge wurden Bildungsprojekte und die gemeinsame wirtschaftliche Zusammenarbeit stärker in den Mittelpunkt der Filme gestellt. Gleichzeitig wird aber trotzdem deutlich, dass die Filmemacher – abhängig vom jeweiligen Zielpublikum – unterschiedliche narrative Strategien verfolgten, um z.B. Fragen der politischen Eigenständigkeit, Demokratie und wirtschaftlichen Produktivität darzustellen. In Filmen wie Colonial Cinemagazine 9 (1947), African Conference in London (1948), Colonial Month (1949), African Visitors to the Tower of London (1949), Nigerian Footballers in England (1949) und Spotlight on the Colonies (1950) werden Ereignisse gezeigt, welche die verstärkte Autonomie der afrikanischen Gebiete reflektieren sollten. Eine zentrale These dieses Beitrags ist jedoch, dass diese Filme nur vermeintlich Fragen nach politischer Eigenständigkeit aufgreifen und stattdessen weiterhin einen paternalistischen Ansatz vertreten, der Großbritannien in das Zentrum der politischen Macht stellt. Erst durch die Gründung genuin afrikanischer Film Units ab 1951 kam es durch die Zusammenarbeit zwischen lokalen Akteuren und britischen Vertretern der CFU zu einem zwar 15 Siehe hierzu Gerhard Paul: Visual History, Version 3.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte. http://docupedia.de/zg/ (7. Januar 2018). 16 Zu nennen ist hier insbesondere das Forschungsprojekt Colonial Film – Moving Images of the British Empire, das durch den Arts and Humanities Research Council (AHRC) zwischen 2007 und 2010 gefördert wurde. Alle hier erwähnten Filme sind über die Projekt-Internetseite www. colonialfilm.org.uk verfügbar (07.01.2018).

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langsamen, aber grundlegenden Wandel der filmischen Wissensbestände über Afrika. Die weiteren Ausführungen konzentrieren sich auf folgende zwei Aspekte: Zum einen wird die Arbeit der Colonial Film Unit vorgestellt, zum anderen wird an ausgewählten Filmbeispielen gezeigt, wie die sogenannte Home Unit für das britische Publikum Wissen über und für die Kolonien im Medium Film produzierte.

Die Colonial Film Unit und die Wissensproduktion für das britische Publikum Die Colonial Film Unit war ursprünglich mit dem Auftrag gegründet worden, Propaganda-Filme zu produzieren, die in den Kolonien für die Unterstützung Großbritanniens im Zweiten Weltkrieg werben sollten. Diese Filme konzentrieren sich oftmals darauf, Szenen britischen Alltagslebens zu zeigen, wie z.B. Mr. English at Home – Day in a Life of an English Man (1940). Nach 1945 wurde die Unit durch das Central Office of Information (COI) übernommen und bekam nun die Aufgabe übertragen, allgemeine Informationsfilme anzufertigen.17 Bereits Ende 1946 wurden von London aus erste Film Units in Ost- und Westafrika etabliert, um direkt vor Ort Filmmaterial zu sammeln. Laut der hauseigenen Zeitschrift Colonial Cinema bestand nun das Ziel darin, „help to develop self-reliance and to break traditional ground so that the seeds of progress in health, industry and agriculture could be planted“.18 So konzentrieren sich Filme wie Weaving in Togoland (1946), Nigerian Cocoa Farmer (1948), Better Homes (1948) und Why not you (1950) darauf, die Zuschauer in den britischen Kolonien in Afrika über moderne landwirtschaftliche Methoden und neue Bauverfahren zu informieren.19 Während die Teams in den britischen Kolonien, die zuvor nur das Bildmaterial nach London geliefert hatten, größere Autonomie bei der eigenen Filmproduktion bekamen und diese steigern konnten, stellte die Home Unit in London kontinuierlich weniger Filme her. Bis 1955 machten diese nur noch ca. 17 Rosaleen Smyth: The Post-War Career of the Colonial Film Unit in Africa, 1946–1955. In: Historical Journal of Film, Radio & Television 12:2 (1992). S. 163–177, hier S. 166. 18 William Sellers: Address to the British Kinematograph Society, December 1947. In: Colonial Cinema 6:1 (1948). S. 9. 19 Weaving in Togoland (Großbritannien 1948, 23 Minuten); Nigerian Cocoa Farmers (Großbritannien: Central Office of Information 1948, 10 Minuten); Better Homes (Großbritannien 1948, 11 Minuten); Why not You (Großbritannien 1950, 10 Minuten).

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zwanzig Prozent des gesamten Produktionsumfangs aus. Obgleich dies für eine zunehmende Marginalisierung der Home Unit spricht, die nun auch durch das Central Office of Information finanziert wurde, sind insbesondere diese Filme von großem Interesse für die enge Verbindung zwischen Medien und Wissen, da sie Informationen über Afrika sowohl für das britische als auch das afrikanische Publikum filmisch aufbereiteten und in visuelle Wissensbestände überführten. Dabei ging es keineswegs darum, dokumentarisch und ethnographisch tätig zu sein und ein möglichst authentisches Bild von Afrika zu vermitteln, sondern um die Möglichkeit, eine politische Aussage zu formulieren. Durch die filmische Begleitung einer Reihe von Konferenzen, Veranstaltungen und Ausstellungen, die alle ausnahmslos in London stattfanden und vom Colonial Office organisiert wurden, verdeutlichen diese Filme die Anstrengungen, mit denen diese Institution versuchte, die Beziehungen zwischen Großbritannien und den britischen Kolonien in Afrika zu visualisieren. Dabei zelebrierten sie das Interesse Großbritanniens am Empire und zeigten Versammlungen und Tagungen, auf denen politische Vertreter der britischen Regierung und der britischen Kolonien freundschaftlich zusammenkamen, um gemeinsame Fragestellungen zu verhandeln. Obgleich diese Filme Afrikaner und Afrikanerinnen als aktiv Handelnde darstellen, visualisieren sie durch ihre weitestgehend traditionelle formale Struktur und Filmkommentare jedoch eher die restaurative Haltung der britischen Regierung gegenüber den Versuchen der Kolonien, sich zu emanzipieren. London als Hauptstadt des Empire, seine Institutionen und Sehenswürdigkeiten ebenso wie die wiederholten Verweise auf die königliche Familie werden als ideologisches Zentrum in den Mittelpunkt der Filme gestellt. Von diesem Ort wird das Empire durch die Briten kontrolliert und werden Afrikaner als nur zeitweilige Besucher herabgestuft, die – wenn überhaupt – nur kurzzeitig in das dortige politische und soziale Leben integriert sind. So wird in dem Film African Conference in London die Eröffnung der gleichnamigen Veranstaltung im September 1948 und das Begleitprogramm der afrikanischen Teilnehmer wiedergegeben. Der Besuch der Delegierten in London gab der Colonial Film Unit die Gelegenheit, Afrika als wichtigen Bestandteil eines modernen Empire zu definieren. Nicht nur, dass die Delegation durch König Georg VI. empfangen wird, der – so der affirmative Voice-Over-Kommentar – „keenly interested in all colonial questions“ sei, sondern auch verschiedene Exkursionen in Fabriken und Landwirtschaftbetriebe betonen die guten sowie ausbaufähigen Beziehungen zwischen Großbritannien und den Kolonien.20 Mit Bildern von Stratford-UponAvon und der Universität Oxford wird außerdem das traditionelle Ansehen 20 African Conference in London (Großbritannien: Colonial Office 1948, ca. 20 Minuten).

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Großbritanniens bestärkt, das mit den Visualisierungen seiner Geschichte, Architektur und Ausbildungsstätten den britischen Primat festigt. Für das Publikum wird ein Bild von Großbritannien aufbereitet, das die britische Nation in den räumlichen und politischen Mittelpunkt der Kolonialbeziehungen stellt. Die Bilder dienen damit als ein Mittel der Selbstvergewisserung.21 Diese filmische Aussage wird durch die Darstellung der afrikanischen Delegationen unterstrichen. Die Konferenzteilnehmer aus Afrika werden dem britischen Publikum als interessierte und vor allem als gebildete Afrikaner und Afrikanerinnen vorgestellt, die wissen, sich während ihres Aufenthaltes an die klimatischen und repräsentativen Gegebenheiten anzupassen. Der Film hebt darüber hinaus das Ziel der dauerhaften Kooperation zwischen dem Mutterland und den Kolonien hervor. Durch den Besuch der Cadbury Schokoladenfabrik in Bournville in der Nähe von Birmingham wird sowohl den Delegierten als auch den Zuschauern noch einmal verdeutlicht, wie eng die jeweiligen wirtschaftlichen Interessen miteinander verknüpft sind, da ja hier der Rohstoff „good African cocoa“ veredelt und zu Schokolade verarbeitet werde. Ein ähnliches Narrativ greift auch der Film Colonial Month von 1949 auf, der über die Kolonialausstellung im Zentrum von London informiert. Gleich zu Beginn erklärt der Kommentator die Intention des Films: „the events of Colonial Month gave the British people a new chance to learn more about the Colonial territories and their people“.22 Denn nur ein Jahr zuvor hatte eine Studie ergeben, dass there is astonishing ignorance in this country about the Colonies. This ignorance is particularly unfortunate at the present time when so much depends upon a wise development of Colonial resources in the interest of the Colonial peoples (to enable them to raise their standard of living), of the people in this country (in view of the need for developing imports from sterling sources), and of the people of the world as a whole (in view of the world shortage of food supplies and raw materials.23

Aufgrund des niederschmetternden Befundes über die geringen Kenntnisse der Bevölkerung in Großbritannien über das gesamte Empire wurde innerhalb weniger Monate die Ausstellung Colonial Month konzipiert, die der Film nun für das nationale Publikum bewerben sollte. In Form eines Rundgangs zeigt der 21 Eine ähnliche narrative Strategie, Architektur als Symbol der imperialen Herrschaftsbeziehungen zu nutzen, verfolgt bereits der Film Heart of an Empire. Dieser 1935 von Marion Grierson produzierte Film stellt London und seine repräsentativen Bauten als das politische und administrative Zentrum des Commonwealth und britischen Empires dar. 22 Colonial Month (Großbritannien 1949, 10 Minuten). 23 Colonial Month.

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Film nicht nur einen nachgebauten Dschungelpfad „hot, damp and loud with noises strange to English ears“, sondern auch Dioramen mit lebensgroßen Modellfiguren. Laut Kommentar war die Idee hierbei, die Besucher mit den „various types of colonial people“ bekanntzumachen.24 Darüber hinaus werden auch hier wieder die diversen Kolonialprodukte vorgestellt und auf deren Notwendigkeit für die britische Industrie hingewiesen. Der Film endet mit einer Sequenz, in der eine Gruppe junger Briten und Afrikaner sich am Ausgang der Ausstellung treffen und freundlich miteinander plaudern. Auch hier gibt der Kommentator die Interpretation dieser Szene vor: „The Colonial Month gave British people and visitors from the colonies a great opportunity to meet and talk as these young men are doing here. It is small discussions like this that hold great hope for the future“. Wie in African Conference in London werden Afrikaner in diesem Film erneut als Besucher bezeichnet, die sich nur zeitweilig zum Studium oder zur Ausbildung in England aufhielten. In keinem der von der Home Unit produzierten Filme wird auf den British Nationality Act von 1948 eingegangen, der den Menschen aus den britischen Kolonien den neuen Status eines „Citizen of the United Kingdom and Colonies“ garantierte. In fast allen Filmen, die für das Publikum in Großbritannien produziert wurden, wird nachdrücklich zwischen „Them“ und „Us“ unterschieden. In deutlichem Kontrast dazu unterstrich das Filmprogramm der afrikanischen Colonial Unit die Bedeutung der britischen Staatsangehörigkeit für das afrikanische Publikum, indem die für die Filmvorstellung engagierten Übersetzer bis 1951 stets zu Beginn der Vorführung dreimal die Frage „Are you proud to be British?“ an das Publikum richten sollten.25 Diese eingeforderte Affirmation, die Beobachtern zufolge mit einem immer lauter werdenden „Ja“ beantwortet wurde, kennzeichnet den Loyalitätsanspruch, den das Mutterland von seinen Kolonien erwartete. Der Film Spotlight on the Colonies26, der in Zusammenarbeit mit der regierungseigenen Crown Film Unit hergestellt wurde, verschob hingegen den Fokus leicht. Verantwortlich für diesen Film war Rita Hinden, Labour-Mitglied und seit 1940 Leiterin des Fabian Colonial Bureau, das sie zusammen mit Arthur Creech Jones, dem späteren Kabinettsminister für Kolonialfragen gegründet hatte. Hinden erörterte die programmatische Aufgabe des Fabian Colonial Bureau 1946 in einem Essay und erklärte, dass „its work was implicitly, to fight the abu24 Colonial Month. 25 Tom Rice: ‚Are you proud to be British?‘. Mobile Film Shows, Local Voices and the Demise of the British Empire in Africa. In: Historical Journal of Film, Radio and Television 36:3 (2016). S. 331–351, hier S. 332. 26 Spotlight on the Colonies (Großbritannien: Central Office of Information und Economic Information Unit 1950, 11 Minuten).

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se it knew of in the British Empire“ sowie „to urge on economic change, and to hasten the day when self-government, or – if desired – independence, could be achieved“.27 In einem Essay, in dem Hinden die Auswahl des Filmmaterials, das hauptsächlich eine Kompilation aus bereits verwendeten Filmsequenzen war, erklärt, zeigt sie die Notwendigkeit „to fight the abuse of the colonies“ auf. Dieser kritische und problemorientierte Ansatz ist allerdings selten in den staatlichen Informationsfilmen zu finden. Entsprechend wird diese Thematik in Spotlight on the Colonies nicht ausführlicher dargelegt. Hinden konzentrierte sich stattdessen darauf, die gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen zu bekräftigen. Der Sprecher des Films wiederholt mehrfach den „enterprise of mutual prosperity“, der durch britische Investitionen in den Kolonien forciert wird, die dann letztendlich wieder dem Mutterland zu Gute kommen. Obgleich dieser Film sich stark auf die wirtschaftliche Kooperation fokussiert und die Kolonien nicht als abhängige Entitäten, sondern als aktive Gestalter darstellt, die an ihrem eigenen Fortschritt arbeiten, bleibt auch Spotlight on the Colonies bei der Unterscheidung zwischen „Them“ und „Us“. So informiert der Kommentar „up and down the country, you meet them everywhere, men and women from the British Colonies… working with us, learning from us“. Für die englischen Zuschauer sollte hier gezeigt werden, dass es von wechselseitigem Nutzen ist, Menschen aus den Kolonien in England eine Ausbildung und Arbeit zu ermöglichen, um so das gewonnene Wissen durch ihre Rückkehr in die Heimatländer zu transferieren und den dortigen Modernisierungsprozess zu unterstützen. Dem Auditorium in den Kolonien hingegen wurde durch diese Bilder nahegebracht, wie sehr sie durch das Mutterland unterstützt würden, um so die eigene Loyalität gegenüber dem Empire zu bekräftigen.

Lehrfilme für die britischen Kolonien in Afrika Ab den späten 1940er Jahren gingen die Verantwortlichen des Colonial Films Institutes sowie des British Film Institutes immer stärker dazu über, Filme für ein genuin afrikanisches Publikum in den britischen Kolonien zu entwickeln und zu produzieren, da das Colonial Office nun stärker auf das Prinzip achtete, Maßnahmen einzuführen, die die Bevölkerung in den britischen Kolonien in Afrika befähigen sollten, sich selbst zu helfen bzw. sich selbst Hilfe zu organisieren. In

27 Rita Hinden: The Empire. In: Socialism. The British Way. Hrsg. von Donald Munro. London 1948. S. 281–283.

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den Filmen sollten nun vorrangig Themen und Probleme aufgegriffen werden, die die Bevölkerung vor Ort betrafen. Zwar wurden lokale Berater hinzugezogen, aber der gesamte Produktionsprozess verblieb vor Ort weiterhin fest in britischer Hand. Ziel dieser Filme war es hauptsächlich, Wissensbestände für den schulischen und allgemeinen Lehrbereich aufzubereiten. Im Mittelpunkt stand dabei die Maxime, Bildung möglichst allen Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen und so „breaking through mass ignorance and illiteracy, of evolving sound educational systems in order that in the developing work in the Colonies we may enjoy the full co-operation of the colonial peoples, and increasingly allow the colonial peoples to play their full part in the building up of the life of their own territories“, wie es Creech Jones formulierte.28 Dementsprechend wurde bei den Filmen, die für ein Publikum in den britischen Kolonien vorgesehen waren und dort zirkulierten, visuell darauf geachtet, dass die Wissensbestände ausschließlich von Vertretern und Vertreterinnen der örtlichen Bevölkerung vermittelt wurden. Der Eindruck einer Unterweisung durch Außenstehende sollte vermieden werden, um so die Identifikation mit den Lerninhalten zu gewährleisten. Bestimmt wurden die Wissensbestände jedoch weiterhin konsequent durch die Briten, die beabsichtigten „the creation of nationhood, the establishment of free political institutions, the creation of colonial democracies, democracies possessed with that sense of values which we prize in Western Europe and democracies supported by our social services and good economic conditions“ zu fördern.29 Die Mitarbeiter der lokalen Film Units brachten dabei durchaus ihre eigenen Vorschläge ein, sodass die inhaltliche Nähe zu örtlichen Themen gewährleistet war. Auch deren filmische Umsetzung wurde in der Regel durch die Ortskräfte durchgeführt, doch es zeigte sich, dass die Themen immer wieder inhaltlich und visuell mit britischen Gesellschaftsvorstellungen verknüpft waren. Die formale Struktur der Filme orientierte sich an den verschiedenen konventionellen Filmgenres, die für die Vermittlung von Wissen zu dieser Zeit gebräuchlich waren.30 Hier wurden oftmals Elemente des Dokumentarfilms oder der Wochenschauberichterstattung eingesetzt. Alternativ verwendeten die Filmregisseure das Stilmittel einer personifizierten Geschichte, die am Beispiel eines oder mehrerer Akteure die Aussage des Films personalisierte, um die Identifikation des Publikums mit der Botschaft zu unterstützen. 28 Creech Jones, Opening address (wie Anm. 10), S. 5. 29 Creech Jones, Opening address (wie Anm. 10), S. 4. 30 Die Filmtheoretiker, die sich seit den 1920er Jahren mit der Entwicklung einer didaktischen Filmsprache auseinandersetzten, gingen davon aus, dass Erzählstrukturen und Bildrhetorik universal nachvollziehbar seien. Die westlichen Erzählmodelle wurden dabei als maßgeblich erachtet. Siehe dazu Ramòn Reichert: Im Kino der Humanwissenschaften. Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens. Bielefeld 2007.

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Beispielhaft umgesetzt wurde diese Strategie in dem Film Wives of Nendi (1949).31 Die narrative Struktur des Films basierte auf der Gegenüberstellung von modernen und traditionellen Verhaltensweisen, die auch hier mit Werturteilen einher gehen. So verbindet der Film den „Fortschritt“ Afrikas mit der Übernahme europäischer Bräuche. Die britische Vorstellung von Sauberkeit wird gleichgesetzt mit Zivilisation, Gesundheit und Wissen. Personifiziert wird diese Geschichte durch die junge Ehefrau und Mutter Mai Fauoi, die als Repräsentantin des überregionalen Frauenvereins ihren eigenen Nachbarinnen im Dorf Wissen über Sauberkeit und Hygiene vermitteln soll. Die junge Frau selbst lebt bereits ein Leben nach westlichen Vorstellungen: Ihre drei nicht traditionell gekleideten Kinder besuchen die örtliche Schule, ihr Ehemann, der sie hilfreich unterstützt, geht einer täglichen Arbeit nach und sie selbst hält die kleine Hüte täglich vorbildlich rein. Doch ihr Versuch, die anderen Frauen von dieser Lebensweise zu überzeugen, stößt zunächst auf Unverständnis und Ablehnung. Insbesondere die drei Ehefrauen Nendis, eines nach traditionellen Vorstellungen lebenden Hirten und Namensgeber des Films, machen es ihr besonders schwer und leisten Widerstand. Sie repräsentieren das rückwärtsgewandte und unselbständige Rhodesien, das noch in alten Familienstrukturen auf beengtem Raum lebt. Die Folge sind unhygienische Lebensbedingungen, Krankheiten, schlechte Versorgungsmöglichkeiten und Analphabetismus. Doch die junge, energische Frau gibt ihre Bemühungen nicht auf und sucht sich Unterstützung bei Mai Mangwende, die aus der ältesten und angesehensten Nhowe-Dynastie Simbabwes stammt und zugleich die Vorsitzende des nationalen Frauenverbandes ist.32 Zusammen können sie und ihre Mitstreiterinnen Nendis Ehefrauen von den Neuerungen überzeugen und Verbesserungen im Bereich der Hygiene, Hauswirtschaft und Schulbildung einführen. Am Ende des Films sitzen alle Frauen an einem mit Porzellan gedeckten Tisch, um gemeinsam ihren Nachmittagstee – ein Symbol der britischen Identität – einzunehmen. Gerade die letzten Filmszenen zeigen, dass die Frauen westliche Gepflogenheit übernehmen und für sich als Norm akzeptieren. Sie sind nun Teil des westlichen Zivilisationsprozess geworden, der zu Sicherheit, Wohlstand und Fortschritt führt. Zu Wort kommen Mai Fauoi und Mai Mangwende in diesem Film allerdings trotzdem nicht. Das Publikum sieht zwar, wie sie agieren, diskutieren und die angestrebten Veränderungen aushandeln, aber die Dialoge werden nicht ausgeführt, son31 Wives of Nendi (Großbritannien / Rhodesien 1949, 20 Minuten), siehe hierzu die Synopsis und Kontextbeschreibung von Tom Rice: Wives of Nendi. http://www.colonialfilm.org.uk/production-company/british-instructional-films (07.01.2018). 32 Rosaleen Smyth: Film as Instrument of Modernization and Social Change in Africa. The Long View. In: Modernization as Spectacle in Africa. Hrsg. von Peter J. Bloom, Stephan F. Miescher u. Takyiwaa Manuh. Bloomington u. Indianapolis 2014. S. 65–88, hier S. 80.

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dern von einem britischen Voice-Over-Kommentator eingesprochen, der die normative Aussage des Films verstärkt, gleichzeitig aber die Bestrebung konterkariert, den Film als einheimische Produktion für die lokale Bevölkerung zu vermitteln. East African College (1950) verfolgt eine ähnliche narrative Strategie, in dem auch dieser Film einen Gegensatz zwischen dem vermeintlich modernen Großbritannien und einem mutmaßlich traditionellen Afrika konstruiert. Zunächst stellt der britische Kommentator das traditionelle afrikanische Leben vor: „Here in tropical Africa the old traditions can still be seen. Nomadic herdsmen still wander over the plains with their cattle.“ Diese Darstellung des „traditionellen“ Afrikas wird durch ethnographische Aufnahmen von Einheimischen unterstützt, die Krüge auf althergebrachte Weise tragend transportieren. Der Erzähler legt aber nahe, dass „there is evidence of new habits and new needs. The desire for a better way of life.“ Der Film räumt daher dem modernen Leben Priorität ein und richtet den Fokus auf den Bildungsbereich, der stark britisch beeinflusst ist. In seinen Erläuterung betont der Kommentator die Notwendigkeit, die englische Sprache zu erlernen, da sie der Schlüssel zur Bildung sei. So bedeuten Sprachkenntnisse, dass „a different world opened its door“, die zugleich eine „strange and exciting world, a stimulating world of new people and new ideas“ wäre. Doch es sind nicht nur die englischen Sprachkenntnisse, sondern auch die britische Erziehung und deren Bildungsinhalte, die eine stete Verbesserung der Lebensbedingungen garantieren und einen „new enlightened viewpoint“ hervorbringen können, der weit über das Klassenzimmer hinausreiche. Das Zentrum der Bildungsoffensive ist in diesem Film das Makerere College, das bis in die frühen 1960er Jahre hinein Studienkurse und Abschlüsse der Universität London durchführte. Ähnlich wie in African Conference in London werden auch in diesem Film traditionell britisch konnotierte Bild- und Lerninhalte dargestellt. Die Studierenden spielen Tennis und Cricket, nehmen an Leichtathletikveranstaltungen teil und spielen „many English games and sports“. Darüber hinaus wird „social training“ für die afrikanischen Kursteilnehmer angeboten, das ein gemeinsames Teetrinken unter der Anleitung zweier Briten beinhaltet. Und so erklärt der Kommentator das britische Kerncurriculum des College, welches „education, sport, social behaviour and the ability to hold one’s own are all facets of the training given at Makerere“ als essentielle Bestandteile der Ausbildung definiert. Obgleich der Film durchaus moderne Unterrichtsmethoden erwähnt, zeigt East African College in erster Linie ein traditionell britisch orientiertes Bildungssystem. Die Ausweitung des britischen Bildungsanspruchs auf das Makerere College wird durch diesen Film deutlich und verweist auf das Ziel, Expertenwissen für die zukünftige Elite Afrikas vor Ort zu generieren. Der Film fordert dabei „balanced, cultured people with a human social outlook capable

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of a deep sympathy with the land, people and problems“ auszubilden und schlägt vor, dass Makerere College ein „broad curriculum based on the human realities that underlie their country’s problems“ anbietet. Weitere Beispiele des Films visualisieren ein „primitives“ Afrika und mögliche Lösungsvorschläge. Den Studierenden wird im Film gezeigt „how to bring an end the ancient drudgery of carrying water from sources miles away by using modern methods“. Die Schlussfolgerung des Films bestätigt, dass Afrika sich verändert: „a strange Africa is arising, a bewildering Africa… the air of Africa is laden with a sense of change“. Gleichzeitig versucht der Film durch die Bildungsarbeit am Makerere College darzustellen, dass Großbritannien auch zukünftig einen starken Einfluss auf das zunehmend selbstverwaltete Afrika behalten wird.

Fazit Informations- und Lehrfilme wurden seit den 1920er Jahren von den britischen Regierungen und ihren jeweiligen Institutionen umfassend eingesetzt, um politische Zielsetzungen zu kommunizieren. Sie galten als aussagekräftiges Bildungsmedium, das einen weitreichenden Verbreitungsradius gewährleistete und unabhängig von den Vorkenntnissen des Publikums war. Auch das Colonial Office und ihre eigene Colonial Film Unit sahen in den Informationsfilmen eine Gelegenheit, um Wissen über und für die Kolonien zu produzieren und zu vermitteln. Dabei verfolgten die Institutionen eine Doppelstrategie. Zum einen sollten Wissensbestände an die jeweiligen Zuschauer vermittelt und somit das konstatierte Informationsdefizit aufgearbeitet werden. Die Filme, die für das britische Publikum produziert wurden, zeigen daher oftmals die engen sowie guten Beziehungen zwischen den Kolonien und Großbritannien, die durch das Zusammentreffen der Repräsentanten aus Großbritannien und den britischen Kolonien in Afrika wie z.B. durch Politiker- und Studentengruppen, visualisiert werden. Zentrum der Filmhandlung sind meist London sowie wiedererkennbare „Landmarks“ der britischen Geschichte, Kultur und Industrie. Ebenso wird über Veranstaltungen wie den Colonial Month informiert und über Delegiertenbesuche berichtet. Hervorgehoben wird immer der Nutzen der Kolonien für Großbritannien sowie die Mission, Bildung zu vermitteln und demokratische Strukturen zu fördern, um die Handelsbeziehungen beständig zu sichern. Auch die Filme für die britischen Kolonien in Afrika haben eine vordergründige Informationsebene und visualisieren den Bildungsanspruch der britischen Produzenten. Der Besuch von Bildungseinrichtungen, die Weiterentwicklung von Sprachkenntnissen und die Erfolge der lokalen Bildungsinitiativen stehen im Mittelpunkt

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und suggerieren eine enge Kausalität zwischen Wissen, Fortschritt und Wohlstand. Zum anderen zeigt die Analyse der Filme aber eine zweite Ebene, welche die Einstellung des Colonial Office gegenüber den Kolonien und ihren Bestrebungen, unabhängig zu werden, offenlegt. Weder die Visualisierungen noch die Kommentare stellen in Frage, dass Großbritannien weiterhin das Zentrum der politischen Entscheidungen bleibt. Hier werden die Maßnahmen für die weiteren politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen getroffen. Dies offenbart sich nicht nur in der Darstellung der Handelsbeziehungen, sondern auch in den curricularen Bestimmungen, die durch Großbritannien vorgegeben werden. Eine britische Ausbildung bedeutet damit aber keinesfalls, dass Afrikanerinnen und Afrikaner gleichberechtigt visualisiert werden, vielmehr bleibt die Differenzierung zwischen „Them“ und „Us“ ein offensichtliches Element der Filme. Die Kontextualisierung und Analyse der Filme zeigt, dass die staatlichen Akteure diese als wichtiges Medium der Wissensvermittlung ansahen und demzufolge umfangreich einsetzten. Dabei wird aber auch deutlich, dass die Wissensbestände, die durch diese Filmen produziert und verbreitet wurden, relativ stabil blieben, obwohl sich die geopolitischen Bedingungen für Großbritannien und das Empire in nur wenigen Jahren rasch änderten. So spiegeln die Filme, die sowohl für ein britisches als auch für ein koloniales Publikum produziert wurden, die konventionellen Leitideen der britischen Außenpolitik wieder. Erst durch die Gründung eigener Film Units in den britischen Kolonien in Afrika, die stärker den örtlichen Gegebenheiten verpflichtet waren, gab es erste Ansätze, auf die politischen Veränderungen zu reagieren und visuelles Wissen neu zu justieren.

Quellen/Filme African Conference in London (Großbritannien: Colonial Office 1948, ca. 20 Minuten). Better Homes (Großbritannien 1948, 11 Minuten). Colonial Month (Großbritannien 1949, 10 Minuten). East African College (Großbritannien 1950, 16 Minuten). Heart of an Empire (Großbritannien 1935, 9 Minuten). I will speak English (Ghana 1954, 14 Minuten). Nigerian Cocoa Farmers (Großbritannien 1948, 10 Minuten). Spotlight on the Colonies (Großbritannien: Central Office of Information und Economic Information Unit 1950, 11 Minuten). Story of Omolo (Großbritannien 1946, 9 Minuten). Weaving in Togoland (Großbritannien 1948, 23 Minuten). Wives of Nendi (Rhodesia 1949, 20 Minuten).

Spotlight on the Colonies 

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Alle hier aufgeführten Filme sind über die Projekt-Internetseite www.colonialfilm.org.uk abrufbar (07.01.2018).

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212  Anne Bruch

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Thomas Kemper und Linda Supik

Klassifikation von Migration im Wandel Begriffe und Operationalisierungen der deutschen Schulstatistik seit 1965 Die Statistik ist eine der wichtigsten Wissenstechnologien der Moderne. Sie entstand als mathematische Teildisziplin mit einem von Beginn an starken Anwendungsbezug im Laufe des 18. Jahrhunderts und ist seit dem 19. Jahrhundert aus der Verwaltung und Regierung moderner Staaten als amtliche (Bevölkerungs-) Statistik nicht mehr wegzudenken. Statistik stellt das Wissen über zu verwaltende oder regierende Einheiten bereit – bzw. stellt es vielmehr erst her. Erst anhand dieses Wissens werden besagte Einheiten in ihrer Gesamtheit und ihren strukturellen Dynamiken überhaupt wahrnehm-, steuer- und regierbar. Diese Einheiten sind vielfältig: Von Verkehrs-, Waren- oder Finanzströmen über Geburten- und Sterbeziffern bis hin zu Bildungsabschlüssen und Wanderungsbewegungen innerhalb definierter Territorien. Im Gegensatz zu verbalem Wissen besteht statistisches Wissen aus Zahlen, also in quantifizierter und quantifizierender Form, da es auf Zähl- und Messbarkeit ausgerichtet ist. Statistisches Wissen genießt den Status der größten Objektivität, Neutralität und – infolgedessen – Wissenschaftlichkeit schlechthin. Zahlen transportieren Informationen unmissverständlich mit globaler Reichweite; Zahlenwissen erscheint stets exakt und ‚nah an der Wirklichkeit‘, wobei die einzelne Zahl kaum Bedeutung trägt. Nur selten wird in den Blick genommen, dass auch statistisches Wissen in sozialen Kontexten entsteht, also an diese gebunden ist und somit – von diesem Standpunkt aus betrachtet – erst produziert wird. „Jeder Standard und jede Kategorie wertet einen Standpunkt auf und lässt einen anderen verstummen. Das ist an sich nichts Schlechtes – tatsächlich ist es unausweichlich. Aber es ist eine ethische Entscheidung.“1 Im Rahmen der Klassifikationen von Sozialstatistiken – wie wir nachfolgend am Beispiel der Schulstatistik zeigen wollen – haben diese Entscheidungen eine politische und soziale Relevanz, da sie über statistische (Un-)Sichtbarkeit sozialer Gruppen entscheiden und damit ganz

1 Unsere Übersetzung von: Bowker, Geoffrey C. u. Susan Leigh Star: Sorting things out. Classification and its consequences. 1. Aufl. Cambridge [u.a.] 1999, S. 5f. Wir danken Seda-Nur Aşçı für ihre Unterstützung bei der Erstellung der Endfassung. https://doi.org/10.1515/9783110538076-009

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konkrete Konsequenzen für deren politische und gesellschaftliche Repräsentation haben.2 Wie wir hier aus einer wissenssoziologischen Perspektive3 zeigen wollen, offenbaren sich diese Standpunktgebundenheit oder Perspektivität – und damit einhergehende Vorannahmen – sowie zuweilen unbemerkte blinde Flecken, wenn die Art und Weise der konzeptionellen Anordnung in einem Klassifikationssystem einer bestimmten amtlichen Statistik zum Untersuchungsgegenstand wird.4 Anders als meist üblich, wird dieser Beitrag über Statistik kaum in Zahlenform vorliegende Informationen präsentieren. Stattdessen wird dargestellt, welche Klassifikationen die amtliche Statistik zu ausgewählten historischen Zeitpunkten vorhält, d.h. welche Schubladen bereitstehen, um Wissen über eingewanderte Schülerinnen und Schüler bereitzustellen. Eine Besonderheit des statistischen Wissens ist dessen starre und unflexible Form. Innerhalb einer Statistik kann nur erfasst, gezählt und am Ende als Ergebnis sichtbar gemacht werden, was schon im Voraus als zu zählende Einheit festgelegt und wofür eine Kategorie bereitgestellt wurde. Taucht etwas Neues, nicht Antizipiertes außerhalb der vorweg definierten Kategorien auf, dann bleibt es unsichtbar, unerkannt und ist somit gewissermaßen nicht existent. Häufig findet das Neue lediglich innerhalb einer Residualkategorie Platz, die die Fälle aufnimmt, die in keine andere zuvor bestimmte Kategorie passen. Oder anders gesagt: Statistiken können nur Wissen erschließen, das zuvor bereits als wissenswert erachtet wurde. Auf diese Weise begrenzt sich statistisches Wissen selbst. Ausgehend von

2 Vgl. hierzu unsere Vorarbeiten: Kemper, Thomas: Bildungsdisparitäten von Schülern nach Staatsangehörigkeit und Migrationshintergrund. Eine schulformspezifische Analyse anhand von Daten der Schulstatistik. Dissertation. Wuppertal 2013. (Internationale Hochschulschriften 620), Münster 2015; Kemper, Thomas: Zur landesspezifischen Erfassung des Migrationshintergrunds in der Schulstatistik – (k)ein gemeinsamer Nenner in Sicht? In: Schumpeter Discussion Papers (2016) SDP 2016-001; Supik, Linda: Statistik und Rassismus. Das Dilemma der Erfassung von Ethnizität. Frankfurt am Main 2014. 3 Neben wissenschaftsphilosophischen Perspektiven wie denen Michel Foucaults, Ian Hackings und Alain Desrosières berufen wir uns insbesondere auf Ansätze der Soziologie der Quantifizierung. Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt am Main 2006; Hacking, Ian: Kinds of People. Moving Targets. In: Proceedings of the British Academy 151 (2007). S. 285–318; Desrosières, Alain: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise. Berlin 2005; Espeland, Wendy Nelson u. Mitchell L. Stevens: A Sociology of Quantification. In Arch. Europ. Sociol., XLIX, 3 (2008). S. 401–436; Heintz, Bettina: Numerische Differenz. Überlegungen zu einer Soziologie des (quantitativen) Vergleichs. Zeitschrift für Soziologie 39 (2010) 3. S. 162–181. 4 Vgl. Bowker [u.a.], Sorting (wie Anm. 1).

Klassifikation von Migration im Wandel



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dieser Feststellung, dass Statistik erfasst, zählt, ordnet, klassifiziert etc.,5 soll für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dargestellt werden, inwiefern Migration in der amtlichen Schulstatistik zu allgemeinbildenden Schulen ge- und vermessen wird.6 Konkret soll für allgemeinbildende Schulen die Entwicklung der schulstatistischen Erfassung von Migration auf Ebene des Bundes und der Länder dargestellt werden. Hierzu werden die amtliche Schulstatistik für Deutschland insgesamt sowie die amtlichen Schulstatistiken in den Ländern seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland untersucht.7 Aus historischer Perspektive soll weiter dargestellt werden, welche Begrifflichkeiten und Operationalisierungen im Zusammenhang von Migration verwendet werden. Insgesamt ist das Ziel, die wesentlichen Entwicklungen in der historischen Erhebung und Messung von Migration aufzuarbeiten. Der Rückblick auf den Wandel dieses Klassifikationssystems gibt Hinweise darauf, dass die integrations- und bildungspolitische Gestaltung von Einwanderung und internationaler Migration in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland einen geringen Stellenwert hatte. Dies sollte sich jedoch nach der Jahrtausendwende ändern. Hierzu werden die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schulstatistisch im Zusam-

5 Vgl. hierzu ausführlich: Supik, Statistik (wie Anm. 2). 6 Damit fügen wir uns ein in ein internationales Forschungsfeld, das die Datenerhebung und statistische Erfassung von Migration und ethnischer Diversität innerhalb amtlicher Statistiken beforscht. Vgl. hierzu Yanow, Dvora: Constructing „Race“ and „Ethnicity“ in America. Category Making in Public Policy and Administration. Armonk, NY 2003; Kertzer, David Israel u. Dominique Arel (Hrsg.): Census and Identity. The Politics of Race, Ethnicity, and Language in National Censuses. Cambridge 2002; Morning, Ann: Ethnic Classification in Global Perspective: A Cross-National Survey of the 2000 Census Round. In: Population Research and Policy Review 27 (2008) 2. S. 239–272; Kemper, Thomas: Migrationshintergrund – eine Frage der Definition! In: Die Deutsche Schule, 102 (2010) 4. S. 315–326; Bednaschewsky, Rania u. Linda Supik: Vielfältig Deutschsein – Von Deutschen of Color und Deutschen mit Migrationshintergrund in der Statistik. In: Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland – Figurationen und Interventionen in Gesellschaft und staatlichen Institutionen. Hrsg. von Mechtild Gomolla [u.a.]. 2008. S. 179–194; Will, Anne-Kathrin: 10 Jahre Migrationshintergrund in der Repräsentativstatistik: ein Konzept auf dem Prüfstand. In: Leviathan – Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft 44 (2016). S. 9–34. 7 Publikationen wie die Statistischen Jahrbücher der Deutschen Demokratischen Republik enthalten keine Migrationsinformationen oder -hinweise (wie z.B. zur Staatsangehörigkeit). Vgl. hierzu: Köhler, Helmut: Was die Schulstatistik der SBZ/DDR erfragte. Analyse und Dokumentation des Erhebungsprogramms 1945 – 1989. Berlin 1999 (Studien und Berichte / Max-Planck-Institut für Bildungsforschung 67); Köhler, Helmut u. Thomas Rochow: Schulen und Hochschulen in der Deutschen Demokratischen Republik 1949 – 1989. (Datenbuch zur Deutschen Bildungsgeschichte Bd. 9), Göttingen 2008; oder die unter der folgenden URL zugänglichen Statistischen Jahrbücher der DDR: http://www.digizeitschriften.de/dms/toc/? PPN=PPN514402644.

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menhang mit Migration relevanten erfassten Merkmale8 dargestellt, darunter z. B. die Staatsangehörigkeit. Da die Schulstatistik auffallend viele Staatsangehörigkeiten nicht darstellt, legen wir besonderes Augenmerk auf die verwendeten Residualkategorien, insbesondere bei der Erfassung der Staatsangehörigkeit der Schülerinnen und Schüler. Anschließend sollen die in der Schulstatistik im Zusammenhang mit Migration verwendeten Begrifflichkeiten für Schülerinnen und Schüler (z.B. ‚mit Migrationshintergrund‘) nachgezeichnet und deren Wandel im Zeitverlauf untersucht werden. Neben der Darstellung der historischen Entwicklung wird ein systematischer Überblick über den aktuellen Stand der schulstatistischen Erfassung des Migrationshintergrundes in Deutschland gegeben. Aufgrund des föderalen Systems wird hierzu der Umsetzungsstand in allen Bundesländern betrachtet, Besonderheiten der von den Ländern gewählten Ansätze werden hervorgehoben. Hierauf aufbauend folgt eine Einschätzung darüber, ob und ggf. wann perspektivisch eine schulstatistische Erfassung des Migrationshintergrundes auf Bundesebene erfolgen kann. Zumindest ein Kern von gemeinsamen Migrationsmerkmalen in allen Ländern wäre die Voraussetzung für eine einheitliche Erhebung.9

8 Der Kürze halber werden wir im Folgenden die im Zusammenhang mit der Erfassung bzw. Messung von Migration (bzw. eines Migrationshintergrundes) relevanten statistischen Merkmale oder Variablen als „Migrationsmerkmale“ bezeichnen. Mit dieser Bezeichnung ist jedoch nicht gemeint, dass es hier um erfasste Eigenschaften gehe, an denen zweifelsfrei „Migrantinnen“ bzw. „Migranten“ identifiziert werden können. Im weiteren Sinne geht es hier um die statistische Sichtbarmachung der unter Schülerinnen und Schülern bestehenden natio-ethno-kulturellen Vielfalt, unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten, Geburtsorte, Familiengeschichten und transnationaler familiärer Lebenswelten, alltagssprachlicher Mehrsprachigkeit, sowie diverser Religionszugehörigkeiten etc. Diese Kontingenz reduzieren wir nachfolgend auf die Bezeichnung „Migrationsmerkmale“. Von ‚natio-ethno-kultureller Vielfalt‘ sprechen wir in Anlehnung an die Begriffsneuschöpfung der ‚natio-ethno-kulturellen Mehrfachzugehörigkeit‘ des Bildungs- und Migrationsforschers Paul Mecheril: Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethnokulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit. (Interkulturelle Bildungsforschung Bd. 13), Münster [u.a.] 2003. 9 Vgl. hierzu z.B. Kemper, Migrationshintergrund (wie Anm. 6), S. 315–326; Kemper, Zur landesspezifischen Erfassung des Migrationshintergrunds (wie Anm. 2).

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Die schulstatistische Erfassung von Migration in der Bundesrepublik Deutschland Zunächst wird für die allgemeinbildenden Schulen ein historischer Überblick über die schulstatistische Erfassung von Migration für die Bundesrepublik Deutschland gegeben, die durch das Statistische Bundesamt erfolgt und deren Ergebnisse in einer Fachserie für fortlaufende Schuljahre publiziert werden (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Schulstatistische Merkmale zur Erfassung von Migration für die Bundesrepublik Deutschland durch das Statistische Bundesamt (Schuljahre 1950/1951 bis 2015/2016, allgemeinbildende Schulen). Quelle: Für die Jahre vor 1965: Auskunft des Statistischen Bundesamtes. Die Angaben für die Jahre ab 1965 basieren auf Fachserie A, Reihe 10 des Statistischen Bundesamtes für die Jahre 1950 bis 1973, Fachserie 11, Reihe 1.1 für die Jahre 1974 bis 1975, Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für die Jahre 1976 bis 1994 sowie Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für die Schuljahre 1995/96 bis 2015/16, eigene Darstellung.

Nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die erste Schulstatistik der Bundesrepublik – basierend auf einer Vereinbarung der Kultusministerkonferenz (KMK) – für das Schuljahr 1950/ 1951 erhoben. Die Schulstatistik hat, abgesehen von ihrer Rolle für die Organisation und Verwaltung des staatlichen Bildungswesens (Personal- und Raumplanung, Lehrerausbildung, etc.) sowohl für die Bildungspolitik als auch die -forschung eine große Relevanz, da Daten der amtlichen Schulstatistik Informationen zur Grundgesamtheit der Schülerinnen und Schüler bereitstellen. Die Schulstatistik beruht insofern auf einer Vollerhebung aller Schülerinnen und Schüler (im Gegensatz zu verschiedenen stichprobenbasierten Erhebungen und Studien), was sie zu einer ausgesprochen wertvollen Datenquelle macht. Die mit einer Vollerhebung einhergehenden hohen Fallzahlen ermöglichen differenzierte sowie insbesondere auch kleinräumige Bildungsanalysen, zudem werden die schulstatistischen Daten jährlich erhoben bzw. aktualisiert. Bis zum Schuljahr 1964/1965 enthält die Schulstatistik für die Schülerinnen und Schüler an Schulen der Bundesrepublik Deutschland keine Migrationsmerkmale. Folglich bleibt sprachliche und natio-ethno-kulturelle Vielfalt un-

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sichtbar und unthematisiert. In den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten waren somit in der Schulstatistik Wanderungsbewegungen nicht repräsentiert– dies betrifft insbesondere die Kinder der Millionen aus Mittel- und Osteuropa vertriebener deutscher Staatsangehöriger und Aussiedler. Ebenso wenig gezählt wurden z.B. Kinder von Diplomatinnen und Diplomaten und Kaufleuten, Familienangehörige der Besatzungssoldaten und -soldatinnen, ebenso auch lange Zeit ansässige Einwanderergruppen wie die Ruhrpolen oder autochthone Minderheiten wie Tschechen, Dänen, Friesen, Sinti, Roma, Lausitzer Sorben oder Litauer.10 Die wenigen Informationen, die wir aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, der „Dekade diskursiver Stille“11 migrationsgesellschaftlicher Bildungsdiskurse, über natio-ethno-kulturelle Vielfalt kennen, stammen nicht aus der Schulstatistik dieser Zeit. Erstmalig seit dem Schuljahr 1965/1966 stellt die Schulstatistik ein Migrationsmerkmal bereit: die Staatsangehörigkeit. Zu dieser Zeit gab es eine erhebliche Zuwanderung durch Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten, zudem wurde die Schulpflicht auf ausländische Schülerinnen und Schüler ausgeweitet, für die das Bildungswesen und mit ihm die Schulstatistik von nun an auch zuständig war.12 Seither werden in der Schulstatistik für die allgemeinbildenden Schulen, aufgeschlüsselt nach Schulform, die Anzahl der nichtdeutschen13 Schülerinnen und Schüler nach ihrer jeweiligen Staatsangehörigkeit differenziert angegeben und zudem die Gesamtzahl der nichtdeutschen Schülerinnen und Schüler berichtet. Inwiefern die Quantität der in der Schulstatistik separat dargestellten nichtdeutschen Staatsangehörigkeiten im Verlauf der Jahre variiert, veranschaulicht Abbildung 2. Dargestellt wird die Anzahl nichtdeutscher Staatsangehörigkeiten seit 1965/1966 in zehn-Jahres-Abständen bis zum Schuljahr 2015/2016.

10 Vgl. Krüger-Potratz, Marianne: Interkulturelle Bildung: Eine Einführung. Münster 2005. S. 77. 11 Mecheril, Paul [u.a.] Migrationspädagogik. Weinheim und Basel 2010. S. 56. 12 Vgl. Paul Mecheril [u.a.], Migrationspädagogik (wie Anm. 11), S. 56. 13 In diesem Beitrag werden Schülerinnen und Schüler ohne deutsche Staatsangehörigkeit als ‚nichtdeutsche‘ Schülerinnen und Schüler bezeichnet (von anderen Autoren wird z.B. die Bezeichnung ‚ausländisch‘ präferiert). Auf den Original-Wortlaut der Schulstatistik wird an späterer Stelle eingegangen.

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Abb. 2: Anzahl der vom Schuljahr 1965/1966 bis 2015/2016 in der Schulstatistik für die Bundesrepublik Deutschland erfassten nichtdeutschen Staatsangehörigkeiten (ausgewählte Schuljahre) verglichen mit der vom Statistischen Bundesamt für das Jahr 2016 genannten Anzahl nichtdeutscher Staatsangehörigkeiten insgesamt StatBA = Statistisches Bundesamt (2016a) Quelle: Fachserie A, Reihe 10 des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 1965, Fachserie 11, Reihe 1.1 für das Jahr 1975, Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 1985, Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für die Schuljahre 1995/1996, 2005/ 2006 sowie 2015/16, sowie Statistisches Bundesamt (2016a), eigene Darstellung.14

Die Staats- und Gebietssystematik des Statistischen Bundesamtes15 nennt für den Stichtag des 1. Januar 2016 – ergänzt um vier Residualkategorien – eine Gesamtanzahl von 194 nichtdeutschen Staatsangehörigkeiten.16 Die Residualkategorien lauten: „ohne Angabe“, „ohne Bezeichnung“, „ungeklärt“ sowie „staa14 Innerhalb der jährlichen Publikationen der Fachserie 11 werden in den einzelnen Tabellen zudem unterschiedlich viele Staatsangehörigkeiten ausgewiesen. Abbildung 2 bezieht sich jeweils auf die Gesamtsumme der innerhalb der Publikation separat ausgewiesenen Staatsangehörigkeiten. 15 Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Staats- und Gebietssystematik. Wiesbaden 2016a. 16 Nicht als separate Staatsangehörigkeiten gewertet wurden die britischen Überseegebiete, die z.T. über eigene Pässe verfügen. Dieses Vorgehen wurde auch für Hongkong- und Macau-Chinesen sowie für Taiwan gewählt. Zum Vergleich geben die Vereinten Nationen eine Anzahl von insgesamt 195 Staaten – darunter 193 Mitgliedsstaaten und zwei Nicht-Mitgliedsstaaten – an. Vgl. UN – United Nations: Member States 2017a; UN – United Nations: Non-member States 2017b. Als Referenz zur in der Schulstatistik genannten Anzahl an Staatsangehörigkeiten nennt die UN somit – je nach Sichtweise – eine Anzahl von weiteren 194 bzw. 192 Staaten, die neben dem Staat Deutschland existieren.

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tenlos“.17 Erst durch diese Kategorien können alle individuellen Sonderfälle vollständig erfasst und korrekt klassifiziert werden.18 Aus einer wissenssoziologischen Perspektive haben Geoffrey Bowker und Susan Leigh Star19 – beide im Bereich der Klassifikationstheorie tätig – die besondere Bedeutung von Residualkategorien für Klassifikationssysteme erarbeitet. Laut Bowker und Star zeichnen sich Klassifikationssysteme idealerweise dadurch aus, dass sie 1.) einzig ein einheitliches und konsistentes klassifikatorisches Prinzip anwenden, in diesem Fall die Ordnung entsprechend der Staatsangehörigkeit, 2.) die Kategorien des Systems sich gegenseitig ausschließen, was im Fall der Schulstatistik dadurch erreicht wird, dass bei Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit weitere Staatsangehörigkeiten des Individuums nicht erfasst werden, und 3.) das System vollständig ist.20 Insbesondere um das dritte Kriterium der Vollständigkeit zu erfüllen, bedürfen Klassifikationssysteme – gleich welcher Art – stets mindestens einer Residualkategorie. [R]esidual categories are vital to the form and to the aesthetics of all formal systems, and their usability. They are the defining white space around a formal system’s objects, just as in art. They limn purpose, suffering, exclusion and centrality. Just as voices of the other, the subaltern, and the silenced in literature may expose a master narrative, so do residual categories expose the taken for granted and the axiomatic, in any formal system.21

Bowker und Star nennen vielfältige Gründe, die ein Objekt als residual klassifizieren. Zunächst kann das Objekt unbekannt oder zu kompliziert sein. Zudem besteht die Möglichkeit, dass es nicht eindeutig einzuordnen ist, da die möglichen Kategorien entweder unpassend oder nicht zahlreich genug sind, oder weil die Zugehörigkeit zu mehr als einer Kategorie denkbar ist. Außerdem kann das Objekt im Sinne der Tabuisierung unaussprechbar (im Original: „unspeakable“) sein. Der Ursprung der Klassifizierung kann ebenso in der Datenerfassung liegen, die eine Information eventuell unglaubwürdig erscheinen lässt. Dies kann wiederum an einer nicht sorgfältig ausgeführten Datenerfassung 17 ’Ohne Angabe’ steht für zugewanderte Personen, die keine Angaben zu Ihrer Staatsangehörigkeit machen. Unter ‚ohne Bezeichnung‘ werden „Einreisende und Zuwanderer mit Dokumenten […], die von keinem von Deutschland diplomatisch anerkannten Staat ausgestellt sind, aber dennoch zur legalen Einreise nach Deutschland berechtigen“ wie z.B. Einreisende mit palästinensischen Pässen subsumiert. Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Staats- und Gebietssystematik (wie Anm. 15), S. 3, 17–20. 18 Supik, Statistik (wie Anm. 2), S. 90–92. 19 Bowker [u.a.], Sorting (wie Anm. 1); Star, Susan Leigh u. Geoffrey C. Bowker: Enacting silence – Residual categories as a challenge for ethics, information systems, and communication. In: Ethics and Information Technology 9 (2007). S. 273–280. 20 Bowker [u.a.], Sorting (wie Anm. 1), S. 10f. 21 Star [u.a.], Enacting (wie Anm. 19), S. 275.

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oder der Tatsache liegen, dass sich das Wissenssystem zu dem Zeitpunkt im Fluss befand.22 Dieser Liste möchten wir weitere Aspekte hinzufügen: geringe Fallzahlen, steigender oder zusätzlicher Erhebungsaufwand sowie den Umstand, dass der möglichen zusätzlichen Kategorie von den Entscheidern keine oder nur eine sehr geringe Relevanz beigemessen wird. Im Vergleich zur Staats- und Gebietssystematik weist die Schulstatistik im betrachteten Zeitraum eine erheblich geringere Anzahl an erfassten Staatsangehörigkeiten auf.23 Im Schuljahr 1965/1966 berücksichtigt die Schulstatistik lediglich vier separate nichtdeutsche Staatsangehörigkeiten. Zehn Jahre später (1975/1976) werden 106 ausdifferenziert. In den nachfolgenden Jahren geht diese Zahl zurück, im Schuljahr 1995/1996 werden Informationen nur noch differenziert nach 43 nichtdeutschen Staatsangehörigkeiten dargestellt. Bis zum Schuljahr 2015/2016 steigt die Anzahl der separat erfassten nichtdeutschen Staatsbürgerschaften wieder auf 72 an. Auch bezogen auf die Anzahl der Residualkategorien zeigen sich Veränderungen über die Zeit. Während für 1965 nur eine angeführt wird, sind es 1975 sieben und in 1985 acht, in den nachfolgenden Jahrzehnten werden in der Schulstatistik ergänzend zu den verschiedenen nichtdeutschen Staatsangehörigkeiten sechs Kategorien angegeben. Seit dem Schuljahr 1975/1976 weist die Schulstatistik eine größere Menge an Residualkategorien auf als die Staats- und Gebietssystematik des Statistischen Bundesamtes. Ein Grund hierfür dürfte sein, dass die Anzahl der einzelnen Staatsangehörigkeiten geringer ausfällt als in der Staats- und Gebietssystematik des Statistischen Bundesamtes. Hieraus resultieren Klassifizierungsprobleme für diejenigen Schülerinnen und Schüler, die nicht in die vorgegebene Taxonomie passen, ein Umstand, der zusätzliche Residualkategorien erfordert. Insgesamt wird deutlich, dass die Anzahl der in der Schulstatistik separat dargestellten nichtdeutschen Staatsangehörigkeiten sowie die Anzahl der Residualkategorien z.T. erheblich zwischen den Schuljahren variieren. Als nächstes soll dargestellt werden, welche Staatsangehörigkeiten die Schulstatistik berichtet und wie die Residualkategorien im Original lauten (vgl. Tabelle 1 sowie Anhang 1).

22 Star [u.a.], Enacting (wie Anm. 19), S. 274. 23 Soweit nicht anders angegeben, basieren die nachfolgenden Informationen dieses Kapitel auf den folgenden Quellen: Fachserie A, Reihe 10 des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 1965, Fachserie 11, Reihe 1.1 für das Jahr 1975, Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 1985, Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für die Schuljahre 1995/1996, 2005/2006 sowie 2015/2016.

1

Sonstige Staaten1)

Anzahl Residualkategorien

Residualkategorien (Original-Wortlaut, Fußnoten ergänzt von den Autoren)

1985 81

1995 43

2005 70

8 übriges Afrika, übriges Amerika, übriges Asien, übriges Europa, übriges Australien und Ozeanien, Staatenlos, Ungeklärt, Ohne Angabe

7 Uebriges Afrika, Uebriges Amerika, Uebriges Asien, Uebriges Europa, Staatenlos, Ungeklaert, Ohne Angabe

6 Übriges Afrika, Übriges Amerika, Übriges Asien, Übriges Europa, Übriges Australien/ Ozeanien, Sonstige3)

6 Afrika2), Amerika2), Asien2), Australien/ Ozeanien2), Übriges Europa, Sonstige3)

afghanisch, ägyp- afghanisch, ägyp- albanisch, andorra- afghanisch, albatisch, albanisch, al- tisch, albanisch, al- nisch, belgisch, nisch, algerisch, gerisch, … gerisch, … bosnisch-herzego- amerikanisch, … winisch …

1975 106

übriges Afrika, übriges Amerika, Übriges Asien, übrigesEuropa [sic!], Übriges Ozeanien, Keine Angabe und ungeklärt4)

6

afghanisch, albanisch, algerisch, amerikanisch, …

2015 72

ndt. = nichtdeutschen * Es werden die ersten vier in alphabetischer Reihenfolge erfassten Staatsangehörigkeiten angeführt. Für 1965 sind die Angaben vollständig. Für ausgewählte Schuljahre wird in Anhang 1 ein vollständiger Überblick über die schulstatistisch erfassten nichtdeutschen Staatsangehörigkeiten gegeben. Im Original wird anstelle eines Adjektivs – damals wie heute – ein Substantiv verwendet. Z.B. werden Schülerinnen und Schüler mit türkischer Staatsangehörigkeit in der Schulstatistik 1965 unter der Überschrift „Land der Staatsangehörigkeit“ und dann „Türkei“ geführt (vgl. Anhang

griechisch, italienisch, spanisch, türkisch

1965 4

(ausgewählte) Staatsangehörigkeiten*

Anzahl der erfassten ndt. Staatsangehörigkeiten

Tab. 1: Beispiele und Anzahl der für Deutschland insgesamt schulstatistisch dargestellten nichtdeutschen Staatsangehörigkeiten sowie Anzahl und Wortlaut der Residualkategorien (ausgewählte Schuljahre zwischen 1965/1966 und 2015/2016) Quelle: Fachserie A, Reihe 10 des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 1965, Fachserie 11, Reihe 1.1 für das Jahr 1975, Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 1985, Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für die Schuljahre 1995/1996, 2005/2006 sowie 2015/2016, eigene Darstellung.

222  Thomas Kemper und Linda Supik

2; sowie im Original Fachserie A, Reihe 10 des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 1965). Im Schuljahr 2015/2016 lautet die Bezeichnung im Original „Land (Staatsangehörigkeit)“ und dann „Türkei“ (vgl. Anhang 2; sowie im Original Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für das Schuljahr 2015/2016). Zugunsten der Lesefreundlichkeit werden in der Tabelle sowie im Text die Staatsangehörigkeitsbezeichnungen der Schülerinnen und Schüler in Form von Adjektiven angeführt. 1) Im Original wird für die gemeldete Anzahl an Schülerinnen und Schülern mit Staatsangehörigkeit der „sonstige[n] Staaten“ an bayerischen Volksschulen per Fußnote ergänzt: „Darunter 3 staatenlose Schülerinnen“ (Fachserie A, Reihe 10 des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 1965, S. 64). 2) Im Sinne von Schülerinnen und Schülern mit sonstigen (d.h. nicht separat angeführten) Staatsangehörigkeiten dieses Kontinents. 3) Im Original (in Abhängigkeit von der jeweiligen Übersicht bzw. besuchten Schulform) ergänzt um die Fußnotenerläuterung „Staatenlos, ungeklärte Staatsangehörigkeit und ohne Angabe“ (Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für das Schuljahr 1995/1996, S. 73 sowie für das Schuljahr 2005/2006, S. 224f.). 4) Im Original ergänzt um die Fußnotenerläuterung „Einschl. staatenlos“ (Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für das Schuljahr 2015/2016, S. 423). Klassifikation von Migration im Wandel 

223

224  Thomas Kemper und Linda Supik

Im Jahr 1965 werden in der Schulstatistik als separate nichtdeutsche Staatsangehörigkeiten griechisch, italienisch, spanisch und türkisch angeführt. Hierbei handelt es sich um Angehörige von Staaten, mit denen zwischen den Jahren 1955 und 1961 die ersten Anwerbeabkommen für Arbeitskräfte geschlossen wurden.24 Bei Schülerinnen und Schülern dieser Staatsangehörigkeiten dürfte es sich weitestgehend um Kinder von Arbeitsmigrantinnen und -migranten handeln. Dies spiegelt sich auch in der Kapitelbezeichnung der Schulstatistik wider. Die Überschrift des Kapitels, die Informationen zu Schülerinnen und Schülern der jeweiligen nichtdeutschen Staatsangehörigkeit bereitstellt, lautete in den Jahren 1965 bis 1966 „Kinder ausländischer Arbeitnehmer“ (die Bezeichnung wurde 1967 in „ausländische Schüler nach Staatsangehörigkeit“ sowie 2000 in „ausländische Schüler/innen nach Staatsangehörigkeit“ abgeändert, vgl. hierzu im Detail Anhang 2).25 Zehn Jahre nach dem ersten Anwerbeabkommen wurde – wie bereits erwähnt – die Schulpflicht für ausländische Schüler und Schülerinnen eingeführt. Die schulstatistische Erfassung genau der vier Staatsangehörigkeiten mit den zwischenstaatlichen Anwerbeabkommen deutet auf die Vorstellung der Schulstatistikerinnen und Schulstatistiker hin, wonach jenseits der staatlich gesteuerten Migration keine nennenswerte weitere existierte. Ganz anders dann zehn Jahre später: Die Schulstatistik für das Schuljahr 1975/1976 gibt Auskunft über Schülerinnen und Schüler mit insgesamt 106 verschiedenen nichtdeutschen Staatsangehörigkeiten. Die im Vergleich zum Schuljahr 1965/1966 erheblich größere Anzahl an Staatsangehörigkeiten wird in den Publikationen des Statistischen Bundesamtes nach Kontinenten gegliedert. Zunächst wird der Kontinent genannt, dann werden alle dem Kontinent zugeordneten Staatsangehörigkeiten alphabetisch sortiert aufgeführt, weiterhin folgt die zum Kontinent zugehörige Residualkategorie, anschließend der nächste Kontinent usw.26 Entsprechend dieser Systematik werden neben den bereits im Jahr 1965 berichteten Staatsangehörigkeiten auch Informationen für die Anzahl 24 Zu ergänzen ist, dass in der Schulstatistik hingegen diejenigen Staaten unberücksichtigt bleiben, mit denen zwischen 1963 und 1965 weitere Anwerbeabkommen vereinbart wurden. Hierbei handelt es sich um die Staaten „Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965)“, bzw. um Schülerinnen und Schüler mit marokkanischer, portugiesischer und tunesischer Staatsangehörigkeit. Oltmer, Jochen: Migration im 19. und 20. Jahrhundert. (Enzyklopädie Deutscher Geschichte Bd. 86), München 2010. S. 52. 25 Bzw. vgl. im Original Fachserie A, Reihe 10 des Statistischen Bundesamtes für die Jahre 1965 bis 1966, Fachserie 11, Reihe 1.1 für die Jahre 1974 bis 1975, sowie Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für die Jahre ab 1976. 26 Für den Kontinent „Australien und Ozeanien“ wird als separate Staatsangehörigkeit lediglich „Australien“ angegeben, es wird jedoch keine Residualkategorie ergänzt. Unklar bleibt, ob tatsächlich keine z.B. neuseeländischen Staatsangehörige Schulen in der Bundesrepublik Deutschland besuchen oder diese unter australischen Schülerinnen und Schülern subsumiert

Klassifikation von Migration im Wandel 

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der Schülerinnen und Schüler z.B. mit argentinischer, australischer, chinesischer, irakischer, marokkanischer, portugiesischer und tunesischer Staatsbürgerschaft angegeben.27 Für das Schuljahr 1985 fällt neben einer kleineren Zahl an gesondert aufgeführten Staatsangehörigkeiten auf, dass eine Residualkategorie ergänzt wurde („übriges Australien und Ozeanien“). Der Schulstatistik des Schuljahres 1995/ 1996 lassen sich nur noch Fallzahlinformationen für 43 verschiedene nichtdeutsche Staatsangehörigkeiten entnehmen. Ursache ist, dass nur noch diejenigen Staatsangehörigkeiten separat dargestellt werden, die dem Kontinent Europa zugeordnet werden – schulstatistisch wird auch die Türkei Europa zugeordnet. Schülerinnen und Schülern mit einer nicht-europäischen Staatsangehörigkeit wird eine kontinentale Zugehörigkeit zugewiesen. So erfolgt neben separat dargestellten und dem Kontinent „Europa“ zugeordneten Staatsangehörigkeiten (z. B. irisch, kroatisch)- lediglich eine differenzierte Darstellung der Gesamtzahl an Schülerinnen und Schülern mit einer Staatsangehörigkeit, die den nichteuropäischen Kontinenten „Afrika“, „Amerika“, „Asien“, „Australien/Ozeanien“ sowie „Sonstige[n]“ zugeordnet wird.28 Für diese Kontinentalgruppen liegen keine konkreteren Angaben zu ihrer Staatsangehörigkeit vor (relevant etwa für tunesische Staatsangehörige). Daher lautet beispielsweise eine der Residualkategorien „Afrika“, während zuvor die Bezeichnung „übriges Afrika“ als ergänzende Kategorie zu den gesondert dargestellten Staatsangehörigkeiten verwendet wurde. Diese Änderung des Klassifikationssystems im Schuljahr 1995/1996 ist bemerkenswert. Während für die vorausgehenden Jahre kaum eine Regelmäßigkeit oder ein explizites Entscheidungskriterium für die (Nicht-)Darstellung einer bestimmten Staatsangehörigkeitsgruppe zu erkennen ist, wird hier eindeutig außereuropäische Vielfalt ausgeblendet. Anhand der Statistiken bleibt unklar, inwiefern es sich hierbei entweder um eine bewusste Entscheidung, eine weniger zentrale Absicht oder um den Nebeneffekt einer stringenteren Klassifikationssystematik – gewissermaßen eine Ausblendung der Ordnung halber – handelt. Der Ausblendung steht die nun vollständige Darstellung aller europäischen Herkünfte gegenüber, möglicherweise vor dem Hintergrund der zunehmenden europäischen Integration. Es muss nicht betont werden, dass die außereuropäische „kontinentale werden. Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bildung und Kultur – Schulen der Allgemeinen Ausbildung. Stuttgart und Mainz 1977 (Fachserie 11, Reihe 1.1, 1975). Z.B. S. 25. 27 Vgl. Anhang 2. 28 Zum Beispiel: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bildung und Kultur – Allgemeinbildende Schulen. Stuttgart und Mainz: Kohlhammer 1996 (Fachserie 11, Reihe 1, Schuljahr 1995/96). S. 72. Vgl. auch Anhang 2.

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Herkunft“ so gut wie keinen Informationsgehalt birgt. Die Herkunft „Asien“ (hier, wie erwähnt, ohne die Türkei) reicht vom Libanon bis Japan, und „Amerika“ von Kanada bis Chile. Zum Zeitpunkt dieser Klassifikationsänderung ist in Deutschland wie international die Globalisierungsdebatte in vollem Gange, globale Vernetzung nimmt stark zu und damit einhergehend ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass die Welt immer kleiner wird.29 Die deutsche Schulstatistik scheint von solchen Entwicklungen eher unberührt und vollzieht faktisch eine eurozentrische Wende, indem sie alle übrigen Staaten der Welt als residual definiert und damit im Wortsinne als unbedeutenden ‚Rest‘ klassifiziert. Im Schuljahr 2005/2006 wurden wieder weitergehende Differenzierungen vorgenommen, was sich u.a. an der Zahl von 69 separat berücksichtigten Staatsangehörigkeiten und der Bezeichnung der Residualkategorien (z.B. „Übriges Afrika“) ablesen lässt. Es werden wieder ausgewählte separate Staatsangehörigkeiten erfasst, die zuvor den Kontinenten „Afrika“, „Amerika“, „Asien“ sowie „Australien/Ozeanien“ zugeordnet wurden, z.B. werden in besagtem Schuljahr Angaben zur Anzahl afghanischer, äthiopischer oder brasilianischer Schülerinnen und Schüler gemacht. Bis zum Schuljahr 2015/2016 steigt die Summe der berichteten Staatsangehörigkeiten aufgrund der im Zuge der Balkankriege entstandenen neuen europäischen Staaten leicht an. Im Rahmen der Schulstatistik wurden zusätzlich die Staatsangehörigkeiten der mittlerweile unabhängigen – bzw. von der Bundesrepublik Deutschland als unabhängig anerkannten – Staaten Montenegro und Kosovo berücksichtigt. In 2005/2006 wurden die Staatsangehörigkeiten serbisch und montenegrinisch zusammen sowie kosovarisch nicht erfasst. Auch wenn wir mögliche andere Gründe nicht ausschließen können, resultieren die „kontinentalen“ Residualkategorien wahrscheinlich aus der Entscheidung, dass differenzierteres Wissen nicht benötigt wird. Daneben bestehen die Residualkategorien, für die die Information tatsächlich fehlt. Ab 1975 wurden diese zunächst in drei separaten Kategorien erfasst – und zwar für Schülerinnen und Schüler, die entweder als staatenlos gelten, deren Staatsangehörigkeit ungeklärt ist oder für die keine Angaben hierzu vorliegen. Seit 1995 werden sie in nur einer Kategorie zusammengefasst: In 1995 und 2005 lautete die Bezeichnung „Sonstige“ mit ergänzendem Fußnotenhinweis, dass die Kategorie sowohl staatenlose Schülerinnen und Schüler, als auch diejenigen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit und ohne Angabe beinhaltet. In

29 Debiel, Tobias: Handbucheintrag ‚Globale Entwicklung‘. In: Wörterbuch Staat und Politik. Hrsg. von Dieter Nohlen. München 1991. S. 233.

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227

2015 lautete sie „Keine Angabe und ungeklärt“, ergänzt um den Fußnotenhinweis, dass die Kategorie auch Staatenlose einschließe. Abschließend soll auf die Differenz zwischen der Staatsangehörigkeitsanzahl im Schuljahr 2015/2016 und dem Schuljahr mit der höchsten Anzahl separater Staatsangehörigkeiten (1975/1976) eingegangen werden.30 So wurden in 1975 insgesamt 44 Staatsangehörigkeiten erfasst, die in der Schulstatistik für 2015 nicht mehr separat berücksichtigt werden – hierunter fallen z.B. die chinesische, eritreische oder irakische Staatsangehörige. Verglichen mit der Gebietssystematik des Statistischen Bundesamtes31 werden in der Schulstatistik des Schuljahres 2015/2016 122 Staatsangehörigkeiten nicht erfasst (vgl. Abb. 2; sowie auch Anhang 1). Angenommen werden kann, dass die Schulstatistik nur diejenigen anführt, von denen mindestens ein Lernender eine allgemeinbildende Schule in Deutschland besucht. Prinzipiell könnte ein Grund für das Variieren der Staatsangehörigkeiten sein, dass diese nicht unter den Schülerinnen und Schülern im deutschen Schulsystem vertreten sind. Wahrscheinlicher erscheint hingegen die Tatsache, dass nicht alle Staatsangehörigkeiten von Schülerinnen und Schülern, die faktisch eine Schule in Deutschland besuchen, eigens erfasst werden. Selbst Gruppen, die in den Statistiken des Ausländerzentralregisters hohe Fallzahlen aufweisen,32 werden z.T. nicht explizit in den Schulstatistiken berichtet – exemplarisch seien chinesische, irakische oder eritreische Staatsangehörige genannt. Die beiden zuerst genannten gehören im Jahr 2015 sogar zu den 25 am häufigsten in der Bevölkerung Deutschlands vertretenen Staatsangehörigkeitsgruppen.33 Die unzureichende Berücksichtigung in der Schulstatistik drückt sich auch in einer z.T. sehr hohen Zahl von Schülerinnen und Schülern in Residualkategorien aus. Die quantitativ große Gruppe von Schülerinnen und Schülern mit chinesischer Staatsangehörigkeit beispielsweise wird bis 2015/ 2016 nicht separat erfasst, sondern unter der Herkunft „übriges Asien“ subsumiert. Eine Folge der unzureichenden Ausdifferenzierung ist, dass mehr als 40.000 Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen in Deutsch30 Vgl. Anhang 1. Dort werden diejenigen Staatsangehörigkeiten im Schuljahr 1975/1976 kursiv gedruckt, die im Schuljahr 2015/2016 nicht mehr berichtet werden. Der Vergleich berücksichtigt nur diejenigen, die in beiden Jahren faktisch existierten. Daraus folgt, dass bei diesem Vergleich Staatsangehörigkeiten wie jugoslawisch, sowjetisch oder tschechoslowakisch unberücksichtigt bleiben, da diese zwar 1975, nicht aber 2015 existierten. 31 Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Staats- und Gebietssystematik (wie Anm. 15). 32 Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Ausländische Bevölkerung – Ergebnisse des Ausländerzentralregisters 2015. Wiesbaden 2016b (Fachserie 1, Reihe 2). Eigene Berechnung. 33 Vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit (wie Anm. 32).

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land in der genannten Residualkategorie zusammengefasst werden. Hingegen werden andere Staatsangehörigkeiten, die nur relativ kleine Fallzahlen aufweisen, in der Schulstatistik separat ausgewiesen. Konkret genannt seien hier die Gruppen z.B. andorranischer, liechtensteinischer, neuseeländischer sowie sanmarinesischer Schülerinnen und Schüler, die Fallzahlen von jeweils nur weniger als 100 aufweisen.34 Insgesamt erscheinen die Kriterien für die Auswahl der schulstatistisch separat dargestellten Staatsangehörigkeiten über fünf Jahrzehnte hinweg unklar, zumindest sind diese nicht (ausschließlich) fallzahlbasiert. Mögliche Ursachen für die selektive Darstellung der Staatsangehörigkeiten können etwa die Komplexität und der Aufwand für die Erfassung und Abfrage der Daten in den Bundesländern sein. Zudem stellt die Schulstatistik auf Bundesebene quasi den kleinsten gemeinsamen Nenner der verschiedenen Schulstatistiken auf Landesebene dar: Daraus folgt, dass wenn ein Bundesland nicht alle Staatsangehörigkeiten erfassen sollte, diese i.d.R. auch nicht in der Fachserie des Statistischen Bundesamtes angeführt werden.35 Platzgründe im Rahmen der schulstatistischen Publikation können ebenfalls zu einer weniger komplexen Erfassung der Staatsangehörigkeit von Schülerinnen und Schülern durch das Statistische Bundesamt führen. Denn allein das Kapitel, das über differenzierte Angaben für die Teilmenge der Staatsangehörigkeiten – in Kombination mit dem Bundesland, der besuchten Schulform und unter Berücksichtigung des Geschlechts der Lernenden berichtet, nimmt mehr als 100 Seiten in der Publikation ein.36 Die genauen Ursachen für die unzureichend differenzierte Erfassung können im Rahmen dieses Beitrages nicht abschließend geklärt werden. Eine Konsequenz ist allerdings, dass durch die fehlende separate Erfassung die (öffentliche) Wahrnehmung erschwert wird.37 Bezogen auf die vorhergehenden Ergebnisse bedeutet dies, dass keine Aussagen zur genauen Anzahl sowie zur schulischen Situation von Schülerinnen und Schülern mit einer nicht separat dargestellten Staatsangehörigkeit möglich sind. Dementsprechend bleiben mögliche Erfolge, Misserfolge oder Benachteiligungen etwa hinsichtlich des Schulformbesuchs verborgen. Dies betrifft u.a. eritreische, irakische oder chinesische Schülerinnen und Schüler im deutschen Schulsystem, die von der Schulstatistik unberücksichtigt bleiben. Diese könnten jedoch eine besondere Relevanz 34 Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bildung und Kultur – Allgemeinbildende Schulen. Wiesbaden 2016 (Fachserie 11, Reihe 1, Schuljahr 2015/16), eigene Berechnung. 35 Kemper, Zur landesspezifischen Erfassung des Migrationshintergrunds (wie Anm. 2). 36 Laut Auskunft des Statistischen Bundesamtes liegen dem Amt keine weiter differenzierten Informationen bzw. Daten nach Staatsangehörigkeit der Schülerinnen und Schüler vor. Statistisches Bundesamt, Bildung und Kultur (wie Anm. 34), S. 316–423. 37 Supik, Statistik (wie Anm. 2), S. 90–92.

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haben – sei es, da sie z.T. quantitativ große Gruppen darstellen oder da ein öffentliches Interesse daran bestehen könnte, welche Schulformen von Schülerinnen und Schülern besucht werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Fluchthintergrund aufweisen. In jedem Falle ist diesbezüglich nur eine unvollständige Analyse der Bildungssituation möglich. (Nicht-)Repräsentation in der amtlichen Statistik kann folglich Auswirkungen auf Bildungs- und damit gesellschaftliche Teilhabechancen haben.

Die schulstatistische Erfassung von Migration in den Bundesländern im 21. Jahrhundert Infolge des bildungspolitischen Föderalismus in Deutschland können sich die Schulstatistiken sowie die schulstatistisch erfassten Merkmale zwischen den Bundesländern unterscheiden. In diesem Kapitel wird die historische Entwicklung der schulstatistischen Erfassung von Migration in den Ländern nachgezeichnet. Zuvor werden kurz Entwicklungen skizziert, die verdeutlichen, warum die ausschließliche Berücksichtigung der Staatsangehörigkeit nicht mehr ausreicht und weshalb es hieraus resultierend erforderlich war, zusätzliche Migrationsmerkmale bzw. einen ‚Migrationshintergrund‘ von Schülerinnen und Schüler zu erheben. Zunächst sind Änderungen im Staatsangehörigkeitsrecht zu nennen, die für die zukünftige Erfassung von Migration anhand des alleinigen Merkmals der Staatsangehörigkeit erhebliche Konsequenzen hatten.38 Nach den Bedingungen von § 4 des Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG) wurde ab dem 1. Januar 2000 in Deutschland geborenen Kindern nichtdeutscher Eltern vermehrt temporär eine doppelte Staatsangehörigkeit verliehen gemäß der sogenannten und inzwischen rückgängig gemachten „Optionsregelung“. Schülerinnen und Schüler mit einer doppelten Staatsangehörigkeit werden in der Schulstatistik, die nur das Merkmal der ersten Staatsangehörigkeit berücksichtigt, als Deutsche erfasst. Die vermehrte zusätzliche Verleihung einer deutschen Staatsangehörigkeit hat erhebliche schulstatistische Auswirkungen. Hierauf verweist z.B. der Anteil nichtdeutscher Grundschülerinnen und -schüler auf Bundesebene: Zwischen 1995 bis 2001 steigt dieser von 10,1 % auf 12,1 % an, in den Folgejahren bis 2012 sinkt er auf 6,4 %.39 Für den Zeitraum zwischen 2001 und 2012 ist auch für die

38 Vgl. hierzu ausführlich z.B. Kemper, Bildungsdisparitäten (wie Anm. 2) Kapitel 3. 39 Kemper, Bildungsdisparitäten (wie Anm. 2), S. 180f.

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einzelnen Bundesländer ein z.T. erheblicher Rückgang des Anteils nichtdeutscher Grundschülerinnen und -schülern zu beobachten.40 Dem in diesem Zeitraum sinkenden Nichtdeutschenanteil steht gegenüber, dass der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund im Zeitverlauf kontinuierlich ansteigt.41 Dies verdeutlicht, dass die Staatsangehörigkeit als alleiniges Merkmal zur Erfassung von Migration nicht ausreicht. Aufgrund der unzureichenden Erfassung von Migration kam es bereits gegen Ende der 1990er Jahre zur wissenschaftlichen Entwicklung des Begriffs ‚Migrationshintergrund‘. Der Begriff fand erstmalig im zehnten Kinder- und Jugendbericht Verwendung, als Erfinderin des Begriffs wird zumeist Professorin Ursula Boos-Nünning genannt.42 Populär wurde der Begriff insbesondere durch die seit 2000 durchgeführten PISA-Studien sowie durch den Mikrozensus ab dem Jahr 2005. Auf die Definitionen und Operationalisierungen soll nur knapp eingegangen werden. Unter dem Zusatz ‚mit Migrationshintergrund‘ verstehen die PISA-Studien bis heute primär diejenigen Schülerinnen und Schüler, von „denen mindestens ein Elternteil nicht in Deutschland geboren wurde.“43 Hingegen hat im Mikrozensus eine Person einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst „oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt.“44 Historische Darstellungen werden häufig in Perioden eingeteilt. Unser klassifikationshistorischer Vorschlag wäre, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts die 40 Kemper, Bildungsdisparitäten (wie Anm. 2), S. 183f. 41 Geißler, Rainer; Weber-Menges, Sonja: Migrantenkinder im Bildungssystem: doppelt benachteiligt. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 58 (2008) 49. S. 14–22. Gresch, Cornelia u. Cornelia Kristen: Staatsbürgerschaft oder Migrationshintergrund? Ein Vergleich unterschiedlicher Operationalisierungsweisen am Beispiel der Bildungsbeteiligung. In: Zeitschrift für Soziologie 40 (2011) 3. S. 208–227. 42 Stošić, Patricia: Kinder mit ‚Migrationshintergrund‘. Reflexionen einer (erziehungs )wissenschaftlichen Differenzkategorie. In: Differenz – Ungleichheit – Erziehungswissenschaft. Verhältnisbestimmungen im (Inter)Disziplinären. Hrsg. von Isabell Diehm [u.a.]. Wiesbaden 2017. S. 81–99, Supik, Statistik (wie Anm. 2). 43 Baumert, Jürgen u. Gundel Schümer: Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb. In: PISA 2000. Hrsg. von Jürgen Baumert. Opladen 2001. S. 341. Vgl. auch Stošić, Kinder (wie Anm. 42). Auch wenn sich die Operationalisierung nicht verändert hat, so kam es zu einem Begriffswechsel: Seit 2012 verwenden die PISA-Studien den Begriff ‚mit Zuwanderungshintergrund‘; Vgl. Gebhardt, Markus [u.a.]: Mathematische Kompetenz von Schülerinnen und Schülern mit Zuwanderungshintergrund. In: PISA 2012 – Fortschritte und Herausforderungen in Deutschland. Hrsg. von Manfred Prenzel. [u.a.]. Münster 2013. S. 275–308. 44 Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2015. Wiesbaden 2017 (Fachserie 1 Reihe 2.2). S. 4.

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Periode der „Ausländer“-Erfassung – wenn auch erst allmählich – von derjenigen der Erfassung des „Migrationshintergrundes“ abgelöst wird. Die Definition bzw. wissenschaftliche Konstruktion eines Migrationshintergrundes sowie die verschiedenen Operationalisierungen des Begriffes wurden nach der Jahrtausendwende notwendig, da sich die Erfassung von Migration anhand des alleinigen Merkmals der Staatsangehörigkeit in der Schulstatistik als unzulänglich erwies.45 In der Folge erheben mehrere Bundesländer ergänzende schulstatistische Migrationsmerkmale, anhand derer ein weiter gefasster Migrationshintergrund gebildet werden kann. Als nächstes soll untersucht werden, wann die Länder diese Merkmale einführten. Hierzu wurden Anfragen an die Statistischen Landesämter sowie z.T. auch an die Kultusministerien gestellt. Abgefragt wurden die in den Schulstatistiken der jeweiligen Länder verwendeten Migrationsmerkmale sowie weiterhin, ob die landesspezifischen Migrationsmerkmale mit der Definition des Migrationshintergrundes gemäß Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) kompatibel sind. Ein Migrationshintergrund liegt laut KMK dann vor, wenn „mindestens eines der folgenden Merkmale zutrifft: 1. Keine deutsche Staatsangehörigkeit, 2. Nichtdeutsches Geburtsland, 3. Nichtdeutsche Verkehrssprache in der Familie bzw. im häuslichen Umfeld (auch wenn der Schüler/die Schülerin die deutsche Sprache beherrscht).“46 Die Ergebnisse der Abfrage sind in Abbildung 3 dargestellt.

45 Der Anteil der 5- bis 10-Jährigen mit Migrationshintergrund (im engeren Sinne) stieg laut Mikrozensus von 29 % im Jahr 2005 auf 35,6 % im Jahr 2015 (Statistisches Bundesamt 2009, 2017, eigene Berechnung). Der Anteil nichtdeutscher Grundschülerinnen und Grundschüler fiel hingegen von 11,2 % im Schuljahr 2005/06 auf 8,4 % im Jahr 2015/16 (Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für die Schuljahre 2005/2006 und 2015/2016). 46 KMK – Kultusministerkonferenz: Definitionenkatalog zur Schulstatistik 2015. S. 30f. In diesem Beitrag liegt der Fokus auf den drei Migrationsmerkmalen Staatsangehörigkeit, Verkehrssprache und Geburtsland. Zwar wird in mehreren Bundesländern zudem das Zuzugsjahr von Schülerinnen und Schülern erfasst. Dieses stellt jedoch kein eigenständiges Merkmal zur Messung von Migration dar, da für die im Ausland Geborenen – zusätzliche und analytisch wichtige – Informationen ergänzt werden.

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Migrationshintergrund*

Abb. 3: Die schulstatistische Erfassung von Migration auf Landesebene durch die Statistischen Landesämter (Schuljahre 1965/66 bis 2015/16, allgemeinbildende Schulen) NDHS = Nichtdeutsche Herkunftssprache * ‚Migrationshintergrund‘ gemäß eigener Definition oder in Anlehnung an KMK (2015) und hiermit einhergehende Erfassung von ergänzenden – d.h. über die Staatsangehörigkeit hinausgehenden – Migrationsmerkmalen. Quelle: Auskunft der Statistischen Landesämter und z.T. auch der Kultusministerien, eigene Recherche und Darstellung.

Die Staatsangehörigkeit von Schülerinnen und Schülern an allgemeinbildenden Schulen wird in den Bundesländern schulstatistisch spätestens seit dem Schuljahr 1965/1966 erhoben und seither für alle Schuljahre in den Schulstatistiken des Statistischen Bundesamtes ausgewiesen. Seit Mitte der 1990er Jahre gibt es auf Landesebene schulstatistische Ansätze, Migration nicht nur über die Staatsangehörigkeit zu erfassen. Ein Konzept, das nur vorübergehend Bedeutung erlangte und daher nicht in die Abbildung aufgenommen wurde, ist der (Spät-)Aussiedlerstatus. Damit konnten auch diejenigen eingewanderten Schülerinnen und Schüler statistisch sichtbar gemacht werden, die unmittelbar nach Einreise als sogenannte „Deutschstämmige“ die deutsche Staatsangehörigkeit erhielten. Laut Auskunft der Statistischen Landesämter wurde der (Spät-)Aussiedlerstatus erstmals in Bayern im Schuljahr 1980/1981 erfasst. Die meisten Länder haben mit dem verstärkten Zuzug von (Spät-)Aussiedlern damit begonnen, einen (Spät-)Aussiedlerstatus der Schülerinnen und Schüler ab 1989 bis Anfang der 1990er Jahre abzufragen. Einzelne Länder wie z.B. Niedersachsen, in dem neben den anderen großen Flächenländern Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hessen die meisten Aussiedler leben, haben diese Information schulstatistisch noch nie erhoben.47 Sieben Länder haben die Erhebung dieser Information eingestellt, fünf hiervon zwischen den

47 Worbs, Susanne [u.a.]: Spätaussiedler in Deutschland. Eine Analyse aktueller Daten und Forschungsergebnisse. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2013. S. 99.

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233

Schuljahren 2011/2012 und 2014/2015. Insgesamt scheint es, als verlöre die Dokumentation des (Spät-)Aussiedlerstatus im Zuge sowohl der zurückgehenden Zuwanderung von (Spät-)Aussiedlern als auch im Zusammenhang mit der Berücksichtigung eines umfassenderen Migrationshintergrundes in der Schulstatistik an Relevanz. Im Schuljahr 2015/2016 erheben nur noch drei Bundesländer einen (Spät-)Aussiedlerstatus. Alle anderen Länder erfassen diesen nicht mehr oder haben es noch nie getan. Seit dem Schuljahr 1996/1997 erhebt Berlin zusätzlich die ‚nichtdeutsche Herkunftssprache‘ der Schülerinnen und Schüler – auf die noch genauer eingegangen wird.48 Die Verwendung einer komplexeren Operationalisierung des Migrationshintergrundes setzt, wie bereits geschildert, die Erhebung weitergehender Migrationsmerkmale voraus, die über das ausschließliche Merkmal der Staatsangehörigkeit hinausgehen (vgl. Abbildung 3). Entsprechende Ansätze der Statistischen Landesämter Migration differenzierter zu erfassen sind seit Mitte der 2000er-Jahre zu erkennen – beginnend mit Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2004/2005, in Bayern in 2005/2006 sowie in sieben weiteren Ländern innerhalb der drei darauffolgenden Schuljahre. In den Schuljahren 2010/2011 und 2013/ 2014 folgen Bremen und Baden-Württemberg, ab 2015/2016 erhebt Thüringen erstmals detaillierte Migrationsinformationen.49

48 In Berlin wird die Staatsangehörigkeit als separates Merkmal in der Aggregatstatistik erhoben, dieses lässt sich technisch bedingt aber nicht mit dem Merkmal der nichtdeutschen Herkunftssprache verknüpfen. 49 Allerdings sind die Daten nach Selbstauskunft der Statistischen Landesämter z.T. erst nach mehreren Erhebungen (bzw. Jahren) als valide anzusehen und daher erst mit zeitlicher Verzögerung sinnvoll auszuwerten.

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Abb. 4: Systematisierung der Erfassung des Migrationshintergrundes in den Ländern (für das Schuljahr 2014/2015) * gemäß eigener – vom KMK-Beschluss abweichender – Definition von ‚Migration‘; ** zur Operationalisierung eines vom KMK-Beschluss z.T. erheblich abweichenden Migrationshintergrundes. Quelle: Kemper, Zur landesspezifischen Erfassung des Migrationshintergrunds (wie Anm. 2), Abbildung 1 (leicht angepasst).

Der aktuelle Stand der verschiedenen Ansätze der Länder, Migration zu messen und ggf. einen Migrationshintergrund zu konstruieren, wird nachfolgend systematisiert.50 In diesem Zusammenhang wird auch dargestellt, ob die Migrationsmerkmale in den Ländern separat oder nur zusammengefasst abgefragt werden. Dieser Aspekt tangiert die Frage nach der Struktur der statistischen Datenerfassung, d.h. ob in den Ländern Aggregatdaten oder bereits Individualdaten erhoben werden. Letztere erfassen die erhobenen Merkmale gesondert für jede einzelne Person, erstere geben lediglich aggregierte Informationen zu Schülerinnen und Schülern wieder – z.B. wird auf Klassenebene darüber informiert, wie viele Schülerinnen und Schüler insgesamt eine Klasse besuchen und wie viele hiervon einen Migrationshintergrund haben. Unter den sieben Ländern, deren Schulstatistiken bisher auf Aggregatdaten basieren, sind verschiedene Entwicklungslinien erkennbar. Drei Länder, Nieder-

50 Vgl. Abb. 4, eine detaillierte Darstellung der einzelnen in den Ländern erhobenen Migrationsmerkmale erfolgt in: Kemper, Zur landesspezifischen Erfassung des Migrationshintergrunds (wie Anm. 2).

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sachsen, Saarland und Sachsen-Anhalt, erfassen bis heute als einziges valides Migrationsmerkmal die Staatsangehörigkeit der Schülerinnen und Schüler. Die baden-württembergische Schulstatistik stellt einen Sonderfall dar, da diese im Aggregat – d.h. auf Schulebene – einen Migrationshintergrund gemäß KMK-Definition erhebt. Die Migrationsmerkmale sind allerdings zusammengefasst. Somit ist schulstatistisch lediglich nachvollziehbar, ob ein Migrationshintergrund vorliegt oder nicht – es sind jedoch keine separaten Informationen zu den Einzelmerkmalen, wie etwa zum Geburtsland, vorhanden. Drei weitere Länder haben sich für die aggregierte Erfassung eines eigenen, von der KMKDefinition z.T. deutlich abweichenden Migrationshintergrundes entschieden; auf die genauen Definitionen wird noch eingegangen. Insgesamt sind die schulstatistischen Informationen nur für ein Land – nämlich Baden-Württemberg –, das schulstatistische Aggregatdaten erhebt, kompatibel zur Migrationshintergrund-Definition der KMK. Für die drei Länder, die anhand von Aggregatdaten eine eigene Definition des Migrationshintergrundes erfassen sowie für die drei Länder mit dem einzigen Migrationsmerkmal der Staatsangehörigkeit ist nicht bekannt, wann diese einen Migrationshintergrund gemäß KMK-Beschluss erheben werden. Die Planungen und der Umsetzungsstand sind als heterogen und unkonkret einzuschätzen: Die Spannweite reicht laut Selbstauskunft der Statistischen Landesämter und/oder Kultusministerien von einer in den nächsten Jahren geplanten Umsetzung der KMK-Migrationsmerkmale, die auch eine Umstellung der Statistik auf Individualdaten erfordert (z.B. Berlin), bis hin zur Aussage, dass derzeit „weder eine Umstellung auf eine Erhebung von Schülerindividualdaten noch eine (erneute) veränderte Erfassung der Zuwanderungsgeschichte geplant“ seien.51 Im Schuljahr 2014/2015 erfassen acht Länder schulstatistische Individualdaten, sowie Thüringen ab 2015/2016. Alle Länder, die Individualdaten erheben, berücksichtigen die Migrationsmerkmale Staatsangehörigkeit, Verkehrssprache und Geburtsland gemäß des KMK-Beschlusses. Vier Länder erheben darüber hinaus individualdatenstatistisch zusätzliche Migrationsmerkmale, um entweder einen weiter gefassten Migrationshintergrund oder zum Teil auch ein gänzlich abweichendes Konzept des Migrationshintergrunds realisieren zu können. Exemplarisch seien die 2. Staatsangehörigkeit, ein Spätaussiedlerstatus oder die Muttersprache genannt.52 Aufschlussreich ist bereits an dieser Stelle der Hinweis, dass sich selbst für Länder, die anhand von Individualdaten Migrationsmerkmale gemäß KMK-Be51 Antwortmail des MSW NRW vom 19.08.2015. 52 Vgl. hierzu im Detail: Kemper, Zur landesspezifischen Erfassung des Migrationshintergrunds (wie Anm. 2). Zudem wird hierauf noch vertiefend für Hamburg eingegangen.

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schluss erheben, z.T. Unterschiede in der Operationalisierung des Migrationshintergrundes gemäß des KMK zeigen, wenn neben der 1. auch die 2. Staatsangehörigkeit abgefragt wird. Hamburg und Hessen berücksichtigen beide Staatsangehörigkeiten, d.h. ein Migrationshintergrund liegt vor, wenn entweder die Verkehrssprache oder das Geburtsland nicht Deutsch bzw. Deutschland sind, aber auch dann, wenn entweder die 1. oder die 2. Staatsangehörigkeit nichtdeutsch ist. Hierdurch fällt der Anteil derjenigen mit Migrationshintergrund etwas höher aus. Bremen erfasst zwar auch die 2. Staatsangehörigkeit, in dem Land liegt jedoch nur dann ein Migrationshintergrund vor, wenn die 1. Staatsangehörigkeit nichtdeutsch ist oder eine nichtdeutsche Verkehrssprache oder ein nichtdeutsches Geburtsland vorliegt, die 2. Staatsangehörigkeit bleibt hingegen unberücksichtigt. Diese Vorgehensweise entspricht dem Verständnis der KMK, welches auf Nachfrage präzise dargelegt wird: Ein „Migrationshintergrund liegt vor, wenn keine deutsche Staatsangehörigkeit vorhanden ist. D.h. das[s] Schülerinnen und Schüler, die zwei Staatsangehörigkeiten haben und eine davon deutsch ist, gemäß Definition keinen Migrationshintergrund haben, außer sie haben ein nichtdeutsches Geburtsland oder in der Familie ist die Verkehrssprache nicht deutsch.“53 Diese Definition ist auch deshalb sinnvoll, da so die Ergebnisse gegenüber denjenigen Ländern vergleichbar bleiben, die nur eine – bzw. die 1. – Staatsangehörigkeit erfassen. Auch an dieser Stelle wird die Notwendigkeit einer einheitlichen Umsetzung der KMK-Definition ersichtlich. Zudem ist bekannt, dass auch Variationen in der Abfrage des Merkmals der Verkehrssprache54 festgestellt werden können.55 Für Bayern ist zudem zu berichten, dass das Land bis Ende dieses Jahrzehnts einen Wechsel von der Verkehrssprache zur Muttersprache vollziehen wird – somit entfernt sich das Land wieder von den Vorgaben der KMK, obwohl Bayern zuvor bereits alle Migrationsmerkmale gemäß KMK erfasst hat.56 Einen von besonderer Heterogenität geprägten Fall der Erfassung von Migration innerhalb der einzelnen Länder stellt Hamburg dar. Auf diesen soll ex-

53 Antwortmail der KMK vom 28.09.2015. 54 Ohne die Thematik im Rahmen dieses Beitrags ausführlich darstellen zu können, sei hier darauf hingewiesen, dass die Bedeutung von Sprache gerade (aber nicht nur) im Bildungskontext unstrittig ist. Die beim Konzept der Verkehrssprache erzwungene Festlegung auf genau eine Sprache verzerrt unter Umständen die Wirklichkeit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit. Vgl. Fürstenau, Sara: Mehrsprachigkeit als Voraussetzung und Ziel schulischer Bildung. In: Migration und schulischer Wandel. Mehrsprachigkeit. Hrsg. von Sara Fürstenau u. Mechtild Gomolla. Wiesbaden 2011. S. 25–46. 55 Kemper, Zur landesspezifischen Erfassung des Migrationshintergrunds (wie Anm. 2), S. 10ff. 56 Kemper, Zur landesspezifischen Erfassung des Migrationshintergrunds (wie Anm. 2), S. 10ff.

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emplarisch eingegangen werden: In Hamburg werden sogar mehrere Operationalisierungen des Migrationshintergrundes und verschiedene Begrifflichkeiten innerhalb desselben Bundeslandes verwendet (vgl. Tabelle 2). Tab. 2: Bezeichnungen und Operationalisierungen zur schulstatistischen Erfassung von Migration bzw. des Migrationshintergrundes in Hamburg (Schuljahr 2014/2015) Quelle: BSB, 2014, S. 125f.; zudem: Auskunft des IfBQ (Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung). Bezeichnung

Definition sowie zur Operationalisierung verwendete Merkmale*

Staatsangehörigkeit SuS hat keine deutsche Staatsangehörigkeit, Aussiedlerstatus oder die überwiegend zu Hause gesprochene Sprache (Verkehrssprache) ist nicht Deutsch Migrationshintergrund (angelehnt an die 1. und 2. Staatsangehörigkeit, VerkehrsKMK-Definition) sprache, Geburtsland des Schülers / der Schülerin Migrationshintergrund (angelehnt an die Geburtsland und Staatsangehörigkeit(en) des Definition des Mikrozensus bzw. des Statisti- Schülers / der Schülerin sowie der ‚Sorgebeschen Bundesamtes) rechtigten‘** * Die Merkmalsnamen sind kursiv gedruckt. ** Die Informationen zu den Sorgeberechtigten werden erst im Schuljahr 2017/2018 vollständig verpflichtend erfasst.

Staatsangehörigkeit Migrationshinweis

In Hamburg existieren verschiedene Bezeichnungen und Operationalisierungen, die etwa in Bildungsberichten oder schulstatistischen Publikationen verwendet werden, um Migration bzw. einen Migrationshintergrund schulstatistisch zu messen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Hamburg die Staatsangehörigkeit im Rahmen der dann wieder erhobenen Schulstatistik erfasst. Ab dem Jahr 2008 wurden zudem Informationen über einen möglichen ‚Migrationshinweis‘ von Schülerinnen und Schülern bereitgestellt. Hintergrund ist, dass es für „die Hamburger Bildungsberichte 2009 und 2011 […] noch keine verlässlichen Zahlen zum Migrationshintergrund [gab]. Deshalb wurde mit dem Ersatzmerkmal ‚Migrationshinweis‘ gearbeitet […]. Ein Migrationshinweis liegt vor, wenn mindestens eines der folgenden Merkmale zutrifft: a) Die Schülerin/der Schüler hat keine deutsche Staatsangehörigkeit, b) die Schülerin/der Schüler hat Aus-

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siedlerstatus, c) die überwiegend zu Hause gesprochene Sprache ist nicht Deutsch.“57 Die zur Operationalisierung des ‚Migrationshintergrundes‘ (gemäß KMK) erforderlichen Merkmale werden zwar seit dem Schuljahr 2008/2009 erhoben, allerdings wurde das Merkmal Geburtsland als noch nicht valide eingeschätzt. Die Merkmale werden in den Schulen erst seit dem Schuljahr 2012/2013 verpflichtend gesammelt, laut Auskunft des Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) gilt in Hamburg der an die KMK angelehnte ‚Migrationshintergrund‘ in Abhängigkeit von der Schulstufe spätestens seit dem Schuljahr 2015/2016 als valide. Anhand von Informationen zu Geburtsland und Staatsangehörigkeit(en) der Schülerin bzw. des Schülers sowie der ‚Sorgeberechtigten‘ wird seit dem Schuljahr 2013/2014 zudem ein ‚Migrationshintergrund‘ in Anlehnung an die Definition des Mikrozensus gebildet: „Ausgehend von den in der Schulstatistik verfügbaren Merkmalen hat eine Schülerin bzw. ein Schüler dann einen Migrationshintergrund, wenn mindestens eines der folgenden Merkmale zutrifft: a) Die Person ist nicht in Deutschland geboren, b) sie hat eine nicht deutsche Staatsangehörigkeit, c) einer der Sorgeberechtigten ist nicht in Deutschland geboren, d) einer der Sorgeberechtigten hat eine nicht deutsche Staatsangehörigkeit.“58 Die Zahlen (und Anteile) derjenigen mit Migrationshintergrund in Anlehnung an den Mikrozensus fallen höher aus, da – im Gegensatz zur Definition der KMK wie beim ‚Migrationshinweis‘ – Informationen zum Migrationsstatus der Sorgeberechtigten berücksichtigt werden. In offiziellen Publikationen wie z.B. dem Hamburger Bildungsbericht wird die Operationalisierung in Anlehnung an den Mikrozensus präferiert. Die KMK-Operationalisierung hat für Hamburg insofern weiterhin Relevanz, um anschlussfähig an die KMK-Vorgaben zu bleiben und um die Daten potenziell mit denen anderer Bundesländer vergleichen zu können. Dies betrifft auch die Vergleichbarkeit der hamburgischen Daten im Zeitvergleich, d.h. die Migrationsdaten der Schuljahre 2008/2009 bis 2012/2013, die auf dem Migrationshinweis bzw. -hintergrund nach KMK basieren. Abschließend wird die Heterogenität zwischen den Ländern hinsichtlich besonderer schulstatistischer Operationalisierungen und Begrifflichkeiten in den Blick genommen. Abweichungen zeigen sich sowohl zwischen den Ländern als 57 BSB – Behörde für Schule und Berufsbildung (Hrsg.): Bildungsbericht Hamburg 2014. HANSE – Hamburger Schriften zur Qualität im Bildungswesen, 14. Münster [u.a.] 2014. S. 126. Laut Auskunft des IfBQ wurden der ‚Aussiedlerstatus‘ bereits ab ca. 1990 und die Verkehrssprache spätestens seit dem Schuljahr 2008/2009 erhoben (exakte(re) Angaben konnte das IfBQ nicht bereitstellen). Die genannten Merkmale galten frühzeitig als valide. 58 BSB Bildungsbericht (wie Anm. 57), S. 126.

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auch gegenüber den KMK-Vorgaben. In Berlin wird eine statistische Kategorie von Schülerinnen und Schülern mit „Nichtdeutscher Herkunftssprache“ erstellt. Hierzu zählen „Schüler, deren Mutter- bzw. Familiensprache nicht Deutsch ist. Die Staatsangehörigkeit ist dabei nicht von Belang; entscheidend ist die Kommunikationssprache innerhalb der Familie.“59 In Nordrhein-Westfalen hingegen weisen „Schülerinnen und Schüler eine Zuwanderungsgeschichte (= Migrationshintergrund) auf, wenn die Schülerin bzw. der Schüler selbst zugewandert ist[,] oder ein oder beide Elternteile zugewandert sind[,] oder die Verkehrssprache in der Familie nicht Deutsch ist.“60 In Sachsen wird terminologisch ein Migrationshintergrund anerkannt, der vergleichsweise weit gefasst ist: „Schüler mit Migrationshintergrund sind jene, die zwei- oder mehrsprachig aufwachsen und die selbst oder deren Eltern (bzw. ein Elternteil) oder Großeltern nach Deutschland zugewandert sind.“61 Die drei Beispiele Berlin, Nordrhein-Westfalen und Sachsen verdeutlichen, dass sich die Begrifflichkeiten aber auch die jeweiligen Operationalisierungen in den Bundesländern z.T. erheblich unterscheiden. Eine Gemeinsamkeit der drei Fälle ist, dass sie die Staatsangehörigkeit unberücksichtigt lassen. Hervorzuheben ist, dass der Migrationshintergrund im Vergleich zur KMK-Variante z.T. erheblich weiter gefasst wird, etwa weil Informationen zu den (Groß-)Eltern mit abgefragt werden. In insgesamt drei Ländern werden Informationen zu den Eltern bzw. Sorgeberechtigten abgefragt, um den Migrationshintergrund weiter zu fassen. In Hamburg geschieht dies individualstatistisch, in NRW und Sachsen – wie gezeigt – im Rahmen von Aggregatstatistiken. In Sachsen wird basierend auf freiwilligen Antworten sogar versucht, Informationen zu den Großeltern der Schülerinnen und Schüler abzufragen. In den meisten Ländern werden schulstatistisch i.d.R. keine Daten über Dritte erhoben – neben dem Erhebungsaufwand sind hier insbesondere datenschutzrechtliche Gründe anzuführen, z.T. müssten für eine derartige Abfrage die Schulgesetze geändert werden.62

59 SenBJW – Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft: Blickpunkt Schule. Schuljahr 2014/15. Berlin 2015. S. 7, Fußnote 1. 60 Große-Venhaus, Gerd: Bildungsbeteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Zuwanderungsgeschichte. Statistik kompakt 3 (2012). S. 1. 61 Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (Hrsg.): Statistischer Bericht. Allgemeinbildende Schulen im Freistaat Sachsen. Grundschulen, Schuljahr 2014/15. Kamenz: Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen 2015. S. 3. 62 KMK – Kultusministerkonferenz: FAQ’s – Frequently Asked Questions zum Kerndatensatz und zur Datengewinnungsstrategie 2011.

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Fazit Wir haben den Wandel der schulstatischen Klassifikationen von Wissen über eingewanderte Schülerinnen und Schüler seit der Nachkriegszeit dargestellt. Resümierend können wir festhalten: Es lässt sich die Phase der „Ausländererfassung“ von derjenigen der Erfassung des „Migrationshintergrunds“ (etwa ab 2005) unterscheiden. Erstere ist geprägt von einer zunächst zögerlichen und sparsamen, dann umfassenderen und schließlich wieder deutlich selektiveren Abbildung der Staatsangehörigkeiten von Schülern und Schülerinnen. Die Beweggründe dafür, eine bestimmte Anzahl von Kategorien zu bilden, bleiben unklar, sie sind nicht unmittelbar vom tatsächlichen Wanderungsgeschehen geprägt. Die statistische Repräsentation nichtdeutscher Staatsangehörigkeiten weist am ehesten darauf hin, dass ausländische Schülerinnen und Schüler bis zur Jahrtausendwende weniger zentral im Blickfeld der Bildungsstatistik standen. Deutschland betrachtete sich bis dahin nicht als Einwanderungsland, es gab demnach kein bildungspolitisch klares Zuständigkeitsbekenntnis für diese Schülerschaft. Seit der Jahrtausendwende spiegelt das neu in die amtliche Statistik eingeführte Konzept des Migrationshintergrunds den Wandel in der nationalen Selbstwahrnehmung wider: Das Einwanderungsgesetz wurde in Deutschland eingeführt, weswegen es seither dezidierte Integrationspolitiken gibt, deren Dringlichkeit insbesondere im Bildungswesen auch der sogenannte ‚PISASchock‘ unterstrichen hat. Für die Klassifikationspraxis innerhalb der Schulstatistik bedeutet diese Wende eine Expansion des Wissens über Migration. Insbesondere seit dem Jahr 2005 gibt es in den Schulstatistiken der Länder Ansätze, Migration bzw. einen Migrationshintergrund differenziert(er) zu erfassen. Diese fallen sowohl inhaltlich als auch technisch relativ heterogen und z.T. sehr spezifisch aus – etwa hinsichtlich der verwendeten Definitionen, Operationalisierungen, Bezeichnungen oder Merkmale sowie bzgl. der Erhebung von Individual- statt Aggregatdaten. Die landesspezifischen Operationalisierungen sind oft nicht unmittelbar vergleichbar mit denen des KMK-Beschlusses – und sie sind, wie am Beispiel von Hamburg aufgezeigt, selbst innerhalb eines Bundeslandes unterschiedlich. Dies ist nicht zuletzt deshalb relevant, da sich die jeweilige Operationalisierung nicht nur auf die Anzahl der als mit Migrationshintergrund verstandenen Schülerinnen und Schüler, sondern auch auf die von ihnen erzielten Bildungsergebnisse auswirkt.63 Eine eher weite Operationalisierung des Migrationshin63 Vgl. z.B. Gresch [u.a.], Staatsbürgerschaft (wie Anm. 41); Kemper, Zur landesspezifischen Erfassung des Migrationshintergrunds (wie Anm. 2); Kemper, Thomas: Bildungsbeteiligung

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tergrundes führt zu besseren, eine eher enge Fassung zu schlechteren Bildungsergebnissen für diese Gruppe. Angesichts der föderalen Vielfalt der schulstatistischen Darstellung der Einwanderungsgesellschaft und des hiermit verbundenen unausgeschöpften analytischen Potenzials, das die Schulstatistik als Vollerhebung bieten könnte, ist auf Bundesebene weiterhin nur eine Unterscheidung nach Staatsangehörigkeit möglich. Hierbei handelt es sich zurzeit um das einzige Migrationsmerkmal auf Bundesebene, da nur dieses durchgängig in allen Ländern schulstatistisch erfasst wird. Für die Schulstatistik bis 2015/2016 bleibt dahingehend jedoch noch immer eine unvollständige Differenzierung zu konstatieren – hieran ändert auch der Versuch wenig, diesen Mangel mithilfe einer relativ großen Menge an Residualkategorien zu reduzieren. Bis 2015/2016 wurden die Staatsangehörigkeiten wichtiger Migrantengruppen nicht erfasst. Für diese können im genannten Zeitraum keine quantitativen Aussagen getroffen werden. Auch ist – z.B. anhand der besuchten Schulformen – keine Beurteilung ihrer Situation im deutschen Bildungssystem möglich.64 Alles in allem bleibt festzuhalten: Der bildungspolitische Föderalismus in Deutschland hat zu unterschiedlichen Strategien, Konzepten und Entwicklungslinien der schulstatistischen Erfassung von Migration in den Ländern geführt. Auf Landesebene unterscheiden sich sowohl die Datenbasen (Aggregatvs. Individualdaten), die erhobenen Migrationsmerkmale, die Bezeichnungen als auch die Operationalisierungen des Migrationshintergrundes. Dies verdeutlicht einmal mehr, dass der ‚Migrationshintergrund‘ keine feststehende Größe, sondern ein wissenschaftliches und statistisches Konstrukt ist.65 Durch die Heterogenität z.B. der Begriffe und Operationalisierungen wird die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zwischen den Ländern erschwert und eine schulstatistische Operationalisierung des Migrationshintergrundes auf Bundesebene verunmöglicht. Voraussetzung für Vergleichbarkeit wäre zumindest ein Kern einheitlich abgefragter Migrationsmerkmale in allen Bundesländern – wie beispielsweise anhand der von der KMK vorgeschlagenen Migrationsmerkmale Staatsangehörigkeit, Verkehrssprache und Geburtsland. von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund – in Abhängigkeit von der schulstatistischen Operationalisierung. In: DDS – Die Deutsche Schule 109 (2017) 1. S. 91–115; Olczyk, Melanie [u.a.]: Migranten und ihre Nachkommen im deutschen Bildungssystem – Ein aktueller Überblick. In: Ethnische Ungleichheiten im Bildungsverlauf. Mechanismen, Befunde, Debatten. Hrsg. von Claudia Diehl [u.a.]. Wiesbaden 2016. S. 33–70. 64 Die kurz vor Fertigstellung des Beitrages veröffentlichte Schulstatistik für das Schuljahr 2016/2017 ist erstmalig dazu übergegangen, der Staats- und Gebietssystematik entsprechend alle Staatsangehörigkeiten auszuweisen. 65 Vgl. auch Kemper, Migrationshintergrund (wie Anm. 6).

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Möglicherweise ist – wie wir hier, und andere bereits außerhalb der Schulstatistik66 gezeigt haben – die Operationalisierung und Erhebung des Konstrukts „Migrationshintergrund“ zu komplex. Die Folge sind verschiedene Varianten des Migrationshintergrundes, die nur bedingt miteinander vergleichbar sind. Ergänzend sei angeführt, dass im Zusammenhang von Antidiskriminierung und Gleichstellung – beides auch im Bildungskontext grundlegende Menschenrechte – inzwischen die Erfassung von subjektiver Selbstauskunft über Selbst- und Fremdzuschreibungen diskutiert wird.67 Der kleinste gemeinsame Nenner zur schulstatistischen Erfassung von Migration auf Bundesebene bleibt das bereits seit den 1960er Jahren erhobene Migrationsmerkmal der ‚Staatsangehörigkeit‘. Bis dahin – d.h. wenn in allen Bundesländern vergleichbare und valide Migrationsmerkmale erhoben werden, was noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird – lässt sich basierend auf Daten der Schulstatistik die Bildungssituation von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund entweder nur unvollständig anhand von weitergehenden Migrationsmerkmalen für ausgewählte Bundesländer, oder aber flächendeckend ausschließlich unter Verwendung des unzulänglichen Migrationsmerkmals der Staatsangehörigkeit analysieren. Somit ist die Schulstatistik mit ihren Klassifikationen noch weit davon entfernt, die inzwischen (post)migrantische Gegenwartsgesellschaft zu repräsentieren.

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68 Ab dem Jahr 1989 Änderung des Verlags(-ortes) in: „Stuttgart: Metzler-Poeschel“. 69 Bis zum Schuljahr 2000/2001 Verlag(-sort): „Stuttgart: Metzler-Poeschel“.

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Anhang Anhang 1: Liste der durch das Statistische Bundesamt schulstatistisch erfassten nichtdeutschen Staatsangehörigkeiten (für die ausgewählten* Schuljahre 1975/ 76, 1985/86, 1995/96, 2015/16, ohne Residualkategorien), sowie Vergleich der in der Schulstatistik 2015/16 nicht erfassten Staatsangehörigkeiten entsprechend der allgemeinen Gebietssystematik (Statistisches Bundesamt 2016a)

Schuljahr 1985/86

afghanisch, albanisch, ägyptisch, algerisch, amerikanisch, argentinisch, äthiopisch, australisch, bangladeschisch, belgisch, bolivianisch, brasilianisch, britisch, bulgarisch, chilenisch, costa-ricanisch, dänisch, ecuadorianisch, finnisch, französisch, ghanaisch, griechisch, guatemaltekisch, indisch, indonesisch, irakisch, iranisch, irisch, isländisch, israelisch, italienisch, japanisch, jordanisch, jugoslawisch, kamputscheanisch, kanadisch, kolumbianisch, koreanisch (der Republik Korea), kubanisch, laotisch, libanesisch, liberianisch, libysch, luxemburgisch,

Schuljahr 1975/76

afghanisch, ägyptisch, albanisch, algerisch, amerikanisch, argentinisch, äthiopisch, australisch, bangladeschisch, belgisch, beninisch, bolivianisch, brasilianisch, britisch, bulgarisch, chilenisch, chinesisch, costa-ricanisch, dänisch, ecuadorianisch, estnisch, finnisch, französisch, ghanaisch, griechisch, haitianisch, guatemaltekisch, guyanisch, indisch, indonesisch, irakisch, iranisch, irisch, isländisch, israelisch, italienisch, jamaikanisch, japanisch, jemenitisch, jordanisch, jugoslawisch, kamerunisch, kanadisch, kenianisch, kolumbianisch, koreanisch albanisch, andorranisch, belgisch, bosnischherzegowinisch, britisch, bulgarisch, dänisch, estnisch, finnisch, französisch, griechisch, irisch, isländisch, italienisch, jugoslawisch, kroatisch, lettisch, liechtensteinisch, litauisch, luxemburgisch, maltesisch, mazedonisch, moldauisch, monegassisch, niederländisch, norwegisch, österreichisch, polnisch, portugiesisch, rumänisch, russisch, sanmarinesisch, schwedisch, schweizerisch, slowakisch, slowenisch, spanisch, tschechisch, türkisch, ukrainisch, ungarisch, weißrussisch, zyprisch

Schuljahr 1995/96

afghanisch, albanisch, algerisch, amerikanisch, andorranisch, äthiopisch, australisch, belgisch, bosnisch-herzegowinisch, brasilianisch, britisch, bulgarisch, chilenisch, dänisch, estnisch, finnisch, französisch, ghanaisch, griechisch, indisch, indonesisch, iranisch, irisch, isländisch, israelisch, italienisch, japanisch, jordanisch, kanadisch, koreanisch (der Demokratischen, Volksrepublik Korea), koreanisch (der Republik Korea), kosovarisch, kroatisch, lettisch, libanesisch, liechtensteinisch, litauisch, luxemburgisch, maltesisch,

Schuljahr 2015/16

ägyptisch, angolanisch, antiguanisch, äquatorialguineisch, argentinisch, armenisch, aserbaidschanisch, bahamaisch, bahrainisch, bangladeschisch, barbadisch, belizisch, beninisch, bhutanisch, bolivianisch, botsuanisch, bruneiisch, burkinisch, burundisch, cabo-verdisch, chinesisch, costa-ricanisch, ivorisch, dominicanisch, dominikanisch, dschibutisch, ecuadorianisch, salvadorianisch, eritreisch, fidschianisch, gabunisch, gambisch, georgisch, grenadisch, guatemaltekisch, guineisch, guinea-bissauisch,

Im Vergleich: die in der Schulstatistik 2015/16 nicht erfassten Staatsangehörigkeiten entsprechend der allgemeinen Gebietssystematik (Statistisches Bundesamt 2016a)

Klassifikation von Migration im Wandel 

247

Schuljahr 1985/86

malaysisch, marokkanisch, mexikanisch, neuseeländisch, niederländisch, nigerianisch, norwegisch, österreichisch, pakistanisch, peruanisch, philippinisch, polnisch, portugiesisch, rumänisch, saudi-arabisch, schwedisch, schweizerisch, sowjetisch, somalisch, spanisch, sri-lankisch, südafrikanisch, sudanesisch, syrisch, taiwanisch, tansanisch, thailändisch, togoisch, tschechisch, tunesisch, türkisch, ugandisch, ungarisch, uruguayisch, venezolanisch, vietnamesisch, zyprisch

Schuljahr 1975/76

(der dem. Volksrepublik Korea), koreanisch (der Republik Korea), kubanisch, lettisch, libanesisch, liberianisch, libysch, liechtensteinisch, litauisch, luxemburgisch, madagassisch, malaysisch, maltesisch, marokkanisch, mauretanisch, mexikanisch, mosambikanisch, nepalesisch, neuseeländisch, nicaraguanisch, niederländisch, nigerianisch, norwegisch, österreichisch, pakistanisch, panamaisch, paraguayisch, peruanisch, philippinisch, polnisch, portugiesisch, rumänisch, salvadorianisch, sambisch, san-marinesisch, saudi-

Schuljahr 1995/96

marokkanisch, mazedonisch, moldauisch, monegassisch, montenegrinisch, neuseeländisch, niederländisch, norwegisch, österreichisch, pakistanisch, philippinisch, polnisch, portugiesisch, rumänisch, russisch, sanmarinesisch, schwedisch, schweizerisch, serbisch, slowakisch, slowenisch, spanisch, sri-lankisch, syrisch, thailändisch, tschechisch, tunesisch, türkisch, ukrainisch, ungarisch, vietnamesisch, weißrussisch, zyprisch

Schuljahr 2015/16

guyanisch, haitianisch, honduranisch, irakisch, jamaikanisch, jemenitisch, kambodschanisch, kamerunisch, kasachisch, katarisch, kenianisch, kirgisisch, kiribatisch, kolumbianisch, komorisch, kongolesisch (Republik Kongo), kongolesisch (Demokratische Republik Kongo), kubanisch, kuwaitisch, laotisch, lesothisch, liberianisch, libysch, madagassisch, malawisch, malaysisch, maledivisch, malisch, marshallisch, mauretanisch, mauritisch, mexikanisch, mikronesisch, mongolisch, mosambikanisch, myanmarisch, namibisch,

Im Vergleich: die in der Schulstatistik 2015/16 nicht erfassten Staatsangehörigkeiten entsprechend der allgemeinen Gebietssystematik (Statistisches Bundesamt 2016a)

248  Thomas Kemper und Linda Supik

arabisch, schwedisch, schweizerisch, senegalesisch, somalisch, sowjetisch, spanisch, srilankisch, südafrikanisch, sudanesisch, syrisch, taiwanisch, tansanisch, thailändisch, togoisch, von Trinidad und Tobago, tschadisch, tschechoslowakisch, tunesisch, türkisch, ugandisch, ungarisch, uruguayisch, venezolanisch, vietnamesisch, zyprisch

Schuljahr 1975/76

Schuljahr 1985/86

Schuljahr 1995/96

Schuljahr 2015/16

nauruisch, nepalesisch, nicaraguanisch, nigrisch, nigerianisch, omanisch, palauisch, panamaisch, papua-neuguineisch, paraguayisch, peruanisch, ruandisch, salomonisch, sambisch, samoanisch, são-toméisch, saudiarabisch, senegalesisch, seychellisch, sierraleonisch, simbabwisch, singapurisch, somalisch, von St. Kitts und Nevis, lucianisch, vincentisch, südafrikanisch, sudanesisch, südsudanesisch, surinamisch, swasiländisch, tadschikisch, tansanisch, von Timor-Leste, togoisch, tongaisch, von Trinidad und

Im Vergleich: die in der Schulstatistik 2015/16 nicht erfassten Staatsangehörigkeiten entsprechend der allgemeinen Gebietssystematik (Statistisches Bundesamt 2016a)

Klassifikation von Migration im Wandel 

249

Schuljahr 1985/86

Schuljahr 1995/96

Schuljahr 2015/16

Tobago, tschadisch, turkmenisch, tuvaluisch, ugandisch, uruguayisch, usbekisch, vanuatuisch, vatikanisch, venezolanisch, der Vereinigten Arabischen Emirate, zentralafrikanisch

Im Vergleich: die in der Schulstatistik 2015/16 nicht erfassten Staatsangehörigkeiten entsprechend der allgemeinen Gebietssystematik (Statistisches Bundesamt 2016a)

*Auswahlkriterien: das aktuellste Schuljahr (2015) sowie Schuljahre mit der niedrigsten sowie höchsten Anzahl an Staatsangehörigkeiten (1995 bzw. 1975), sowie das Jahr 1985 aufgrund der höchsten Anzahl an Residualkategorien (vgl. Tabelle 1). Anmerkung: Im Schuljahr 1975/76 werden diejenigen Staatsangehörigkeiten kursiv gedruckt, die in der Schulstatistik des Schuljahres 2015/16 nicht mehr berücksichtigt werden, die Staatsangehörigkeit jedoch laut Statistisches Bundesamt (2016a) weiter existiert. Quelle: Fachserie A, Reihe 10 des Statistischen Bundesamtes für die Jahre 1950 bis 1973, Fachserie 11, Reihe 1.1 für die Jahre 1974 bis 1975, Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für die Jahre 1976 bis 1994, sowie Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für die Schuljahre 1995/96 bis 2015/16, eigene Darstellung.

Schuljahr 1975/76

250  Thomas Kemper und Linda Supik

Klassifikation von Migration im Wandel



251

Anhang 2: Liste der Kapitelbezeichnungen des Statistischen Bundesamtes, die Zahlen zu nichtdeutschen Schülerinnen und Schülern differenziert nach Staatsangehörigkeit erfassen (Schuljahre 1965/66 bis 2015/16) Jahr

Bezeichnung des Kapitels zu nichtdeutschen Schülerinnen und Schülern differenziert nach Staatsangehörigkeit (Originalwortlaut)

Tabellarische BezeichBeispiel für Staatsangenung des Spaltenkopfes hörigkeitsausprägung zur Staatsangehörigkeit nichtdeutscher SuS

1965 – 1966

Kinder ausländischer Arbeitnehmer Ausländische Schüler nach Staatsangehörigkeit s.o. Ausländische Schüler nach der Staatsangehörigkeit Ausländische Schüler nach Staatsangehörigkeit s.o. s.o. s.o.

Staatsangehörigkeit Land Land

Italien

Staatsangehörigkeit s.o.

s.o. s.o.

s.o.

s.o.

Land Staatsangehörigkeit Land der Staatsangehörigkeit s.o.

s.o. s.o. s.o.

s.o.

s.o.

Land (Staatsangehörigkeit)

s.o.

s.o.

s.o.

s.o.

s.o.

1967

1968 – 1970 1971 – 1975

1976 – 1980

1981 1982 1983 – 1999

2000 – 2004 Ausländische Schüler/ innen nach Staatsangehörigkeit 2005 – 2006 Ausländische Schüler/ innen insgesamt nach Staatsangehörigkeit1) 2007 – 2009 Ausländische Schüler/ innen nach Staatsangehörigkeit2) 2010 – 2013 Ausländische Schüler/ innen nach Staatsangehörigkeit3) 2014 – 2015 Ausländische Schüler/ innen nach Staatsangehörigkeit4)

1)

s.o.

s.o.

vollständiger Wortlaut: „Ausländische Schüler/innen insgesamt nach Staatsangehörigkeit, Schularten und Ländern“

252  Thomas Kemper und Linda Supik

2) 3)

4)

vollständiger Wortlaut: „Ausländische Schüler/innen nach Staatsangehörigkeit, Schularten und Ländern“ vollständiger Wortlaut: „Ausländische Schüler/innen nach Staatsangehörigkeit und Schularten“ (im Inhaltsverzeichnis „Ausländische Schüler/ innen insgesamt nach Staatsangehörigkeit und Schularten“). vollständiger Wortlaut: „Ausländische Schüler/innen nach Schularten, Staatsangehörigkeit und Geschlecht“; im Inhaltsverzeichnis: „Ausländische Schüler/innen nach Staatsangehörigkeit, Schularten und Geschlecht“

Quelle: Fachserie A, Reihe 10 des Statistischen Bundesamtes für die Jahre 1950 bis 1973, Fachserie 11, Reihe 1.1 für die Jahre 1974 bis 1975, Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für die Jahre 1976 bis 1994, sowie Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für die Schuljahre 1995/96 bis 2015/16, eigene Darstellung.

 Akteurinnen und Akteure des Wissens

Lars Müller

Entwicklungspolitik als Bildungsinhalt Schule und die Produktion von Wissen über globale Ungleichheit Moderne Entwicklungspolitik ist eine politische Praktik, die nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert wurde und die internationale Politik nachhaltig prägte.1 Mit ihr ging eine Zirkulation von Geld, Personen und schließlich auch Wissen im internationalen Maßstab einher, die viel Potenzial für wissensgeschichtliche Forschung bietet. Der Fokus wurde dabei oft auf den angestrebten und realisierten Wandel in den sog. Entwicklungsländern, die Wissensproduktion in den entsprechenden Regionen sowie auf Wissensbestände der Entwicklungsakteure gelegt.2 Es muss allerdings ebenso deutlich darauf hingewiesen werden, dass sich Wissensordnungen auch in den sog. Geberländern massiv veränderten. Entwicklungspolitik als festen Bestandteil der internationalen Politik zu etablieren, setzte voraus, Unterstützung dafür zu erhalten, Steuergelder über staatliche Entwicklungszusammenarbeit bzw. Spenden im Fall von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ins Ausland zu transferieren. In der damaligen Sprache heißt es, dass die „öffentliche Meinung mobilisiert“ werden müsse. Ein Mittel hierfür war eine umfangreiche Bildungsarbeit staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, die sich auf unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche erstreckte.3 Die Schule wurde schnell als eine zentrale Institution identifiziert, um Wissen über die Praktiken der Entwicklungspolitik und ihre Notwendigkeit zu vermitteln. So heißt es in der Entwicklungspolitischen Konzeption der Bundesrepublik Anfang der 1970er Jahre schlicht: „Die Bundesregierung hält Öffentlich-

1 Zur Datierung und Konjunkturen der Entwicklungspolitik s. Büschel, Hubertus: Geschichte der Entwicklungspolitik, Version 1:0. In: Docupedia. http://www.docupedia.de/zg/Geschichte_der_Entwicklungspolitik (08.05.2018). Zu Vorläufern bzw. der spätkolonialen Ordnung und dem Aufstieg des Konzepts Entwicklung siehe auch Eckert, Andreas: Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit. In: ApuZ 65:7–9 (2015). S. 3–8. 2 Büschel, Hubertus u. Daniel Speich-Chassé (Hrsg.): Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungspolitik. Frankfurt am Main 2009. Büschel, Hubertus: Hilfe zur Selbsthilfe. Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika, 1960–1975. Frankfurt am Main 2014. 3 Hier sind verschiedenste Akteure zu nennen, die aktiv entwicklungspolitische Bildung betrieben oder die Ziel entwicklungspolitischer Gruppen waren: Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, Rundfunk, Presse etc. https://doi.org/10.1515/9783110538076-010

256  Lars Müller

keitsarbeit im pädagogischen und schulischen Bereich für besonders wichtig.“4 Aus wissensgeschichtlicher Perspektive treten hierbei zwei Problemstellungen hervor, die im Folgenden behandelt werden sollen. Erstens musste das Thema als relevant für die Gesellschaft dargestellt werden. Der Bundesminister für Entwicklungszusammenarbeit Erhard Eppler (SPD) stellte 1972 die rhetorische Frage „Woher nimmt die Entwicklungspolitik das Recht, sich als Bildungsinhalt besonderer Art zu verstehen?“5 Mit anderen Worten: Es ging nicht nur allgemein darum Entwicklungspolitik als relevant zu definieren, sondern dem Thema gesellschaftlich eine so große Relevanz zuzusprechen, dass die Installation entwicklungspolitischen Wissens in Schulen gerechtfertigt wurde. Neben dieser Schaffung von Relevanz musste – zweitens – Wissen über Entwicklungspolitik und somit auch ‚neues‘ Wissen über die jeweiligen Zielregionen für die Schulen in leicht zugänglicher Form bereitgestellt werden. In der damaligen Wahrnehmung waren es vor allem Schulbücher, welche dies ermöglichten. Sie waren flächendeckend für die Hand der Schülerinnen und Schüler vorhanden und ihnen wurde eine hohe Wirkmächtigkeit zugesprochen.6 Diese Prozesse bilden den Kern dieses Beitrages. Zunächst wird gefragt, wie sich die bildungspolitische Debatte über Entwicklungspolitik zwischen den 1950er und 1980er Jahren entwickelte. Anschließend wird im zweiten Abschnitt schulisches Wissen – am Beispiel von Schulbüchern – analysiert. Traditionell gelten Schulbücher als aufschlussreiche Quellen, um Aussagen über gesellschaftliche Entwicklungen zu treffen. Hier bieten sie sich vor allem an, da verschiedene gesellschaftliche Akteure ihnen eine hohe Wirkmächtigkeit zusprachen und bisher Studien ausstehen, die fragen, wie sich Schulbuchwissen im Kontext gesellschaftlicher Debatten veränderte. Leitfragen für die Analyse sind dabei, wie Wissen über Entwicklungspolitik in bestehende Wissensordnungen im Kontext von Dekolonisation und Kalten Krieg eingebunden wurde und wie sich hiermit Ordnungen des Wissens verschoben. Damit eng verbunden ist auch die Frage, woher Schulbuchautorinnen und -autoren ihr Wissen über Entwicklungspolitik und die entsprechenden Regionen bezogen. Denn hier lag ein weiteres Problem bei der Etablierung neuer Wissensbestände: Schulbuchautorinnen und -autoren verfügten in der Regel nicht über Wissen aus erster Hand, sondern waren auf Sekundärliteratur und Quellen angewiesen. Im Kontext sich

4 Mobilisierung der öffentlichen Meinung. In: Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung. Deutscher Bundestag, Drucksache 7/1236, 09.11.1973. S. 76. 5 Eppler, Erhard: Entwicklungspolitik als Bildungsaufgabe. Vortrag gehalten anläßlich des 11. Reutlinger Tags am 10.06.1972. In: Schule und Dritte Welt 39 (1972). S. 2–9. 6 Schönemann, Bernd u. Holger Thünemann: Schulbucharbeit. Das Geschichtslehrbuch in der Unterrichtspraxis. Schwalbach/Ts. 2010.

Entwicklungspolitik als Bildungsinhalt



257

wandelnder Wissensbestände standen sie somit vor der Aufgabe, verlässliches Wissen zusammenzutragen und didaktisch aufzubereiten.7

Gesellschaftspolitische Diskussionen und bildungspolitische Interventionen Anfänge einer Debatte: Die 1950er und frühen 1960er Jahre Die Dekolonisation nach dem Zweiten Weltkrieg erhöhte auch im Bildungsbereich die Aufmerksamkeit für die sog. Jungen Staaten. Schulbuchanalysen, die als Indikatoren dafür gelten können, über welche Wissensbestände in der Fachwissenschaft bzw. Fachdidaktik diskutiert wurden, richteten ihr Interesse zunächst auf die Darstellung Asiens und Indiens. Sie stellten grundsätzlich fest, dass Schulbücher ihren „Eurozentrismus“ überwinden sollten, wobei Entwicklungspolitik in diesen Analysen kaum eine Rolle spielte.8 Darüber hinaus gewann das Thema aber an Bedeutung. Die Bundeszentrale für Heimatdienst (später Bundeszentrale für politische Bildung) führte ab 1957 erste Veranstaltungen zum Thema „Entwicklungsländer“ durch und argumentierte: „Es genügt nicht, den Staatsbürger über den Weg der Massenmedia (Presse, Funkt, Fernsehen) zu informieren, sondern – und dies ist als Tenor der Bildungsarbeit der Akademien und Institute herausgearbeitet worden – es muß die Bereitschaft zur Mitverantwortung geweckt und es muß der Staatsbürger auch befähigt werden, seine Pflichten willig auf sich zu nehmen.“9 7 Der Beitrag ist Teil des DFG-Projekts Afrikawissen. Diskurse und Praktiken der Schulbuchentwicklung in Deutschland und England. 8 Beispielsweise Rasch, Rudolf: Asien im Spiegel deutscher Schulbücher. In: Die Deutsche Schule 51 (1959). S. 1–13. Bensch, Peter: Die Behandlung der Völker Asiens in deutschen Schulbüchern. In: Internationales Jahrbuch für Geschichts- und Geographieunterricht 3 (1954). S. 119–147. 9 Dabei wurde Entwicklungspolitik auch im Kontext wirtschaftlicher Interessen und des OstWest-Konflikts verortet, so heißt es weiter: „Unter diesem Aspekt wurden u.a. folgende Themen bearbeitet: NATO, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in ihrer Verflechtung mit fremden Ländern; UNO und ihre Hilfsorganisationen (I.L.O.) usw., überhaupt: westliche Vertragssysteme, schließlich allgemein die Schicksalsverbundenheit der freien Welt und in weiterer Fortführung auch die Entwicklungsländer. […] Insofern bietet das Thema ‚Entwicklungsländer‘ eine Fülle von positiv auszuwertenen Ansatzpunkten für die politische Bildungsarbeit.“, siehe Bundesarchiv, Koblenz (BArch) B 168/209, Brief des BZH an den Bundesminister des Inneren, vom 24.02.1961, Betreff: Zuwendung für Tagungen und ähnliche Veranstaltungen, die das Thema ‚Entwicklungsländer‘ behandeln.

258  Lars Müller

Das Themenfeld wurde in gesellschaftlichen Debatten durch das Afrikanische Jahr 1960, in dem 18 Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent ihre Unabhängigkeit erlangten, gestärkt; auch die erste grundlegende Studie zu Afrika in Schulbüchern entstand in diesem Kontext. Sie stellte fest, dass im „Verhältnis zwischen Negern und Europäern“ der „Europäer als Helfer und Lehrmeister, als Bekämpfer der ewigen Stammesfehden und der Sklaverei“ beschrieben wird, während der „Neger als Arbeitskraft für den Europäer“ behandelt werde. Eine gegenseitige Abhängigkeit wurde dabei aufgegriffen, stand aber in einer kolonialen Denktradition und ging nicht direkt auf Entwicklungspolitik ein.10 Ein zwischen 1960 und 1961 gestartetes Projekt des UNESCO-Instituts für Pädagogik in Hamburg leitete einen Wandel in der Debatte ein. Unter Leitung von Gottfried Hausmann und Werner Plum wurde mit dem Projekt Behandlung von Problemen der Entwicklungsländer im Schulunterricht Pionierarbeit für die Vermittlung von entwicklungspolitischem Wissen geleistet.11 Ein wichtiges Ergebnis der Arbeit war das 1962 veröffentlichte Heft Entwicklungsländer im Schulunterricht, in dem nicht nur Projektergebnisse zusammengefasst wurden, sondern das erstmals auch parallele Arbeitsgruppen, beispielsweise der Deutschen Stiftung für Entwicklungsländer (DES), einband. Es wurden sowohl didaktische und methodische Fragen erörtert als auch Unterrichtsbeispiele dargestellt. Abgeschlossen wurde es durch eine kritische Bibliographie für interessierte Lehrkräfte. Somit bot die Schrift sowohl einen praktischen Nutzen als auch einen Debattenbeitrag, um Bildungsziele des Unterrichts über Entwicklungsländer zu definieren.12 Auf diese Weise zeichneten sich langsam die Konturen eines Netzwerkes von Bildungsakteuren, Wissenschaftlern, Didaktikern, Veranstaltungen, ergänzenden Unterrichtsmaterialien und programmatischen Schriften ab, die einen Impuls in die Schulpraxis senden wollten. Sie beförderten damit Wissen über Entwicklungspolitik und die so genannten Entwicklungsländer, waren dabei aber nur locker verbunden. Afrika spielte in den Debatten vor allem um 1960, d.h. während der politischen Umbrüche auf dem Kontinent, eine hervorgehobene Rolle, aber die Diskussion gliedert sich in eine allgemeine Debatte um entwicklungspolitische Bildung ein.

10 Sie wurde 1960 durchgeführt und 1963/64 veröffentlicht. Zitate in: Schmitt, Eckart: Afrika in den Geographie- und Geschichtslehrbüchern der Bundesrepublik. In: Internationales Jahrbuch für Geschichtsunterricht 9 (1963/64). S. 130–168, hier S. 140. 11 Behandlung von Problemen der Entwicklungsländer im Schulunterricht. In: Offene Welt 73 (1961). S. 405–406. 12 So im Beitrag Hug, Wolfgang: Vom Bildungsziel des Unterrichts über Entwicklungsländer. In: Hug, Wolfgang: Die Entwicklungsländer im Schulunterricht. Hamburg 1962. S. 9–12.

Entwicklungspolitik als Bildungsinhalt 

259

Die Mobilisierung der öffentlichen Meinung und die bildungspolitischen Interventionen des BMZ Schon in den 1950er Jahren gab es Vorläufer einer deutschen Entwicklungspolitik, aber mit der Gründung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), d.h. eines Ministeriums, welches diese Aufgaben bündelte, änderte sich die Debatte 1961 maßgeblich.13 Das BMZ entwickelte schon kurz nach seiner Gründung – ähnlich wie verschiedene NGOs auf dem Feld – ein ausgesprochenes Interesse an der Einstellung der Bevölkerung zu seiner Arbeit und gab Umfragen und Studien in Auftrag, die die Haltungen, Einstellungen und Meinungen der Bevölkerung gegenüber der Entwicklungspolitik analysierten, um sich auf dieser Basis aktiv an der öffentlichen Meinungsbildung zu beteiligen.14 In diesem Sinn wies eine der ersten grundlegenden Studien zu diesem Bereich auf die Abhängigkeit vom guten Willen vieler Partner im staatlichen und privaten Raum hin und folgerte, dass man sich immer wieder von neuem für die Aufgabe einsetzen müsse, „für die Gedanken einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern zu werben, Kenntnisse zu vermitteln, Zweifel zu zerstreuen und Kooperation zu wecken.“15 Befürworter einer deutschen Entwicklungspolitik identifizierten den Bildungsbereich früh als zentralen Ansatzpunkt,16 wobei das BMZ mit größeren öffentlichkeitswirksamen Aktionen erst Ende der 1960er Jahre in die Debatte eintrat. Diese Entwicklung war eng mit zwei Personen verknüpft: 1968 wurde Epp13 Bohnet, Michael: Geschichte der deutschen Entwicklungspolitik. Stuttgart 2015. S. 29–32, 37–49. 14 Das BMZ wurde 1961 gegründet; schon Ende 1964 beauftragte das Ministerium Infratest mit einer Umfrage zu dem Themenbereich. Die Aufgabenstellung war – erstens – dass man ermitteln soll, welches Wissen bei der Bevölkerung über Entwicklungsländer und Entwicklungshilfe bestand, wie – zweitens – die Haltung, Meinung und Einstellung der Bevölkerung zu dem Themenfeld gestaltet war und – drittens – welche Möglichkeit man durch Presse, Funk und Fernsehen habe, Einfluss auf die Meinungsbildung zu gewinnen. Das BMZ gab regelmäßig solche Studien in Auftrag. Andere Organisationen führten ähnliche Studien durch, so beispielsweise der DED. Die erste mir bekannte Studie zur Entwicklungspolitik wurde von Allensbach durchgeführt (1958). Sie wurde in regelmäßigen Abständen wiederholt, um vergleichbare Daten zu erheben. 15 Danckwort, Dieter: Zur Psychologie der deutschen Entwicklungshilfe. Eine Analyse von Meinungen und Gefühlen um die deutsche Entwicklungshilfe. Hrsg. von der Carl Duisberg-Gesellschaft. Bonn 1962. S. 7–8, hier S. 7. 16 Exemplarisch ist hier das Themenheft: Die Dritte Welt als Bildungsaufgabe. Offene Welt, 99/100 (1969). Für einen Überblick der Publikationen in diesem Bereich: Scheunpflug, Annette u. Klaus Seitz: Die Geschichte der entwicklungspolitischen Bildung. Zur pädagogischen Konstruktion der ‚Dritten Welt‘. Bd. 1: Entwicklungspolitische Unterrichtsmaterialien. Frankfurt am Main 1995.

260  Lars Müller

ler Minister des BMZ, zunächst noch unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU), ab 1969 unter Willy Brandt (SPD). Epplers Ministerschaft steht für eine Phase, als die Entwicklungspolitik eine eigenständigere Ausrichtung entwickelte und sich von außenpolitischen wie außenwirtschaftlichen Vorgaben lösen konnte. Unter seiner Führung legte das Ministerium 1971, zur Zweiten Entwicklungsdekade, erstmals eine Konzeption der deutschen Entwicklungspolitik vor, die einen Richtungswechsel von Großprojekten zu kleineren dezentralen Aktionen mit der Betonung auf Nachhaltigkeit festschrieb.17 Daneben war es vor allem Kai Friedrich Schade, der für die spätere Diskussion um die Mobilisierung der öffentlichen Meinung ausschlaggebend war. Er arbeitete im BMZ in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit und wechselte später zum Evangelischen Pressedienst, wo er dem Themenfeld treu blieb. Schade war es, der 1969 aus den genannten Meinungsumfragen „eine entscheidende pädagogische Aufgabe“ folgerte, die auf einen „umfassenden Prozeß der Bewußtseinsbildung und des Mentalitätswandels abzielen muss“.18 Im Ministerium wurde eine Strategie zur „Mobilisierung der Öffentlichkeit“ erarbeitetet, in der eine verstärkte Bildungsarbeit ein wichtiger Baustein war.19 Für dieses Ziel wurden zunächst Vertreter von allen „an der Schulbuchproduktion Beteiligten – Autoren, Verlage, Pädagogen, Entwicklungshilfeexperte – zu einem fruchtbaren, in die Zukunft weisenden Dialog zusammengeführt“.20 Auf diese Weise sollte ein „Lernprozeß“ eingeleitet und eine Öffentlichkeit geschaffen werden, die wiederum auf Schulbuchmacher einwirkte. Um diese Debatte zu institutionalisieren, etablierte das Ministerium die Serie Schule und Dritte Welt. Texte und Materialien – Anregungen für den Unterricht, in der ab 1970 programmatische Texte, Analysen und Unterrichtsmaterialien veröffentlicht wurden. Redakteur der meisten Hefte war Schade. Den Grundstein für eine fundierte Debatte legte die Schulbuchstudie Darstellung der Probleme der Entwicklungsländer und der Entwicklungspolitik, welche als Auftragsarbeit vom Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main, ab 1968 durchgeführt wurde.21 Schon im Vorgespräch hatte das Ministerium festge17 Bohnet, Geschichte der deutschen Entwicklungspolitik (wie Anm. 13), S. 65–74. 18 Schade, Friedrich: Der Bürger und die Entwicklungspolitik. Umfrageergebnisse. In: Offene Welt 99/100 (1969). S. 231–255, hier S. 253. 19 Schade, Friedrich: Die Mobilisierung der öffentlichen Meinung. In: Schule und Dritte Welt 11 (1970). 20 So in der Zieldefinition in: Expertengesprächs: Darstellung der Probleme der Entwicklungsländer in Schulbüchern, 18–20.Juni 1970, Berlin. In: Schule und Dritte Welt 18 (1970). 21 Das Institut schickte Ende 1968 einen ersten Projektentwurf an das BMZ: Archiv Institut für Sozialforschung, „Schulbuchstudie 3. Welt“, A105 Ordner 1: Brief IfS an BMZ, Schade, 6.11.1968. Dabei verfolgten das BMZ und das Institut durchaus unterschiedliche Interessen.

Entwicklungspolitik als Bildungsinhalt



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stellt, dass es ihm nicht darum gehe, „Entwicklungshilfe“ als Unterrichtsfach zu etablieren, sondern untersucht werden solle, wie der Unterricht dazu beiträgt, „daß die Ideen über die Entwicklungsländer entstellt oder behindert würden, wir [das Institut, L.M.] sollten in unserer Studie praktisch die Ausgangslage schildern, die sich einer Reformbewegung zur Zeit darbietet, wir könnten diese Arbeit leisten, ohne die Hilfe pädagogisch ausgerichteter Institute, es gilt praktisch, die restriktiven Bedingungen für die Einführung des entwicklungspolitischen Gedankens zu bestimmen.“22 Das Projekt untersuchte Schulbücher aus zwei Schultypen (Hauptschule, Gymnasium) der Fächer Geschichte und Geographie in zwei Zeitschnitten (1957–1959, 1967–1969). Ergänzt wurde dies um eine Lehrplananalyse und darüber hinaus wurden Gespräche mit Experten aus Verlagen, Ministerien oder der Kultusministerkonferenz (KMK) durchgeführt und Lehrkräfte befragt.23 Der umfangreiche Projektbericht24 eignete sich nur bedingt, um eine Breitenwirkung zu erzielen. So organisierte das BMZ weitere Expertengespräche, für die die Schulbuchstudie eine zentrale Diskussionsgrundlage bildete.25 Wichtiger war aber, dass die Studie einen Projektverbund eingegliedert wurde und 1969 zwei Kommissionen eingerichtet wurden. Die erste Kommission sollte vorhan-

Am Institut war eine Arbeitsgruppe angesiedelt, die sich mit dem Feld der Entwicklungspolitik beschäftige und dieses wollte man stärken; darüber hinaus konnte es an andere Institutsstudien zur politischen Bildung anknüpfen. Im Fokus stand dabei die gesellschaftliche Funktion der Schule. Für das BMZ standen diese Forschungsinteressen nicht im Zentrum; vielmehr sah man das Schulbuchprojekt als Baustein seiner Strategie bzw. als Mittel um ‚verwertbare‘ Ergebnisse zu bekommen. Es sind umfangreiche Akten zur Planung und Durchführung des Projektes vorhanden. Siehe Archiv Institut für Sozialforschung, „Schulbuchstudie 3. Welt“, A105 Ordner 1–7. 22 Archiv Institut für Sozialforschung, „Schulbuchstudie 3. Welt“, A105 Ordner 1: Beobachtung über den Ministerbesuch, Institut für Sozialforschung, o.J. [Ende 1968]. 23 Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/Main: Kritische Analyse von Schulbüchern zur Darstellung der Probleme der Entwicklungsländer und ihrer Positionen in internationalen Beziehungen (Kurzfassung). In: Schule und Dritte Welt 9 (1970). S. 2–12. 24 222 Seiten mit einem Anhang von 480 Seiten: Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfang-Goethe-Universität: Kritische Analyse von Schulbüchern. Zur Darstellung der Probleme der Entwicklungsländer und ihrer Positionen in internationalen Beziehungen, Frankfurt am Main, Juni 1970, 2. Bde. [Unveröffentlicht]. Es wurde wohl eine Auflage von 40 Exemplaren produziert, siehe Archiv Institut für Sozialforschung, „Schulbuchstudie 3. Welt“, A105 Ordner 1: Brief BMZ an IfS, 25.09.1970. 25 Expertengespräch. Darstellung der Probleme der Entwicklungsländer in Schulbüchern. In: Schule und Dritte Welt 9 (1970). S. 3. Für weitere Expertengespräche und Einladungen zu Seminaren, Tagungen und Workshops siehe Archiv Institut für Sozialforschung, „Schulbuchstudie 3. Welt“.

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dene Unterrichtsmodelle kritisch durchsehen und die zweite eine Strategie zur Einbindung von „Multiplikatorengruppen“ entwickeln. Darüber hinaus sollte 1970 eine Wandertagung konzipiert werden, um die Ergebnisse zu präsentieren. Das BMZ band auf diese Weise andere Akteure ein und etablierte sich mit diesem Vorgehen als zentraler Knotenpunkt in der Debatte um Entwicklungspolitik und Bildung.26 Um möglichst viel Kontrolle über die Aktivitäten auf dem Feld auszuüben, versuchte das BMZ die Veröffentlichungen und die Öffentlichkeitsarbeit zu lenken. Die erste öffentlichkeitswirksame Präsentation der Studienergebnisse erfolgte Ende 1970 mit einem Zeitungsartikel, den Schade in der Zeit veröffentlichte. Er konzentrierte sich hierbei vollständig auf die Studienergebnisse zur Repräsentation der Dritten Welt und folgerte, dass das Wissen in Schulbüchern veraltet sei: „Mit einem Wort: die Schulbücher huldigen heute, im Jahre 1970, immer noch dem Kolonialismus.“ Mit verschiedenen Zitaten beschrieb Schade die in Schulbüchern vorgenommene Zweiteilung der Welt: Auf der einen Seite die „cleveren“ Europäer und auf der anderen Seite die „primitiven“, aber harmonisch lebenden „Naturvölker“. Diese Darstellung sei von einem starken „Ethnozentrimus“ geprägt. Schade schloss mit dem Fazit, dass mit dem derzeitigen Schulbuchmarkt, in dem unternehmerische Interessen überwiegen, diese „unverantwortlichen Vorstellungen über die Dritte Welt kaum verhindert werden können“. 27 Im Anschluss an die öffentlichkeitswirksame Interpretation, wurde eine Kurzfassung in Schule und Dritte Welt veröffentlicht.28 Das Institut für Sozialforschung war bestrebt, seine Studienergebnisse zu veröffentlichen und erhielt diesbezüglich auch Anfragen, aber das BMZ verzögerte dies zunächst.29 Schließlich gewährte das BMZ dem Institut weitere Mittel, um aus der wissenschaftlichen Studie eine Fassung zu entwickeln, die sich an 26 Die Kommission Unterrichtsmodell war, neben einem Vertreter des BMZ, auch mit Personen wie Prof. Dr. Hausmann, Prof. Dr. Hug, Prof. Dr. Rückriem etc. besetzt. Der Kommission Public Relations gehörten Vertreter der UNESCO Kommission, des Sonnenbergkreises, der GEW etc. an. Archiv Institut für Sozialforschung, „Schulbuchstudie 3. Welt“, A105 Ordner 1: Vermerk: Gespräch über die Behandlung der Probleme der Entwicklungsländer vom Lehr- und Lernmaterial deutsche Bildungseinrichtung. Vorbesprechung 04.03.1969. 27 Schade, Friedrich: Die Dritte Welt als Unterwelt. Wie Afrika und Asien in westdeutschen Schulbüchern behandelt werden. In: Die Zeit, 07.11.1970. 28 Institut für Sozialforschung, Kritische Analyse (wie Anm. 23). 29 Das BMZ unterband die Veröffentlichung mit dem Verweis, dass die Ergebnisse erst intern besprochen werden müssten: Archiv Institut für Sozialforschung, „Schulbuchstudie 3. Welt“, A105 Ordner 1: Brief BMZ an Billerbeck/IfS 02.07.1970; später gestattet es die Weiterleitung an „einen beschränkten Kreis wissenschaftlich Interessierter“, der noch zu bestimmen sei, siehe Archiv Institut für Sozialforschung, „Schulbuchstudie 3. Welt“, A105 Ordner 1: Telefonnotiz IfS 17.07.70, Gespräch mit Herrn Schade. Das Institut gab – gegen einen Unkostenbeitrag – den

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ein breites Publikum richtete – Ziel war es, die Ergebnisse in die Unterrichtspraxis einzubringen.30 Die Publikation Heile Welt und Dritte Welt. Medien und politischer Unterricht von Karla Fohrbeck, Andreas J. Wiesand und Renate Zahar erschien 1971. Im Zentrum des Bandes standen die Identifizierung von Stereotypen und ihr Umgang mit ihnen. Die Autoren griffen ausgiebig auf Schulbuchzitate der Studie zurück und präsentierten so (Extrem)beispiele. Der Band gab praktische Unterstützung, indem er Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit (mangelhaften) Schulbüchern für Lehrkräfte aufzeigte.31 Er wurde umfangreich rezipiert, wobei auch hier die unausgewogene bzw. vorurteilsbeladene Schulbuchdarstellung meist im Zentrum stand – beispielsweise im Vorwärts oder im Spiegel.32 Auch wurde erwogen, den Kultusministerien den Band zur Genehmigung für den Schulgebrauch vorzulegen. Das war allerdings eine unrealistische Vorstellung, da es aufgrund seiner monothematischen Ausrichtung nicht lehrplankonform war und so in einem Jahrgang kein traditionelles Schulbuch ersetzten konnte. Der Stempel „Gegen-Schulbuch“ oder „Anti-Schulbuch“ war allerdings für die weitere Öffentlichkeitsarbeit wichtig.33 Das BMZ war zwar in Kontakt mit relevanten Akteuren auf dem Gebiet der Bildung und sorgte mit seiner Öffentlichkeitsarbeit auch für Aufmerksamkeit für das Themenfeld, aber es hatte keine Möglichkeit, verbindlich auf die Verlage oder Kultusministerien einzuwirken. Einige Zeit zuvor hatte sich allerdings Bundeskanzler Brandt an die Kultusministerien gewandt, um für das Thema Landesverteidigung an Schulen zu werben – ein Vorgehen, welches aufgrund des Bericht an Interessierte weiter, was das BMZ stark kritisierte: Archiv Institut für Sozialforschung, „Schulbuchstudie 3. Welt“, A105 Ordner 1: Brief BMZ an IfS, 25.09.1970. 30 Archiv Institut für Sozialforschung, „Schulbuchstudie 3. Welt“, A105 Ordner 1: BMZ an Billerbeck 24.07.1970. 31 Fohrbeck, Karla; Andreas Johannes Wiesand u. Renate Zahar: Heile Welt und Dritte Welt. Medien und politischer Unterricht. Opladen 1971. 32 Der Vorwärts kritisiert beispielsweise, dass „Entwicklungshilfe noch immer als Mittel zum Kampf gegen den Kommunismus“ dargestellt werde; die Dritte Welt maßgeblich aus der Sicht der „Kolonialmacht“ beleuchtet werde; Schüler könnten daher nur ein „reichlich verschwommenes Urteil über Entwicklungshilfe haben“, in: Vorwärts 11.05.1970, 17. Der Spiegel lobte vor allem den Praxisbezug. Er schrieb: „Nicht zuletzt durch diese Trouble-Tips für den Schulalltag geriet die Medien-Analyse zum Gegenschulbuch. Just deshalb wollen die Autoren ihr Werk den Kultusministerien vorlegen – zur Genehmigung als Schulbuch.“ In: Köstlicher Hunger. Am Beispiel ‚Dritte Welt‘ wiesen drei Autoren nach, daß ‚Schulbücher noch schlechter als ihr Ruf‘ sind. In: Der Spiegel, 06.09.1971. 33 Das Buch wäre lediglich als ergänzendes Material im Unterricht nutzbar; diese Materialien unterlagen keiner Zulassungspflicht. In den Projektunterlagen findet sich auch kein Hinweis, dass in diese Richtung Versuche unternommen wurden. Weiterführende Informationen zum Anti-Stempel in Stein, Gerd: Immer Ärger mit den Schulbüchern. Ein Beitrag zum Verhältnis zwischen Pädagogik und Politik, Bd. 2. Stuttgart 1979. S. 305.

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Bildungsföderalismus kritisiert wurde, aber für große Aufmerksamkeit sorgte.34 Das BMZ sah hierin eine Chance: Obwohl der Kanzler keinen direkten Einfluss auf das Schulsystem hatte, wurde durch eine Stellungnahme von ihm eine Reaktion der Kultusministerien sowie eine große Medienresonanz erwartet. Das Ministerium informierte den Kanzler von der Studie und schlug vor, dass er sich bei den Ländern für eine stärkere Berücksichtigung des EntwicklungspolitikThemas als Teil der „Friedenspolitik“ einsetze. Entwicklungspolitik benötige Rückhalt in der Bevölkerung und man müsse die „erforderlichen Einsichten und Fähigkeiten“ bereits in der Schule lernen. Gemeint war damit u.a. der „Wille zur friedlichen Konfliktregelung, die Bereitschaft zur internationalen Solidarität und die Einsicht, daß diese Welt eine Einheit ist, in der es auf Dauer keine isolierten Wohlstandsinseln geben kann.“35 Das Bundeskanzleramt war dem Thema gegenüber sehr aufgeschlossen, aber Zeitgründe erlaubten es nicht, das Thema bei einer Sitzung der Ministerpräsidenten anzusprechen. Brandt wandte sich daher schriftlich über den Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz an die zuständigen Landesminister. In üblicher Praxis formulierte das BMZ dabei einen Brief vor, den das Kanzleramt dann abändern konnte.36 In einer späteren Version wies Brandt auf die Schulbuchstudie des BMZ hin, die zu dem Schluss gekommen sei, „daß die Fragen der Entwicklungsländer und der Entwicklungspolitik in den Schulbüchern weitgehend vernachlässigt werden. […] Ich wäre dankbar, wenn die Herren Ministerpräsidenten darauf hinwirken könnten, daß die Fragen der Entwicklungsländer und der Entwicklungspolitik im Schulunterricht allgemein mehr Beachtung finden. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit wäre in der Lage, die Schulen zu dieser Frage mit Informationsmaterial, didaktischen Anregungen und Referenten zu unterstützten“ 37 Als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz antwortete Gerhard Stoltenberg (CDU, Schleswig-Holstein) zunächst, dass er den Brief an die Länder und die KMK weitergeleitet habe. Darüber hinaus kommentierte er, dass Lehrpläne seines Bundesland das Thema berücksichtigen würden und – soweit

34 Fleckenstein, Bernhard: 50 Jahre Bundeswehr. In: APuZ 21 (2005). S. 5–14, hier S. 10. 35 BArch B 136/7784, Brief BMZ an Bundeskanzler Brandt 23.06.1972. 36 In einer frühen Version betont das Ministerium, die „sozialen Konflikte zwischen den Entwicklungsländern und den Industrienationen“, worauf für das BMZ folgt, „Der Weltfriede ist ernsthaft gefährdet, wenn wir zulassen, daß sich die Kluft zwischen armen und reichen Nationen dieser Erde weiter vertieft“. Dies wurde bei späteren Version vom Kanzleramt abgeschwächt. BArch B 136/7787, Briefentwurf, BMZ an Bundeskanzleramt 21.08.1972. 37 BArch B 136/7784, Brief Brandt an Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz, Herrn Ministerpräsident Dr. Gerhardt Stoltenberg, 07.09.1972.

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ihm bekannt sei – dies auch auf die übrigen Bundesländer zutreffe.38 Neben dieser sublimen Kritik gab es einen weiteren Rückschlag für das BMZ, weil das Bundeskanzleramt eine Veröffentlichung des Briefes nicht befürwortete.39 Trotzdem fand der Brief im November 1972 seinen Weg in die Frankfurter Rundschau.40 Zu Lasten einer Verstimmung des Kanzleramtes erreichte das BMZ somit eine weitere Medienresonanz. In den Kultusministerien stieß die Initiative des Kanzlers teilweise auf offene Ablehnung. In einer Anfrage des Evangelischen Pressedienstes gaben sie an, dass das Thema in Lehrplänen verankert sei und teilweise auch weitere Angebote (Lehrerfortbildung, Projektarbeit etc.) vorhanden seien. Schade, nun beim Evangelischen Pressedienst tätig, schlussfolgerte: „Sieht man von den Bemühungen des BMZ einmal ab, so scheint die Bundesregierung nicht immer mit konsequenter und glücklicher Hand ihre Konzeption für die zweite Entwicklungsdekade und den darin festgelegten Auftrag zur entwicklungspolitischen Bewußtseinsbildung zu realisieren.“41 Schade deutete damit auf einen weiteren Prozess, der die globale Verflechtung in diesem Bereich veranschaulicht. Um 1970 begann international ein Austausch verschiedener NGOs über die jeweiligen Praktiken der entwicklungspolitischen Bildung. Eines der wichtigsten Ereignisse war der Workshop The School Open to the Third World, der 1970 im schwedischen Bergendal statfand. Im Anschluss an vorherige Diskussionen war es der erste europäische Workshop, der Development Education in den Mittelpunkt stellte: It was an attempt to compare national experience in the introduction of international development issues into the school and teacher-training college in Europe, to analyze and 38 BArch B 136/7784, Antwortschreiben Stoltenberg an Brandt, 27.09.1972. 39 BArch B 136/7784, BK an BMZ/Eppler 12.10.1972. Das BK betrachtete die Angelegenheit als „internen Vorgang“. Daher und aufgrund des Antwortschreibens war das BK gegen eine Veröffentlichung des Briefes. 40 Der Brief wurde mit einem knappen einführenden Text abgedruckt. „Im Wortlaut: ‚Entwicklungspolitik in die Schulen‘“. In: Frankfurter Rundschau, 01.11.1972. Ein Zweitabdruck erfuhr der Brief in der Zeitschrift epd Entwicklungspolitik 5 (1973). S. 23. Nachfragen des Bundeskanzleramtes beim BMZ ergaben, dass dieses den Brief der Presse zugeleitet hatte. Laut BMZ frage ein Journalist nach dem genauen Wortlaut und da es sich um eine direkte Anfrage handelte, erkundigte sich das BMZ telefonisch beim BKA, ob eine Veröffentlichung in diesem Fall doch erlaubt sei. Daraufhin gab das BKA seine Zustimmung. Das BMZ veröffentlichte den Brief nicht direkt, druckte aber den Artikel der Frankfurter Rundschau in seinem Pressespiegel zur Entwicklungspolitik ab, was einer direkten Veröffentlichung gleichkam. Siehe Pressereferat des BMZ: Entwicklungspolitik – Spiegel der Presse, 03.11.1972. 41 Schade, Friedrich: Zweigleisige Detailtherapie. Zu Willy Brands Initiative. Entwicklungspolitik in den Unterricht. Eine Anfrage der Redaktion bei den Kultusministerien der Länder. In: epd. Entwicklungspolitik 5 (1973). S. 20–22.

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evaluate recent progress and propose guidelines for more effective national and international action in this development education field during the UN Second Development Decade.42

Ein Spezifikum der Arbeitsweise war der offene Austausch über Strategien und Situationen in den jeweiligen Ländern; die Teilnehmer zielten damit aber nicht direkt auf Veränderung in den jeweiligen Schulbuchverlagen bzw. Bildungssystemen, sondern wollten sich untereinander vernetzen und in die Lage versetzen, die entsprechenden Akteure in ihrem Land zu beeinflussen.43 Von diesen Foren des Austauschs gab es weitere, wobei auch hier der Wissensaustausch im Vordergrund stand.44 In der Diskussion in der Bundesrepublik betonten die Antworten von drei Ländern (Bremen, NRW, Baden-Württemberg) auf die Anfrage des Pressedienstes, dass sie bereits direkt mit dem BMZ zusammenarbeiteten. Somit zeigte sich, dass sich das BMZ zu dieser Zeit als Referenzpunkt der Diskussion etabliert hatte. Zunehmend traten nun aber weitere Akteure ein, ohne das BMZ auszuschließen, beispielsweise die Kultusbehörden, die bei der Veränderung von Bildungsinhalten durch Lehrpläne oder Schulbuchzulassungen eine wichtige Rolle einnahmen. So wurde 1973 das Expertengespräch über Möglichkeiten der Verbesserung der Darstellung der Probleme der Entwicklungspolitik im Schulunterricht zwischen Vertretern der Kultusverwaltungen der Länder, des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft und einem Vertreter des Sekretariats der Kultusmi-

42 MacCall, Brian: Introduction. In: Report on a Joint FFHC/UNESCO European Development Education Workshop „The School Open to the Third World“ in Bergendal, Sweden, November 1970. S. III. 43 Schade war ein Vertreter der Bundesrepublik, außerdem für die Deutsche Welthungerhilfe. Siehe Teilnehmerliste in: Öffnung der Schule gegenüber der Dritten Welt. Auszug aus dem Bericht über einen Workshop der FAO(FFHC)/UNESCO. Bergendal/Stockholm, 8.–14. November 1970. In: Schule und Dritte Welt 37 (1970). S. 33–44, hier S. 43–44. Siehe auch Thomas: Report on a Joint FFHC/UNESCO European Development Education Workshop „The School Open to the Third World“ in Bergendal, Sweden, November 1970. S. 3. 44 So schlossen sich in der Inter-Agency Working Party on Education about Development neun verschiedene UN-Agencies zusammen. Siehe Inter-Agency Working Party on Education About Development (CESI): Final Report, Paris 1970. Im Abschlussbericht eines Treffens im Dezember 1970 wurden u.a. zehn Punkte definierte, in denen die UN-Agencies im Bereich der Education about Development besser zusammenarbeiten wollten. Der erste Punkt war: „Assisting and encouraging the production of educational materials and programmes on development themes by educational publishers, producers of educational radio and television programmes and voluntary organizations.“ Unterrichtsmaterialien wurden besonders betont, so hieß es unter Punkt 2, dass man Seminare fördern wolle, die auf „development issues and study trips to developing areas for writers, producers of educational materials and programmes and officials of teacher training institutions“ fokussieren.

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nisterkonferenz vom Staatsinstitut für Schulpädagogik, München, organisiert.45 Das BMZ regte dort eine Folgeveranstaltung an, in der Lehrplankommissionen eingebunden werden sollten, um so konkret an ‚Problemlösungen‘ zu arbeiten. Dies geschah wenig später mit dem Informationsseminar zur Darstellung der Entwicklungsländer im Schulunterricht, auf dem ein Überblick über die gültigen Lehrplaninhalte erarbeitet wurde.46 Das Seminar verabschiedete eine Grundsatzempfehlung für Richtlinien über die Behandlung des Themenbereichs Entwicklungsproblematik/Dritte Welt im Schulunterricht. Hier zeigt sich, dass die Zielsetzungen Epplers weitgehend übernommen wurden: Entwicklungspolitik sollte in „interdisziplinärer Zusammenarbeit mehrerer Fächer“ verpflichtend und in allen Schulformen, behandelt werden; es ginge dabei nicht lediglich um Wissensvermittlung, sondern darum zu einer „Stellungnahme und Handlungsbereitschaft“ zu befähigen, wobei „die Entwicklungsproblematik im Zusammenhang mit den Problemen der eigenen Gesellschaft behandelt werden“ sollte. Für die Umsetzung sei es zentral, „geeignete Unterrichtsmaterialien“ zu produzieren, womit auch auf die Bundeszentrale für politische Bildung gezielt wurde.47 Auch wenn die Empfehlungen in dieser Form nicht rechtlich verbindlich waren, hatte das BMZ ein weiteres Etappenziel erreicht: Durch Einbindung der zuständigen Kultusbehörden waren sie einer Mobilisierung der öffentlichen Meinung wesentlich näher gekommen. Weiterhin wurden Projekte und Workshops zum Themenfeld der Entwicklungspolitischen Bildung durchgeführt.48 Anfang der 1980er Jahre stellte dann eine erneute Lehrplan- und Schulbuchstudie des BMZ allgemein fest, „daß das Thema ‚Dritte Welt/Entwicklungspolitik‘ fest in den Lehrplänen und Richtlinien der Länder verankert ist und zu einem der zentralen Inhaltsfelder im Bereich

45 Staatsinstitut für Schulpädagogik (Hrsg.): Bericht über das Informationsseminar zur Darstellung der Probleme der Entwicklungsländer im Schulunterricht vom 03.–05.12.1973 am Staatsinstitut für Schulpädagogik in München. München 1973. Bericht inkl. der einzelnen Vorträge und einem Anhang mit Lehrplanauszügen. 46 Staatsinstitut für Sozialpädagogik, Bericht (wie Anm. 45). 47 Staatsinstitut für Sozialpädagogik, Bericht (wie Anm. 45). 48 So z.B. eine Tagung in Saarbrücken zur Dritte-Welt-Problematik 1977, auf der u.a. Wolfgang Hug, Dieter Danckwortt oder Dieter Breitenbach vortrugen: Dritte-Welt-Problematik im Schulunterricht. Dokumentation einer Fachexpertengatung zur Erfahrungsauswertung und Bestandaufnahme der entwicklungspolitischen Informationen im Schulunterricht in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz. Kongress in Saarbrücken, 27.–28. Januar 1977. Saarbrücken 1977. Für einen Überblick siehe vor allem Scheunpflug, Seitz, Geschichte (wie Anm. 16).

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der politischen Bildung gehört.“49 Das Thema war somit selbst in den Augen der stärkten Interessenvertretungen in diesem Bereich als Unterrichtsthema etabliert, auch wenn kritisiert wurde, dass meist nur „Teilaspekte des Gesamtproblems“ behandelt werden oder die Fächer nicht aufeinander abgestimmt seien.50 Trotz dieser neuen Erhebungen blieb die Frankfurter Studie ein wichtiger Referenzpunkt über die 1970er Jahre hinaus. In der öffentlichen Diskussion blieben Aussagen, dass Schulbücher mangelhaft seien und „veraltetes“, „unausgewogenes“, „nicht angemessenes“ Wissen transportieren würden, somit haften.51 Damit ging auch die Vorstellung einher, dass die wirtschaftlich arbeitenden Verlage, die staatliche Zulassungspflicht und/oder die Lehrkräfte als Nutzer versagen würden. Eine entscheidende Veränderung der Darstellung Afrikas, der Dritten Welt oder der Entwicklungspolitik würde also nicht durch eine Einflussnahme auf die regulären Strukturen erzielt werden, sondern vielmehr in der Publikation von „Anti-Schulbüchern“ und alternativen Materialien. Diese Vorstellung sollte seit den 1970er Jahren zunehmend stärker werden und wurde von verschiedenen Akteuren aufgenommen.

Die Schulbildungsgruppe, 1971–1980* Die Aktivitäten der Entwicklungspolitik riefen eine neue Akteursgruppe auf den Plan: die Entwicklungshelfer. Ab Mitte der 1960er Jahre wurden sie von der Bundesrepublik entsandt und nach ihrer Rückkehr engagierten sie sich teilweise weiterhin für die sog. Dritte Welt: Sie trugen an Schulen und Volkshochschulen vor oder schrieben für die lokale Presse. Auf diese Weise wurde vielfältig Wissen über Entwicklungspolitik und die Erfahrungen der Helfer auf lokaler bzw. regionaler Ebene diskutiert. Eine Gruppe, die sich darüber hinaus engagierte, war die Schulbildungsgruppe; sie steht im Zentrum dieses Abschnittes. Den Anstoß für ihre Arbeit gab Günter Grass mit einer Rede auf dem Rückkehrerkongress des Deutschen Entwicklungsdienst (DED) in Bremen 1971:

49 Bülow, Dorothee u. Sabine Decker-Horz: Die Darstellung der Dritten Welt im Schulunterricht. Forschungsberichte des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Bonn 1984. S. 2. 50 Bülow, Decker-Horz, Darstellung (wie Anm. 49), S. 1–8. 51 Sie bildeten beispielsweise den Kern aller Besprechungen der Heilen Welt und Dritten Welt. Hierzu auch Stein, Gerd: Immer Ärger mit den Schulbüchern. Ein Beitrag zum Verhältnis zwischen Pädagogik und Politik, Bd. 2. Stuttgart 1979. S. 44–46. * Siegfried Pater, der Koordinator der Gruppe, stand für ein Interview bereit und hat mir Zugang zu seinem Privatarchiv gewährt. Hierfür danke ich Siegfried Pater herzlich.

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„Wünschenswert und, wie ich meine, auch machbar wäre ein Schulbuch, das erarbeitet wird von Entwicklungshelfern, die zurückgekehrt sind – mit ihren Erfahrungen, auch mit ihren Enttäuschungen.“52 Öffentlichkeitswirksamer reflektierte er in der Süddeutschen Zeitung über den Vorschlag der Mitarbeit ehemaliger Entwicklungshelfer an einem notwendigen Schulbuch. Ich gehe davon aus, daß beim Unterricht nach wie vor Geschichts- und Geografiebücher benutzt werden, in denen die sozialen Probleme der Dritten Welt und die Problematik der Entwicklungspolitik entweder überhaupt nicht oder nur am Rande behandelt werden. Es fehlt ein Buch, das Lehrmittel der genannten und wider alle Vernunft nach wie vor getrennten Fächer sein könnte. Wäre es nicht richtig, mit Hilfe ehemaliger Entwicklungshelfer ein Schulbuch zu erarbeiten, in dem die draußen gewonnenen Erfahrungen anschaulich werden? Berichte über unzulängliche Versuche, vorgefundene Verhältnisse zu verändern, realistische Darstellungen von Teilerfolgen und Fehlschlägen, von spektakulären Anfangserfolgen, die durch Rückschläge zunichte gemacht wurden, und von wirklicher Hilfe, die – weil nicht spektakulär genug – unerkannt blieb: Langweilige und langweilende Statistiken könnten durch solche Erfahrungsberichte übersichtlich, bezüglich und lehrreich werden. In Bremen hielten sich Interesse und Skepsis die Waage: Gibt es dafür überhaupt einen Verleger? Wer soll das denn finanzieren? Das wird doch verhindert, bevor es gedruckt wird. Und welcher Kultusminister in welchem Bundesland wäre bereit, solch ein Lesebuch zu fördern?53

Die zugrundeliegende Idee war, eine Art Lesebuch zu verfassen und so die Erfahrungen der Rückkehrer weiterzugeben. Aus wissensgeschichtlicher Perspektive wurde damit ein Strategiewechsel vorgeschlagen: Es ging nicht mehr nur um die Mobilisierung der öffentlichen Meinung durch Informationen über die Armut und die Nennung von statistischen Daten, sondern vielmehr wurde Erfahrungswissen in den Mittelpunkt gerückt. Im Anschluss an den Rückkehrerkongress bildete sich eine Gruppe von ca. zehn ehemaligen Entwicklungshelfern. Sie trafen sich mit Günter Grass und unternahmen erste Schreibversuche über ihre in der Dritten Welt gesammelten Erfahrungen. Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass das Erfahrungswissen der Entwicklungshelfer vorhandenes Wissen über Entwicklungspolitik und globale 52 Zitiert nach Pater, Siegfried: Abenteuer Gerechtigkeit. In einem halben Jahrhundert um die Welt. Bonn 2012. S. 102. Grass beschäftige sich zu diesem Zeitpunkt schon länger mit dem Thema Schulbücher. Um 1970 war er im Rahmen einer damals allgemeinen Schulbuchschelte bzw. dem Vorwurf, dass Schulbücher undemokratische Tendenzen aufweisen würden, mit Bundeswissenschaftsminister Hans Leussink in Kontakt und plante eine Tagung mit Pädagogen und Verlagen. Siehe BArch B 138/68106. 53 Grass, Günter: Politisches Tagebuch. Die Ehemaligen. In: Süddeutsche Zeitung, 24.07.1971. Zitiert nach Grass, Günter: Essays und Reden, Bd 2. Göttingen 1997. Die Rede vom Rückkehrerkongress hat sich nicht erhalten. Hierzu auch: Pater, Abenteuer (wie Anm. 52), S. 102.

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Ungleichheit ergänzen könne und vor allem eine neue, anschaulichere Perspektive auf das Themenfeld bieten würde. Es ging ebenso darum, Entwicklungspolitik mehr Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, aber die Abgrenzung erfolgte vor allem in Bezug auf die Wissensform. Im Bestreben, ihr Erfahrungswissen zu systematisieren und sich mit Forschungsstand und Schulsystem auseinander zu setzen, nahmen sie Kontakt zu Erhard Meueler auf, der sich sowohl mit der Analyse von Unterrichtsmaterialien zum Thema Dritte Welt als auch mit ersten eigenen Unterrichtsmaterialien hervorgetan hatte und im Feld vernetzt war.54 Diese neue Zusammenarbeit, bei gleichzeitigem Ausscheiden von Grass, verschob die Zielsetzung: Die Idee eines Lesebuches wurde fallen gelassen und die Entwicklungshelfer beteiligten sich an Meuelers geplanter Produktion von Unterrichtsmaterialien. Im Zentrum dieses eindeutig (bildungs-)interventionistischen Programms stand das Anliegen, auf den wechselseitigen Zusammenhang von „Entwicklung“ und „Unterentwicklung“ (Interdependenz) aufmerksam zu machen.55 Die Gruppe der Entwicklungshelfer schrieb eine Einheit über Gastarbeiter in der Dritten Welt, in der sie sich kritisch mit den Ansprüchen und Erlebnissen der Rückkehrer auseinandersetzte und eine neue Perspektive anlegte, indem sie den Begriff „Gastarbeiter“ als Selbstbezeichnung wählte. Die Unterrichtseinheit warf einen neuen Blick auf das Feld der Entwicklungszusammenarbeit und verstand sich vor allem als Beitrag, vorhandenes Wissen über die Dritte Welt in Frage zu stellen. In einem Abschnitt wurden Schulbuchauszüge, die für die gesellschaftliche Haltung gegenüber der Entwicklungshilfe stehen sollten, abgedruckt und mit Erlebnisberichten kontrastiert.56

54 Hierzu u.a.: Meueler, Erhard: Der Themenbereich ‚Dritte Welt, Entwicklung, Entwicklungspolitik, Entwicklungshilfe‘ in Lehrplänen und Schulbüchern des Religionsunterrichts. In: Schule und Dritte Welt 27 (1971); fächerübergreifend zum Medium Film: Meueler, Erhard: Entwicklungspolitische Filme im Unterricht. In: Schule und Dritte Welt 32 (1971); als Unterrichtsmaterialien zum Thema Entwicklung und Brasilien: Meueler, Erhard: Soziale Gerechtigkeit. Einführung in die Entwicklungsproblematik am Beispiel Brasiliens und der Bundesrepublik. Textbuch-Materialien. Düsseldorf 1971 (mit einem zusätzlichen Band zur didaktischen Erläuterung). Darüber hinaus war Meueler Berater für die Publikation Heile Welt und Dritte Welt. Die gute Vernetzung zeigt auch folgender Sammelband: Meueler, Erhard u. Friedrich Schade (Hrsg.): Dritte Welt in den Medien der Schule. Analyse und Konstruktion von Unterrichtsmedien. Bonn 1977. 55 Meueler, Erhard: Entwicklung und Unterentwicklung in der Ersten und Dritten Welt, in: Kritische Friedenserziehung. Hrsg. von Christoph Wulf. Frankfurt am Main 1982. S. 347–369, hier S. 347. 56 Borkholtz, Erika [u.a.]: Gastarbeiter in der Dritten Welt. In: Unterentwicklung II. Wem nützt die Armut der Dritten Welt? Arbeitsmaterialien für Schüler, Lehrer und Aktionsgruppen. Hrsg. von Erhard Meueler. Hamburg 1974. S. 159–231.

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Zwar strebte Meueler die Aufnahme in das Sortiment eines Schulbuchverlages an, um die Sichtbarkeit des Werkes im Bildungsbereich zu gewährleisten, aber scheiterte damit. Laut Meueler war das Projekt einem großen Schulbuchverlag „politisch zu heikel“; ein anderer zog sein Interesse nach einer internen Erprobung zurück. Darüber hinaus war offenbar das finanzielle Risiko zu hoch, da die Materialien mit ihrer entschiedenen Parteilichkeit möglicherweise keine Zulassung für den Schulgebrauch erhalten würden.57 Meuelers Zusammenarbeit mit der Schulbildungsgruppe war mit der Publikation zunächst beendet, aber die Diskussionen zeigen, wie die Grenzen des Sagbaren ausgelotet wurden und dass diese in unterschiedlichen Kontexten anders gezogen wurden. Siegfried Pater, der in dieser ersten Gruppe mitgearbeitet hatte, startete auf dem Rückkehrerkongress 1974 einen erneuten Aufruf, um eigenständige Materialien zu produzieren.58 Die neue Schulbildungsgruppe begann mit einer Situationsbewertung durch eine Befragung von Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern von Berufsschulen (Ende 1974/Anfang 1975),59 die ein Interesse an „einem Schulbuch, das von Entwicklungshelfern über Entwicklungspolitik ausgearbeitet wird“ bekräftigte (67% bezeugten Interesse). Aus den Fragen über gewünschte Unterrichtsmaterialien leitete Pater ab: „Ein größerer Anteil der Lehrer fordert klare politische Aussagen: ‚Inhalt muß primär politisch und nicht karitativ-moralisch sein‘; ‚Die Verbindung zwischen Unterdrückten und Ausgebeuteten in allen Ländern einerseits und Ausbeutern andererseits ganz klar machen!‘; ‚Wem nützt der Entwicklungshelfer?‘; ‚Macht Entwicklungshilfe die

57 Das Argument kann nur bedingt gelten, da Materialien mit nur einem Schwerpunktthema lediglich als ergänzendes Material verkauft werden könnten, die keiner Zulassungspflicht unterlagen. Später erreichte man eine Drucklegung bei Rowohlt. Siehe Meueler, Entwicklung und Unterentwicklung (wie Anm. 56), S. 369. Der Gedanke des Anti-Schulbuchs war nicht lediglich eine Selbstbezeichnung zu Werbezwecken, sondern wurde auch von außen auf das Projekt angewendet, siehe hierzu die Beiträge von Skiver, die es als „Gegen-Schulbuch“ bezeichneten: Skriver, Ansgar: ‚Der Afrikaner arbeitet nicht‘. Die Dritte Welt in deutschen Schulbüchern. In: APuZ 21 (1977). S. 37–46. Die Referenz in einem Artikel der APuZ kann durchaus für eine breite Rezeption stehen; ebenso die später folgende Sendung „Der Afrikaner arbeitet nicht. Die Dritte Welt in deutschen Schulbücher“, die im III. Programm des Norddeutschen Rundfunk am 12.11.1976 von 22.15–23:00 Uhr ausgestrahlt wurde; die Redaktion hatte Alfred Pafffenholz inne. Siehe BArch B 213/20092, Sendungsmanuskript. 58 Daneben wurde auch schriftlich um Mitarbeit geworben, beispielsweise im DED-Newsletter. Siehe Privatarchiv Siegfried Pater/Schulbildungsgruppe. 59 Auswertung vom 20.10.1975, Autor Siegfried Pater. Sample: 500 Lehrer-, 1500 Schülerfragebögen, Rücklauf 58/508. Regionaler Schwerpunkt war NRW (gefolgt von Bayern, Hessen, NDS, Rheinland-Pfalz); Fächer: Sozialkunde, Politik, Gemeinschaftskunde stellten 95% des Rücklaufs, daneben waren Geschichte, Religion, Geographie etc. vertreten.

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Reichen noch reicher?‘“60 Dies entsprach auch dem politischen Interesse von Pater, der in der Nachschau betonte: Wir haben uns ja auch so empfunden, dass wir was sagen, was hier [in Deutschland] allgemein nicht so rüberkommt. Ich meine in den Medien wurde ja nicht so von hinter den Kulissen, von den Tatsachen, berichtet, da war ja vieles noch im Argen […]. Dass wir gerade das wollen, was andere nicht machen, deswegen: kritisch war das wichtige; wir wollten kritisch sein, wir wollten gegen den Mainstream schreiben.61

Die Arbeit, die nur mit hohem persönlichem und finanziellem Einsatz möglich war, setzte sich bis 1980 fort und wurde durch Siegfried Pater, den Sprecher der Gruppe, koordiniert. Neben der Umfrage wurden auch vorhandene Materialien gemeinsam diskutiert und so die Idee konkretisiert, verschiedene Erfahrungsberichte didaktisch aufbereitet zu veröffentlichen. Die Geschichten wurden teilweise auch zur Kommentierung an externe Personen geschickt.62 In der Presse wurde das Projekt schon während der Entwicklung dafür gelobt, dass Entwicklungshelfer sich in der Bildung engagieren würden und somit ihre Sichtweisen in den Unterricht einbrachten.63 Kombiniert wurde dies nicht selten mit einer Kritik an vorhandenen Schulbüchern. Da die Schulbildungsgruppe keinen regulären Schulbuchverlag fand, der das Buch in sein Programm aufnahm, wandte sie sich schließlich an den PAD-Verlag, der es unter dem Titel Mit welchem Recht? Entwicklungshilfe aus Sicht von Entwicklungshelfern verlegte; wenig später erschien ein zweites Buch mit Kurzgeschichten ohne didaktische

60 Das widerspricht teilweise anderen Wünschen der Befragten, die „unpolitische“ Bücher fordern, dass nur „ehrliche und genaue Informationen“ liefere. 61 Interview Lars Müller mit Siegfried Pater, Bonn, 10.07.2014. 62 Dabei gab es relativ wenig inhaltliche Kritik, sie beschränkte sich auf Hinweise zur Aufbereitung der Geschichten (Textlänge, Fremdwörter, Verständlichkeit etc.). Dies ist auch damit zu erklären, dass die angefragten Personen einerseits meist Lehkräfte waren und daher ihre Kompetenz vornehmlich im Didaktischen sahen und es sich anderseits weitgehend um Unterstützer des Projekts handelte, die dem Projekt gegenüber positiv eingestellt waren. Es gab nur ein Feedback, welches sich grundsätzlich negativ äußerte. 63 Man trat schon bei der Konstituierung der Gruppe an Pater heran, siehe Privatarchiv Siegfried Pater/Schulbildungsgruppe: Brief vom Journalisten Rübsaat an Schulbildungsgruppe 22.08.1974. So gab es 1976 – von Herrn Rübsaat – Sendungen im Hessischen Rundfunk, im RIAS-Berlin, im Radio Bremen und beim NDR. Brief mit Sendeterminen Rübsaat an Pater, 07.07.1976. Daneben berichteten Medien, die der Entwicklungspolitik nahe standen, regelmäßig. So beispielsweise im DED-Brief, in epd-Entwicklungspolitik, e+z, etc.

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Zusätze unter dem Titel Etwas Geben – Viel Nehmen. Entwicklungshelfer berichten.64 Im Vorwort verdeutlichten die Autoren, dass die Frage „Haben wir wirklich geholfen?“ ein wichtiger Teil ihrer Biographie sei: „Hier ist jeder von uns Entwicklungshelfern aufgefordert, selbstkritisch zu beurteilen, wie weit er wirtschaftliche, soziale und kulturelle Unterschiede für sich selbst und zum Schaden der Einheimischen ausgenutzt hat. Dies zur Entwicklungshelfer-Selbstkritik.“ Daneben müsse die „personelle Entwicklungshilfe als Teil der gesamten Entwicklungspolitik“ gesehen werden, „einer Entwicklungspolitik, die in erster Linie auf die wirtschaftspolitischen Interessen der Bundesrepublik ausgerichtet ist.“65 Während die ehemaligen Entwicklungshelfer also allgemein Entwicklungspolitik befürworteten, reflektierten sie sowohl die eigene Tätigkeit als auch die deutsche Entwicklungspolitik im Allgemeinen. Das geschah aber, ohne die Kategorien „Entwicklungsländer“ oder „Geberländer“ grundsätzlich zu hinterfragen – das war aus der Position weitgehend unverbundener Fallgeschichten auch kaum möglich. So handelte Paters Titelgeschichte in Etwas Geben – Viel Nehmen in Brasilien: Ein lokaler Bauer beschreibt, dass der Maracujapreis durch eine von „den Deutschen“ angelegte und geführte Plantage stark gefallen sei und er wirft die Frage auf, warum den Bauern mit der Entwicklungshilfe „etwas gegeben“ werde, während man ihnen durch die großen Konzerne „viel nimmt“.66 Eine andere Geschichte in dem Band entwarf einen fiktiven Dialog zwischen „Mr. Weiß“ und „Mr. Schwarz“ über die Lebensbedingungen unter der Apartheid.67 Da jeder Autor über seine Erfahrungen geschrieben hatte, konnte der Band keine Balance zwischen den unterschiedlichen Regionen der Dritten Welt leisten.68

64 Pater, Siegfried (Hrsg.): Etwas Geben – Viel Nehmen. Entwicklungshelfer berichten. Mit einem Vorwort von Erhard Meueler. Bonn 1982 [1978]. Rolf Quettings Text „Mit welchem Recht?“ wurde in Fenster. Zeitschrift für Literatur und kulturelle Initiativen 1979 nachgedruckt. 65 So im Vorwort: Pater, Etwas Geben (wie Anm. 64), S. 5. 66 Pater, Etwas Geben (wie Anm. 64). S. 15–16. 67 Schieß, Manfred: Südafrika. Die Entscheidung. In: Etwas Geben – Viel Nehmen. Entwicklungshelfer berichten. Hrsg. von Siegfried Pater. Bonn 1982 [1978]. S. 51–54. Die Geschichte läuft in der regionalen Einteilung – nach dem Inhaltsverzeichnis – unter Tansania. 68 In Pater, Etwas Geben (wie Anm. 64) wurden 21 Geschichten abgedruckt. Auf Afrika entfallen dabei neun (sieben zu Tansania, eine zu Uganda, eine zu Dahomey), auf Lateinamerika acht (drei zu Brasilien, eine zu Bolivien, drei zu Ecuador, eine zu Peru) und daneben eine zu Indien, eine zu Jamaika und zwei zu Nepal.

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Schulbuchanalyse Die bildungspolitische Diskussion innerhalb des Untersuchungszeitraums ist durch eine konstante Kritik am Wissen über Entwicklungspolitik in Schulbüchern geprägt, die dem Thema gleichzeitig eine große gesellschaftliche Relevanz beimaß. Im Folgenden steht nun Schulbuchwissen, d.h. in Schulbüchern vorhandene Repräsentation von Entwicklungspolitik und die entsprechenden Wissensformen im Vordergrund. Dafür werden exemplarisch Geschichtsschulbücher zweier großer deutscher Verlage analysiert. Der Westermann Verlag produzierte innerhalb des Untersuchungszeitraums drei reguläre Schulbuchserien, die die Zeit von der Antike bis zur Gegenwart abdeckten: Zunächst die Deutsche Geschichte mit einem Konzept des Braunschweiger Geschichtsarbeitskreises und verfasst von Hans Ebeling (1955); zweitens die Reise in die Vergangenheit, die von Ebeling konzipiert und nach seinem Tod 1967 von Wolfgang Birkenfeld übernommen wurde und bis heute aufgelegt wird (hier relevant: 1961, 1966, 1973, 1982); und drittens die Zeitaufnahme, konzipiert von Siegfried Graßmann und verfasst von einem Autorenteam (1982). Noch im Offenbacher Lehrmittelverlag erschien 1951 das Geschichtliche Unterrichtswerk. Nach dem Zusammenschluss mit dem Klett Verlag kam unter dessen Namen die Neuauflage (1959, 1968) heraus. Parallel veröffentlichte Klett das Werk Menschen in ihrer Zeit (1966, 1977), das 1982 durch Erinnern und Urteilen abgelöst wurde.69

Westermann Hans Ebeling schätzte Wissen über Entwicklungspolitik, auch wenn er den Begriff nicht verwendete, als relevant genug ein, dass er es schon Mitte der 1950er in sein Werk – zumindest randständig – aufnahm. Im Kapitel über Versuche zur Neuordnung der Welt (UNO) beschrieb er auf zweieinhalb Seiten die Ziele und Arbeit der UNO,70 um dann zur Dekolonisation Indiens überzuleiten. Davon widmete er ca. eine Seite verschiedenen Projekten zur Entwicklungspolitik. Im ersten Absatz ging er auf die UNRRA (United Nations Recovery Recreation Administration) ein, die eine „Fülle segensreicher Hilfe“ in „Notgebiete der Erde“ gab und mit dieser Nothilfe „Millionen von Menschen, vor allem in Mittel- und Süd-

69 Das sind die großen Serien des Klett Verlages in diesem Zeitraum – daneben gab es noch weitere Serien, die hier nicht näher analysiert werden können. 70 Ebeling, Hans: Deutsche Geschichte. Weltgeschichte der neusten Zeit. Braunschweig 1955. S. 156–159.

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europa und in Südostasien“ vor dem „Hungertode“ bewahre.71 Er ergänzte im zweiten Absatz die Weltgesundheitsorhanisation (WHO), die „durch Spenden und hygienische Maßnahmen in den Hunger- und Zerstörungsgebieten den Ausbruch von Seuche und gesundheitlichen Katastrophen“ verhindere, die Arbeit der Internationalen Flüchtlingsorganisation (IRO) und der UNESCO. Anschließend ging er auf die „amtliche und private Hilfsbereitschaft der Welt“ gegenüber „dem besiegten Deutschland“ ein. Care-Pakete aus aller Welt, Kinderspeisung und Lebensmittellieferungen „halfen auch hier über schlimmste Notzeiten hinweg und sollen unvergessen bleiben. Es wurde unendlich viel von einem großen Teil der Menschheit getan, um die Folgen der grauenvollen Selbstzerstörung aufs schnellste zu lindern und beheben.“72 Als Wissensform beschränkte er sich, was zu einem gewissen Maß auch der Technik geschuldet war, auf den Verfassertext. Einige Jahre später konzipierte er ein neues Unterrichtswerk: die Reise in die Vergangenheit. Das Thema Entwicklungspolitik und Dritte Welt erfuhren hier eine massive Aufwertung: Ebeling nahm ein Abschnitt über die Dekolonisation auf (Die Kolonialvölker erheben sich. Es gibt nur noch Weltpolitik). Im Anschluss an die Unabhängigkeit Indiens behandelte er eines der ersten Großprojekte der deutschen Entwicklungspolitik im Abschnitt Ein Beispiel der Entwicklungshilfe: Der Bau von Rourkela.73 Er schilderte zunächst, wie Indien drei „gewaltige Stahlwerke“ bauen wollte, hierzu aber nicht allein in der Lage gewesen sei: Es wurden daher Aufträge an Firmen aus Großbritannien, der Sowjetunion und der Bundesrepublik gegeben. Er beschrieb das Projekt als bisherigen „größte[n] Exportauftrag“ der Bundesrepublik und schilderte die Planungen und den Bau. Dabei war ihm im Rahmen seines didaktischen Programms eine anschauliche Erzählung wichtig: So beschrieb er, wie „Männer hackten und schaufelten“, Frauen „in selbstgeflochtenen Körben auf dem Kopf“ die Erde fort trugen und „eingeborene Priester“ den Ofen weihten, den Zeitpunkt für das Anheizen errechneten und schließlich der indische Staatspräsiden Prasad eine Rede zur Eröffnung hielt. Dass Ebeling dem Thema weit mehr Raum zugestand als in den Lehrplänen der Zeit dafür vorgesehen war, führte nicht zu Diskussionen mit dem Verlag, wohl aber die Ausrichtung des Kapitels: Der Verlag warf Ebeling vor, dass „das 71 Ebeling, Deutsche Geschichte (wie Anm. 70). S. 157. 72 Ebeling, Deutsche Geschichte (wie Anm. 70). S. 158. 73 Ebeling, Hans: Die Reise in die Vergangenheit, Bd. IV: Unser Zeitalter der Revolutionen und Weltkriege. Braunschweig 1961. S. 267–299. Zum Hintergrund des Projektes siehe Unger, Corinna R.: Rourkela, ein ‚Stahlwerk im Dschungel‘. Industrialisierung, Modernisierung und Entwicklungshilfe im Kontext von Dekolonisation und Kaltem Krieg (1950–1970). In: Archiv für Sozialgeschichte 48 (2008). S. 367–388.

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Wesen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Leistungen und Aufgaben in der Entwicklungshilfe vernachlässigt worden sind.“74 Der Streit entzündete sich an der Bilderauswahl: Unstrittig war eine Gesamtansicht von Rourkela; doch daneben wollte Ebeling ein Foto eines Kindes, das seinem Vater das Schreiben beibringt, abdrucken, um so den Fortschritt der Dritten Welt zu illustrieren. Für den Verlag war hiermit die deutsche Rolle nicht ausreichend gewürdigt. Gelöst wurde der Konflikt damit, dass ein zusätzliches Bild aufgenommen wurde, auf dem die deutsche Position in der Entwicklungspolitik illustriert wurde: Es stellt einen Deutschen dar, der einen Inder im Stahlwerk anlernt. Über den Text hingegen wurde nicht gestritten, obwohl dieser deutlich Position bezog: „Was hier in Rourkela in Indien mit deutscher Hilfe geschah, vollzieht sich heute an sehr vielen Stellen, vor allem in den sog. Entwicklungsländern der Erde. Überall mühen sich die Staaten und Völker, durch verstärkte Industrialisierung immer neuen Millionen Menschen zu einem besseren, menschenwürdigeren Leben zu verhelfen, ihnen Arbeit, Brot und damit Frieden zu verschaffen.“75 Das Schulbuch ergriff somit deutlich Partei und stärkte dies, indem es die gesellschaftliche Debatte in einer Aufgabenstellung mit einbezog: „Manche Erwachsene bei uns sagen: Was gehen uns die fremden Völker in Asien oder Afrika an? Kümmern wir uns um unsere eigenen Angelegenheiten! Andere wieder meinen: Wir müssen ihnen helfen, auch ohne dabei zu ‚verdienen‘, ja sogar unter eigenen Opfern. Noch andere meinen sogar: Wie wir ihnen helfen, entscheidet auch unser eigenes deutsches Schicksal. Sprecht euch über diese Ansichten aus!“76 Ebeling wählte ein hochaktuelles Thema und bezog als Autor deutlich Position. Er nahm Entwicklungspolitik ins Schulbuchwissen auf, bevor dies von Lehrplänen vorgegeben wurde und, was wichtiger ist, bevor dies gesellschaftlich als mainstream-Diskurs gelten konnte. Damit hat Ebeling neues gesellschaftliches Wissen für ein breites Publikum (mit)produziert. Die Aufnahme aktueller politischer Ereignisse formte aber auch seine Quellenbasis. Einerseits griff er auf Materialien der dort engagierten Firmen zurück, so beispielsweise für die Illustration des Stahlwerkes.77 Andererseits nutzte er die umfangreiche zeitgenössische Berichterstattung: So war Rourkela sogar Titelthema des Spie74 Westermann, Unternehmens-Archiv (WUA), 2/169, Bd. 2: Aktennotiz vom 01.07.1961. Ein teilweiser Abdruck der Aktennotiz findet sich in Müller, Lars: Schulbücher zwischen Verlagsarchiv und Erinnerungsort. In: Sascha Trültzsch-Wijnen, Alessandro Barberi u. Thomas Ballhausen (Hrsg.): Geschichte(n), Repräsentationen, Fiktionen. Medienarchive als Gedächtnisund Erinnerungsorte. Köln 2016. S. 176–188, hier S. 181. 75 Ebeling, Reise in die Vergangenheit (wie Anm. 73), S. 285. 76 Ebeling, Reise in die Vergangenheit (wie Anm. 73), S. 286. 77 Die Illustration wurde für den Verlag angefertigt, basiert aber auf einem Foto, welches von Krupp bezogen wurde. In späteren Ausgaben wird dann das Foto statt der Illustration genutzt.

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gels gewesen.78 Während aber die Medienberichterstattung am Tages- bzw. Wochengeschäft interessiert war und Rourkela daher ebenso schnell aufgenommen wurde wie es wieder aus der Aufmerksamkeit verschwand, wirkte sich Ebelings Entscheidung für den Abdruck im Schulbuch langfristig aus. 1966 erschien eine überarbeitete Version des Bandes, wobei der Text weitgehend gleichblieb. Zwei Änderungen sind zu erwähnen: Einerseits wurden weitere Abbildungen aufgenommen, u.a. zum Bau von Rourkela ein Foto mit indischen Trägerinnen; daneben ein Stahlwerk in Ägypten und Bilder zum landwirtschaftlichen Wandel.79 Anderseits wurden ausführliche Bildunterschriften zu den zuvor abgedruckten Bildern des Vater-Kind- und des Anlern-Bildes aufgenommen, wobei das Bild des Anlernens nun kleiner als das Vater-KindBild gedruckt wurde.80 Eine massive Veränderung erfuhr der Abschnitt in der Ausgabe von 1973. Wolfgang Birkenfeld hatte die Serie übernommen und kürzte nun das RourkelaBeispiel sowie die anschaulichen Erzählungen; eine Vorstellung über die Gegebenheiten erhält man nun nur durch das erhaltene Foto der indischen Trägerinnen. Unter der Überschrift Entwicklungshilfe als Aufgabe wird Rourkela zu einem „Beispiel für ‚Entwicklungshilfe‘, wie sie seit Jahrzehnten für viele Staaten der ‚Dritten Welt‘ geleistet wird.“81 Aber der Schwerpunkt wurde zum Konzept der „Hilfe zur Selbsthilfe“ verschoben, d.h. es ging nicht mehr um Großprojekte, sondern um Schulbildung, Familienplanung etc. Während hierzu anschauliche Beschreibungen ausblieben, wurden die Schülerin bzw. der Schüler weiterhin persönlich einbezogen: „Solchen Aufgaben widmen sich die Entwicklungshelfer: junge europäische Facharbeiter, Bauern, Lehrer und Ärzte zum Beispiel, die in die Entwicklungsländer gehen. Vielleicht gehörst du einmal zu ihnen?“82 Die von 1961 übernommene Fragestellung blieb leicht überarbeitet vorhanden, wurde aber um weitere Aufgaben ergänzt: So sollten die Schülerinnen und Schüler Berichte von Entwicklungshelfern sammeln, sich mit der Regierungser-

Siehe Ebeling, Reise in die Vergangenheit (wie Anm. 73), S. 295: „Rourkela. Planungsskizze der Firma Krupp“. 78 So titelte der Spiegel mit: „Rourkela-Stahlkocher Heinrich“. In: Der Spiegel 14(1960). S. 22– 34. Auch andere Zeitungen, wie Die Zeit berichten ausführlich. Firmen publizierten auch Broschüre über ihre Tätigkeit, vgl. Dr C. Otto&Comp GmbH Bochum (Hrsg.): Rourkela. Frankfurt am Main 1959. 79 Ebeling, Hans: Die Reise in die Vergangenheit, Bd. IV: Unser Zeitalter der Revolutionen und Weltkriege. 9./10. Braunschweig 1966. Einlegbögen zwischen S. 296–297. 80 Ebeling, Reise in die Vergangenheit (wie Anm. 79), S. 298. 81 Ebeling, Hans: Die Reise in die Vergangenheit. Neubearbeitung von Wolfgang Birkenfeld, Bd. 4: Geschichte und Politik in unserer Zeit. Braunschweig 1973. S. 232. 82 Ebeling, Reise in die Vergangenheit, Neubearbeitung (wie Anm. 81).

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klärung des Bundeskanzlers Brandt vom 18. Januar 1973 sowie aktuelle Meldungen dazu verfolgen.83 Weitere neun Jahre später, 1982, überarbeitete Birkenfeld das Kapitel erneut und verschob die Perspektive weiter vom Fallbeispiel zu einer globalen Perspektive. Er fügte das Kapitel Der Nord-Süd-Gegensatz ein, welches zunächst auf einer Doppelseite die „Bevölkerungsexplosion“, das Pro-Kopf-Einkommen verschiedener Länder der Erde und schließlich den Nord-Süd-Gegensatz als Kombination von „Weltbevölkerung und Welteinkommen“ jeweils als Grafik und Verfassertext darstellt.84 Nach einem weiteren Abschnitt über die „neue Weltwirtschaftsordnung“ mit der Frage, ob der „Nord-Süd-Gegensatz“ auch ein „Nord-Süd-Konflikt“ sei, griff Birkenfeld wieder auf die Überschrift der Entwicklungshilfe als Aufgabe zurück. Deutlich führte er aus: „Soll der Nord-SüdKonflikt sich nicht weiter verschärfen, müssen die Industrieländer noch stärker als bisher Entwicklungspolitik betreiben“. Die Einteilung Industrieland/Entwicklungsland wurde durch eine thematische Karte deutlich gemacht. Erst anschließend – und nicht mehr im Anschluss an die indische Unabhängigkeit – wurde die Seite über Rourkela aus 1973 abgedruckt, gefolgt von einer erneuten Adressierung der Schülerinnen und Schüler, diesmal in Form des DED-Plakats Deshalb suchen wir Entwicklungshelfer mit zugehörigen Aufgabenstellungen. Damit kehrte Birkenfeld die Perspektive im Vergleich zur ersten Erwähnung der Entwicklungspolitik um: Er stellte nicht mehr ein Entwicklungsprojekt anschaulich in den Mittelpunkt und vermittelte von ihm ausgehend allgemeine Aspekte der Entwicklungspolitik, vielmehr rückte er die globale Ungleichheit ins Zentrum und ging im Anschluss knapp auf ein Fallbeispiel ein. Ähnlich gingen auch die Autoren der Neuproduktion Zeitaufnahme vor. Die Zeitaufnahme entstand mit einem neuen Autorenteam und ohne explizite Anknüpfung an die Reise in die Vergangenheit. Mit einem stärker thematischen Ansatz widmete auch sie dem Themenfeld viel Raum: Das Kapitel Von der Dritten Welt zur dritten Kraft. Die Entstehung des Nord-Süd-Konflikts umfasst etwas mehr als 20 Seiten. Die Entwicklungspolitik wurde in einem fünfseitigen Unterkapitel Vergleich: Industrie- und Entwicklungsländer. Politische und soziale Entwicklungen des Nord-Süd-Konflikts (Ein Projekt) dargestellt.85 Die Perspektiven von Personen aus den Entwicklungsländern wurden ausgespart und es wurde sich, wie die Überschrift andeutet, komplett auf die Gegenüberstellung

83 Ebeling, Reise in die Vergangenheit, Neubearbeitung (wie Anm. 81), S. 236. 84 Ebeling, Hans: Die Reise in die Vergangenheit. Neubearbeitung von Wolfgang Birkenfeld, Bd. 4: Geschichte und Politik in unserer Zeit. Neuausgabe. Braunschweig 1982. S. 297–298. 85 Graßmann, Siegfried (Hrsg.): Zeitaufnahme. Geschichte für die Sekundarstufe I, Bd. 4: Von der Nachkriegszeit zur Gegenwart. Braunschweig 1982.

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beider Blöcke fokussiert. Dabei fragten die Autoren zwar: „Gibt es überhaupt Merkmale, die für alle Länder gelten? Ist die Auswahl der angesprochenen Bereiche nicht willkürlich?“, aber eine Hinterfragung der Kategorien „Entwicklungsland“/„Geberland“ war mit den gegebenen Quellen nicht möglich. Neben den bekannten Grafiken und Bildern, die den Gegensatz deutlich illustrierten, wurde dieser auch im Verfassertext und durch Quellenauszüge von Eppler, Weltbankpräsident Robert McNamara, der International Labour Organisation und dem Bericht der Brandt-Kommission deutlich gemacht. Der Nord-SüdKonflikt wurde zwar problematisiert, aber die Frage, warum man als Industrienationen helfen sollte, griff auf Zitate einer Broschüre des BMZ zurück. Die Argumentation der Entwicklungsakteure wurde somit unkritisch wiederholt. Auf der Ebene der Abbildungen zeigte sich aber eine Anlehnung an die Reise in die Vergangenheit: So wurde im Abschnitt zur Unabhängigkeit Indiens das Trägerinnen Bild von Rourkela abgedruckt, ohne auf Entwicklungspolitik einzugehen,86 und im Abschnitt über Industrie- und Entwicklungsländer wurde die in der Reise in die Vergangenheit verwandte Grafik zur Einkommenspyramide und die Weltkarte der Entwicklungsländer/Geberländer leicht abgeändert genutzt.87 Obwohl somit ein neu konzipiertes Kapitel geschrieben wurde, griffen die Autoren bei den Ressourcen auf die Reise zurück und kontextualisierten einige Abbildungen neu – ein nicht unüblicher Prozess in der Schulbuchproduktion.

Lehrmittelverlag/Klett In der ersten Ausgabe des Geschichtlichen Unterrichtswerks von 1951 wurde zwar schon die Nachkriegszeit mit der „Organisation der Vereinten Nationen“ und dem „Einigungsbestreben in Europa“ knapp beschrieben, aber Dekolonisation oder Entwicklungspolitik spielten noch keine Rolle.88 Dies änderte sich in der Neubearbeitung von 1959 mit einem Abschnitt über die Konferenz von Bandung 1955. Knapp wurde ausgeführt, dass sich nun unabhängige Staaten in Asien und Afrika zusammenschlossen, um die europäische Kolonialherrschaft „zu beseitigen“. Ein anderes verbindendes Element sei die Erwartung von Hilfeleistungen durch die „hochindustrialisierten Völker“, deren Bedeutung die Autoren betonten, da sie es in den Ost-West-Konflikt einbanden und die Hilfsleis86 Graßmann, Zeitaufnahme (wie Anm. 85), S. 87. 87 Graßmann, Zeitaufnahme (wie Anm. 85), S. 100, 102. 88 Geschichtliches Unterrichtswerk, Band IV: Geschichte der Neuesten Zeit. Bearbeitet von Hermann Pinnow u. Fritz Textor. Offenburg 1951. S. 179–181.

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tungen der Sowjetunion erwähnten. Sie stellten fest, dass die Not „für europäische Begriffe oft unvorstellbar“ sei und versuchten daher auch nicht, ein Bild davon zu zeichnen. Einziger Nachweis sollte eine Statistik sein, wonach die 29 Bandung-Staaten 57% der Weltbevölkerung bei 11,2% des Welteinkommens auf sich vereinigten. Akteure der Entwicklungshilfe wurden nur gestreift; so hätten die Vereinten Nationen die Mittel um „unterentwickelten Völkern“ zu helfen und auch „die Bundesrepublik wirkt in diesem Rahmen mit.“ Ergänzt wurde der Abschnitt um einen Auszug einer Rede von Truman.89 Der Aspekt, dass die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls internationale Hilfe erhielt, wie sie Ebeling erstmals 1955 aufnahm und auch in der Reise in die Vergangenheit von 1961 und 1966 erwähnte, wurde bei Klett nicht behandelt.90 Dabei zeigen die Diskussionen im Autorenteam, dass auch keine grundsätzliche Debatte über die Ausrichtung des Abschnittes stattfand.91 Weitere zehn Jahre später erfolgte eine grundlegende Überarbeitung. Unter dem Abschnitt Wandlungen in Asien und Afrika wurde einführend geschrieben, dass die Überlegenheit des Kolonialismus nun überwunden sei: „Die Industrieländer suchten den neuen Staaten zu helfen, aber wegen der Bevölkerungsexplosion gelang trotz gewisser Fortschritte in Landwirtschaft und Industrie kaum eine Erholung des Lebensstandards.“92 Anschließend wurden verschiedene Länder behandelt, wobei es beispielsweise bei Indien heißt: „Entwicklungshilfe wird von allen Seiten hereingeholt; die Sowjetunion, Großbritannien und die Bundesrepublik bauten je ein großes Stahlwerk“.93 Nach diesen Länderbeispielen wurde der Fokus noch einmal auf die weltweite Situation gelegt: Die Autoren beschrieben, dass zu den „armen Ländern“ 72% der Weltbevölkerung gehören (1960); Statistiken für Analphabetismus und ein Mangel an medizinischer Versorgung wurden knapp angerissen.94 Zahlen, wieviel Mittel flossen, wurden nur für die USA erwähnt, dafür zählten die Autoren allerdings verschiedenen Akteure auf: internationale Organisationen (OECD, EWG), christliche Kirchen, Gewerkschaften, das US-Friedenkorps und in einem Nebensatz auch, dass in der Bundesrepublik der Deutsche Entwicklungsdienst gegründet wurde. Hier89 Jeweils in Geschichtliches Unterrichtswerk, Band IV: Geschichte der Neuesten Zeit. Bearbeitet von Hermann Pinnow u. Fritz Textor. 8. Aufl. Stuttgart 1959. S. 183. 90 Ebeling, Reise in die Vergangenheit (wie Anm. 73), S. 294; Ebeling, Reise in die Vergangenheit (wie Anm. 79), S. 307. 91 Manuskript inkl. Diskussion im Autorenteam im Archivbestand Karl Krüger. 92 Geschichtliches Unterrichtswerk, Band 4: Staatensystem und Weltpolitik. Bearbeitet von Karl-Heinz Menzel u. Fritz Textor. Stuttgart 1968. S. 162. 93 Geschichtliches Unterrichtswerk (wie Anm. 92), S. 164. 94 Geschichtliches Unterrichtswerk (wie Anm. 92), S. 167. Hier spiegelt sich auch die gesellschaftliche Diskussion um Großprojekte und auch speziell um Rourkela wider.

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aus folgte: „Sie geben Hilfe zur Selbsthilfe, dadurch werden manche günstige ‚Kettenreaktionen‘ ausgelöst.“95 Auf die „Entwicklungshilfe“ der kommunistischen Staaten wurde anschließend nur kurz eingegangen, womit die westliche Hilfe eine besondere Relevanz bekam. Die Trennung in „Geberländer“ und „arme Länder“ bzw. „Entwicklungsländer“ wurde im Text vorausgesetzt. Unterlegt wurde dies einerseits durch zwei Fotos über Landwirtschaft in Togo und Indien, die als einzige anschauliche Illustration dienen.96 Andererseits wurden wie schon bei Westermann eine Weltkarte mit dem Jährlichen Einkommen je Kopf der Bevölkerung sowie eine Grafik zur „Bevölkerungsexplosion“ abgedruckt.97 Den Autoren war das Thema wichtig und es scheint Sympathie für die Praktiken der Entwicklungshilfe durch. Eine deutliche Unterstützung in Form von Aufgabestellungen oder Ansprachen der Schülerinnen und Schüler gab es dagegen nicht. Die Serie Menschen in ihrer Zeit löste mit ihrer Erstauflage Mitte der 1960er das Thema Entwicklungshilfe aus der regulären chronologischen Abfolge und verlegte es in einen gesellschaftspolitischen Anhang (Damals – Heute – Morgen), in dem allgemeine Fragen behandelt wurden. Auf immerhin sechs Seiten behandelte sie Wir und die Entwicklungsländer.98 Das erlaubte eine ausführlichere Behandlung und eine Definition: „Entwicklungsland nennen wir ein Land, in dem die meisten Einwohner noch von primitiver Landwirtschaft leben, wo die Bevölkerung sich rasch vermehrt, wo es erst wenig Industrie und zu wenig Arbeitsplätze gibt und die Mehrheit des Volkes in Armut lebt. Es sind Länder, die sich bemühen, durch Modernisierung ihrer Lebensverhältnisse und durch den Aufbau einer Industrie dem Elend zu entrinnen.“99 Die Trennung in Industrie- und Entwicklungsland ist hier ebenso unüberwindbar wie bei den anderen Bänden, aber mit einem stärker politischen Ansatz wurden die Praktiken der Entwicklungshilfe zumindest ansatzweise kritisiert. Nach der Vorstellung verschiedener Projekte wurde zunächst gefragt: „Müssen wir helfen?“, „Schuld der Weißen?“, „Feinde von morgen?“, „Konkurrenz von Morgen?“, womit das 95 Geschichtliches Unterrichtswerk (wie Anm. 92), S. 168. 96 Die Bilder stehen jeweils exemplarisch für Entwicklungsländer zeigen aber Nuancen auf: „Landwirtschaft in Entwicklungsländern (Togo): Die einheimischen Bauern bearbeiten ihr Land oft noch mit dem Grabstock. Der Ertrag ist außerordentlich gering.“ Und: „Landwirtschaft in Entwicklungsländern (Indien): Ein Entwicklungshelfer unterweist einheimische Bauern im Gebrauch des Pfluges. – Im Bezirk Mandi am Himalaya arbeiten sieben Berater aus der BRD unter 54 000 Bauern. Die Getreideernte wurde um 25 000 t gesteigert.“ Geschichtliches Unterrichtswerk (wie Anm. 92), S. 168–169. 97 Geschichtliches Unterrichtswerk (wie Anm. 92), S. 162–169. 98 Lucas, Friedrich [u.a.]: Menschen in ihrer Zeit 6. In unserer Zeit. Stuttgart 1966. S. 173–178. 99 Lucas, Menschen in ihrer Zeit 6 (wie Anm. 98), S. 173.

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„Wir“ klar zu „den Entwicklungsländern“ positioniert wurde.100 Anschließend ging es um die Frage „Wie ist Entwicklung möglich?“, unter der Bildungshilfe und Kapitalhilfe abgehandelt werden. Zwar wollten Entwicklungsländer „zuerst eindrucksvolle und augenfällige Industriebauten“ wie das Stahlwerk in Rourkela, aber eine „Modernisierung der Landwirtschaft“ sei wichtiger.101 Hier folgte dann auch die Kritik, indem beispielsweise an die Schülerinnen und Schüler die Frage gerichtet wurde: „Woran hat die deutsche Industrie im Augenblick allerdings mehr Interesse: teure Maschinen zu verkaufen oder einfache landwirtschaftliche Geräte?“ oder „Das Stahlwerk in Rourkela (Indien) ist von deutschen Firmen erbaut worden. Wer hat es letztlich bezahlt? Wer hat zunächst daran verdient?“ Trotz generell wohlwollender Darstellung der Entwicklungshilfe wurden die konkreten Praktiken und Ausrichtungen zumindest ansatzweise hinterfragt. Globale Ungleichheit blieb der Rahmen des Kapitels und diese wurde auch durch Abbildungen wie „Pflügender Bauer mit Handpflug“ (ohne Ortsangabe) und „Entwicklungshilfe: Ali Gari aus Algerien bei seiner Grundausbildung an einer modernen Drehbank“102 sowie einer Grafik zur Entwicklung der Weltbevölkerung und Zahlen der Entwicklungshilfe (kommunistische Staaten und westliche Staaten) bestärkt.103 Obwohl das Buch mehrmals überarbeitet wurde, blieb der Abschnitt über Entwicklungshilfe bis Ende der 1970er Jahre gleichlautend. Mit dem letzten hier untersuchten Band Erinnern und Urteilen von 1984 liegt wieder eine Neuproduktion vor. Im Kapitel über die Welt nach 1945, zwischen einem Abschnitt über Unabhängigkeit – und was dann? und China auf dem ‚Sprung nach vorn‘, wurde eine Seite über Entwicklung aus eigener Kraft eingefügt.104 Nach einer Situationsbeschreibung über den Teil der Weltbevölkerung, der „vom Hungertode“ und von „Kriegen“ bedroht sei, schrieb der Autor, dass Länder, die „die Lebensverhältnisse ihrer Bevölkerungen und ihr wirtschaftliches Potenzial den hochentwickelten Ländern“ anpassen wollen, „Entwicklungsländer genannt [werden] oder auch als Dritte Welt bezeichnet“ werden. Er grenzte diese von der Ersten und Zweiten Welt unter anderem mit dem „Bevölkerungswachstum“, das in „fast allen Entwicklungsländern extrem hoch“ sei, und der wirtschaftlichen Abhängigkeit zu den „ehemaligen Mutterländern“ ab. Daran anschließend leitete er zu Zusammenschlüssen der Dritten Welt über

100 Lucas, Menschen in ihrer Zeit 6 (wie Anm. 98), S. 174–175. 101 Lucas, Menschen in ihrer Zeit 6 (wie Anm. 98), S. 177. 102 Lucas, Menschen in ihrer Zeit 6 (wie Anm. 98), S. 173, 177. 103 Lucas, Menschen in ihrer Zeit 6 (wie Anm. 98), S. 176–177. 104 Alter, Peter [u.a.]: Erinnern und Urteilen 10. Stuttgart 1984. S. 219.

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(Bewegung der Blockfreien, Arabische Liga, ASEAN, OAU etc.). Auch hier wurde der Unterschied zwischen „Geber- und Entwicklungsland“ nicht hinterfragt und vielmehr mit Grafiken belegt. Es gab Grafiken zu Welteinkommen, Weltbevölkerung und einen „Teufelskreis Armut“. Das individuelle Schicksal der Personen in der Dritten Welt geriet somit aus dem Blick, ebenso wurde zwar deutlich, dass der Autor der Entwicklungshilfe generell wohlwollend gegenüber stand, aber die Schülerinnen und Schüler nicht auf ihre Verantwortung ansprach. Er nahm die Situation als gegeben und in gewissen Maß unveränderbar hin und fragte sogar nach der Verantwortung der Personen in der Dritten Welt: „Welche Folgen hat in der Dritten Welt die ‚Bevölkerungsexplosion‘ auf den Anteil des einzelnen Menschen am vorhandenen Einkommen?“105

Schlussbemerkung Die Frage von Erhard Eppler, woher die Entwicklungspolitik sich das Recht nehme, sich als Bildungsinhalt besonderer Art zu verstehen,106 lenkt aus heutiger Sicht den Fokus auf einen durchaus bemerkenswerten Prozess: Innerhalb weniger Jahre wurde Wissen über ein Thema der jüngsten Zeitgeschichte als fester Bestandteil von Geschichtsschulbüchern etabliert. Eppler selbst fasste das Phänomen in drei Schritten zusammen. Wissen über Entwicklungspolitik sei notwendig, weil erstens weltpolitische Veränderungen, vor allem die „Bevölkerungsexplosion in sog. Entwicklungsländern dazu zwingen, das Thema in die Lehrpläne aufzunehmen“.107 Neben diesem politischen Argument führte er zweitens Umfrageergebnisse an, die er im Jargon der Entwicklungspolitik als „mangelndes Problembewußtsein“ zusammenfasste.108 Drittens führte er die Auftragsstudie des Instituts für Sozialforschung ins Feld, die auf mangelhafte Unterrichtsmaterialien aufmerksam mache. Epplers Argumentation weist damit auf einen wichtigen Punkt hin: Die Gesellschaft der Bundesrepublik hat nicht einfach erkannt, dass Wissensbestände über Entwicklungspolitik relevant seien, vielmehr war dies das Ergebnis verschiedener Aktionen, die Wissen über 105 Alter, Erinnern und Urteilen (wie Anm. 104), S. 219. 106 Eppler, Entwicklungspolitik als Bildungsaufgabe (wie Anm. 5). 107 Er prognostiziert das Wachstum noch bis ca. zwölf Mrd. einige Jahre später; dabei würden ⅘ in Entwicklungsländern leben. Eppler, Entwicklungspolitik als Bildungsaufgabe (wie Anm. 5), S. 4. 108 D.h. zwar befürworte eine Mehrheit die Entwicklungspolitik, aber je konkreter persönliches Engagement gefragt sei, nehmen die Befürworter stark ab; es würden kaum Kenntnisse über eine „sachorientierte Begründungen der Entwicklungspolitik“ bestehen: Eppler, Entwicklungspolitik als Bildungsaufgabe (wie Anm. 5), S. 3.

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Entwicklungspolitik und, damit eng verbunden, Wissen über globale Ungleichheit im Kanon schulischen Wissens etablierten. Im ersten Teil des Beitrages wurde daher der Frage nachgegangen, wie Entwicklungspolitik gesellschaftlich als relevantes Thema definiert wurde. In einer ersten Phase der 1950er und frühen 1960er Jahre erfuhr – parallel zur fortschreitenden Dekolonisation und frühen Entwicklungspolitik – das Thema im Bildungsbereich erste Aufmerksamkeit. Einen Schub bekam es um 1960, als verschiedene Akteure begannen zusammenzuarbeiten. Diese Phase ist von einem gesteigerten Interesse für das Themenfeld und von unterschiedlichen, nur locker vernetzten Akteuren geprägt. Ein entscheidender Wandel setzte Ende der 1960er Jahre ein, als das BMZ begann, sich massiv im Feld der entwicklungspolitischen Bildung zu engagieren. Das Ministerium agierte dabei weniger als Teil der Regierung, sondern vielmehr als Interessenvertretung, indem es verschiedene gesellschaftliche Akteure in die Vermarktung einer Schulbuchanalyse einband sowie versuchte, die KMK, die Kultusministerien und nicht zuletzt den Bundeskanzler zu instrumentalisieren. Dabei ging es maßgeblich darum, Unterstützung für die eigene Arbeit zu erhalten, wozu es notwendig war, globale Ungleichheit als unumstößliches Problem zu etablieren und die eigene Arbeit als Lösung darzustellen. Das BMZ knüpfte eine Allianz sehr heterogener Akteure, die das gemeinsame Ziel vereinte, Unterstützung für Entwicklungspolitik in der Gesellschaft und speziell in der Schule zu erzeugen. Die unterschiedlichen Positionen zu überwinden und Konsens in allen Bereichen zu schaffen, war dabei nicht möglich. Vielmehr beschrieben die Akteure globale Ungleichheit als unumstößliches Konzept, wobei sie es inhaltlich vage hielten.109 Globale Ungleichheit war der entscheidende Faktor, die Entwicklungsarbeit zu definieren und setzte dabei eine klare Trennung in Wir und Die voraus. Wissen über Afrika war mit Wissen über Asien austauschbar, solange es den „Entwicklungsunterschied“ untermauerte. Das Beispiel der Schulbildungsgruppe zeigt, dass es unter diesem Konzept durchaus unterschiedliche Perspektiven auf Entwicklungspolitik gab. Auch die Mitglieder dieser Gruppe waren bestrebt, das Thema Entwicklungspolitik in der Schule zu befördern, wobei sie auch ihre Arbeit und die deutschen Interessen in der Entwicklungspolitik kritisch reflektieren wollten. Der meist statistikbasierten Darstellung der globalen Situation durch das BMZ und die 109 Theoretisch ließe sich dies mit dem Konzept des boundary objects umschreiben, siehe hierzu Star, Susan Leigh u. James R. Griesemer: Institutional Ecology, ‚Translation‘ and Boundary Objects. Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907– 39. In: Social Studies of Science 19:3 (1989). S. 387–420 bzw. diskurstheoretisch auch als leerer Signifikant, siehe Laclau, Ernesto u. Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien 2006.

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Nichtregierungsorganisationen stellten die Entwicklungshelfer Erfahrungswissen entgegen und erhielten damit eine große mediale Aufmerksamkeit. Da sie einige Zeit in den entsprechenden Ländern in der Entwicklungspolitik gearbeitet haben, wurde ihrem Wissen eine besondere Autorität zugesprochen. Im engeren Feld der Bildung aber wurde dieses Wissen kaum aufgegriffen. Dies wirft die Frage auf, wie Wissen dieses Themenfeldes in Schulbüchern aufgenommen wurde und welche Wissensformen genutzt wurden. Obwohl Fragen der Entwicklungspolitik weder in Lehrplänen vorgeschrieben wurden noch ein gesellschaftlicher Druck existierte, nahmen Schulbücher diese schon seit den 1950er Jahren auf. Der Fachdidaktiker und Schulbuchautor Wolfgang Hug stellte Ende der 1960er Jahre dazu fest: „Der Zwang zum Unterricht über die Dritte Welt kommt nicht von den Lehrplänen. Er kommt von den Schülern, von der jungen Generation, von Menschen, die unsere Welt in ihrer globalen Dimension erfahren haben.“110 An diesem Beispiel wird deutlich, dass Schulbücher nicht lediglich Endprodukt eines top-down-Prozesses von staatlichen Entscheidungen waren, sondern Teil gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse über das, was in einer Gesellschaft als relevantes Wissen angesehen werden kann.111 Dass dieser gesellschaftliche Druck sich zunehmend verstärkte, lag auch an der Allianz aus BMZ, Akteuren der Entwicklungspolitik und weiteren gesellschaftlichen Akteuren: Kontinuierlich wuchs der Anteil dieses Themenbereichs in den Schulbüchern an. Vier Aspekte sind dabei besonders hervorzuheben: Erstens der Faktor Zeit und der damit zusammenhängende Wandel des Schulbuchwissens. So wurde das Thema schon in Schulbüchern aufgegriffen, bevor es in bildungspolitischen Debatten große Aufmerksamkeit erfuhr. Während aber die politische Diskussion auf tagespolitische Entwicklungen reagierte, war das in Schulbüchern nur bedingt möglich. Neuproduktionen oder grundlegende Überarbeitungen, beispielsweise der Autorenwechsel von Ebeling zu Birkenfeld, ermöglichten stärkere Verschiebungen der Wissensbestände. Dabei wurden zunächst aktuelle Debatten aufgegriffen: Rourkela, Quellen wie Regierungserklärungen des Bundeskanzlers oder der Brandt-Kommission fanden teilweise im selben Jahr Eingang in Schulbücher; zudem griffen Ebeling und Birkenfeld in Aufgabenstellungen aktiv auf gesellschaftliche Diskussionen zurück. In diesem Sinne können Schulbücher als Momentaufnahmen gelten, die dann aufgrund von Neuauflagen und Nachdrucken mit minimalen Änderungen sowie von langen Nutzungsdauern 110 Hug, Wolfgang: Didaktische und methodische Ansätze für den Unterricht über Entwicklungsländer, in: Offene Welt 99/100 (1969). S. 272–281, Zitate jeweils auf S. 272. 111 Siehe hierzu auch Müller, Lars: „We Need to Get Away from a Culture of Denial“? The German-Herero War in Politics and Textbooks. In: JEMMS 5:1 (2013). S. 50–71.

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einstmals aktuelle Debatten teilweise über Jahre oder Jahrzehnte fort trugen. Gerade das Rourkela Beispiel zeigt, dass ein Anfang 1960 aktuelles Themenbeispiel über Jahrzehnte weitergetragen wurde. Zweitens ist das Spektrum des Sagbaren zu beachten: Alle untersuchten Schulbücher standen der Entwicklungspolitik prinzipiell wohlwollend gegenüber. Sieht man Schulbücher als Indikatoren gesellschaftlich relevanten oder breit akzeptierten Wissens, so kann Wissen über Entwicklungspolitik und globale Ungleichheit eindeutig als relevant gelten. Dabei bezogen WestermannPublikationen allerdings wesentlich eindeutiger Position und sprachen Schülerinnen und Schüler aktiv an, während die Klett-Publikationen versuchten, einen neutraleren Ton anzuschlagen. Dabei war das Konzept der globalen Ungleichheit in allen Bänden grundsätzlich leitend. Die verschiedenen Wissensformen beförderten dies: So wurden anschauliche Erzählungen reduziert und „objektive“ Grafiken dominierten die Darstellung. Dies ist drittens auch mit den Ressourcen und der Wissensform des Schulbuches zu erklären: Schulbuchautoren hatten in der Regel kein Wissen aus erster Hand, sondern mussten auf Publikationen zurückgreifen: Hier boten sich aktuelle Diskussionen sowie verschiedene Akteure der Entwicklungspolitik als wertvolle Ressourcen an. Statistische Daten konnten dabei leicht ins Schulbuch übertragen werden, da sie „auf einen Blick“ die globale Ungleichheit illustrierten. Auch Fotografien waren leicht einfügbare Elemente. Mit der Darstellung eines Bauern aus Asien oder Afrika wurde vor allem in den ersten Jahren maßgeblich das Ziel verfolgt, die Unterschiede zu „unserer“ Landwirtschaft zu illustrieren. Der eigentliche Ort der Fotographie war dabei von untergeordneter Bedeutung. Darstellungen wurden viertens auch durch den jeweiligen Zugang zum Thema bedingt: Wählte Ebeling in den 1950er Jahre noch den Zugang von einem lokalen Entwicklungspolitik-Beispiel (Rourkela), um zu allgemeinen Praktiken der Entwicklungspolitik überzuleiten, verschob sein Nachfolger Birkenfeld den Fokus stärker auf die globale Ebene und wählte den Zugang über den NordSüd-Gegensatz, innerhalb dessen er Rourkela noch anführte. Die Klett-Bücher bevorzugten eine Vogelperspektive und erlaubten keine lokalen, anschaulichen Beispiele. Diese Verschiebung bedeutete auch eine Tendenz zu „objektiven“ und „sachlichen“ Wissensformen wie Statistiken, Grafiken und Weltkarten. Dabei erschwerte sie gleichzeitig die Aufnahme von Erfahrungswissen der Entwicklungshelfer, das sich lokal stärker hätte verorten lassen und das eine feste Trennung in Wir und Die durch die Zementierung globaler Ungleichheit hätte gefährden können. Auch hierin ist ein Grund zu sehen, weshalb die Initiativen der Schulbildungsgruppe scheiterten, Erfahrungswissen in Schulbücher zu etablieren.

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Altes Wissen auf neuen Wegen Die Verbreitung von Äthiopienwissen durch internationale Netzwerke 1950–1980 Äthiopien erfreute sich als Thema in der Reise- und Bildungsliteratur der 1960er und 1970er Jahre einer wachsenden Beliebtheit. Doch nicht nur in Europa und den USA konnte die interessierte Öffentlichkeit ihr Wissen über Äthiopien erweitern. Das Land galt zu dieser Zeit in den internationalen Beziehungen als Schlüsselfigur für den Aufbau der internationalen Beziehungen zu den neuen afrikanischen Staaten und als vielversprechendes Ziel für Entwicklungsmaßnahmen. Regional spezifisches Expertenwissen wurde in den Sonderorganisationen der Vereinten Nationen (VN) immer wichtiger, als sich deren Aufgabenbereich und die Zahl der Mitgliedstaaten durch die Welle der Dekolonisation durch die neuen unabhängigen Staaten ab 1960 stark vergrößerte.1 Die Produktion, Verwaltung, Bewahrung und Verbreitung von Wissen wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zentrale Aufgabe internationaler Organisationen. Bestehende und entstehende transnationale Netzwerke von Expertinnen und Experten erhielten eine neue Funktion als epistemische Gemeinschaften, die zentrale Begriffe und Themen bei der Formulierung internationaler Abkommen und in der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit prägen.2 Die Frage, wie internationale Netzwerke und Organisationen Wissen produzieren und zirkulieren lassen, beschäftigt die historische Forschung erst seit Kurzem.3 Dieser Aufsatz versteht sich als Beitrag, um die Mechanismen und Zusammenhänge sowie auch die Wirkung dieser Wissensproduktion und -zirkulation besser zu verstehen. Durch die Untersuchung der internationalen Verbreitung und Produktion von Äthiopienwissen, vor allem in Bezug auf histori1 Maurel, Chloé: Histoire de l’UNESCO: Les trente premières années, 1945–1974. Paris 2010. S. 141–142; Kaufmann, Johan: United Nations decision making. Alphen aan den Rijn u.a. 1980. S. 9–12, 55. 2 Haas, Peter M.: Introduction: epistemic communities and international policy coordination. In: International Organization 46 (2009) S. 1. 3 Vgl. Svenson, Nanette: The United Nations as a knowledge system. London 2016; Littoz-Monnet, Annabelle (Hrsg.): The politics of expertise in international organizations. How international bureaucracies produce and mobilize knowledge. London, New York 2017; Kaiser, Wolfram u. Johan Schot: Writing the rules for Europe: Experts, cartels, and international organizations. Basingstoke 2014; Dülffer, Jost u. Marc Frey (Hrsg.): Elites and decolonization in the twentieth century. Houndmills, Basingstoke u.a. 2011. https://doi.org/10.1515/9783110538076-011

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sche Narrative und deren Verortung als Natur- und Kulturerbe, in den 1960er und 1970er Jahren wird deutlich, dass die Netzwerke nicht nur zwischen Organisationen oder Fachpersonen, sondern aus einer heterogenen Vielzahl von individuellen Akteurinnen und Akteuren bestehen. Jene, die im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit in afrikanischen Ländern tätig waren, prägten in dieser Zeit maßgeblich die Vorstellung von diesen Ländern, so auch von Äthiopien. Diese Bilder und Konzepte beeinflussen bis heute die öffentliche Wahrnehmung und spiegeln sich auch in politischen Entscheidungen. Die historische Forschung kann hier einen wertvollen Beitrag leisten, bei welchen Themen und Vorstellungen eine Korrektur oder zumindest erhöhte Sensibilität geboten ist. Auf den folgenden Seiten wird exemplarisch die Entstehung von Reiseliteratur und mehreren Bildbänden, die in den 1960ern zu Äthiopien veröffentlicht wurden, untersucht. Zusätzlich wird ergänzendes Quellenmaterial befragt, um die Hintergründe der Autorinnen und Autoren und der Produktion der Bildbände einerseits sowie den institutionellen und politischen Kontext in Äthiopien, in dem diese Wissensproduktion erfolgte, andererseits zu erschließen.4 Nach einem einleitendem Überblick zu den wichtigsten Fragestellungen in den Themenbereichen Wissensproduktion, internationale Netzwerke, Expertinnen und Experten, Natur- und Kulturerbe und die politische Entwicklung in Äthiopien 1960–1970 werden zunächst die Konstruktion und Institutionalisierung von äthiopischem Natur- und Kulturerbe im Spannungsfeld von nationaler Staatsentwicklung und internationaler Forschung näher erläutert, die eine wichtige Grundlage für die Wissensproduktion darstellte. Anschließend werden anhand einiger Beispiele die Entstehung und Etablierung neuer Bilder und Narrative in der Wissensproduktion behandelt. Abschließend werden die gescheiterten Versuche, die Wissensproduktion nach Äthiopien zu verlagern und dort zu institutionalisieren beleuchtet.

Internationale Organisationen, Expertennetzwerke und Afrikawissen Die Produktion des Wissens über äthiopisches Kultur- und Naturerbe genauer zu studieren ist sehr aufschlussreich für neuere Fragen und Ansätze der trans4 Dokumente aus den Archiven der UNESCO, aus äthiopischen und europäischen Archiven, Regierungspublikationen sowie unabhängige internationale und die stark zensierte staatliche Presse über Äthiopien stellen die wichtigsten Quellen dar.

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nationalen und internationalen Geschichte, da sich ein vielschichtiges, global vernetztes Bild von Handelnden ergibt, die zusammenarbeiten und dabei jeweils eigene Interessen verfolgen können.5 So kann eine differenziertere Betrachtung von Expertennetzwerken und internationalen Organisationen erfolgen, welche die Verwaltungsebene und organisationstheoretische Perspektiven mit einschließt. Netzwerke werden in dieser Betrachtung nicht nur als strukturierte und statische Netzwerke von Institutionen verstanden, sondern auch als lockere und dynamische Netzwerke menschlicher und nicht-menschlicher Handelnder.6 Die Betrachtungsweise, internationale Organisationen als Bürokratien zu begreifen, setzt sich in der Forschung immer mehr durch.7 Als Bürokratien legitimieren diese Organisationen ihre Handlungen auf der Basis von Expertenwissen. Expertinnen und Experten sind in diesem Zusammenhang in erster Linie als wissenschaftlich qualifizierte Fachleute zu sehen, die als Produzierende und Schützende von Wissen auftreten. Das gilt im Besonderen für die sogenannten Spezialorganisationen der VN. Darin wurden nach 1945 die wesentlichen Aufgabenbereiche von internationaler Bedeutung definiert: Gesundheit, Ernährung, Bildung, Wissenschaft und Kultur, um nur die wichtigsten zu nennen. In den neuen Mitgliedsstaaten der VN, viele von ihnen fielen in die Kategorie der sogenannten Entwicklungsländer, waren diese Aufgabenbereiche besonders dringlich. Dadurch wuchs der Bedarf an regionalspezifischem Expertenwissen rapide an und diejenigen Fachleute, die sich bereits mit ihren Positionen innerhalb der Organisationen durchgesetzt hatten, erhielten die Gelegenheit, ihr Wissen in

5 Grundlegend: Iriye, Akira: Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Contemporary World. Berkeley 2002; Schröder, Iris: Die Wiederkehr des Internationalen. Eine einführende Skizze. In: Zeithistorische Forcshungen 8 (2011). http://www.zeithistorische-forschungen.de/3–2011/id=4694 (10.05.2018); zum besonderen Erkenntniswert der Akteur-Netzwerk-Theorie für internationale Fragestellungen siehe Gerstenberger, Debora u. Joel Glasman: Globalgeschichte mit Maß: Was Globalhistoriker von der Akteur-Netzwerk-Theorie lernen können. In: Techniken der Globalisierung: Globalgeschichte meets Akteur-NetzwerkTheorie. Htsg. Von Debora Gerstenberger u. Joel Glasman. Bielefeld 2016. S. 11–40. 6 Als Beispiele seien hier die folgenden Untersuchungen genannt: Sibille, Christiane: LONSEA – Der Völkerbund in neuer Sicht. Eine Netzwerkanalyse zur Geschichte internationaler Organisationen. In: Zeithistorische Forschungen 8 (2011). http://www.zeithistorische-forschungen.de/3–2011/id=4708 (10.05.2018); Kott, Sandrine u. Joëlle Droux: Globalizing Social Rights: The International Labour Organization, 1940–70. Geneva 2012. 7 Barnett, Michael N. u. Martha Finnemore: Rules for the world. International organizations in global politics. Ithaca, NY 2004; Kaufmann, United Nations (wie Anm. 1); Trondal, Jarle [u.a.]: Unpacking International Organisations. The Dynamics of Compound Bureaucracies. Manchester 2010.

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neuen Kontexten einzubringen. Die Anzahl dieser „internationalen Experten“8 wuchs deshalb in den 1960er Jahren sprunghaft an und besagte Experten, die größtenteils europäischer oder amerikanischer Herkunft waren, mindestens aber eine Ausbildung in Europa oder den USA absolviert hatten, ermöglichten für die jeweiligen Organisationen die praktische Umsetzung ihres internationalen Programms. So formte auch die United Nations Educational, Scientific and Cultural Organisation (UNESCO), die im Fall des äthiopischen Nationalerbes eine Schlüsselrolle einnahm, in dieser Zeit ihren Handlungsspielraum und ihren Einfluss im Rahmen ihres Mandats.9 Die internationale Zusammenarbeit unter dem Dach der VN diente als Plattform, auf der sich altes Afrikawissen aus kolonialen Zusammenhängen und bestehenden bilateralen Kooperationen mit neuem Afrikawissen der internationalen Expertinnen und Experten verbinden konnte.10 Die UNESCO als publikationsstarke Organisation mit großer Reichweite sorgte für die Verbreitung und öffentlichkeitswirksame Kommunikation dieses neuen Afrikawissens. Über die Bücher, Berichte und Zeitschriften, die unter der Aufsicht der UNESCO publiziert wurden, gelangte Wissen, das im Rahmen der UNESCO Aktivitäten in den Mitgliedstaaten produziert wurde, in die breite ebenso wie in die Fachöffentlichkeit.11 Diese globale Erweiterung veränderte Praktiken und Handlungsweisen in den Expertennetzwerken, sowohl die internationalen Fachleute selbst, als auch das Fachwissen wurden zunehmend in Bewegung versetzt. Neben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern funktionierten Diplomaten, private Wirt8 Eine ausführlichere Diskussion des Begriffs u.a. bei: Kaiser, Schot, Writing the Rules (wie Anm. 3), S. 1–20, 295; Kott, Sandrine: International Organizations – A Field of Research for a Global History. In: Zeithistorische Forschungen 8 (2011). http://www.zeithistorische-forschungen.de/3–2011/id=4563 (10.05.2018). 9 Maurel: Histoire (wie Anm. 1), S. 261–275. 10 Speich Chassé, Daniel: Technical Internationalism and Economic Development at the Founding Moment of the UN System. In: International Organizations and Development 1945–1990. Hrsg. von Marc Frey [u.a.]. Basingstoke 2014. S. 23–45; Lepenies, Philipp H.: Lernen vom Besserwisser: Wissenstransfer in der «Eintwicklungshilfe» aus historischer Perspektive. In: Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit. Hrsg. von Hubertus Büschel u. Daniel Speich. Frankfurt am Main 2009. S. 33–59. 11 Projekte wie die Übersetzung der wichtigsten Literatur aus allen Sprachen in alle Sprachen, die World History und die General History of Africa sind nur einige Beispiele aus der Publikationstätigkeit der UNESCO. Über 5000 Einträge sind in der Bibliography of publications issued by Unesco or under its auspices, 1946–1971. Paris 1973 verzeichnet; Duedahl, Poul: Selling Mankind: UNESCO and the Invention of Global History, 1945–1976. In: Journal of World History 22 (2011). S. 101–133.

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schaftsvertreter und Reisende als Produzierende und Vermittelnde dieses Wissens untereinander, den Regierungen und Institutionen gegenüber und auch für die interessierte Öffentlichkeit. Das dabei entstehende Wissen entwickelte sich auf der Grundlage der Vorannahmen und Vorstellungen der westlichen Fachpersonen und der politischen und strategischen Ziele der jeweiligen Regierungen im innen- und außenpolitischen Kontext. Gerade durch die Arbeit der Erbe-Expertinnen und -Experten, die im folgenden Text im Mittelpunkt steht, entstand eine besonders angereicherte und vielschichtige Art des Wissens, die sich nicht nur auf Zahlen, Daten und Texte beschränkte, sondern durch Fotos, Zeichnungen und Karten historische Narrative produzierte. An den Prozessen in Äthiopien lässt sich beispielhaft nachvollziehen, wie neues und altes Wissen über Äthiopien mobilisiert und verbreitet wurde, das innerhalb westlicher Traditionen und Institutionen produziert und durch eine Beteiligung westlicher Agierender validiert wurde. Diese Produktion des Äthiopienwissens ist in auch in dem größeren historischen Kontext zu sehen, in dem ab den 1960ern ein Anschluss von afrikanischen Geschichts- und Identitätsdiskursen an das westliche Modell angestrebt wurde. Afrikanische Intellektuelle und Vertreterinnen und Vertreter der Idee im Westen visierten eine Neukonstruktion der afrikanischen Geschichte als eigene, aber dezidiert unmoderne, unindustrielle an, um den postkolonialen Aufbruch als afrikanische Aufklärung deuten zu können.12 Aus heutiger Sicht beurteilen viele diese Emanzipation als Neuauflage des Mechanismus der Produktion von Afrikawissen innerhalb des westlichen Wissenschaftssystems und sprechen von einer Neuschreibung der afrikanischen Geschichte unter gleichbleibend europäischen Bedingungen und Vorzeichen.13 12 Bahru Zewde: Society, state and identity in African history. Addis Ababa 2008; Ahluwalia, Davinder P. S. u. Abebe Zegeye (Hrsg.): African identities: Contemporary political and social challenges. Aldershot 2002; speziell für Äthiopien: Messay Kebede: Eurocentrism and Ethiopian Historiography: Deconstructing Semitization. In: International Journal of Ethiopian Studies 1 (2003). S. 1–19. 13 Die Unterscheidung in ‚afrikanisch‘ und ‚westlich‘ erscheint aus heutiger Perspektive dichotomisch und verkürzt. Im wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang ist jedoch gerade diese diskursive Qualität der Begriffe relevant, in der sich das zeitgenössische Denken angemessen beschreiben lässt. Jewsiewicki, Bogumil u. V. Y. Mudimbe: Africans’ Memories and Contemporary History of Africa. In: History Making in Africa, Bd. 32. Middletown 1993. S. 1–11; Eckert, Andreas: Afrikanische Intellektuelle und Aktivisten in Europa und die Dekolonisation Afrikas. In: Geschichte und Gesellschaft 37 (2011). S. 244; Hountondji, Paulin J.: Knowledge of Africa, Knowledge by Africans: Two Perspectives on African Studies. In: RCCS Annual Review. A selection from the Portuguese journal Revista Crítica de Ciências Sociais. https://journals.openedition.org/rccsar/174. (10.05.2018).

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Die 1960er Jahre spielen deshalb in der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung eine besondere Rolle, da im Rahmen der Dekolonisation der Diskurs um eine spezifisch afrikanische Identität und Intellektualität und um ein spezifisch afrikanisches Afrikawissen unter neuen Bedingungen mit höherer Relevanz geführt werden konnte. Viele aus Afrika stammende Politiker und Wissenschaftler konnten nun als Vertreter unabhängiger Staaten agieren und internationale Politiker und Wissenschaftler westlicher Provenienz, die bis dahin die VN und ihre Sonderorganisationen dominiert hatten, waren genötigt, sich anders zu den Stimmen dieser afrikanischer Akteure zu verhalten. Ein weiterer wichtiger Aspekt war seit 1960 der Kontext der ersten Entwicklungsdekade der VN. Die sogenannten Entwicklungsländer boten ein Anwendungsgebiet für das Expertenwissen der internationalen Organisationen und durch ihre Arbeit produzierten die Expertinnen und Experten das erforderliche Wissen, um die Länder anschlussfähig für das internationale System und die Finanzströme der Entwicklungshilfe zu machen. Diese spezifisch westliche Wissensproduktion beeinflusste in vielen dieser Länder den Ausbau staatlicher Institutionen.14 Das Afrikawissen, auf dem internationale Organisationen in den 1960er Jahren ihre Programme und Arbeit in Afrika aufbauten, bezog sich dennoch größtenteils auf eine Wissensbasis, die in ungleichen Verhältnissen produziert wurde. An diesen Verhältnissen änderte sich zunächst nur wenig, da sich die Strukturen und Institutionen nicht veränderten, sondern lediglich global erweiterten. Auch das neue Afrikawissen – und als Teilbereich davon das Äthiopienwissen – entstand eingebettet in alte Diskurse und diskursive Verhältnisse und schrieb die Ungleichheit fort.15

14 Lepenies, Besserwisser (wie Anm. 10), S. 49, 54; Rist, Gilbert: The history of development: From Western origins to global faith. London 2008. S. 74. 15 Das ist auch der grundsätzlichen Fortschritts- und Akkumulationslogik der westlichen Wissenschaft geschuldet. Es ist zwar möglich, einen Gleichstand theoretisch festzulegen, aber dieser kann praktisch nie erreicht werden. Cooper, Brenda u. Robert Morrell: The Possibility of Africa-Centred Knowledges. In: Africa-centred Knowledges: Crossing Fields and Worlds. Hrsg. von Brenda Cooper u. Robert Morrell. Woodbridge 2014. S. 2–6; Horáková, Hana: Knowledge Production in and on Africa: Knowledge gatekeepers, decolonisation, alternative representations. In: Knowledge production in and on Africa. Hrsg. von Kateřina Werkman u. Hana Horáková. Wien, Zürich 2016. S. 21–52; Arowosegbe, Jeremiah O.: African studies and the bias of Eurocentricism. In: Social Dynamics 40 (2014). S. 308–321.

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Internationale Expertinnen und Experten und Netzwerke in Kultur und Naturschutz Wissen über nationales Kultur- und Naturerbe stellt einen ebenso kritischen wie einzigartigen Bereich dieses Expertenwissens dar.16 Verschiedene Diskurse, die sich teilweise schon seit 1920 auf dem internationalen Parkett abspielten – ein regelrechter Wettlauf in der Archäologie im Zuge der kolonialen Expansion als Domäne der westlichen europäischen Länder, angetrieben von der Vorstellung die Wiege der Zivilisation sei überall in der Welt in Überresten von Hochkultur zu finden und die beginnende Thematik der Naturbewahrung – stellen die wesentlichen Vorläufer dar.17 Nach 1945 verstärkte sich die Dynamik dieser Diskurse erheblich durch das Anliegen, eine erneute Zerstörung des in Europa erlebten Ausmaßes von gebauten Kulturerbe verhindern zu wollen. Aus den Fachverbänden der Bereiche Architektur und Denkmalpflege bildeten sich eigenständige internationale Experten-Organisationen, die sich einer systemati-

16 Kultur- und Naturerbe verfügen über ein großes begriffliches, kultur- und kontext-spezifisches Deutungsspektrum. Vgl. Swenson, Astrid: „Heritage“, „Patrimoine“ und „Kulturerbe“: Eine vergleichende historische Semantik. In: Prädikat „Heritage“: Wertschöpfungen aus kulturellen Ressourcen. Hrsg. von Dorothee Hemme. Münster 2007. S. 53–74; Tauschek, Markus: Kulturerbe. Eine Einführung. Berlin 2013. S. 34, 35. In diesem Text orientiere ich mich an der aus heutiger Sicht sehr eng gefassten, eurozentrisch-abendländischen Auffassung des Begriffs, die sich an den hier untersuchten Handelnden orientiert. Vgl. zur historischen Genese des Welterbes: Rehling, Andrea: „Kulturen unter Artenschutz? Vom Schutz der Kulturschätze als Gemeinsames Erbe der Menschheit zur Erhaltung kultureller Vielfalt“. In: Global Commons im 20. Jahrhundert – Entwürfe für eine globale Welt. Hrsg. von Andrea Rehling u. Isabella Löhr. München 2014. S. 159–195. Der äußerst spannungsreiche Unterschied zwischen Natur- und Kulturerbe ist für diesen Text nicht relevant, da die hier beschriebenen Aktivitäten im Zusammenhang mit der Idee des UNESCO-Welterbes stehen, dessen wesentliche Schlüsselfunktion die konzeptionelle Verbindung der beiden Formen von Erbe war. 17 Für einen ausführlichen, wenn auch historisch eher unkritischen Einblick in die genaue Entwicklung des UNESCO-Welterbes sind die folgenden Arbeiten empfehlenswert: Titchen, Sarah M.: On the construction of outstanding universal value UNESCO’s World Heritage Convention (Convention concerning the Protection of the World Cultural and Natural Heritage, 1972) and the identification and assessment of cultural places for inclusion in the World Heritage List. PhD thesis. Australian National University 2006; Cameron, Christina u. Mechtild Rössler: Many voices, one vision: The early years of the World Heritage Convention. Farnham 2013; genauer zur konzeptionellen Entwicklung des Naturerbes: Radkau, Joachim: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2000. S. 106, 107; Schleper, Simone: Life on Earth: Controversies on the science and politics of global nature conservation, 1960–1980. Maastricht 2017. S. 31–49.

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schen, neutralen, empirisch fundierten Produktion – oder Bewahrung – von Orten der Geschichte und Erinnerung verschrieben hatten.18 Die UNESCO spielte dabei von Anfang an eine wichtige Rolle als Plattform, auf der sich die verschiedenen Initiativen und Diskurse ab den 1950ern zum Konzept eines universalen Welterbes verdichteten. Diese schrittweise Entwicklung ist auch an den UNESCO-Bestimmungen und Konventionen zum internationalen Schutz von Natur- und Kulturerbe abzulesen.19 Für viele der Fachpersonen fanden die klassisch-europäische Denkmalpflege und der Naturschutz in den Programmen der UNESCO ihre vollendete Bestimmung, welche die akademischen Disziplinen zu einem besonderen Weltwissen erhob.20 Dieses Weltwissen und -verständnis war bedeutend für die Konstruktion einer neuen internationalen Identität; ein Prozess innerhalb dessen sich die sogenannten freien demokratischen Staaten als Ideengeber und Befreier der kolonisierten Welt positionierten.21 In den Bereichen Denkmalpflege und Naturschutz Tätige erlebten einen Aufstieg, weil ihr Wissen plötzlich in einem übergeordneten Zusammenhang gefragt war. Die Identifikation von Kultur- und Naturerbe nichtwestlicher Länder wie Äthiopien, die im Zusammenhang mit den Kultur- und NaturschutzAktivitäten der UNESCO erfolgte, verdient besondere Beachtung, da diese Aktivitäten in der öffentlichen Wahrnehmung jenseits der politischen und wirtschaftlichen Fachsphären eine größere Verbreitung fand als andere Themenbereiche und einen ungleich größeren Beitrag zur allgemeinen Kenntnis und Vorstellung über diese Länder leisteten. Vor allem die reichhaltige Bildproduktion sowie die Einordnung in eurozentrische historische Narrative versetzten hier be-

18 Die wichtigsten dieser Organisationen sind das International Council of Monuments and Sites (ICOMOS) sowie das International Centre for the Study oft the Preservation and Restoration of Cultural Property (ICCROM), zu deren Geschichte: Jokilehto, Jukka u. International Centre for the Study oft the Preservation and Restoration of Cultural Property: ICCROM and the conservation of cultural heritage: A history of the organization’s first 50 years, 1959–2009. Rome 2011; Petzet, Michael: International Principles of Conservation, Bd. 20. Berlin 2009; zur International Union for the Conservation of Nature (IUCN): Holdgate, Martin W u. International Union for the Conservation of Nature: The green web. A union for world conservation. Cambridge, London 1999. 19 Eine vollständige Übersicht findet sich auf: UNESCO Legal Instruments, Culture. http:// portal.unesco.org/en/ev.php-URL_ID=13649&URL_DO=DO_TOPIC&URL_ SECTION=-471.html. 20 Petzet, International Principles (wie Anm. 18), S. 11; Rössler, Mechtild: Weltkulturerbe und Globalisierung: Vom Weltwunder zum Erbe der Menschheit. In: Welt-Räume: Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900. Hrsg. von Iris Schröder u. Sabine Höhler. Frankfurt am Main 2005. S. 235–257. 21 In diesem Zusammenhang ist auch das UNESCO-Projekt, eine Weltgeschichte zu verfassen, zu sehen: Duedahl, Selling Mankind (wie Anm. 11).

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stehendes und neues Wissen in Bewegung und sind für diesen Erfolg verantwortlich.22

Konstruktion von äthiopischem Natur- und Kulturerbe im Spannungsfeld von nationaler Staatsentwicklung und internationaler Forschung Zu Beginn der 1960er Jahre hatte Äthiopien bereits eine lange Tradition als Gegenstand westlicher Forschungen, die sich um das kontinuierlich bestehende Christentum sowie das Konstrukt einer jahrtausendealten abessinischen Hochkultur aufbauten. Die Äthiopistik war, ausgehend vom wissenschaftlichen Trend des 19. Jahrhunderts, vor allem als linguistischer Forschungszweig entstanden, mit einer theologischen Prägung und einem Fokus auf die vergleichende Erschließung früher christlicher Handschriften.23 Auch archäologische, paläontologische, naturwissenschaftliche und anthropologische Forschende entwickelten ab dem späten 19. Jahrhundert ein wachsendes Interesse an Äthiopien und konnten ihre Interessen oft im Rahmen von Expeditionen verfolgen, die von europäischen Imperien im Zeitalter der kolonialen Expansion finanziert wurden, um Wissen über potentiell interessante Gebiete verfügbar zu machen.24 Um die entsprechenden kaiserlichen Genehmigungen zu erhalten, war allerdings hochrangige Diplomatie nötig. Das Interesse der äthiopischen Regierung galt vor allem technischen Kooperationen, was dazu führte, dass von wirtschaftlichen Interessen motivierte europäische Staaten namhafte Fachleute entsandten.25 22 Vgl. dazu Salazar, Noel B.: Envisioning Eden: Mobilizing imaginaries in tourism and beyond. New York 2010. S. 89–97. 23 Einen Überblick geben die Beiträge in: Voigt, Rainer (Hrsg.): Die äthiopischen Studien im 20. Jahrhundert: Akten der internationalen äthiopischen Tagung Berlin, 22. bis 24. Juli 2000 (Ethiopian studies in the 20th century). Aachen 2003. 24 Hier z.B. die Deutsche Aksum Expedition: Wenig, Steffen (Hrsg.): Im Kaiserlichen Auftrag. Die Deutsche Aksum-Expedition 1906 unter Enno Littmann. Bd. 2: Altertumskundliche Untersuchungen der DAE in Tigray/Äthiopien. Wiesbaden 2011; zur russischen Expeditionen nach Äthiopien: Rhode, Maria: Russische Äthiopien Expeditionen 1889–1896. In: Von Käfern, Märkten und Menschen – Kolonialismus und Wissen in der Moderne. Hrsg. von Rebekka Habermas u. Alexandra Przyrembel. Göttingen 2013. S. 297–310. 25 Wie der Schweizer Ingenieur Alfred Ilg: Biasio, Elisabeth: Prunk und Pracht am Hofe Menileks: Alfred Ilgs Äthiopien um 1900 = Majesty and magnificence at the court of Menilek. Zürich 2004. S. 80–87.

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Diese Expeditionen und Kooperationen können als Anfangspunkt einer breiteren westlichen Wissensproduktion über Äthiopien in der modernen Zeit gesehen werden, da im Ergebnis erstmals Informationen über dieses Land für ein breiteres Zielpublikum als das wissenschaftliche verfügbar wurden. Allen war gemein, dass sie ausgehend von einer europäischen Idee von Äthiopien als alter Hochkultur die Verortung des Landes in der abendländischen Geschichte vornahmen, anknüpfend unter anderem an die vorgeblichen Bezüge in den Schriften Herodots und der ägyptischen Geschichtsschreibung der pharaonischen Zeit. Während der Beginn und die Periodisierung der äthiopischen Geschichtsschreibung in der jüngeren Forschung strittig sind, ging die wissenschaftliche Erschließung der äthiopischen Geschichte seit Ende des 19. Jahrhunderts unangefochten von dieser orientalistisch-semitischen Interpretation aus. Die angebliche Genese der äthiopischen Geschichte aus der zivilisatorischen Mission der Sabäer um 1000 v. Chr. dominiert, in unterschiedlichen Variationen, bis heute die Selbstdarstellung und die Fremdwahrnehmung der äthiopischen Gesellschaft.26 In enger Verbindung mit diesem historischen Narrativ steht auch die Betonung der Sonderrolle und Einzigartigkeit der Entwicklung Äthiopiens und die Vorstellung, dass sich deshalb auf dem Gebiet des heutigen Äthiopien in Verbindung mit der isolierten Hochgebirgslage die einzige afrikanische Hochkultur entwickelt habe. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts differenzierte und verstetigte sich die Wissensproduktion zu Äthiopien durch die europäischen Erforschungen. Vor allem das Forschungsgebiet der Archäologie gewann ab dem Beginn des 20. Jahrhundert an Bedeutung für den äthiopischen Staat. Unter der Regierung des Kaisers Menelik II. wurde nationales Erbe als neue Kategorie etabliert, unter anderem um eine Abgrenzung des Staates von der Kirche in Bezug auf die Deutungshoheit zu verfolgen. Europäische Wissenschaftler, Missionare und Beamte fungierten als Berater am Kaiserhof, die auch diplomatische Aufträge für ihre Herkunftsländer übernahmen. So verhandelte etwa der französische Kapuzinermönch François Bernardin Azais im Auftrag der französischen Regierung zwischen 1922 und 1926 ein Abkommen zwischen den beiden Regierungen, wel-

26 Siehe dazu den kurzen Überblick bei Teshale Tibebu: The Making of Modern Ethiopia: 1896–1974. Lawrenceville, NJ 1995. S. xvii–xxiv; vgl. auch Rait, Maria u. V. K. Vigand: Genesis of the Ethiopian studies and its future trends. In: Ethiopia in broader perspective. Papers of the XIIIth International Conference of Ethiopian Studies, Kyoto, 12–17 December 1997. Kyoto 1997. S. 242–246; Marcus, Harold G.: Haile Selassie’s Development Policies and Views 1916–1960. In: (Hrsg.): Études éthiopiennes. Bd. I: Actes de la Xe conférence internationale des études éthiopiennes, Paris, 24–28 août 1988. Hrsg. von Claude Lepage. Paris 1994. S. 641–648.

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ches die Genehmigung für erste archäologische Forschungen im Gegenzug für den Aufbau eines äthiopischen Nationalmuseums beinhaltete.27 Das Festlegen und Kanonisieren des dominanten historischen Narrativs und eines nationalen Erbes unter Einbeziehung der Wissensproduktion westlicher Archäologinnen und Archäologen lässt sich als Regierungsstrategie in der modernen äthiopischen Geschichte klar identifizieren, vergleichbar mit der wachsenden Bedeutung von nationaler Erinnerungs- und Geschichtskultur in europäischen Nationalstaaten.28 Auch im neuen Kaiserreich unter Haile Selassie I spielte die Geschichtspolitik eine wichtige Rolle und ausländische Experten, die als Produzenten und Validierungsinstanzen instrumentalisiert wurden, eine zentrale Rolle. Nach dem Ende der italienischen Besatzungszeit ab 1941 nahm die Tätigkeit von europäischen, US-amerikanischen und japanischen Forschenden in Äthiopien in den klassischen Bereichen der Äthiopistik zu und beanspruchte neue Themenfelder. Prähistorische und ethnologische Erforschungen der zahlreichen Bevölkerungsgruppen sowie Paläo-Anthropologie und Geologie verorteten in Äthiopien ein vielversprechendes Untersuchungsgebiet und dementsprechend erweiterte und veränderte sich das Äthiopienwissen. Für den Bereich des historischen Erbes bedeutete das, dass neben den bereits etablierten historischen Stätten mit monumentalem Charakter Natur und Prähistorie als neue Kategorien von Erbe entstanden. Aus Sicht der Regierung war ab 1960 die Etablierung eines Äthiopienbildes erwünscht, das auf die lange Kontinuität der Hochkultur und des Imperiums sowie der Sonderstellung des Landes innerhalb Afrikas verwies. Im Zuge der Dekolonisation afrikanischer Staaten und der Formation der Organisation der Afrikanischen Union (OAU) beanspruchte Äthiopien eine Rolle als Hegemonialmacht und Sprachrohr Afrikas, eine Rolle die auch die innenpolitische Position gegenüber den regionalen oppositionellen Bewegungen stärken sollte. Die Lokalisierung des äthiopischen Erbes im sogenannten historischen Norden des Landes spiegelte dabei die politische-sozialen Verhältnisse sowie die territorialen Machtansprüche wider. Vor allem in den Jahren von 1960– 1980, in der aktiven Hochphase der internationalen Fachleute, war diese Wissensproduktion trotz der politischen Umbruchsituation durch die Revolution 1974 von Kontinuität geprägt. Die Bedeutung des angeblichen historischen 27 Diese Verhandlungen erfolgten bereits unter der Regentschaft von Ras Tafari, der spätere Kaiser Haile Selassie I. Ras Tafari hatte eine persönliche Beziehung zu den französischen Kapuzinermönchen, da diese seine Erziehung und Ausbildung übernommen hatten: Chekroun, Amélie: Un archéologue capucin en Éthiopie (1922–1936): François Bernardin Azaïs. In: Afriques. http://afriques.revues.org/785 (12.02.2016). 28 Marzagora, Sara: History in twentieth century ethiopia: The „Great Tradition“ and the counter-histories of national failure. In: The Journal of African History 58 (2017). S. 425–444.

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Kernlandes in den regionalen und territorialen Konflikten nahm zu und die Regionen standen in einem Konfliktverhältnis zur Zentralmacht des Kaisers und später des sozialistischen Rats.29 Den entscheidenden Zuwachs an Agierenden in der Wissensproduktion bewirkte der gezielte Aufbau von internationaler technischer Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe ab Beginn der 1950er Jahre. Ausländische Expertinnen und Experten sowie beratende Personen entwickelten sich in den 1960er und 1970er Jahren als zentrale Gruppe, die eine wichtige Rolle in der staatlichen und politischen Entwicklung Äthiopiens übernahmen.30 Die politische Förderung der Kooperation war der Grund für den besagten kontinuierlichen Zuwachs. Die Zielsetzung des Staatsumbaus zum bürokratischen Verfassungsstaat, begonnen in der Monarchie und fortgeführt im sozialistischen Staat nach der Revolution von 1974 verzahnte sich so gewinnbringend mit der Expansion und zunehmenden Operationalisierung der internationalen Organisationen. In der internationalen Entwicklungszusammenarbeit mit Äthiopien waren technische Infrastruktur, Bildung, wirtschaftliche Entwicklung und landwirtschaftliche Ressourcen und Gesundheit die zentralen Themen. In all diesen Bereichen spielten deshalb die skizzierten Einflüsse aus dem Ausland eine wichtige Rolle beim Aufbau der entsprechenden staatlichen Institutionen in Äthiopien.

Institutionalisierung der Wissensproduktion nach westlichem Standard Seit den Bemühungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Nationalmuseum und im Zusammenhang damit die systematische Sammlung und Erfassung von Objekten zu beginnen, wurden in den folgenden Jahrzehnten immer wieder designierte Abteilungen und Einrichtungen für Kultur- und Naturerbe innerhalb der Regierung geschaffen. Die exekutive Reichweite und Funktionalität dieser Einrichtungen blieb jedoch in einem sehr beschränkten Rahmen, nicht zuletzt weil 29 Markakis, John: Material and social aspects of national conflict in the Horn of Africa. In: Civilisations Civilisations 32 (1982). S. 273–304; Balsvik, Randi Rønning: Haile Selassie’s students: The intellectual and social background to revolution, 1952–1977. Addis Ababa, East Lansing 2005. S. 205, 206; Bahru Zewde: A history of modern Ethiopia, 1855–1991. Oxford u.a. 2001. S. 87–90. 30 Vgl. Blanc, Guillaume u. Marie Bridonneau: Conseiller, expert et consultant en patrimoine. La construction d’une figure de l’Éthiopie contemporaine. In: EchoGéo https://echogeo.revues. org/14128 (31.10.2017).

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es so gut wie keine ausgebildeten äthiopischen Fachkräfte für diese Institutionen gab.31 Der Erwerb der nötigen Kenntnisse für eine Tätigkeit in einer staatlichen Behörde war lange Zeit nur für die äthiopischen Oberschichten durch ein Studium im Ausland realisierbar. Die wenigen in Europa ausgebildeten äthiopischen Arbeitskräfte sahen sich diesem Fachkräftemangel ohne eine Perspektive auf kurz- oder mittelfristige Verbesserung ausgesetzt, da es keine Möglichkeit für eine entsprechende Ausbildung oder ein entsprechendes Studium in Äthiopien gab. Aus dieser begrenzten Anzahl an Fachkräften rekrutierte sich zudem auch die Besetzung alle anderen Aufgaben im Staatsdienst; Denkmal- und Naturschutz genossen bei dieser Konkurrenz eine untergeordnete Priorität und bestanden über lange Jahre nur auf dem Papier. Eine leichte Besserung trat ein, als archäologische Forschungen sowie die Inventarisierung von Kulturerbe ab 1952 von den Forschern des französischen Institut éthiopien d’Études et de Recherches übernommen wurde. Dieses Zentrum wurde im Rahmen einer bilateralen Kooperation ins Leben gerufen und übernahm bis 1979 die Aufgabe eines nationalen Instituts für Denkmalpflege und Archäologie.32 Die Geschichte des Naturschutzes in Äthiopien verlief entlang verschiedener Entwicklungslinien: der staatlichen Kontrolle über die Nutzung natürlicher Ressourcen als Ressort des Landwirtschaftsministeriums und der Forstwirtschaftsbehörde einerseits und der staatlich kontrollierten Großwildjagd andererseits. Staatlich regulierter Artenschutz- und Jagdbestimmungen sind erstmals für 1909 zu finden, doch erst in 1964 entstand eine eigene Behörde.33 Die Einrichtung mehrerer Nationalparks und anderer Schutzzonen hatte – ähnlich wie die Bestimmungen zum Denkmalschutz und zum Export von Kunstgegenständen – eher formalen Charakter und wenig praktische Wirkung. Auch diese Instrumente scheiterten zunächst an der Umsetzung aus Mangel an ausgebildeten Angestellten sowie der ausreichenden finanziellen und technischen Ausstattung. Ausländische Fachkräfte waren hier nicht nur in der Behörde direkt von Bedeutung für das Voranschreiten der Institutionalisierung, sondern auch 31 Gasiorowski, Eugeniusz: Legislation for the safeguarding of the cultural heritage of Ethiopia. Paris 1981; Howland, R.H.: Ethiopia – Recommendations for the organization of the ethiopian antiquities administration. Paris 1967. 32 Kebbede, Mikael u. Jean Leclant: La Section d’Archaeologie (1952–1955). In: Annales d’Ethiopie 1 (1955). S. 1–10. Auch danach übernahm das Institut diese Funktion in der neu gegründeten Behörde für Denkmalschutz: Eshete, Aleme: The cultural situation in socialist Ethiopia. Paris 1982. 33 Hillman, Jesse: Ethiopia: Compendium of Wildlife Conservation Information. Bd. 2: Ethiopian Wildlife Conservation Organisation. Addis Ababa 1993; Blower, John: Ethiopia – Wildlife Conservation and National Parks. Paris 1971.

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als Ranger und Wachpersonal von Nationalparks.34 Einen Aufgabenschwerpunkt dieser Posten bildete die Beobachtung und Kartierung sowie die systematische Erfassung nach den von den verschiedenen internationalen Organisationen vorgegebenen Kriterien. Durch diese Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen war es in Äthiopien möglich, nationales Erbe und dafür erforderliche Wissensproduktion als staatliche Aufgabe nach westlichem Standard zu institutionalisieren. Das Beispiel der Denkmalbehörde illustriert die Rolle der internationalen Organisationen bei der Modernisierung des Staatsapparats in Äthiopien deutlich. Gegründet aus der bereits erwähnten archäologischen Sektion unter französischer Ägide wurde die Behörde ab 1967 systematisch aufgebaut, als im Rahmen der technischen Zusammenarbeit und Entwicklungsarbeit die Möglichkeit bestand, Fördergelder für Ausstattung und internationale Expertise zu beantragen. Über die entsprechende Abteilung der UNESCO wurden mehrere Berater engagiert, die nicht nur eine Denkmalschutz-Gesetzgebung verfassten sondern sich auch für den Ausbau der Behörde und deren verschiedener Arbeitsbereiche verantwortlich zeichneten. Die Leitung der Behörde und die Abwicklung der bürokratischen Vorgänge oblag zwar äthiopischen Beamten, das spezialisierte Wissen aber wurden durch Experten westlicher Provenienz gestellt.35 Auf ähnliche Weise wurde die Organisation für Artenschutz eingerichtet, formal dem Landwirtschaftsminister unterstehend, aber praktisch unter der Leitung eines europäischen, später eines US-Amerikanischen Experten. In die Zuständigkeit dieser Behörde fiel auch die Verwaltung der verschiedenen Naturschutzgebiete und Nationalparks. Die Experten vertraten vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten 1960–1980 ein kolonial und rassistisch geprägtes Konzept sowie Verständnis von Artenschutz und propagierten in diesem Sinne Nationalparks als bevorzugtes Instrument der nationalen Naturschutzzone.36 Die Auswirkung dieser Expansion und Institutionalisierung von Kulturgüter- und Naturschutz im Rahmen von Entwicklungshilfeprogrammen ist nicht zu unterschätzen, denn Gelder, Expertise und Ausstattung hätten sonst in diesem Umfang von der äthiopischen Regierung nicht bereitgestellt werden kön34 Hillman, Ethiopia (wie Anm. 33). 35 Dazu genauer Huber, Marie: Making Ethiopian Heritage World Heritage – UNESCOs Role in Ethiopian Cultural and Natural Heritage. In: Annales d’Éthiopie 31 (2017). 36 Blanc, Guillaume: Une histoire environnementale de la nation: Regards croisés sur les parcs nationaux du Canada, d’Éthiopie et de France. Paris 2015. Der erste Behördenleiter, John Blower, war zuvor senior game warden in Britisch-Kenia. Es ist nicht verwunderlich, dass Haile Selassie den kolonialen Charakter der Nationalparks als Regierungsinstrument im Hinblick auf die territoriale Expansion und kolonial-imperialen Expansionsansprüche des Äthiopischen Kaiserreichs in den 1960ern attraktiv fand.

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nen. Die Einrichtung der beiden zentralen Behörden in diesen Bereichen erfolgte mit internationalen Fachkräften, die mit ständiger Beratungsfunktion in den jeweiligen Ministerien angestellt waren und stand im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe an UNESCO-, FAO-/IUCN- und UNDP-Projekten ab 1960. Durch die Tätigkeit dieser internationalen Fachpersonen und durch den institutionellen Kontext, in dem sie agierten, wurde nicht nur der Grundstein für eine Institutionalisierung der Wissensproduktion über Äthiopien nach westlichem Standard gelegt. Gleichzeitig wurde diese Wissensproduktion in neue Netzwerke zwischen verschiedenen Institutionen und einzelnen Personen eingebunden, die einen wesentlichen Teil zur Verbreitung des Äthiopienwissens auf internationalen Kanälen mit enormer Reichweite beitrugen.

Neue Bilder für die Wissensproduktion Publikationen wie Bücher, Broschüren und Magazin-Artikel verbanden nicht nur altes mit neuem Wissen, sondern sorgten für eine Bewegung in neue Kontexte hinein, aus der speziellen Sphäre der archäologischen Fachwelt in die allgemeinere Öffentlichkeit. Die UNESCO veröffentlichte regelmäßig Artikel zu Aktivitäten im Bereich des Kulturgüterschutzes in Äthiopien im monatlich erscheinenden Courier.37 Allerdings lässt sich der eingangs angesprochene Anstieg an internationalen Publikationen über äthiopisches Kultur- und Naturerbe, vor allem Bildbänden, nicht allein dadurch erklären. Bemerkenswert und ausschlaggebend für die erhöhte Reichweite dieser Inhalte über Fachkreise hinaus war vor allem der Anstieg an Bildmaterial. Neue technische Möglichkeiten der Farb- und Luftbildphotographie stellten die Voraussetzung dafür dar, dass sich auch nichtwissenschaftliche Agierende in die Wissensproduktion einbringen konnten und ein neues Bild von Äthiopien in den 1960er und 1970ern prägten. Vor allem zwei Bereiche lassen sich als verantwortlich für die Produktion der neuen Bilder ausmachen: der beginnende Kultur- und Naturtourismus sowie die Reisetätigkeiten und privaten Erkundungstouren kulturinteressierter, im Land stationierter, ausländischer Fachkräfte.

37 Doresse, Jean: The Greatness of Ethiopia. In: UNESCO Courier 12:10 (1959). S. 30–33; Howland, Richard H.: Journey to Ethiopia’s past. In: UNESCO Courier 20:11 (1967). S. 39–42; Jäger, Otto: Art of Ethiopia. In: UNESCO Courier 17:10 (1964). S. 18–24; Leroy, Jules: The art of Ethiopia’s painter-scribes. In: UNESCO Courier 14:12 (1961). S. 28–30; zum Courier allgemein: Maurel, Histoire (wie Anm. 1), S. 159, 160.

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Touristische Bildwelten Von besonderer Bedeutung für die Verbreitung des Wissens von Kultur- und Naturerbe Äthiopiens und für die Produktion und Verbreitung eines entsprechenden Bilderkanons war der staatliche Aufbau eines Tourismussektors. Um Grundlagen und Anreize für Investoren zu schaffen, übernahm eine eigens gegründete Behörde mithilfe ausländischer Berater die Entwicklung, Vermarktung und Planung touristischer Konzepte.38 Die Fluglinie Ethiopian Airlines begann schon Anfang der 1950er Jahre die Vermarktung von touristischen Reisen an das internationale Publikum aus Diplomaten und Entwicklungshelfenden, das in Addis residierte, ab Mitte der 1960er wurde auch gezielt der nordatlantische Markt angesprochen.39 Nach der Einrichtung einer staatlichen Tourismusorganisation in 1966 erfolgte die systematische und gezielte Entwicklung einer Marketingstrategie, die neben den Slogans „13 months of sunshine“ und „The hidden empire“ eine Bildproduktion verfolgte, die Orte des Natur- und Kulturerbes als Destinationen etablierte sowie inszenierte und sich an den Erwartungen und Sehgewohnheiten der Zielgruppe nordatlantischer Touristinnen und Touristen orientierte.40 Für die Produktion der Broschüren und Reiseführer wurden auch die Fachleute des Institut éthiopien d’Études et de Recherches und der Artenschutzorganisation hinzugezogen.41 So wurde über einen Zeitraum von nur wenigen Jahren eine Bilderwelt von Äthiopien erschaffen, die als Kernthemen das alte Königreich und die seltene Natur im Hochgebirge ikonographisch verfestigte. Die Doppelrolle der internationalen Expertengruppe als Vermittelnde von Wissen für eine interessierte Öffentlichkeit wird deutlich an Rundreisen wie der

38 Ianus. Organizzazione per gli studi e le ricerche di economia applicata S. p. A.: Ethiopian Tourist Development Plan. Milan 1969; Ayalew Sisay: Historical development of travel and tourism in Ethiopia. Addis Ababa 2009; Gaidoni, B. G.: Ethiopia – Cultural Tourism: Prospects for its Development. Paris 1970. 39 NALE 1.2.12.01, Ethiopian Airlines; Addis fungierte als wichtiges Luftdrehkreuz für Afrika, die Geschichte von Ethiopian Airlines gilt als außergewöhnliche Erfolgsstory, mehr dazu in: Ethiopian Airlines: Bringing Africa together. Addis Ababa 1989; Geiger, Theodore: The Case Study of TWA’s Service to Ethiopia, Bd. 8, 1959 (United States Business Performance Abroad). 40 Siehe allgemein zum Konzept des „tourist gaze“: Urry, John: The tourist gaze: Leisure and travel in contemporary societies. London 1990. S. 1–3, 110–112. 41 In der Bibliothek des Institute for Ethiopian Studies in Addis sind zahlreiche Broschüren der ETO erhalten, z.B. „Big Game“ unter der Mitarbeit von Leslie Brown, der als Leiter der Artenschutzbehörde angestellt war, oder „Ancient Sites of Northern Ethiopia“ mit Texten von Francis Anfray, Archäologe des Instituts.

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des britischen Reisebüros Swan Tours 1972–1973.42 Insgesamt vier „special interest tours“ fanden in Äthiopien statt, mit vier renommierten Wissenschaftlern als Reisebegleitern: Der Historiker und Aktivist Richard Pankhurst und die Historikerin und Aktivistin Rita Pankhurst, zwei Schlüsselfiguren in der wissenschaftlichen Entwicklung Äthiopiens im 20. Jahrhundert, der Archäologe Patrick Kirwan, der unter anderem in Aksum forschte und der Äthiopien-Historiker Edward Ullendorff. Die Etablierung eines Kanons an historischen Stätten für die Entwicklung eines touristischen Konzepts für Äthiopien war geleitet von der Annahme, dass nur diese Stätten über genug Anziehungskraft verfügen würden, um relevante Besucherzahlen zu generieren.43 So entstand, in Zusammenarbeit mit Personen in beratender Funktion, die durch die UNESCO beauftragt wurden, eine historische Route im Norden des Landes, welche das Herzstück des Marketings der Tourismusorganisation, der Ethiopian Airlines und anderer Reiseveranstaltern darstellte. Zeugnis davon sind zahlreiche Publikationen zur Tourismuspromotion, Bücher, Reiseführer und Broschüren.44 Das Image-Potential der historischen Stätten wurde auch politisch genutzt: Regierungspublikationen wie allgemeine Landesinformationen, Investmentguides oder Entwicklungsberichte hatten stets Bilder wichtiger historischer Stätten wie den Obelisk von Aksum oder die Schlossanlagen von Gondar auf dem Cover oder an prominenter Stelle, ebenso ging vielen Veröffentlichungen ein geschichtliche Einführung voraus, die mit den entsprechenden Bildern illustriert wurde.45

Entwicklungshelfende als Hobby-Archäologinnen und Archäologen Nicht nur im Rahmen von Forschungen, sondern auch im Rahmen von privaten Kultur- und Entdeckungsreisen erfolgte eine verstärkte Erschließung des Landes, die sich als Wissensproduktion verstehen lässt. Viele der Reisenden ka42 SOAS, Kirwan papers, Box 4, 3–70, Swan (Hellenic) LTD, 1972–73 special interest tours of Ethiopia, 15.6.1972. 43 Angelini, Sandro u. Louis Mougin: Ethiopia – Proposals for the Development of Sites and Monuments in Ethiopia as a Contribution to the growth of Tourism. Paris 1968; Gaidoni, Ethiopia (wie Anm. 38). 44 IES, Tourism Miscellanea 4 & 5. 45 Exemplarisch: Economic progress of Ethiopia. Addis Ababa 1955; Ethiopian Tourist Organisation u. PPR International, London: Ethiopia – Opportunity for Investment in a new chain of tourist hotels. o.J.

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men dabei nicht eigens zu diesem Zweck nach Äthiopien, sondern waren als Fachkräfte in der Entwicklungszusammenarbeit für einige Jahre im Land anwesend. Die hohe internationale Mobilität und Vernetzung dieser Agierenden sollte sich als besonders fruchtbar für das Antreiben der Bewegung des Wissens erweisen. Die bereits in Äthiopien ansässigen westlichen Fachleute hatten dabei einen entscheidenden praktischen Vorteil: Reisen und Mobilität in die verschiedenen Regionen Äthiopiens stand damals wie heute unter schwierigen Voraussetzungen. Während Inlandsflüge zuverlässig wenigstens die wichtigsten Städte miteinander verbanden, erforderte eine Reise jenseits der einzelnen Städte ein geländegängiges Fahrzeug mit jemandem, der es steuerte, Mensch oder Maultier. Reisen wurde durch diesen Umstand zu einem kostspieligen Unterfangen, das auch eine gewisse zeitliche Flexibilität erforderte und aus der Ferne, ohne lokale Kontakte, praktisch nicht zu organisieren war.46 Rundreisen wie die oben erwähnte von Swan Tours fanden zwar statt, stellten aber eine Ausnahme dar.47 Ab den 1950er Jahren erweckte zunächst das äthiopische Kulturerbe, besonders die christlichen Stätten wie die Felskirchen in Lalibela und Tigray, die Aufmerksamkeit der anwachsenden internationalen Expertengemeinschaft. Ab den 1960er Jahren erfuhr auch das Naturerbe vermehrt Beachtung; Äthiopien profilierte sich als Land von Interesse für Naturbeobachtende auf der Suche nach seltenen Vögeln und Kleintierarten sowie durch die landschaftliche Besonderheit des Hochgebirgsplateaus.48 Ein besonders anschauliches Beispiel für diese Wissensproduktion über äthiopisches Kulturerbe ist das zur Entdeckung stilisierte Interesse verschiedener Entwicklungshelfenden an den zahlreichen Felskirchen im Norden Äthiopiens. In großer Abgeschiedenheit und schwer zugänglicher Lage existieren in der Region Tigray jahrhundertealte, scheinbar unverändert bestehende und als Glaubensorte genutzte in den Fels gehauene Kirchen, in denen sich Wandgemälde und reichhaltig illustrierte christliche Bibelmanuskripte befinden. Das Wissen über die Existenz dieser Kirchen sprach sich mit dem Eintreffen der internationalen Helfenden in der Region in den internationalen Kreisen in Äthiopien herum und veranlasste einige von ihnen, zu Expeditionen zu den Kirchen aufzubrechen. So auch den deutschen Spezialisten für die Gesundheit von Mutter und Kind, Otto Jäger, der durch die World Health Organisation (WHO) im Norden Äthiopiens stationiert war und seine Freizeit dazu nutzte, die 46 Geiger, Case Study (wie Anm. 39). 47 Das zeigt auch die geringe Anzahl der Hotelbetten in den einzelnen Städten: Ianus, Ethiopian Tourist Development Plan (wie Anm. 38), S. 22–24. 48 Huxley, Julian [u.a.]: The Conservation of Nature and Natural Resources in Ethiopia. Paris 1963; Ethiopian Tourist Organisation u. Jill Last: Endemic mammals of Ethiopia. Addis Ababa 1982; Urban, Emil K.: Shell guide to Ethiopian birds. Addis Ababa 1980.

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Kirchen in der Umgebung zu erkunden. 1958 wandte sich Jäger an die UNESCO, mit der Bitte die Produktion eines Fotobandes über die Kirchen zu unterstützen. Das Resultat war der Band „Ethiopia“, der 1961 in der UNESCO-World Art Series erschien und vor allem Fotografien von äthiopischen Bilderhandschriften aus den Beständen der Felskirchen in Tigray enthielt.49 Nachdem der von Jäger eingereichte begleitende Aufsatz als wissenschaftlich zu wenig fundiert eingestuft wurde, beauftragte der zuständige Mitarbeiter des UNESCO-Sekretariats den Spezialisten für äthiopische Ikonographie und Handschriften, Jules Leroy, assoziierter Wissenschaftler des Institut éthiopien d’Études et de Recherches, einen entsprechenden Aufsatz zu verfassen.50 Parallelen zur Geschichte von Otto Jäger weist die von Ivy Pearce, Gesundheitsexpertin, Missionarin und Dozentin an der Haile Selassie I University auf. Während ihrer Zeit in Äthiopien unternahm Pearce, inspiriert von den ersten Berichten Otto Jägers, insgesamt zehn Expeditionen zu den Felskirchen von Tigray, wobei sie jeweils eine Gruppe von weiteren interessierten Ausländerinnen und Ausländern leitete. Sie wurde zunächst offiziell vom Gouverneur der Provinz Tigray empfangen und bekam Tragtiere, Führer und bewaffneten Begleitschutz zur Seite gestellt für ihre Touren. 1972 publizierte sie zusammen mit Otto Jäger den kunsthistorischen Reiseführer Antiquities in Northern Ethiopia.51 Vor allem fällt bei Ivy Pearce auf, dass sie das frühe Christentum und seinen Fortbestand in Äthiopien in einer glorifizierenden Sprache beschrieb und betonte, dass sie sich aufgrund ihres eigenen christlichen Glaubens dazu berufen fühlte, das Wissen über diese Kirchen und das Land zu verbreiten. Das Institut éthiopien d’Études et de Recherches brach erst 1970, also zehn Jahre nach Otto Jägers erster Tour, zu einer ersten systematisch-wissenschaftlichen Expedition zur Dokumentation der Kirchen auf.52

Neue Publikationen und Bildbände ab 1960 Anfang der 1960er Jahre existierte noch kaum allgemeine einführende Literatur oder Reiseliteratur für Interessierte über Äthiopien, daher stießen die Ergebnis49 Wright, Stephen G. [u.a.]: Ethiopia: Illuminated manuscripts. Paris 1961. 50 UNESCO, UWAS 7 (63), Briefwechsel; Jäger sollte allerdings 1964 die Gelegenheit erhalten, seinen Aufsatz im Courier zu veröffentlichen: Jäger, Art of Ethiopia (wie Anm. 37)51 Jäger, Otto u. Ivy Pearce: Antiquities of North Ethiopia. A guide. Stuttgart 1974; Pearce, Ivy: An Andrews adventure and Pearce’s pilgrimage to the cave and rock churches of Lasta. In: Ethiopia Observer 13 (1969). S. 142–163. 52 Une Mission scientifique etudie les Eglises-Rocs du Tigre. In: Ethiopie nouvelles touristiques 2:7 (1973). S. 1.

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se der privaten Erkundungsreisen auf das Interesse großer europäischer und amerikanischer Verlagshäuser und Magazine.53 Das vielleicht früheste Werk dieser Art ist der 1959 erschienene Bildband namens Lalibela von Irmgard Bidder, der einen Reisebericht und zahlreiche Fotografien ihrer Reisen nach Lalibela und den dortigen Felskirchen enthält, sowie den Versuch einer allgemeinen Einordnung der äthiopischen Geschichte in die abendländische Geschichtsschreibung. Im Vorwort erklärte die Autorin ihre Absicht: „Dieses Buch […] möchte die Aufmerksamkeit der Leser auf ein historisches und religiöses Zentrum Äthiopiens lenken und die Forschung der Wissenschaftler anregen.“54 Irmgard Bidder war die Ehefrau des amtierenden deutschen Botschafters in Äthiopien und konnte für die Planung ihrer Expedition, bei der sie von vier weiteren Deutschen begleitet wurde, auf die Unterstützung durch die Regierung ebenso wie der Kirche zurückgreifen.55 In den Jahren 1964–1967 bereiste der Schweizer Georg Gerster Äthiopien und auch er veröffentlichte ein Buch über Lalibela, für die Texte allerdings bat er wissenschaftliche Expertinnen und Experten um ihre Beiträge.56 Er fertigte hochwertige Luftaufnahmen an und publizierte seine Fotografien unter anderem auch in internationalen Magazinen wie National Geographic.57 Georg Gerster verstand seinen Aufenthalt in Äthiopien als die „Suche nach dem heiligen Gral“,58 den er in der Isolation und Intensität der alten christlichen Tradition, die Lalibela für ihn verkörperte, gefunden hatte. Georg Gerster, Fotograf und promovierter Philosoph, wurde zu einem der wichtigsten Bildgeber der Wiederentdeckung Äthiopiens für den abendländischen Geschichtsdiskurs. Den Felskirchen von Lalibela kommt eine besondere Bedeutung in der Produktion des Äthiopienwissens zu. Sie mussten nicht wie die Felskirchen von Tigray entdeckt werden, sondern waren der Öffentlichkeit schon lange bekannt. Sie sind nicht nur die bedeutendste Pilgerstätte der äthiopisch orthodoxen Christinnen und Christen, sondern auch ein Ensemble, dessen sagenhafte Dimensionen schon in frühen Berichten über Äthiopien Erwähnung fand. Sie 53 Greenfield, R. D.: Ethiopian Itineraries – Some Routes in Northern Ethiopia. In: Ethiopia Observer 4 (1963). S. 313–334. 54 Bidder, Irmgard: Lalibela. Köln 1959. S. 7. 55 Der Zutritt zu den Kirchen war nur mit einem Empfehlungsschreiben und einer entsprechenden Genehmigung von hochrangigen Kirchenautoritäten und Regierungsbehörden möglich, vor allem wenn auch noch Fotografien der Kirchen und Bibel-Handschriften erfolgen sollten. Alle hier vorgestellten Bücher berichten ausführlich über diese Schwierigkeiten. 56 Gerster, Georg: Kirchen im Fels. Zürich, Freiburg i.Br. 1972. 57 Gerster, Georg: Searching Out Medieval Churches in Ethiopia’s Wilds. In: National Geographic (1970). S. 856–884. 58 Un imagier de l’Ethiopie: le Dr. Georg Gerster. In: Ethiopie nouvelles touristiques 1:10 (1972). S. 3.

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stellten auch den ersten Ort internationaler Kooperation zum Kulturgüterschutz in Äthiopien dar und an ihrem Beispiel veranschaulicht sich die Reichweite der neuen Netzwerke der Wissensproduktion: Ab 1965 begannen, unter der Aufsicht der äthiopischen Regierung und unter Mitwirkung des ICOMOS und des International Monuments Fund,59 Restaurierungsarbeiten an den Kirchen und eine andauernde intensive wissenschaftliche und denkmalpflegerische Auseinandersetzung mit den Kirchen, in der sich heute verschiedene internationale Organisationen einen festen Platz gesichert haben.60 Insgesamt wurden die oben vorgestellten neu entstandenen Publikationen aufgrund der Fülle und Einzigartigkeit des Bildmaterials auch in der Fachwelt mit regem Interesse rezipiert und die Hypothesen diskutiert, wenn auch mit einem zusätzlichen Verweis auf die Fraglichkeit der gewonnen Erkenntnisse.61 Der Diskurs über das äthiopische Kultur- und Naturerbe lässt sich also keineswegs als hermetisch und auf die wissenschaftliche Fachwelt begrenzt beschreiben. Ausgewählte Wissensbestände über die äthiopische Kultur und Geschichte wurden durch die Zusammenarbeit ganz verschiedener einzelner Personen, vor allem aber über öffentlichkeitswirksame Schnittstellen wie die UNESCO oder National Geographic erschlossen und in Bewegung gebracht. Diese Entwicklung verdichtete sich zu einem regelrechten Trend und so wurde dem äthiopischen Kultur- und Naturerbe in den 1960ern und 1970ern zu einer breiteren internationalen Rezeption verholfen. Besonders ausschlaggebend ist dabei, dass die Wissensproduktion und -zirkulation in Netzwerken aus verschiedenen Akteurinnen und Akteuren stattfand, die über den Kreis der wissenschaftliche zuständigen Expertinnen und Experten hinausreichte. Zusammenfassend veranschaulichen die beschriebenen Beispiele, wie sich ausgehend von den 1960er Jahren ein bestimmtes, charakteristisches Bild als prägend für Äthiopien durchsetzte. In diesem Bild verbanden sich die Theorie der isolierten geographischen Lage und der einzigartigen Entwicklung einer 59 Eine US-Amerikanische Organisation, die ihre Gelder vor allem von US-Spendern und Politikern bezog: World Monuments Fund: The First Thirty Years|World Monuments Fund https:// www.wmf.org/publication/world-monuments-fund-first-thirty-years (06.04.2016). 60 UNESCO, CLT WHC NOM 10; Bridonneau, Marie: Lalibela, une petite ville d’Éthiopie amarrée au monde: Analyse des recompositions spatiales, sociales et politiques dans une petite ville patrimoniale, sacrée et touristique. http://www.theses.fr/2013PA100025 (10.05.2018). 61 Während vor allem die ausführliche fotografische Dokumentation der Kirchen sowie der religiösen Praktiken und Zeremonien positive Beachtung in der Fachwelt erhielten, wurden die wissenschaftlichen Hypothesen Irmgard Bidders stark kritisiert; insbesondere ihre ausführlichen Versuche, zu belegen, dass die Felskirchen aus einer vorchristlichen, heidnischen Periode stammten. Aus heutiger Sicht ist das Buch dennoch als ein wichtiger Meilenstein für die Beschäftigung mit Lalibela aus kunsthistorischer und denkmalpflegerischer Sicht zu werten. Pankhurst, Sylvia: Mrs. Bidder on the trail. In: Ethiopia Observer 4 (1960). S. 229–234.

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Hochkultur im ansonsten unzivilisierten Schwarzafrika mit der Überhöhung der angeblichen Kontinuität eines antiken Imperiums und des frühen Christentums.

Marginalisierung und Scheitern der Einrichtung von lokaler Wissensproduktion Die starke Rolle von internationalen Expertinnen und Experten sowie die Ausrichtung der Institutionalisierung an westlichen Standards und Konventionen hatte eine Marginalisierung lokalen Wissens zur Folge. Der umfangreichen Tätigkeit der Fachleute stand eine nur zu kleinen Teilen alphabetisierte oder entsprechend fachlich qualifizierte Bevölkerung gegenüber. Doch auch strukturell gesehen waren die Aktivitäten der Fach- und Hobbyexpertinnen und -experten nicht darauf ausgerichtet, lokales Wissen gleichwertig miteinzubeziehen.62 Immer wieder wurde in der Begründung für die Beantragung von Fördergeldern auf die Unzulänglichkeit des Ausbildungsstandes und die Betonung der Notwendigkeit von Fellowships für die Ausbildung äthiopische Fachkräfte an westlichen Institutionen insistiert. So wurde beispielsweise für alle archäologischen Stätten und die Naturschutzgebiete eine komplette, systematische Neuerfassung durch Karten, Fotografien, Zeichnungen und die Zählungen von Tier- und Pflanzenarten gefordert, die in diesem Umfang nur im Rahmen von internationaler Zusammenarbeit bewältigt werden konnte.63 Versuche, die Wissensproduktion auch lokal zu ermöglichen, waren zwar grundsätzlich vorgesehen, waren aber durch fehlende Rahmenbedingungen und Voraussetzungen nur sehr eingeschränkt erfolgreich.64 Die Voraussetzungen waren schwierig, da es erst seit 1950 überhaupt eine Universität in Äthiopien gab und auch erst ab diesem Zeitpunkt ein Ausbau der Oberschulausbil62 Obwohl z.B. die äthiopisch-orthodoxe Kirche auch Aufgaben der Denkmalpflege und des Kulturerhalts wahrnahm. 63 UNDP/ETH/74/014/Terminal report: Preservation and presentation of selected sites and monuments: Ethiopia – (mission). Project findings and recommendations Paris 1982. Vor allem die säkularen Kulturerbestätten in Aksum und Gondar wurden durch dieses Vorgehen den lokalen Kontexten enthoben. Ganz besonders trifft das auf die paläontologischen Erbe-Stätten im Omo und Awash Valley zu, die vorher in diesem Zusammenhang gar nicht existierten und durch ihre Lage auch bis heute als Orte im lokalen Kontext keine Bedeutung haben. 64 In den internationalen Restaurierungsmissionen zum Beispiel war stets eine Schulungskomponente vorgesehen, in der Evaluation wurde aber regelmäßig eine geringe Wirksamkeit festgestellt, UNDP/ETH/74/014/Terminal report.

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dung vorangetrieben wurde.65 Unter der Leitung mehrerer kanadischer Hochschulbildungsexperten unterrichteten in den ersten Jahren der neuen Universität überwiegend aus Europa und Nordamerika stammende Dozierende einige hundert Studierende an den Fakultäten für Geisteswissenschaften, Natur- und Ingenieurswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Rechtswissenschaften.66 Die Zahl der inländischen Studierenden betrug zu Anfang lediglich ein Drittel derjenigen, die im Ausland studierten; im Jahr 1958 studierten noch über 800 äthiopische Studierende im Ausland.67 Doch innerhalb von zehn Jahren stiegen die Studierendenzahlen deutlich an und die Umkehrung dieser Verhältnisse wurde erreicht: 1968 gab es fast 4.000 Studierende an der Haile Selassie I University und über 2.000 äthiopische Studierende im Ausland.68 Doch erst ab Mitte der 1970er Jahre fanden an der Haile Selassie I University Vorlesungen und Seminare in Archäologie statt.69 Fellowships, die das Studium von äthiopischen Studierenden im Ausland ermöglichen sollten, waren deshalb ein wichtiges Mittel, vor allem in sehr spezialisierten technischen Disziplinen und Verfahren, die in der Denkmalpflege benötigt wurden. Doch die Fellowships waren nicht von durchschlagendem Erfolg, wenn es darum ging, den dauerhaften Fachkräftemangel zu beseitigen. Der Prozess, die Studienplätze zu beantragen und die Aufenthalte durchzuführen, verlief viel zu langsam im Vergleich zur generellen Entwicklung der internationalen Denkmalpflege.70 Der Versuch, in Addis Ababa ein East African Conservation Centre nach dem Vorbild des ICCROM einzurichten, um regionale Denkmalpflege-Expertise zu entwickeln, wurde über eine anfängliche Planungsphase hinaus nicht weiterverfolgt.71 Für die Arbeit in den Nationalparks und Naturschutzgebieten wurden Äthiopier an das African College of Wildlife Management in Tanzania geschickt, 65 The University College of Addis Ababa, Observer, 58, II, 6, S.195–213; Sylvia Pankhurst: Education in Ethiopia II – Secondary Education, Observer 58, II, 5, p. 162–164. Genau genommen gab es in 1958 gerade mal 22 Oberschulen in ganz Äthiopien, einschließlich der britischen und französischen Schulen, die auch die Kinder der Diplomaten, Entwicklungshelfer und Expats bedienten. 66 The University College of Addis Ababa, Observer, 58, II, 6, S.195–213, hier S. 196. 67 Möglich war das durch ein Stipendienprogramm der Regierung: Ethiopian overseas study, Observer, 58, II, 6, p. 222. 68 Wagaw, Teshome G.: Access to Haile Selassie I University, Observer, 71, XIV, 1, S. 31–46. 69 SOAS, Kirwan Papers Box 4, file 3–70, Letter from Sergew Hable Selassie to Sir L. Kirwan, 29.1.1973. 70 Beispielhaft sei hier der sich über mehrere Jahre hinziehende Versuch genannt, zwei äthiopische Angestellte der Denkmalbehörde zu einem Kurs in Photogrammmetrie nach Europa zu schicken, UNESCO, 069:72(100) A 218. 71 UNESCO, 069:71 (6) A01.

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dort war eine Ausbildung von Fachkräften für eine größere aber bei weitem nicht ausreichende Anzahl an Leuten möglich. Außerdem umfasste die Ausbildung an diesem College nur die Stufen unterhalb der Leitungsebene. Vereinzelt wurden äthiopische Fachkräfte nach einem vorbereitenden Studium der Biologie in Addis noch zu weiterführenden Studien nach Europa oder in die USA geschickt, die Führungskräfte im staatlichen Arten- und Naturschutzbereich blieben aber bis in die 1990er Jahre westliche, wissenschaftlich ausgebildete Expertinnen und Experten.72 Bei einer abschließenden Betrachtung wird deutlich, dass mit Beginn der 1960er Jahre das neu-alte Äthiopienwissen durch eine Vielzahl unterschiedlichster Akteurinnen und Akteure weltweit Verbreitung fand, während das Zentrum der Wissensproduktion in der westlichen Wissenschaft verankert und von westlichen Agierenden besetzt blieb. Am Beispiel von Äthiopien wird auch deutlich, dass es zu kurz greift, Wissensproduktion als reine Domäne fachlich qualifizierter Expertinnen und Experten zu betrachten, vielmehr muss sie als ein vielgestaltiger Prozess mit vielen Handelnden verstanden werden. Erst mit einer Sensibilität für die Herkunft von Informationen und die Bedingungen der Produktion erschließen sich diese Zusammenhänge, die für ein vollständiges Verständnis nötig sind. So lässt sich auch nachvollziehen, wie invasiv und zentral die Rolle der Denkmalpflege und der internationalen Organisationen in ihrer vorgeblich aufklärerischen Mission bei der Produktion und Verbreitung von Wissen über Geschichte und Erbe afrikanischer Kulturen war. Erbe ist mittlerweile, weit über den kulturwissenschaftlichen Diskurs hinaus, als eine hochpolitische Arena identifiziert, deren Grundregeln und Eckpunkte in den 1960ern mit der internationalen Denkmalpflege abgesteckt wurden. Das dominierende historische Narrativ der äthiopischen Nation wurde durch die beschriebene politische Instrumentalisierung des Kultur- und Naturerbes verfestigt, auch weil durch das Zusammenspiel von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Entdeckerinnen und Entdeckern, touristischen und politischen Interessen, ausgewählte Orte und Monumente anschlussfähig an international relevante Maßstäbe gemacht wurden. Die Ergebnisse der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung zeigen deshalb auch, dass Maßnahmen und Hilfsaktionen im Bereich des Kultur- und Naturschutzes kritisch zu hinterfragen sind, da sie wie jede Wissensproduktion unter staatlicher Aufsicht immer auch auf ihre strategische Zielsetzung hin analysiert werden müssen.

72 Hillman, Ethiopia (wie Anm. 33).

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Afrikanische Freedom Fighter im Exil der DDR Dekoloniale Wissensbestände einer „unerwünschten deutschen Geschichte“ Ein Samstagvormittag im Frühjahr 2014 in der Berliner Botschaft der Republik Südafrika. Das Ende des Apartheid-Regimes liegt mit 20 Jahren fast ebenso lange zurück wie der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland. Über dem Foyer der Botschaft ist eine Fahne gespannt, auf der das Filmplakat zu Long Road to Freedom abgebildet ist – ein Kinofilm über das Leben von Nelson Mandela, der wenige Monate zuvor verstorbenen Ikone des afrikanischen Freiheitskampfes.1 Einige Kritiken bescheinigen diesem Film von einem sozialistischen Standpunkt aus einen seltsamen Mangel an Politik;2 so bleibe etwa Mandelas wiederholte Verweigerung, die Beziehungen des African National Congress (ANC) zur South African Communist Party (SACP) aufzulösen, ausgespart.3 In der Botschaft findet an diesem Tag keine Filmvorführung und auch keine Diskussion um die Haltung des seit 1994 staatstragende Partei gewordenen ANC zu kommunistischen Positionen statt. Stattdessen wird darin der ANC-Veteran Eric Singh verabschiedet, der nur wenige Monate nach Mandela verstorben ist – nicht in Südafrika oder London, der einstigen Hochburg des ANC-Exils, sondern 1 Long Road to Freedom, Südafrika/Großbritannien 2013, Regie: Justin Chadwick. 2 Ledwith, Sean: Long Walk to Freedom: Mandela without the Politics. http://www.counterfire.org/index.php/articles/92-film-review/16900-long-walk-to-freedommandela-without-thepolitics (22.05.2017). 3 Jabbaar, Ayodele: Nelson Mandela’s Victory is Sweeter when it’s not Sugar-Coated. http:// socialistworker.co.uk/art/37083/Nelson+Mandelas+victory+is+sweeter+when+its+not+sugarcoated (22.05.2017). Zu Mandelas behaupteter SACP-Mitgliedschaft vgl. auch African Communist (Editorial Notes): Tribute to Madiba. The SACP salutes South Africa’s greatest Son. In: African Communist 186 (2013) 4. S. 1–6. http://www.sacp.org.za/pubs/acommunist/2013/issue186.pdf (22.05.2017), hier S. 2 sowie Keller, Bill: Nelson Mandela, Communist. http:// www.nytimes.com/2013/12/08/opinion/sunday/keller-nelson-mandela-communist.html (22.05.2017). In Anlehnung an Sofi Gerbers Beschreibung von Ostalgie als „memories of un-(desirable) German history“. Gerber, Sofi: Is East going West – or is the West moving East? Renegotiating the East-West-Boundary in Unified Germany. In: Ethnologia Europaea, 38 (2008) 2. S. 66–83. https://www.mtp.dk/details.asp?eln=500290 (22.05.2017), hier S. 69–70. https://doi.org/10.1515/9783110538076-012

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in der deutschen Hauptstadt, in deren Ostteil er sein halbes Leben verbrachte. Im Neuen Deutschland und der Jungen Welt erscheinen Nachrufe auf ihn, außerdem auf der Homepage vom Solidaritätsdienst international e.V. – eine aus dem Solidaritätskomitee4 der DDR hervorgegangene Nichtregierungsorganisation – sowie im Online-Portal SÜDAFRIKA – Land der Kontraste.5 Angekommen in Deutschland ist Singh offenbar mehr in dessen östlichen und afrodiasporischen Randbereichen. Oder, um es mit dem nur einen Tag vor Singh verstorbenen Stuart Hall auszudrücken, der die Spezifik der Diaspora-Erfahrung einmal als „genügend Entfernung, um das Gefühl des Verlustes und des Exils zu erleben und genügend Nähe, um das Rätsel einer auf ewig aufgeschobenen Ankunft zu verstehen“6 beschrieben haben soll: Biographien wie die von Singh haben offenbar nur sehr partiell Aufnahme in das kollektive Gedächtnis des wiedervereinigten Deutschlands gefunden. Um was für marginale Wissensbestände handelt es sich, die hier in der südafrikanischen Botschaft evoziert werden? Der 1932 geborene Singh stammt aus einer Familie indischer MigrantInnen, die bereits in der 2. Generation in Südafrika lebten.7 Zuerst Gewerkschaftsaktivist und Mitglied des Natal Indian Congress8 sowie der SACP, wurde er schließlich Teil des ANC. Über Botswana gelangte er 1965 in die DDR, wo er ein Studium absolvierte und am Vertrieb von Sechaba beteiligt war, einer unter Mithilfe der Westberliner Anti-Apartheid-Bewegung in der DDR gedruckten ANCZeitschrift.9 Nach der Trennung von einer ebenfalls in der DDR exilierten Süd4 Das Solidaritätskomitee der DDR hatte seinen Sitz in Berlin und koordinierte u.a. die Hilfsleistungen für antikoloniale Befreiungsbewegungen aus Afrika. Vgl. Schleicher, Ilona: Das Solidaritätskomitee der DDR und Mosambik: Unterstützung der Befreiungsbewegungen und Entwicklungshilfe. In: Die DDR und Afrika. Zwischen Klassenkampf und neuem Denken. Hrsg. von Hans-Georg Schleicher [u.a.]. Münster und Hamburg 1993. S. 192–208. 5 Reichel, Detlef: Hamba kahle, Eric! Zum Tod von Eric Singh – ein persönlicher Nachruf. https://www.jungewelt.de/artikel/215544.eric-singh-gestorben.html (22.05.2017); Junge Welt: Eric Singh gestorben. https://www.jungewelt.de/artikel/215544.eric-singh-gestorben.html (22.05.2017); Krause, Bernd/Lauckner, Roland: Wir trauern um Eric Singh. Nachruf vom 13.02.2014. http://www.sodi.de/aktuell/nachrichten/news_detail/datum/2014/02/13/nachrufwir-trauern-um-eric-singh/ (22.05.2017); Abid, Ghassan: In tiefer Trauer um Eric Singh. Südafrikanische Persönlichkeit in Deutschland stirbt im Alter von 81 Jahren nach langer Krankheit. http://2010sdafrika.wordpress.com/2014/02/11/in-tiefer-trauer-um-eric-singh/ (22.05.2017). 6 Zitiert nach Niggemann, Janek u. Benjamin Opratko: Stuart Hall: Ein Abschied in die Zukunft. Nachruf. https://www.marx21.de/18-02-14-nachruf/ (22.05.2017). 7 Pampuch, Sebastian: Verflechtungen einer politischen Biografie: Ushaber Eric Singh. In: Black Berlin. Die deutsche Metropole und ihre afrikanische Diaspora in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Oumar Diallo u. Joachim Zeller. Berlin 2013. S. 265–267. 8 Der Natal Indian Congress war eine Ende des 19. Jahrhunderts gegründete Interessensvertretung in Südafrika lebender InderInnen. 9 Reichel, Hamba kahle, Eric! (wie Anm. 5).

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afrikanerin, die später mit den gemeinsamen Kindern nach Südafrika remigrierte, heiratete er eine Deutsche. Für den 2012 zelebrierten 100. Geburtstag des ANC nahm er noch an einem von der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem ANC ausgerichteten Treffen in Berlin teil. Singh verstarb im Februar 2014 in Deutschland. Zehn Jahre zuvor hatte er in einem von ostdeutschen Historikern und Historikerinnen herausgegebenen Sammelband über das Afrika-Engagement der DDR geschrieben: „Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier an dieser Stelle über die Fehler und Unzulänglichkeiten der DDR zu richten. Zugegebenermaßen gab es wohl eine Menge davon […]. Doch ändert das nichts an der Tatsache, daß Millionen Menschen in der Welt – und mit ihnen das Volk von Südafrika – dankbar sind, daß es die DDR und mit ihr die vielen hilfsbereiten Menschen gegeben hat.“10 Singh scheint ein besonders loyaler Typus jener politischen Emigranten gewesen zu sein, die laut dem Zeithistoriker Patrice Poutrus „zum wichtigsten Beleg für den hohen Stellenwert von Solidarität in der kommunistischen Bewegung [avancierten]“ und womöglich gerade deswegen eher selten im Fokus der DDR-Forschung stehen.11 Die ihm zu Ehren gehaltene Trauerfeier in der südafrikanischen Botschaft erinnert an eine Zeit, in der Berlin eine geteilte Stadt war und westliche Demokratien den ANC als terroristische Vereinigung betrachteten. Das im ehemaligen Westteil Berlins gelegene Grundstück, auf dem das heutige südafrikanische Botschaftsgebäude liegt und in dem die Trauerfeier stattfindet, war bis in die 1990er Jahre eine an (West-)Berlin verpachtete Brache im Eigentum des Apartheid-Regimes; letzteres hatte seine offizielle Vertretung in Bonn, wo eine Mission des ANC erst 1981 eröffnet werden konnte – drei Jahre nach der Einweihung ihres quasidiplomatischen Gegenstücks in Ostberlin.12 Die Botschaft am Tiergarten wurde 2003 als erster Neubau einer südafrikanischen 10 Singh, Eric: „Sechaba“ – ANC-Zeitschrift printed in GDR. In: Engagiert für Afrika. Die DDR und Afrika II. Hrsg. von Ulrich van der Heyden [u.a.]. Münster 1994. S. 129–140, hier S. 138. Für eine Problematisierung der Tatsache, dass ein Großteil der Literatur zu den DDR-Afrika-Beziehungen von Ostdeutschen stammt bzw. herausgegeben wird, die teils selbst aktiv an diesen Politiken beteiligt waren, vgl. Weis, Toni: The Politics Machine: On the Concept of ‚Solidarity‘ in East German Support for SWAPO. In: Journal of Southern African Studies, 37 (2011) 2. S. 351– 367, hier S. 354–355. 11 Poutrus, Patrice G.: „Teure Genossen“. Die „politischen Emigranten“ als „Fremde“ im Alltag der DDR-Gesellschaft. In: Ankunft – Alltag – Ausreise. Migration und interkulturelle Begegnung in der DDR-Gesellschaft. Hrsg. von Christian T. Müller u. Patrice G. Poutrus. Köln 2005. S. 221–266, hier S. 221. „Polit. Emigranten“ war eine in der DDR gebräuchliche Bezeichnung für spezifische migrantische Gruppen wie etwa die der chilenischen Flüchtlinge. 12 Fleischmann, Katharina: Botschaften mit Botschaften. Von Raumbildern und einer Neuen Länderkunde. Dissertation. Oldenburg 2008. http://oops.uni-oldenburg.de/889/1/flebot08.pdf (22.05.2017), S. 182; Singh, Sechaba (wie Anm. 10), S. 138.

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Botschaft nach Ende des Apartheid-Regimes eröffnet, worauf auf der Website der Botschaft mit Stolz verwiesen wird.13 Über die doppelten deutschen Verflechtungen mit ihrem Sendeland hüllt sie sich in staatsmännisches Schweigen.

Afrika und die DDR – eine histoire croisée internationaler Verflechtungen Während der Dekolonisationskämpfe auf dem afrikanischen Kontinent unterstützte der sozialistische Teil des heutigen Deutschlands zahlreiche antikoloniale Befreiungsbewegungen.14 Dazu gehörten nicht nur der ANC, sondern beispielsweise auch die mosambikanische Frente de Libertação de Moçambique (FRELIMO) oder die namibische South West Africa People’s Organisation (SWAPO) aus der einstigen Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Die um 1960 beginnende Unterstützung durch die DDR beinhaltete die Aufnahme von Mitgliedern dieser politischen Gruppierungen auf ihrem Territorium. In einigen Fällen – insbesondere, aber nicht nur bei Mitgliedern des ANC – endeten diese teils über Stipendien für temporäre Ausbildungs- beziehungsweise Studienaufenthalte gesteuerten Migrationen im jahrzehntelangen deutschen Exil, das mitunter selbst den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik überdauerte. Mit dem folgenden Text möchte ich einen Einblick in diese wenig beachtete Form der Süd-Nord-Migrationen, der mit ihnen verbundenen Wissensbestände und ihrer epistemischen Implikationen geben.15 Anhand von Interviews, Archivalien, Ego-Dokumenten, Literaturauswertungen, Filmaufnahmen, Medienberichten sowie der Teilnahme an Veranstaltungen, die die Migrations- und Solidaritätspolitiken der DDR thematisieren, versuche ich, einige Lebensläufe aus dieser kleiner werdenden Gruppe von (Deutsch-)Afrikanerinnen und -Afrikanern zu rekonstruieren und sie als „dichte ethnographische Beschreibung“ im Sinne einer Verflechtungsgeschichte zusammenzuführen.16 Für eine Geschichte migrantischen Wissens, wie sie etwa von Simone Lässig und Swen Steinberg an13 Südafrikanische Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland: Botschaftsgebäude. http:// www.suedafrika.org/botschaft/botschaftsgebaeude.html (22.05.2017). 14 Schleicher, Ilona u. Hans-Georg Schleicher: Die DDR im südlichen Afrika. Solidarität und Kalter Krieg. Hamburg 1997. 15 Dieser Aufsatz ist Teil eines Promotionsprojekts am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin, gefördert durch PROMI – Promotion inklusive. 16 Eckert, Andreas und Shalini Randeria: Geteilte Globalisierung. In: Vom Imperium zum Empire. Hrsg. von Andreas Eckert und Shalini Randeria. Frankfurt am Main 2009. S. 9–33, hier S. 20–21.

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geregt worden ist, sind dabei zwei Aspekte von besonderem Interesse.17 Lässig und Steinberg schreiben von möglichen Einsichten in ehemals wirkmächtige Ideen, Werte und Praktiken, die später vergessen, unterdrückt oder verdrängt wurden; die Kategorie Wissen könne hier als eine Art Gegenkraft wirken und eine verdrängte Geschichte übergangener Alternativen und aufgegebener Pfade sichtbar machen. Die Vorstellung einer postkolonialen Welt, die mithilfe einer sozialistischen Modernisierung mit den Ungleichheitsverhältnissen des Kapitalismus bricht, gehört zu diesen verdrängten Geschichten. Der zweite Aspekt, auf den Lässig und Steinberg aufmerksam machen und der mit dem vorliegenden Beitrag gestärkt werden soll, ist die im Kontext von Migration besonders deutlich werdende Interdependenz von Wissen und Erfahrung: Lässig und Steinberg argumentieren zu Recht, dass es häufig die Migrationserfahrung selbst ist, die in der Folge zu Wissen umgewandelt werden beziehungsweise in dieses mit einfließen kann.18 Indem ich den Erfahrungswelten und dem migrantischen Wissen afrikanischer Exilierter in der DDR nachspüre, greife ich zugleich Jürgen Kockas Idee von der DDR als einem „methodischen Experimentierfeld für neue transnationale Zugriffe“ auf.19 Als biographischen Leitfaden, der mich auf diesen Aspekt der DDR-Geschichte aufmerksam werden und nach weiteren Exilierten recherchieren ließ – darunter auch der eingangs beschriebene Singh –, nutze ich die Exilbiographie des Malawiers Mahoma Mwaungulu. Seine Biographie stelle ich weiter unten vor. Allgemeiner ist über diese Form des Exils festzuhalten, dass es sich um ein zahlenmäßig kleines Phänomen überwiegend von Männern handelt. Doch wie bereits an Singhs erster Ehefrau, einer Südafrikanerin, deutlich wird, gab es auch Afrikanerinnen, die in der DDR im Exil lebten. Zudem spielten Beziehungen mit ostdeutschen Frauen für viele männliche Exilierte eine wichtige Rolle hinsichtlich ihrer Statussicherheit. Im konkreten Fall Südafrikas ist weiter der rassifizierende Aspekt zu differenzieren: so waren unter den südafrikanischen Exilierten auch Weiße wie Sylvia Neame oder Arnold Selby. Während erstere nach Südafrika remigrierte und dort ein umfangreiches Werk über die Congress Alliance veröffentlichte, wurde Arnold Selby in den 1980er Jahren als Teil der Mandela Runners Group für seine politisch inszenierten Marathonläufe in England und Schweden unter dem Spitznamen Mr. Peace Race

17 Lässig, Simone u. Swen Steinberg: Knowledge on the Move. New Approaches toward a History of Migrant Knowledge. Geschichte und Gesellschaft 43. 2017, S. 313–346. 18 Lässig, Knowledge (wie Anm. 17), S. 320 u. 338. 19 Kocka, Jürgen: Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Hermann Weber zum 75. Geburtstag. In: Deutschland Archiv 5 (2003). S. 764–769, hier S. 768.

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populär und verstarb 2002 in Leipzig.20 Seine Witwe Jeannette Selby, nach den Logiken des Apartheid-Regimes als Coloured klassifiziert und durch ihre Ehe gegen das Verbot sogenannter interracial marriages verstoßend, kam zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter aus früherer Beziehung 1961 in die DDR. Mit der Forschung zu den kosmopolitischen Alltagswelten afrikanischer Exilierter in der DDR und den Wissensbeständen, die durch sie transportiert, beeinflusst oder geschaffen wurden, soll dieser Aufsatz für einen weithin unbeachteten Teil deutscher Geschichte und damit für ein auch von der Geschichtswissenschaft marginalisiertes Wissen sensibilisieren.21 Die afrikanisch-deutschdeutschen Biographien scheinen zu bestätigen, dass die DDR tatsächlich das „ideale Forschungsfeld einer vielfältigen histoire croisée internationaler Verflechtungen“ ist.22 Doch zuerst Beispiele einiger Ansätze, die mir für mein Vorgehen besonders produktiv erscheinen.

Biographieforschung und Globalgeschichte „Biography is irrelevant to any broad historical analysis unless one accepts that individuals can produce socially effective thought. Its practice therefore raises questions about relations between persons and society, action and structure, will and fate.“23 Das schreibt John Lonsdale über den ersten kenianischen Ministerpräsidenten Jomo Kenyatta, der vor seinem Amtsantritt 1963 in die Sowjetunion und nach Großbritannien migrierte. Dort studierte Kenyatta an der London School of Economics beim Ethnologen Bronisław Malinowski. Letzterer schrieb 1938 auch das Vorwort zu Kenyattas ethnographischer Studie über die

20 Die Congress Alliance war ein Zusammenschluss politischer Gruppierungen aus Südafrika unter Führung des ANC. Neame, Sylvia: The Congress Movement: the Unfolding of the Congress Alliance 1912-1961. Cape Town 2015; SAHO: Arnold Selby. http://www.sahistory.org.za/ people/arnold-selby (22.05.2017). 21 Zu dem Phänomen, dass die Marginalisierung derartigen Wissens mit der weitestgehenden Verdrängung Ostdeutscher aus den bundesdeutschen Sozial- und Kulturwissenschaften nach 1990 korreliert, siehe Pampuch, Sebastian: Politiken der Erinnerung und wissenschaftliche Praxis. Postkoloniale Verflechtungen des ‚anderen‘ Deutschland als auffälliges Desiderat der Europäischen Ethnologie. In: Dimensionen des Politischen. Anspüche und Herausforderungen der Empirischen Kulturwissenschaft. Hrsg. von Johanna Rolshoven u. Ingo Schneider. Berlin 2018, S. 227–246, hier S. 238–244. 22 Lindenberger, Thomas u. Martin Sabrow: Zwischen Verinselung und Europäisierung: Die Zukunft der DDR-Geschichte. In: Deutschland Archiv, 1 (2004). S. 0123–0127, hier S. 126–127. 23 Lonsdale, John: Jomo Kenjatta, God, and the Modern World. In: African Modernities. Hrsg. von Jan-Georg Deutsch [u.a.]. Oxford 2002. S. 31–66, hier S. 34.

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kenianischen Kikuyu. Malinowskis Vorwort zeugt sowohl von intellektuellem Respekt gegenüber Kenyatta als auch von einem zeitgenössischen und unreflektierten Antibolschewismus: „The educated, intellectual minority of Africans, usually dismissed as ‚agitators‘, are rapidly becoming a force. […] A great deal will depend upon whether this minority of ‚agitators‘ will be made to keep a balanced and moderate view of economic, social and political issues, or whether by ignoring them and treating them with contempt we drive them into the open arms of world-wide Bolshevism.“24 Diesen mahnenden Kommentar seines Mentors einmal beiseite gelassen, qualifizieren die Migrationen über so unterschiedliche politische Räume wie die Sowjetunion und Großbritannien Kenyatta zweifellos als einen außergewöhnlichen Migranten, durch den Möglichkeiten und Spielräume individueller Handlungskompetenz aufgezeigt werden können. Idealerweise zeige solch ein Migrant oder eine Migrantin ein hohes Maß interaktiver Anpassungs- und Kommunikationsleistungen und agiere selbstreflexiv, das heißt im Bewusstsein der grenzüberschreitenden Dimension seines oder ihres Handelns.25 Dieser akteurszentrierte Ansatz aus der Globalgeschichtsschreibung führt wiederum zur Verwendung ethnologischer Terminologien, wie sie sich etwa in Behauptungen einer „teilnehmenden Beobachtung“ des untersuchten – historischen – Subjekts im Sinne einer „retrospektiven Feldforschung“ ausdrücken.26 In der Ethnologie hat Biographieforschung eine lange Tradition, die bis an die kolonialen Anfänge der Disziplin zurückreicht; an der Relevanz globaler Einflüsse der auch heute noch überwiegend im Raum des „globalen Südens“27 angesiedelten Forschungen besteht kein Zweifel.28 Allerdings scheint hier das 24 Malinowski, Bronisław: Introduction. In: Kenyatta, Jomo: Facing Mount Kenya. The Tribal Life of the Gikuyu. New York 1965. S. vii-xiii, hier S. ix-x. 25 Hausberger, Bernd: Globalgeschichte als Lebensgeschichte(n). In: Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen. Hrsg. von Bernd Hausberger. Wien 2006. S. 9–27, hier S. 16 und 13. Für jüngere Ansätze siehe Depkat, Volker: Biographieforschung im Kontext transnationaler und globaler Geschichtsschreibung. In: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufanalysen 28 (2015) 1+2. S. 3–18; Schweiger, Hannes: Global Subjects. The Transnationalisation of Biographie. In: Life Writing 9 (2012) 3. S. 249–258. 26 Rothermund, Dietmar: Unsichere Transaktionen in globalen Lebensläufen. In: Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen. Hrsg. von Bernd Hausberger. Wien 2006. S. 283–288, hier S. 287. 27 Für eine Begriffsproblematisierung vgl. Wemheuer, Felix (Hrsg.): Marx und der globale Süden. Köln 2016, S. 10–12. 28 Spülbeck, Susanne: Biographie-Forschung in der Ethnologie. Hamburg 1997; Hermann, Elfriede u. Birgitt Röttger-Rössler: Persönliche Handlungsmöglichkeiten im lokal-globalen Kontext. In: Lebenswege im Spannungsfeld lokaler und globaler Prozesse. Person, Selbst und Emo-

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methodische Paradigma der Interaktion zwischen Forschenden und Erforschten die Narrationsanalyse lebensgeschichtlicher Interviews zu privilegieren und damit quasi zu einer Relokalisierung des Subjekts als narrativem Konstrukt zu führen, was die Ebene der globalen Struktur, in dem sich das Subjekt bewegt, in den Hintergrund treten lässt. Sensibler für strukturelle Merkmale zeigt sich dagegen der soziologische, um postkoloniale Ansätze erweiterte Zugang von Helma Lutz, in dem sie Stuart Halls Konzept der Artikulation im Zusammenspiel aus Subjekt und Diskurs unter anderem an Forschungen zu surinamesischen Migrantinnen in den Niederlanden und ihrer Doppelrolle als Mütter und Berufstätige exemplifiziert. Während dieses Rollenmodell für privilegiertere weiße Frauen in den Niederlanden erst später als erstrebenswert dargestellt worden sei, habe es den Migrantinnen in ihren früheren Erzählungen an solch einem anschlussfähigen Diskurs gemangelt. Damit gelingt es der Autorin, die Relevanz dominanter Diskurse und ihrer Wandlungen für die lebensgeschichtlichen Erzählungen von Migranten und Migrantinnen aufzuzeigen.29 Dieser Aspekt scheint mir auch für die Erzählungen von Afrikanern und Afrikanerinnen, die in der DDR im Exil lebten, bedeutsam: affirmative Erfahrungen mit der DDR, vor allem aber das damit verbundene Wissen um die Bedeutung der sozialistischen Staatenwelt für die Dekolonisation, sind im deutschen Nachwendediskurs ähnlich schwer zu vermitteln wie die Tatsache, dass Afrikaner und Afrikanerinnen – wenn auch in geringerer Zahl – nicht nur als sogenannte Vertragsarbeitende, sondern auch als Exilierte nach Ostdeutschland kamen.30 So fragt etwa Nicola Lauré al-Samarai in ihrem Aufsatz zu Autobiographien und Biographien schwarzer Deutscher, die in der BRD oder der DDR geboren wurden, danach, „wo und wie […] Schwarze deutsche auto/biographische Zeugnisse vor dem Hintergrund eines erst im Entstehen befindlichen kollektiven [d.h. schwarzen deutschen, S.P.] Gedächtnisses zu verorten [sind]“.31 Zu letzterem sollten auch die Erfahrungen aftion in der ethnologischen Biografieforschung. Hrsg. von Elfriede Hermann und Birgitt RöttgerRössler. Münster 2003. S. 1–23. Zum Einfluss früher biographischer Migrationsforschung der US-amerikanischen Soziologie aus Chicago auf ein ethnologisches Interesse an Migrationsprozessen vgl. Ackermann, Andreas: Ethnologische Migrationsforschung: ein Überblick. In: Kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 10 (1997). S. 1–28, hier S. 4. 29 Lutz, Helma: Biographieforschung im Lichte postkolonialer Theorien. In: Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention. Hrsg.von Julia Reuter und Paula-Irene Villa. Bielefeld 2010. S. 115–136, hier S. 129–130. 30 Zum Nachwende- bzw. Einheitsdiskurs vgl. Kollmorgen, Raj [u.a.] (Hrsg.): Diskurse der deutschen Einheit. Kritik und Alternativen. Wiesbaden 2011. 31 Lauré al-Samarai, Nicola: Unwegsame Erinnerungen: Auto/biographische Zeugnisse von Schwarzen Deutschen aus der BRD und der DDR. In: AfrikanerInnen in Deutschland und schwarze Deutsche. Geschichte und Gegenwart: Beiträge zur gleichnamigen Konferenz vom

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rikanischer Exilierter mit der DDR und damit ein spezifisch migrantisches Wissen über die Beziehungen zwischen der Zweiten und Dritten Welt gehören. Denn darauf trifft ähnliches zu, was Lauré al-Samarai über die autobiographischen, in Ost wie West von Rassismuserfahrungen geprägten Zeugnisse schwarzer Deutscher schreibt: „Sie sind mithin nicht nur Bestandteil einer eigenen erfahrungsbezogenen Wissensformation, sondern gleichermaßen Bestandteil einer bislang nicht integrierten Geschichtsschreibung, die sich erst langsam kulturell einzuschreiben beginnt.“32 Dabei ist zu betonen, dass afrikanische Exilierte in der DDR schon sehr früh von der kritischen deutschen Forschung wahrgenommen worden sind: 1993 hielt May Ayim die Lebensgeschichte der 1986 über die DDR nach Deutschland gekommenen ANC-Exilantin Yoliswa Ngidi fest, damals noch unter deren Pseudonym Sithebe Nombuso; zwei Jahre später widmete Ayim ihr sogar ein Gedicht in ihrer berühmten Anthologie Blues in Schwarz Weiss. Zu diesem Zeitpunkt war Ngidi bereits krankheitsbedingt in Berlin verstorben. Das in ihrer Lebenserzählung aufscheinende Wissen über eine Verbindung aus ostdeutschem Staatssozialismus und (süd-)afrikanischem Befreiungskampf blieb überlagert von den Erfahrungen zunehmender Prekarität und Rassismen im Zuge des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik.33 Paul Zeleza schreibt von einer Exilhaftigkeit der postkolonialen Welt. Er warnt dabei vor einem Blick, der Exil zu einem Ideal hybrider Identität verklärt und blind für politische Implikationen macht.34 Wie aufreibend die Folgen von Grenzüberschreitungen innerhalb einer derart konditionierten Welt sein können, lässt die Definition progressiver afrikanischer Exilierter von Francis Njubi Nesbitt erahnen: unermüdlich verbreiteten sie panafrikanisches Wissen und führten mit der Diaspora und dem Herkunftsland an gleich zwei Fronten einen Freiheitskampf.35 Von dieser Definition ist es nicht weit zu Achille Mbembe und seinen Überlegungen zur entgrenzten Welt der Postkolonie, in denen er die Autonomie eines afrikanischen Subjekts komplett in Frage stellt.36 Bereits Edward 13.-15. Juni 2003 im NS-Dokumentationszentrum (EL-DE-Haus) Köln. Hrsg. von Bechhaus-Gerst, Marianne u. Reinhard Klein-Arendt. Münster: LIT 2004, S. 197–210. 32 Lauré al-Samarai, Erinnerungen (wie Anm. 31), S. 208. 33 Nombuso, Sithebe: Ost- oder Westdeutschland, für mich ist das kein großer Unterschied (aufgezeichnet von May Ayim). In: Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung. Hrsg. von Hügel-Marshall, Ika. Berlin 1993. S. 224–232; Ayim, May: im exil und hiv positiv. In: Blues in Schwarz Weiss. Gedichte. Berlin 2005 [1995]. S. 95–97 u. 134. 34 Zeleza, Paul Tiyambe: The Politics and Poetics of Exile: Edward Said in Africa. In: Research in African Literatures 36 (2005) 3. S. 1–22, hier S. 1 u. 10. 35 Zitiert nach Zeleza, Politics (wie Anm. 34), S. 15. 36 Mbembe, Achille: On the Postcolony. Berkeley 2001. S. 14. Solche Zuspitzungen haben Mbembe viel Kritik eingebracht. Vgl. Zegeye, Abebe u. Maurice Vambe: On the Postcolony and the Vulgarisation of Political Criticism. In: Close to the Sources. Essays on Contemporary

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Said behauptete, es sei auf befremdliche Weise fesselnd, über Exil nachzudenken, aber schrecklich, es zu erfahren; über das Exil afrikanischer Freedom Fighter in der DDR zu reflektieren, so in leichter Abwandlung einer seiner weiteren Ausführungen, müsste bedeuten, das bescheidene, von der Subjektivität gebotene Refugium zu verlassen und stattdessen Zuflucht in den Abstraktionen der Massenpolitiken zu nehmen.37 Doch wenn reale politische Strukturen zu Abstraktionen werden, besteht die Gefahr, dass erneut der Blick auf das subjektive Erleben von Exil überwiegt. Einen weniger subjektzentrierten und dennoch biographieanalytischen Ansatz wählt Hans-Georg Schleicher, der sich mit der Prägung des ANC durch das Exil beschäftigt. Angeregt von Hilda Bernstein und ihrer Sammlung lebensgeschichtlicher Narrative von südafrikanischen ANC-Exilierten dienen hier aus zahlreichen Interviews gewonnene biographische Erzählungen von Südafrikanern und Südafrikanerinnen, die auf die Erfahrung des Exils rekurrieren, als empirische Grundlage. Die strukturelle Ebene – politische Rahmenbedingungen in den afrikanischen Frontstaaten38 und in Großbritannien, der Kalte Krieg und die anschließenden Transformationsprozesse – tritt angesichts der gerafften biographischen Narrative fast schon wieder zu sehr in den Vordergrund; dafür gelingt es dem Autor, die Said’schen Abstraktionen in Konkretionen global verflochtener Nationalpolitiken zu übersetzen. Aus Platzgründen wird das Exil in den sozialistischen Ländern Europas einschließlich der DDR ausgespart.39 Damit bleibt es in der Forschung ein auffälliges Desiderat.40

African Culture, Politics and Academy. Hrsg. von Abebe Zegeye u. Maurice Vambe. New York 2011. S. 16–30; Zeleza, Paul Tiyambe: The Troubled Encounter Between Postcolonialism and African History. In: Journal of the Canadian Historical Association 17 (2006) 2. S. 89–129, hier S. 114– 115; Weate, Jeremy: Achille Mbembe and the Postcolony. Going beyond the Text. In: Research in African Literatures 34 (2003) 4. S. 27–41. 37 Said, Edward: Reflections on Exile. In: Out there: Marginalization and Contemporary Culture. Hrsg. von Cary Nelson und Lawrence Grossberg. New York 1990. S. 357–366, hier S. 357 und 359. 38 Die Frontstaaten (engl. frontline states) waren ein Zusammenschluss südafrikanischer Staaten zur Isolation des Apartheid-Regimes auf dem Kontinent. 39 Schleicher, Hans-Georg: Südafrikas neue Elite. Die Prägung der ANC-Führung durch das Exil. Hamburg 2004. S. 271; Bernstein, Hilda: The Rift. The Exile Experiences of South Africans. London 1994. 40 Eine Ausnahme ist die Diplomarbeit von Schade, Anja: „Solidarität hilft siegen!“ – die DDR aus den Augen des ANC: ein Perspektivwechsel als Beitrag zu der innerdeutschen Geschichtsaufarbeitung. Diplomarbeit. Berlin 2004. Daraus ist ihr unverständlicherweise ohne Förderung gebliebenes Promotionsprojekt Das Exil des African National Congress in der Deutschen Demokratischen Republik hervorgegangen.

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Fallbeispiel: Mahoma Mwaungulu Ich stelle nun die Biographie des weiter oben erwähnten Malawiers Mahoma Mwaungulu vor. Sein Lebensweg ist die zentrale biographische Folie meiner Forschung. Die darin sichtbar werdenden Migrationen innerhalb des afrikanischen Kontinents, die spätere Abschiebung aus der DDR in die BRD und eine entschieden panafrikanische und marxistische Haltung machen aus ihm ein besonders aufschlussreiches Fallbeispiel, um Logiken des afrikanischen Exils in der DDR und das daran gekoppelte migrantische Wissen zu veranschaulichen. Erst durch die Rekonstruktion seiner Biographie stieß ich auch auf den zuvor porträtierten Eric Singh sowie weitere Exilierte, die ich hier nicht im Einzelnen vorstellen kann. Der Lebensweg Mwaungulus hat das epistemische Potenzial, das afrikanische Exil in der DDR und dem geteilten Deutschland auch auf struktureller Ebene zu verstehen: in Mwaungulus Biographie fließen sowohl zentrale Momente der afrikanischen Dekolonisation als auch die Gegensätze und jeweiligen Widersprüche der deutsch-deutschen Afrikapolitiken zusammen. Sie ermöglicht, afrikanische Exilbiographien in Deutschland zu einem größeren Sinnzusammenhang zu verflechten und die transnational wirkenden Kräfte beziehungsweise strukturellen Merkmale in der biographischen Analyse angemessen zu berücksichtigen, ohne dabei die subjektive Ebene aus dem Blick zu verlieren. Aus wissensgeschichtlicher Perspektive drängt sich angesichts Mwaungulus Biographie eine der von Lässig und Steinberg aufgeworfenen Fragen besonders auf: welche spezifischen Formen von Wissen können es Menschen, die wiederholt zu Migrationen gezwungen werden, ermöglichen, entwürdigende und von Gewalt beziehungsweise dem Entzug persönlicher Freiheit geprägte Lebensumstände zu ertragen?41

Vom kolonialen Afrika in das Exil einer dreigeteilten Welt Mahoma Mwaungulu wurde 1932 im heutigen Tansania als Sohn zweier malawischer Ngonde geboren.42 Nach Einzug des Vaters in die britische Armee folgte 41 Lässig, Knowledge (wie Anm. 17), S. 341. 42 Die folgenden biographischen Daten stammen aus: Theuerkauf, Inger: „Die Schule ist meine Frau. Eine Lebensgeschichte von Mahoma M. Mwaungulu“. In: Afrika Erinnern – Hauptseminar Mündliche Geschichte. Hrsg. von Heike Schmidt. Humboldt-Universität zu Berlin 2000 (ohne Seitenzählung); Pampuch, Sebastian: Afrikanische Migrationserfahrungen mit zwei deutschen Staaten. Rekonstruktion eines migratorischen Lebensweges über die Grenze zweier deutscher Staaten hinweg. Magisterarbeit. Berlin 2008; Pampuch, Sebastian: Ein malawischer Exilant im geteilten Berlin. Mahoma Mwakipunda Mwaungulu. In: Black Berlin. Die deutsche

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er 1939 seiner Mutter in deren Herkunftsland, als Teil der malawischen Unabhängigkeitsbewegung migrierte er 1953 in das spätere Ghana. Dort lernte und arbeitete er im Kreis der Panafrikanisten um Kwame Nkrumah und George Padmore.43 Über Ghana gelangte er mit einem Stipendium der DDR 1960 nach Leipzig, wo er Politische Ökonomie studierte und mit einer angehenden ostdeutschen Journalistin eine Familie gründete. 1964 zog er dieser in das gerade unabhängig gewordene Malawi voraus, musste aber infolge der Herausbildung der an die Westmächte angelehnten malawischen Diktatur von Hastings Banda nach nur wenigen Monaten als Staatenloser in das Tansania Julius Nyereres fliehen.44 Dort schloss er sich einer Gruppe von malawischen Exilierten an, die 1974 in Tansania die malawische Oppositionspartei The Socialist League of Malawi (LESOMA) gründen sollten.45 Für einige Monate hielt sich Mwaungulu zur politischen Schulung auch in Kuba auf. Von Tansania aus kehrte er mithilfe seiner Frau und der African Students Union der DDR 1967 zurück nach Deutschland und zog mit seiner Familie nach Ostberlin, wo er bis 1973 an einer unvollständig gebliebenen Dissertationsschrift zur ökonomischen Entwicklung Malawis schrieb, ehe die DDR ihm das Stipendium entzog und ihn die LESOMA als ihren Ostblockrepräsentanten zu etablieren versuchte. Auf der Suche nach neuen Transportwegen für mosambikanische Steinkohle, die der DDR dem Devisenhandel mit dem Westen diente, begann Ende der 1970er Jahre offenbar auch Malawi für die DDR eine Rolle zu spielen.46 Etwa zeitgleich stellte sie ihre Kontakte zur LESOMA ein. Neben dem wirtschaftlichen Engagement der DDR in Mosambik und der Unwahrscheinlichkeit eines absehbaren politischen Wandels in Malawi wurde dies noch durch einen weiteren

Metropole und ihre afrikanische Diaspora in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Oumar Diallo u. Joachim Zeller. Berlin 2013. S. 151–157. 43 Kwame Nkrumah (1909–1972) war erster Ministerpräsident Ghanas und spielte eine zentrale Rolle bei der Dekolonisation Afrikas; George Padmore (1903–1959) war ein karibischer Journalist und politischer Aktivist, auf den ich noch eingehe. 44 Baker, Colin: Revolt of the Ministers. The Malawi Cabinet Crisis 1964–1965. London 2001. Julius Nyerere führte Tansania in die Unabhängigkeit und nimmt in der Dekolonisation Afrikas eine ähnlich zentrale Rolle ein wie Nkrumah. 45 Zur LESOMA siehe Pampuch, Sebastian: Struggling against «the exilic condition of the postcolonial world»: The Socialist League of Malawi. In: Tagungsband "socialisme africains/ socialismes en Afrique" (7-9 April 2016, Paris). Hrsg. von Françoise Blum u.a., Éditions de la Sorbonne, im Erscheinen. 46 Döring, Hans-Joachim: „Es geht um unsere Existenz“. Die Politik der DDR gegenüber der Dritten Welt am Beispiel von Mosambik und Äthiopien. Berlin 1999, S. 87–102; Künanz, Heide: Das Steinkohleprojekt Moatize zwischen solidarischer Hilfeleistung und solidarischem Anspruch. In: Die DDR und Afrika. Zwischen Klassenkampf und neuem Denken. Hrsg. von Hans-Georg Schleicher [u.a.]. Münster und Hamburg 1993. S. 174–191., hier S. 182.

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Faktor befördert: im Rahmen der Southern African Development Coordination Conference begann Malawi 1980 eine Annäherungspolitik an die Nachbarländer. Im Gegenzug nahm Mosambik 1981 als erstes sozialistisches Land diplomatische Beziehungen zu Malawi auf und schlug der DDR vor, das gleiche zu versuchen. Nach Rücksprache mit der Sowjetunion wertete die DDR solch einen Schritt zwar als aussichtslos, solange in Malawi das Banda-Regime an der Macht war.47 Trotzdem dürfte der Annäherungsprozess zwischen Mosambik und Malawi ein zusätzlicher Grund für die DDR gewesen sein, Kontakte zur exilierten malawischen Opposition abzubrechen. 1982 wurde Mwaungulu nach Westberlin ausgewiesen; zuvor hatte er sich noch darum bemüht, dem bei einem Anschlag in Mosambik verletzten Vorsitzenden der LESOMA die Einreise in die DDR zu ermöglichen sowie das Solidaritätskomitee der DDR zum Druck von Kuchanso überredet, einer Zeitschrift, die – ähnlich wie die Sechaba für den ANC – von großer propagandistischer Bedeutung für die LESOMA war und von der DDR über Tansania bis nach Malawi gelangte. Die Bundesrepublik, die das malawische Regime von Beginn an unterstützt hatte, gewährte Mwaungulu 1983 als erstem Malawier politisches Asyl.48 Bis 1991 trat Mwaungulu dann als Repräsentant der LESOMA für Westeuropa auf, verlagerte seine politische Arbeit aber auf die Diaspora, indem er Migranten und Migrantinnen im Kreuzberger Bildungs- und Aktionszentrum Dritte Welt in Deutsch unterrichtete oder bei Alltagsproblemen beriet. Zum Ende der malawischen Diktatur nahm Mwaungulu 1994 die malawische Staatsbürgerschaft an. In der afrikanischen Community Berlins erlangte er aufgrund seines Engagements hohes Ansehen. Er verstarb 2004 in Berlin; anlässlich seiner von der afrikanischen Community organisierten Trauerfeier ließ die malawische Botschaft durch einen Abgesandten einen offiziellen Nachruf verlesen.

Zur strukturbildenden Funktion von Mwaungulus Biographie Als rassialisierter und früh politisierter embodied agent, dem als Kind kolonialer Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen in einer sich neu kartographierenden Welt die Grenzüberschreitung zum einzig möglichen Imperativ wurde, sah 47 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin (PA AA), MfAA, M 31, ZR 2378/89, bilaterale Beziehungen zwischen der DDR und Malawi. 48 Das Hamburger Abendblatt bezifferte in einem Artikel von 1987 die seit 1962 geleistete Bonner Entwicklungshilfe für Malawi auf 770 Millionen Mark; darüber hinaus wurden auch malawische Militärpiloten auf bundesrepublikanischem Boden ausgebildet. Vgl. Hilfe für Malawi. In: Hamburger Abendblatt, 10.11.1987 (Zeitungsartikel aus Mwaungulus Nachlass, ohne Autorenangabe).

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sich Mwaungulu fast unaufhörlich mit der Rückeroberung und dem erneuten Verlust von agency beschäftigt.49 Die teils im konträren Verhältnis einer doppelten Globalisierung stehenden Gesellschaftsformationen, in denen er agierte, wurden dabei biographisch in ein komplexes Beziehungsgeflecht eingebunden.50 In den 1950er Jahren wurde Ghana zum zentralen Akteur der afrikanischen Dekolonisation; im folgenden Jahrzehnt verlagerte sich der antikoloniale Kampf in das südliche Afrika, die Rolle Ghanas übernahm Tansania.51 Mwaungulu war als politischer Akteur in beiden Fällen vor Ort, sein nationaler Referenzpunkt aber blieb Malawi. Als eine Ausnahme unter den unabhängigen afrikanischen Staaten nahm das Land diplomatische Beziehungen zum südafrikanischen Apartheid-Regime auf. Mwaungulu – nur durch seinen Aufenthalt in Ghana in die DDR gelangt – war der einzige Malawier, der über einen längeren Zeitraum in der DDR lebte.52 Seine Partei wich von deren Ideal einer nationalen Befreiungsbewegung aufgrund der paradoxen Situation Malawis – formal unabhängig und in einer für die DDR außenpolitisch bedeutsamen Region gelegen, aber von einer prowestlichen afrikanischen Regierung angeführt – entscheidend ab. Ihre temporäre Unterstützung durch die DDR lässt sich, wie Archivalien nahelegen, vor allem auf Mwaungulus dortige Präsenz zurückführen.53 Über einen Exilanten wie Mwaungulu legte die DDR ausführlich Akten an. Kombiniert mit den lebensgeschichtlichen Narrativen weiterer Exilierter aus dem südlichen Afrika ergibt sich das ausschnitthafte Bild eines kleinen, dafür aber dezidiert transnationalen Teils der DDR-Gesellschaft. Durch seine Affiliation mit der malawischen Unabhängigkeitsbewegung beziehungsweise darauf folgend mit einer malawischen 49 Zum Begriff des embodied agent vgl. Hermann, Handlungsmöglichkeiten (wie Anm. 28), S. 9. 50 Zur „doppelten Globalisierung“ vgl. Engel, Ulf u. Matthias Middell: Bruchzonen der Globalisierung, globale Krisen und Territorialitätsregimes – Kategorien einer Globalgeschichtsschreibung. In: Comparativ 5/6 (2005). S. 5–38, hier S. 7. 51 Ahlman, Jeffrey S.: Road to Ghana. Nkrumah, Southern Africa and the Eclipse of a Decolonizing Africa. In: Kronos 37 (2011). S. 23–40.; Mazrui, Ali A.: Nkrumahism and the Triple Heritage: Out of the Shadows. In: Ghana in Africa and the World. Essays in Honor of Adu Boahen. Hrsg. von Toyin Falola. Trenton (NJ) 2003. S. 755–776. 52 Dies behaupteten all meine Informanten und Informantinnen und wird auch von DDR-Archivalien bestätigt. Die vier Malawier, auf die ich darin noch gestoßen bin, hielten sich entweder nur zu Ausbildungszwecken oder als Gäste zeitlich begrenzt in der DDR auf; so war etwa der Gewerkschaftler Ghiza Mkandawire auf Einladung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes im August 1961 für zwei Wochen in der DDR. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin (SAPMO-BArch), DY 42/1307: FDGB-Gewerkschaft Handel, Nahrung und Genuss, Akten „Njassaland“ (01.08.1961–16.08.1961). 53 SAPMO-BArch, DZ 8/186: Beziehungen zur Malawi-Liga 1975–1980 (12.07.1975–06.02.1980).

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Exilpartei verfügte Mwaungulu zudem über ein profundes Wissen über die inneren und äußeren Faktoren, die die Dekolonisation des südlichen Afrikas und die postkoloniale Entwicklung Malawis beeinflussten; darin ist auch ein sinnstiftender und Halt gebender Rahmen zu sehen, der Mwaungulu die Ausweisung leichter verarbeiten ließ. Mwaungulus Biographie erinnert an das aus globalen Lebensläufen abgeleitete Konzept eines „telling example“.54 So demonstriert Mwaungulus Leben neben detaillierten Einblicken in transnationale Netzwerke einer um Unterstützung ringenden afrikanischen Exilpartei55 ein enormes Maß an grenzüberschreitender, politischer agency eines einzelnen Individuums. Sie war das Produkt des Zusammentreffens von individueller Handlungskompetenz mit einem institutionellen Solidaritätsapparat, dessen Errichtung auf deutschem Boden ohne die deutsche Teilung undenkbar gewesen wäre, historisch aber – wie noch zu zeigen ist – bis in die Zwischenkriegszeit zurückdatiert werden muss. Die DDR wusste sich dieser Handlungsfähigkeit nur durch die innerdeutsche Ausweisung des Akteurs zu erwehren. Sie zwang Mwaungulu zur Adaptation an ein gänzlich anders geartetes politisches System, dessen Afrikapolitik gegensätzlicher kaum hätte sein können.56 Durch seine Anerkennung als erster malawischer Asylant der BRD schuf Mwaungulu einen Präzedenzfall in einem der größten Geberländer der malawischen Diktatur. Der Statuswechsel vom Freiheitskämpfer und exilierten Oppositionellen zum politischen Asylanten in einem westlichen Land, das das antikommunistische Regime in Malawi unterstützte, zeigt die Problematik beziehungsweise Unmöglichkeit einer Trennung von politischen und ökonomischen Gründen für Süd-Nord-Migrationen auf; durch sein spezifisch migrantisches Wissen ermöglicht Mwaungulu damit genau jene historische Präzisierung westlicher Migrationsregime, die Lässig und Steinberg für eine Wissensgeschichte einfordern.57 Der institutionellen Anbindung an die Solidaritätspolitik der DDR, als deren Konsequenz selbst eine marginale Partei wie die LESOMA Unterstützung erhalten konnte, folgten nun im Nachlass überlieferte Petitionsschreiben und Pressemitteilungen, in denen Mwaungulu die BRD aufforderte, gegenüber Malawi auf die Einhaltung von Menschenrechten zu drängen. Vor allem aber – hier kommt Nesbitts Konzept progressiver Exilierter zum Tragen – folgte eine Hinwendung 54 Hausberger, Gobalgeschichte (wie Anm. 25), S. 13. 55 Vgl. Meinhardt, Heiko: Politische Transition und Demokratisierung in Malawi. Hamburg 1997, S. 79–80; zum malawischen Exil siehe auch Mwakasungura, Kapote u. Douglas Miller: Malawi’s Lost Years. Mzuzu 2016. 56 Engel, Ulf u. Hans-Georg Schleicher: Die beiden deutschen Staaten in Afrika: zwischen Konkurrenz und Koexistenz 1949–1990. Hamburg 1998. 57 Lässig, Knowledge (wie Anm. 17), S. 335–336.

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zur afrikanischen Diaspora Westberlins, deren schweren Stand Mwaungulu zu spüren bekam. Zu der darin tätigen Gruppe politischer Aktivisten und Aktivistinnen, oft mit geringen Deutschkenntnissen unter prekären Umständen lebend, stießen nach 1990 weitere exzellent ausgebildete Afrikaner und Afrikanerinnen, die wie Mwaungulu über die DDR nach Deutschland gekommen waren. Dieses Phänomen wurde von zwei afrikanisch-amerikanischen Wissenschaftlern, für die dieser ostdeutsche beziehungsweise sozialistische Aspekt der afrikanischen Diaspora selbst neues Wissen darstellte, mit Erstaunen beobachtet.58 Vor dem Hintergrund der deutschen Kolonialgeschichte erhellt Mwaungulus panafrikanische Hinwendung zur Diaspora die deutsche Migrations- und Afrikapolitik aus einer postkolonialen Sicht, ohne die antikoloniale Politik der DDR auszuklammern oder pauschal zu subsumieren: die noch bis in die späten 1970er Jahre hinein in der DDR mögliche Unterstützung eines politischen Anliegens wie dem seinen, aber auch die bis zum Ende der DDR fortgeführte Unterstützung des ANC und der SWAPO durch eine staatliche Institution war im westlichen Teil Deutschlands nicht gegeben. Im gleichzeitigen Nachlassen der LESOMA-Aktivitäten spiegelt Mwaungulus Hinwendung zur Diaspora zugleich die globalen Verflechtungen der politischen Transformationsprozesse von 1989 wider, die einige Jahre später das Apartheid-Regime Südafrikas und in dessen Folge auch die Banda-Diktatur in Malawi zu Fall bringen sollten. Damit eignet sich Mwaungulus Biographie in herausragender Weise als strukturbildende Folie für das Leben afrikanischstämmiger Menschen im geteilten und wiedervereinigten Deutschland.

Historische Verflechtungen von Antikolonialismus und Kommunismus Was der biographische Zugang über den Lebensweg Mwaungulus darüber hinaus bietet – und um diesen Wissensbestand soll es abschließend gehen – ist die in seinem Zusammentreffen mit dem karibischen Panafrikanisten George Padmore angelegte Historisierung der Verflechtungen aus Kommunismus und antikolonialem Widerstand – „[…] ein kaum beleuchtetes Kapitel afrikanisch-euro-

58 Entsprechend äußerte sich Prof. Donald M. Griffith, Gründer des Fountainhead Tanz Theatre und Black International Cinema Festival Berlin, in einem Interview am 31.08.2008; einen ähnlichen Eindruck schilderte mir John W. Long, emeritierter Professor der University of Illinois, in mehreren um diesen Zeitraum geführten Gesprächen.

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päischer Geschichte“, wie die Journalistin Katja Musafiri schreibt.59 Diese Verflechtungen reichen bis weit in die Zwischenkriegszeit zurück. Nicht nur die frühe Sowjetunion, sondern auch die Weimarer Republik mit ihrer großen Kommunistischen Partei spielten dabei eine wichtige Rolle. Imanuel Geiss datiert den Beginn eines aktiven kommunistischen Interesses an der von Westeuropa kolonialisierten Welt einschließlich der afrikanischstämmigen Amerikaner und Amerikanerinnen und Teilen Afrikas auf 1919.60 Hakim Adi geht in seiner Studie über Panafrikanismus und Kommunismus aus umgekehrter Perspektive noch einige Jahre weiter zurück.61 Das wachsende Interesse schwarzer Intellektueller an marxistischen Ideen sei unter anderem geprägt gewesen von dem Eindruck, den das bolschewistische Russland hinterließ: die nachgeholte Industrialisierung, die das riesige Land in einen ernst zu nehmenden Gegner nicht nur der westeuropäischen Kolonialmächte, sondern auch der damals noch offen rassistisch strukturierten USA verwandelte, übte auf zahlreiche schwarze Intellektuelle eine nachhaltige Wirkung aus. Dieser positive Eindruck wurde verstärkt durch den Modernisierungsprozess in den zentralasiatischen Sowjetrepubliken, der in den Augen schwarzer Intellektueller wie Langston Hughes durch die Abwesenheit von Rassismen gekennzeichnet war.62 Bezüglich Deutschlands entwirft Padmore das zynische Bild einer Kommunistischen Partei, die aufgrund der verlorenen Kolonien prädestiniert zur antikolonialen Agitation gewesen sei, da letztere nicht mehr mit nationalen Interessen wie etwa denen ihrer französischen oder britischen Schwesterparteien hätte kollidieren können. 1927 beauftragte die Kommunistische Internationale, kurz Komintern, ihren deutschen Zweig, einen antikolonialen Kongress in Berlin auszurichten, der aufgrund von Einwänden der deutschen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aber nach Brüssel habe verlegt werden müssen – allerdings immer noch unter der Ägide deutscher Kommunisten und Kommunistinnen wie Willi Münzenberg. Padmore war lange Zeit selbst überzeugter Kommu59 Musafiri, Katja: Weiße und schwarze Fäuste im gemeinsamen Protest. http://www.taz.de/! 361563/ (22.05.2017). 60 Geiss, Imanuel: Panafrikanismus. Zur Geschichte der Dekolonisation. Frankfurt am Main 1968. S. 252. 61 Adi, Hakim: Pan-Africanism and Communism. The Communist International, Africa and the Diaspora 1919–1939. Trenton, NJ 2013. S. 3–13. 62 Birmingham, David: Kwame Nkrumah. The Father of African Nationalism. Athens, Ohio 1990. S. 63; Haywood, Harry: Black Bolshevik. Autobiography of an Afro-American Communist. Chicago 1978. S. 117–120; Padmore, George: Pan-Africanism or Communism? The Coming Struggle for Africa. London 1956. S. 290f; Lee, Christopher J.: Introduction. Anti-Imperial Eyes. In: La Guma, Alex: A Soviet Journey. A Critical Annotated Edition. Edited by Christopher J. Lee. Lanham 2017, S. 1–60, hier S. 12–17.

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nist und als solcher noch bis zu Beginn der nationalsozialistischen Diktatur in Hamburg aktiv.63 Neben Berlin gehörte die Hafenstadt, 1930 Austragungsort der heute weitestgehend vergessenen First International Conference of Negro Workers, wo erstmals Repräsentanten schwarzer Arbeiterorganisationen aus Afrika und der Diaspora zusammengebracht worden sind und die auch der panafrikanischen Karriere Padmores einen nachhaltigen Schub verschafft haben soll, zu den Zentren der antikolonialen Agitation in Deutschland.64 Um 1933 kam es zum Bruch zwischen Padmore und der Komintern. In seiner persönlichen Abrechnung mit ihr begründete er dies mit dem seiner Ansicht nach ambivalenten Verhalten der Sowjetunion, die von der antikolonialen Agitation abgelassen hätte, um potenzielle westeuropäische Verbündete gegen das nationalsozialistische Deutschland nicht zu verprellen.65 Padmore steht mit seiner Abwendung vom Kommunismus im auffälligen Gegensatz zu einer anderen wichtigen Figur in der Geschichte des Panafrikanismus, dem schwarzen US-amerikanischen Soziologen W.E.B. Du Bois, der sich erst im hohen Alter dem Kommunismus zuwandte, aber genau wie Padmore in Nkrumahs Ghana seine letzten Jahre verbrachte.66 In einem lebensgeschichtlichen Interview erwähnt Mwaungulu Padmore als Leiter eines Büros in Accra, Ghana, das der Koordinierung der verschiedenen afrikanischen Freiheitsbewegungen gedient und in dem er während seines Aufenthalts in Ghana zu arbeiten begonnen habe. Über dieses Büro für afrikanische Angelegenheiten habe Mwaungulu, wie er in einem seiner im Nachlass überlieferten Lebensläufe schreibt, auch sein Stipendium für die DDR erhalten. 63 Padmore, Pan-Africanism (wie Anm. 62), S. 323–324; Italiaander, Rolf: Schwarze Haut im roten Griff. Düsseldorf/Wien 1962. S. 63f. 64 Adi, Hakim: Pan-Africanism and Communism: the Comintern, the ‚Negro Question‘ and the First International Conference of Negro Workers, Hamburg 1930. In: African and Black Diaspora. An International Journal, 1 (2008) 2, S. 237–254, hier S. 250. Siehe auch Weiss, Holger: Framing a radical African Atlantic. African American Agency, West African Intellectuals and the International Trade Union Committee of Negro Workers. Leiden 2014. 65 Hooker, James R.: Black Revolutionary. George Padmore’s Path from Communism to PanAfricanism. London 1967. S. 17–38. Padmore’s Kritik an der Komintern ist von Teilen der Historiographie übernommen worden, was neuere Forschungen wie die bereits zitierten von Adi und Weiss für zu einseitig halten. Vgl. Adi, Pan-Africanism (wie Anm. 61), S. xiii-xviii und Weiss, Framing (wie Anm. 64), S. 589–610. Für Hinweise auf eine rassistisch motivierte, mangelnde Unterstützung deutscher Kommunisten und Kommunistinnen für die zur Hamburger Konferenz angereisten Afrikaner vgl. James, Leslie E.: What We Put in Black and White: George Padmore and the Practice of Anti-Imperial Politics. Dissertation. London 2012. http://etheses. lse.ac.uk/399/ (23.05.2017), S. 71–72. 66 Gilroy, Paul: ‚Cheer the Weary Traveller‘: W. E. B. Du Bois, Germany, and the Politics of (Dis)placement. In: The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. Cambridge, Massachusetts 1993, S. 111–145, hier S. 117.

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Die Annahme des Stipendiums erklärt er rückblickend folgendermaßen: „Nkrumah wollte zuerst, dass ich in die Sowjetunion gehe. Dort war mir der Sozialismus zu hoch, das war zu fortgeschritten. Ich wollte dorthin, wo man anfängt, den Sozialismus aufzubauen, um zu sehen, wo die Fehler gemacht werden, wie sie gemacht werden.“67 Ein ähnlich weit zurückreichender Strang antikolonialer und kommunistischer Verflechtungen findet sich in der Biographie des mit kurzer Unterbrechung seit 1979 in Ostdeutschland lebenden Bartolomew La Guma. La Guma, 1959 in Südafrika als Coloured geboren, ist das im Londoner Exil aufgewachsene Kind der südafrikanischen Exilierten Blanche und Alex La Guma.68 Letzterer war ab den späten 1970er Jahren Repräsentant des ANC in Lateinamerika; in den 1980er Jahren besuchte er als Generalsekretär des afro-asiatischen Schriftstellerverbandes auch die DDR.69 Zu seinem Œuvre zählt unter anderem ein Reisebericht über die Sowjetunion.70 Dort hatte sich in den 1920er Jahren bereits der Großvater Jimmy beziehungsweise James La Guma aufgehalten; als eine prägende Figur in der Gewerkschaftsgeschichte des südlichen Afrikas gehörte Jimmy La Guma (1894–1961), der zwei Parteiausschlüsse erlebte, zu den frühesten afrikanischen Kommunisten und Kommunistinnen überhaupt.71 Er war einer von insgesamt nur drei schwarzen (bzw. „coloured“) Afrikanern, die 1927 an dem erwähnten International Congress against Imperialism and Colonialism in Brüssel teilnahmen; ein Jahr später flossen seine Ansichten in die Native

67 Theuerkauf, Schule (wie Anm. 42), S. 12 u. 27; vgl. zum „Bureau for African Affairs“ James, Leslie E.: George Padmore and Decolonization from Below: Pan-Africanism, the Cold War, and the End of Empire. Hampshire 2015, S. 169. 68 Zu Bartolomew La Guma und seiner Familie vgl. Schleicher, Ilona: „Wir waren hier, weil es Solidarität gab“. Bartolomew La Guma und Sacks Stuurman (Bert Seraje) im Interview mit Ilona Schleicher. In: Solidarität gegen Apartheid – für ein freies Südafrika. Reflektieren und Reflexionen über DDR-Solidarität mit dem ANC. Hrsg. von Ilona Schleicher u. Andreas Bohne. Berlin 2012. S. 101–109, hier S. 104, Fn. 129. 69 Mit Wort und Tat für die Befreiung Südafrikas: Alex La Guma in der DDR, Neues Deutschland, 01.10.1982, S. 4. Zu Blanche La Guma siehe Blankenberg, Lucilla: Through My Eyes. Blanche La Guma. Dokumentarfilm, Südafrika 2003; La Guma, Blanche u. Martin Klammer: In the Dark with My Dress on Fire: My Life in Cape Town, London, Havana and Home Again. Auckland Park, South Africa 2011. 70 La Guma, Alex: A Soviet Journey. Moskau 1978 (zur Neuausgabe von Christopher J. Lee siehe Anm. 62). Für eine kritische Lektüre, die La Guma eine Romantisierung der Sowjetunion attestiert, vgl. Lee, Christopher J.: „Only He who Has no Friends Can Say Good-Bye“: Alex La Guma’s A Soviet Journey (1978) and the Contingent History of Covert Travel to the USSR in South African Politics. In: Africa in Russia, Russia in Africa. Hrsg. von Maxim Matusevich. Trenton, NJ 2007. S. 239–262, hier S. 253. 71 La Guma, Alex: Jimmy La Guma. A Biography by Alex La Guma. Cape Town 1997.

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Republic Thesis der Komintern ein.72 Über eine in diesen Zeitraum fallende, von deutschen Komintern-Kreisen organisierte Vortragsreise durch Deutschland, die Jimmy La Guma auch in den Wedding geführt habe – „the working class ‚Red‘ suburb of Berlin“73 –, schreibt Alex La Guma in der Biographie seines Vaters: „La Guma addressed several meetings in Germany surprising his audiences by speaking to them in their own language which he had learned in South West Africa. In later years, it was always his regret that he was not able to revisit Germany, particularly after the Socialist victory in the Eastern section.“74

Fazit Ein Narrativ wie das oben zitierte, niedergeschrieben im Kapstadt der 1960er Jahre von einem gemäß der Apartheid-Gesetze als Coloured klassifizierten Autoren, der aufgrund kommunistischer Aktivitäten für fünf Jahre unter Hausarrest gestellt worden war, ehe er schließlich mit seiner Familie ins Exil ging, fügt sich nur schwer in den Nachwendediskurs um den sozialistischen deutschen Teilstaat. Ebenso wie Mwaungulus zuvor geschilderte Tätigkeit in Padmores Büro, die die Vergabe von DDR-Stipendien in einen historischen Zusammenhang mit den Komintern-Netzwerken der Zwischenkriegszeit rückt, handelt es sich um migrantische Wissensbestände, die Ausdruck einer marginalisierten Geschichte postkolonialer und postsozialistischer Verflechtungsräume sind. Nur vor ihrem Hintergrund lässt sich die Alltagswelt von Afrikanern und Afrikanerinnen in der DDR und anderen sozialistischen Ländern adäquat kontextualisieren und erforschen. Andernfalls bleiben die affirmativen Haltungen vieler Menschen aus den ehemaligen Kolonien des Westens gegenüber der DDR – an denen Rassismen, die es in der DDR auch gab, wenig ändern75 – unverstanden. Erst durch die Kenntnis dieser globalgeschichtlichen Hintergründe werden die eurozentristischen Logiken der deutschen Nachwendedebatte, die sich in der Relativierung des antikolonialen Engagements der DDR am deutlichsten manifestieren, fass72 Zu La Gumas Kongressteilnahme in Brüssel vgl. Weiss, Framing (wie Anm. 64), S. 83. Zur „Native Republic Thesis“ vgl. Adi, Pan-Africanism (wie Anm. 61), S. 72–76. Die These besagte im Wesentlichen, dass Südafrika eine kolonial unterdrückte „Native’s Republic“ sei, in der die schwarze Landbevölkerung die stärkste revolutionäre Kraft darstelle. 73 La Guma, Jimmy La Guma (wie Anm. 71), S. 34. 74 La Guma, Jimmy La Guma (wie Anm. 71), S. 34. 75 Dazu z.B. Waibel, Harry: Der gescheiterte Anti-Faschismus der SED. Rassismus in der DDR. Frankfurt am Main [u.a.] 2014; kritisch dazu Heitzer, Enrico: Rezension zu: Waibel, Harry. Der gescheiterte Anti-Faschismus der SED. Rassismus in der DDR. www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22779 (22.05.2017).

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bar. Ein nationalstaatlich verengter Blick auf die DDR als eine primär nach innen wirkende Diktatur mit homogener Bevölkerung wird diesen Phänomenen nicht gerecht.76 Nicht nur in der Ethnologie, auch in der zeitgeschichtlichen Migrationsforschung zur DDR, in einer Studie zum vergleichsweise systemkonformen Verhalten dortiger „3.-Welt-Gruppen“77 oder allgemeiner im medialen Diskurs zur deutschen Zweistaatlichkeit zeigt sich die Schwierigkeit der Erfassung dieser verflochtenen Geschichte, der mit ihr verwobenen Wissensbestände und ihrer Bedeutung. So kommt etwa der eingangs zitierte Patrice Poutrus am Beispiel von politischen Emigrantinnen und Emigranten aus Algerien und Südafrika zu der Einschätzung, dass „für die SED-Führung […] die Unterstützung der Dekolonisierung [nicht] von maßgeblichem Interesse [war]“, sondern „die erhoffte diplomatische Anerkennung des SED-Staates und der Gewinn neuer außenpolitischer Partner das eigentliche Ziel dieser Politik waren.“78 Wie aber passt das zu der Einschätzung des Militärhistorikers Klaus Storkmann, wonach sich „[die Entscheidungsträger der DDR] aus ideologischen Gründen und zugleich aus persönlichen politischen Überzeugungen […] zur Solidarität mit den Völkern Afrikas, Asiens, des Nahen Ostens und Lateinamerikas verpflichtet [fühlten]“?79 Diese Einschätzung korrespondiert wiederum mit der Beobachtung Ilona Schleichers, wonach es insbesondere kommunistische Remigranten und Remigrantinnen aus dem westlichen Exil waren – darunter auch Juden wie Horst Brasch und Gottfried Lessing –, die sich in teils verantwortungsvollen Positionen an der Afrikapolitik der DDR beteiligten. Ihre spezifischen Erfahrungen aus dem antifaschistischen Exil der NS-Zeit – insbesondere das Wissen um die Rolle propagandistischer Arbeit und die Vermeidung von Sektierertum im

76 Ähnlich argumentiert Urmila Goel in ihrer Kritik an der Ausblendung der Migration in die DDR in der deutschen Migrationsforschung; sie sieht ein politisches Interesse am Wirken, die DDR nicht als Aufnahmeland Verfolgter rechter Diktaturen erscheinen zu lassen. Goel, Urmila: Ungehörte Stimmen. Überlegungen zur Ausblendung von Migration in die DDR in der Migrationsforschung. In: Wer Macht Demo_kratie? Kritische Beiträge zu Migration und Machtverhältnissen. Hrsg. von Duygu Gürsel [u.a.]. Münster 2013, S. 138–150. http://www.urmila.de/ forschung/ostwest/texte/ungehoert.html (23.05.2017). 77 Verburg, Maria Magdalena: Ostdeutsche Dritte-Welt-Gruppen vor und nach 1989/90. Göttingen 2012. 78 Poutrus, Genossen (wie Anm. 11), S. 253. 79 Storkmann, Klaus P.: Geheime Solidarität: Militärbeziehungen und Militärhilfen der DDR in die „Dritte Welt“. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Berlin 2012, S. 576.

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organisierten Exil – hätten den Aufbau vertrauensvoller Beziehungen zu exilierten Mitgliedern afrikanischer Befreiungsbewegungen maßgeblich befördert.80 Die hier am Beispiel einiger afrikanischer Exilbiographien als Teil einer migrantischen Wissensgeschichte rückverfolgten Verflechtungen antikolonialer und kommunistischer Politiken machen deutlich, wie sehr die DDR in der Tradition dieser Politiken stand, die – wie sich auch in der späteren Ausweisung Mwaungulus zeigt – nie frei von Interessenkonflikten, Paternalismus und Rassismen waren, aber dennoch den Zweiten Weltkrieg überdauerten und den Kalten Krieg beziehungsweise die Dekolonisation hindurch fortbestanden. Schwarze Intellektuelle, die im wirtschaftspolitischen System des Kapitalismus den wesentlichen Grund ihrer anhaltenden Diskriminierung ausmachten, sahen in den Solidaritätspolitiken sozialistischer Staaten ein wirksames Mittel gegen die Hegemonie des Westens. Die Politiken und Praxen eines in den Machtbereich der Sowjetunion eingegliederten Landes wie der DDR bildeten sich im widersprüchlichen Ankämpfen gegen die Bedingungen moderner kapitalistischer Vernetzung heraus. Letztere ist ohne ihre koloniale Komponente nicht zu verstehen; weder lassen sich so die Anziehungskräfte erklären, die der Marxismus und die Sowjetunion auf schwarze Intellektuelle ausüben mussten, deren Länder von kapitalistischen Staaten kolonialisiert worden waren, noch die aktuellen Logiken westlicher Einwanderungs-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitiken.81 Wenn die Crux mit dem Gegenstand DDR also tatsächlich darin besteht, dass er „[…] offenkundig seine Eigenheiten und Tücken [hat], welche den Ertrag von Modellen, die am Beispiel pluralistischer Gesellschaften entwickelt wurden, schmälern,“82 kann an der Relevanz des Hinzuziehens nichtwestlicher Theoriemodelle und Perspek-

80 Schleicher, Ilona: Antifaschismus und Solidarität gegen Apartheid – zum Wirken von Heinz H. Schmidt und anderer Widerstandskämpfer im Solidaritätskomitee der DDR. "hefte zur ddr-geschichte" Nr. 144. Hrsg. von Helle Panke e.V. Berlin 2016, S. 10 u. 34. http://www. vip-ev.de/text968.htm (18.05.2017). (18.05.2017). 81 Zur kapitalistischen Vernetzung vgl. Engel, Bruchzonen (wie Anm. 50), S. 24; zu Kolonialismus und Kapitalismus z.B. Wolf, Eric R.: Die Völker ohne Geschichte. Europa und die andere Welt seit 1400. Frankfurt am Main 1986; zu Logiken westlicher Einwanderungspolitiken z.B Ebua, Gaston u. Nicola Lauré al Samarai: »Selbstorganisation braucht ein tiefes, kritisches Selbstverständnis«: Transnationale Konzepte und Praxen der Initiative The VOICE Refugee Forum. Nicole Lauré al Samarai im Gespräch mit dem Menschenrechtsaktivisten Gaston Ebua. In: re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. Hrsg. von Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai und Sheila Mysorekar. Münster 2007. S. 389–398. 82 Bispinck, Henrik [u.a.]: DDR-Forschung in der Krise? Defizite und Zukunftschancen – Eine Entgegnung auf Jürgen Kocka. In: Deutschland-Archiv 36 (2003). S. 1021–1026, hier S. 1023.

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tiven kein Zweifel bestehen. An der Einbeziehung migrantischer Wissensbestände von sozialen Akteuren wie Mwaungulu sollte es dabei nicht fehlen.

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Alexa Brum

Die Integration russischsprachiger Kinder aus der UdSSR und GUS in der I.E. Lichtigfeld-Schule zu Frankfurt am Main Ein Bericht aus der Praxis Die Migration der russischsprachigen Juden1 in die Bundesrepublik Deutschland war aus Sicht Deutschlands und der dort lebenden Juden völlig unerwartet und stellte eine beträchtliche Herausforderung dar. Kaum jemand hätte vermutet, dass ausgerechnet Deutschland die Wunschheimat so vieler Juden sein würde, gingen doch die nach der Shoa hier Verbliebenen und deren Nachkommen überwiegend davon aus, sie würden dieses „Land der Täter“ eines Tages verlassen und bis dahin sozusagen auf gepackten Koffern sitzen. Dass die neu eintreffenden Migranten sich bewusst für Deutschland, „das am weitesten östlich gelegene westliche Land“2 entschieden, drängte die hiesigen Juden in eine neue Rolle, nämlich Integrationshelfer in ein Land zu sein, von dem sie bis kurz zuvor selbst noch nicht wussten, ob sie dort bleiben wollten. Für beide Seiten bestätigten sich die anfänglichen gegenseitigen Erwartungen nicht. Die ansässigen Gemeindemitglieder mussten, zum Teil schmerzlich, akzeptieren, dass die Neuankömmlinge unerwartet selbstbewusst und Deutschland gegenüber unbefangen auftraten, wobei sie ihr Sieger- und Veteranenerbe aus dem Zweiten Weltkrieg hoch hielten. Die Zugezogenen hingegen mussten die Vorstellung begraben, auf „gesettelte [und wohlhabende] deutsche Juden zu treffen, die sie mit offenen Armen aufnehmen und an ihrem Wohlstand teilhaben lassen“.3 Von Beginn der Migration an aber ließen die Entscheidungsgremien der Juden in Deutschland keinerlei Zweifel an der Aufnahme- und Verantwortungsbereitschaft der bestehenden Gemeinden aufkommen, ungeachtet der 1 Gemeint ist hier die in Folge von Glasnost’, Perestrojka und dem Zusammenbruch der UdSSR erfolgte Migration. Auf vorherige Migrationsbewegungen aus der Sowjetunion wird in diesem Beitrag nicht Bezug genommen. 2 Diner, Dan: Deutsch-jüdisch-russische Paradoxien oder Versuch eines Kommentars aus Sicht des Historikers. In: Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Hrsg. von Dimitrij Belkin u. Raphael Gross. Berlin 2010. S. 18–20. 3 Wissgott-Moneta, Dalia: Filmbeitrag zur Ausstellung Ausgerechnet Deutschland! Jüdischrussische Einwanderung in die Bundesrepublik. 12. März – 25. Juli 2010, Jüdisches Museum Frankfurt am Main. https://doi.org/10.1515/9783110538076-013

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Größe der Herausforderung, was zumindest in Frankfurt am Main tendenziellen Widerstand innerhalb der Gemeinde in aktive Hilfsbereitschaft umlenkte. In der Geschichte jüdischer Migration und der aufnehmenden jüdischen Gemeinden in Deutschland hat die Rolle der Schulen bislang noch kaum Beachtung gefunden. Dabei ist das Wachstum der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main nach der Shoa nicht zukunftsgläubigem Kinderreichtum in friedlicher Umgebung lebender Alteingesessener4 zu verdanken, sondern der Tatsache, dass sie direkt im Anschluss an die Shoa über Jahrzehnte vor Antisemitismus Fliehende aufnahm. Dies schuf eine Gemeinde, die sich mit größter Empathie und Kraft nun auch um die Aufnahme der Migranten aus der ehemaligen UdSSR in die bestehende Kehilla5 bemühte, welchen Widerständen sie auch zu trotzen hatte.6 Im Blickpunkt dieses Beitrags steht die Integrationspraxis der I.E. Lichtigfeld-Schule als Schulgemeinschaft7 und Institution der jüdischen Gemeinde. Damit verbunden ist im speziellen die Frage, welches soziale und kulturelle Wissen die neu zugezogenen Juden aus der Sowjetunion mitbrachten und welches Wissen im Zuge des Integrationsprozesses in Schule und Gemeinde neu geformt wurde. Der hier verwendete Wissensbegriff folgt dem Ansatz Philipp Sarasins, „die Welt bzw. den ‚Zusammenhang‘ von den diskursiven, medialen, personalen und institutionellen Formen des Wissens her zu beschreiben, weil 4 Diese im Kern unzutreffende Bezeichnung suggeriert langjährige Bodenständigkeit und Stabilität und ignoriert die Fragilität der aufnehmenden Gemeinden. Sie wird in vielen Studien und Berichten gewählt, um Mitglieder der bestehenden jüdischen Gemeinden in Deutschland von Migrantinnen und Migranten zu unterscheiden. Zu dieser Problematik vor allem Ben-Rafael, Eliezer, Yitzhak Sternberg u. Olaf Glöckner: Juden und jüdische Bildung in Deutschland. Oktober 2010. www.zwst.org/medialibrary/pdf/PINCUS%20STUDIE%20DEUTSCH%20%20NOV %2016%202010.pdf (07.05.2018); Gorelik, Lena: Zwischen Integration und Isolation: Russische Juden in Deutschland. In: Ost-West Europäische Perspektive (OWEP) 3 (2008) www.owep.de/ artikel/644/zwischen-integration-und-isolation-russische-juden-in-deutschland (02.04.2018); Kessler, Judith: Identitätssuche und Subkultur. In: Ein neues Judentum in Deutschland. Hrsg. von Julius H. Schoeps, Willi Jasper, Bernhard Vogt. Potsdam 1999. S. 140–162. 5 Kehillah: jüdische Gemeinde, im idealen Sinn auch die „heilige“ Gemeinde beim Gottesdienst. 6 „Wir müssen die Neuen umarmen und ihnen Liebe, Fürsorge, Wärme, Freude und Verständnis bringen“ (Rabbi Yehuda Teichtal). Zitat in: Ben-Rafael, Sternberg, Glöckner, Juden (wie Anm. 4), S. 71. Das Narrativ der Entstehungsgeschichte des jüdischen Volkes berichtet von Flucht vor Unterdrückung in die Freiheit, dem Auszug aus Ägypten. Entsprechend beziehen sich ein Großteil der verbindlichen religiösen Sozialgesetze auf Integrationsbemühungen gegenüber Flüchtlingen und in Not Geratenen. 7 Schulgemeinschaft wird hier verstanden als alle am Schulleben Teilhabenden: Eltern, Lehrkräfte Schülerinnen und Schüler und Verwaltungs- und Hauspersonal.

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Formen des Wissens in Verbindung mit belief systems und künstlerischer Expression erst Subjekte, Artefakte und Handlungen zu dem verbinden, was man ‚gesellschaftliche Wirklichkeit‘ nennt.“8

Profil und Bedeutung der I.E. Lichtigfeld-Schule zu Frankfurt am Main Die I.E. Lichtigfeld-Schule ist die Schule der jüdischen Gemeinde zu Frankfurt am Main, bis 2005/2006 Grundschule mit Eingangs- und Förderstufe, seit 2006 mit einer gymnasialen (G8) Mittelstufe und für die Zeit ab dem Jahr 2019 mit einer gymnasialen Oberstufe. Gegründet im Jahr 1966 erfüllte sie zunächst die Funktion, den Kindern der Shoa-Überlebenden während der Grundschulzeit einen schulischen Schonraum zu bieten, in dem sie behutsam auf den Eintritt in die staatliche weiterführende Schule und damit auf den Eintritt in die Mehrheitsgesellschaft vorbereitet wurden, dies aber bewusst mit nichtjüdischen Kindern gemeinsam, die von Anfang an aufgenommen wurden, ihrerseits nun in der Rolle einer Minorität. Die Eltern der meisten Kinder waren Gründungsmitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Frankfurt am Main nach der Shoa, überwiegend polnische KZÜberlebende, schwer traumatisierte Menschen, die nach der Auflösung der DPCamps dennoch das Über-Leben in diesem Lande anpackten. Sie blieben unter sich und abgesehen von beruflichen Kontakten gab es kaum Verbindungen zwischen Deutschen der Mehrheitsgesellschaft und den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde. Zu dieser Zeit verstand sich die Gemeinde ausdrücklich nicht als Nachfolgerin der emanzipierten Frankfurter Vorkriegsgemeinde und knüpfte bei Schulgründung konzeptionell nicht an die vormals über Frankfurt hinaus hervorragend beleumundeten Schulen, das Philanthropin für die liberale und die Samson-Rafael-Hirsch-Schule für die modern-orthodoxe Denomination, an. Vielmehr unterschied sich das in Polen ausgeprägte Selbstverständnis von Jüdischkeit in Lebensführung und Ritus deutlich von den im Vorkriegsdeutschland gelebten Formen.9 Dass nun in den meisten jüdischen Nachkriegsgmein8 Sarasin, Philipp: Was ist Wissensgeschichte. In: Internationales Archiv der Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011) 1. S. 159–172, hier S. 172. 9 Mordechai Breuer beschreibt, wie seit dem Ende des 16. Jahrhunderts ein rabbinischer Diskurs entstand, der, „zwischen dem deutschen und dem polnischen Ritus eine Trennungslinie zog“ Breuer, Mordechai: Die deutsche Orthodoxie zwischen Westen und Osten. In: Jüdische Selbstwahrnehmung–la prise de conscience de l’identité juive. Hrsg. von Hans Otto Horch u.

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den Holocaustüberlebende mit polnischem Hintergrund die Mehrheit besaßen, wirkte sich unmittelbar auf den Ritus aus, der – anstelle des häufig liberalen in den deutschen Vorkriegs-Synagogen – vielerorts jüdisch-orthodox wurde. Bei der Schulgründung 1966 ging es pragmatisch darum, die Kinder der Shoa-Überlebenden aus der Vereinzelung und häufig beklemmenden Situation an staatlichen Schulen – viele Lehrkräfte waren noch vom Nationalsozialismus geprägt – zu lösen und eine Lernstätte zu schaffen, in der sie sich in ihrer Besonderheit normal fühlen durften. Die Jüdische Gemeinde wuchs mit den Flüchtlingsankünften, überwiegend ausgelöst von antisemitischen Verfolgungen in den Ländern des Ostblocks.10 Aus pädagogischer Sicht galt es, diese Kinder zu integrieren, sie in kleinen Klassen zu stabilisieren, Gemeinschaftssinn ebenso zu fördern wie Leistungsbereitschaft, kein Kind aus den Augen zu verlieren, Stärken herauszufordern und Schwächen zu kompensieren und Lust auf die „Bewährung“ in der Mehrheitsgesellschaft zu wecken. Darüber hinaus sollte die Schule Garant sein für das Weiterbestehen der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt und eine profunde jüdische Erziehung als Additum zur vollen Erfüllung der damals so benannten Rahmenpläne vermitteln. Mit diesem Auftrag durfte sie kein Kind verloren geben und so wurde schon vor der Ankunft der Migranten aus der ehemaligen UdSSR eine Förderlehrerin eingestellt, um besondere Bedarfe abzudecken. Mit heutiger Begrifflichkeit kann gesagt werden, dass die I.E. Lichtigfeld-Schule seit jeher inklusiv arbeitet. Es hatte Jahrzehnte gebraucht, bis sich die Gemeinde unter der couragierten Leitung von Ignaz Bubis und seinen jungen Mitstreitern der Mehrheitsgesellschaft öffnete und 1986 mit einem neuen Gemeindezentrum mitten im Westend Frankfurts ein Zeichen setzte: Wir sind wieder da!11 In diesem Gebäude beCharlotte Wardi. Tübingen 1997. S. 45. Vgl. Ben Rafael, Sternberg, Glöckner, Juden (wie Anm. 4), S. 31. 10 So etwa zu Beginn der 1950er Jahre und 1960er Jahre Verfolgungen in der Tschechoslowakei, Repressalien nach dem Aufstand 1956 in Ungarn, in den 1960er Jahren Ausreise rumänischer Juden als Tausch für Waren und Devisen, massive antisemitische, staatlich gelenkte Kampagne in Polen 1968. Unvergleichlich aber die unablässige Verfolgung in der Sowjetunion, beginnend mit den stalinistischen Prozessen, die auf die „Vernichtung nicht nur jüdischer Menschen, sondern der gesamten jiddischen Kultur zielte“. Lustiger, Arno: Wie Stalins Judenverfolgung verheimlicht wurde. In: DIE WELT vom 10.08.2002; Diner, Paradoxie (wie Anm. 2), S. 19. 11 Im Hinblick auf diese Jahre fragen Ben-Rafael und seine Mitautoren in ihrer Studie: „Sind die heutigen Juden in Deutschland gewillt, in die Spuren ihrer Vorgänger – doch weit weniger ihrer Ahnen – zu treten?“ Ben-Rafael, Sternberg, Glöckner, Juden (wie Anm. 4), S. S. 41 und stellen dann fest: „Das ganz Spezielle an der Situation ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass sie plötzlich in die Rolle geraten, potentielle Erben des historischen deutschen Judentums zu sein,

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fand sich nun auch die inzwischen hochrenommierte I.E. Lichtigfeld-Schule. Sie hatte sich seit ihrer Gründung zu einem integralen Bestandteil eines pluralistischen Frankfurter und hessischen Schulsystems gemausert, war die jüdische Facette darin. Diese Schule war bestens gerüstet, die zum Ende der 1980er Jahre erst vereinzelt und dann mit dem Einsetzen der geregelten Aufnahmeverfahren in Folge des Kontingentflüchtlingsgesetzes verstärkt eintreffenden Kinder aus der ehemaligen UdSSR aufzunehmen. Allerdings musste sie hier eine doppelte Integration leisten: die in die jüdische Gemeinschaft und die in die Mehrheitsgesellschaft.

Kinder von Migrantinnen und Migranten an der I.E. Lichtigfeld-Schule Die Migration der neuen Gemeindemitglieder aus der Sowjetunion vollzog sich in drei Etappen: Zunächst machten sich Juden aus der UdSSR zum Ende der 1980er Jahre selbstbestimmt12 auf den wagnisreichen Weg nach Deutschland, häufig mit Touristenvisa und mit nicht mehr Habe, als in die mitgebrachten Koffer passte. Ohne jede Sicherheit ließen sie sich nieder, wo sie Unterkunft fanden, vorzugweise in Städten mit größeren jüdischen Gemeinden, so auch in Frankfurt am Main. Bis zu einer gesetzlichen Regelung wurde ihr Verbleib aus humanitären Gründen nur geduldet. Nach der Wiedervereinigung verabredeten dann „Bonn und die Bundesländer […] die Eingliederung ohne zahlenmäßige und zeitliche Begrenzung“13 und beschlossen im Januar 1991 die Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes14. Seitdem wurde ein sogenanntes geregeltes Aufnahmeverfahren15 angewandt, nach dem die Flüchtlinge bereits im Heimatland den Ausreiseantrag stellen mussten und bei ihrer Einreise nach dem Kö-

eines Judentums, das ihnen eigentlich unvertraut ist.“ Ben-Rafael, Sternberg, Glöckner, Juden (wie Anm. 4), S. 43. 12 Vgl. Wissgott-Moneta, Dalia: BRD - Gelobtes Land. 20 Jahre danach. In: Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Hrsg. von Dimitrij Belkin u. Raphael Gross. Berlin 2010. S. 98–101, hier S. 98. 13 So leise wie möglich. In: Der Spiegel 22 (1996). S. 23. 14 Offiziell bezeichnet als HumHAG: Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsmaßnahmen aufgenommene Flüchtlinge. 15 Haug, Sonja u. Peter Schamani: Jüdische Zuwanderer in Deutschland (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Working Papers 3/2005). www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/ Publikationen/ WorkingPapers/wp03-juedische-zuwanderer.html (08.05.2016). S. 4.

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nigsteiner Schlüssel16 auf die Bundesländer verteilt wurden. In Frankfurt am Main gewann die Jüdische Gemeinde rund 4000 neue Mitglieder17. Schließlich verlor mit dem Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 das Kontingentflüchtlingsgesetz seine Gültigkeit. Seitdem müssen jüdische Zuwanderer ihre Einreise nach Deutschland auf Grundlage des Aufenthaltsgesetzes beantragen.18 Der Zuzug verminderte sich seitdem beträchtlich.19 Seit ihrem Bestehen hat die I.E. Lichtigfeld-Schule Kinder aus 35 Staaten aufgenommen, meistens nur einzelne pro Nation. Die Neueinwanderer aus den Ex-UdSSR-Staaten bildeten mit bis zu einem Anteil von durchschnittlich 30 % der gesamten Schülerschaft in den Jahren 1995 bis 2000 (s. Tab. 1) die Mehrheit aller Neuankömmlinge, die an der I.E. Lichtigfeld-Schule entweder als Schulanfänger in der Eingangsstufe oder als Seiteneinsteiger bis Klasse 6, seit 2006 bis Klasse 9, aufgenommen wurden. Die Mehrheit unter ihnen stammte aus der Ukraine oder Russland, wenige aus dem Baltikum, aus Moldavien und Georgien und nur vereinzelt kamen Familien aus Usbekistan, Kirgisien, Weißrussland oder Tadschikistan.20 Ungeachtet ihres Herkunftslandes sprachen sie alle Russisch und bildeten damit eine Sprachgemeinschaft, die deutlich hervortrat. Die Mehrheit der jüdischen Migrantinnen und Migranten in Frankfurt am Main entschieden sich für eine Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde.21 Die meisten dieser neuen Mitglieder schickten ihre Kinder dann auch auf die Schule dieser Gemeinde, denn die I.E. Lichtigfeld-Schule bot ihnen viele Vorteile.

16 Das Königssteiner Staatsabkommen der Länder von 1949 regelt einen Finanzierungsschlüssel zur Aufteilung der Lasten auf die einzelnen Bundesländer und wird jährlich neu berechnet nach dem Steueraufkommen und der Bevölkerungszahl der Bundesländer. 17 Auskunft von Dalia Moneta, Leiterin der Sozialabteilung der jüd. Gemeinde Frankfurt am Main, in einer Mail an die Verf. vom 14.03.2017. Vgl. auch Ben-Rafael, Sternberg, Glöckner, Juden (wie Anm. 4), S. 35. 18 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Allgemeine Informationen www.bamf.de/DE/Migration/ JuedischeZuwanderer/AktuelleInfo/aktuelleinfo-node.html (16.04.2017). 19 Deutscher Bundestag: Drucksache 18/6485. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Renate Künast, Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Entwicklung der jüdischen Einwanderung nach Deutschland aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. http://dipbt.bundestag. de/dip21/btd/18/066/1806696.pdf (05.03.2017). 20 Vgl. hierzu Kessler, Identitätssuche (wie Anm. 4), S.140 f.: „Der kulturspezifische Hintergrund der Neuzuwanderer wird vereinfacht und reduziert, egal ob die jeweilige Person aus Russland, Moldawien oder Aserbaidschan kommt. Das primitivste Klischee lautet: Das sind alles Russen. […] Und die bringen bei aller ‚Russifizierung‘ oder ‚Sowjetisierung‘ alle Besonderheiten ihrer jeweiligen Herkunftskontexte mit.“ 21 Ben-Rafael, Sternberg, Glöckner, Juden (wie Anm. 4), S. 76.

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Durch die Eingangs22- und Förderstufe23 konnten die Schülerinnen und Schüler sieben Jahre, seit 2006 zehn Jahre in diesem behüteten System verbleiben, was half, sowohl in der neuen Umgebung als auch in der jüdischen Gemeinde anzukommen. Es wurde Sprach- und Lernförderung angeboten und bei Bedarf Nachmittagsbetreuung vermittelt, anfangs sogar mit heilpädagogischer Betreuung für traumatisierte Kinder.24 Man blieb in der eigenen Gemeinschaft, unter einem Dach mit Kindergarten, Jugendzentrum, Seniorentreff und Sportverein Makkabi.25 So wurden über die Kinder auch die Familien ins Gemeindeleben eingebunden und viele nutzten dankbar die Chance jüdisches Wissen wieder zu erwerben, das durch das strikte Verbot religiöser Studien, das in allen Sowjetstaaten durchgesetzt wurde, verloren gegangen war.26 Die besonders Mutigen, die schon zu Sowjetzeiten ihre Kinder auf die jüdischen Schulen in Kiew und St. Petersburg27 geschickt hatten, konnten hier eine Erziehung im jüdischen Umfeld mit einem religiösen Additum zum staatlichen Lehrplan fortsetzen. Nicht zuletzt lockte das Renommee der Schule, deren teures Schulgeld bei Bedürftigkeit durch eine soziale Staffelung auf ein Minimum reduziert wurde, neben dem hohen Unterrichtsniveau ein überzeugendes Argument, um auch religiös Indifferente zu gewinnen. Niemand hatte Mitte der 1980er Jahre bei Planung der neuen Schulräume mit einem solchen Anwachsen der Schülerinnen- und Schülerzahl gerechnet. Umgehend wurde improvisiert, Mehrfachbelegungen der Räume des Jugendzentrums und des Seniorentreffs eingerichtet und alle passten sich der neuen 22 Eingangsstufe: nach unten verlängertes 1. Schuljahr, in das Fünfjährige eingeschult werden, zum Zweck kompensatorischer Erziehung, um allen Schülerinnen und Schülern einen erfolgreichen Start in die Grundschule zu sichern. 23 Förderstufe: binnendifferenziertes Schulmodell für die Jahrgänge 5 und 6, in dem erst im Verlaufe der 6. Klasse eine Empfehlung für die dann weiterführende Schule ausgesprochen wird. 24 Der Psychoanalytiker und Psychotherapeut Günther Feldmann, seinerzeit Leiter der jüdischen Erziehungsberatungsstelle, richtete 1988 ein später nach ihm benanntes Beratungszentrum für Migranten aus der UdSSR ein. Dieses kooperierte eng mit der I.E. Lichtigfeld-Schule. 25 Das 1986 bezogene Gemeindezentrum beheimatete sämtliche Gemeindeinstitutionen, von der Verwaltung, inklusive Sozialabteilung über das Rabbinat, Restaurant, Sportverein, Schule, Jugendzentrum bis zum Seniorentreff u.v. mehr. 26 Zentrale Pflicht im Judentum ist das lebenslange, tägliche Studium der Schriften und die daraus abgeleitete Lebensgestaltung mit Einhaltung der Mizwot (religiöser begründete verpflichtende Lebensregeln), z.B. für das Eheleben, die Kindererziehung und – als wohl bekanntestes Beispiel – die Kaschrut (Nahrungsvorschriften). 27 Mit Glasnost’ und einer Verringerung der staatlichen Repression auf religiöse jüdische Studien wurden schon zu Zeiten der Sowjetunion wieder vereinzelt jüdische Schulen gegründet. Vgl. Ben-Rafael, Sternberg, Glöckner, Juden (wie Anm. 4), S. 34.

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Situation an. Tatsächlich unterstützte die schon länger etablierte Elternschaft der aufnehmenden Gemeinde in Frankfurt am Main die Integrationsbemühungen der Schule tatkräftig und mit persönlichem Einsatz. Die Motive für diesen Einsatz waren vielfältig. Viele Eltern waren selbst Kinder ehemaliger Flüchtlinge und DP’s. Zudem boten die Neuankömmlinge eine Bestandsgarantie für die Zukunft der Gemeinde und nicht zuletzt die Aussicht, dass die Kinder der bestehenden Gemeinde später einmal jüdische Partnerinnen und Partner finden und das Judentum in der Familie weitertragen können.28

Phasen der Integrationsbemühungen Im Rückblick zeichnen sich drei Phasen ab, in denen sich aus Sicht der Schule die Klientel aus der Gruppe der Migranteninnen und Migranten aus der ehem. UdSSR deutlich unterschieden im Hinblick auf ihre rechtliche Lage zur Zeit ihrer Migration, ihre soziale Herkunft und Bildungs-Ausgangslage, ihre Wünsche, Ansprüche und Hoffnungen und ihre Integrationschancen in die Arbeitswelt in Deutschland. Diese drei Phasen sollen im Folgenden beschrieben werden. Dabei handelt es sich in der ersten Phase unter dem Stichwort „Auf der Suche nach Freiheit“ um den Zeitraum seit der Perestrojka bis etwa Mitte der 1990er Jahre und den Zustand der Rechtlosigkeit bzw. Rechtsunsicherheit. Die zweite Phase, „Auf der Suche nach Sicherheit und Wohlstand“, dauerte etwa von der zweiten Hälfte der 1990er Jahre bis ca. 2005 und war geprägt von den trügerischen29 „Segnun28 In anderen Gemeinden aber gab es stärkere Bedenken gegenüber der Migration, wie Sue Fishkoff feststellte: „Alle wichtigen jüdischen Gemeinden im Bundesgebiet haben ihre sozialen Programme mit Rücksicht auf die russischsprechenden Immigranten angepasst, was unter den alteingesessenen Deutschland-Juden nicht nur eitel Freude ausgelöst hat, vor allem dann, wenn diese Juden das Gefühl haben, dadurch selber um soziale Vorteile geprellt zu werden.“ Fishkoff, Sue: Deutschland, das verheissene Land. www.hagalil.com/schweiz/rundschau/inhalt/brd.htm (16.02.2017). 29 Unter Bezug auf Hannah Arendt schreibt Darija Klingenberg am 09.10.2015 in ihrem Artikel „Suche nach dem besseren Leben“ in der Jüdischen Allgemeinen: „In der Migrationsforschung ist es ein bekanntes Phänomen: Temporäre Arbeitskräfte, Migranten und Flüchtlinge entsprechen selten den bürokratischen Begriffen, mit denen versucht wird, Wanderungsbewegungen, Flucht und die Suche nach einem besseren Leben zu regulieren. Zum einen, weil diese Bezeichnungen, wie Arendt zeigt, stigmatisieren und abwerten. Zum anderen, weil sie fehlschlagen, die Vielfalt und Komplexität der migrantischen Erfahrungen, Aspirationen und Bindungen zu erfassen.“ Klingberg, Darjia: Suche nach dem besseren Leben. www.juedische-allgemeine.de/ article/view/id/23472 (04.02.2018). Lena Gorelik schreibt: „Die Erwartungen der Einwanderer sind oft unrealistisch: Sie erhoffen sich z.B. eine bessere ökonomische Stellung – die Bittsteller-

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gen“ des Kontingentflüchtlingsgesetzes, während die dritte Phase von ca. 2005 bis ca. 2012 mit „Ringen um das russische Erbe“ überschrieben werden kann. Sie steht für das faktische Ende der Zuwanderung durch das Aufenthaltssgesetz, sowie, aus pädagogischer Sicht, für eine neue Elterngeneration. Unverändert durch all die Jahre galt, unabhängig vom Bildungsgrad und Sozialstatus der Familie, als absolute Priorität der ausgeprägte Wunsch, den Kindern in Deutschland eine gute Ausbildung zu ermöglichen und damit hoffnungsvolle Zukunftsperspektiven für sie zu eröffnen.30 Dieser Wunsch konnte so nicht voll erfüllt werden. Die Bedeutsamkeit der jüdischen Religion bzw. Kultur nahm im Laufe der Jahre zu.31 War „Jüdisch-Sein“ in der Sowjetunion national definiert und von den meisten assimilierten jüdisch-stämmigen Sowjetbürgern eben so verinnerlicht, erfassten diese erst im Laufe ihrer Integration in die hiesigen Gemeinden, dass jüdische Identität neben dem Studium der Schriften auf der Einhaltung identitätsstiftender religiöser Traditionen und Normen fußt, die eingeübt werden müssen. Der Wunsch, die Kinder fest in der russischen Sprache und Kultur zu verankern, verlor dementsprechend an Intensität32, wenn auch das Bemühen um die Weitergabe der russischen Herkunftskultur besonders bedeutsam und die transnationale Ausprägung bei dieser besonderen russisch-jüdischen Community belegt ist.33

Erste Phase: Auf der Suche nach Freiheit Die erste Phase der sowjetisch-jüdischen Migration wurde vielfach beschrieben.34 In Zeiten der existenziellen Ungewissheit packten vorwiegend russische Position, die sie stattdessen hierzulande erfahren, trifft sie unvorbereitet und führt zuweilen zu Lethargie oder psychosomatischen Erkrankungen.“ Gorelik, Integration (wie. Anm. 4). 30 Vgl. Ben-Rafael, Sternberg, Glöckner, Juden (wie Anm. 4), S. 48 f. 31 Ben-Rafael, Sternberg, Glöckner, Juden (wie Anm. 4), S. 80 ff. 32 Ben-Rafael, Sternberg, Glöckner, Juden (wie Anm. 4), S. 62. 33 Ben-Rafael und seine Mitautoren verweisen darauf, „dass viele russisch-jüdische Emigranten – egal ob in Amerika, Israel oder Europa – einen starken Bezug zu Herkunftsland,kultur und –sprache behalten.“ Sie sprechen von einer „doppelten Form transnationaler Diaspora“ bei den russischsprachigen Juden in Deutschland „mit Israel und mit den GUS-Staaten als ähnlich bedeutsamen Heimatbezügen“. Ben-Rafael, Sternberg, Glöckner, Juden (wie Anm. 4), S. S.22, vgl. auch S. 12, 80 ff. u. 96. In der Ausstellung „Ausgerechnet Deutschland“ wird eine Migrantin namens Julia Giwerzew zitiert: „Ich wünsche mir, dass meine Kinder sich in diesem Land zu Hause fühlen und gleichzeitig ihre russischen und jüdischen Wurzeln bewahren.“ www.juedischesmuseum.de/257.html (15.02.2018). 34 Zusätzlich zu den in Anm. 4 genannten Arbeiten auch Brinkmann, Tobias: Von Durchwanderern zu Einwanderern? Juden aus Russland in Deutschland. In: Ausgerechnet Deutschland!

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und ukrainische akademisch gebildete Juden die Gelegenheit beim Schopf und verließen ihre Heimatländer um auf verschiedenen Wegen – rechtlich gesichert wie auch ungesichert – nach Deutschland zu reisen, mit der festen Absicht, dort zu bleiben, so auch nach Frankfurt am Main. So sah sich die Schule einer wachsenden Gruppe hoch gebildeter Akademiker gegenüber, überwiegend urbaner Herkunft, integrationswillig, geistig unabhängig, kulturell interessiert und aktiv, mutig und leistungsorientiert, die klaglos ihre Unterbringung in billigen Hotels im Rotlichtviertel Frankfurts hinnahmen, ihre Hoffnungen auf wirtschaftliche Integration bald aufschieben, wenn nicht begraben mussten, die das nun ermöglichte selbstbewusste Bekenntnis jüdisch zu sein aber genossen. Sie vertrauten der I.E. Lichtigfeld-Schule ihre Kinder an, auf die sich ihre Zukunftshoffnungen nun gründeten und erwarteten von ihr mit großer Selbstverständlichkeit die beste schulische Bildung, dass die Kinder zu Bestleistungen motiviert und zu gymnasialer Reife hingeführt würden, damit sie in der Folge eine akademischer Ausbildung35 absolvieren und eine erfolgreiche wirtschaftliche, bzw. künstlerische Karriere erreichen mögen – dies zusätzlich zum Erwerb jüdischen Wissens, von dem die gesamte Familie profitieren sollte. Schabbatfeiern mit Eltern, Kindern und Lehrkräften in der Klassengemeinschaft, von den Kindern im Religionsunterricht vorbereitet und am Freitagabend durchgeführt, erwiesen sich als geeigneter Einstieg in jüdische Lebensweise und Brauchtum und wurden gern angenommen. Hier spielte allerdings auch eine Rolle, dass die I.E. Lichtigfeld-Schule als staatlich anerkannte Privatschule eine Wahl-Schule ist. Eltern, die keinen Wert auf religiöse Bildung legten oder dies sogar ablehnten, schickten ihre Kinder nicht auf diese Schule. Die Schule sah sich mit zwei kompensatorisch arbeitenden Stufen zu Beginn und zum Ende der Schulzeit hervorragend vorbereitet und betrachtete den Zuwachs in der Schülerschaft als neue Herausforderung. Allerdings mussten sich Schulleitung und Lehrerschaft bald eingestehen, dass es außer den Deutschkenntnissen nichts zu kompensieren gab und Leistungsfähigkeit und – wille der Schülerschaft sogar dazu zwang, über neue Formen der Unterrichtsorganisation und Ergänzungen des Fächerkanons nachzudenken. Diese Kinder zeichneten sich durch große Neugierde und enorme Belastbarkeit aus. Obgleich die Schule in Frankfurt als besonders fördernd und leistungsJüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Hrsg. von Dimitrij Belkin u. Raphael Gross. Berlin 2010. S. 36–37; Haug, Schamani, Jüdische Zuwanderer (wie Anm. 15). 35 „Wenn man jüdisch ist, muss man eine gute Ausbildung bekommen. Also muss man ins Gymnasium und dann zur Uni kommen.“; „Man muss ausgewandet sein, damit man versteht, was das heißt“ Mendel, Meron: Migration aus der Perspektive junger russischer Juden in Deutschland. In: Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Hrsg. von Dimitrij Belkin u. Raphael Gross. Berlin 2010. S. 116.

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bezogen galt, hatten einige der neuen Schülerinnen und Schüler, gemessen an den Standards der hessischen Lehrpläne36, einen Wissensvorsprung vor den im deutschen Schulsystem groß gewordenen. Sie konnten selbstständig denken37 und sich Informationen besorgen und waren darüber hinaus vielfach noch außerschulisch kulturell aktiv in Literatur-, Musik- und Puppenspielzirkeln. Die Familien besuchten gemeinsam Gastspiele russischer Musiker und Balletts und unterrichteten ihre Kinder selbst in Russisch. Mangelnde Deutschkenntnisse sollten die Neuankömmlinge am Weiterschreiten auf ihrem Schulweg nicht hindern. Deshalb bewilligte die jüdische Gemeinde zu Frankfurt am Main zusätzlich zu der schon vorhandenen Förderlehrerin sofort die Anstellung einer Deutschlehrerin, einer Germanistin aus Lettland, die Deutsch und Russisch beides in der Hochsprache fehlerfrei beherrschte und als Teil der Migrantengemeinschaft Vertrauensperson und Mittlerin zwischen beiden Welten sein konnte. Auch die bestehende Schülerschaft profitierte von dem erweiterten Lernangebot. Dazu gehörten zu Beginn offene Unterrichtsformen und Enrichment38 wie z.B. Wochenplan, Puppentheater in jeder GS-Klasse, Experimentierecken, Klassenbücherei, verstärkte Literaturerziehung mit dem Buch und Gedicht des Monats und von der Schule selbst erstellte, auf die Unterrichtsinhalte bezogene semi-freiwillige Ferien-Lernhefte39. Der Sprachunterricht wurde ab Klasse 2 in Kleingruppen erteilt, die Eingangsstufenkinder lernten Deutsch in der Regel im sehr kommunikativ gestalteten, methodisch besonderen Eingangsstufenunterricht. Jedes Kind wurde vom ersten Tag an seiner Klasse zugeteilt, in der sich immer Paten fanden. Als Regel galt: so viel Unterricht wie möglich in der Stammklasse, soviel wie nötig in der Kleingruppen- oder Einzelförderung. Der Deutsch-Crashkurs konzentrierte sich zunächst neben einigen Alltagsfloskeln auf mathematische Begriffe, danach auf Umweltthemen, so dass die Kinder nach 3 bis 5 Wochen am Mathematikunterricht und nach drei bis vier Monaten am Sachunterricht im Klassenverband teilnehmen konnten. In der Regel war nach neun bis zwölf Monaten die völlige Integration in den Klassenverband möglich, eine ungewöhnlich kurze Zeitspanne. 36 Seinerzeit galten noch Rahmenrichtlinien und Lehrpläne. Kompetenz-orientierte Ziele wurden erst in Folge der PISA-Studien ab dem Jahr 2000 entwickelt. 37 Diese Kinder entstammten der urbanen russischen (jüdischen) Intelligenzija, die in manchen Städten exzellente Schulen und außerschulische Fördermöglichkeiten für ihre Kinder hatte, wie es verschiedene Eltern z.B. für St. Petersburg berichteten. 38 Fachbegriff für offene zusätzliche Lern-, bzw. Kursangebote zum Zweck der (Hoch-) Begabtenförderung in der Regelklasse/-schule. 39 Damit setzte sich die Schule über das in Hessen geltende Verbot von Ferien-Aufgaben hinweg.

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Dies ist neben der hohen Motivation der Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Familien, der außergewöhnlichen DaZ-Lehrerin40 im Zusammenspiel mit der positiv eingestellten, offenen Lehrerschaft, kleinen Klassenfrequenzen und einem behütenden Umfeld durch die Einbindung in das Gemeindezentrum zu verdanken. Um vereinzelten, von der Migration traumatisierten oder gesundheitlich belasteten Kindern, die z.T. aus der Umgebung von Tschernobyl kamen, die erforderliche Hilfe zukommen zu lassen, vernetzten sich die Lehrkräfte der Schule mit der Sozialabteilung der Gemeinde und dem therapeutisch ausgerichteten Hort der jüdischen Erziehungsberatungsstelle und nahmen an gemeinsamen monatlichen Supervisionen teil. Es dauerte nicht lange, bis auch die Kinderklinik des Universitätskrankenhauses mit im Boot war und die betroffenen Kinder medizinisch betreut wurden. Keines von ihnen wurde aufgegeben, Lücken durch längere Fehlzeiten mit der Förderlehrerin aufgearbeitet und jedes einzelne so weit gefördert, dass es nach der Grundschule, bzw. Förderstufe auf ein Gymnasium empfohlen werden konnte. Hilfreich war, dass sich im selben Gebäude des Gemeindezentrums der Seniorenclub befand, in dem die Großeltern ihren Aktivitäten nachgingen und in der Pause auf ihre Enkelkinder trafen, vor allem aber, dass im Jugendzentrum sehr schnell kulturspezifische Kurse angeboten wurden: Akrobatik, Tanz, Malen, Klavierunterricht, etc., erteilt von russischsprachigen Trainerinnen und Trainern. Diese vertrauten Nachmittagsaktivitäten schufen ein Gefühl, in seiner Besonderheit ernst genommen und wertgeschätzt zu werden – auch für die erwachsenen Trainer. Dieses Angebot war auch für die Schülerinnen und Schüler der zuvor schon bestehenden Gemeinde reizvoll. Nicht zuletzt konnte der Sportverein Makkabi endlich seine Fußballmannschaften vergrößern und Schach in sein Angebot aufnehmen.41 Die erste Einsicht für die I.E. Lichtigfeld-Schule hieß also: Schule allein kann die gesellschaftliche Integration von Kindern aus Migrantenfamilien zwar nachhaltig fördern, muss sich aber mit außerschulischen Partnern vernetzen, wenn diese Integration in möglichst vielen Lebensbereichen gelingen soll. Um Schulerfolg und Integration auch über die Grundschulzeit hinaus zu ermöglichen, sorgte das Staatliche Schulamt dafür, dass eines der Frankfurter

40 DaZ: Deutsch als Zweitsprache. 41 Nicht beschrieben werden kann hier die außergewöhnlichen Angebote der jüdischen Wohlfahrtsorganisation (ZWSt), die u.a. mit ihren Ferien- und Familienfreizeiten enorme integrative und auch kompensatorische Arbeit leistete und bis heute in engem Kontakt mit Schule und Jugendzentrum steht.

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Gymnasien Russisch und Polnisch als zweite Fremdsprache anbot.42 Seiteneinsteiger konnten so, wenn sie ausreichend Deutsch sprachen und Englisch in Klasse 5 und 6 gelernt hatten, ihre Muttersprache als zweite „Fremdsprache“ wählen. Der Weg zum Abitur stand ihnen so offen. Die zweite Einsicht, die die I.E. Lichtigfeld-Schule erfuhr, hieß: Nur der unvoreingenommene, nicht wertende Blick auf die Ankommenden ermöglicht, das Bildungsangebot so zu strukturieren, dass es möglichst passgenau die im Schulsystem und für das Schulprofil erforderlichen Kenntnisse und Kompetenzen vermittelt. Die Neu-Mitglieder verfügten bis auf wenige Ausnahmen kaum über jüdisches Wissen, und/oder Kenntnisse zu Ritus, Gedenkkultur und Normen. Die Unkenntnis dessen, wer als jüdisch gilt und wer nicht, brachte so manche Überraschung mit sich.43 Ohne Hintergedanken wurde den Kindern Wurstbrot44 für die Pause mitgegeben und den Gedenktagen anlässlich der Shoa begegneten viele Eltern mit Verwunderung und recht verhalten.45 Dies trug dazu bei, dass nach den ersten zwei Jahren das Schulprofil als jüdische Schule geschärft wurde: Jüdische Inhalte, wie Ethik, Gebote, Festtagskreis etc., wurden in die profanen Fächer implementiert, um so die Verbindung zu allgemeinen Wissensinhalten und damit zur Lebenswirklichkeit zu schaffen.46 Ein Festtags-Jahreskreis wurde im Schulprofil festgeschrieben um Traditionen auch durch gelebtes Leben weiter zu geben.

42 Es handelte sich um die Elisabethen-Schule zu Frankfurt am Main. Das Angebot lohnte sich, weil in den 1980er/1990er Jahren auch viele Russlanddeutsche nach Frankfurt am Main kamen. 43 Nach jüdischem Recht ist derjenige Jude, der von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder dem Judentum beigetreten ist. In der UdSSR richtete sich die Nationalität nach dem Vater. So waren viele dort im Pass mit dem Stempel „Jude“ gekennzeichnet und trugen einen typisch jüdischen Vaternamen wie Silberstein, Rubin und Katz, hatten aber eine christliche Mutter und waren nach jüdischem Religionsrecht nicht als Juden anerkannt. 44 Die Kaschrut verbietet den gemeinsamen Genuss von fleischigen und milchigen Speisen. Zudem muss jedes Fleischprodukt unter besonderen Bedingungen hergestellt werden und ist so einfach in Supermärkten nicht erhältlich, weshalb an der I.E. Lichtigfeld-Schule nur Milchprodukte mitgenommen werden dürfen. 45 Jegliche Publikation über die Judenvernichtung in Russland oder Gedenkveranstaltungen dazu waren von den Zensurbehörden der Sowjetunion verboten worden. Dafür förderten nationale Siegesfeiern den Stolz auf die siegreiche UdSSR, die unbestrittene Opferbereitschaft ihrer Menschen und die „Große Vaterländische Armee“. 46 Beispiel: Standardthema 2. Klasse der Rahmenpläne war Gesunde Ernährung. Dieser Unterricht wurde um das Wissen über Kaschrut erweitert. In den Literaturkanon wurden jüdische Schriftsteller aufgenommen und Autorenprofile erstellt.

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Die dritte Einsicht hieß: Nur wenn die Schule wichtige Bedürfnisse der Ankommenden aufgreift und bereit ist, selbst strukturelle Veränderungen und experimentelle Wege zu wagen, kann Identifikation entstehen. Nachdem die Bedeutsamkeit der russischen Kultur und der Elternwunsch nach erweiterter Sprachkompetenz verstärkt bewusst geworden war, wurde ein erweitertes freiwilliges AG-Angebot am Nachmittag für alle Schülerinnen und Schüler ab Klasse 2 angeboten, eine Maßnahme, die in den 1990er Jahren weit über das übliche Grundschulangebot hinaus ging. Die Förderung besonderer Begabungen oder gar der Begriff Hochbegabtenförderung wurde seinerzeit in Deutschland äußerst kontrovers diskutiert.47 Das Nachmittagsangebot umfasste Sprach-AGs in Russisch, Englisch oder Französisch und Begabtenkurse zu Medien, Naturwissenschaften, Mathematik, Schreibwerkstätten und Schach. Nur unvollständig erfasst wurde damals, dass mit dem Bewahren der russischen Sprache und Kultur auch ein ganz eigenes Selbstbewusstsein einherging. Es sollten noch Jahre vergehen, bis man begriff, warum viele der aus der ehm. UdSSR und ihren Nachfolgestaaten stammenden Juden den in Deutschland üblichen Traditionen des Gedenkens an die Schoa so unerklärlich fremd gegenüber standen. Im Interview beschrieb Dalia Wissgott-Moneta im Jahr 2005 den „wirklichen Schock“ für die aufnehmenden Gemeindemitglieder so: „Wie kommt das? Es ist ja nicht so, dass die Wehrmacht dort nicht einmarschiert ist, […] dass sie nicht gelitten haben. Es ist ja nicht so, dass sie den Holocaust nicht erlebt haben. Wie kommt das, dass man so geprägt ist, von dieser Sieger- und Veteranen-Mentalität?“.48 Die Juden der Sowjetunion hatten ihre Väter und Großväter, so, wie andere Sowjetvölker auch, im „Großen Vaterländischen Krieg“ verloren und feierten mit Hingabe den 9. Mai als Tag der Befreiung, an dem sie selbstbewusst Teil hatten. Das niederschmetternde Wissen um die Shoa war in der Sowjetunion unterdrückt worden, Gedenktage hatte es nicht gegeben. So gingen hiesige Gedenktage wie der 9. November an vielen dieser Familien vorbei, während sie die Feiern zum 9. Mai stark vermissten.49 Das Gedenken aber war gerade die Tradition der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main, deren Gründer in der Nachkriegszeit die geschundenen Übriggebliebenen 47 Vgl. Stölzel, Georg; Wengeler, Martin: Kontoverse Begriffe – Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1995. S. 205. „Kritik insofern, als der Ausdruck Hochbegabte in der öffentlichen Diskussion zur Konfliktvokabel wurde und nicht mehr durchgängig zum positiven Aushängschild taugte. Wie der Ausdruck Elite wurde (Hoch-)Begabung in seiner Verwendung zumindest von einem stark ausgeprägten Problembewusstsein begleitet.“ 48 Vgl. Wissgott-Moneta, Filmbeitrag (wie Anm. 3). 49 Dan Diner spricht von der „ikonischen Bedeutung“ dieses Datums. Diner, Paradoxie (wie Anm. 2), S. 19f.

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aus den DP-Camps waren. Gefangen in der eigenen Geschichte gelang es beiden Seiten damals noch nicht, sich darüber auszutauschen, was zu einem problemlosen und gemeinsam zu beschreitenden Weg des Interessenausgleichs hätte führen können, wie er viele Jahre später problemlos erreicht wurde.

Zweite Phase: Auf der Suche nach Sicherheit und Wohlstand Anders als die Migranten der ersten Welle hatten die später Kommenden nicht im selben Maße mit existenzieller Unsicherheit zu kämpfen. Mitte der neunziger Jahre funktionierte nicht nur das Aufnahmeverfahren nach dem Kontingentflüchtlingsgesetz, die innenpolitische Lage in den Ländern der Ex-Sowjetunion hatte sich auch entscheidend verändert. In einem Runderlass an die deutschen Botschaften in den GUS-Staaten vom 19.12.1995 schrieb das Auswärtige Amt: „Nach dem Zerfall der Sowjetunion sind viele der ursprünglichen Gründe für eine Aufnahme weggefallen. Bis auf Einzelfälle […] werden Juden auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR nicht verfolgt“.50 Allerdings wurde hier vernachlässigt, dass „besonders die russischen nationalistischen Bewegungen sowohl religiöser als auch säkularer Färbung […] antijüdische Ansichten vertraten“.51 Die Motivation zur Flucht hatte sich gewandelt. Viele beantragten die Auswanderung, ließen sich aber Zeit um zu überlegen, ob sie ihre Heimat tatsächlich verlassen sollten. Der mit der Liberalisierung der russischen Gesellschaft einhergehende wirtschaftliche Niedergang verbunden mit den Lockungen des deutschen Sozialsystems bei legaler Einwanderung bewirkte, dass sich nun auch andere gesellschaftliche Gruppen auf den Weg nach Deutschland machten.52 Sie kannten ihre Rechte und forderten diese häufiger ein. Gleichzeitig war bei diesen Gruppen nicht mehr das hohe Maß an intensiver elterlicher Förderung anzutreffen, wiewohl es dies in Einzelfällen noch immer gab. Wohl äußerten die Eltern die gleichen Ziele: die Schule sollte den Kindern beste Leistungen ermöglichen, sie umfassend fördern und sämtlich befähigen, das Gymnasium zu besuchen um zu Abitur und Studium geführt zu werden. Allerdings gab es deutlich weniger Eigeninitiative bei den Eltern bezüglich der 50 Zitiert in: So leise wie möglich, (wie Anm. 13), S. 23. 51 Friedgut, Theodore H.: Warum sie gingen: Gründe für die jüdische Emigration aus der Sowjetunion 1973–2000. In: Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Hrsg. von Dimitrij Belkin u. Raphael Gross. Berlin 2010. S. 40; Kessler, Judith: Jüdische Migration aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990. www.berlin-judentum. de/gemeinde/migration-1.htm (02.04.2018). 52 Belkin, Dimitrij: Germanija – Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde. Frankfurt am Main 2016. S. 22, 192.

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Weitergabe der russischen Kultur und weniger Interesse an jüdischer Erziehung. Auch die Gruppe der Kinder unterschied sich von denen der ersten Migrationsphase. Sie war insgesamt weniger leistungsstark und seltener von außerschulischen kulturellen Interessen geleitet. Der Wunsch gute Leistungen zu erbringen bestand allgemein, oft auch aufgrund des elterlichen Anspruchs, nicht selten verbunden mit Versagensangst und Angst vor Strafe schon bei befriedigenden Ergebnissen.53 Vollkommen unerwartet wurde die Schule mit Erziehungsstilen konfrontiert, die dem Anspruch der I.E. Lichtigfeld-Schule zuwider liefen: In fast jeder Grundschulklasse berichteten einzelne Kinder dieser Gruppe, geschlagen zu werden, wenn sie keine exzellenten Noten nach Hause brachten oder nicht gehorchten. Das Selbstbewusstsein, mit dem ein Teil der betreffenden Eltern auf dem Recht zu dieser Erziehungsmaßnahme beharrte, machte der Schulleitung und der Lehrerschaft ihre nur begrenzte Einflussmöglichkeit deutlich. So wurde der I.E. Lichtigfeld-Schule eine weitere – die vierte – Einsicht vermittelt: Gegen mitgebrachte, verfestigte gesellschaftliche Normen, die ein allgemein anerkanntes Gerüst für das Funktionieren in der Familie bieten, können wohlgemeinte Argumente Außenstehender – und seien sie noch so rational – wenig bewirken. Viele Eltern erlebten die in Deutschland üblichen Erziehungsstile als permissiv und schädlich für die Entwicklung ihrer Kinder. In der Folge erkannte die Schule die Notwendigkeit zu weiteren strukturellen Änderungen bzw. Erweiterungen in den Bereichen Lernförderung, Verhaltensstabilisierung, Betreuung und im Fall einer Behinderung der professionellen Hilfe durch das staatliche Unterstützungssystem, damit so viele Probleme wie möglich in der Schule gelöst und krisenhafte Situationen in den Elternhäusern vermieden werden. Die Unterstützung beim Lernen der deutschen Sprache im DaZ-Unterricht wurde erweitert und bei Bedarf auf die gesamte Grundschul- und Förderstufenzeit ausgedehnt, um den Kindern die Angst vorm Versagen zu nehmen und sie in ihrer Sprachsicherheit zu stabilisieren. Um die Familien zu entlasten,54 wurde bei Teilleistungsstörungen55 regelmäßig die Expertise der mit der Schule ver53 Diese Kinder hatten überwiegend im heimatlichen Umfeld nicht dieselbe Förderung genossen, wie die der ersten Gruppe und brachten nicht das gleiche Vorwissen und die gleichen Lernkompetenzen mit. Gleichwohl waren sie auf Erfolg und gute Noten fokussiert. 54 Dabei wurde die Erfahrung gemacht, dass über Lernstörungen, bzw. -behinderungen mit Eltern aus der ehemaligen Sowjetunion schwer zu sprechen ist, da dies von vielen als Schande erlebt und kaschiert wird, so gut es geht. 55 Solche sind: Lese-Rechtschreibschwäche (LRS), Legasthenie, Dyskalkulie, Konzentrationsschwäche (-störung), Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS, ADHS).

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trauten Schulpsychologin eingeholt und der Förderunterricht zwischen der Klassen-, der DaZ- und der Förderlehrerin abgesprochen und ggf. aufgeteilt. Auch hier erhielten die Schülerinnen und Schüler jegliche Unterstützung, so lange sie diese brauchten. Anders als in Deutschland sozialisierten Eltern war den Eltern aus den GUS-Staaten der Gang zur Erziehungsberatungsstelle oder zum Psychologen fremd und wurde häufig abgelehnt, ärztlicher Rat hingegen eher akzeptiert. Eine Migrantin der ersten Phase war als Kinder- und Jugendpsychiaterin tätig und gewann als Ärztin zunehmend das Vertrauen betroffener Eltern. Es brauchte Zeit und Behutsamkeit, bis sie akzeptierte, dass auch die Schule um Rat und Unterstützung suchte, um zum Wohle der Kinder Handlungssicherheit zu gewinnen und sie eine vorsichtige Bereitschaft zur Kooperation im Einzelfall signalisierte.56 Der an der Schule als Förderlehrer und Schulsozialarbeiter tätige Diplompädagoge richtete spielerische Kurse zur Konzentrations- und Verhaltensstabilisierung ein. Er war Ansprechpartner insbesondere für Jungen mit Konzentrationsschwierigkeiten und hohem Aggressionspotential und stand in regem Kontakt mit den Lehrerteams der Klassen. Viele Konflikte wurden so gelöst, ohne die Eltern im Einzelfall einschalten zu müssen, was zu einer Bestrafung des Kindes geführt hätte. Ende der neunziger Jahre erhöhte sich der Anteil der berufstätigen Mütter, darunter viele Migrantinnen. Daher wurde eine Nachmittagsbetreuung dringend benötigt. Auf Drängen des Schulelternbeirats und des Kollegiums richtete die Gemeinde 1996 einen Hort im selben Gebäude im Gemeindezentrum ein. In enger Absprache zwischen Lehrkräften und Hortnerinnen und Hortnern wurden die Hausaufgaben betreut, das AG-Angebot der Schule mit den Angeboten von Hort und Jugendzentrum verzahnt und in diesem Rahmen auch therapeutisch gestaltete AGs von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der jüdischen Erziehungsberatungsstelle durchgeführt. In deren Genuss kamen jetzt auch Kinder, deren Eltern niemals selbst zur Beratungsstelle gegangen wären.57 56 Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Therapeuten/Psychiatern und Schulen ist selten, muss doch genauestens auf die Einhaltung der Schweigepflicht geachtet werden. Wollen Lehrkräfte jedoch angemessen auf abweichendes Lern- und/oder Sozialverhalten von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund reagieren, müssen sie Kenntnis von deren Sozialisationsbedingungen und Normen haben. Das ist ohne Unterstützung authentischer Berater kaum möglich und verlangt Offenheit von allen Seiten. 57 Den Eltern wurde die Zielrichtung der therapeutischen AGs offengelegt, sie mussten ihr Einverständnis geben. Da sich das Ganze aber im Rahmen der Hortbetreuung abspielte, sank die Hemmschwelle und nur vereinzelt lehnten Eltern dieses Angebot als Einmischung in ihre Privatangelegenheiten ab.

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In dieser Zeit knüpfte der Hort auch die ersten Verbindungen zu Jugendämtern, von denen bald auch die Schule profitierte und wodurch im Bedarfsfalle einigen Familien große Hilfe zukam, finanziell und personell.58 Galt es in den neunziger Jahren noch als Verletzung des Datenschutzes, wenn sich die Schule an ein Jugendamt wandte59 so nahm das Sozialgesetzbuch 2012 den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung60 auf und das Hessische Schulgesetz aus demselben Jahr61 verpflichtete Schulen zur Zusammenarbeit mit Jugendämtern. Das eröffnete die Möglichkeit zu kollegialer Zusammenarbeit, im Bewusstsein, dass die Familien nicht gestraft, sondern dass Anti-Aggressionskurse und Familienhilfe vermittelt wurden. Die umfassende Unterstützung unterschiedlicher Förderschulen in Frankfurt ermöglichte es, Kinder mit Behinderungen inklusiv an der I.E. LichtigfeldSchule zu unterrichten. Besonders eng entwickelte sich die Zusammenarbeit mit der Schule für Kranke an der Universitätsklinik, die neben den körperlich kranken auch die Kinder in der Tagesambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie betreute, was verschiedentlich vorkam. Hier gab es zudem große Unterstützung in der Elternberatung.

Dritte Phase: Ringen um das russische Erbe Mit Geltung des Aufenthaltsgesetzes seit 2005 versiegte der Zuzug jüdischer Familien aus GUS-Staaten weitgehend. Die Generation derer, die in den neunziger Jahren als Halbwüchsige mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen waren, hier erfolgreich Schule und Studium absolviert und beruflich reüssiert hatten, bildeten nun die Generation der jungen Eltern, deren Kinder in die I.E. Lichtigfeld-Schule eingeschult wurden. Wie ihre Eltern damals auch, wünschten sie für ihre Kinder eine Beheimatung in beiden Kulturen, schulischen Erfolg mit Bestleistungen, dabei außerschulische kulturelle Aktivitäten, wie sie selbst sie auch genossen hatten. Viele dieser Eltern verkehrten privat überwiegend bis ausschließlich mit gleichaltrigen Freunden aus der eigenen russisch-jüdischen Community, sprachen daheim bewusst Russisch und ließen ihre Kinder nur mit den Kindern

58 Finanzierung von Ferienfreizeiten und Klassenfahrten oder Erziehungs- und Familienhilfe zuhause, später auch Nachhilfeunterricht und Sprachkurse (HIPPY). 59 Ein Hilfeersuchen bei schwerer Vernachlässigung eines Kindes wurde noch Ende der 1990er Jahre mit diesem Argument zornig abgelehnt. 60 SGBVIII, Kinder- und Jugendhilfe, neugefasst durch B. v. 11.09.2012 BGBl§ 8a. 61 HSchG§ 3 (10)

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der Freunde verkehren.62 Statt die Wochenenden mit Kommunikation fördernden Familienaktivitäten zu gestalten, brachten viele ihre Kinder ab dem 4. Lebensjahr am Wochenende zur russischen Schule, wo diese neben vielerlei Hobbys wie Akrobatik, Tanz und Klavier, häufig auch Russisch lesen und schreiben und oft auch Mathematik lernten. Noch schwieriger wurde es für viele Kinder, wenn eine dritte Sprache in der Familie gesprochen wurde z.B. Ukrainisch von der betreuenden Großmutter oder das beim Studium im Ausland erlernte Englisch durch die Mutter. Die Eltern wünschten, ihre Kinder mehrsprachig groß werden zu lassen, um deren Zukunftschancen zu optimieren. Die Folge aber war, dass überproportional viele Kinder bei ihrer Einschulung zwar mehrsprachig waren, aber in keiner dieser Sprachen über eine gesicherte Syntax oder einen gefestigten Grundwortschatz verfügten. Sie verstanden bei ihrer Einschulung in die I.E. Lichtigfeld-Schule oft nicht, was sie dort sollten, denn ihrer Auffassung nach gingen sie ja schon längst zur Schule, nämlich zur russischen Wochenend-Schule. Dies wirkte sich nachhaltig negativ auf ihre Motivation aus. Waren sie auch hervorragend gefördert, so konnten sie doch ihr Wissen oft nicht äußern, da die Deutschkenntnisse fehlten und die Verhaltensmuster für die Sozialisationsinstanz „Schule in Deutschland“ unvertraut waren. Verunsicherung und Widerständigkeit bis zum Leistungsversagen waren keine seltene Folge. Knapp die Hälfte der Eingangsstufenschülerinnen und -schüler bedurften seinerzeit besonderer Förderung, ca. ein Drittel der Sprachförderung. Wieder mussten neue Wege beschritten werden: Die Jüdische Gemeinde stellte eine Sprechwissenschaftlerin ein, die umfassend die Sprachfähigkeit aller Kinder schon im letzten Kindergartenjahr überprüfte mit dem sogenannten KISS63, noch vor der Einschulung bei Bedarf Förderpläne erstellte und ggf. Sprachheiltherapie vermittelte, die Erzieherinnen und Erzieher64 nach dem Programm von Zvi Penner65 ausbildete, die Eltern beriet und in der Eingangsstufe 62 Vgl. Ben-Rafael, Sternberg, Glöckner, Juden (wie Anm. 4), S. 57. 63 KISS: Kindersprachscreening für 4 bis 4½-jährige Kinder mit Deutsch als Muttersprache oder als Zweitsprache, ein systematisches Verfahren zur Überprüfung der sprachlichen Fähigkeiten und des Kommunikationsverhaltens. 64 Die Jüdische Gemeinde zu Frankfurt am Main als Arbeitgeber wies umgehend an, dass in den Kindergärten nur noch Deutsch gesprochen werden dürfe und verpflichtete alle Kindergärtnerinnen mit einer anderen Muttersprache als Deutsch zur Teilnahme an Deutsch-Aufbaukursen. 65 Zvi Penner hat an der Universität Konstanz im „KONstanzer – LABor“ ein innovatives Programm für die Weiterqualifizierung von Fachpersonen im Bereich der Sprachdiagnose und -förderung entwickelt (Kon-Lab). Es eignet sich für die Therapie von Kindern mit Störungen in der Sprachentwicklung ab dem 3. Lebensjahr und für Kinder, die Deutsch als Zweitsprache erwerben. Weitere Informationen unter www.kon-lab.com.

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der Schule die betreffenden Kinder selbst betreute, mitunter unter Einschaltung der Sprachheilschule. Dabei baute sie die Vernetzung mit letzterer und dem schulpsychologischen Dienst zu institutionell verankerten Beratungsterminen aus, der letzte Schritt zur umfassenden Vernetzung der Schule (s. Abb. 2). Nach rund fünf Jahren intensiver wissenschaftlich begleiteter Sprechförderung beruhigte sich die Situation. Die junge Elternschaft gewann zunehmend Einsicht in den schmerzlichen Umstand, dass mit dem Aufwachsen in Deutschland für die Generation ihrer Kinder eine authentische Verankerung in der russischen Kultur Stück um Stück verloren geht und konzentrierten sich auf den schulischen Erfolg ihrer Kinder im deutschen Schulsystem.

Integration? – Integration! Mit dieser jungen Elterngeneration schwanden die Unterschiede zwischen jenen, die der alten Gemeinde entstammen und denen, die aus Familien mit GUSMigrationshintergrund kommen, zusehends. Gleichermaßen genießen sie die Vorteile eines pluralen hessischen Schulsystems mit vielen unterschiedlichen Bildungswegen. Fast alle schätzen bilinguale Angebote, weshalb die I.E. Lichtigfeld-Schule inzwischen Englisch als erste Frühfremdsprache anbietet und Iwrit66 zwar noch als religiöses Additum verpflichtend, aber nicht – wie früher – als offizielle Frühfremdsprache gelehrt wird. Gleichermaßen wählen viele für die Sekundarbildung ihrer Kinder eine der internationalen Schulen, wobei die Eltern diese Entscheidungen unabhängig davon treffen, ob ihre Großeltern diese Gemeinde nach der Schoa in Frankfurt aufbauten oder damals noch in der UdSSR lebten. Unabhängig davon besteht in beiden Gruppen ein hohes Maß an Identifikation mit der I.E. Lichtigfeld-Schule als jüdische Schule. Gingen sie früher im privaten Leben und der Wahl der Freunde noch getrennte Wege, verwischen die Unterschiede inzwischen zunehmend, auch bei der Partnerwahl. Zuletzt entstand mit Jewish Experience, gegründet von an der jüdischen Religion interessierten jungen Frauen aus überwiegend säkularen Familien aus der Gruppe der Migrantinnen und Migranten, eine ganz eigene Gruppe religiös und meist auch akademisch sehr gebildeter, traditioneller und überwiegend orthodox lebender, gleichwohl moderner junger Menschen, die inzwischen 66 Neuhebräisch ist die lingua franca aller Juden und an allen jüdischen Schulen weltweit verpflichtende Fremdsprache. Sie bietet eine gute Basis auch zum Verständnis des Althebräischen und ermöglicht zugleich die Kommunikation zwischen Juden untereinander, unabhängig von ihrer Nationalität.

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integraler Bestandteil der Gemeinde und auch für die Enkel der Gründungsmitglieder interessant sind. Dabei beteiligen sie auch die Gemeinderabbiner an ihren Studien-Events.67 Im Schuljahr 2015/2016 wurden in der Schulstatistik, die 1996/1997 über 30 % der Schülerschaft als aus der UdSSR und ihren Nachfolgestaaten kommend ausgewiesen hatte, nur noch 5,5 % der Schülerinnen und Schüler mit dieser Herkunft registriert. Viele Kinder aus der Gruppe der früheren Migranteninnen und Migranten erkennt man allenfalls an ihren Namen. Insgesamt ist mit Blick auf den Integrationsprozess und die Formung neuen kulturellen und sozialen Wissens festzuhalten, dass der spannende, wenn auch mühevolle Weg der Frankfurter I.E. Lichtigfeld-Schule gerade auch deshalb gelungen ist, weil diese bereit war, sich immer wieder neu zu vernetzen und auch zu verändern.68 Tab. 1: Auszug aus der Schulstatistik Schuljahr

SuS deutsch

SuS aus der ehem. UdSSR

SuS aus Israel

1992/93 1993/94 1994/95 1995/96 1996/97 1997/98 1998/99 1999/2000 2000/01 2001/02 2002/03 2003/04 2004/05 2005/06 2006/07 2007/08 2008/09

60 % 60 % 64,4 % 52 % 53 % 52,1 % 54 % 54,6 % 57,9 % 60,3 % 61,4% 64,3 % 65,4 % 72,2 % 73 % 73,6 % 75,2 %

20 % 20,2 % 25,6 % 31 % 30,4 % 30,4 % 29,6 % 27 % 24,4 % 21,7 % 20 % 19,3 % 18,4 % 16,3 % 16,0 % 16,2 % 14,8 %

20 % 19,8 % 1,3% 8% 8,1 % 8,6 % 7,4 % 8,6 % 9,6 % 8,3 % 9,5 % 9,2 % 9,2 % 6,2 % 5,7 % 5% 5,1 %

SuS aus anderen Ländern

8,7 % 9% 8,5 % 8,9 % 9% 9,8 % 8,1 % 9,7 % 9,1 % 7,2 % 7% 5,3 % 5,3 % 5,2 % 4,9 %

67 Als Einheitsgemeinde versteht sich die jüdische Gemeinde zu Frankfurt am Main als Dachorganisation für alle in der Gemeinde vertretenen Denominationen. 68 Vgl. Kiesel, Doron: Von der Ausländerpolitik zur interkulturellen Erziehung. In: SchulVerwaltung spezial 3 (2003). S. 9. „Es gehe in einer Pädagogik, die auf der Differenz-Hypothese beruht, nicht mehr darum, die Leistungen der ausländischen Kinder den in Deutschland üblichen schulischen Standards anzupassen, sondern einen pädagogischen, didaktischen und institutionellen Perspektivwechsel zu initiieren, der den Bildungseinrichtungen die Möglichkeit eröffnet, ihre ausländische Klientel unter Akzeptanz ihrer Differenz zu integrieren.“

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2009/10 2010/11 2011/12 2012/13 2013/14 2014/15 2015/16

79,6 % 77,2 % 80 % 81,4 % 81,7 % 84,5 % 87 %

20,3 % 12,6 % 10 % 9,7 % 7,2 % 7,2 % 5,5 %

5,2 % 4,3 % 4,9 % 2,7 % 3,4 % 3,1 %

5% 5,7 % 4% 8,4 % 4,9 % 4,4 %

Abb. 1: Vernetzung der Schule

Literatur Belkin, Dimitrij: Germanija – Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde. Frankfurt am Main 2016. Breuer, Mordechai: Die deutsche Orthodoxie zwischen Westen und Osten. In: Jüdische Selbstwahrnehmung – La prise de conscience de l’identité juive. Hrsg. von Hans Otto Horch u. Charlotte Wardi. Tübingen 1997. S. 45–54. Brinkmann, Tobias: Von Durchwanderern zu Einwanderern? Juden aus Russland in Deutschland. In: Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Hrsg. von Dimitrij Belkin u. Raphael Gross. Berlin 2010. S. 36–37. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Allgemeine Informationen.

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www.bamf.de/DE/Migration/ JuedischeZuwanderer/AktuelleInfo/aktuelleinfo-node.html (16.04.2017). Deutscher Bundestag: Drucksache 18/6485. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Renate Künast, Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Entwicklung der jüdischen Einwanderung nach Deutschland aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. http:// dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/066/1806696.pdf (05.03.2017). Diner, Dan: Deutsch-jüdisch-russische Paradoxien oder Versuch eines Kommentars aus Sicht des Historikers. In: Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Hrsg. von Dimitrij Belkin u. Raphael Gross. Berlin 2010. S. 18–20. Ben-Rafael, Eliezer, Yitzhak Sternberg u. Olaf Glöckner: Juden und jüdische Bildung in Deutschland. Oktober 2010. www.zwst.org/medialibrary/pdf/PINCUS%20STUDIE% 20DEUTSCH%20%20NOV%2016%202010.pdf (07.05.2018) Fishkoff, Sue: Deutschland, das verheissene Land. www.hagalil.com/schweiz/rundschau/inhalt/brd.htm (16.02.2017). Friedgut, Theodore H.: Warum sie gingen: Gründe für die jüdische Emigration aus der Sowjetunion 1973 – 2000. In: Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Hrsg. von Dimitrij Belkin u. Raphael Gross. Berlin 2010. S. 38–41. Gorelik, Lena: Zwischen Integration und Isolation: Russische Juden in Deutschland. In: OstWest Europäische Perspektive (OWEP) 3 (2008). www.owep.de/artikel/644/zwischen-integration-und-isolation-russische-juden-in-deutschland (02.04.18). Haug, Sonja u. Peter Schamani: Jüdische Zuwanderer in Deutschland (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Working Papers 3/2005). www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/ DE/Publikationen/WorkingPapers/wp03-juedische-zuwanderer.html (08.05.2016). Kessler, Judith: Identitätssuche und Subkultur. In: Ein neues Judentum in Deutschland. Hrsg. von Julius H. Schoeps, Willi Jasper u. Bernhard Vogt. Potsdam 1999. S. 140–162. Kessler, Judith: Jüdische Migration aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990. www.berlin-judentum.de/gemeinde/migration-1.htm (02.04.2018). Kiesel, Doron: Von der Ausländerpolitik zur interkulturellen Erziehung. In: SchulVerwaltung spezial 3 (2003). S. 7–10. Klingberg, Darjia: Suche nach dem besseren Leben. www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/23472 (04.02.201). Lustiger, Arno: Wie Stalins Judenverfolgung verheimlicht wurde. In: DIE WELT vom 10.08.2002. Mendel, Meron: Migration aus der Perspektive junger russischer Juden in Deutschland. In: Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Hrsg. von Dimitrij Belkin u. Raphael Gross. Berlin 2010. S. 115–117. Sarasin, Philipp: Was ist Wissensgeschichte. In: Internationales Archiv der Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011). S. 159–172. Stölzel, Georg; Wengeler, Martin: Kontoverse Begriffe – Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1995. Wissgott-Moneta, Dalia: BRD – Gelobtes Land. 20 Jahre danach. In: Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Hrsg. von Dimitrij Belkin u. Raphael Gross. Berlin 2010. S. 98–101.

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Evaluation jüdischen Kinderwissens Jacob Oppenheimers Befragung jüdischer Schülerinnen und Schüler in der Bundesrepublik Deutschland 1962–1963 Nicht viel ist bekannt über die Wissens- und Vorstellungswelten jüdischer Kinder in der Bundesrepublik und DDR von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart. Neben gemeindeinternen Umfragen und Initiativen aus jüdischen Organisationen ist auf dem Feld der Wissenschaft, von wenigen Ausnahmen abgesehen, noch nicht viel zur Erforschung von Wissensbeständen und -ordnungen dieser Gruppe geschehen. Dieser Umstand führt dazu, dass die wenigen Studien, die auf diesem Gebiet bisher erschienen sind, besonderes Gewicht erhalten. Die in diesem Beitrag behandelte Studie des Sozialpsychologen und jüdischen Pädagogen Jacob Oppenheimer Jüdische Jugend in Deutschland1 von 1967 zählt zu diesen Arbeiten. Bis heute wird in Abhandlungen, vorrangig der Geschichts- und Erziehungswissenschaft sowie der Religionspädagogik darauf Bezug genommen. Sie gilt als Klassiker auf ihrem Feld.2 Dabei ist insgesamt eine unreflektierte Übernahme der inzwischen bereits über 40 Jahre alten Statistiken und Deutungen Oppenheimers erkennbar. Dies überrascht besonders, da die damals gesammelten Mikrodaten der Forschung prinzipiell zugänglich sind. So ist es offenbar weitgehend unbekannt oder war für Forscherinnen und Forscher bisher nicht von Interesse, dass sich das zur Erstellung jener Studie gesammelte, mehrere Akten umfassende Rohmaterial in Form von 274 Fragebögen im Bestand zur Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (ZWST) im Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland in Heidelberg befindet.3 Dieser wissens- und migrationsgeschichtliche Beitrag besteht aus zwei Hauptteilen. Im ersten Teil wird die Oppenheimer-Studie in wissenschafts- und sozialgeschichtliche Entwicklungen eingebettet und Oppenheimer als Wissensproduzent verortet. Im zweiten Teil werden die von ihm befragten Kinder als 1 Oppenheimer, Walter W: Jacob. Jüdische Jugend in Deutschland. München 1967. 2 Vgl. Mendel, Meron: Jüdische Jugendliche in Deutschland. Eine biographisch-narrative Analyse zur Identitätsfindung. Frankfurt am Main 2010. S. 14. 3 Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, Heidelberg (ZEGJD), B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52: Sammlung von Fragebögen der Studie „Jüdische Jugend in Deutschland“ von Jacob Oppenheimer. Briefwechsel Oppenheimers mit der ZWST (Typoskripte) im Jahr 1967; 291 Fragebögen zu je 14 Seiten in acht Akten, davon 274 für die Studie verwendete Bögen. [Frankfurt am Main] 1967. https://doi.org/10.1515/9783110538076-014

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Akteurinnen und Akteure des Wissens reflektiert, die vorhandenen Mikrodaten anhand eines migrationsbezogenen Aspektes sekundäranalytisch ausgewertet und dadurch neue Erkenntnisse über die Wissens- und Vorstellungswelten jüdischer Kinder in Deutschland zu jener Zeit gewonnen. Oppenheimer hatte sogar selbst die Hoffnung auf eine wissenschaftliche Weiterverwendung seiner Mikrodaten geäußert.4 So ermöglicht der analytische Einbezug der angegebenen Geburtsländer der Kinder eine Annäherung an wahrscheinliche Migrationserfahrungen sowie eine Analyse der Relationen zwischen dem geäußerten Wissen und dem damit einhergehenden Selbstverständnis zur jeweiligen Migrationserfahrung des Kindes.

Von der Verwissenschaftlichung des Sozialen zur Genese wissenshistorischer Fragestellungen Die in diesem Beitrag behandelte Studie Oppenheimers ist eine sozialpsychologische Studie, die zu Beginn der 1960er Jahre durchgeführt wurde. Sie fand somit zu einem Zeitpunkt statt, welcher in eine dritte Phase dessen fällt, was man historisch als „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ bezeichnen kann. Der Historiker Lutz Raphael definierte dies als die „dauerhafte Präsenz humanwissenschaftlicher Experten, ihrer Argumente und Forschungsergebnisse in Verwaltungen und Betrieben, in Parteien und Parlamenten, bis hin zu den alltäglichen Sinnwelten sozialer Gruppen, Klassen oder Milieus.“5 Demnach seien die Anfänge jenes Wandels in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückzuführen, als sich allmählich Bemühungen intensiviert hätten, soziale Phänomene empirisch im Sinne einer Staatswissenschaft zu untersuchen. Die Erhebung von Sozialdaten und Erstellung von Statistiken, so Raphael, seien in dieser ersten Phase methodisch weiterentwickelt worden.6 Die zweite Phase beschreibt Raphael als „Etablierung der Wissenschaften in den Arbeits- und Handlungsfeldern der Wohlfahrtsstaaten“, für Deutschland etwa zwischen 1880 und 1930, während dessen eine „wachsende Zahl von Sozialwissenschaftlern, Psychiatern oder Medizinern“ am „Aufbau einer vielseitigen Sozialverwaltung“ beteiligt gewesen seien und „Methoden und Verfahren der neuen Humanwissenschaften“ erprobt 4 ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45: Brief Oppenheimers an Max Willner u. Bertold Scheller (ZWST). Typoskript, 1 Bl., Zürich vom 7. September 1967. 5 Vgl. Raphael, Lutz: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. In: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996) 2. S. 165–193, hier S. 166. 6 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung (wie Anm. 5), S. 171–172.

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hätten.7 So habe sich v.a. die Psychologie aufgrund eines „methodischen Vorsprungs gegenüber der Soziologie“ im Anwendungsbereich der Arbeits- und Militärpsychologie sowie der pädagogischen Diagnostik während dieser zweiten Phase etabliert und so seien u.a. auch die ersten Intelligenztests für Kinder in diesem Zusammenhang entwickelt worden. „Leistungsfähigkeit, Integrationswilligkeit“ sowie insbesondere zur NS-Zeit „Zeugungs- und Lebenswürdigkeit“ seien zu einem „zentralen Aspekt der ‚Verwissenschaftlichung‘ des Sozialen“ in dieser Phase geworden.8 Für die Entstehung der dritten Phase, in welcher neben der Behandlung von Sozialproblemen die Meinungsforschung aufgekommen sei, habe die US-amerikanische empirische Sozialforschung seit den 1930er Jahren erheblichen Anteil gehabt, so Raphael. Dies sei durch eine Weiterentwicklung statistischer Instrumente möglich gewesen, was Stichprobenerhebungen kostengünstiger und flexibler gemacht habe. Diese in den 1940er bis 1970er Jahren in den USA aufblühende empirische Sozialforschung sei schließlich in den 1950er Jahren auch in der Bundesrepublik rezipiert worden, habe jedoch „größere Breitenwirkung“ erst in den 1960er und 1970er Jahren entfalten können.9 Im Zeichen des Massenkonsums, des Ausbaus des Wohlfahrtsstaates und der parlamentarischen Demokratie stehend, hätten in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten, so Raphael, neben den Sozialverwaltungen nun auch Industrieunternehmen, Interessenverbände und politische Organisationen empirische Sozialforschung zu nutzen versucht. Auch Jugendliche seien verstärkt in das Beobachtungsfeld geraten.10 In diese Gesamtentwicklung von Sozialforschung reiht sich Oppenheimers Jugendstudie als Ausdruck zeitgenössischer Interessenfelder und Methodik konsequent ein. Bei der Bewertung und Nutzung älterer wie neuerer Sozialstudien ist jedoch – darauf drängt insbesondere die aufblühende Wissensgeschichte11 – die Kluft zwischen sich im Laufe der Zeit wandelnden wissenschaftlichen Theorien, Begriffen, Methoden und ihrer praktischen Anwendung und Umsetzung zu reflektieren.12 Raphael verweist insbesondere auf den Umstand, dass der Aufschwung der Sozialforschung während der ersten, zweiten und selbst der dritten 7 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung (wie Anm. 5), S. 173. 8 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung (wie Anm. 5), S. 174–175. 9 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung (wie Anm. 5), S. 176–177. 10 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung (wie Anm. 5), S. 177–178. 11 Vgl. Lässig, Simone: The History of Knowledge and the Expansion of the Historical Research Agenda. In: Bulletin of the GHI. Bd. 59. Washington DC 2016. S. 40. Vgl. Brückweh, Kerstin: The History of Knowledge. An Indispensable Perspective for Contemporary History. Dez. 2017. https://historyofknowledge.net/2017/12/04/the-history-of-knowledge-an-indispensable-perspective-for-contemporary-history/#fn2 (11.01.2018). 12 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung (wie Anm. 5), S. 181–182.

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Phase der Verwissenschaftlichung des Sozialen eng mit einer Nationalisierung der Gesellschaften verbunden gewesen ist und dadurch mit der zu problematisierenden Kategorie der Nation.13 Trotz des bereits 1996 veröffentlichten Appells Raphaels, dass Quellenkritik daher immer auch die „Konstruktionsprinzipien der sozialwissenschaftlichen Vorgänge kennen und analysieren“ müsse,14 hat sich bis heute im Feld der Zeitgeschichte nur unzureichend etwas in diese Richtung getan. In einem im Oktober 2015 zusammen mit dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Gert Wagner veröffentlichten Papier, beklagt Raphael abermals, dass „statistische Befunde in der Zeitgeschichte weitgehend quellenunkritisch als nahezu objektive Tatsachen zitiert“ würden.15 Nicht zuletzt anhand der bisher unreflektierten Rezeption der Oppenheimer-Studie lässt sich dies beispielhaft erkennen. Es bietet sich daher die Möglichkeit, mit diesem Beitrag nicht nur in Bezug auf die Oppenheimer-Rezeption, sondern auch auf zeithistorische Forschung insgesamt zu einer Trendwende im Bereich der Quellenkritik beizutragen. Eine der theoretisch-methodischen Voraussetzungen dieses Beitrags ist somit der Umstand, dass die Beschäftigung mit Mikrodaten, in diesem Fall mit jenen Oppenheimers, mit einer generellen Neuorientierung der Zeitgeschichte hin zur „Entdeckung neuer Quellenbestände“ wie qualitativen Datenerhebungen einhergeht, was ein „enorm großes brachliegendes Anwendungsfeld“ darstellt, so Raphael und Wagner.16 Gleichzeitig beruht der Beitrag auf Überlegungen, die sich im Umfeld der sich weiterhin im Aufwind befindlichen Wissensgeschichte ergeben. Lässig konstatiert, dass sich die Wissensgeschichte derzeit zu den dynamischsten und produktivsten Forschungsfeldern der Geschichts- und Kulturwissenschaften zählen könne.17 Basierend auf diversen Entwicklungen in verschiedenen Feldern der Humanwissenschaften habe sich die Wissensgeschichte zu einem eigenen historiographischen Zweig der Sozial- und Kulturgeschichte entwickelt.18 Sie lege insbesondere den Fokus darauf, welche Akteurinnen und Akteure des Wissens wann, wo und wie an der Generierung von Wissen beteiligt waren, wie sie ihre Entscheidungen fällten und welche Konsequenzen diese Entscheidun-

13 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung (wie Anm. 5), S. 182. 14 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung (wie Anm. 5), S. 191. 15 Vgl. Raphael, Lutz u. Gerd Wagner: Zur (potentiellen) Bedeutung der Mikrodaten sozialund wirtschaftswissenschaftlicher Erhebungen und amtlicher Statistiken für die zeitgeschichtliche Forschung. (RatSWD Working Paper Series, Nr. 250). Okt. 2015. www.ratswd.de/dl/ RatSWD_WP_250.pdf (09.01.2018). S. 1. 16 Vgl. Raphael [u.a.], Mikrodaten (wie Anm. 15), S. 2. 17 Vgl. Lässig, History (wie Anm. 11), S. 32. 18 Vgl. Lässig, History (wie Anm. 11), S. 32–38.

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gen mit sich gebracht hätten.19 Ein weites Verständnis des Wissensbegriffes geht damit einher. Wissen könne vielfältige Formen annehmen, schließe auch Erfahrung, Tradition und Religion ein, und könne prinzipiell von allen sozialen Gruppen produziert werden.20 Dass dies explizit auch Kinder einschließt, macht Simone Lässigs Beispiel der Einwandererkinder in den USA zur Zeit des Ersten Weltkriegs deutlich, in welchem jene Kinder, durch den Staat befördert, Anteil an der Verbreitung von kulturellem Kapital und damit von Wissen in ihren Familien gehabt hätten.21 Aus solchen Beispielen lässt sich schlussfolgern, dass nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder als Tragende, Übersetzende und Produzierende von Wissensformen auftreten.22 Auch das Ausfüllen eines Fragebogens durch ein Kind, wie im Falle von Oppenheimers Studie geschehen, kann aus dieser Perspektive als ein Akt der Wissensproduktion verstanden werden. Zudem legen einige Antworten der Kinder nahe, dass die Aushandlung von Wissensformen auch zwischen Kindern allein ohne ein unmittelbares Zutun von Erwachsenen geschehen kann. Sowohl neuere Trends in der Zeitgeschichte, die auf die Notwendigkeit einer vermehrten Quellenkritik sozialer Erhebungen anhand von Mikrodatenanalysen aufmerksam machen, als auch die Fokusverschiebung auf die Produktion, die Handelnden und die Zirkulation von Wissen im Zuge der Wissensgeschichte drängen darauf, dass im zweiten Teil dieses Beitrags auch Oppenheimers Mikrodaten sekundäranalytisch ausgewertet werden. Erst seit der Jahrtausendwende ziehen allmählich solche qualitativen Sekundäranalysen gegenüber quantitativen – zumindest in der Sozialforschung – nach.23 Im Gegensatz zur Zeitgeschichte sind in der Soziologie Sekundäranalysen damit nichts Besonderes mehr. Vor Kurzem ist z.B. die sekundäranalytische Studie des Soziologen Claus Tully zum Konsumverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen erschienen.24 Dabei herrscht in der Forschung insgesamt eine größere Vielfalt an Definitionen dessen vor, was eine Sekundäranalyse ist. Der Definition von Soziologin Janet Heaton zufolge ist eine Sekundäranalyse eine Forschungsstrategie, die bereits vorhandene quantitative oder qualitative Forschungsdaten zum Zweck der Untersuchung mit neuen Forschungsfragen

19 Vgl. Lässig, History (wie Anm. 11), S. 40. 20 Vgl. Lässig History (wie Anm. 11), S. 42. 21 Vgl. Lässig, History (wie Anm. 11), S. 29–32. 22 Vgl. Lässig, History (wie Anm. 11), S. 32. 23 Vgl. Medjedović, Irena: Qualitative Sekundäranalyse. Zum Potenzial einer neuen Forschungsstrategie in der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden 2014. S. 15f. 24 Tully, Claus: Jugend – Konsum – Digitalisierung. Über das Aufwachsen in digitalen Konsumwelten. Wiesbaden 2017.

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oder zum Zweck der Verifizierung der Forschungsergebnisse auswertet.25 Der Historiker Philip Janssen verweist dabei jedoch auf den Umstand, dass Sekundäranalysen der Herausarbeitung der Entstehungsbedingungen des institutionellen und kulturell-praktischen Rahmens bedürfen, in welchem die Rohdaten entstanden sind, um den Aussagewert besser evaluieren zu können.26 Dies lehnt sich bereits an wissenshistorische Fragestellungen an, bei denen nicht eine Verifizierung der Ergebnisse das Ziel ist, sondern eine Kontextualisierung ihrer Produktionsbedingungen, während die Nutzung der Daten mit neuen Forschungsfragen diese Entstehungsbedingungen und damit einhergehenden Einschränkungen stets mitreflektieren muss. Bisweilen bedarf es der Hinzuziehung weiterer Mikrodaten, z.B. aus anderen Umfragen, um die eigenen Forschungsfragen anhand eines Vergleichs von Ergebnissen hinreichend beantworten zu können. Denn bei historisch ausgerichteter Forschung steht nur das vorhandene Mikrodatenkorpus für die Analyse zur Verfügung und kann nicht im Nachhinein durch Feldforschung ergänzt werden.27 Für die Wissensgeschichte ist jedoch eine solche Erweiterung des Mikrodatenkorpus v.a. dann von Interesse, wenn es nicht um den Vergleich von Ergebnissen, sondern angewendeter Methoden und Forschungsfragen geht. Im Rahmen dieses Beitrags wurde aus Kapazitätsgründen auf einen Mikrodatenvergleich verzichtet.

Rezeption und Entstehungsbedingungen der Studie – Oppenheimer als Wissensakteur Die Rezeption von Oppenheimers Studie scheint vermehrt seit den 1990er Jahren zugenommen zu haben, u.a. mit Michael Brenners 1995 erschienenem Werk Nach dem Holocaust28, in welchem dieser den Aspekt der „Zerrissenheit“ der Identität jüdischer Kinder hervorhob.29 Es folgte dann v.a. in den 2000er Jahren 25 Vgl. Medjedović, Sekundäranalyse (wie Anm. 23), S. 19. 26 Vgl. Janssen, Philip Jost: Umfragen der Jugendforschung in der frühen Bundesrepublik als Quellen für die zeithistorische Forschung: methodische Überlegungen zu ihrer historisch-kontextuellen Sekundäranalyse. In: Historical Social Research (HSR) 27 (2002) 2/3. S. 253–265, hier S. 256. 27 Vgl. Kühnel, Steffen u. Jürgen Leibold: Sekundäranalysen von Umfragen. In: Methoden der Migrationsforschung. Ein interdisziplinärer Forschungsleitfaden. Hrsg. von Débora Maehler und Heinz Ulrich Brinkmann. Wiesbaden 2016. S. 283–310, hier S. 283. 28 Brenner, Michael: Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950. München 1995. 29 Vgl. Brenner, Holocaust (wie Anm. 28), S. 204. Vgl. Oppenheimer, Jugend (wie Anm. 1), S. 148.

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eine verstärkte, jedoch zumeist nur punktuelle Bezugnahme auf die Studie; so in Anke Quasts Arbeit30 zu jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, im Beitrag Meron Mendels zum Leo Baeck Year Book 2004 The policy of the past in West Germany and Israel. The case of Jewish remigration31 oder im Werk Democratization and the Jews. Munich, 1945–1965 von Anthony D. Kauders.32 Es folgten 2006 die Religionspädagogin Christine Müller mit ihrer Dissertation Zur Bedeutung von Religion für jüdische Jugendliche in Deutschland,33 Stephanie Tauchert mit ihrer Studie Jüdische Identitäten in Deutschland aus dem Jahr 200734 sowie Jessica Schmidt-Weil mit Die Suche nach dem identitätsformenden Potential des Religionsunterrichts in jüdischen Gemeinden in Deutschland aus 2007.35 Zu Beginn der 2010er Jahre rezipierte verstärkt der bereits erwähnte Meron Mendel die Oppenheimer-Studie, so 2010 in seinem Werk Jüdische Jugendliche in Deutschland. Eine biographisch-narrative Analyse zur Identitätsfindung36 und insbesondere in seinem Sammelbandsbeitrag von 2012 über Perspektiven für jüdische Jugendarbeit in einer heterogenen Gemeinschaft, wobei er wie Brenner den Identitätskonflikt von in Deutschland lebenden jüdischen Jugendlichen hervorhebt.37 In Brenners Sammelband Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart38 heben Brenner und der Historiker Norbert Frei schließlich in einem gemeinsam verfassten Kapitel die in Oppenheimers Studie ersichtliche große Diversität der Kinder und abermals den Identitätskonflikt

30 Vgl. Quast, Anke: Nach der Befreiung. Jüdische Gemeinden in Niedersachsen seit 1945. Das Beispiel Hannover. Göttingen 2001. S. 24. 31 Vgl. Mendel, Meron: The policy for the past in West Germany and Israel. The case of Jewish remigration. In: Leo Baeck Institute Yearbook 49 (2004). S. 135. 32 Vgl. Kauders, Anthony D.: Democratization and the Jews. Munich, 1945 – 1965. Lincoln, Neb. [u.a.] 2004. S. 56. 33 Vgl. Müller, Christine: Zur Bedeutung von Religion für jüdische Jugendliche in Deutschland. Münster [u.a.] 2007. S. 35. 34 Vgl. Tauchert, Stephanie: Jüdische Identitäten in Deutschland. Das Selbstverständnis von Juden in der Bundesrepublik und der DDR 1950 bis 2000. Berlin 2007. S. 19. 35 Vgl. Schmidt-Weil, Jessica: Die Suche nach dem identitätsformenden Potential des Religionsunterrichts in jüdischen Gemeinden in Deutschland. Dissertation. Frankfurt am Main 2007. S. 6, 48, 155. 36 Vgl. Mendel, Jugendliche (wie Anm. 2), S. 18, 89–91. 37 Vgl. Mendel, Meron: Jungsein – Judesein – Dasein? Perspektiven für jüdische Jugendarbeit in einer heterogenen Gemeinschaft. In: Juden in Deutschland. Deutschland in den Juden. Neue Perspektiven. Hrsg. von Michal Bodemann u. Micha Brumlik. Göttingen 2012. S. 265. 38 Vgl. Brenner, Michael u. Norbert Frei: Zweiter Teil: 1950–1967. Konsolidierung. In: Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. Politik, Kultur und Gesellschaft. Hrsg. von Michael Brenner. München 2012. S. 226.

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hervor.39 Es zeigt sich insgesamt, dass die Jugendstudie Jacob Oppenheimers zum festen Bestandteil des Forschungskanons zur Geschichte der jüdischen Jugend in Deutschland geworden ist. Keine der genannten Forschungen vollzieht allerdings die u.a. von Raphael und Wagner verfochtene Hinwendung zur zeithistorischen Quellenkritik von Sozialerhebungen und bezieht die Mikrodaten Oppenheimers in die eigene Forschung mit ein. Die Durchführung von Oppenheimers Jugendstudie fand zu einer Zeit statt, in welcher ein generell hohes Interesse in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an der Auseinandersetzung mit Einstellungen der Jugend erwachsen war. Dies geschah unter der Nachwirkung des Zweiten Weltkrieges und der Stabilisierung des noch jungen bundesrepublikanischen Staates. Gesellschaftliche Selbstvergewisserung und der Blick in die Zukunft machten Jugendforschung als Teil der Sozialforschung während der jungen Bundesrepublik attraktiv. Die letzte größere repräsentative Jugendbefragung erfolgte bis 1961, somit bis kurz vor Oppenheimers Studie, die sich speziell der jüdischen Jugend widmete.40 Auch Oppenheimers Biografie liest sich wie eine konsequente Hinführung zur von ihm bearbeiteten Studienthematik. Walter William Jacob Oppenheimer, genannt Jacob Oppenheimer, war 1925 in Frankfurt am Main geboren und besuchte dort sieben Jahre die Grund- und Mittelschule. Im Jahr 1938, somit im Alter von ca. dreizehn Jahren, wanderte er in das Britische Mandatsgebiet Palästina aus. In Jerusalem besuchte er die siebte und achte Klasse. Darauf folgten zweieinhalb Jahre auf einer landwirtschaftlichen Mittelschule in einem jüdischorthodox geprägten Jugenddorf. Darauf besuchte er ein Jahr lang eine Jeschiwa in Jerusalem, studierte also in dieser Zeit intensiv den Talmud. Anschließend besuchte Oppenheimer ein Seminar für Madrichim („Erzieher“) der Alijat Hanoar (deutsch: Jugend-Alijah) in Jerusalem mit einem Schwerpunkt auf Gartenarbeit. Nach Betätigung in der Landwirtschaft im Kibbutz Jawne folgten Anstellungen als Madrich in Kfar Haroeh, in einem Kinderheim in Petach Tikwa und in leitender Position in einem Kinderdorf in Hodajot.41 Zwischen Oktober 1956 und Juli 1959, 1961 sowie 1962 war er Religionslehrer und Jugendzentrumsleiter bei der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main sowie Leiter von Ferienheimen und Jugendleiterseminaren der ZWST.42 1964, im Alter von ca. 41 Jahren, folgte der Abschluss seiner Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich mit der oben genannten Studie im Fach Sozialpsychologie unter der 39 Vgl. Brenner [u.a.], Konsolidierung (wie Anm. 38), S. 226. 40 Vgl. Janssen, Umfragen (wie Anm. 26), S. 255, 260. 41 Vgl. ZEGJD, B.1/13, Nr. 448: „Der Religionsunterricht in den Jüdischen Gemeinden in Westdeutschland und Westberlin 1957“ (Avraham Bartura). Typoskript, 34 Bl. Frankfurt am Main 1957. S. 14. 42 Vgl. Oppenheimer, Jugend (wie Anm. 1), S. 9.

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Begutachtung des Schweizer Psychologen Hans Biäsch. Die Publikation der Studie erfolgte 1967 im Juventa-Verlag München mit Unterstützung des sozialwissenschaftlichen Deutschen Jugendinstituts.43 1967 erschien von ihm als Autor die 95-seitige Broschüre „Acht Jahre jüdische Jugendarbeit in der Schweiz. Aufsätze, Vorträge und Arbeiten unseres Chawers und Madrichs Dr. Jacov Oppenheimer“.44 Nach November 1967 war er nach eigenen Angaben noch für unbekannte Zeit Leiter des schulpsychologischen Dienstes der israelischen Stadt Be’er Scheva sowie Dozent im Fachbereich Psychologie an der Universität Tel Aviv.45 Oppenheimer verfügte somit zum Zeitpunkt der Durchführung der Studie über zahlreiche Erfahrungen aus der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sowie über landwirtschaftlich-praktisches als auch jüdisch-religiöses Wissen. Unklar ist, ob die langjährige jugenderzieherische Erfahrung ausreichte, um eine Dissertation im Fach Sozialpsychologie in Zürich beginnen zu dürfen, oder ob dem ein entsprechendes Universitätsstudium voraus ging. Letzteres ist wahrscheinlich und müsste dann am ehesten irgendwann zwischen den Jahren 1958–1963 erfolgt sein. Insgesamt ist somit eine große Verknüpfung zwischen Oppenheimers eigener Biografie und dem Gegenstand seiner Untersuchung gegeben. Oppenheimer befragte jüdische Kinder in jüdischen Ferienlagern Westdeutschlands. Auch er selbst war einst ein jüdisches Kind und machte wie so viele der Kinder ebenfalls die prägende Erfahrung von Migration. Er wuchs als Jugendlicher im Britischen Mandatsgebiet Palästina auf und erlebte die Staatsgründung Israels mit etwa 23 Jahren mit. Er kannte somit die Region sehr gut, aus der ebenfalls viele der befragten Kinder stammten und ihm waren die israelischen soziokulturellen und politischen Verhältnisse sowie die Diskurse, welche in der dortigen Gesellschaft dominierten, bekannt. In jüdischen Ferienlagern (Machanot), in denen er seine Untersuchung durchführen sollte, hatte er selbst lange Zeit gearbeitet, kannte auch in Deutschland viele Machane-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter persönlich. Es ist somit evident, dass die thematische Ausrichtung der Studie auch viel mit Oppenheimers eigener Biografie zu tun hatte und es ist wahrscheinlich, dass er auch aus dieser Erfahrung heraus seinen Fragenkatalog konzipierte. Doch auch grundsätzlich ist jegliche Forschung an einen besonderen Standpunkt, von dem aus sie geführt wird, gebunden. „Die Sicht von einem [bestimmten] Körper aus“, so Donna Haraway in ihrer aufsehenerregenden Kritik 43 Vgl. Oppenheimer, Jugend (wie Anm. 1), S. 9f. 44 Vgl. Oppenheimer, Jacob: Acht Jahre jüdische Jugendarbeit in der Schweiz. Aufsätze, Vorträge und Arbeiten unseres Chawers und Madrichs Dr. Jacov Oppenheimer. Hrsg. von Jüdischer Jugendbund Ilanot – Hagoschrim. Zürich 1967. 45 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45: Brief Oppenheimers an Bertold Scheller u.a. (ZWST). Typoskript mit handschr. Ergänzungen, 1 Bl., Zürich vom 7. September 1967.

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mit dem Titel Situiertes Wissen, ist „immer ein komplexer, widersprüchlicher, strukturierender und strukturierter Körper.“46 Auch das Subjekt bzw. der Körper Oppenheimer wird dadurch in seiner Herangehensweise an Forschung, in seiner Visualisierung von Problematiken, Kontexten und Ergebnissen, von seiner eigenen strukturierenden und strukturierten Komplexität bestimmt. Als Konsequenz ist analytisch die von Haraway geforderte und in der Wissensgeschichte im Fokus stehende Epistemologie der Lokalisierung, Positionierung und Situierung geboten, um den Aussagewert des behandelten historischen Materials genauer bestimmen zu können.47 Die methodische Durchführung seiner Befragung legt Oppenheimer zum großen Teil in der Publikation seiner Studie dar. Nach seinen Angaben beschränkte sich sein Sample jüdischer Kinder und Jugendlicher auf die Besucherinnen und Besucher jüdischer Ferienlager in der Bundesrepublik, die jährlich zwischen 600 und 800 Kinder zu verzeichnen hätten. Diese jüdischen Kinder seien laut Oppenheimer repräsentativ für die jüdische Jugend in Deutschland, da die einstige Fokussierung allein auf Kinder aus sozial schwachen Familien in der Praxis über die Jahre bis zur Entstehung der Studie von den Organisatoren aufgegeben worden sei. Dies gelte sowohl für die Aufnahme der Ferienlagerorganisation als auch die Entsendung durch die jüdischen Gemeinden.48 Da die Zionistische Jugend eigene Ferienlager unterhalten hätte, habe Oppenheimer zum Zweck der Repräsentativität Kinder aus einem solchen Ferienlager in das Sample mit einbezogen. Daneben habe auch der Aspekt der Wirtschaftlichkeit für den Untersuchenden eine Rolle gespielt, da dieser finanziell bei der Durchführung der Studie allein auf seine privaten Mittel angewiesen gewesen sei. Das Entnehmen seines Samples an Orten, an welchen jüdische Kinder aus der ganzen Republik temporär zusammenkämen, lag demnach also auch im finanziellen Interesse. Unterstützung habe Oppenheimer von der ZWST erhalten, einmal durch die Übertragung der pädagogischen Leitung eines der Ferienlager an ihn während eines Sommers sowie zum anderen durch Kooperation mit den zumeist noch unter 25 Jahre alten Zeltlager- und Gruppenleitern vor Ort. Diese hätten ihn nach eigenen Angaben durch Gespräche zu ihren persönlichen Erfahrungen und zur Situation jüdischer Kinder und Jugendlicher in Deutschland unterstützt sowie durch Berichte über Besonderheiten bei den Kindern der Lager.49 Damit flossen also auch deren Perspektiven in die Analyse mit ein.

46 Vgl. Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main 1995. S. 89. 47 Vgl. Haraway, Neuerfindung (wie Anm. 46), S. 89. 48 Vgl. Oppenheimer, Jugend (wie Anm. 1), S. 171. 49 Vgl. Oppenheimer, Jugend (wie Anm. 1), S. 172.

Evaluation jüdischen Kinderwissens



383

Die Datenerhebung sei durch Einteilung der Kinder in Gruppen zu je 15–25 Kindern beider Geschlechter während jeweils einer Sitzung geschehen. Da Einzelbefragungen die organisatorischen Kapazitäten überstiegen hätten, seien in diesen Gruppen Fragebögen ausgehändigt worden, und zwar zu einem Zeitpunkt, der z.B. „bei Regenwetter oder während der Abwesenheit des Gruppenleiters“ günstig erschienen sei.50 Während anderthalb bis zwei Stunden hätten die Kinder dann jeweils für sich bei etwas isolierender Sitzordnung schweigend die Bögen per Hand ausgefüllt. Dies sei unter mündlicher Einleitung der Untersuchung und Erklärung jeder Frage durch Oppenheimer geschehen, der zudem Rückfragen flüsternd beantwortet hätte. Oppenheimer habe währenddessen die Beantwortung der Bögen im Raum umher gehend überwacht, damit die Kinder Fragen nicht missverstehen würden, falsche Kreuze setzten oder Antworten vergäßen. Im Anschluss sei jeder Bogen von Oppenheimer durchgegangen worden und „im Falle von Lücken und Unklarheiten“ habe er das Kind gerufen und den Bogen selbst ausfüllen lassen.51 Bei der Bewertung der Aussagen der Kinder ist somit zu beachten, dass von Oppenheimer ein sanfter Druck ausgeübt wurde, jede Frage zu beantworten und dass die einleitenden Erklärungen, welche die Art der Fragebeantwortung beeinflusst haben dürften, dem Mikrodatenmaterial nicht entnehmbar sind. Auch hätte sich trotz der isolierenden Sitzordnung in einer solch großen Gruppe keine Kommunikation und Beeinflussung zwischen den Kindern gänzlich unterbinden lassen können. Dieser Umstand der Nichtüberprüfbarkeit markiert generell eine der Grenzen von Sekundäranalysen.52

Kinder als Wissensakteurinnen und Wissensakteure und das Ergebnis von Kategorisierung Die 274 Fragebögen der Studie Oppenheimers, die per Hand von den befragten Kindern und Jugendlichen selbst ausgefüllt wurden, decken diverse Fragen zum Hintergrund, den Lebensrealitäten und Wünschen der Teilnehmenden ab und umfassen jeweils 14 Seiten. Durch das eigenhändige Ausfüllen wurden die Bögen auch zu Medien des Selbstwissens, des eigenen Selbstverständnisses der Kinder und dies war es auch, was Oppenheimer festzustellen gedachte. Die Kinder nutzten dabei auch Spielräume bei der Beantwortung von Fragen aus, 50 Vgl. Oppenheimer, Jugend (wie Anm. 1), S. 174. 51 Vgl. Oppenheimer, Jugend (wie Anm. 1), S. 174f. 52 Vgl. Janssen, Jugendforschung (wie Anm. 26), S. 257.

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antworteten nicht immer im Sinne Oppenheimers oder verweigerten auch Antworten. Ihre Rolle als eigenständige Wissensakteurinnen und Wissensakteure unterstrichen sie auch durch Antworten, deren Basis offenkundig nicht in der Schule, in der Familie oder den Medien, sondern die sozial im Umgang untereinander erlernt worden war. Dazu zählen zum Beispiel charakterliche Bewertungen von jüdischen und nichtjüdischen Mitschülerinnen und Mitschülern und Rückschlüsse daraus auf die Gesamtheit der jeweiligen Gruppe. Besonders eine Fragestellung Oppenheimers war so offen gewählt, dass sie viel Spielraum bei der Beantwortung bot. So fragte Oppenheimer in dem Bogen, den er an die Kinder aushändigte, unter dem Punkt 4a: „Könntest Du mir jetzt den Unterschied beschreiben zwischen einem jüdischen Kind (Jugendlichen) und einem christlichen Kind (Jugendlichen)?“53 Eine solche Frageformulierung an die Kinder begründete Oppenheimer in seiner Publikation der Studie damit, dass sie „das Kernproblem, die Identifizierung mit einer allgemein-jüdischen und/oder einer rein-israelischen und/oder einer deutschen Gruppe“ berühren würden. Ausgehend davon, dass die Kinder mehrheitlich ein Problem hätten, ein „Identifizierungsproblem“, stellte er die Kinder somit vor die Aufgabe, einen Unterschied zwischen sich als jüdischem Kind und einem beliebigen christlichen Kind zu benennen. Er fragte sogar nach dem expliziten Unterschied, nach einer herausragenden Eigenschaft und damit wurde das jeweilige Kind herausgefordert, sich der Art seiner jüdischen Identität bewusst zu werden.54 Ein solches Drängen, zusammen mit Oppenheimers generellem Nachdruck darauf, dass alle Fragen beantwortet würden, ist aussageanalytisch mit zu beachten. Denn es steigert in höherem Maß das Risiko, dass sich derart befragte Kinder trotz der von Oppenheimer getroffenen Vorsichtsmaßnahmen der Übernahme von Äußerungen eines Freundes bedienen oder an Stelle eine inhaltliche Aussage zu tätigen, lapidar mit „weiß nicht“ antworten, wie es schließlich bei 45 Kindern auch vorkam. Doch ist auch eine Nicht-Aussage analytisch eine Aussage. Oppenheimer interessierte sich auch für die Frage, inwiefern eine unterschiedliche Sozialisation der Kinder ihre Wissensbestände beeinflusste. Dabei legte er eigene Kategorien fest. So filterte er bei der obigen Fragestellung aus der Gesamtgruppe sogenannte „Israelis“ und „Deutsche“ heraus. Die Unterscheidung sei sinnvoll, da „speziell bei der in Israel aufgezogenen Jugend“, so Oppenheimer „die dortige bewußt und maximal gezielte jüdisch-israelische Erziehung zu einer relativ starken Ausprägung sowohl des Nationalstolzes als

53 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52. 54 Vgl. Oppenheimer, Jugend (wie Anm. 1), S. 180f.

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auch des Ressentiments gegen Deutschland“ führe.55 Doch war der Begriff Israeli hierbei nicht gleichbedeutend mit dem des israelischen Staatsbürgers. Er zählte drei Untergruppen zur Gruppe der sogenannten Israelis: 1. in Israel Geborene, die mindestens die ersten sechs Jahre in Israel gelebt und in Deutschland nicht mehr als sieben Jahre gelebt haben, 2. nicht in Israel Geborene, die mindestens fünf Jahre dort gelebt haben, in Deutschland nicht mehr als sechs Jahre, deren Eltern noch die israelische Staatsbürgerschaft besitzen sowie 3. nicht in Israel Geborene, die aber mindestens fünf Jahre dort gelebt haben, in Deutschland nicht mehr als sechs Jahre, die sich auf Hebräisch unterhalten können und deren Eltern keine israelischen Staatsbürger mehr sind. Diese Kategorisierung ergab laut Oppenheimer 113 Kinder, die diesen Kriterien entsprachen.56 Demnach war kein Israeli, wer zum Beispiel nur fünf Jahre in Israel gelebt hatte, deren Eltern aber Hebräisch mit dem Kind sprachen und die noch die israelische Staatsbürgerschaft besaßen. Jede Kategorisierung ist stets eine notwendige Entscheidung, hebt einen bestimmten Standpunkt hervor und muss andere vernachlässigen.57 In diesem Fall wurde notwendigerweise der Einfluss des Staates gegenüber Einflüssen aus der Familie analytisch privilegiert. Mit dieser Kategorisierung fand Oppenheimer im Ergebnis seiner Befragung heraus, dass auf die Frage nach dem prägnanten Unterschied zwischen einem jüdischen und einem christlichen Kind 61 % aller Kinder mit einer Antwort im Bereich der Religion geantwortet hätten. 16 % hätten daneben das jeweilige Verhalten als Unterschied benannt, 6 % stattdessen die Sprache und/oder einen Bezug zu Israel, 4 % hätten Unterschiede in den geistigen und 3 % in den körperlichen Fähigkeiten gesehen. Unterschiede zwischen den von Oppenheimer definierten Israelis und Deutschen hätten sich darin gezeigt, dass erstere nur geringfügig öfter religiöse Inhalte als Unterschied benannt hätten. Zudem hätten Israelis nur halb so häufig das Verhalten als Unterschied benannt und hätten etwas häufiger charakterliche und körperliche Unterschiede bemerkt.58 Eine Sekundäranalyse von Oppenheimers Mikrodaten erlaubt allerdings eine andere Kategorienfestlegung. Eine andere Kategorisierung ermöglicht eine stärkere Auffächerung und damit einen genaueren Einblick in Denkmuster, die unter jüdischen Kindern in Deutschland während der ersten Hälfte der 1960er Jahre verbreitet waren. So zeigt sich, dass nur 27 % der Kinder in ihrer Antwort allgemein die Religion oder den Glauben benennen, während bei den anderen

55 Vgl. Oppenheimer, Jugend (wie Anm. 1), S. 29. 56 Vgl. Oppenheimer, Jugend (wie Anm. 1), S. 29. 57 Vgl. Bowker, Geoffrey C. u. Susan Leigh Star: Sorting things out. Classification and its consequences. Cambridge/MA 2000. S. 5. 58 Vgl. Oppenheimer, Jugend (wie Anm. 1), S. 130.

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zahlreiche konkrete und inhaltlich nicht uninteressante Beispiele angeführt werden.59 So fällt z.B. auf, dass 13 % der Kinder konkret die rituelle Beschneidung (Brit Mila) häufig in Abgrenzung zur Taufe als den prägnanten Unterschied erwähnen. Dies gehört zwar durchaus in die Kategorie Religion, zeigt aber zugleich, dass es sich um eine Äußerlichkeit handelt, um einen am eigenen Körper sichtbaren Unterschied. Ebenfalls ein äußerlich sichtbarer Unterschied, der mit 8 % häufig genannt wird, ist der Besuch der Synagoge, bisweilen in Gegenüberstellung zum Besuch der Kirche. In geringerer Häufigkeit finden sich Antworten, die mehr auf die geistige als die praktische und äußerlich sichtbare Ebene von Religion rekurrieren. Die häufigste Antwort dieser Kategorie ist mit 6 % der christliche Glaube an Jesus bzw. Christus. Dieser wird zumeist nicht weiter erläutert. Die weiteren Antworten sind der nachfolgenden Tabelle zu entnehmen, die der sekundäranalytischen Kategorisierung entspricht.60 Dabei ist zu beachten, dass viele Kinder Mehrfachantworten gegeben haben. Auffällig sind mit 16,42 % 45 von den insgesamt 274 Kindern, die gar nicht erst eine Antwort zur Fragestellung geben.61 Sie schreiben entweder „weiß nicht“, lassen das Feld leer oder machen einen Querstrich. Dass es bei Oppenheimer sogar 20 % sind, liegt daran, dass er auch jene Kinder hinzuzählt, die explizit meinen, es gebe keinen Unterschied zwischen jüdischen und christlichen Kindern. Diese betragen 2,55 %. Tab. 1: Aussagevarianten (Standardisiert)

Nennungen

in Prozent von jew. 274

Kinder mit Antworten der Kategorie Religion insgesamt die Religion / der Glaube ist anders ich weiß nicht / keine Ahnung / leer gelassen Beschneidung / Brit Milah (vs. Taufe) Christen haben schlechtere Charaktereigenschaften / Erziehung / Verhaltensweisen jüd. Kinder gehen in die Synagoge, christliche in die Kirche Christen glauben (neben Gott auch) an Jesus / Christus / Trinität etc. neutral: Christen haben andere Einstellung, Charaktermerkmale, Erziehung, Interessen koschere Ernährung

164 75 45 36 29

59,85 % 27,37 % 16,42 % 13,13 % 10,58 %

23

8,39 %

17

6,20 %

16

5,84 %

13

4,74 %

59 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52. 60 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52. 61 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52.

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Aussagevarianten (Standardisiert) Juden gehen freitags/samstags beten / halten Schabbat (-verbote), Christen sonntags Bar/Bat Mitzwah (vs. Konfirmation / Kommunion / Einsegnung) jüdische Kinder denken an / behandeln / streben nach Israel Soziokulturelle Lebenssituation von Juden in der Diaspora Verbundenheitsgefühl der Juden als Religions- u./o. Volksgemeinschaft anderes Gebet / andere Gebetsinhalte jüdische Kinder sehen anders aus / sind in anderer körperlicher Verfassung Tragen der Kippa / Kopfbedeckung es gibt keinen Unterschied Christen haben bessere Charaktereigenschaften / Erziehung / Verhaltensweisen unterschiedliche Feiertage / Riten zu bestimmten Feiertagen Juden beziehen sich aufs AT, Christen auch aufs NT Juden sind traditionsgebundener jüdische Kinder haben geringere(s) Religionsgebundenheit / Interesse an Religion jüdische Kinder profitieren von besseren Gemeindestrukturen / sozialen Bemühungen möchte explizit keine Aussage tätigen Antwort über „Deutsche“ statt Christen

387

Nennungen 12

in Prozent von jew. 274 4,38 %

9

3,28 %

9

3,28 %

9

3,28 %

9

3,28 %

8 8

2,92 % 2,92 %

8 7 6

2,92 % 2,55 % 2,19 %

5

1,82 %

4 2 2

1,46 % 0,73 % 0,73 %

2

0,73 %

1 8

0,36 % 2,92 %

Relationen von Migrationserfahrung und Wissensbeständen In Israel und dem ehemaligen Britischen Mandatsgebiet Palästina geborene Kinder Oppenheimer vergleicht Israelis und Deutsche in seiner Studie miteinander, womit er nach seinen Kriterien definierte, maßgeblich eher israelisch-sozialisierte und eher deutsch-sozialisierte Kinder gegenüberstellt. In diesem Beitrag werden die Aussagen jedoch streng nach dem jeweils angegebenen Geburtshintergrund der Kinder analysiert. Dadurch wird die individuelle Migrationserfahrung stär-

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ker berücksichtigt und die Rolle von Familien als Netzwerke und Produzierende von Wissen aufgewertet. Es lassen sich damit Aussagen über dominante Diskurse und somit vorherrschende Wissensbestände in Gruppen aus bestimmten Regionen ziehen, unabhängig davon, ob Individuen daraus im Laufe ihres Lebens eine bestimmte Zeit in Israel verbracht hätten und in dortige Diskursnetze verwoben seien. Dadurch soll weniger wie bei Oppenheimer die Frage verfolgt werden, inwiefern eine möglichst als israelisch definierte Sozialisation andere Präferenzen als eine deutsche hervorbringt, sondern vielmehr inwieweit in Gruppen einer bestimmten Herkunft aufgrund unterschiedlicher Sozialisationseinflüsse bestimmte Diskurse und Wissensarten dominant wurden. Einflüsse aus Israel und anderen Ländern finden sich somit in allen hier untersuchten Großgruppen. Doch zeigen nach der Geburt unterteilte Gruppen nicht die gleichen Präferenzen. Verschiedene Aussagen der Kinder herrschen vielmehr je nach Geburtsland unterschiedlich in den jeweiligen Gruppen vor. Ein weiterer Grund dafür, die Geburtsregion als Bezugspunkt zu wählen, ist eine vermutete Aufwertung der Rolle von Familien für die Sozialisation der Kinder. Denn während bei Oppenheimer v.a. die in Israel verbrachte Zeit des Kindes für eine Zuordnung zur israelischen Gruppe zählt, lassen sich durch eine stärkere Berücksichtigung des Geburtshintergrundes „Rückkehrer“-Familien62 aus Israel besser von denjenigen Familien aus anderen Regionen der Welt sowie von ehemaligen sogenannten „Displaced Persons“ („DPs“) 63und weiteren Osteuropaflüchtlingen64 trennen. Die Historiker Michael Wolffsohn und Thomas Brechenmacher gehen bei etwa 30 % der Juden im geteilten Deutschland zwischen 1949 und 1989 von deutscher Herkunft aus, zumeist als deutsch-jüdische „Rückkehrer“.65 Als Displaced Persons galten dagegen, so fasst es Historikerin Juliane Wetzel zusammen, ehemalige, keineswegs nur jüdische „Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene in der US-Zone, die sich vor dem 1. August 1945 auf amerikanisch-besetztem Territorium befanden“, sowie Flüchtlinge, die später hinzukamen, jedoch als „rassisch, religiös und politisch Verfolgte“ anerkannt wur-

62 Vgl. Wolffsohn, Michael u. Thomas Brechenmacher: Deutschland, jüdisch Heimatland. Die Geschichte der deutschen Juden vom Kaiserreich bis heute. München 2008. S. 186. 63 Vgl. Wetzel, Juliane: Jüdische Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland 1945–1957. In: Publizistik in jüdischen Displaced-Persons-Camps im Nachkriegsdeutschland. Charakteristika, Medientypen und bibliothekarische Überlieferung. Hrsg. von Anne-Katrin Henkel u. Thomas Rahe. Frankfurt am Main 2014 (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie – Sonderband 112). S. 21–35. 64 Vgl. Grossmann, Atina u. Tamar Lewinsky: Erster Teil: 1945–1949. Zwischenstation. In: Brenner, Geschichte (wie Anm. 38). S. 87–89. 65 Vgl. Wolffsohn [u.a.], Deutschland (wie Anm. 62), S. 186f.

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den. In der britischen Zone galt die Anerkennung als DP dagegen ausschließlich bis zum Stichtag des 30. Juni 1946.66 Die Fragebögen zeigen auf, dass fast alle Kinder entweder selbst migriert waren oder Eltern hatten, die migriert bzw. gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. Somit waren auch die meisten im geteilten Deutschland geborenen Kinder durch die Eltern migrationsbedingten Einflüssen aus anderen Ländern ausgesetzt. Die bei Oppenheimer geführten Deutschen haben somit nicht weniger „Migrationshintergrund“, so der gegenwärtige politische Begriff, als andere Kinder der Studie. Die Geburtsländer aller Kinder der Studie verteilen sich auf 26 Staaten, sofern man das Britische Mandatsgebiet Palästina und das daraus hervorgehende Israel zusammennimmt.67 In Israel sind mit 36,5 % die meisten Kinder der Studie, einhundert an der Zahl, geboren. Dicht dahinter folgen mit 35,4 % 97 in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands bzw. der Bundesrepublik geborene Kinder. Die in Israel und Westdeutschland geborenen Kinder machen somit den Großteil der Befragten aus. Allerdings fällt ein großer Teil dieser Personen nicht in diese beiden Gruppen und ist damit statistisch ebenfalls relevant. Die mit Abstand größte Gruppe der weder in Israel noch Westdeutschland geborenen Kinder machen die in Polen geborenen aus. Das betrifft mit 7,3 % 20 Kinder sowie zwei aus ehemals polnischen Gebieten. Mit jeweils acht Kindern sind in Frankreich und Ostdeutschland (SBZ/DDR) geborene Kinder vertreten. Fünf sind dagegen in Rumänien geboren, vier in Bolivien, jeweils drei in den USA, in China und Kolumbien, jeweils zwei in Großbritannien, in Iran, in Dänemark, Schweden, Chile und Lettland. Und jeweils ein Kind ist gebürtig aus den Niederlanden, in Südafrika, Australien, der Schweiz, Argentinien, Ungarn, der Tschechoslowakei, Österreich und Belgien.68 Betrachtet man nun die oben behandelte Fragestellung Oppenheimers nach dem expliziten Unterschied zwischen jüdischen und christlichen Kindern in Bezug zum Geburtshintergrund, lassen sich Aussagetendenzen feststellen. Scheinen sich viele Antworten gleichmäßig auf Kinder der verschiedensten Geburtsländer zu verteilen, so gibt es einzelne Antworten, die auffällig häufig oder auffällig geringfügig in jeweils einer der Gruppen vorkommen. So war keines der neun Kinder, die auf die soziokulturelle Lebenssituation von Juden in der Diaspora rekurrierten, wie etwa die große Streuung häufig kleinerer Gemeinden und die Minderheitensituation, in Israel geboren. Es zeigt sich auch, dass die in Israel geborenen Kinder in geringerem Maße Antworten wählten, die statt auf äußerliche Formen der Religion explizit auf Inhalte abzielen. Macht ihr Anteil 66 Vgl. Wetzel, Persons (wie Anm. 63), S. 22. 67 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52. 68 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52.

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an der Gesamtgruppe insgesamt etwa ein Drittel aus, beträgt ihr Anteil bei der Antwortvariante, die auf den Schabbat abzielt, nur 25 %. Bei der Benennung, dass es Unterschiede im Gebet gibt, ist der Anteil ebenfalls nur 25 %. Kein in Israel geborenes Kind erwähnte die jüdischen Festtage, während es fünf andere Kinder taten. Das Alte Testament fand nur bei einem in Israel geborenen Kind von insgesamt vier auf diese Art antwortenden Kindern Erwähnung.69 Sind die einzelnen Zahlen für viele Antwortvarianten zwar etwas zu gering, um deutliche Rückschlüsse daraus zu ziehen, verweisen alle Antworten zusammengenommen auf eine bestimmte Tendenz. Eine eher säkulare bzw. verstärkt jüdisch-nationale statt einer jüdisch-religiösen Grundhaltung könnte somit bei dieser Gruppe vergleichsweise häufiger vorhanden gewesen sein als bei den nicht in Israel gebürtigen Gruppen. Dass es sich nicht nur um Zufälle handelt, die auf der geringen Anzahl verfügbarer Antworten basieren, darauf verweisen auch jene Antwortvarianten, bei denen die in Israel geborene Gruppe überrepräsentiert ist. 52,94 % waren es aus dieser Gruppe, die hervorhoben, dass Christen neben Gott auch zu Jesus Christus beten.70 Mit sieben war es fast die Hälfte jener Kinder, die auf neutral wertende Weise hervorhoben, dass Christen und Juden verschiedene Einstellungen, Interessen und Charaktermerkmale hätten. Gleichzeitig waren es v.a. Äußerlichkeiten, welche die in Israel geborenen Kinder vermehrt erwähnten. Vier von den insgesamt acht Kindern, die meinten, jüdische Kinder hätten ein anderes Aussehen oder eine andere körperliche Verfassung, waren in Israel geboren. Vier in Israel geborene Kinder von insgesamt acht erwähnten in ihrer Antwort die Kippa.71 Auch dies kann als ein eher äußerliches Erkennungsmerkmal angesehen werden. In anderen Antworten unterscheiden sich die in Israel geborenen Kinder nur unwesentlich von den anderen, wie die folgende Tabelle im Vergleich mit den anderen Aufstellungen zeigt. Zusammengenommen vermitteln die Antworten den Eindruck, dass sich unter den in Israel geborenen Kindern ein prozentual erhöhter Anteil befindet, welcher relativ säkular gegenüber der jüdischen Religion eingestellt ist. Diese Gruppe hat den Zahlen zufolge größere Probleme oder Hemmungen, Unterschiede zwischen christlichen und jüdischen Kindern zu formulieren, rekurriert vermehrt auf Äußerlichkeiten und Charaktereigenschaften als auf religiöse Inhalte und äußert häufiger eine erhöhte neutrale Haltung gegenüber dem Christentum. Diese Tendenz lässt vermuten, dass es sich bei besonders vielen dieser Kinder, um Kinder von sogenannten 69 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52. 70 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52. 71 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52.

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Rückkehrern und aus säkularen bzw. assimilierten Elternhäusern handelt, d.h. aus Elternhäusern, in welchen nicht mehr viele Formen des jüdischen Ritus, jüdischer Tradition und Inhalte der Religion gepflegt sowie auch keine besonders große Nähe zum Zionismus gesucht werden. Es gibt in dieser Gruppe somit wahrscheinlich einen vergleichsweise hohen Anteil an Kindern aus Familien, in denen jene Formen des assimilatorischen bis säkularen und reformierten Judentums dominieren, welche bis zur Schoa in Deutschland vorherrschend waren.72 Tab. 2: Aussagevarianten (Standardisiert)

Nennungen

Anteil an in Israel Anteil an allen so Geborenen Antwortenden

Kinder mit Antworten der Kategorie Religion insgesamt die Religion / der Glaube ist anders ich weiß nicht / keine Ahnung / leer gelassen Beschneidung / Brit Milah (vs. Taufe) Christen haben schlechtere Charaktereigenschaften / Erziehung / Verhaltensweisen Christen glauben (neben Gott auch) an Jesus / Christus / Trinität etc. jüd. Kinder gehen in die Synagoge, christliche in die Kirche neutral: Christen haben andere Einstellung, Charaktermerkmale, Erziehung, Interessen koschere Ernährung jüdische Kinder sehen anders aus / sind in anderer körperlicher Verfassung Tragen der Kippa / Kopfbedeckung Bar Mitzwah (vs. Konfirmation / Kommunion / Einsegnung) Juden gehen freitags/samstags beten / halten Schabbat (-verbote), Christen sonntags jüdische Kinder denken an / behandeln / streben nach Israel Verbundenheitsgefühl der Juden als Religions- u./o. Volksgemeinschaft anderes Gebet / andere Gebetsinhalte

55

55,00 %

33,54 %

24 20

24,00 % 20,00 %

32,00 % 44,44 %

13 10

13,00 % 10,00 %

36,11 % 34,48 %

9

9,00 %

52,94 %

9

9,00 %

39,13 %

7

7,00 %

43,75 %

5 4

5,00 % 4,00 %

38,46 % 50,00 %

4 3

4,00 % 3,00 %

50,00 % 33,33 %

3

3,00 %

25,00 %

3

3,00 %

33,33 %

3

3,00 %

33,33 %

2

2,00 %

25,00 %

72 Vgl. dazu Wolffsohn [u.a.], Deutschland (wie Anm. 62), S. 90, 99, 120.

392  Matthias Springborn

Aussagevarianten (Standardisiert)

Nennungen

Anteil an in Israel Anteil an allen so Geborenen Antwortenden

Christen haben bessere Charaktereigenschaften / Erziehung / Verhaltensweisen es gibt keinen Unterschied Juden beziehen sich aufs AT, Christen auch aufs NT Juden sind traditionsgebundener jüdische Kinder haben geringere(s) Religionsgebundenheit / Interesse an Religion möchte explizit keine Aussage tätigen jüdische Kinder profitieren von besseren Gemeindestrukturen / sozialen Bemühungen Soziokulturelle Lebenssituation von Juden in der Diaspora unterschiedliche Feiertage / Riten zu bestimmten Feiertagen Antwort über „Deutsche“ statt Christen

2

2,00 %

33,33 %

1 1

1,00 % 1,00 %

14,29 % 25,00 %

1 1

1,00 % 1,00 %

50,00 % 50,00 %

1 0

1,00 % 0,00 %

100,00 % 0,00 %

0

0,00 %

0,00 %

0

0,00 %

0,00 %

3

3,00 %

37,50 %

In West- und Ostdeutschland geborene Kinder Knapp vor der in Israel Geborenen bildet die Gruppe der in West- und Ostdeutschland Geborenen mit 105 Kindern (38,32 %) die größte Gruppe aus Oppenheimers Studie.73 Obwohl im geteilten Deutschland geboren, verfügen auch sie zumeist über Migrationserfahrung in den Familien, da die wenigsten Eltern im Untergrund oder dem relativen Schutz einer sogenannten „Mischehe“ im nationalsozialistischen Deutschland die Schoa überleben konnten. Auch in dieser Gruppe ist bei einigen Kindern durch die Familie ein israelischer Einfluss gegeben. Jedoch ist in dieser Gruppe eine Rückkehr von Eltern aus Israel/Palästinensischem Mandatsgebiet schon vor der Geburt des Kindes und damit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgt, womit in den meisten Fällen eine Sozialisation inmitten jüdischer Gemeinden und Organisationen Palästinas bzw. des jungen Staates Israel ausgeblieben ist. Im geteilten Deutschland nach dem Weltkrieg geborene jüdische Kinder erlebten persönlich somit fast nur die Minderheitensituation der schwach ausgebildeten und relativ kleinen jüdischen Gemeinden der Nachkriegszeit Deutschlands. Den seit 1948 existierenden jüdischen Staat dagegen kannten sie lediglich aus Erzählungen, Fotos, Bildern, Texten, Filmen, 73 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52.

Evaluation jüdischen Kinderwissens



393

Besuchen etc. Wie im Folgenden aufgezeigt wird, hatten diese unterschiedlichen Voraussetzungen für die Sozialisation der Kinder offenbar einen Einfluss auf ihre Einstellungen, Prioritäten und Wissensbestände, auch bezogen auf das Judentum. Bei der in West- und Ostdeutschland geborenen Großgruppe handelt es sich um die Gruppe, die sich am häufigsten negativ über nichtjüdische Kinder äußert. 13 Kinder (44,83 % von dieser Antwortvariante) erwähnen entweder schlechtere Charaktereigenschaften, Erziehung und Verhaltensweisen von christlichen Kindern oder heben umgekehrt bessere Eigenschaften von jüdischen Kindern hervor. Damit ist fast jedes zweite Kind, das negative Eigenschaften über christliche Kinder formuliert, im geteilten Deutschland geboren. Zugleich zeigen sich damit auch für diese Gruppe charakter- und verhaltensbezogene Antworten als beliebt.74 Allerdings gibt es aus dieser Gruppe auch mehrere überrepräsentative Antworten aus dem religiösen Bereich. So sind von den Kindern, die den Gang zur bzw. das Gebet in der Synagoge erwähnen, elf Kinder in West- oder Ostdeutschland geboren. Auch die jüdischen Speisegesetze, z.B. die koschere Ernährung wird besonders von der im geteilten Deutschland geborenen Gruppe erwähnt. Mit sieben Kindern machen sie über die Hälfte der Kinder aus, welche diese Antwort geben (53,85 %). Vier von den insgesamt neun Kindern, die das Verbundenheitsgefühl der Juden als Religions- oder Volksgemeinschaft erwähnen, stammen aus dieser Gruppe. Und mit ebenfalls vier Kindern aus der in der Bundesrepublik oder DDR geborenen Gruppe sind es fast alle von den insgesamt fünf Kindern aus Oppenheimers Studie, die unterschiedliche Feiertage bzw. Feiertagsriten erwähnen.75 Bei mehreren Antwortvarianten entspricht die Anzahl der Antwortenden aus dieser Gruppe prozentual ihrer Kopfzahl, welche 38,32 % beträgt. Dies ist wie auch die anderen Ergebnisse der nachfolgenden Tabelle zu entnehmen. Die prozentualen Werte der in West- und Ostdeutschland Geborenen zeigen somit im Gesamtbild, dass religiös ausgerichtete Antworten v.a. von dieser Gruppe gegeben wurden. Vom Besuch der Synagoge, dem Verbundenheitsgefühl der Juden als Gemeinschaft, dem koscheren Essen, bis hin zur Abgrenzung vom christlichen Gebet zu Jesus Christus, gibt es in dieser Gruppe erhöhte Werte. Zugleich zeichnet in dieser Gruppe ein höherer Anteil an Kindern ein negatives Bild von christlichen Kindern oder schreibt zumindest einzelne negative Eigenschaften christlichen Kindern zu. Zu vermuten ist daher, dass diese im Vergleich zur in Israel gebürtigen Gruppe abweichenden Werte in den unterschiedlichen persönlichen und familiären Erfahrungen sowie den in den 74 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52. 75 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52.

394  Matthias Springborn

Familien jeweils vorherrschenden Strömungen begründet liegen. Das heißt erstens, dass diese Kinder durch ihr Geburtsland über mehr Zeit für das Sammeln persönlicher negativer wie positiver Erfahrungen mit einer nicht-jüdischen Mehrheitsbevölkerung verfügten, einer Bevölkerung, in welcher antisemitische Stereotype noch weit verbreitet waren. Zweitens ist zu vermuten, dass sich unter der in Israel geborenen Gruppe ein erhöhter Anteil an Kindern von ehemals deutsch-jüdischen Rückkehrern und damit eher säkularen und reformjüdischen Familien befand. Und drittens herrscht in der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichtsschreibung die Überzeugung vor, dass zumeist aus Ost(mittel) europa stammende jüdische Displaced Persons und ihre Nachkommen den Großteil der jüdischen Bevölkerung Nachkriegsdeutschlands bis zur Wendezeit ausmachten. Bei den Eltern der in West- und Ostdeutschland gebürtigen Gruppe ist daher neben wenigen sehr frühen Rückkehrern, Überlebenden des sogenannten Untergrundes und anderen ein erheblicher Anteil an jüdischen DPs zu vermuten. Das ist auch Oppenheimers Vermutung, der v.a. in der Gruppe der Münchener, d.h. der im Münchner und allgemein süddeutschen Raum geborenen Kinder, Nachkommen von DPs vermutet.76 Jüdische DPs wiederum hingen mehrheitlich anderen als den bis zum Holocaust in Deutschland vorherrschenden reformorientierten und säkularen Strömungen an. Bei ihnen waren konservative bis orthodoxe Strömungen weit stärker verbreitet, häufig verbunden mit einer stärkeren jüdisch-nationalen bis zionistischen Gesinnung. Darin kann ein Grund für die bei dieser Großgruppe vermehrt auftretenden religiös orientierten Antworten liegen. Zugleich kann die direkte Erfahrung der Schoa durch einen Großteil der Elterngeneration und der weiteren Familie dieser Gruppe bei den Kindern dazu beigetragen haben, besonders häufig negative Antworten über christliche (nicht selten: „die deutschen“) Kinder zu formulieren. Tab. 3: Aussagevarianten (Standardisiert)

Nennungen

Anteil an in Deutschland Geborenen

Anteil an allen so Antwortenden

Kinder mit Antworten der Kategorie Religion insgesamt die Religion / der Glaube ist anders ich weiß nicht / keine Ahnung / leer gelassen Beschneidung / Brit Milah (vs. Taufe)

66

62,86 %

40,24 %

28 16 13

26,67 % 15,24 % 12,38 %

37,33 % 35,56 % 36,11 %

76 Vgl. Oppenheimer, Jugend i(wie Anm. 1), S. 25.

Evaluation jüdischen Kinderwissens 

395

Aussagevarianten (Standardisiert)

Nennungen

Anteil an in Deutschland Geborenen

Anteil an allen so Antwortenden

Christen haben schlechtere Charaktereigenschaften / Erziehung / Verhaltensweisen jüd. Kinder gehen in die Synagoge, christliche in die Kirche Christen glauben (neben Gott auch) an Jesus / Christus / Trinität etc. koschere Ernährung neutral: Christen haben andere Einstellung, Charaktermerkmale, Erziehung, Interessen Juden gehen freitags/samstags beten / halten Schabbat (-verbote), Christen sonntags jüdische Kinder denken an / behandeln / streben nach Israel Soziokulturelle Lebenssituation von Juden in der Diaspora Verbundenheitsgefühl der Juden als Religionsu./o. Volksgemeinschaft unterschiedliche Feiertage / Riten zu bestimmten Feiertagen Bar Mitzwah (vs. Konfirmation / Kommunion / Einsegnung) es gibt keinen Unterschied anderes Gebet / andere Gebetsinhalte jüdische Kinder sehen anders aus / sind in anderer körperlicher Verfassung Tragen der Kippa / Kopfbedeckung Christen haben bessere Charaktereigenschaften / Erziehung / Verhaltensweisen Juden beziehen sich aufs AT, Christen auch aufs NT jüdische Kinder haben geringere(s) Religionsgebundenheit / Interesse an Religion Juden sind traditionsgebundener jüdische Kinder profitieren von besseren Gemeindestrukturen / sozialen Bemühungen möchte explizit keine Aussage tätigen Antwort über „Deutsche“ statt Christen

13

12,38 %

44,83 %

11

10,48 %

47,83 %

7

6,67 %

41,18 %

7 6

6,67 % 5,71 %

53,85 % 37,50 %

5

4,76 %

41,67 %

5

4,76 %

55,56 %

5

4,76 %

55,56 %

4

3,81 %

44,44 %

4

3,81 %

80,00 %

3

2,86 %

33,33 %

3 3 3

2,86 % 2,86 % 2,86 %

42,86 % 37,50 % 37,50 %

3 3

2,86 % 2,86 %

37,50 % 50,00 %

1

0,95 %

25,00 %

1

0,95 %

50,00 %

1 1

0,95 % 0,95 %

50,00 % 50,00 %

0 3

0,00 % 2,86 %

0,00 % 37,50 %

396  Matthias Springborn

Außerhalb Deutschlands und Israels geborene Kinder Neben der in Israel und dem Britischen Mandatsgebiet geborenen sowie der im geteilten Deutschland zur Welt gekommenen Gruppe, gibt es in Oppenheimers Studie schließlich auch einen größeren Anteil an Kindern, die in diversen anderen Ländern weltweit geboren wurden. Diese große, mehrere Kontinente umfassende Streuung ist als Resultat der Judenverfolgung in Europa während des Bestehens und Angriffskrieges der nationalsozialistischen Diktatur anzusehen, in dessen Folge ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung Europas ins Ausland floh. Diese Gruppe macht den geringeren Teil der insgesamt 274 Kinder aus, bildet jedoch mit 25,18 % eine signifikante Größe, prozentual rund elf Prozentpunkte kleiner als die in Israel geborene und 13 Prozentpunkte kleiner als die im geteilten Deutschland geborene Gruppe.77 Sie ist zudem – mehr noch als die beiden größeren Gruppen – durch die große Streuung der Herkunftsgebiete äußerst heterogen in ihren sprachlich-kulturellen und diskursiven Einflüssen. Die große Bandbreite der Geburts- und Herkunftsländer bringt somit sehr unterschiedliche Sprachvoraussetzungen, kulturelle Prägungen und gesellschaftliche Erfahrungen mit sich. Für die Analyse in diesem Beitrag sollen diese Kinder dennoch gedanklich in einer Gruppe zusammengefasst werden, da trotz ihrer Heterogenität die Gemeinsamkeiten gerade auch in dem Nichtvorhandensein von Faktoren existieren, welche in der Gegenüberstellung auf die anderen Großgruppen zutreffen. Viele Geburtsländer der Kinder dieser Gruppe sind Länder, die bis zur Judenverfolgung in Europa im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs keine besonders große jüdische Bevölkerung vorzuweisen hatten und dafür als typische Länder des jüdischen Exils im 20. Jahrhundert bekannt sind, z.B. China oder Südafrika. Es ist daher davon auszugehen, dass die Kinder dieser Studie aus diesen Ländern aus Rückkehrer-Familien und nicht aus dort seit Generationen ansässigen Familien stammen. Weitere vertretene Geburtsländer besaßen zwar auch schon vor der Verfolgung eine mindestens signifikante Größe an jüdischer Bevölkerung, sind aber ebenfalls als typische Länder des Exils bekannt, z.B. Dänemark, Schweden, Frankreich oder die USA, was ebenfalls einen Rückkehrer-Hintergrund sehr wahrscheinlich macht. Im Gegensatz also zu der in Israel geborenen Gruppe, fand die Rückkehr nicht aus dem einzigen jüdischen Staat mit seinen schon vor der Staatsgründung ausgeprägten jüdischen Organisationen, Bildungsstätten, Kulturaktivitäten usw. statt, sondern aus Ländern, in welchen Organisationen dieser Art weit schwächer ausgeprägt und verbreitet waren. Zudem waren es Länder, in denen Konkurrenz zu Einflüssen aus einem nicht-jüdischen Mehrheitsumfeld bestand. Und anders als bei Rückkehrern der 77 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52.

Evaluation jüdischen Kinderwissens



397

Gruppe der im geteilten Deutschland Geborenen fand die Rückkehr nicht schon vor der Geburt statt. Die Kinder dürften daher zum Teil noch Einflüsse aus ihren Geburtsländern auch persönlich erfahren haben. Daneben gibt es schließlich innerhalb dieser Gruppe auch Kinder, die aus ost(mittel)europäischen Ländern stammen, d.h. aus Ländern die traditionell bis zur Schoa eine große jüdische Bevölkerung aufzuweisen hatten, nach dem Krieg unter kommunistische Herrschaft gerieten und die nicht als Exil-, sondern als Herkunftsländer bekannt sind. Dazu zählen v.a. Polen, daneben Rumänien, Lettland oder Ungarn. So schreiben Atina Grossmann und Tamar Lewinsky: „Die mit der Zeit größte Gruppe unter den DPs bildeten nicht die wenigen Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager, sondern repatriierte polnische Juden, die nach einem harten […] Aufenthalt in der Sowjetunion aus Polen gen Westen geflohen waren.“78 So sei bis Ende 1946 die Zahl der jüdischen Überlebenden in Polen auf 200.000 Personen angestiegen, wovon 180.000 unmittelbar nach Kriegsende zurückgekehrt seien.79 Prozentual machen die ost(mittel)europäischen jüdischen Kinder in der Oppenheimer-Studie ungefähr 11 % aus, nicht ganz die Hälfte der an dieser Stelle behandelten Großgruppe.80 Sie bringen Erfahrungen mit, die sich von anderen unterscheiden, etwa in der familiären Erfahrung einer kommunistisch-autoritären und antireligiösen Staatlichkeit oder in der Erfahrung des Anstiegs antisemitischer Ausfälle und Angriffe im Osteuropa der Nachkriegszeit. Als ein antisemitisches Nachkriegspogrom ist beispielsweise das Pogrom von Kielce/Polen am 4. Juli 1946 bekannt geworden, bei welchem über 40 Juden, die erst kurz zuvor den Holocaust überlebt hatten, von polnischen Milizionären und Nachbarn ermordet wurden. Ein Ereignis, das den Exodus von Juden aus Polen erheblich verstärkte und allein in den drei Folgemonaten 60.000 Juden in das von den Alliierten besetzte Deutschland und Österreich fliehen ließ, wo sie häufig als Displaced Persons galten.81 Es zeigt sich mit Blick auf die in Oppenheimers Studie generierten Antworten der Kinder, dass diese Voraussetzungen offenbar zu einer anderen Schwerpunktsetzung führten als es bei den anderen beiden Großgruppen der Fall war. So zeigte keine der anderen Gruppen einen überproportionalen Anteil an der ungenauen Antwortvariante die Religion bzw. den Glaube sei verschieden. Hier ist dies nun mit 30,66 % der Fall, im Vergleich zum Anteil von 25,18 % an der Gesamtgruppe der 274 Kinder.82 Auch bei der Aussage „es gibt keinen Unter78 Grossmann, Zwischenstation (wie Anm. 64), S. 87. 79 Vgl. Grossmann, Zwischenstation (wie Anm. 64), S. 88. 80 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52. 81 Vgl. Georg, Karoline: Der jüdische Exodus aus Polen 1945/46. In: Medaon – Magazin für Jüdisches Leben in Forschung und Bildung 2 (2008). S. 1. 82 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52.

398  Matthias Springborn

schied“ ist diese Gruppe mit einem Anteil von 42,86 % genauso stark vertreten wie die kopfzahlmäßig überlegene Gruppe der im geteilten Deutschland Geborenen. Beliebt zeigen sich auch viele der schon oben angeführten Antwortvarianten religiöser Ausrichtung. Mit 33,33 % haben sie einen erhöhten Anteil bei der Erwähnung des Schabbat, ebenfalls 33,33 % in Bezug auf Bar- bzw. Bat Mitzwa, 37,5 % in Bezug auf Gebetsformen und -inhalte. Mit zwei Kindern sind es die Hälfte derjenigen aus der Studie, die das Alte und Neue Testament zur Sprache bringen. Neben religiösen Antworten wie diesen sind überproportional auch Antworten zur soziokulturellen Lebenssituation von Juden in der Diaspora beliebt.83 Allerdings zeigt sich im Hinblick auf die religiös orientierten Antworten, dass es v.a. inhaltlich orientierte Antworten sind, die in dieser Gruppe erwähnt werden: Schabbat, das Gebet, Bar Mitzwa, Altes und Neues Testament. Rein bis eher äußerlich geprägte religiöse Sachverhalte zeigen sich dagegen, mit Ausnahme der Beschneidung, als unbeliebt. Nur ein Kind aus der dritten Großgruppe erwähnt das koschere Essen.84 Gering ist auch der Anteil bei der Erwähnung der Synagoge und der Kippa. Diese Tendenz, welche äußerlich signifikanten Dingen weniger Wichtigkeit einräumt, zeigt sich auch darin, dass die Erwähnung von körperlichen und charakterlichen Eigenschaften in dieser Gruppe zwar mehrfach vorkommt, aber prozentual gesehen ebenfalls unterrepräsentiert ist.85 Im Gesamtbild kann daher beispielsweise aus den inhaltlich-religiösen Aussagen dieser Gruppe abgelesen werden, dass es innerhalb der Gruppe einen größeren Anteil gibt, der sich mit grundständigen Inhalten der jüdischen Religion auskennt und diese als wesentliche Merkmale in der Abgrenzung zur christlichen Religion bestimmt. Dass religiös-inhaltliche Aussagen in dieser Gruppe überproportional vertreten sind, kann somit ein Hinweis auf einen größeren Anteil an mehr oder minder religiös erzogenen Kindern sein, während die in der Gruppe der in Israel zur Welt Gekommenen durch einen größeren Anteil an säkularen und sich an Äußerlichkeiten orientierenden Aussagen auffällt. Bei dieser Gegenüberstellung bleibend zeigt sich auch eine im Vergleich nicht besonders hervorstechende Orientierung nach Israel bei den außerhalb West- und Ostdeutschlands und Israels geborenen Kindern und eine größere Bedeutung der Probleme und Lebenssituation in der Diaspora. Während Ersteres zunächst dem Umstand Rechnung trägt, dass die Rückkehrer-Eltern sich innerhalb der Gruppe nicht für die Alija, sondern eben für die Rückkehr ins geteilte Deutsch83 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52. 84 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52. 85 Vgl. ZEGJD, B.1/11, Zg. 94/08, Nr. 45–52.

Evaluation jüdischen Kinderwissens 

399

land entschieden haben, ist Letzteres ein Ausdruck der Lebensrealitäten der Kinder und ihrer Familien vor, nach und während des Exils. Die religiöse Tendenz wiederum dürfte maßgeblich auf die ost(mittel)europäisch geprägte Untergruppe und weniger die Rückkehrer zurückzuführen sein, was im Rahmen dieses Beitrags nicht mehr näher untersucht werden kann. Tab. 4: Typ der Aussage (Standardisiert)

Nennungen

Anteil an dieser Gruppe

Anteil an allen so Antwortenden

Kinder mit Antworten der Kategorie Religion insgesamt die Religion / der Glaube ist anders Beschneidung / Brit Milah (vs. Taufe) ich weiß nicht / keine Ahnung / leer gelassen Christen haben schlechtere Charaktereigenschaften / Erziehung / Verhaltensweisen Juden gehen freitags/samstags beten / halten Schabbat (-verbote), Christen sonntags Soziokulturelle Lebenssituation von Juden in der Diaspora jüd. Kinder gehen in die Synagoge, christliche in die Kirche Bar/Bat Mitzwah (vs. Konfirmation / Kommunion / Einsegnung) es gibt keinen Unterschied anderes Gebet / andere Gebetsinhalte neutral: Christen haben andere Einstellung, Charaktermerkmale, Erziehung, Interessen Verbundenheitsgefühl der Juden als Religions- u./o. Volksgemeinschaft Juden beziehen sich aufs AT, Christen auch aufs NT Christen glauben (neben Gott auch) an Jesus / Christus / Trinität etc. koschere Ernährung jüdische Kinder denken an / behandeln / streben nach Israel jüdische Kinder sehen anders aus / sind in anderer körperlicher Verfassung Tragen der Kippa / Kopfbedeckung unterschiedliche Feiertage / Riten zu bestimmten Feiertagen

43

62,32 %

26,22 %

23 10 9 6

33,33 % 14,49 % 13,04 % 8,70 %

30,66 % 27,78 % 20,00 % 20,69 %

4

5,80 %

33,33 %

4

5,80 %

44,44 %

3

4,35 %

13,04 %

3

4,35 %

33,33 %

3 3 3

4,35 % 4,35 % 4,35 %

42,86 % 37,50 % 18,75 %

2

2,90 %

22,22 %

2

2,90 %

50,00 %

1

1,45 %

5,88 %

1 1

1,45 % 1,45 %

7,69 % 11,11 %

1

1,45 %

12,50 %

1 1

1,45 % 1,45 %

12,50 % 20,00 %

400  Matthias Springborn

Typ der Aussage (Standardisiert)

Nennungen

Anteil an dieser Gruppe

Anteil an allen so Antwortenden

Christen haben bessere Charaktereigenschaften / Erziehung / Verhaltensweisen jüdische Kinder haben geringere(s) Religionsgebundenheit / Interesse an Religion jüdische Kinder profitieren von besseren Gemeindestrukturen / sozialen Bemühungen Juden sind traditionsgebundener möchte explizit keine Aussage tätigen Antwort über „Deutsche“ statt Christen

1

1,45 %

16,67 %

1

1,45 %

50,00 %

1

1,45 %

50,00 %

0 0 2

0,00 % 0,00 % 2,90 %

0,00 % 0,00 % 25,00 %

Fazit Oppenheimer trat 1967 durch die Publikation seiner Jugendstudie mit einer bis heute rezipierten Analyse von Wissensbeständen und Selbstverständnissen unter jüdischen Kindern in der Bundesrepublik Deutschland hervor. Dabei folgte er aktuellen Trends der Sozialforschung. Die thematische Ausrichtung seiner Studie war stark biografisch inspiriert und bei der Erstellung seiner Mikrodatensammlung waren seine professionellen und persönlichen Kontakte im Bereich der Betreuung jüdischer Kinder hilfreich. Ohne Kooperation der ZWST und der von ihr veranstalteten Ferienlager hätte die Studie nicht in der Form und diesem Umfang durchgeführt werden können. Der Durchführungsort und das Netzwerk strukturierten die Durchführung im Voraus. Aber auch die Wahl des Mediums seiner Befragung, die Formulierung seines Fragenkatalogs, die Art der Überwachung während der Beantwortung, einleitende Erklärungen und die Ausübung sanften Drucks für die Anhebung der Antwortenquote waren sowohl Ausdruck von Oppenheimers eigenen Wissensbeständen und Weltsichten als auch vorstrukturierende Faktoren für die individuellen Äußerungen der Kinder. Die eigenständige Rolle der Kinder als Akteurinnen und Akteure des Wissens zeigt sich u.a. durch die Nutzung von Spielräumen bei der Art der Beantwortung, durch das Hervorbringen von sozial, offenbar allein untereinander erlernten Wissensbeständen in Form von Gerüchten und Verallgemeinerungen über nichtjüdische Kinder oder die eigene, jüdische Gruppe von Kindern sowie durch ihre mal mehr, mal weniger umfangreichen Antworten selbst, die Ausdruck ihres Selbst- und Weltwissens waren. Die von Zeithistorikern wie Raphael angemahnte, an diesem Beispiel durchgeführte Sekundäranalyse von Mikrodaten zeigt hierbei zunächst auf, dass Op-

Evaluation jüdischen Kinderwissens



401

penheimers Fragestellung nach dem prägnanten Unterschied zwischen jüdischen und christlichen Kindern und damit sein Versuch eines Einblicks in die Selbstverortung und jüdische Identität der befragten Kinder eine große Bandbreite an Aussagen produziert, die jeweils für sich genommen als Ausdruck der individuellen Lebensrealität, Wissens- und Vorstellungswelt der Kinder angesehen werden können. Die stärkere Differenzierung der zu untersuchenden Gruppe nach ihrer Geburtsregion macht es möglich, die unterschiedlichen durch Migration bedingten Hintergründe der Kinder und ihrer Familien in Beziehung zu den generierten Aussagen zu setzen. Das Ergebnis zeigt, dass ein vermuteter Zusammenhang zwischen der mit der Geburt zusammenhängenden Herkunft und der Vorstellung und Wertung von Judentum zu existieren scheint, denn die drei untersuchten Großgruppen zeigen unterschiedliche Schwerpunktsetzungen in ihren Aussagen. So ist bei der in Israel und dem Britischen Mandatsgebiet Palästina geborenen Gruppe zu erkennen, dass religiös-inhaltlich ausgerichtete Aussagen eine geringere Rolle spielen. Sind bei der durchaus auf Religion abzielenden Frage Oppenheimers religiöse Aussagen insgesamt bei allen Gruppen stark vertreten, so scheinen diese für die Gruppe der in Israel Geborenen jedoch weniger Gewicht zu haben. Stattdessen zeigen sich im Vergleich größere säkulare und eher jüdisch-nationale als jüdisch-religiöse Tendenzen bei dieser Gruppe. Auch Antworten, die auf Charakter und Aussehen sowie auf eine geäußerte neutrale Haltung zum Christentum abzielen, sind hier überproportional vertreten. Die nächstliegende Erklärung für dieses Phänomen scheint ein großer Anteil an deutsch-kulturellen, sogenannten Rückkehrern in dieser Gruppe zu sein, d.h. von Kindern aus eher säkularen und dem Reformjudentum anhängenden, bis assimilierten Familien, die das Land vorrangig wegen der Verfolgung durch die Nationalsozialisten und deren Verbündeten Richtung Palästina verlassen hatten und weniger aus einer zionistischen Überzeugung heraus. Die Mehrheit der Juden Nachkriegsdeutschlands rekrutierte sich jedoch aus sogenannten Displaced Persons, die zum allergrößten Teil aus Ost(mittel) europa stammten und aus deren Nachkommen. Deren Wirkung scheint sich v.a. in der zweiten und zahlenmäßig größten Gruppe der im geteilten Deutschland Geborenen zu entfalten. Denn die Aussagen dieser Gruppe sind überproportional häufig auf religiöse Inhalte ausgerichtet und zeichnen ein besonders negatives Bild von christlichen bzw. den deutschen Kindern. Dies wiederum wäre auf die bis 1945 in Ost(mittel)europa dominanten orthodoxen und zionistischen Traditionen des Judentums, die Erfahrung der Schoa durch die aus diesen Regionen stammenden Familien und die Tatsache des längeren Umgangs mit nichtjüdischen Deutschen seit der Geburt zur Nachkriegszeit bis zur Durchführung der Studie Anfang der 1960er Jahre zurückzuführen. Zudem äußert sich die in West- und Ostdeutschland geborene Gruppe am häufigsten mit einem Bezug zu

402  Matthias Springborn

Israel, was ebenfalls eine zionistische Orientierung des Kindes und seiner Familie nahelegt. Auch dies ist eher ein Hinweis auf Kinder von DPs als auf nicht aus Israel kommende Rückkehrer. Die dritte der untersuchten Gruppen umfasst alle anderen außerhalb Deutschlands und Israels geborenen Kinder, die sich ebenfalls etwa zur Hälfte aus Rückkehrern rekrutieren dürfte und zur anderen Hälfte aus ost(mittel)europäischen Nachkriegsflüchtlingen. Wie bei der im geteilten Deutschland geborenen Gruppe ist auch hier ein besonders hoher Anteil religiöser Antworten zu finden, allerdings mit eher inhaltlicher als formell-äußerlicher Ausrichtung, während bei den in West- und Ostdeutschland Geborenen viele der religiösen Antworten schlicht auf Äußerlichkeiten wie das Tragen der Kippa abzielen. Trotz der offenbar größeren Nähe zu jüdischen Inhalten wird von der dritten Großgruppe dagegen keine besondere Verbindung zu Israel zum Ausdruck gebracht. Darin besteht ein erheblicher Unterschied zu der im geteilten Deutschland geborenen Gruppe, wo dies am häufigsten erwähnt wird. Gemeinsam haben beide Gruppen wiederum die besondere Erwähnung der Probleme und Lebenssituationen in der Diaspora, ein Umstand, der anhand dieser Aussagen bei den in Israel Geborenen keine große Rolle spielt. Migrationserfahrungen und unterschiedliche Herkunft haben also, das zeigt diese Untersuchung, Auswirkungen auf die Wissensbestände von Menschen. Gerade weil es so wenig Forschung zum Selbstverständnis jüdischer Jugend in Deutschland gibt, sind Studien wie jene Oppenheimers so wichtig. Die zeithistorische Beschäftigung mit den durch ihn gesammelten Mikrodaten, die hier an einem migrationsbezogenen Aspekt geschieht, zeichnet im Detail ein differenziertes Bild von der migrantischen und wissensweltlichen Zusammensetzung der jüdischen Jugend in der Bundesrepublik der 1960er Jahre und zeigt die Rolle von Kindern als eigenständigen Wissensakteurinnen und -akteuren auf.

Quellen Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland (ZEGJD), B.1/11, Zg. 94/ 08, Nr. 45–52, B.1/13, Nr. 448.

Literatur Bowker, Geoffrey C. u. Susan Leigh Star: Sorting things out. Classification and its consequences. Cambridge/MA, 2000. Brenner, Michael: Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950. München 1995.

Evaluation jüdischen Kinderwissens



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Schmidt-Weil, Jessica: Die Suche nach dem identitätsformenden Potential des Religionsunterrichts in jüdischen Gemeinden in Deutschland. Dissertation. Frankfurt am Main 2007. Tauchert, Stephanie: Jüdische Identitäten in Deutschland. Das Selbstverständnis von Juden in der Bundesrepublik und der DDR 1950 bis 2000. Berlin 2007. Tully, Claus: Jugend – Konsum – Digitalisierung. Über das Aufwachsen in digitalen Konsumwelten. Wiesbaden 2017. Wetzel, Juliane: Jüdische Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland 1945–1957. In: Publizistik in jüdischen Displaced-Persons-Camps im Nachkriegsdeutschland. Charakteristika, Medientypen und bibliothekarische Überlieferung. Hrsg. von Anne-Katrin Henkel u. Thomas Rahe. Frankfurt am Main 2014 (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie – Sonderband 112). S. 21–35. Wolffsohn, Michael u. Thomas Brechenmacher: Deutschland, jüdisch Heimatland. Die Geschichte der deutschen Juden vom Kaiserreich bis heute. München 2008.

Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Maureen Maisha Auma ist seit 2008 Professorin für Kindheit und Differenz (Diversity Studies) an der Hochschule Magdeburg-Stendal, am Standort Stendal. Sie war von Oktober 2014 bis April 2018 Gastprofessorin an der Humboldt-Universität-Berlin, am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien und am Institut für Erziehungswissenschaften, in der Abteilung Historische Bildungsforschung. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Diversität in Bildungsmaterialien in Ost- und Westdeutschland, Sexualpädagogisches Empowerment für Schwarze Menschen und People-of-Color in Deutschland, Kritische Weißseinsforschung, Kindheitsforschung, Intersektionalität im Kontext von Critical Race Theory und Rassismuskritik. Sie ist seit 1993 aktiv bei Adefra, Schwarze Frauen in Deutschland. Anne Bruch, M.A., arbeitet seit 2015 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFGProjekt Der Lehrfilm in der Zwischenkriegszeit. Deutschland, Frankreich und Italien im Vergleich am Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung. In diesem Forschungsprojekt beschäftigt sie sich zum einen mit der Debatte um die Einführung des neuen Mediums „Lehrfilm“ auf nationaler sowie transnationaler Ebene und zum anderen mit der historisch-kulturwissenschaftlichen Erforschung von Wissensbeständen und deren didaktischen Umsetzungen in audiovisuellen Lehrmedien. Zuvor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt Werben für Europa. Die mediale Konstruktion europäischer Identität durch Europafilme am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Integrationsgeschichte und Europastudien an der Universität Hamburg tätig. Alexa Brum war ab 1972 als Lehrerin, Mentorin und Ausbildnerin im staatlichen Schuldienst tätig. Früh spezialisierte sie sich auf die Inklusion und Förderung von Kindern mit verschiedensten, den Regelunterricht herausfordernden Bedürfnissen. Mehrfach nahm sie an von den Kultusministerien initiierten Projekten mit dieser inhaltlichen Zielrichtung teil, entwickelte Konzepte und beriet staatliche Schulen. 1992 übernahm sie die Leitung der I.E. Lichtigfeld-Schule, staatlich anerkannte Schule der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main, zu einer Zeit, als diese sich durch den Zuzug der russisch-jüdischen Migrantinnen und Migranten um die Hälfte ihrer Schülerschaft vergrößerte. In den 20 Jahren ihres Rektorats bis 2014 wurden Konzepte zur Implementation jüdischer Inhalte und Traditionen in Regelunterricht und Schulleben, zur Inklusion sowohl lern-

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schwacher als auch hochbegabter Kinder, zur Vernetzung des Unterrichts mit außerschulischen wissenschaftlichen Institutionen erarbeitet und eine breite Vernetzung mit den Institutionen des staatlichen Schulwesens, der Sozialhilfe und Gesundheitspflege geschaffen. Dr. des. Stefan Esselborn ist seit 2016 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Technikgeschichte der Technischen Universität München (TUM). Seine Dissertation, die unter dem Titel Die Afrikaexperten. Das Internationale Afrikainstitut (IIALC/IAI) und die europäische Afrikanistik, 1926–1976 (im Druck) erscheinen wird, beschäftigt sich mit der Geschichte der spät- bzw. postkolonialen Afrikaforschung aus transnationaler Perspektive. Er forscht unter anderem zur inter- und transnationalen Geschichte, der Geschichte von Wissen, Wissenschaft und Expertise, sowie zur Geschichte von Risiko und technischer Sicherheit. Cornelia Hagemann, M.A., studierte Iranistik an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg und arbeitet seit 2015 in der Leibniz-Wettbewerbgruppe Migration und Bildung in Deutschland seit 1945 am Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung. Sie beschäftigt sich mit Netzwerken und Selbstorganisationen iranischer Migrantinnen und Migranten im Bildungsbereich sowie der Verwendung und Produktion von Lehrmaterialien für den muttersprachlichen Persischunterricht in Deutschland. Lokale, über- und transregionale Austauschprozesse spielen für ihre Forschung ebenso eine Rolle wie die migrantische Selbstverortung und die Neuverhandlung von Fragen iranischer Identität und Zugehörigkeit. Marie Huber, M.A., ist PostDoc-Stipendiatin am Lehrstuhl für afrikanische Geschichte des Instituts für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihrer Dissertation untersuchte sie die Rolle von Entwicklungsländern bei der Entstehung des UNESCO-Welterbeprogramms, aktuell befasst sie sich mit der Geschichte der Luftfahrt im postkolonialen Westafrika. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Internationalen Organisationen und Global Governance, Staatenbildung und Dekolonisation in Afrika, Entwicklungszusammenarbeit im 20. Jahrhundert. Dr. Thomas Kemper ist seit 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wuppertaler Institut für bildungsökonomische Forschung (WIB) an der Bergischen Universität Wuppertal. Im Rahmen seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitseinheit Struktur und Steuerung des Bildungswesens am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt am

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Main zwischen 2008 und 2014 hat er promoviert. In seiner Dissertation setzt er sich mit Bildungsdisparitäten von Schülerinnen und Schülern differenziert nach Staatsangehörigkeit und Migrationshintergrund auseinander – anhand von Daten der amtlichen Schulstatistik wurden schulformspezifische Analysen durchgeführt. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich von Bildung und Migration, Bildungsbeteiligung und -segregation sowie der Messung von Migration in der Schulstatistik. Seine weiteren Arbeitsgebiete sind regionale Bildungsdisparitäten und Inklusionsforschung. Dr. Sascha Krannich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungskolleg der Universität Siegen (FoKoS) und Lehrbeauftragter an der Hochschule Fulda. Er studierte Politikwissenschaft, Wirtschaftspolitik, Soziologie und Volkswirtschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und promovierte als Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung an der dortigen Graduate School of Politics (GraSP). Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Untersuchung internationaler Migrations-, Integrations- und Entwicklungsprozesse. In seinem aktuellen Projekt beschäftigt er sich mit der Frage, inwieweit internationale Studierende in Deutschland zur Entwicklung in ihren Herkunftsländern beitragen können. Im Rahmen seiner Forschungsprojekte unternahm er Forschungsaufenthalte u.a. an der Universidad de Guadalajara in Mexiko, der Princeton University, der University of California, Los Angeles sowie zuletzt an der Atma Jaya-Universität in Jakarta, Indonesien und der Universidad Javeriana in Bogotá, Kolumbien. Dr. Anna Kurpiel, Ethnologin und Kulturanthropologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialwissenschaften im Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europa-Studien an der Universität Wrocław. In ihrer Dissertation an der Universität Wrocław untersuchte sie die Situation makedonischer Flüchtlinge aus dem griechischen Bürgerkrieg, die sich in Niederschlesien niedergelassen hatten. Ihre wissenschaftlichen Interessen gelten der Migrationsforschung, nationalen und ethnischen Minderheiten sowie Fragen des Kulturerbes und der Erinnerungskultur in Niederschlesien nach 1945. Prof. Dr. Simone Lässig ist seit 2015 Direktorin des Deutschen Historischen Instituts in Washington DC. In ihrer Habilitation hat sie sich mit der kulturellen Verbürgerlichung der deutschen Juden im 19. Jahrhundert beschäftigt und während ihrer Zeit als Direktorin des Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung (2006–2015, derzeit beurlaubt), ihre Forschungen zur Geschichte und Gegenwart von Bildung und Bildungsmedien vertieft. Daran anschließend hat sie ihren Schwerpunkt zur Geschichte des Wis-

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sens entwickelt, der am DHI Washington auch mit einem englischsprachigen Blog verbunden ist (historyofknowledge.net). Am 2016/17 gegründeten neuen Standort GHI WEST in Berkeley stehen historische Forschungen zu migrantischem Wissen im Zentrum. Weitere Forschungs- und Arbeitsgebiete sind die Geschichte von Religion und Religiosität, von Familie und Verwandtschaft sowie die Digitale Geschichtswissenschaft. Dr. Monika Mattes ist seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) nach Stationen am Zentrum für Zeithistorische Forschung ZZF (2005–2011) und am Deutschen Historischen Museum DHM (2012–2013). Sie hat sich neben der weiblichen Arbeitsmigration der 1950er bis 1970er Jahre mit der Geschichte der Ganztagsschule und der Gesamtschule in der Bundesrepublik beschäftigt. Ihre Interessens- und Arbeitsschwerpunkte umfassen die Bildungs- und Schulgeschichte des 20. Jahrhunderts sowie, befördert durch ein derzeit in Berlin absolviertes berufsbegleitendes Masterstudium (Library and Information Science LIS), Fragen der Sammlungsund Provenienzforschung. Dr. Stefan Metzger leitet seit Mai 2018 das Referat Migration & Qualifizierung bei der Otto Benecke Stiftung e.V. in Bonn. In diesem Rahmen beschäftigt er sich insbesondere mit den Themen Migration, Integration und Ausbildung. Zuvor promovierte er am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und war Postdoc am Forschungskolleg Zukunft menschlich gestalten der Universität Siegen. Wissenschaftlich setzte er sich insbesondere mit Fragen von transnationaler Migration und der Rolle von Migrantenorganisationen in Aufnahme- und Herkunftsgesellschaften auseinander, u.a. in Deutschland, Frankreich, Marokko und der Türkei. Lars Müller, M.A., Institut für Geschichte, TU Braunschweig, hat in Braunschweig, Cardiff und Wien studiert. Seine Dissertation trägt den Titel Afrikawissen. Diskurse und Praktiken der Schulbuchentwicklung in der Bundesrepublik, der DDR und England, 1945–1995. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Historische Bildungsmedienforschung, Wissensgeschichte sowie die Geschichte des Kolonialismus und der Entwicklungszusammenarbeit. Sebastian Pampuch, M.A., ist seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin, gefördert durch das an der Universität Köln angesiedelte Projekt für Promovierende mit Behinderung PROMI – Promotion inklusive. Zuvor arbeitete er als wissenschaftli-

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cher Bibliothekar im Bereich Forschungsdatenmanagement am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg. Er forscht zu Mitgliedern afrikanischer Oppositions- und Befreiungsbewegungen, die in der DDR im Exil lebten. Matthias Springborn, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Georg-EckertInstitut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig sowie Doktorand am Lehrstuhl für deutsch-jüdische Geschichte der Universität Potsdam. Seine Doktorarbeit beschäftigt sich mit jüdischer Kinderund Jugendbildung in Deutschland seit 1945 aus kulturhistorischer Perspektive. Forschungsschwerpunkte sind die deutsch-jüdische Geschichte, historische Diskursforschung, Bildungs- und Migrationsgeschichte. Dr. Linda Supik ist Soziologin und lehrt derzeit im Bereich Interkulturelle Erziehungswissenschaft an der WWU Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte sind (wissens-)soziologische Perspektiven auf Statistik, Quantifizierung und Messbarkeit von Diversität und Diskriminierung in europäischen Gesellschaften, Antidiskriminierungsrecht und -politik, Intersektionalität und Mehrfachdiskriminierung, sowie Rassismusforschung und -theorie. Zuletzt erschien von ihr das Buch Statistik und Rassismus. Das Dilemma der Erfassung von Ethnizität (2014). Dr. Stephanie Zloch, ist seit 2015 Leiterin der Leibniz-Wettbewerbgruppe Migration und Bildung in Deutschland seit 1945 am Georg-Eckert-Institut – LeibnizInstitut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig, zugleich Habilitandin am Institut für Geschichte der TU Dresden. Nach der Promotion zur Geschichte des polnischen Nationalismus in der Zwischenkriegszeit an der Humboldt-Universität zu Berlin arbeitete sie zu Fragen der Wiedergutmachung von NS-Unrecht und zu Erinnerungsregionen im deutschen, polnischen, russischen und litauischen Kontext. Ihr aktuelles Forschungsinteresse gilt der Verflechtungsgeschichte Deutschlands mit Mittel- und Osteuropa, der Migrationsgeschichte sowie dem historischen Wandel von Raumvorstellungen und Wissensordnungen.