Wirtschaftspolitik: Kognitiv-evolutionärer Ansatz [2., überarb. Aufl. Reprint 2018] 9783486795608, 9783486245585

Dieses Lehrbuch betont neben den traditionellen Inhalten der Wirtschaftspolitik den politischen Entscheidungsprozeß. Ein

270 10 22MB

German Pages 350 [352] Year 1997

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ÜBERSICHT
INHALTSVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
VORWORT ZUR 1. AUFLAGE
VORWORT ZUR 2. AUFLAGE
Kapitel 1. Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftspolitik
Kapitel 2. Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes
Kapitel 3. Der wirtschaftspolitische Prozess: Problementstehung
Kapitel 4. Der wirtschaftspolitische Prozess: Problemzulassung und -definition
Kapitel 5. Problembehandlung I: Akteure und Konstellationen
Kapitel 6. Problembehandlung II: Ablauf
Kapitel 7. Verhandlungen
Kapitel 8. Krisenmanagement
Kapitel 9. Der wirtschaftspolitische Prozess: Implementation und Ergebnis
Kapitel 10. Wirtschaftspolitische Beratung
Kapitel 11. Das Unternehmen im wirtschaftspolitischen Prozess
STICHWORTVERZEICHNIS
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Wirtschaftspolitik: Kognitiv-evolutionärer Ansatz [2., überarb. Aufl. Reprint 2018]
 9783486795608, 9783486245585

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Wirtschaftspolitik Kognitiv-evolutionärer Ansatz

Von

Dr. Alfred Meier o. Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen

Dr. Tilman Slembeck Visiting Research Fellow am University College London

2., überarbeitete Auflage

R. Oldenbourg Verlag München Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Meier, Alfred: Wirtschaftspolitik : kognitiv-evolutionärer Ansatz / von Alfred Meier ; Tilman Slembeck. - 2., Überarb. Aufl. - München ; Wien : Oldenbourg, 1998 ISBN 3-486-24558-9

© 1998 R. Oldenbourg Verlag Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0, Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere f ü r Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Druck: Grafik + Druck, M ü n c h e n Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3 - 4 8 6 - 2 4 5 5 8 - 9

ÜBERSICHT

Kapitel 1 Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftspolitik

1

Kapitel 2 Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes

25

Kapitel 3 Der wirtschaftspolitische Prozess: Problementstehung

59

Kapitel 4 Der wirtschaftspolitische Prozess: Problemzulassung und -definition

83

Kapitel 5 Problembehandlung I: Akteure und Konstellationen

113

Kapitel 6 Problembehandlung II: Ablauf

147

Kapitel 7 Verhandlungen

189

Kapitel 8 Krisenmanagement

223

Kapitel 9 Der wirtschaftspolitische Prozess: Implementation und Ergebnis

241

Kapitel 10 Wirtschaftspolitische Beratung

269

Kapitel 11 Das Unternehmen im wirtschaftspolitischen Prozess

297

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

XIX Kapitel 1 Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftspolitik

1. Gegenstand einer Theorie der Wirtschaftspolitik

1

2. Traditionelle Theorien der Wirtschaftspolitik 2.1. Überblick 2.2. Wirtschaftspolitik als Entscheidungsproblem 2.2.1. Die Logische Struktur wirtschaftspolitischer Probleme 2.2.2. Die Phasen des politischen Prozesses 2.3. Kritik an den traditionellen Theorien 2.3.1. Grundstruktur 2.3.2. Statische Betrachtung 2.3.3. Geringer Erklärungsgehalt

7 7 8 8 11 11 11 12 13

3. Ökonomische Theorie der Politik 3.1. Grundlagen 3.2. Beurteilung

14 14 18

4. Der kognitiv-evolutionäre Ansatz

20

Literaturhinweise zu Kapitel 1

23

Kapitel 2 Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes 1. Ausgangspunkte

25

2. Das kognitive Handlungsmodell 2.1. Grundaussagen des kognitiven Handlungsmodells . . . 2.2. Zusammenfassung der modifizierten Modellannahmen 2.2.1. Begrenzte Rationalität 2.2.2. Veränderliche poltitische Präferenzen 2.2.3. Satisficing-Verhalten 2.2.4. Kollektive Prozesse

26 27 35 35 35 36 36

VIII 3. Das evolutionäre Systembild 38 3.1. Eigenschaften einer Evolutionstheorie 38 3.2. Wirtschaftspolitisches System als evolutionäres System 39 3.2.1. Variation 39 3.2.2. Selektion 40 3.2.3. Bewahrung 40 3.2.4. Beharrungsgleichgewichte 40 4. Übersicht über den wirtschaftspolitischen Prozess 4.1. Problemwahrnehmung auf individueller Ebene 4.2. Vierstufiger Problemlösungsprozess auf kollektiver Ebene 4.2.1. Problementstehung 4.2.2. Problemzulassung und -definition 4.2.3. Entscheidungsphase 4.2.4. Implementation 4.3. Das Ergebnis des wirtschaftspolitischen Problemlösungsverfahrens 4.3.1. Massnahmen und Effekte 4.3.2. Politische Rückwirkungen 4.3.3. Evolutionäre Dynamik

41 42 43 44 45 46 48 51 51 53 53

4.4. Beeinflussung des wirtschaftspolitischen Prozesses durch spezifische Akteure 55 4.4.1. Rolle des Wissenschaftlers 55 4.4.2. Einflussnahme durch Unternehmer und Manager 55 Literaturhinweise zu Kapitel 2

56

Kapitel 3 Der wirtschaftspolitische Prozess: Problementstehung 1. Problemwahrnehmung auf individueller Ebene 59 1.1. Individuelle Unzufriedenheit und Unsicherheit als Ausgangspunkte 60 1.1.1. Unzufriedenheit 60 1.1.2. Unsicherheit 61 1.1.3. Beispiele für die Entstehung von Diskrepanzen . 61 1.1.3.1. Veränderungen der Lage 61 1.1.3.2. Veränderungen der Ordnungsvorstellungen 62 1.2. Die Funktionen der Ordnungsvorstellungen 63

IX

1.3. Wahrnehmung der Lage 1.3.1. Probleme der Beobachtung 1.3.2. Indikatoren und Aussagen 1.3.3. Individuelle Sinngebung 1.3.4. Auswirkungen von Indikatoren bzw. der Interpretationen und Manipulation von Informationen . . .

64 65 65 66 67

2. Problementstehung auf kollektiver Ebene 2.1. Einflussfaktoren der Übertragung auf die kollektive Ebene 2.2. Mobilisierungsprozesse 2.2.1. Manifeste Potentiale 2.2.2. Die Aktivierung der allgemeinen Handlungsbereitschaft 2.3. Grundmuster der kollektiven Problementstehung und Problemtypen 2.3.1. Eliteprobleme 2.3.2. Interessengruppenprobleme 2.3.3. Strukturprobleme 2.3.4. Krisenprobleme 2.4. Typische Entwicklungsmuster von Problemen

68

74 75 76 77 78 79

Wirkung von Filter 1: Problementstehung Literaturhinweise zu Kapitel 3

81 81

68 69 70 71

Kapitel 4 Der wirtschaftspolitische Prozess: Problemzulassung und -definition 1. Problemzulassung durch Agendasetting

83

2. Problemdefinition durch kollektive Sinngebung 2.1. Inhaltliche Problemabgrenzung 2.2. Formale Problemabgrenzung: Routinefall vs. Problemfall 2.3. Funktion von Sinngebungsprozessen: Unsicherheit reduzieren, andere überzeugen

84 84

3. Beeinflussung von Bewusstseinsgrad und Meinungen . . . . 3.1. Aufmerksamkeitsregeln 3.2. Stadien der öffentlichen Meinungsbildung und Meinungsbefragungen

86 87 89 90 90

X

3.3. Rolle der Medien 3.4. Meinungsbeeinflussung

92 92

4. Affektive Aspekte: Ängste und Hoffnungen 4.1. Bedeutung 4.2. Definitionen 4.3. Typologie 4.3.1. Thematische Typologie 4.3.2. Psychologische Typologie 4.4. Bezug zu den Ordnungsvorstellungen 4.5. Bedeutung für die Wirtschaftspolitik

95 95 96 97 97 99 101 101

5. Symbole und Rituale 5.1. Bedeutung 5.2. Verbale und nonverbale Symbole 5.2.1. Verbale Symbole 5.2.2. Nonverbale Symbole 5.2.3. Beispiele verbaler und nonverbaler Symbole . 5.3. Rituale 5.3.1. Beispiele für Rituale und ihre Funktion

102 102 103 103 105 107 108 109

Wirkung von Filter 2: Problemzulassung und -definition . . . . Literaturhinweise zu Kapitel 4

110 110

Kapitel 5 Problembehandlung I: Akteure und Konstellationen 1. Einführung

113

2. Die Akteure

115

3. Quellen von Einfluss

117

4. 4.1. Rollen und Einfluss Einfluss auf Ebene des Individuums 4.2. Einfluss auf Ebene der Akteure

119 119 126

5. Einfluss und Konstellationen in der Schweizer Wirtschaftspolitik 5.1. Grundsätzliches 5.2. Einfluss im schweizerischen politischen System 5.2.1. Kompetenzen

127 127 127 129

XI

5.2.2. Informationen 5.2.3. Verfügungs-und Nutzungsrechte 5.2.4. Schlussfolgerung 5.3. Grundkonstellation des schweizerischen politischen Systems

130 131 131 132

6. Konstellation in der Wirtschaftspolitik der Europäischen Union

137

7. Interessengruppen 7.1. Übersicht 7.2. Leistungen von Interessengruppen 7.2.1. Interne Leistungen 7.2.2. Externe Leistungen 7.2.3. Ordnungsleistungen 7.3. Charakteristika des Einflusses der Interessengruppen 7.4. Kritik am Einfluss der Interessengruppen

139 139 140 142 142 143 144 145

Literaturhinweise zu Kapitel 5

146

Kapitel 6 Problembehandlung II: Ablauf 1. Einführung

147

2. Entscheidungslogische Aspekte 2.1. Entscheidungslogische Grundsequenz 2.2. Wirtschaftspolitische Ziele, Bereiche und Instrumente 2.2.1. Ziele der Wirtschaftspolitik 2.2.2. Bereiche der Wirtschaftspolitik 2.2.3. Massnahmen und Instrumente der Wirtschaftspolitik 2.3. Konflikte und ihre Überwindung als Grundproblem der Wirtschaftspolitik 2.4. Phasen der politischen Steuerung 2.4.1. Diagnose 2.4.2. Prognose 2.4.3. Programmierung 2.4.4. Entscheid 2.4.5. Implementation und Evaluation 2.4.6. Vergleich mit der Praxis

149 149 150 150 152 153 156 160 160 160 160 161 161 161

XII

2.5. Charakteristische (Fehl-)Verhaltensweisen 2.5.1. Mangelnde Zielkonkretisierung 2.5.2. Mangelnde Beachtung von Trade-Offs, Nebenwirkungen und Rückkoppelungen 2.5.3. Reduktive Hypothesenbildung 2.5.4. Mangelnde Erfassung von Entwicklungen 2.5.5. Mangelnde Erfolgskontrolle und Selbstreflexion 2.5.6. Ursachen

164 164 164 165 165 166 167

3. Institutionelle Aspekte 168 3.1. Schweiz 168 3.2. Europäische Union 171 3.3 Zeitliche Verzögerungen: Lags 173 3.3.1. Störungs-und Wahrnehmungs-Lags 173 3.3.2. Diagnose-, Prognose-und Informations-Lags . 173 3.3.3. Programmierungs-und Entscheidungs-Lags . . 1 7 3 3.3.4. Implementations-Lags 174 3.3.5. Wirkungs- und Kontroll-Lags 174 3.3.6. Folgen von Lags 174 3.4 Theoretische Verbesserungsmöglichkeiten 175 3.4.1. Änderungen des politischen Systems 176 3.4.2. Organisatorische Änderungen 176 3.4.3. Methodische Änderungen 176 4. Die Entscheidphase als Mobilisierungsprozess und Filter . 177 4.1. Entscheidvorbereitung 177 4.2. Formaldemokratische Lösung: Abstimmung 179 4.2.1. Parlament 180 4.2.2. Volksabstimmungen 180 4.2.3. Abstimmungsverfahren: Probleme der einfachen Mehrheitsregel 181 Wirkung von Filter 3: Entscheid Literaturhinweise zu Kapitel 6

187 188

Kapitel 7 Verhandlungen

1. Einführung 1.1. Bedeutung von Verhandlungen 1.2. Theoretische Basis

189 189 190

XIII

2. Gründe für Verhandlungen 191 2.1. Verhandlungen aufgrund von Konfliktsituationen . . . . 191 2.2. Verhandlungen aufgrund gemeinsamer Interessen . . 193 3. Das Spannungsfeld zwischen Konflikt und Kooperation . . . 193 3.1. Analyse des Verhandlungsraums 196 3.2. Unsicherheit und Strategien 197 3.2.1. Unsicherheit über den Nutzenverlauf 197 3.2.2. Unsicherheit über den status quo und Alternativen 198 3.2.3. Unsicherheit über mögliche Lösungen und die Pareto-Grenze 199 4. Verhandlungsabiauf 4.1. Verhandlungsphase I: Interessendarstellung 4.1.1. Übersicht 4.1.2. Strategien in der Eröffnungsphase 4.1.3. Determinanten für den Grad von Unsicherheit bei Verhandlungsbeginn 4.1.4. Verhandlungskonstellationen 4.2. Verhandlungsphase II: Interessenausgleich 4.2.1. Übersicht 4.2.2. Strategien des Interessenausgleichs 4.2.3. Verhandlungen als Tauschbeziehungen 4.2.4. Umgang mit Emotionen, Symbole und Rituale . 4.3. Verhandlungsphase III: Legitimation des Ergebnisses 4.3.1. Übersicht 4.3.2. Verhandlungserfolg

202 202 202 203 203 209 210 210 210 214 215 216 216 216

5. Verhalten der Verhandlungspartner 5.1. Situation von Verhandlungsführern 5.2. Arten von Verhandlungspartnern 5.3. Regeln der Verhandlungsführung

217 217 217 218

6. Verhandlungen im Überblick

221

Literaturhinweise zu Kapitel 7

222

XIV

Kapitel 8 Krisenmanagement 1. Einleitung

223

2. Entstehung von Krisenproblemen 2.1. Diskrepanzen als Voraussetzung 2.2. Definition 2.3. Auslösung von Krisen 2.3.1. Kumulative Prozesse 2.3.2. Einzelhandlungen und -entwicklungen 2.3.3. Charakteristika des Auftretens von Krisen . . . .

225 225 227 227 228 228 229

3. Krisen und Konstellationen 3.1. Determinanten der Aus/Lösung von Krisen 3.2. Die Rolle des politischen Systems 3.2.1. Zentralistische Systeme 3.2.2. Dezentrale Systemeder

230 230 231 232 233

4. Wirtschaftspolitische Instrumente und Krisenmanagement 4.1. Grundlegende wirtschaftspolitische Instrumente 4.2. Techniken des Krisenmanagements

233 233 234

5. Ergebnisse von Krisen

239

Literaturhinweise zu Kapitel 8

240

Kapitel 9 Der wirtschaftspolitische Prozess: Implementation und Ergebnis 1. Einführung

241

2. Implementationsprozesse 2.1. Determinanten für den Ablauf des Implementationsprozesses 2.1.1. Freiheitsgrade einer Massnahme 2.1.2. Einschränkungen vs. Erweiterungen der Handlungsspielräume der Adressaten 2.2. Implementation als Sinngebungs- und Verhandlungsprozess

243 244 244 245 246

XV

2.2.1. Sinngebung und asymmetrische Information . . 247 2.2.2. Kooperationsbereitschaft und Verhandlungen . 249 2.3. Mögliche Verallgemeinerungen 251 2.3.1. Thesen zu Sinngebungs- und Verhandlungsprozessen 251 2.3.2. Thesen zum Verhältnis zwischen Regulator und Regulierten 252 2.3.3. Thesen zu den Bedingungen erfolgreicher Implementation 253 Wirkung von Filter 4: Implementation

254

3. Ergebnis des wirtschaftspolitischen Prozesses 3.1. Reale und symbolische Massnahmen 3.2. Reale und virtuelle Effekte 3.3. Politische Rückwirkungen 3.3.1. Ebene der Individuen 3.3.2. Ebene des kollektiven Problemlösungsprozesses 3.3.3. Konstitutionelle Ebene 3.3.4. Evolution, Lernprozesse, Gleichgewichte und Pfadabhängigkeit 3.3.5. Dysfunktionen?

254 254 256 257 258

Literaturhinweise zu Kapitel 9

267

259 263 264 266

Kapitel 10 Wirtschaftspolitische Beratung 1. Einleitung

269

2. Das 2.1. 2.2. 2.3.

271 271 273 274

Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik Das dezisionistische Modell Die Funktionen von Wissenschaft für die Politik Kritik am dezisionistischen Modell

3. Ein prozessorientiertes Modell der Politikberatung 3.1. Die Nachfrage nach ökonomischem Wissen durch wirtschaftspolitische Akteure 3.1.1. Arten der Nachfrage 3.1.2. Formen wirtschaftspolitischer Beratung 3.1.3. Die Situation des Politikers

277 277 278 280 281

XVI

3.1.4. Welche Informationen verlangen Politiker vom Ökonomen? 3.2. Das Angebot ökonomischer Beratung 3.2.1. Die Situation des Ökonomen 3.3. Der Beratungsprozess 3.3.1. Ökonom und Politiker: Zwei Welten kommen zusammen 3.3.2. Ablauf des Beratungsprozesses Literaturhinweise zu Kapitel 10

283 285 285 287 289 291 295

Kapitel 11 Das Unternehmen im wirtschaftspolitischen Prozess 1. Einleitung

297

2. Gesellschaftliche Forderungen und Reaktionsmöglichkeiten des Unternehmens 299 2.1. Gesellschaftliche Forderungen 300 2.2. Reaktionsmöglichkeiten des Unternehmens 301 3. Das Verhältnis von Unternehmern und Managern zum Staat 3.1. Grundsätzliches 3.2. Einstellung zu den Zielen der Wirtschaftspolitik 3.3. Einstellung zu den Instrumenten 3.4. Einstellung zum wirtschaftspolitischen Prozess 3.5. Schlussfolgerungen

303 303 304 305 306 307

4. Mitwirkungsmöglichkeiten für Unternehmer und Manager . 308 4.1. Grundsätzliches 308 4.2. Beeinflussung der Problemwahrnehmung und -definition 310 4.3. Beeinflussung der Problembehandlung 311 4.4. Beeinflussung der Implementation 313 Literaturhinweise zu Kapitel 11

314

Stichwortverzeichnis

315

XVII

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abb. 1

Grundstruktur (wirtschafts)politischer Probleme . . S.

Abb. 2

Der Erklärungsbeitrag der ökonomischen Theorie der Politik

S.

16

Der Erklärungsbeitrag des kognitivevolutionären Ansatzes

S.

20

Abb. 4

Die individuelle Ebene der Problementstehung . . S.

43

Abb. 5

Der wirtschaftspolitische Prozess auf

Abb. 3

kollektiver Ebene

9

S.

50

Abb. 6

Das wirtschaftspolitische Modell im Überblick

. . . S.

54

Abb. 7

Wahrnehmungs- und Interpretationsprozesse . . . S.

65

Abb. 8

Schema Mobilisierungsprozess

S.

71

Abb. 9

Determinanten des Ressourceneinsatzes

S. 121

Abb. 10 Konstellation des schweizerischen politischen Systems

S. 134

Abb. 11 Vereinfachte Konstellation der EU

S. 138

Abb. 12 Die entscheidungslogische Grundsequenz

S. 150

Abb. 13 Entstehung und Bewältigung von Konflikten

S. 159

Abb. 14 Phasen der politischen Steuerung

S. 163

Abb. 15 Ablauf des schweizerischen Gesetzgebungsprozesses

S. 170

Abb. 16 Entscheidungsverfahren

S. 172

Abb. 17 Gründe für Verhandlungen

S. 194

XVIII

Abb. 18 Analyse des Verhandlungsraums

S. 196

Abb. 19 Verhandlungen im Überblick: Verhandlungskonstellation

S. 221

Abb. 20 Vorsorgliches Krisenmanagement

S. 235

Abb. 21 Massnahmen und Effekte

S. 255

Abb. 22 Politische Rückwirkungen: Evolutionäre Betrachtung des wirtschaftspolitischen Gesamtprozesses

S. 260

Abb. 23 Das dezisionistische Modell

S. 272

Abb. 24 Das prozessorientierte Modell

S. 288

Abb. 25 Das Unternehmen im wirtschaftspolitischen Prozess

S. 298

Abb. 26 Reaktionsmöglichkeiten des Unternehmens

. . . . S. 301

A u s DEM VORWORT ZUR 1. AUFLAGE Wer sich mit wirtschaftlichen und politischen Fragen befasst und sich für das Zusammenwirken von Wirtschaft und Politik in der Praxis interessiert, wird von den herkömmlichen ökonomischen Theorien nur partiell unterstützt: Über den tatsächlichen Ablauf

wirtschafts-

politischer Prozesse wird wenig gesagt. Auch neuere Entwicklungen wie die Public Choice Theorie und die Neue Institutionen Ökonomik haben die bestehenden Lücken nur zum Teil geschlossen. In der Praxis spielt die Überwindung von Komplexität und Unsicherheit, verbunden mit asymmetrisch verteilter Informationen, eine dominierende Rolle. Es resultieren kollektive Verlauf

individuell-selektiv wahrgenommene

Prozesse in deren Probleme

definiert,

thematisiert und "gelöst" werden müssen. Die Mehrzahl empfundener Probleme wird aber gar nicht gelöst, weil die Problemsicht nicht von einer ausreichenden Anzahl wirtschaftspolitischer Akteure geteilt wird, weil keine genügende Zahl von Anhängern für bestimmte Interessen mobilisiert werden können, weil bestimmte Massnahmen zur Problemlösung beim Entscheid keine Mehrheit finden oder weil beschlossene Massnahmen im Vollzug abgeschwächt oder uminterpretiert werden. Der wirtschaftspolitische Ablauf stellt sich als Filterprozess dar, bei dem laufend neue Probleme auftreten und andere ausscheiden. Er hat damit eine evoiutorische Dynamik, die in der traditionellen Theorie vernachlässigt wird und charakterisiert sich unseres Erachtens massgeblich durch zusätzliche

Elemente wie Sinngebungs- und

Verhandlungsprozesse sowie die permanente Ausübung unterschiedlicher Formen der Einflussnahme durch die Akteure. Auch lassen sich verschiedene Aspekte des beobachteten Verhaltens politischer Akteure nicht mit den traditionellen Mustern ökonomischer Theorie erklären, sondern bedürfen einer Erweiterung durch Elemente

XX

aus der kognitiven Psychologie, die begründen warum in der wirtschaftspolitischen Praxis oft Entscheidungen getroffen werden, die sich einer rein sachrationalen Analyse entziehen. Ebenso spielen affektive Handlungskomponenten, z.B. beruhend auf Ängsten und Hoffnungen der Akteure, häufig eine bedeutende Rolle. Beides führt in vorliegendem Ansatz zu einer Erweiterung des zugrundegelegten Menschenbildes. Damit zielt der vorliegende Text auf eine Ergänzung traditioneller Theorien der Wirtschaftspolitik ab. Er ist in erster Linie aus der Auseinandersetzung

mit

der schweizerischen

Wirtschaftspolitik

entstanden. Der Text wurde aber - abgesehen von wenigen Exkursen zur spezifisch schweizerischen Situation - so abgefasst, dass die grundsätzlichen

Aspekte

des

wirtschaftspolitischen

Prozesses

hervortreten, die auch in anderen demokratisch organisierten Ländern zu beobachten sind. Illustrationsbeispiele wurden bewusst sparsam verwendet, weil der Text als Lehrbuch verwendet und in der Vorlesung anhand praktischer, aktueller Beispiele erläutert werden soll. Die Wirklichkeit ist reichhaltiger als die Theorie. Unser Buch will zusätzlich zu gängigen ökonomischen Vorstellungen weitere Elemente liefern, mit deren Hilfe man wirtschaftspolitische Vorgänge erklären kann.

St.Gallen

Alfred Meier und Tilman Slembeck

XXI

Vorwort zur 2. Auflage In der 2. Auflage wurden zahlreiche Ergänzungen und Modifikationen vorgenommen. Einige Abbildungen sind weggelassen worden, andere sind dazu gekommen. Sinnstörende Fehler sind beseitigt, manche Formulierungen vereinfacht worden. In den Kapitel 5 und 6 finden sich nun Hinwelse auf die Europäische Union. Der

Aufbau des Buches und unsere grundsätzliche Position sind

gleich geblieben: wir wollen Ergänzungen zu bestehenden ökonomischen

Theorien

darstellen,

die

ein

anwendungsorientierter,

Insbesondere ein beratender Oekonom braucht, wenn er besser verstehen will, wie der wirtschaftspolitische Prozess abläuft,

und

wenn er Im konkreten Fall beurteilen will, welche ökonomischen Vorschläge relevant sein könnten. Seit dem Erscheinen der 1. Auflage wurden wir immer wieder gefragt, was denn nun unser Ansatz eigentlich erkläre. Zu dieser Frage haben wir in Kapitel 1 im Abschnitt 4 Stellung genommen. Wir danken zahlreichen Studierenden, die uns auf Verbesserungsmöglichkelten aufmerksam gemacht

haben. Besonderer

Dank

gebührt Herrn Wolfgang Schroter, Mitarbeiter des erstgenannten, der die formelle Gestaltung der 2. Auflage besorgt hat.

St. Gallen

Alfred Meier und Tilman Slembeck

Kapitel 1 Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftspolitik

ÜBERSICHT Das erste Kapitel umfasst eine Einführung in den Gegenstand wirtschaftspolitischer Theorie, eine kurze Übersicht über die Entwicklung und den Stand dieser Theorie unter besonderer Berücksichtigung der ökonomischen Theorie der Politik sowie eine kritische Würdigung der bestehenden Ansätze.

1. Gegenstand einer Theorie der Wirtschaftspolitik Die Theorie der Wirtschaftspolitik ist ein Teilgebiet der Volkswirtschaftslehre. Diese lässt sich aufgrund der jeweils im Vordergrund stehenden Fragestellung grob in drei Bereiche unterteilen: Die Wirtschaftsgeschichte fragt nach den historischen Hintergründen des Wirtschaftsgeschehens (Was war bzw. wie war es?). Die Wirtschaftstheorie fragt nach Funktionsweise und Zusammenhängen des Wirtschaftsgeschehens (Was ist und warum ist es so?). Die Theorie der Wirtschaftspolitik fragt nach den Gestaltungsmöglichkeiten des Wirtschaftsgeschehens aufgrund der von der Wirtschaftstheorie formulierten Zusammenhänge und Gesetzmässigkeiten (Was kann sein und wie können welche Ziele erreicht werden?). Vergleicht man verschiedene Lehrbücher mit dem Titel "Wirtschaftspolitik" oder "Theorie der Wirtschaftspolitik", so fällt auf, dass sie ganz unterschiedliche Inhalte haben. Es gibt keine geschlossene Theorie der Wirtschaftspolitik, die sich bisher allgemein durchgesetzt hat. Dennoch kann das allgemeine Ziel

2

Kapitel 1: G r u n d z ü g e einer T h e o r i e der Wirtschaftspolitik

einer Theorie der Wirtschaftspolitik darin gesehen werden, den Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Politik unter besonderer Berücksichtigung des wirtschaftspolitischen Problemlösungsprozesses zu beschreiben und zu erklären. Dies bezeichnet man als positive Ebene1 wirtschaftspolitischer Theorie. Hier geht es um Aussagen über das wirtschaftspolitische Geschehen, die keine expliziten Werthaltungen beinhalten, sondern lediglich beschreibenden oder erklärenden Charakter haben. Auf dieser Ebene werden in der Theorie der Wirtschaftspolitik vor allem zusätzliche Aspekte und Zusammenhänge betrachtet, die in der Wirtschaftstheorie keine oder nur geringe Beachtung finden (z.B. der Zusammenhang zwischen Wirtschaftslage und Wählerverhalten, spezifisch wirtschaftspolitische Institutionen, Entscheidungsprozesse in bezug auf die Auswahl bestimmter wirtschaftspolitischer Instrumente, Einfluss und Wirkungsweise von Interessengruppen). In einem weiteren Schritt ist es aber auch das Ziel der wirtschaftspolitischen Theorie, Argumente für die gesellschaftliche und politische Diskussion zur Verfügung zu stellen. Hier geht es in erster Linie um die Beurteilung der Effizienz verschiedener Möglichkeiten (wirtschaftspolitischer Massnahmen) im Hinblick auf die Erreichung (politisch) bestimmter Ziele (z.B. Erhaltung von Geldwertstabilität, Beschäftigung oder Wachstum). Dabei stützt sich die Theorie der Wirtschaftspolitik auf die Erkenntnisse von Mikro- und Makroökonomie und passt diese den konkreten Umständen des wirtschaftspolitischen Anwendungsfalles an.

1

Synoym: deskriptive Ebene; beinhaltet Aussagen, die in dem Sinne "wertfrei" bzw. "objektiv" sind, als sie innerhalb der getroffenen Annahmen durch andere auf ihre Richtigkeit überprüft und nachvollzogen werden können. Beispiele für positive Aussagen: • Die Interessengruppen haben im wirtschaftspolitischen Prozess des Landes X grössere Einflussmöglichkeiten als im Lande Y. • Bei einer krisenartigen Zuspitzung eines wirtschaftspolitischen Problems erhält die Exekutive (zumindest vorübergehend) grössere Handlungskompetenzen.

1. Gegenstand einer Theorie der Wirtschaftspolitik

3

Die Grenzen zur normativen Ebene? sind hier fliessend. Der Entscheid für oder gegen bestimmte wirtschaftspolitische Massnahmen beinhaltet meist deshalb Wertungen, weil solche Aussagen immer auf bestimmten Annahmen über die Funktionsweise des wirtschaftlichen und des wirtschaftspolitischen Prozesses beruhen, die der jeweiligen Fragestellung nur mehr oder weniger angemessen sein können. "Objektiv richtige" Aussagen sind auch deshalb häufig gar nicht möglich, weil mit den Massnahmen verschiedene Haupt- und Nebenwirkungen verbunden sind und diese auf politischer Ebene gegeneinander abgewogen werden müssen. Zudem können bei jeder Variante andere Ziele unterschiedlich betroffen sein. Macht der Ökonom (von sich aus oder im Auftrag) Vorschläge für bestimmte Massnahmen, wird er zum politischen Berater. Damit begibt er sich auf die normative Ebene. Er geht dabei von den Zielen seines Auftraggebers, von ökonomischen Effizienzkriterien oder von eigenen Wertvorstellungen aus. In diesem letzten Falle agiert er aber nicht mehr als Ökonom, sondern als ökonomisch geschulter Bürger, denn diese subjektiven Wertungen stammen nicht aus seiner Wissenschaft. Hier wird der Ökonom selbst zum wirtschaftspolitischen Akteur. - Ökonomen können ihre Rolle also auch darin sehen, die Wirtschaftspolitik auf normativer Ebene mitzugestalten. Um all diese Anforderungen zu erfüllen, beinhaltet eine Theorie der Wirtschaftspolitik folgende Aspekte:

2

Synomym: präskriptive Ebene; hier werden Aussagen getroffen, die Wertungen enthalten. Beispiele für normative Aussagen: • D i e Interessengruppen haben im wirtschaftspolitischen Prozess des Landes X zu grosse Einflussmöglichkeiten. • Bei einer krisenartigen Zuspitzung eines wirtschaftspolitischen Problems erhält die Exekutive im Lande Z zu geringe Handlungskompetenzen, um das Problem zu bewältigen.

4

Kapitel 1: Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftspolitik

Eine Theorie der Wirtschaftspolitik macht systematische Aussagen über das Verhalten wirtschaftlicher, staatlicher (1) und politischer Akteure, die volkwirtschaftlich relevante Zustände und Prozesse beeinflussen. die Wirkungen dieser Verhaltensweisen (2) auf Volkswirtschaft, Wirtschaftssubjekte und Politik. die Möglichkeiten und Grenzen des (3) Ökonomen als wirtschaftspolitischem Berater.

Eine umfassende Theorie der Wirtschaftspolitik zeigt somit auch auf, welche Rolle ökonomische Theorien und ökonomische Berater in der Politik spielen (können). Heute beklagen sich Ökonomen oft, dass Politiker ihre Ratschläge ungenügend berücksichtigen. Andererseits werfen Politiker Ökonomen vor, sie seien nicht imstande, klare und erfolgversprechende Handlungsanweisungen für die Wirtschaftspolitik zu geben. Dieses Spannungsverhältnis deutet einerseits darauf hin, dass Kommunikationsprobleme zwischen Ökonomen und Politikern bestehen (z.B. wegen schwer verständlichem Fachjargon oder unterschiedlichen Weltbildern). Derartige Probleme im Dialog zwischen Fachleuten und Laien kommen selbstverständlich auch in andern Fachbereichen vor. Andererseits basieren die bisherigen Theorien der Wirtschaftspolitik anerkanntermassen auf einseitigen, effizienzbezogenen Modellen der Realität. Sie können die Oekonomen dazu verleiten, unrealisierbare Erwartungen in die wirtschaftspolitischen Akteure zu setzen. Man wird diesen dann schlechten Willen oder Unfähigkeit unterstellen, wenn sie die ökonomischen Empfeh-

1. G e g e n s t a n d e i n e r T h e o r i e d e r Wirtschaftspolitik

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lungen nicht umsetzen. Hier droht besserwisserische Arroganz. Viele Oekonomen sind sich dagegen durchaus bewusst, dass sie nur partielle Erklärungen der Realität anbieten können. Wenn dann noch die empirische Evidenz zu bestimmten Theorien widersprüchlich ist, verzichten sie überhaupt auf Politikberatung. Hier droht resignativer Purismus. Wir versuchen, beide Klippen zu vermeiden: durch Respektierung der Praxis und der Praktiker die Besserwisserei und durch einen realisierbaren Erklärungsanspruch die Resignation. Traditionelle Theorien der Rationalen Wirtschaftspolitik zeigen auf, wie Wirtschaftspolitiker handeln müssten, um zu sachrationalen Entscheidungen zu gelangen. Sie verstehen Wirtschaftspolitik als reine Anwendung wirtschaftstheoretischer Erkenntnisse und vernachlässigen beim Aufbau der Theorie oft institutionelle und prozessuale Gegebenheiten. Die ökonomische Theorie der Politik will im Gegensatz zu den traditionellen Theorien den politischen Bereich in die Theoriebildung mit einbeziehen, indem sie das ökonomische Verhaltensmodell 3 auf die (wirtschafts-)politischen Akteure 4 überträgt. Sie versucht, ein dem politischen System unterstelltes Streben nach einem Gleichgewichtszustand innerhalb einer vorgegebenen Problemkonstellation ökonomisch zu erklären. Diese neueren Theorien bedeuten eine wichtige Erweiterung, weil sie zusätzliche Einsichten über die Funktionsweise des Politikbereichs erlauben, lassen aber ihrerseits einige bedeutende Aspekte des "politischen Spiels" mindestens teilweise ausser acht:

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Zum ökonomischen Verhaltensmodell des "homo oeconomicus" vgl. Abschnitt 3.1 in diesem Kapitel.

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Unter dem Begriff "wirtschaftspolitische Akteure" werden einzelne Personen, meist aber homogene Gruppen verstanden, die aufgrund ihrer Stellung im wirtschaftspolitischen Prozess in der selben Weise aktiv sind. Die wichtigsten Akteure sind: Regierung, Parlament, Verwaltung, Parteien, Interessengruppen (Organisationen, Verbände), Bürger und z.T. Medien.

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Kapitel 1: G r u n d z ü g e einer Theorie der Wirtschaftspolitik

In der reinen Wirtschaftstheorie geht es hauptsächlich um Fragen der (Allokations-)Effizienz und nur zum Teil um Verteilungsfragen. 5 Auf politischer Ebene dagegen stehen Verteilungs-unö Gerechtigkeitsfragen oft im Vordergrund, und es geht um die Durchsetzung partieller Interessen. Die gesamtwirtschaftliche Effizienz von Lösungen ist für die wirtschaftspolitischen Akteuere häufig nebensächlich bzw. wird nur als Argument benützt, wenn es den eigenen Interessen dient. Die ökonomische Theorie der Politik unterstellt den politischen Akteuren rationales Handeln, im extremsten Falle vollständige und objektive Aufnahme und Verarbeitung von relevanter Information sowie bewusst-systematischem Abwägen aller Vor- und Nachteile der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Politische Akteure handeln aber oft intuitiv, aufgrund selektiver Wahrnehmung der Probleme, beispielsweise aufgrund eigener Vorstellungen oder Vorurteile, aufgrund "politischer Machbarkeit" oder auch gewohnheitsmässig, jedenfalls ohne umfassende Überlegungen. Die ökonomische Theorie der Politik argumentiert üblicherweise komparativ-statisch 6 und berücksichtigt die Entwicklung des polit-ökonomischen Systems im Zeitverlauf nicht. Politische Akteure sind dagegen immer in irreversible zeitliche Abläufe eingebunden. Aus diesen Gründen baut die vorliegende Theorie der Wirtschaftspolitik auf einer ergänzenden Betrachtungsweise auf: Auf dem kognitiven Handlungsmodell und dem evolutionären Systembild. Damit sollen sozial-dynamisch verursachte 5 6

Hiermit befasst sich die Wohlfahrtsökonomie und z.T. die Finanzwissenschaft.

Komparativ-statisch bedeutet, dass nur "Momentaufnahmen" bestimmter Zustände direkt miteinander verglichen werden. Der dynamische Anpassungspfad von einem Zustand zu einem anderen wird vorausgesetzt und selbst nicht untersucht.

1. G e g e n s t a n d e i n e r T h e o r i e d e r Wirtschaftspolitik

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Veränderungsprozesse, die zu Störungen und Verschiebungen von Gleichgewichten im politischen Prozess führen, erklärt werden. Die bisherigen Theorien sollen nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern ergänzt und der wirtschaftspolitische Prozess einer umfassenderen Betrachtungsweise zugänglich gemacht werden. Das Ziel dieses Ansatzes besteht in der realitätsnäheren Beschreibung des wirtschaftspolitischen Prozesses und in der Verbesserung der Position des Ökonomen als politischem Berater.

2. Traditionelle Theorien der Wirtschaftspolitik 2.1. Überblick In den zwanziger bis vierziger Jahren dieses Jahrhunderts befasste sich die Theorie der Wirtschaftspolitik vorwiegend mit den Auswirkungen wirtschaftspolitischer Massnahmen auf bestimmte wirtschaftliche Grössen. Auf eine Bewertung des Ergebnisses staatlicher Massnahmen wurde verzichtet. Wirtschaftspolitik war ein Teil der Wirtschaftstheorie im Sinne der komparativen Statik. Sie war reine Instrumentenkunde. In den nachfolgenden Jahren wurde die Fragestellung ausgeweitet, indem die Beurteilung der Instrumente in die Untersuchung miteinbezogen wurde. Dazu war ein normatives Kriterium notwendig. Bei den Vertretern ordnungspolitischer Theorien ist es der dem Individuum gewährte Freiheitsgrad, bei anderen Autoren ein aus quantitativen Untersuchungen abgeleitetes Rationalitätskriterium und in der Wohlfahrtstheorie die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt, die anhand des Pareto-Kriteriums gemessen wird. 7 Wirtschaftspolitik wird in diesem Sinne verstanden als geeignete Auswahl der Instrumente im Hinblick auf gegebene Ziele. Die Aufgabe der Theorie wird hier darin ge-

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Ein Zustand ist dann pareto-optimal, wenn durch eine Massnahme (z.B. Umverteilung) kein Mitglied der Gesellschaft mehr besser gestellt werden kann, ohne dass gleichzeitig ein anderes Mitglied schlechter gestellt wird.

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Kapitel 1: Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftspolitik

sehen, die Voraussetzungen für eine rationale Wirtschaftspolitik zu schaffen. Aufgrund von exogen (d.h. politisch) vorgegebenen Zielen bzw. einer Zielfunktion sollte es möglich sein, die geeigneten oder besten Instrumente und das Ausmass ihres Einsatzes zu bestimmen. 2.2. Wirtschaftspolitik als Entscheidungsproblem Wirtschaftspolitisches Handeln wird in den traditionellen Theorien der Rationalen Wirtschaftspolitik als Entscheidungsproblem behandelt, bei dem es darum geht, zuhanden der wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger aufzuzeigen, wie sie für ein bestimmtes Problem eine zweckrationale Problemlösung finden können. Diese Theorie will durch eine wissenschaftliche Entscheidvorbereitung zu rationaleren Entscheidungen in der Wirtschaftspolitik verhelfen. Der wirtschaftspolitische Problemlösungsprozess wird als eine Kombination eines logisch-rationalen wissenschaftlichen Analyseprozesses und eines meist nicht näher betrachteten politischen Entscheidungsund Implementationsprozesses verstanden. 2.2.1. Die Logische Struktur wirtschaftspolitischer Probleme Ein wirtschaftspolitisches Problem kann in Abhängigkeit von seinem raum-zeitlichen Bezug analysiert werden und besteht aus den folgenden Elementen:

2. Traditionelle Theorien der Wirtschaftspolitik

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Abb. 1: Grundstruktur (wirtschafts)politischer Probleme

Ganz allgemein kann gesagt werden, dass Probleme durch eine Diskrepanz zwischen Sollen und Sein entstehen. Für die Wirtschaftspolitik bedeutet dies, dass durch einen Soll-IstVergleich zwischen wirtschaftspolitischen Zielen und wirtschaftlicher Lage wirtschaftspolitische Probleme durch die Träger der Wirtschaftspolitik erkannt werden (können). Ein wirtschaftspolitisches Problem besteht somit nicht an sich, sondern en/steht durch eine Diskrepanz zwischen Lage und Zielen. Zur Beseitigung des Problems werden von den Entscheidungsträgern entweder Instrumente eingesetzt, die die Wirtschaftslage verändern und damit den Zielen anpassen, oder es werden weniger Ziele oder weniger anspruchsvolle Ziele als bisher angestrebt. Die traditionellen Theorien befassen sich mit den Zusammenhängen, die im untern Teil der Abb.1 dargestellt sind. Die Lage umfasst die momentane wirtschaftliche Situation, ihre Kausalitäten in der Vergangenheit und die voraussichtliche

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Kapitel 1: G r u n d z ü g e einer T h e o r i e der Wirtschaftspolitik

Weiterentwicklung in der Zukunft. Die Bestimmung der Lage ist kein zentrales Problem der traditionellen Theorie der Wirtschaftspolitik, da sie mittels Indikatoren unabhängig von jeder politischen Aktivität und Sichtweise analysiert werden kann. 8 Die Träger nehmen die Lage als objektiv gegeben hin. Die Existenz von Zielen ist die grundlegende Voraussetzung jeglichen vernunftgeleiteten bzw. rationalen Handelns. Wie in der Wirtschaftstheorie wird auch in der Theorie der Wirtschaftspolitik davon ausgegangen, dass die Akteure nicht rein zufällig handeln, sondern ihre Handlungen auf die Erreichung bestimmter Ziele ausrichten. Die Bestimmung der Ziele ist eine schwierige Aufgabe, haben die Träger der Wirtschaftspolitik doch oft unterschiedliche oder nur unklare Vorstellungen darüber, was eigentlich wünschenswert wäre. Die Theorie der Wirtschaftspolitik zeigt Möglichkeiten zur Zielformulierung auf und weist auf Probleme hin, wie z.B. auf die Beziehungen, die zwischen verschiedenen Zielen bestehen. 9 Die traditionelle Theorie befasst sich damit, wie die Lage durch den Einsatz wirtschaftspolitischer Instrumente geändert werden kann bzw. muss, um diese den Zielen anzupassen. 10 Mit diesem Aspekt beschäftigt sich die eigentliche Instrumentenkunde: Instrumente werden nach verschiedenen Kriterien klassifiziert und ihr Einfluss auf wirtschaftliche Grössen analysiert. - Die Entscheidungsfindung über die zu verfolgenden Ziele und die einzusetzenden Instrumente wird im politischen Prozess gefällt, der allgemein in verschiedenen Phasen abläuft:

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Wichtige Indikatoren für die Wirtschaftslage sind: Arbeitslosenquote, Inflationsrate, Wachstumsrate des Sozialprodukts, interne und externe Verschuldung, Verteilung und Höhe von Einkommen und Vermögen sowie die Veränderung dieser Grössen im Zeitablauf. Zur Problematik der Bestimmung von Indikatoren siehe auch Kapitel 3 Abschnitt 1.3.2. 9 10

Ziele können prinzipiell neutral, harmonisch oder antinomisch zueinander sein.

Für eine Übersicht wirtschaftspolitischer Ziele und Instrumente siehe in Kapitel 6, Abs. 2.2.

2. Traditionelle T h e o r i e n d e r W i r t s c h a f t s p o l i t i k

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2.2.2. Die Phasen des politischen Prozesses a) Planungsphase Diese erste Phase umfasst die systematische Bereitstellung von Informationen für die Entscheidung. Dazu gehören Informationen über die aktuelle wirtschaftliche Lage, Prognosen über deren Entwicklung und Formulierung alternativer Massnahmen. b) Entscheidungsphase Idealerweise wird aufgrund einer Abwägung aller Vor- und Nachteile der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten (Massnahmen, Instrumente) eine sachrationale Wahl getroffen. c) Implementationsphase Mit dem Entscheid allein verändert sich die Wirtschaftslage noch nicht. Er muss in konkrete Massnahmen umgesetzt werden. Dazu gehören unter anderem der Erlass und die Durchsetzung von Gesetzen und Vollzugsverordnungen sowie die Zuteilung von Ressourcen, Pflichten und Kompetenzen. d) Kontrollphase Massnahmen werden anhand ihres Zielerreichungsgrades im Verhältnis zum erforderlichen Mitteleinsatz auf ihre Wirksamkeit hin überprüft, was einerseits zu einer Revision des Entscheides (andere Dosierung oder andere Massnahmen) bzw. der Implementation führen kann und andererseits neue Informationen für künftige Entscheide liefert. 2.3. Kritik an den traditionellen Theorien 11 2.3.1. Grundstruktur Die entscheidungslogische Sicht behandelt wirtschaftspolitische Probleme als "Denksportaufgaben", bei denen es darum geht, Ziele zu identifizieren, hierarchisch zu ordnen, Beziehungen

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Unter traditionellen Theorien sollen hier ausdrücklich nicht die Ansätze der Neuen Politischen Ökonomie, wie Public Choice und Neue Institutionelle Ökonomie verstanden werden, auf welche diese Kritik nur zum Teil zutrifft.

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Kapitel 1: G r u n d z ü g e einer T h e o r i e der Wirtschaftspolitik

aufzuzeigen, um dann aus einer Mehrzahl von Instrumenten diejenigen auszuwählen, die den höchsten Zielerreichungsbeitrag leisten. Gesellschaftliche Probleme, zu denen wirtschaftspolitische gehören, lassen sich aber nicht einfach lösen wie eine Denksportaufgabe, für die es eine sachlich richtige Lösung gibt. Sowohl die Wahrnehmung und Definition von Problemen als auch Anstrengungen zu ihrer Bewältigung unterliegen vielmehr einem kollektiven Kommunikations- und Aushandlungsprozess. Dabei werden die Probleme selten vollständig gelöst, sondern meist nur verkleinert oder bald einmal durch andere Probleme ersetzt. Institutionelle Gegebenheiten und die tatsächliche Handlungssituation der Akteure werden in der traditionellen Theorie der Wirtschaftspolitik nicht im voraus berücksichtigt, sondern treten erst bei der Umsetzung der theoretischen Überlegungen durch die Akteure in Form zusätzlicher Handlungsbeschränkungen auf. Um den politischen Prozess besser verstehen zu können, müssten diese Restriktionen vermehrt schon beim Aufbau der Theorie einbezogen werden. 2.3.2. Statische Betrachtung Die einzelnen Phasen - Planung, Entscheidung, Durchführung und Kontrolle - werden im Rahmen einer gegebenen Lage, gegebener Ziele und politischer Präferenzen behandelt. Oftmals lässt sich jedoch feststellen, dass die Lage gar nicht für alle Beteiligten klar ist und/oder von verschiedenen Akteuren unterschiedlich wahrgenommen wird. Ziele und politische Präferenzen sind zudem im Zeitablauf veränderlich,12 Über die Prozesse, wie die Lage durch die Akteure tatsächlich wahrgenommen wird und wie sich ihre Ziele und politischen Präferenzen ändern, wird in den traditionellen Theorien nichts ausgesagt, 12

Die in der reinen Wirtschaftstheorie oft getroffene Annahme, dass die Akteure (1) identische und (2) unabhängige Präferenzen haben, ist in der wirtschaftspolitischen Theorie meist nicht sinnvoll. Politische Präferenzen sind (1) allenfalls innerhalb bestimmter (Interessen-)Gruppen weitgehend identisch und (2) aufgrund verschiedener polit-ökonomischer Einflüsse wandelbar. - Zum Begriff der politischen Präferenzen und ihrer Veränderung siehe Seite 31.

2. Traditionelle Theorien der Wirtschaftspolitik

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obwohl die Beobachtung tatsächlich ablaufender wirtschaftspolitischer Problemlösungsprozesse zeigt, dass gerade in diesem Punkt markante Unterschiede zwischen wirtschaftlicher und politischer Sphäre bestehen: Darüber, was aus rein wirtschaftlicher Sicht "besser" ist, lässt sich viel eher Einigkeit erzielen als über das, was gesellschaftspolitisch wünschbar ist. Politische Präferenzen sind vielgestaltig, wandelbar und deshalb schwer bestimmbar. Gerade ihre Vielfalt macht den politischen Prozess - sofern dieser nicht als Denksportaufgabe aufgefasst wird - erst notwendig. Zudem ist die fortwährende politische Meinungsbildung und Diskussion über die Wünschbarkeit von Zielen charakteristisch für den politischen Prozess: Die Veränderung von Sichtweisen, Zielvorstellungen und damit politischen Präferenzen über die Zeit hinweg ist ein bedeutendes Merkmal jedes politischen Prozesses, welches den Interessenausgleich einerseits notwendig macht und andererseits zu einer fortlaufenden Entwicklung von Politik, Gesellschaft und dadurch auch der Rahmenbedingungen des Wirtschaftens führt. Dies alles legt eine evolutionär-dynamische Sichtweise nahe, die sowohl nach der Entstehung als auch nach den Bestimmungsgründen für die Veränderung politischer Präferenzen fragt und diese nicht - wie traditionelle Theorien - als exogene "Daten" behandelt. 2.3.3. Geringer Erklärungsgehalt Die traditionelle Sichtweise ist in einigen wichtigen Punkten vorwiegend beschreibend. Es wird nicht erklärt, wie ein Problem auf die wirtschaftspolitische Traktandenliste kommt und wie die Entscheidungsfindung im Kollektiv abläuft. Es werden keine Kausalzusammenhänge aufgezeigt, die für konkret ablaufende, wirtschaftspolitische Prozesse konstitutiv sind, weil die tatsächliche Handlungssituation und das tatsächliche Verhalten der Akteure vernachlässigt werden. Traditionelle Ansätze können Ablauf und Ergebnisse praktischer, kollektiver Entscheidungsfindungsprozesse nicht erklären.

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Kapitel 1: Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftspolitik

3. Ökonomische Theorie der Politik 3.1. Grundlagen Die Kritik der Neuen Politischen Ökonomie an der traditionellen Wohlfahrtsökonomik richtet sich vor allem gegen die Vorstellung einer widerspruchsfreien Wohlfahrtsfunktion und deren Maximierung, da eine solche aufgrund der Unmöglichkeit der Aggregation individueller Präferenzen zu einer widerspruchsfreien Wohlfahrtsfunktion nicht existiert.13 Der politische Bereich wird in der Neuen Politischen Ökonomie explizit in die Betrachtung miteinbezogen, um zu einer Theorie des politisch-ökonomischen Gesamtsystems zu kommen. Die grundlegende Annahme lautet, dass wirtschaftspolitische Akteure prinzipiell ihre eigenen Ziele verfolgen: Von Politikern in Exekutive und Legislative wird angenommen, dass sie primär wiedergewählt werden wollen und deshalb Wählerstimmen maximieren.14 Dazu müssen sie (zumindest teilweise) den Wünschen "ihrer" Wählerschaft nachkommen, indem sie aufgrund der Wiederwahlrestriktion deren Präferenzen berücksichtigen. Politiker richten in diesem Modell ihr Verhalten also nicht nach moralischen Grundsätzen oder allgemeinen Wohlfahrtsvorstellungen aus, sondern verfolgen eigennützige Ziele. Dadurch wird aber - sozusagen als Nebeneffekt - den Wünschen und Bedürfnissen (mindestens eines Teils) der Wählerschaft nachgekommen, wodurch deren Wohlfahrt gesteigert werden kann. Politiker treten hier als Anbieter politischer Lösungen auf und stehen im Wettbewerb zueinander. Die Nachfrager solcher 13 Dies gilt unter der üblichen Annahme der Unmöglichkeit intersubjektiver Nutzenvergleiche, welche direkt auf dem methodologischen Individualismus beruhen. 14

Eine mögliche Modifikation dieser einfachen Annahme ist, dass Politiker die Stimmen nicht maximieren, sondern nur wiedergewählt werden wollen und unter dieser Nebenbedingung ihren persönlichen Nutzen maximieren (z.B. Einkommen, Macht, Ruhm und Ehre). Diese Ansätze verwenden dementsprechend eine Popularitätsfunktion als Zielgrösse. - Daneben gibt es sog. Medianwähler-Modelle, in denen die Regierung versucht, genau diejenigen Bedürfnisse zu befriedigen, die der Wähler hat, der in einer Demokratie mit einfacher Mehrheitsregel ausschlaggebend ist: der Medianwähler.

3. Ö k o n o m i s c h e T h e o r i e d e r Politik

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Lösungen sind die BürgerA/Vähler. Um ihren Wünschen Gehör zu verschaffen, schliessen sie sich zu Interessengruppen15 und Parteien zusammen. Auch von diesen wird angenommen, dass sie im beschriebenen Sinne eigennützig handeln. 16 Ein zusätzlicher Aspekt ergibt sich dadurch, dass beschlossene Massnahmen umgesetzt werden müssen. Dies geschieht durch die Bürokratie bzw. Verwaltung. Von Bürokraten wird angenommen, dass sie ihrer Pflicht nur soweit als nötig nachkommen (damit sie nicht entlassen werden), ansonsten aber wiederum ihre eigenen Ziele verfolgen. Diese können beispielsweise darin bestehen, über eine möglichst grosse Autonomie und angenehme Arbeitsbedingungen zu verfügen, oder dass die Zahl der Beamten bzw. der finanziellen Mittel (Budget) des jeweiligen Amtes maximiert werden. Wichtig ist hier, dass Bürokraten als Monopolanbieter meist keinem Konkurrenzdruck unterliegen und ihre persönliche Situation (z.B. das Einkommen) mangels Gewinnbeteiligung nicht durch effiziente Arbeit verbessern können. Ihre Leistung lässt sich - weil dafür kein Markt bzw. kein Preis existiert - zudem nur schwer bewerten. Die Neue Politische Ökonomie will also eine bessere Erklärungskraft erreichen, indem die Interdependenzen ökonomischer und politischer Aspekte, persönliche Ziele der Akteure sowie die politischen und ökonomischen Restriktionen der Politiker, Bürokraten und Wähler in die Theoriebildung integriert werden. Das Verhalten der Akteure wird nun innerhalb des Systems

15 Wirtschaftspolitisch wichtige Interessengruppen sind beispielsweise: diverse Verbände (meist von Berufsständen und Branchen), Arbeitgeberorganisationen, Gewerkschaften und z.T. Konsumentenorganisationen. 16 Der Tätigkeit der Interessengruppen widmen sich v.a. die sog. Rent-SeekingAnsätze. Sie gehen davon aus, dass die Regierung den Interessengruppen in gewissem Umfang (d.h. v.a. ohne die eigene Wiederwahl zu gefährden) eine politökonomische Rente, die aus verschiedenen Vorteilen für diese Gruppen besteht (z.B. wirtschaftliche Protektion, Subventionen, vorteilhafte Gesetze), zukommen lassen kann. Die Interessengruppen konkurrieren um diese Rente und wenden dazu Ressourcen auf, welche sich die Regierung (zumindest zum Teil) aneignen kann.

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Kapitel 1: Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftspolitik

erklärt 17 , und im Gegensatz zu den traditionellen Wohlfahrtstheorien resultieren wirtschaftspolitische Entscheidungen nicht mehr aus politisch vorgegebenen Zielen. Die Neue Politische Oekonomie modelliert somit wesentliche Aspekte des wirtschaftspolitischen Prozesses, wie es in Abb. 2 vor allem im obern Teil unserer Grundstruktur, angedeutet ist:

Politische Unternehmer

Abb. 2: Der Erklärungsbeitrag der ökonomischen Theorie der Politik

Zusammenfassend lässt sich die Neue Politische Ökonomie dadurch charakterisieren, dass (1) sowohl der methodologische Individualismus als auch (2) das Verhaltensmodell der Ökonomie auf den politischen Bereich übertragen werden: t® (1): Dies bedeutet, dass das durchschnittliche Individualverhalten als entscheidend für das wirtschaftspolitische Ergebnis

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Teilbereiche der ökonomischen Theorie der Politik umfassen die ökonomische Theorie der Demokratie, die ökonomische Theorie der Bürokratie, die ökonomische Theorie der Interessengruppen etc.

3. Ö k o n o m i s c h e T h e o r i e der Politik

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angesehen wird. Dieses wird also - im Gegensatz zu bestimmten Richtungen der Soziologie - nicht als Resultat von "Gruppenverhalten" interpretiert, sondern als Gesamtwirkung aufgrund des Individualverhaltens vieler einzelner Akteure. "Gruppen" können in diesem Ansatz nicht als solche handeln und haben auch als solche keinen Willen: Nur Individuen verfügen über Ziele, Willen und Handlungsmöglichkeiten. ^ (2): Das ökonomische Verhaltensmodell des sogenannten "homo oeconomicus" kennzeichnet sich primär durch die Annahme, dass sich Menschen unter Berücksichtigung gegebener Bedingungen (Restriktionen) rational verhalten. Rationalität bedeutet hier, dass sie alle Vor- und Nachteile der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten abwägen und entsprechend ihren individuellen Präferenzen eine bewusste, zweckgerichtete Wahl treffen. Dieses Verhaltensmodell erlaubt es, Verhaltensänderungen aufgrund von Veränderungen der Restriktionen zu erklären und zu prognostizieren. 18 Mit anderen Worten ergeben sich in diesem Modell Verhaltensänderungen durch ein geändertes Verhältnis von Kosten und Nutzen verschiedener Handlungsalternativen und nicht durch eine Veränderung von Präferenzen. Das Ziel dieses Ansatzes besteht darin, zu einem besseren Verständnis des Verhältnisses zwischen wirtschaftlichen und politischen Prozessen zu gelangen. Auch die politischen Prozesse werden - analog zum Marktprozess - als Tauschprozesse mit Anbietern und Nachfragern im oben gezeigten Sinne analysiert.

18 Mit dem Verhaltensmodell der ökonomischen Rationalität lässt sich auch das Verhalten in verschiedenen anderen Bereichen der Sozialwissenschaften untersuchen (z.B. Kriminalität, Familie etc.). Hierbei handelt es sich aber nicht mehr um Ökonomie, sondern um Ökonomik, die als sozialwissenschaftliche Methode davon ausgeht, dass Menschen unter Berücksichtigung gegebener Bedingungen im Durchschnitt rational handeln.

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Kapitel 1 : Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftspolitik

3.2. Beurteilung Als Vorteil der neueren ökonomischen Theorie der Politik kann gesehen werden, dass sie in verschiedener Hinsicht einen Fortschritt gegenüber den traditionellen Theorien der Wirtschaftspolitik darstellt: Es wird aufgezeigt, wie wirtschaftlicher und politischer Bereich zusammenhängen und wie sie sich gegenseitig beeinflussen. Die Zusammenhänge sind auch quantitativ feststellbar. 19 Der Ansatz ist nicht nur beschreibend, er ist auch erklärend. Durch den Einbezug der tatsächlichen Handlungssituation der Akteure, die Spezifizierung ihrer Zielfunktion sowie der Verhaltenseinschränkungen, können wirtschaftspolitische Eingriffe erklärt werden. Die Problematik dieser Theorie besteht vor allem im Bereich der Übertragung des ökonomischen Verhaltensmodelles und des mechanistisch-harmonistischen Systembildes auf den politischen Bereich:

1) Zur Problematik der Wahrnehmung Die Problematik der subjektiven und selektiven Wahrnehmung wird ausgeblendet. Zweckrationales Handeln setzt implizit voraus, dass der Mensch einen direkten, objektiven Bezug zu seiner Umwelt schaffen kann, so dass die für ihn entscheidungsund handlungsrelevante Information zwar nicht unbedingt vollständig, aber doch unverzerrt zur Verfügung steht. Tatsächwahrgenommen lich wird die "Realität" aber oft unterschiedlich und interpretiert, so dass davon auszugehen ist, dass die Realität nicht zweifelsfrei abbildbar ist. Die Lage und damit auch die Restriktionen des Handelns können somit nicht einfach als gegeben angenommen werden.

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Beispielsweise können Popularitäts- und Politikfunktionen ökonometrisch geschätzt werden.

3. Ökonomische Theorie der Politik

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2) Zur Annahme gegebener Präferenzen Die Unsicherheit bei der Zielbestimmung wird ausgeblendet, die individuellen Präferenzordnungen sind ja gegeben. Tatsächlich wissen die wirtschaftspolitischen Akteure oft nicht, was sie wollen bzw. es ist ihnen mindestens zu Beginn eines konkreten Problemlösungsprozesses keineswegs klar, welches ihre Interessen im konkreten Fall sind. Die Präferenzen sind vielmehr veränderlich und zudem beeinflussbar. Damit sind auch die Ziele der Wirtschaftspolitik a priori nicht eindeutig gegeben.

3) Zur sozialen Isolation der Akteure Der methodologische Individualismus führt zur sozialen Isolation der Akteure: Die Annahme, dass Kollektiventscheidungen der Aggregation der individuellen Entscheide entsprechen, unterschätzt den Einfluss kollektiver Kommunikations- und Lernvorgänge. Politische Akteure unterliegen oft sozialen Ansteckungsprozessen

und

Konformitätsdruck.

Kollektive Entscheide sind keine rein mechanischen Aggregationen von individuellen Präferenzen. Den kollektiven Entscheiden gehen vielmehr oft langwierige Kommunikations- und Aushandlungsprozesse voraus, in deren Verlauf die Probleme, d.h. die Soll-Ist-Abweichungen, erst definiert werden und mehrheitsfähige Lösungen gefunden werden müssen. Wie diese Kommunikations- und Aushandlungsprozesse ablaufen, wird nicht erklärt. Die formellen Abstimmungen, mit denen sich die Neue Politische Ökonomie vorwiegend befasst, bilden bloss die letzte und oft nicht die wichtigste Phase dieses Prozesses.

4) Zur ahistorischen Perspektive und zum reversiblen Zeitbegriff Die Methode ist - abgesehen von den Modellen dynamischer Optimierung - meist komparativ-statisch. Wirtschaftspolitische Systeme und die in ihnen wirkenden Akteure haben aber stets eine Geschichte. Die Erfahrungen, die im Laufe der Zeit gemacht werden, prägen die Vorstellungen der Akteure und die In-

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Kapitel 1: Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftspolitik

stitutionen. Wirtschaftspolitisches Handeln und wirtschaftspolitische Probleme sind deshalb häufig durch Sachzwänge geprägt, welche aus der ahistorischen Perspektive vieler traditioneller Theorien nicht erklärt werden können. Man spricht in diesem Zusammenhang von sog. Pfadabhängigkeit. Jeder konkrete Problemlösungsprozess ist zugleich auch ein Lernprozess, der potentiell das System verändert. Was gelernt wird, schlägt sich nieder in Änderungen der individuellen Ordnungsvorstellungen und in institutionellen Änderungen.

4. Der kognitiv-evolutionäre Ansatz Wenn man unsere Kritik an der neuen politischen Ökonomie in die Grundstruktur wirtschaftspolitischer Probleme (vgl. Abb. 1) überträgt, ergibt sich folgendes Bild:

i

1

i Instrumente

1

Abb. 3: Der Erklärungsbeitrag des kognitiv-evolutionären Ansatzes

3. Ökonomische Theorie der Politik

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Die Annahme veränderlicher Präferenzen und die Berücksichtigung individueller Wahrnehmungsvorgänge stellen eine wesentliche Modifikation der homo oeconomicus-Vorstellung dar. Wir sprechen von einem kognitiven Menschenbild. Weil weder die Lage (und damit die Restriktionen) noch die Präferenzen immer eindeutig gegeben sind, ist das individuelle Verhalten nicht eindeutig bestimmt. Es wird vielmehr durch kollektive Prozesse mitbestimmt. Ins Zentrum unserer Analyse stellen wir deshalb einen kollektiven Prozess, der in unumkehrbarer Weise abläuft. Jede Problemblembehandlung verändert potentiell den Prozess selber und auch die individuellen Ordnungsvorstellungen, wie es durch die Rückkoppelungen in Abb. 3 ausgedrückt wird. Wir sprechen von einem evolutionären Systembild. Auch dieser Prozess ist weniger eindeutig determiniert, als die Sachlogik der traditionellen Instrumentenkunde oder die Wahllogik der Neuen Politischen Ökonomie. Der mechanistische Zusammenhang zwischen Lage (Restriktionen), Zielen (Präferenzen) und Instrumenten wird also aufgebrochen. Zwar ist es weiterhin möglich und erwünscht, die Wirtschaftslage mit üblichen ökonomischen Indikatoren zu ermitteln sowie die ökonomischen Effizienz-, Stabilitäts- und Wirkungsvorstellungen in den wirtschaftspolitischen Willensbildungsprozess einzubringen. Die massgebende Definition von Lage und Problem sowie die verbindliche Wahl von Zielen und Instrumenten erfolgt jedoch endogen im kollektiven Prozess. Dabei besteht zwischen Lage- und Problemdefinition, zwischen Problemdefinition und Zielwahl sowie zwischen Zielwahl und Instrumenteneinsatz durchaus nicht immer sachlogische Konsistenz. Wir benötigen aber einen realitätsnäheren Ansatz, wenn wir verstehen wollen, wie und warum der wirtschaftspolitische Prozess in einem bestimmten Land in einem bestimmten

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Kapitel 1: Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftspolitik

Zeitraum so und nicht anders abläuft, und wenn wir wissen wollen, wie man Prozess und Ergebnis allenfalls beeinflussen kann. Wir geben wohl die Determiniertheit grundsätzlicher ökonomischer Modellvorstellungen auf und damit auch den Anspruch vollständiger Erklärbarkeit. Das heisst aber nicht, dass reale Prozesse völlig beliebig verlaufen und nichts mehr erklärt wird. Ein solcher Schluss wäre aus drei Gründen unzutreffend. Erstens verwerfen wir den ökonomischen Ansatz nicht, wir relativieren ihn nur. Deshalb operieren wir in unserm Ansatz ebenfalls mit rationalen Kosten-Nutzen Überlegungen der Akteure. Zweitens verwenden wir Hypothesen aus andern Bereichen, etwa der Psychologie, der Sozialpsychologie oder der Soziologie. Allerdings handelt es sich dabei kaum um eindeutige Gesetzmässigkeiten, sondern eher um ErklärungsSkizzen, d.h. um Erklärungsargumente, die noch nicht voll elaboriert und präzisiert sind. Und drittens arbeiten wir mit empirischen Verallgemeinerungen. Wir wollen als wirtschaftspolitische Berater die Wirtschaftspolitik eines bestimmten Landes in einem bestimmten Zeitraum verstehen und allenfalls einen Beitrag zu ihrer Gestaltung leisten. Damit wird die Aufgabe, Zusammenhänge zu erklären, zugleich schwieriger als auch leichter. Schwieriger, weil wir - wie dargestellt - reichhaltigere Ansätze verwenden, aber auch leichter, weil die jeweiligen Fakten und Sachzwänger zahlreiche, prinzipiell denkbare Möglichkeiten ausschliessen. Wir können also mit empirischen Verallgemeinerungen arbeiten (mit "regressiven Reduktionen", wie sie im wissenschaftstheoretischen Jargon genannt werden), die nur für ein bestimmtes Land in einem bestimmten Zeitraum gelten. Insbesondere gute Kenner eines bestimmten wirtschaftspolitischen Systems werden mithilfe unseres Ansatzes solche Verallgemeinerungen vornehmen können und damit zusätzliche Einsichten gewinnen. Selbstverständlich wäre es wissenschaftlich gesehen befriedigender, wenn wir auf kognitiv-evolutionärer Basis ein

3. Ökonomische Theorie der Politik

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allgemeingültiges Theoriegebäude aufbauen könnten, d.h. über eine Mehrzahl zusammenhängender, empirisch gut bestätigter Gesetzeshypothesen verfügen würden. Die Errichtung eines solchen Gebäudes - sollte sie überhaupt je möglich sein - würde den jähre- oder jahrzehntelangen Einsatz einer grössern Zahl von Forschern erfordern. Ohne polemisch sein zu wollen, muss man feststellen, dass ja auch der Bestand an empirisch gut bestätigten Gesetzesaussagen in der Volkswirtschaftslehre trotz ungeheurem Forschungsaufwand nicht überwältigend ist und in den anderen Sozialwissenschaften vielleicht noch weniger. Im folgenden Kapitel werden die Grundlagen einer kognitivevolutionären Theorie der Wirtschaftspolitik hergeleitet.

LITERATURHINWEISE ZU KAPITEL 1

Traditionelle Ansätze der Theorie der Wirtschaftspolitik werden u.a. in folgenden Lehrbüchern vertreten: • Dobias, P.: Wirtschaftspolitik, Paderborn, 1980 (Erstauflage). • Eucken, W.: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen, 1990. • Gemper, B.B.: Wirtschaftspolitik, Ordnungspolitische Grundlagen, Heidelberg, 1994. • Issing, O.: Allgemeine Wirtschaftspolitik, München, 1993. • Streit, M.: Theorie der Wirtschaftspolitik, Düsseldorf, 1991. • Tuchtfeldt, E.: Bausteine zur Theorie der Wirtschaftspolitik, Bern, 1983. • Woll, A.: Wirtschaftspolitik, München, 1992. Zur (neuen) ökonomischen Theorie der Politik siehe • Frey, B.S., Kirchgässner, G.: Theorie demokratischer

Wirt-

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Kapitel 1: Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftspolitik

schaftspolitik, München, 1994. • Kirchgässner, G.: Homo Oeconomicus, Tübingen,

1991.

Lehrbücher zur Public Choice Theorie stammen von • Johnson, D.B.: Public Choice: An Introduction to the New Political Economy, London etc., 1991. • Mueller, D.C.: Public Choice II, Cambridge, 1989. • Ordeshook, P.C.: Political Theory Primer, London, 1992. Zur Entwicklung der Theorie der Wirtschaftspolitik siehe •Bernholz, P: Die Rolle von Werturteilen und Normen in der Theorie der Wirtschaftspolitik, in: Tietz, R. (Hrsg.): Wert- und Präferenzprobleme in den Sozialwissenschaften, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 122, Berlin, 1981, S 27 - 40. Ein gute Übersicht über systematische Abweichungen politökonomischer Akteure vom traditionellen Verhaltensmodell findet sich bei • Frey, B.S., Eichenberger, R.: Anomalies in Political Economy, in: Public Choice 68, 1991, S. 71 - 89.

Kapitel 2 Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes

ÜBERSICHT In diesem Kapitel werden die Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes der wirtschaftspolitischen Theorie schrittweise erläutert. Zunächst werden die Grundaussagen des verwendeten kognitiven Handlungsmodells hergeleitet und auf wirtschaftspolitische Akteure übertragen. Dies führt zu modifizierten Modellannahmen. Im nächsten Schritt werden kurz die Eigenschaften des evolutionären Systembildes und seine Bedeutung für die Theorie der Wirtschaftspolitik aufgezeigt. Abschliessend erfolgt eine Übersicht über das Modell des wirtschaftspolitischen Prozesses innerhalb des kognitiv-evolutionären Ansatzes anhand der einzelnen Phasen dieses Prozesses. 20

1. Ausgangspunkte Die im letzten Kapitel vorgetragene Kritik an der "rational-statischen" Theorie der Wirtschaftspolitik bietet vielerlei Ansatzpunkte zur Ergänzung, Verbesserung und Erweiterung. Das Ziel der hier vorgestellten Theorie der Wirtschaftspolitik, die auf dem kognitiven Handlungsmodell und dem evolutionären Systembild aufbaut, besteht darin, eine ergänzende Betrachtungsweise zu den traditionellen und den politisch-ökonomischen Theorien zu 20 Die Übersicht über die einzelnen Phasen des wirtschaftspolitischen Prozesses ist in diesem Kapitel bewusst knapp gehalten. Viele Aspekte werden dem Leser nach erstmaligem Lesen nicht vollständig klar sein. Deshalb scheint es ratsam, dieses Kapitel nach dem Studium des Gesamttextes (bis und mit Kapitel 9) im Sinne einer Zusammenfassung nochmals zu konsultieren.

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Kapitel 2: Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes

liefern, indem die genannten Kritikpunkte berücksichtigt werden. ^ Einerseits soll sie damit nicht an die Stelle der bestehenden Theorien treten, sondern durch eine bessere Beschreibung eine grössere Erklärungskraft bislang nicht oder wenig berücksichtigter Aspekte des wirtschaftspolitischen Prozesses erlangen. Andererseits wird damit auch das Ziel verfolgt, die Position des Ökonomen in seiner Rolle als politischer Berater durch ein besseres Verständnis des wirtschaftspolitischen Prozesses zu stärken. Die rational-statischen Analysen der ökonomischen Theorie der Wirtschaftspolitik werden durch den prozessorientierten und psychologisch fundierten Ansatz der kognitiv-evolutionären Theorie der Wirtschaftspolitik erweitert.

2. Das kognitive Handlungsmodell Der Mensch lebt in einer komplexen Umwelt, die er weder unmittelbar noch vollständig noch objektiv erfahren und erkennen kann. Er muss eine gedankliche Verbindung zwischen der Umwelt, wie er sie erlebt, und seinen Zielen herstellen und daraus entsprechende Handlungen ableiten. Gerade in der Wirtschaftspolitik fällt es den Akteuren oft schwer, angemessene Zielvorstellungen und sinnvolle Handlungsmöglichkeiten zu finden. Damit ist die kognitive Psychologie angesprochen, die sich mit der Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen sowie dem daraus abgeleiteten Handeln befasst. Die nachfolgenden Modellaussagen stellen eine Anwendung und Übertragung kognitionspsychologischer Erkenntnisse auf wirtschaftspolitische Akteure dar.

2. D a s k o g n i t i v e H a n d l u n g s m o d e l l

27

2.1. Grundaussagen des kognitiven Handlungsmodells ^

Kognitive lichen

Strukturen

dienen

als Bezugssystem

mensch-

Handelns.

Kognitive Strukturen -

-

-

umfassen die Gesamtheit des aufgrund von Lernen, Erfahrung und Sozialisation gebildeten Wissensnetzes des Individuums über seine Mitwelt und sich selbst. leiten Wahrnehmung und Interpretation eintreffender Informationen, ordnen und verknüpfen diese zum Zwecke der Strukturierung und Steuerung von Handlungen. bilden die Grundlage für individuelle Präferenzen.

Denken bzw. Kognition entwickelt sich kontinuierlich aus Wahrnehmung und praktischem Handeln. Geht das Denken aus dem Handeln hervor, muss dieses schon wesentliche Züge des Denkens enthalten. Denken und Handeln haben eine gemeinsame Funktion: die Stiftung von Beziehungen zwischen vorgefundenen und laufend erzeugten Elementen. Damit haben beide ordnenden Charakter: Handeln ist das Streben nach Struktur und Ordnung und findet seine Fortsetzung im Denken. Kognititive Prozesse treten somit im Rahmen der Wahrnehmungstätigkeiten und des Handelns auf. Sie haben die Aufgabe, dessen Struktur zu sichern und auszubauen bzw. neue Strukturen des Handelns und Wahrnehmens zu elaborieren. 21 - Weiter kann davon aus 21

Dies wird sehr deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass z.B. Sprache ein Medium ist, durch das Wissen (das in den kognitiven Strukturen individuell gespeichert ist) vermittelt und repräsentiert wird. Wirtschaftspolitische Akteure - z.B. Mitglieder von Parteien und Interessengruppen entwickeln aufgrund des steten Umgangs mit den für sie im Vordergrund stehenden Fragestellungen einen bestimmten Sprachgebrauch,

28

Kapitel 2: Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes

gegangen werden, dass sich Menschen meist nicht zufällig, sondern zielgerichtet und mehr oder weniger bewusst verhalten: Sie handeln.22 Das Bezugssystem für ihre Handlungen sind die kognitiven Strukturen. Sie bilden den gemeinsamen Hintergrund von Wahrnehmung, Denken und Handeln. Damit sind sie auch massgeblich für die individuellen Vorstellungen über das Sein und das Sollen, d.h. für das Auftreten von Problemen und die Art und Weise, wie diesen durch Handlungen zu begegnen ist.23 Bezogen auf wirtschaftspolitisches Handeln bezeichen wir die kognitiven Strukturen als Ordnungsvorstellungen24 Ordnungsvorstellungen können unterschiedlichster Art sein. Sie reichen beispielsweise von differenzierten Weltanschauungen oder elaborierten Vorstellungen über Wirtschaftssysteme oder makroökonomische Zusammenhänge bis zu blossen Vorurteilen oder Freund-Feind-Schemata. Auch letztere leisten Orientierungshilfe, und sie sparen zudem Informationskosten.

der als gemeinsamer Ordnungsrahmen dient und einerseits eine rasche Etikettierung und Kategorisierung erlaubt und andererseits die Wahrnehmung auf Sachverhalte fokussiert, die in diesen Rahmen "passen". 22

Der Bewusstseinsgrad von Handlungen kann also unterschiedlich sein. Das Spektrum reicht von gewohnheitsmässigem Handeln, bei dem in bekannten Situationen auf standardisierte Handlungsmuster und damit kognitive Prozesse der Vergangenheit zurückgegriffen werden kann, über die Anwendung von Faustregeln, die ebenfalls auf vorhandene Handlungsmuster zurückgreifen, aber aktuelle kognitive Prozesse auslösen, bis zu aktivem Problemlösen in unbekannten oder neuen Situationen. 23

Wenn das Sein dem Sollen entspricht, besteht kein Problem und damit kein Handlungsbedarf.

24

Damit erfährt der Begriff der kognitiven Strukturen gegenüber seiner psychologischen Definition eine Erweiterung in dem Sinne, dass in den Ordnungsvorstellungen Werthaltungen explizit mit einbezogen werden. - Wie stark normative und (sozial) erlernte Komponenten der Ordnungsvorstellungen das Handeln beeinflussen können, zeigt das Beispiel Deutschlands: Die vorrangige Bedeutung der Inflationsbekämpfung in der deutschen Wirtschaftspolitik und die starke Stellung der Bundesbank lassen sich als Reaktion auf die gemachte historische Erfahrung mit Hyperinflation interpretieren.

2. Das kognitive Handlungsmodell

29

Ordnungsvorstellungen umfassen -

Vorstellungen über die Wünschbarkeit wirtschaftspolitischer Institutionen, Prozesse und Zustände (Präferenzen), welche der Bildung wirtschaftspolitischer Ziele dienen (SollParameter).

-

Vermutungswissen über Kausalzusammenhänge und Restriktionen, welches der Beurteilung wirtschaftspolitischer Massnahmen, der Einschätzung von relativen Knappheiten von Ressourcen und der Bewertung eines effizienten Mitteleinsatzes dient (Ist-Parameter).

Durch die Einführung kognitiver Strukturen bzw. Ordnungsvorstellungen erfährt das traditionelle Verhaltensmodell eine wichtige Erweiterung: Üblicherweise kann sich der homo oeconomicus nämlich "nur" verhalten, aber er kann nicht handeln. Sein Verhalten ist durch die Modellannahmen determiniert: Sind seine Präferenzen und Restriktionen spezifiziert, hat er keine Möglichkeit mehr zu handeln, sondern er verhält sich im Sinne der Nutzenmaximierung rational. Aus einer bestimmten Situation folgt zwingend ein bestimmtes (rationales) Verhalten. Es stehen keine Alternativen offen, die ein eigentliches Handeln erlauben würden. - In einem kognitiven Handlungsmodell ist dies anders: Aufgrund der üblichen Informationen über eine bestimmten Situation kann noch nicht zwingend auf ein bestimmtes Verhalten, sondern nur auf typische Handlungsmuster geschlossen werden. Es stehen immer verschiedene Handlungsalternativen offen, die aufgrund der konkreten Situation unter-

30

Kapitel 2: Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes

schiedlich wahrscheinlich sind.25 Dass in diesem Ansatz kein modell-immanent determiniertes Verhalten resultiert, sondern Handlungsmuster, ist die direkte Folge der Aufgabe der traditionellen Annahme vollständiger Information.26 Aufgrund einer genaueren Kenntnis der Individuen bzw. ihrer Geschichte lässt sich ihr Verhalten dann aber doch mit Aussicht auf Erfolg prognostizieren. ^

Kognitive Strukturen konstruieren eine individuelle selektive

und

Wirklichkeit.

Die kognitiven Strukturen sind stark vom Wissen, den Erfahrungen und dem Sozialisationsprozess eines jeden Menschen abhängig und somit individuell.27 Weil sie wahrnehmungsleitend sind, erzeugen sie für jedes Individuum eine eigene Sichtweise der "Realität". Das Individuum konstruiert seine Realität aufgrund seiner kognitiven Strukturen bzw. Ordnungsvorstellungen. Eine "objektive (wirtschaftspolitische) Realität" kann es folglich nicht geben: Die unterschiedlichen Sichtweisen bzw. Vorstellungen hierüber können sich nur mehr oder weniger weitgehend decken. "Wahr" ist letztlich nur das, was sich im Handeln und Denken bewährt (hat). - Zudem bedeuten Kognition und damit auch Wahrnehmung immer Selektion: Die Komplexität seiner Mitwelt erlaubt es dem Individuum nur, diese ausschnittweise wahrzu-

25

Formal gesprochen folgt im traditionellen Verhaltensmodell aus einer bestimmten Situation S immer das rationale Verhalten VR; S - VR. Im kognitiven Handlungsmodell können hingegen aus einer bestimmten Situation S verschiedene Handlungen H resultieren; S - H„ H2, H3, H„... Durch Typisierung verschiedener Situationen kann auf das jeweils charakteristische Handlungsmuste/-geschlossen werden.

26

Bei unvollständiger Information lassen sich Risiko und Unsicherheit unterscheiden: Risiko bedeutet, dass alle möglichen Ereignisse und deren Eintretenswahrscheinlichkeiten bekannt sind (wie z.B. beim Würfeln). Bei Unsicherheit sind (1) entweder die möglichen Ereignisse oder (2) deren Wahrscheinlichkeit oder (3) beides nicht bekannt (wie z.B. beim Betreiben eines Kraftwerks). Wirtschaftspolitische Akteure handeln immer unter unvollständiger Information und Unsicherheit. 27

Prägend sind v.a. Alter, Ausbildung und sozialer Status bzw. Stellung im wirtschaftspolitischen Prozess.

2. Das kognitive H a n d l u n g s m o d e l l

31

nehmen bzw. zu erfahren und zu interpretieren. Die menschlichen Wahrnehmungsfähigkeiten und -möglichkeiten sind beschränkt, ebenso die Möglichkeiten der Verarbeitung, Speicherung und Interpretation wahrgenommener Information. Stets findet eine Selektion statt, die einerseits auf Informationskosten beruht28. Andererseits wird aufgrund der kognitiven Strukturen nur derals relevant betrachtete Teil der "Realität" wahrgenommen. Dadurch kommt eine individuell konstruierte Realität zustande.29 Wirtschaftspolitische Soll- und Ist-Parameter sind also nicht objektiv gegeben, wie dies die traditionelle Theorie der Wirtschaftspolitik annimmt, sondern werden durch das Individuum subjektiv, unter sozialen Einflüssen konstruiert und sind selektiv. ^

Kognitive

Dissonanzen

führen

zur

Änderung

von

Ordnungsvorstellungen. Wahrgenommene Informationen über Kausalzusammenhänge, wirtschaftspolitische Parameter und Ordnungsvorstellungen anderer Akteure (auch Ideen, Meinungen, Ideologien etc.) können sich mit den Ordnungsvorstellungen des Individuums decken oder unterschiedlich stark xlavon abweichen: 1) Weichen die Informationen nicht von den Ordnungsvorstellungen ab, befindet sich das Individuum in einem kognitiven Gleichgewicht. Im kognitiven Gleichgewicht finden sich die Ordnungsvorstellungen also bestätigt, wodurch sie gefestigt werden. Aber auch im kognitiven Gleichgewicht30 können 28

Als ressourcenverzehrende Prozesse unterliegen auch Informationsbeschaffung und -Verarbeitung rationaler Akteure d e m Optimierungskalkül. Vollständige Information ist deshalb meist nicht effizient, sondern es resultiert eine "rationale Uninformiertheit". Die sog. Informationsökonomik befasst sich seit etwa 30 Jahren mit dieser Thematik.

29

S o sind z.B. Denkprozesse auf Begriffe angewiesen. Jeder Begriff bedeutet aber eine Abstraktion, jeder Gedanke eine Verallgemeinerung.

30 Dies ist nicht mit einer Übereinstimmung von Soll- und Ist-Parametern zu verwechseln, wo kein Handlungsbedarf besteht. Im kognitiven Gleichgewicht besteht lediglich zwischen den eintreffenden Informationen und den Ordnungsvorstellungen

32

Kapitel 2: Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes

Probleme empfunden werden. 2) Weichen die Informationen nur geringfügig ab, kann dies vom Individuum auf fehlerhafte Wahrnehmung (aktuell oder in der Vergangenheit) zurückgeführt werden, und/oder die Diskrepanz wird geleugnet bzw. verdrängt. 3) Weichen die Informationen stark und/oder systematisch von den Ordnungsvorstellungen ab, sprechen wir von einer kognitiven Dissonanz. Die Informationen werden zwar wahrgenommen, können aber anhand der bestehenden Ordnungsvorstellungen aufgrund der damit bestehenden Inkonsistenz nicht interpretiert bzw. gedeutet werden. Wir sprechen hier von einer Situation der Mehrdeutigkeit, durch die zwei kognitive Prozesse ausgelöst werden: (a) Assimilation

bedeutet Suche und struktureller Vergleich mit ähnlichen, bereits erklärten Situationen.

(b) Akkomodation

bedeutet Suche nach Erklärungsfaktoren für Wahrnehmungen, die von den eigenen Erfahrungen abweichen.

Beide Prozesse können dazu führen, dass die kognitiven Strukturen revidiert und damit den neuen Informationen angepasst werden, um das kognitive Gleichgewicht wieder herzustellen (sog. Äquilibration). Bestehende Denk- und Handlungsmuster werden also bei Vorliegen einer kognitiven Dissonanz durch Äquilibration neuen Gegebenheiten angepasst. Ordnungsvorstellungen sind somit nicht fix, sondern unterliegen einem keine Diskrepanz. Ein Problem bzw. ein daraus resultierender Handlungsbedarf kann vom Individuum aber auch im kognitiven Gleichgewicht durchaus gesehen werden. Kognitive Dissonanzen beziehen sich also auf die Diskrepanz zwischen Informationen und Ist-Parametern der Ordnungsvorstellungen, während Probleme durch eine Diskrepanz zwischen Soll- und Ist-Parametern entstehen.

2. D a s kognitive H a n d l u n g s m o d e l l

33

laufenden Wandel aufgrund von Informationen. Zwei Einflussfaktoren sind hierbei hervorzuheben: (1) Informationen über die Ordnungsvorstellungen und die Handlungen anderer Akteure sind von besonderer Bedeutung, da der Mensch als soziales Wesen gerade in einer Situation von Mehrdeutigkeit und der damit verbundenen Orientierungslosigkeit andere Menschen beobachtet oder bei ihnen Rat sucht. 31 Aber auch bei Sicherheit können sich die Soll-Parameter der Ordnungsvorstellungen durch neue Meinungen, Ideen oder Ideologien ändern. (2) Affektive, d.h. gefühlsmässige Aspekte spielen bei der Informationsverarbeitung stets eine wichtige Rolle, vor allem aber bei Mehrdeutigkeit: Kann eine Dissonanz nicht kognitiv bewältigt werden, treten oft ungute Gefühle, Ahnungen oder Ängste auf. Aber auch Gefühle der Hoffnung können sich zeigen. Welche Gefühle nun überwiegen, hängt massgeblich von der individuellen Grundeinstellung (eher optimistisch oder pessimistisch) und der damit verbundenen Kausalattribuierung 32 ab. Die aus dieser kognitionspsychologischen Erweiterung resultierenden Unterschiede zum traditionellen Verhaltensmodell bezüglich der politischen Präferenzen werden im nachfolgenden Abschnitt (2.2.) erläutert.

3

' Diese soziale Beeinflussung ist aber nicht nur bei Mehrdeutigkeit feststellbar, sondern sie ist durch soziales Lernen und Sozialisationsprozesse konstitutives Element der kognitiven Strukturen bzw. Ordnungsvorstellungen. 32

Kausalattribuierung bedeutet Zuordnung einer bestimmten Ursache zu einem bestimmten Ergebnis oder Erfolg. Erfolgreiche Akteure schreiben ihren Erfolg ihrem eigenen Können und ihren Misserfolg den widrigen Umständen zu. Bei erfolglosen Akteuren ist es umgekehrt.

34

Kapitel 2: G r u n d l a g e n des kognitiv-evolutionären A n s a t z e s

Deutungsangebote

führen zu sozialer

Realität.

Wie schon oben betont wurde, besteht in einer Situation von Mehrdeutigkeit und der damit verbundenen kognitiven Dissonanz eine mehr oder minder grosse Orientierungslosigkeit: Informationen können nicht oder ungenügend interpretiert und verarbeitet werden. Hier geben einerseits professionelle Informationsvermittler, wie z.B. die Medien, Hilfestellung durch Deutungsangebote, wenn sie neben der "reinen Information" auch Kommentare liefern. Andererseits geben verschieden Personen, Organisationen und Institutionen, denen vom Individuum Sachkompetenz attestiert und/oder Vertrauen geschenkt wird (sog.opinion leaders), Deutungshilfen. 33 Deutungen implizieren zudem immer auch eine Selektion in bezug auf eine bestimmte, durch die Person oder die Institution vertretene Realitätssicht. Die Übernahme von Selektions- und Deutungsangeboten führt dazu, dass die subjektiv empfundene Realität, welche für das individuelle Handeln entscheidend ist, zum Teil ein soziales Konstrukt ist. Dies führt trotz den prinzipiell individuellen Realitätssichten langfristig zu deren Harmonisierung zwischen den Akteuren oder Akteurgruppen. Ausschlaggebend ist in diesem Zusammenhang die Häufigkeit und die Intensität der Interaktion zwischen den Akteuren. Sind Interaktionen selten und/oder Handlungssituationen neuartig, kann es aber auch zur Polarisierung zwischen verschiedenen Wirklichkeitsinterpretationen kommen, die dann entsprechend der Häufigkeit und der Intensität lange nebeneinander bestehen bleiben. Zusammenfassend soll festgehalten werden, dass hier - im Unterschied zum traditionellen ökonomischen Verhaltensmodell zwischen Wirklichkeit und individuellem Handeln keine stabile Beziehung besteht: Für das Handeln der Akteure ist Wahr33

Typische opinion leaders sind z.B. Persönlichkeiten in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft, Parteifreunde, Vorgesetzte, Eltern und Freunde.

2. D a s k o g n i t i v e H a n d l u n g s m o d e l l

35

nehmung und Interpretation der Wirklichkeit aufgrund der kognitiven Strukturen und den darin enthaltenen Zielvorstellungen, Kausalitäts- und Handlungsmuster entscheidend.

2.2. Zusammenfassung der modifizierten Modellannahmen 2.2.1. Begrenzte Rationalität In einer komplexen Umwelt verhindern Unsicherheit, unvollständige Informationen sowie die daraus folgenden Informationskosten oft "rein" rationales Verhalten oder Handeln im Sinne der neoklassischen Theorie. Dem menschlichen Erkennen und Urteilsvermögen sind natürliche Grenzen gesetzt. Rationalität ist nur im Rahmen der subjektiven Wirklichkeitssicht möglich, welche selektiv ist und durch die kognitiven Strukturen geprägt wird. Aus diesem Grund sprechen wir von begrenzter Rationalität. 34

2.2.2. Veränderliche poltitische Präferenzen Die originären Präferenzen werden traditionellerweise als gegeben und in der Betrachtungsperiode unveränderlich betrachtet. Demgegenüber sind die geäusserten politischen Präferenzen in unserem Modell aufgrund von zwei Einflüssen veränderlich: (1) Wie oben gezeigt, können sich die Ordnungsvorstellungen der Akteure aufgrund kognitiver Dissonanzen und ideologischer Einflüsse35 ändern, was zu einer Änderung der geäusserten politischen Präferenzen führen kann. (2) Die Stellung 34

Es ist wichtig festzuhalten, dass hier nicht von der Rationalitätsannahme der ökonomischen Theorie als solcher abgewichen wird (vgl. dazu im letzten Kapitel Abschnitt 3.1 und darin insbesondere die Bemerkungen zum homo oeconomicus), sondern dass einige übliche Annahmen über die Rahmenbedingungen modifiziert werden: Unvollständige Information und Informationskosten, selektive W a h r n e h m u n g und individuelle Realitätssicht. Beschränkte Rationalität bedeutet also nicht, dass Akteure nicht rational oder gar irrational handeln. Akteure sind nach dieser Vorstellung a u c h nicht "unterschiedlich rational", und es gibt keine Unterschiede des Grads der Rationalität je nach Situation: Akteure handeln immer rational, aber innerhalb unterschiedlicher, situationsabhängiger Rahmenbedingungen, was aufgrund der modifizierten Annahmen über diese Rahmenbedingungen zu anderen als den von der traditionellen Theorie vorausgesagten Handlungsmustern führt. 35

Hierunter soll auch Propaganda, Überzeugung durch andere etc. verstanden werden.

36

Kapitel 2: G r u n d l a g e n des kognitiv-evolutionären A n s a t z e s

der Akteure im polit-ökonomischen System kann sich im Zeitablauf ändern, was zu geänderten Interessen und damit geäusserten politischen Präferenzen führt. 36 Politische Präferenzen verschiedener Akteure sind zudem nicht völlig unabhängig voneinander, sondern entwickeln und verändern sich unter Einbezug von Information über die Präferenzen anderer Akteure sowie affektiver Einflüsse. 2.2.3. Satisficing-Verhalten Informationsbeschaffung und -Verarbeitung unterliegen verschiedenen Restriktionen: Beschränkte Verfügbarkeit von Ressourcen wie Zeit, eigenes geistiges Potential und materielle oder finanzielle Mittel. Häufig werden mehrere Ziele gleichzeitig angestrebt, wodurch es kaum möglich ist, eine "objektiv beste" Lösung zu finden, zumal meist unklar ist, worin diese bestehen würde. Deshalb können nicht alle denkbaren Alternativen evaluiert werden, sondern nur einige mögliche, vordergründig sinnvolle. Von diesen wird die günstigste ausgewählt, die einem expliziten oder intuitiven Anforderungsprofil genügt. Es wird also eine unter den gegebenen wirtschaftlichen, aber vor allem auch politischen Bedingungen befriedigende Lösung gesucht (sog. Sa tisficing- Verhalten). 2.2.4. Kollektive Prozesse Im Gegensatz zu vielen traditionellen Ansätzen, ist kollektives Handeln nicht einfach Aggregation von unabhängigen Einzelhandlungen: Weil sich das Individuum aufgrund von Mehrdeutigkeit allein oft nicht zurechtfindet, sucht es Hilfe bei Kollektiven, so dass die subjektive Wirklichkeitssicht oft ein soziales Konstrukt ist, welches sozialen Ansteckungsprozessen unterliegt.

36

Beispiele sind: Wechsel zwischen politischen Ämtern; Wechsel zwischen Arbeitnehmerposition und Arbeitgeberposition oder Wechsel von Berufsbranche oder -sektor.

2. Das kognitive Handlungsmodell

Zusammenfassend können die Ebenen des Handlungsmodells wie folgt dargestellt werden:

37

kognitiven

1. Wirklichkeit

Summe aller Beziehungen zwischen Umwelt und Individuum.

2. Wahrnehmung

Schnittstelle zwischen kognitiven Strukturen und Wirklichkeit. Subjektiv geprägte Aufnahme und Selektion von Information über die Wirklichkeit. Interaktionsprozesse mit den kognitiven Strukturen prägen die Selektionskriterien. Teilweise, naturbedingte Fehlerhaftigkeit (Sinnestäuschungen).

3. Kognitive Strukturen - Ordnungsvorstellungen

Konstruktion der Wirklichkeit in Form von Vermutungswissen und Wertvorstellungen, welche über den Interaktionsprozess mit dem Wahrnehmungsapparat durch persönliche Erfahrungen und soziale Einflüsse (inkl. Sprache) geprägt werden. Herausbildung von Handlungsgrundlagen unter der Restriktion begrenzt verfügbarer Ressourcen.

4.

Begrenzte Rationalität des Handelns im Rahmen der subjektiven Wirklichkeitssicht. Beschränkte Verfügbarkeit von Ressourcen zur Bildung von Handlungsgrundlagen führt meist zu "Satisficing" Verhalten.

Entscheidungsund Handlungsinstanz

38

Kapitel 2: Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes

3. Das evolutionäre Systembild Das zweite grundlegende Element des hier gezeigten Ansatzes neben dem kognitiven Menschenbild ist das evolutionäre Systembild. Übertragen auf die Wirtschaftspolitik bedeutet dies einerseits, dass die Wirtschaftspolitik als Gesamtsystem zu verstehen ist, in dem verschiedene Elemente (Akteure, Institutionen, Regeln) aufeinander wirken und voneinander abhängen. Diese Wirkungen zwischen Elementen können einseitig oder wechselseitig sein und haben meist auch Nebenwirkungen auf weitere Elemente sowie Rückwirkungen auf sich selbst. Offen ist das hier gezeigte Modell in dem Sinne, dass es auf äussere Veränderungen der Umwelt (v.a. natürliche Umwelt und Ausland) und der Gesellschaft (Rollen, Werthaltungen, Ideologien) reagiert. Andererseits bedeutet der Einbezug des evolutionären Aspektes, dass wirtschaftspolitische Abläufe nicht wie in traditionellen Modellen komparativ-statisch im Sinne eines Vergleichs zwischen verschiedenen Systemzuständen betrachtet werden, sondern dass die Abläufe und Prozesse selbst beschrieben und erklärt werden können. 3.1. Eigenschaften einer Evolutionstheorie Die konstitutiven Eigenschaften einer Evolutionstheorie lassen sich kurz folgendermassen zusammenfassen: 1. Eine Evolutionstheorie berücksichtigt die in der Zeit ablaufende Entwicklung und ist damit eine dynamische Theorie. 2. Irreversibilität der Entwicklungsmuster: Die Entwicklung eines Systems ist weder völlig determiniert noch völlig offen, sondern sie ist von der geschichtlichen Entwicklung des Systems abhängig (sog. Pfadabhängigkeit). Entwicklungen sind somit zeitlich nicht umkehrbar.

3. Das evolutionäre Systembild

39

3. Neuerungen und ihre evolutionäre Entstehung werden berücksichtigt. Damit ist das System teilweise offen. 3.2. Wirtschaftspolitisches System als evolutionäres System Die Entwicklung eines Systems beruht auf den drei Mechanismen Variation, Selektion und Bewahrung. 3.2.1. Variation In einem wirtschaftspolitischen System bestehen zu jedem Zeitpunkt bestimmte Handlungsroutinen, welche auf den Ordnungsvorstellungen der Akteure beruhen. Diese Handlungsroutinen beziehen sich auf kurzfristig und längerfristig ausgerichtetes Handeln sowie auf standardisierte Stabilisierungs- und Suchregeln. Sie werden durch Veränderungen innerhalb und ausserhalb des Systems dauernd in Frage gestellt. a) Externe Variation: Die in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und natürlicher Umwelt ablaufenden Prozesse bedeuten eine ständige Veränderung der kognitiven und damit handlungsrelevanten Rahmenbedingungen. Bezogen auf wirtschaftspolitische Akteure handelt es sich hier um Änderungen der (wahrgenommenen) Wirtschaftslage und der Restriktionen. b) Interne Variation: Die ständigen Herausforderungen, die sich durch diese externen Variationen für das Handeln ergeben, fordern von diesem seinerseits Variationen: Das Handeln muss laufend den jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden. Handlungen sind nie "objektiv richtig", sondern der aktuellen Situation nur mehr oder weniger angemessen. Hieraus ergibt sich über die Zeit hinweg eine Bandbreite von möglichen individuellen oder kollektiven Handlungsmustern: Die interne Variation generiert als Reaktion auf die externe Variation innerhalb eines evolutionären Prozesses laufend neue oder

40

Kapitel 2: Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes

geänderte Handlungsweisen und erweitert damit das Potential möglicher Handlungsweisen. 3.2.2. Selektion Mögliche neue oder angepasste, selbstentwickelte oder übernommene Handlungsweisen werden zuerst individuell anhand der eigenen Ordnungsvorstellungen überprüft (interne Selektion). Anschliessend werden sie im kollektiven Problemlösungsprozess vorselektioniert. Erfolgversprechende Varianten werden durch praktisches Handeln überprüft, d.h. extern selektioniert. Die in den nachfolgenden Kapiteln analysierten Phasen des wirtschaftspolitischen Prozesses sind als Stufen eines solchen Selektionsprozesses zu verstehen und bilden den Kern des hier vorgestellten Modells der Wirtschaftspolitik. 3.2.3. Bewahrung Handlungsmuster, Regeln und Institutionen können sich aufgrund der externen Selektion für das Verfolgen der individuellen Ordnungsvorstellungen als unterschiedlich tauglich erweisen: Jene, die sich bewährt haben, werden zu neuen Handlungsroutinen und vergrössern so das Handlungsrepertoire. Sie schlagen sich nieder in individuellen Ordnungsvorstellungen, in politischen Konstellationen und Regelungen sowie auf konstitutioneller Ebene. Andere Handlungsroutinen scheiden als untauglich aus. So entsteht vorübergehend ein neues Gleichgewicht, das seinerseits laufend durch externe Variation herausgefordert wird. 3.2.4. Beharrungsgleichgewichte Das neue Gleichgewicht ist also nicht zeitlos, sondern ein Beharrungsgleichgewicht. Wenn die bestehenden Handlungsmuster nicht mehr zu befriedigenden Lösungen führen und dabei ein kritischer Schwellenwert überschritten wird, geht das System aufgrund des beschriebenen evolutionären Anpassungsprozesses in ein neues Beharrungsgleichgewicht über. Die zwischen

4. Übersicht über den wirtschaftspolitischen Prozesses

41

den Gleichgewichtsperioden auftretenden Ungleichgewichte stellen den Motor evolutionärer Dynamik dar. Die tatsächliche Evolution eines Systems kann aber nie vorausgesagt werden. Der wirtschaftspolitische Problemlösungsprozess lässt sich grob als Mobilisierungsprozess verstehen, der eher Sinngebungscharakter hat, wenn er durch Unsicherheit der Akteure ausgelöst worden ist, oder eher Tauschcharakter, wenn er durch Unzufriedenheit in Gang gesetzt wurde. Dabei scheiden bestehende Probleme laufend - mindestens vorübergehend - aus dem Prozess aus (Filterwirkungen), und neue Probleme tauchen auf.

4. Übersicht über den wirtschaftspolitischen Prozess Der Grundaufbau der kognitiv-evolutionären Theorie ist dem der traditionellen Ansätze und der ökonomischen Theorie der Politik ähnlich: Wirtschaft und Politik werden als interdependent betrachtet, und die Akteure handeln der Intention nach rational: Ausgehend von der Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen Lage und Zielen erzeugen einzelne Akteure oder Gruppen von Akteuren einen Handlungsdruck auf andere Akteure (meist auf Legislative oder Exekutive). Ist dieser Druck genügend gross, d.h. können genügend Akteure und Ressourcen mobilisiert werden, wird ein wirtschaftspolitischer Problemlösungsprozess ausgelöst. - Besonderheiten ergeben sich hier aus der Anwendung des kognitiven Handlungsmodells und des evolutionären Systembildes. Der politische Prozess kann nicht auf kollektive Entscheidungen im Rahmen objektivierbarer Ziel-Mittel-Beziehungen reduziert werden, sondern stellt ein selektives Problemlösungsverfahren dar, welches auch Sinngebungs- und Filterfunktionen erfüllt.

42

Kapitel 2: Grundlagen des kognitiv-evolutionären A n s a t z e s

4.1. Problemwahrnehmung auf individueller Ebene Damit ein Problem entsteht, muss es - wie oben ausgeführt - als solches wahrgenommen werden. Diese Wahrnehmung erfolgt nicht kollektiv, sondern auf individueller Ebene: Probleme müssen immer durch einzelne Akteure als Diskrepanz zwischen Soll- und Ist-Parametern wahrgenommen werden. Ist dies der Fall, entsteht bei Akteuren Unzufriedenheit.37 Zugleich, aber unabhängig davon, können die Akteure auch Unsicherheit empfinden, wenn die Situation mehrdeutig ist und deshalb eine kognitive Dissonanz entstehen lässt. Die individuelle Wahrnehmung wirkt hier gewissermassen als Vorfilter der Problementstehung. Die folgende Graphik gibt im Zusammenhang mit den in Fussnote 30 gemachten Ausführungen zur Problementstehung und kognitiven Dissonanz einen Überblick über die individuelle Ebene.

37

Der Grund für Unzufriedenheit besteht also allgemein darin, dass ein Sachverhalt bei einem oder mehreren Akteuren zu einer Diskrepanz mit den Soll-Vorstellungen führt. Dies bedeutet aber nicht, dass alle Akteure, die dieses Problem empfinden, die gleichen Ordnungsvorstellungen haben müssen: Ein Sachverhalt kann durchaus aus verschiedenen Gründen für problematisch gehalten werden, was dann zu unterschiedlichen Massnahmen und Lösungsvorschlägen führt.

4. Übersicht über den wirtschaftspolitischen Prozesses

43

Änderungen der Gesellschaft

Abb. 4: Die individuelle Ebene der Problementstehung

4.2. Vierstufiger Problemlösungsprozess auf kollektiver Ebene Ob und inwieweit nun individuelle Unzufriedenheit und/oder Unsicherheit zu einem kollektiven Problemlösungsprozess führen, hängt massgeblich vom Verbreitungsgrad der Ordnungsvorstellungen der betroffenen Akteure ab. Für die Übertragung der Problemsicht von der individuellen auf die kollektive Ebene ist ein Mobilisierungsprozess nötig, der das wahrgenommene Problem zum wirtschaftspolitischen Thema macht. Der Mobilisierungsprozess umfasst auf dieser Ebene die Formulierung und Verbreitung einer gemeinsamen Problemsicht möglichst vieler und/oder einflussreicher Akteure sowie die Bereitstellung der entsprechenden materiellen und finanziellen Ressourcen (z.B. für Unterschriftensammlung, Abstimmungspropaganda etc.). Die Problembehandlung auf kollektiver Ebene lässt sich idealty-

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Kapitel 2: Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes

pisch als vierstufiger Prozess darstellen. Jede Stufe stellt einen Filter (oder eine Hürde) dar, der (die) überwunden werden muss, damit das Problem weiter im Prozess verbleibt bzw. weiter behandelt wird. Zur Überwindung der Filter ist auf jeder Stufe ein mehr oder minder grosser Mobilisierungsprozess notwendig. Diese Darstellung ist deshalb idealtypisch, weil sich die Stufen in der Praxis zum Teil überlagern und zeitlich nicht immer eindeutig abzugrenzen sind.

Die Stufen des kollektiven Problemlösungsprozesses 1. 2. 3. 4.

Problementstehung Problemzulassung und -definition Entscheidungsprozess Implementation

4.2.1. Problementstehung Je mehr Akteure eine Problemsicht teilen, je einflussreicher sie sind und über je mehr Ressourcen sie verfügen, um so grösser wird der Druck auf kollektiver Ebene, sich des Problems anzunehmen. Überschreitet dieser Druck einen gewissen Schwellenwert, entsteht ein kollektiver Handlungsbedarf. Dieser Schwellenwert stellt den ersten Filter des wirtschaftspolitischen Prozesses dar, weil gewisse Problemsichten aufgrund ungenügender Moblilisierung auf kollektiver Ebene nicht thematisiert werden und damit kein kollektiver Problemlösungsprozess in Gang kommt. Solche Probleme bleiben latent weiterbestehen oder werden entweder zu einem späteren Zeitpunkt thematisiert (wenn die Mobilisierung erfolgreich war bzw. sich die Problemsicht bei mehr Akteuren durchgesetzt hat), oder sie verschwinden aufgrund einer veränderten Lage oder geänderten Ordnungsvorstellungen. Wird der erste Filter des wirtschaftspolitischen Prozesses über-

4. Übersicht über den wirtschaftspolitischen Prozesses

45

wunden, bezeichen wir dies als Problementstehung auf kollektiver Ebene. Dies ist die erste Stufe des vierstufigen Problemlösungsprozesses der Wirtschaftspolitik. 4.2.2. Problemzulassung und -definition Ist ein Problem nach erfolgreicher Mobilisierung auf die kollektive Ebene gelangt, muss es hier eine Art Zulassungsverfahren bestehen, wenn es im Rahmen eines politischen Prozesses behandelt werden soll: Erstens muss es auf die Traktandenlisten der für die Entscheidvorbereitung und -findung zuständigen Gremien (v.a. von Interessengruppen, Parteien, Regierung, Parlament) gesetzt werden. Damit ist das Problem zur Behandlung zugelassen. Zweitens muss das Problem "gefasst", d.h. benannt und strukturiert werden (Problemdefinition). Beides findet wiederum im Rahmen eines Mobilisierungsprozesses statt. Dieser umfasst nach Massgabe der mit dem Problem verbundenen Unsicherheit in erster Linie Sinngebungsprozesse-. Vor allem wenn die Unsicherheit gross ist, überwiegt auf individueller Ebene das affektive Element, d.h. Intuition, Ängste etc. Auf kollektiver Ebene hingegen müssen die Probleme bewusst inhaltlich und formal abgegrenzt, definiert und interpretiert werden, um zu einer gemeinsamen Handlungsgrundlage zu gelangen. Diesen Prozess bezeichnen wir als kollektive Sinngebung. Der Umfang dieses Prozesses hängt vom Ausmass der mit dem Problem verbundenen Unsicherheit ab: Je geringer die Unsicherheit, um so besser kann das Problem gefasst und kategorisiert werden. Im Grenzfall ist die Unsicherheit so gering, dass sich die beteiligten Akteure unmittelbar über die Problemart und das weitere Vorgehen einig sind (gemeinsame Handlungsgrundlage). Ist die Unsicherheit hingegen gross, muss diese soweit reduziert werden, bis gemeinsames Handeln möglich wird. Diese Reduktion erfolgt durch den Austausch von Deutungsmustern, Interpretationen, Meinungen und Sachinformationen. Bei konkurrenzierenden Deutungsangeboten versuchen sich die

46

Kapitel 2: Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes

Akteure gegenseitig zu überzeugen und ihre eigene Problemsicht möglichst weit zu verbreiten. In diesen Prozess sind auch Vorstellungen über wirtschaftspolitische Ziele und Massnahmen zu deren Erreichung im Hinblick auf das infragestehende Problem einbezogen. Wurde die Unsicherheit durch den Sinngebungsprozess soweit reduziert, dass eine Handlungsgrundlage besteht, ist das Problem definiert und wird weiterbehandelt. Falls diese Reduktion nicht gelingt, bleibt die Unsicherheit und damit das Problem latent weiter bestehen, was entweder dazu führt, dass es (1) aufgeschoben wird (z.B. zwecks Beschaffung weiterer Information), oder dass die Akteure (2) ihr Interesse daran verlieren (z.B. weil andere, wichtiger erscheinende Probleme auf die Agenda der wirtschaftspolitischen Diskussion gesetzt werden). Andererseits ist es (3) auch möglich, dass das Problem durch die Beseitigung der Unsicherheit bereits "gelöst ist und keiner weiteren Behandlung bedarf (vgl. unten zu den virtuellen Effekten, Abschnitt 4.3.1). Bestimmte Meinungen, Werthaltungen und Forderungen (die z.B. nicht mehrheitsfähig sind) werden zugleich durch diesen Prozess ausgeschlossen. Problemzulassung und -définition wirken somit als zweiter Filter, den ein Problem im kollektiven Problemlösungsprozess zu überwinden hat. 4.2.3. Entscheidungsphase Ist der zweite Filter überwunden, stellt sich die Frage, ob die weitere Problembehandlung bereits vorbereitet ist. Probleme, die schon in gleicher oder in ähnlicher Weise aufgetreten sind, und die deshalb durch bereits vorhandene Verfahren (z.B. solche der Verwaltung oder des kurzfristigen Krisenmanagements) bewältigt werden können, bezeichnen wir als Routinefall, der durch ein bürokratisches Entscheidverfahren gelöst werden kann. Muss hingegen nach neuen Lösungen gesucht oder müssen die zur Lösung notwendigen formalen Grundlagen (z.B. Verordnungen, Gesetze etc.) erst geschaffen werden, sprechen wir von einem

4. Übersicht über den wirtschaftspolitischen Prozesses

47

Problemfall, der durch politische Entscheidungsmechanismen weiter behandelt wird. Für die Lösung von Problemfällen lassen sich idealtypisch zwei Verfahren unterscheiden: Das autoritäre und das formaldemokratische Lösungsverfahren. Ersteres kann in westlichen Demokratien meist nur dort eingesetzt werden, wo Probleme mit nicht-prioritärem Charakter und geringem Konfliktpotential oder Krisenprobleme mit grossem zeitlichem Handlungsdruck angegangen werden. Ansonsten erfolgt eine formaldemokratische Problemlösung in zwei Schritten: a) In der Entscheidvorbereitungsphase wird durch Konsultationen (z.B. im Vernehmlassungsverfahren) und Verhandlungen eine mehrheitsfähige Abstimmungsgrundlage erarbeitet. Hierbei handelt es sich um eine Art Tauschprozess, bei dem die Nachfrager (meist Interessengruppen) und Anbieter (meist Regierung oder Parlament) politischer Lösungen Stimmen oder Wohlverhalten gegen politische Zugeständnisse tauschen. Sind verschiedene Akteurgruppen (z.B. Interessengruppen) gleichzeitig involviert oder werden verschiedene Problemfälle gleichzeitig (z.B. als Paket) behandelt, kommt es auch zum Stimmentausch unter den Nachfragern (sog. Log-Rolling). b) Im zweiten Schritt erfolgt der eigentliche politische Entscheid im Rahmen eines formaldemokratischen Abstimmungsverfahrens. Das resultierende politische Gleichgewicht ist mit jenem durch die Public Choice Theorie beschriebenen äusserlich identisch, hat jedoch, wie erwähnt, Beharrungscharakter. Die Entscheidungsphase stellt den dritten Filter des wirtschaftspolitischen Problemlösungsprozesses dar, zu dessen Überwindung wiederum Mobiiisierungs-, d.h. Sinngebungs- und Tauschprozesse nötig sind. Innerhalb dieser Prozesse spielen vor allem Verhandlungen eine bedeutende Rolle.

48

Kapitel 2: Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes

4.2.4. Implementation Die in der vorangegangenen Phase getroffenenen Entscheide über wirtschaftspolitische Massnahmen müssen in einem letzten Schritt umgesetzt, d.h. implementiert werden. Es ist möglich, dass die zur Umsetzung nötigen rechtlichen und administrativen Voraussetzungen erst geschaffen werden müssen. Fehlen die rechtlichen Grundlagen, verbleibt das Problem auf der Entscheidungsebene, bis diese geschaffen sind. Sind alle Voraussetzungen gegeben, wird in der Regel die Verwaltung mit dem Vollzug der Massnahmen beauftragt. Dieser Vollzug ist seinerseits Teil des politischen Gesamtprozesses, weil hier gewisse Freiheitsgrade seitens der ausführenden Organe sowie Informationsasymmetrien zwischen Legislative (Parlament) und Exekutive (meist Verwaltung, Gerichte) bestehen. Die Freiheitsgrade beruhen auf impliziten Interpretations- und expliziten Ermessensspielräumen in der Anwendung und Durchsetzung von Rechtsbeschlüssen durch Verwaltung und Judikative. Dies führt in der Implementationsphase wiederum zu (meist informellen) Sinngebungs- und Verhandlungsprozessen (Interpretationsfragen) innerhalb der Exekutive (z.B. zwischen Regierung und Verwaltung) sowie zwischen Vollzugsorganen und den von der Massnahme betroffenen Akteuren (z.B. zwischen Verwaltung und Industrie). Hinzu kommt, dass die Massnahmen den Handlungsspielraum der Adressaten unterschiedlich stark einschränken oder erweitern. Wird der Handlungsspielraum erweitert, verhalten sich die Adressaten kooperativ, wogegen seine Einschränkung zu Widerständen (z.B. vorenthalten, manipulieren von Information) führt. Diese können bis zur Blockierung des Implementationsprozesses reichen und eine Neubehandlung des Problems auf der Ebene der Entscheidungsträger bewirken, was zu neuen Verhandlungen auf verschiedenen Ebenen führen kann. - Bei geringen Freiheitsgraden und Widerständen erfolgen lediglich (einseitige) Konsultationen oder eine rein bürokratische Abwicklung. Die Informationsasymmetrien beruhen einerseits auf der

4. Übersicht über den wirtschaftspolitischen Prozesses

49

Unmöglichkeit einer vollständigen Kontrolle der Voraussetzungen und der Einhaltung des Vollzugs durch die Verwaltung und andererseits auf der meist grösseren Sachkompetenz der von der Massnahme betroffenen Akteure, die in der Regel über besser erschlossene Informationsquellen verfügen als die Verwaltung. Diese Gründe bewirken gemeinsam, dass Entscheide meist nicht vollständig im Sinne der Legislative umgesetzt, sondern im Sinne der an der Implementation beteiligten Akteure (inkl. Verwaltung) verändert bzw. abgeschwächt werden, oder dass ein Problem auf Ebene der Entscheidungsträger neu behandelt werden muss. Hierin besteht die Funktion dieses vierten Filters des wirtschaftspolitischen Problemlösungsprozesses. Abbildung 5 (nachfolgend) zeigt zusammenfassend die vier Stufen und Filter des wirtschaftspolitischen Problemlösungsprozesses auf kollekiver Ebene.

50

Kapitel 2: Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes

individuelle Ebene Unzufriedenheit Unsicherheit

Filter 1 Problementstehung

t

kollektive Ebene

Nein

Mobilisierung erfolgreich?

I

FÎitër2~ Problemzulassung und -definition

Ja

KOLLEKTIVE SINNGEBUNG Festlegen der für die Problemlösung massgeblichen Interpretation, Ziele und Instrumente

T

Routinefall

Problembehandlung vorbereitet?

Ja

Nein Problemfall Filter 3 Entscheid

?

POLITISCHE ENTSCHEIDUNGSMECHANISMEN Entscheidvorbereitung: Vernehmlassung Verhandlungen formaldemokratische Lösung: Abstimmung

A

Eventuelle Neubehandlung

Filter 4

1

IMPLEMENTATION

Implemen-

bürokratische Abwicklung

tation

oder Widerstände (Sinn-

1

BÜROKRATISCHES ENTSCHEIDVERFAHREN Konsensfindung vorweggenommen (Faustregeln, bestehende Verfahren und Routinen)

gebung, Neuverhandlungen)

4. Übersicht über den wirtschaftspolitischen Prozesses

51

4.3. Das Ergebnis des wirtschaftspolitischen Problemlösungsverfahrens 4.3.1. Massnahmen und direkte Effekte Unter dem Begriff "Ergebnis des wirtschaftspolitischen Problemlösungsprozesses" sollen einerseits Massnahmen verstanden werden, die ergriffen werden, um Probleme zu lösen bzw. Unsicherheiten zu beseitigen, und andererseits direkte und indirekte Effekte, die durch diese Massnahmen bewirkt werden. Implementierte Massnahmen können auf die verschiedenen Aspekte der Problementstehung unterschiedlich wirken: (1) Soll durch wirtschaftspolitische Massnahmen vorwiegend die wirtschaftliche Lage beinflusst werden, bezeichen wir dies als reale

Massnahmen. 38

(2) Sollen Massnahmen hingegen hauptsächlich die Ordnungsvorstellungen verändern, sprechen wir von symbolischen Massnahmen. 39

Beide Arten von Massnahmen können eine Verringerung der Soll-Ist Differenz und damit eine Verminderung der U n z u friedenheit bewirken. Beruht diese auf einer tatsächlichen Veränderung der wirtschaftlichen Lage bzw. der entsprechenden Indikatoren 40 , kann von realen Effekten gesprochen werden. Beeinflussen Massnahmen hingegen hauptsächlich die Problemsicht bzw. die Ordnungsvorstellungen der beteiligten Akteure, s p r e c h e n wir v o n virtuellen

Effekten.

Meist bewirken beide Arten von Massnahmen beide Effekte in unterschiedlicher Intensität und lassen sich deshalb konkreten 38

Reale Massnahmen sind z.B. Änderungen der Geldmenge, Arbeitsbeschaffungsprogramme, Regulierungen von Import und Export etc.

39

Symbolische Massnahmen sind z.B. Reden halten, Kommissionen einsetzen, Parlamentsdebatten, Hearings etc.

40

Vgl. dazu nochmals Fussnote 8.

52

Kapitel 2: Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes

Beispielen nur idealtypisch zuordnen. Die nachfolgende Tabelle zeigt eine solche idealtypische Zuordnung einiger Beispiele aufgrund des primär mit einer Massnahme verfolgten Ziels. Massnahmen

real

Effekte

virtuell

real

symbolisch

primäres Ziel: Unzufriedenheit reduzieren

primäres Ziel: Unzufriedenheit reduzieren

Beispiel: Importbeschränkungen bestimmter Güter schützen heimische Produzenten

Beispiel: Optimistische Zukunftsprognose der Regierung führt zu Erwartungsänderungen und zu anderem Investitionsverhalten

primäres Zieh Unzufriedenheit und Unsicherheit reduzieren

primäres Ziel: Unsicherheit reduzieren (Sinngebung)

Beispiel: Arbeitsbeschaffungsprogramme führen zu mehr Einkommen und Zuversicht

Beispiel: Parlamentsdebatte nach dem BörsenCrash 1987 reduziert Unsicherheit

Letztlich wirken die im kollektiven Prozess erzeugten Effekte auf die individuelle Ebene zurück, wodurch sie die Wahrnehmung bestehender oder die Entstehung neuer Probleme mitbeeinflussen. Setzt sich beispielsweise eine bestimmte Problemsicht

4. Übersicht über den wirtschaftspolitischen Prozesses

53

und/oder ein Problemlösungsverfahren (Inkl. den entsprechenden Massnahmen) bei der Behandlung eines bestimmten Problems durch und erweist sich dieses Vorgehen als fruchtbar, ist es wahrscheinlich, dass beides auch auf andere Probleme angewendet wird. 4.3.2. Politische Rückwirkungen Der Problemlösungsprozess erzeugt ferner meist auch indirekte Wirkungen, insbesondere politische Rückwirkungen: Erstens verändern sich durch den Erfolg oder Misserfolg bestimmter Massnahmen die Einfluss- und Interaktionsmöglichkeiten der Akteure (sog. Konstellationen) in Abhängigkeit davon, welche Akteure oder Gruppen sich durchsetzen konnten bzw. erfolgreiche Massnahmen vorschlugen. Sind bei der Problemlösung organisatorische Probleme aufgetreten, kann es zweitens zur Änderung von organisatorischen Strukturen und Abläufen auf konstitutioneller Ebene kommen. 4.3.3. Evolutionäre Dynamik Neben Problemen werden auch Denk- und Handlungsmuster im Problemlösungsprozess selektioniert und verändern sich damit aufgrund ihrer Anwendung im Prozess selbst. Diese Veränderungen von Denk- und Handlungsmustern spielen sich auf der Ebene der Individuen direkt ab (individuelle Lernprozesse). Durch die entsprechenden Aenderungen der Ordnungsvorstellungen und durch die beiden genannten Arten indirekter politischer Rückwirkungen entwickelt sich das wirtschaftspolitische Gesamtsystem evolutionär weiter. Die einzelnen Phasen und Elemente des wirtschaftspolitischen Prozesses sind Gegenstand der Kapitel 3 bis 9. Die nachfolgende Abbildung zeigt das verwendete wirtschaftspolitische Modell im Überblick. Die evolutionäre Dynamik ist durch die weiter oben erwähnten Elemente Variation, Selektion und Bewahrung angedeutet.

54

Kapitel 2: Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes

4. Übersicht über den wirtschaftspolitischen Prozesses

55

4.4. Beeinflussung des wirtschaftspolitischen Prozesses durch spezifische Akteure 4.4.1. Rolle des Wissenschaftlers Die Ordnungsvorstellungen der Ökonomen (v.a. bezüglich der Effizienz), die grundsätzlicher und systematischer Art sind, beinhalten theoretische Konzepte über das Funktionieren der Wirtschaft und die Rolle des Staates. Im wirtschaftspolitischen Problemlösungsprozess prallen die unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen der Akteure aufeinander. Die Problemdeutung des Ökonomen ist nur eine unter vielen, weshalb sein Einfluss in der Politik beschränkt bleibt. Die grössten Chancen, seine Ordnungsvorstellungen durchzusetzen, hat der Ökonom in Fällen grosser Unsicherheit bzw. Mehrdeutigkeit, wenn die Ordnungsvorstellungen der Politiker und des Laienpublikums das Problem nicht zu erfassen vermögen und wenn die Akteure ihre diesbezüglichen Positionen noch nicht bezogen haben. Immer jedoch muss sich der Ökonom gegenüber konkurrierenden Sinngebungen zu behaupten versuchen. In seiner Rolle als wirtschaftspolitischer Berater wird er zum Mitspieler im wirtschaftspolitischen Sinngebungs- und Entscheidungsprozess. Diese Problematik wird in Kapitel 10 erörtert. 4.4.2. Einflussnahme durch Unternehmer und Manager Im Interesse ihres Unternehmens oder der Privatwirtschaft generell nehmen auch Unternehmer und Manager Einfluss auf den politischen Prozess, wobei sie dies In der Regel im Rahmen von Verbänden und Parteien tun. Hauptziele sind dabei die Darlegung wirtschaftspolitischer Probleme aus Unternehmenssicht und die Erhaltung eines möglichst grossen unternehmerischen Handlungsspielraums. Auf diesen Problemkreis wird in Kapitel 11 eingegangen.

56

Kapitel 2: Grundlagen des kognitiv-evolutionären Ansatzes

LITERATURHINWEISE ZU KAPITEL 2

Erste Darstellungen des hier vertretenen Ansatzes finden sich in • Meier, A., Mettler, D.: Wirtschaftspolitik: Kampf um Einfluss und Sinngebung, Bern/Stuttgart, 1988. • Meier, A., Durrer, K: Ein kognitiv-evolutionäres Modell des wirtschaftspolitischen Prozesses, in: Witt, U. (Hrsg.): Studien zur Evolutorischen Ökonomik II, Berlin, 1992. Eine Sammlung von 8 wirtschaftspolitischen Fallstudien aus kognitiv-evolutionärer Sicht stammt von • Meier, A., Haudenschild, Ch.: Der wirtschaftspolitische Problemlösungsprozess, Chur/Zürich, 1991. Einzelne Aspekte des kognitiv-evolutioären Ansatzes wurden publiziert in • Meier, A., Mettler, D.: Auf der Suche nach einem neuen Paradigma der Wirtschaftspolitik. Kyklos, Vol. 38, 1985, Fase. 2, S. 171 - 199. • Meier, A., Mettler, D.: Einfluss und Macht in der Wirtschaftspolitik, in: Schweiz. Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Heft 1/1986, S. 37-59. • Meier, A., Mettler, D.: Theorie der Wirtschaftspolitik und wirtschaftspolitische Beratung, in: Festschrift für Francesco Kneschaurek: Praxisorientierte Volkswirtschaftslehre, Bern, 1988, S. 71 - 89. • Meier, A., Haury, S.: Kollektive Bewältigung von Unsicherheit nach dem Börsencrash vom 19. Oktober 1987, in: Aussenwirtschaft, Jg. 44, 1989, S. 253 - 272. • Meier, A., Slembeck, T.: Mobilisierungsstrategien der Parteien vor den Grossratswahlen 1988 im Kanton St.Galien, in: Dubs, R. et al. (Hrsg.): Der Kanton St.Galien und seine Hochschule, St.Galien, 1989. Grundlegende Beiträge zur kognitiven Psychologie stammen von

4. Übersicht über den wirtschaftspolitischen Prozesses

57

• Piaget, J.: The Construction of Reality in the Child, New York, 1954. • Piaget, J.: Die Äquilibration kognitiver Strukturen, Stuttgart, 1976. Eine umfassende Übersicht der kognitiven Psychologie bieten •Aebii, H.: Denken: Das Ordnen des Tuns, Bd. I: Kognitive Aspekte der Handlungstheorie, Bd. II: Denkprozesse, Stuttgart, 1980/81. •Bourne, L.E.: Cognitive Processes, London, 1986. Grundlegende Beiträge zur Evolutionsökonomik stammen von •Alchian, A.A.: Uncertainty, Evolution and Economic Theory, in: Journal of Political Economics, Vol. 58, 1950, S. 21 Iff. • Hirshleifer, J.: Economics from a Biological Viewpoint, in: Journal of Law and Economics, Vol. 20, 1977, S. 1 -53. • Nelson, R., Winter, S.: An Evolutionary Theory of Economic Change, Cambridge, 1982. Grundlegende Überlegungen zur Evolutionsökonomie finden sich bei • Witt, U.: - Evolution in Markets and Institutions, Heidelberg, 1993. - Individualistische Grundlagen der evolutorischen Ökonomik, Tübingen, 1987. Die grundlegenden Arbeiten zur begrenzten Rationalität und zum Satisficing-Verhalten stammen von Herbert A. Simon. Die folgenden beiden Sammelwerke geben eine gute Übersicht über sein Werk • Simon, H.A.: Models of Bounded Rationality, Vol. 1: Economic Analysis and Public Policy, Vol. 2: Behavioral Economics and Business Organisation, Cambridge, 1982. • Simon, H.A. (et a!.): Economics, Bounded Rationality and the Cognitive Revolution, Hants, 1992.

Kapitel 3 Der wirtschaftspolitische Prozess: Problementstehung

ÜBERSICHT

In diesem Kapitel werden individuelle Problemwahrnehmung sowie Möglichkeiten und Bedingungen der Übertragung von individuellen Problemen auf die kollektive Ebene ausführlicher dargestellt. Beide Vorgänge können als Problementstehung verstanden werden und bilden den Ursprung jedes wirtschaftspolitischen Prozesses.41

1. Problemwahrnehmung auf individueller Ebene Grundlegend für den hier vertretenen Ansatz ist, dass Probleme (1) nicht an sich bestehen und (2) auf individueller Ebene entstehen. zu

Probleme müssen als solche erkannt bzw. wahrgenommen werden. Es gibt keine Probleme, die "an sich" oder "objektiv" bestehen. Sachverhalte oder Zusammenhänge, die für manche ein Problem darstellen, können für andere völlig unproblematisch sein. Probleme entstehen aufgrund von zwei Arten wahrgenommener Diskrepanz (vgl. dazu nachfolgenden Abschnitt).

zu (2)

Die Problemwahrnehmung erfolgt immer durch Individuen. Kollektive können als solche keine Probleme wahrnehmen, sondern bestehen aus Individuen, die Probleme gleich oder ähnlich wahrnehmen

41

Probleme, die ausschliesslich auf individueller Ebene bestehen und nicht auf die kollektive Ebene übertragen werden (können), lösen keine wirtschaftspolitischen Prozesse aus und werden deshalb nicht weiter thematisiert.

60

Kapitel 3: Der wirtschaftspolitische Prozess: Problementstehung

können. Ist dies der Fall, kann von kollektiven Problemen gesprochen werden, wobei die Entstehung und Veränderung der Problemsicht stets auf das Individuum zurückzuführen ist.42 Kollektives Handeln bedeutet, dass mehrere Akteure gleichzeitig aktiv sind.

1.1. Individuelle Unzufriedenheit und Unsicherheit als Ausgangspunkte 1.1.1. Unzufriedenheit Besteht eine Diskrepanz zwischen wahrgenommener Lage und Soll-Parametern eines Akteurs, erzeugt sie (vorerst individuelle) Unzufriedenheit. Sie stellt einen Anreiz zu Handlungen dar, die sich auf eine Verringerung der Diskrepanz richten. Ob dieser Anreiz gross genug ist, um tatsächlich eine Handlung auszulösen, hängt von der individuellen Abwägung zwischen den mit der Handlung verbundenen, erwarteten Kosten und dem erwarteten Nutzen der Handlung ab.43 Im weiteren wird davon ausgegangen, dass die so entstandene Unzufriedenheit nicht (ausschliesslich) durch einzelne Akteure beseitigt werden kann und deshalb das kollektive Handeln mehrerer Akteure erforderlich ist. - Inhaltlich kann sich die Unzufriedenheit prinzipiell auf folgendes beziehen: •wirtschaftliche Lage (Indikatoren) • kollektive Regeln • kollektive Prozesse •wirtschaftspolitische Institutionen

42

Damit wird der für die ökonomische Theorie konstitutive methodologische Individualismus beibehalten. Vergleiche dazu in Kapitel 1 Abschnitt 3.1., insbesondere Seite 15f.

43

Ob ein Handeln resultiert und wieviele Ressourcen dabei eingesetzt werden, hängt somit nicht nur vom "Grad der Unzufriedenheit" ab, sondern auch von den mit dem Handeln verbundenen Kosten: Auch bei grosser individueller Unzufriedenheit kann es sein, dass kein Handeln erfolgt, weil die entsprechenden Kosten den erwarteten N u t z e n übersteigen. Zudem lohnt es sich aufgrund steigender Grenzkosten und sinkendem Grenznutzen der notwendigen Handlungen meist nicht, eine Diskrepanz vollständig aufzulösen.

1. Problemwahrnehmung auf individueller Ebene

61

Üblicherweise bezieht man "wirtschaftspolitische Probleme" auf die Unzufriedenheit bezüglich der festgestellten Lage. Die übrigen genannten Bezugspunkte bzw. Ursachen werden deshalb nachfolgend nur am Rande behandelt. 1.1.2. Unsicherheit Besteht eine starke und/oder systematische Diskrepanz zwischen wahrgenommenen Informationen (über Kausalzusammenhänge, wirtschaftspolitische Parameter oder Soll-Parameter anderer Akteure) zu den diesbezüglich bestehenden Ordnungsvorstellungen eines Akteurs, entsteht eine kognitive Dissonanz, die aufgrund der damit verbundenen Mehrdeutigkeit zu Unsicherheit führt.44 Wenn sich diese individuell nicht bewältigen lässt, sind Interpretationen, Erklärungen und Deutungen (= Sinngebungsprozesse) im Austausch mit anderen Individuen notwendig.45 Nachfolgend sind nur jene Fälle von Unsicherheit von Interesse, die nicht allein auf individueller Ebene bewältigt werden können. 1.1.3. Beispiele für die Entstehung von Diskrepanzen Gehen wir gedanklich von einer Gleichgewichtssituation aus, wo weder Unzufriedenheit noch Unsicherheit bestehen, entstehen Probleme entweder durch Veränderungen der Lage oder der Ordnungsvorstellungen. Nachfolgend sind einige Beispiele für solche Veränderungen aufgeführt. 1.1.3.1. Veränderungen der Lage Je nachdem, ob die Akteure eines wirtschaftspolitischen Systems auf die Veränderungen der Lage Einfluss nehmen können oder nicht, kann zwischen internen und externen Veränderungen unterschieden werden. 44

Vgl. zum Begriff der kognitiven Dissonanz in Kapitel 2 Abschnitt 2.1, insbesondere Seite 27. 45

Weil auch Sinngebungsprozesse (auf individueller wie kollektiver Ebene) mit einem Ressourceneinsatz verbunden sind, unterliegen sie einem analogen KostenNutzen-Kalkül, wie es in Fussnote 43 für die Reduktion von Unzufriedenheit beschrieben wurde.

62

Kapitel 3: Der wirtschaftspolitische Prozess: Problementstehung

a) Interne Veränderungen der Lage beruhen auf Änderungen, die in der Binnenwirtschaft selbst begründet liegen, wie • binnenwirtschaftlich bedingte Konjunkturbewegungen • Nachfrage- oder Angebotsschocks • Technischer Fortschritt • Strukturwandel • demographische Veränderungen. b) Externe Veränderungen der Lage beruhen auf Änderungen, die im Ausland oder in der natürlichen Umwelt begründete liegen, wie • weltwirtschaftliche Konjunkturbewegungen • Angebots- oder Nachfrageschocks • weltweiter Strukturwandel, technischer Fortschritt • Veränderung weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen (GATT, EU, etc.) • importierte Inflation • Erschöpfung von Ressourcen • übermässige Umweltbelastung • Bevölkerungsexplosion. 1.1.3.2. Veränderungen der Ordnungsvorstellungen Veränderungen der individuellen Ordnungsvorstellungen entstehen i.d.R. als Reaktion auf Veränderungen der Umwelt des Individuums.46 Weil es (inter-)aktiv in einem dynamischen Umfeld lebt, beeinflussen die laufend eintreffenden Informationen kontinuierlich die Ordnungsvorstellungen. Dies führt zu deren ständiger Weiterentwicklung, die entweder bewusst (meist durch einzelne, bedeutsame Ereignisse) oder unbewusst durch kontinuierlich ablaufende Prozesse erfolgt. Informationen, die 46

In einer vollständig konstanten Umwelt gibt es für das Individuum keinen Anlass, seine Ordnungsvorstellungen zu ändern. Weil sie sich im Zeitablauf durch Interaktion mit der U m w e l t gebildet haben, verändern sie sich nicht weiter, sofern sich die U m w e l t nicht ändert. Diese Aussage impliziert, dass das Individuum seine Ordnungsvorstellungen in der Vergangenheit ständig den Umweltänderungen angepasst hat. Falls dies nicht geschehen ist, besteht auch in einer aktuell konstanten U m w e l t die Möglichkeit, dass sich seine Ordnungsvorstellungen durch Kognition ("scharfes Nachdenken") über die Vergangenheit nachträglich verändern.

1. Problemwahrnehmung auf individueller Ebene

63

Ordnungsvorstellungen beeinflussen, stammen aus folgenden Quellen: • Soll-Parameter anderer Individuen (Ideen, Werthaltungen, Ideologien etc.) • Neue Erkenntnisse über Ist-Parameter (Kausalzusam-men hänge und Restriktionen) aus eigener Erfahrung oder durch andere vermittelt (Medien, Wissenschaft, andere Individuen), welche wiederum auf die Soll-Parameter wirken können Die nachfolgenden Beispiele verdeutlichen die Vielfalt der möglichen Veränderungen von Ordnungsvorstellungen. Meist sind dabei beide oben genannten Aspekte betroffen. • neuer Stellenwert von Freihandel bzw. Protektionismus • Neubewertung der Ökologie • Aufleben von Nationalismus • Änderung der Rolle der Frau in der Gesellschaft • veränderte Beurteilung von Marktbeschränkungen in der Wettbewerbstheorie Im allgemeinen sind die Soll-Parameter der beständigste Teil der Ordnungsvorstellungen, weil sie sich im Zeitablauf nur sehr langsam ändern und grundsätzlich schwerer zu beeinflussen sind.47 1.2. Die Funktionen der Ordnungsvorstellungen Im vorangehenden Abschnitt wurde gezeigt, dass die kognitiven Strukturen bzw. Ordnungvorstellungen das individuelle Referenzsystem bilden, aufgrund dessen das Individuum den kognitiven Bezug zu seiner Umwelt herzustellen vermag (Erkennen von Problemen). Hierin besteht deren erste und wichtigste Funktion. Dieser individuellen Problemerkennung vorgelagert ist die Stufe der Wahrnehmung. Bezogen auf die Wahrnehmung wirken die Ordnungsvorstellungen leitend und selektionierend. Eng mit der Wahrnehmung verbunden ist die Interpretation 47

Zu den Möglichkeiten und Grenzen der Beeinflussung von Bewusstseinsgrad und Meinungen siehe Abschnitt 3 in diesem Kapitel.

64

Kapitel 3: Der wirtschaftspolitische Prozess: Problementstehung

selektionierter Information. Diese erfolgt aufgrund eines Vergleichs der aufgenommenen Information mit den vorhandenen Parametern der Ordnungsvorstellungen. Die verschiedenen Möglichkeiten und Folgen eines solchen Vergleichs wurden im vorangehenden Abschnitt erläutert. Zusammenfassend erfüllen die Ordnungsvorstellungen folgende Funktionen: 1. Referenzsystem für die Interpretation von Information 2. Lenkung der Wahrnehmung auf einen bestimmten Ausschnitt der "Realität" und damit 3. Selektion der als relevant betrachteten Informationen aus dem Set der virtuell verfügbaren Informationen. 1.3. Wahrnehmung der Lage Für die wirtschaftspolitischen Akteure bedeutet dies, dass sie die "wirtschaftspolitische Realität" aufgrund ihrer individuellen Ordnungsvorstellungen subjektiv und selektiv wahrnehmen. Die folgende Abbildung zeigt diesen Sachverhalt im einzelnen: Aus dem Set virtuell verfügbarer Informationen wird aufgrund der Ordnungsvorstellungen ein bestimmter Ausschnitt selektioniert. Diese Auswahl erfolgt aber keineswegs bewusst oder willentlich, sondern ist Folge der wahrnehmungsleitenden Funktion der Ordnungsvorstellungen. Zudem ist die "Realität" oder "Lage" der Wirtschaft für das Individuum nur zum kleinsten Teil aufgrund der eigenen wirtschaftlichen Aktivitäten erfahrbar. Hingegen stehen umfangreiche weitere Informationen zur Verfügung, die durch professionelle Beobachtung der Wirtschaftslage gewonnen wurden (z.B. durch staatliche Stellen, Verbände, Parteien, Wirtschaftsforschungsinstitute). Die solchermassen selektionierten Informationen werden mithilfe von Indikatoren strukturiert und anhand der Ordnungsvorstellungen interpretiert. Ergibt sich aus der Interpre-

1. Problemwahrnehmung auf individueller Ebene

65

tation eine Diskrepanz (Unzufriedenheit oder Unsicherheit), erfolgen nach Massgabe des Kosten-Nutzen-Kalküls Handlungen zur Reduktion der Diskrepanz.

Individuelle Sinngebung mit Hilfe von Aussagen und Indikatoren

[Beobachtung selektionierte Informationen

Handeln

Set virtuell verfuegbarer Informationen

Abb. 7: Wahrnehmungs- und Interpretationsprozesse

1.3.1. Probleme der Beobachtung Die Beobachtung der wirtschaftspolitischen Lage ist aus verschiedenen Gründen oft nicht einfach: • Bestimmte Tatbestände sind der Beobachtung nur schwer zugänglich oder quantitativ nicht erfassbar, z.B. Einstellungen, Präferenzen. • Bestimmte Tatbestände werden bewusst geheim gehalten und können deshalb nicht beobachtet werden, wie z.B. Einkommen, geschäftliche Transaktionen. • Gewisse Tatbestände werden falsch angegeben, wie z.B. Einkommen, Subventionstatbestände, Geschäftsgang. • Gewisse Tatbestände könnten erfasst werden, es fehlt jedoch die Auskunftsbereitschaft oder die gesetzliche Grundlage, oder die Kosten der Erhebung sind zu hoch. 1.3.2. Indikatoren und Aussagen Die Festlegung und Auswahl von Indikatoren

ist stets von

66

Kapitel 3: Der wirtschaftspolitische Prozess: Problementstehung

theoretischen Konzepten und/oder Alltagsvorstellungen bzw. Vermutungswissen geprägt. Wirtschaftspolitische Akteure verfügen selten über eine explizit formulierte Theorie, sondern lassen sich bei der Auswahl der Indikatoren und der anschliessenden Interpretation meist von ihren eigenen Erfahrungen und Ansichten anderer Individuen (z.B. Parteigängern) leiten. Dies und die Notwendigkeit der Beschränkung der Anzahl Indikatoren - führt u.a. dazu, dass i.d.R. auch die Auswahl der als relevant betrachteten Indikatoren auf Konventionen (meist innerhalb bestimmter Gruppen) beruht. Auch Indikatoren sind somit als selektives, soziales Konstrukt zu verstehen. Indikator werfe sind deshalb interpretationsbedürftig. So wird z.B. zur Messung des Wohlstandes eines Landes meist das Bruttosozialprodukt verwendet. Dieses sagt jedoch kaum etwas über die tatsächliche Lebensqualität und die Verteilung des Wohlstandes aus. Im Zeitverlauf kann sich zudem der Aussagegehalt eines Indikators verändern, so dass die Vergleichbarkeit nicht mehr gegeben ist. Als Beispiel wäre etwa der Konsumentenpreisindex zu nennen: Mit der Veränderung der Lebensgewohnheiten kann sich ein einmal zusammengesetzter, repräsentativer Warenkorb später als nicht mehr repräsentativ erweisen, zudem kann sich auch die Qualität der darin enthaltenen Güter verändert haben. Aussagen über die Realität haben einen unterschiedlichen Informationsgehalt. Je differenzierter eine Aussage ist, um so grösser ist in der Regel ihr Informationsgehalt. Im anderen Extremfall enthalten Aussagen keine Informationen über die Realität, sondern geben blosse Vorurteile wieder. 1.3.3. Individuelle Sinngebung Einzelne Aussagen und Indikatorwerte sagen nicht allzuviel aus. Sie müssen in einen Zusammenhang gebracht, interpretiert werden. Die Interpretation der eintreffenden Informationen anhand der Ordnungsvorstellungen ist ein laufender Prozess, während dem einerseits jederzeit Diskrepanzen zu den Soll-

1. Problemwahrnehmung auf individueller Ebene

67

Parametern auftreten können und andererseits fortwährend neue Wissensstrukturen entstehen. Solche Sinngebungen sind aber selten eindeutig: Eine Vielzahl von (z.T. unbekannten) Faktoren spielt eine Rolle, wodurch vermeintliche Fakten und vermutete Zusammenhänge oft nicht eindeutig sind und meist unsicher bleiben, weil mehrere hypothetische Kausalzusammenhänge zur Interpretation möglich sind. Da Sinngebungen auf Ordnungsvorstellungen im Sinne eines Referenzsystems angewiesen und somit individuell sind, stehen einander in der Praxis oft unterschiedliche Sinngebungen "beim selben Sachverhalt" gegenüber. Der Kern von Sinngebungsprozessen (vgl. ausführlicher in Abschnitt 2) besteht denn auch darin, eine eindeutige und möglichst konsensfähige Interpretation zu geben. Dies ist um so notwendiger, je grösser die mit einer Situation verbundene Unsicherheit ist. 1.3.4. Auswirkungen von Indikatoren bzw. der Interpretationen und Manipulation von Informationen Informationen haben Einfluss auf das wirtschaftliche Handeln der Akteure, auf ihr politisches Wahlverhalten sowie auf ihre Einstellungen und Präferenzen. Besonders eindrücklich sind die Auswirkungen der Bekanntgabe von Indikatoren bei Aktienkursen. Die Börse reagiert sehr schnell auf Indikatoren über die Wirtschaftslage bzw. Interpretationen derselben, denn sie beeinflussen die Erwartungen der Akteure. Im Sinne der ökonomischen Theorie der Politik haben Indikatoren über die Wirtschaftslage einen Einfluss auf das Wahlverhalten, da die Wiederwahlchancen der Regierung von der Beurteilung der Wirtschaftslage durch die Wähler abhängen. - Für die Anbieter wirtschaftspolitischer Massnahmen besteht deshalb ein Anreiz, die Indikatoren in ihrem Sinn zu interpretieren bzw. die Indikatoren in ihrem Sinn zu definieren. Von der "gefärbten" Interpretation bis zur Manipulation von Informationen ist es nur noch ein kleiner Schritt. Beispiele für Manipulationen von Informationen über die Lage: • Es werden nicht alle Indikatoren veröffentlicht.

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Kapitel 3: Der wirtschaftspolitische Prozess: Problementstehunq



Indikatoren werden neu definiert, so dass ein gewünschtes Ergebnis ausgewiesen wird, ohne dass sich tatsächlich etwas geändert hat, die Vergleichbarkeit aber nicht mehr gewährleistet ist. Bspw. werden häufig Änderungen an der Definition des Konsumentenpreisindexes vorgenommen. • Änderung der Berechnungs- bzw. Erhebungsmethode, so zum Beispiel bei der Berechnung des Staatsdefizits oder bei der Arbeitslosenrate.

2. Problementstehung auf kollektiver Ebene 2.1. Einflussfaktoren der Übertragung auf die kollektive Ebene Auf individueller Ebene wird stets eine Vielzahl von Problemen empfunden. Diese sind aber so lange keine eigentlichen wirtschaftspolitischen Probleme, als sie nicht von einer "gewissen Anzahl" wirtschaftspolitischer Akteure als solche aufgefasst und thematisiert werden. Der Übergang vom individuellen zum kollektiven Problem ist meist fliessend: Individuen, die ein Problem empfinden, diskutieren dieses vorerst mit anderen (im Freundeskreis, unter Wissenschaftern, im Verband, in der Partei etc.). Wird die individuelle Problemsicht von anderen geteilt, stellt sich für die Betroffenen die Frage nach der Bedeutung des Problems für sie selbst und den Möglichkeiten der Verbreitung der eigenen Problemsicht. Diese Frage lässt sich anhand des Kosten-Nutzen-Kalküls beantworten. Auf der einen Seite sind die erwarteten Kosten, die aus der weiteren Verfolgung des Problems resultieren, zu berücksichtigen: Kosten der Mobilisierung der für einen Entscheid notwendigen Unterstützung (z.B. Mehrheit des Parlaments oder der Stimmbürger), Kosten der Entscheidfindung und -durchsetzung. Diese Kosten sind dem - mit der Wahrscheinlichkeit der Erreichung des gewünschten Entscheides gewichteten erwarteten Nutzen aus einem Entscheid gegenüberzustellen. Dieses Kalkül kann im Einzelfall sehr unterschiedlich ausfallen

2. Problementstehung auf kollektiver E b e n e

69

und beruht v.a. auf folgenden Faktoren: • Zahlungsbereitschaft für die Problemlösung • Verbreitungsgrad der Ordnungsvorstellungen, auf denen die Problemsicht basiert. • Einfluss der Betroffenen im wirtschaftspolitischen Prozess im Verhältnis zu Gruppen, die die Problemsicht nicht teilen und Gegenmassnahmen ergreifen könnten.48 Somit ist es möglich, dass Probleme auch durch wenige Individuen auf die kollektive Ebene übertragen werden, sofern ihre Zahlungsbereitschaft genügend gross, ihre Ordnungsvorstellungen hinreichend weit verbreitet sind und sie über ausreichenden Einfluss im Prozess verfügen. Wird von den Betroffenen aufgrund des gezeigten Kalküls vorerst ein negativer Saldo erwartet, so kommt allenfalls ein - kostengünstigerer - Mobilisierungsprozess in Frage oder aber die Problemsicht bleibt auf kollektiver Ebene unberücksichtigt und somit auf individueller Ebene weiter bestehen. 2.2. Mobilisierungsprozesse Die grundlegende Bedingung für die Übertragung individueller Problemsichten auf die kollektive Ebene ist die Mobilisierung politischer Ressourcen. - Verschiedentlich wurde bereits auf die zentrale Bedeutung von Mobilisierungsprozessen innerhalb des gesamten wirtschaftspolitischen Prozesses hingewiesen. Mobilisierungsprozesse sind auf jeder Stufe dieses Prozesses zur Überwindung des entsprechenden Filters notwendig. Die grundsätzliche Funktion von Mobilisierungsprozessen besteht in der Bereitstellung politischer Ressourcen. Hierunter sind verschiedene Arten materieller und persönlicher Ressourcen sowie die Zustimmung bzw. die Stimmen von Akteuren zu verstehen. Diese politischen Ressourcen sind i.d.R. notwendig, 48

Macht und Einfluss der Akteure beruhen v.a. auf Verfügbarkeit von persönlichen und materiellen Ressourcen in Verbindung mit der Stellung der Akteure im wirtschaftspolitischen Prozess. Siehe dazu ausführlicher Kapitel 5.

70

Kapitel 3: Der wirtschaftspolitische Prozess: Problementstehung

damit Probleme für die weitere Behandlung im wirtschaftspolitischen Prozess zugelassen werden 49 , damit ein Entscheid im Sinne der mobilisierenden Akteure herbeigeführt wird 50 und dessen Implementation gewährleistet ist. 2.2.1. Manifeste Potentiale Aufgrund des oben erwähnten Kosten-Nutzenkalküls erscheint eine direkte Beeinflussung des wirtschaftspolitischen Prozesses durch ein einzelnes Individuum meist nicht erfolgversprechend. Einzelne oder kleine Gruppen können dann versuchen, die eigene Problemsicht bzw. Sinngebung innerhalb einer bestehenden Organisation zu verbreiten, der sie schon angehören oder an die sie mit ihrem Anliegen herantreten. Auf diese Weise können sich Betroffene allenfalls eines schon bestehenden manifesten Potentials versichern. Aufwendiger ist es, ein solches Potential erst zu schaffen, d.h. einen Verein, einen Verband, eine Partei oder eine andere Organisation zu gründen. In diesem Falle sind zwei Probleme zu lösen (siehe Abb. 8). Zunächst müssen Individuen, die sich in ähnlichen Positionen befinden bzw. die ähnliche Ordnungsvorstellungen haben, davon zu überzeugt werden, dass sie gemeinsame Interessen haben, zu deren Verfolgung sie sich zusammenschliessen sollten. Es ist ein Bewusstseinsproblem zu lösen, damit eine kollektive Identität entsteht und gemeinsame Ziele definiert werden können. Aufgrund rein ökonomischer Ueberlegungen werden die Schwierigkeiten, Individuen zur Beteiligung an kollektiven Aktivitäten zu gewinnen, überzeichnet. Durch Kommunikation kann die Bereitschaft erzeugt werden, sich an kollektiven Aktionen zu beteiligen. Zweitens müssen diese Individuen bereit sein, gewisse Informationen preiszugeben und eine personelle und materielle In-

49

Z.B. erforderliche Anzahl Unterschriften für Referendum und Initiative, Mehrheit in einer parlamentarischen Eintretensdebatte. 50

Z.B. Mehrheiten bei formal-demokratischen Abstimmungen.

2. Problementstehung auf kollektiver Ebene

71

frastruktur mitzutragen oder zu finanzieren. Wenn auch dieses Ressourcenproblem gelöst werden kann, ist ein manifestes Potential geschaffen. Wer sich einer bestimmten Gruppe zugehörig fühlt, ist bereit, sein Verhalten bis zu einem gewissen Grad auch an den Gruppennormen auszurichten, selbst wenn kürzerfristige rein ökonomische Kosten-Nutzenüberlegungen dagegen sprechen. 2.2.2. Die Aktivierung der allgemeinen Handlungsbereitschaft

Abb. 8: Schema Mobilisierungsprozess

Ein manifestes Potential, d.h. eine Organisation, verkörpert bloss allgemeine Handlungsbereitschaft. Zur Lösung eines konkreten Problems muss sie erst aktiviert werden. Es geht nun darum, die politischen Ressourcen einzusetzen, die zur Überwindung der Filter nötig sind. Dazu stehen einer Organisation bzw. den Akteuren zwei Wege offen: Sie können (1) versuchen, die eigene Sinngebung auf ausreichend viele Akteure auszuweiten. Falls dies nicht gelingt, können sie (2) ihre eigenen politischen Ressourcen zum Tausch anbieten. Welcher Weg beschritten wird, hängt vom Grad der herrschenden Unsicherheit und der Verfügbarkeit von Ressourcen ab.

72

Kapitel 3: Der wirtschaftspolitische Prozess: Problementstehung

Bei grosser Unsicherheit stehen Sinngebungsprozesse im Vordergrund der Mobilisierung Durch Deutungsangebote versuchen die Akteure, eine mehrdeutige Situation eindeutig zu machen, d.h. eine aus ihrer Sicht sinnvolle Erklärung und Interpretation zu geben. Weil die Akteure bei Deutungsangeboten immer auf ihre Ordnungsvorstellungen zurückgreifen müssen, sind Deutungsangebote stets subjektiv und selektiv. Zudem sind Deutungsangebote nur in einer Situation vollständiger Unsicherheit über die Zukunft51 nicht zweckorientiert. Sobald die Unsicherheit soweit reduziert ist, dass für die Beteiligten erkennbar wird, welche Interessen bestimmte Deutungsangebote begünstigen, werden sie zu einem Mittel der Interessenvertretung. Der Übergang von "zweckfreier" Interpretation zu zweckorientierter Überzeugung oder Manipulation ist hier fliessend. Die spezifischen Eigenschaften und Abläufe von Sinngebungsprozessen werden im nächsten Kapitel über Problemzulassung und -definition ausführlicher erläutert. ^

Bei geringer Unsicherheit stehen Tauschprozesse im Vordergrund der Mobilisierung

Ist die Unsicherheit gering oder konnte sie durch Sinngebungsprozesse reduziert werden, spielen (zunehmend) Tauschprozesse eine Rolle. Hierbei geht es darum, zur Ueberwindung des jeweiligen Filters politische Ressourcen mit Akteuren zu tauschen, die die eigene Problemsicht nicht teilen bzw. nicht übernommen haben. Ein (freiwilliger) Tausch politischer Ressourcen erhöht den politischen Handlungsspielraum beider 51

D i e s e theoretische Situation der vollständigen Unsicherheit über die Zukunft wird in der Literatur auch als "veil of uncertainty" bezeichnet. Damit ist gemeint, dass keiner der gegenwärtig an einem Entscheidungs- oder Sinngebungsprozess Beteiligten seine zukünftige berufliche oder gesellschaftliche Position kennt und deshalb seine gegenwärtigen Entscheidungen oder Interpretationen nicht im Hinblick auf seine zukünftige Position zweckgerichtet erfolgen (können).

2. Problementstehung auf kollektiver Ebene

73

Tauschpartner und verbessert die Möglichkeiten zur Überwindung der Filter. Typischerweise unterstützen sich gut organisierte Minderheiten bei der Durchsetzung ihrer Anliegen gegenseitig, was allgemein als Stimmentausch oder log-rolling bezeichnet wird. Als Ergebnis können gut organisierte Minderheiten durch solche Koalitionen ihre Interessen gegen die oftmals schlechter organisierte Mehrheit im Einzelfall - oder durch wechselnde Koalitionen auch längerfristig - durchsetzen.52 Weil sich solche Tauschverträge i.d.R. nicht rechtlich absichern lassen, werden verschiedene Anliegen und Interessen oft zu "Paketen" gebündelt, die als Ganzes in den Prozess eingebracht werden.53 Innerhalb von Tauschprozessen spielen Verhandlungen eine wichtige Rolle. Sie werden in Kapitel 7 eingehender behandelt. Als allgemeine Hypothese zum Mobilisierungsprozess kann folgendes festgehalten werden.

Je weiter die Ordnungsvorstellungen, die einer bestimmten Problemsicht zugrundeliegen, innerhalb der zu mobilisierenden Gruppe verbreitet sind und je grösser die argumentative und kommunikative Kompetenz des mobilisierenden Akteurs ist, desto weniger tauschbare Ressourcen muss dieser zusätzlich einsetzen, um seine Problemsicht im Rahmen eines Mobilisierungsprozesses durchzusetzen.

52

Ein typisches Beispiel für eine gut organisierte Minderheit sind die Bauern, welche eine Subventionierung ihrer Einkommen zu Lasten der schlecht organisierten Mehrheit der Konsumenten durchsetzten können. 53

Am einfachsten ist der Stimmentausch in Budgetvorlagen, w o das gesamte Budget ein "natürliches Paket" darstellt und die Kontrolle der Einhaltung der Tauschvereinbarungen leichter fällt. Schwieriger ist der Stimmentausch bei Einzelvorlagen oder Referenden, w o eine Verknüpfung der aktuellen Unterstützung bestimmter Interessen mit der zukünftigen Unterstützung anderer Interessen schwerer durchsetzbar ist. Dies zeigt sich u.a. darin, dass je nach Vorlage immer wieder neue, oft sogenannte "unheilige" Allianzen gebildet werden.

74

Kapitel 3: Der wirtschaftspolitische Prozess: Problementstehung

2.3. Grundmuster der kollektiven Problementstehung und Problemtypen Die Übertragung individueller Problemsichten auf die kollektive Ebene kann idealtypisch nach zwei Grundmustern erfolgen: von unten nach oben, d.h. die Meinungsbildung erfolgt an der Basis: Individuen, welche eine herrschende Situation als Problem empfinden, wenden sich an Personen oder Organisationen, zu denen sie Kontakte unterhalten und versuchen, diese für ihre Problemsicht zu mobilisieren. ^

von oben nach unten, d.h. Meinungsbildung durch einflussreiche Akteure: Politiker und Interessengruppen nutzen ihnen zur Verfügung stehende Ressourcen und Einflusskanäle, um ihre spezifischen Anliegen auf die öffentliche Traktandenliste zu bringen. Rein formal betrachtet dominierte in der Vergangenheit diese Art der Meinungsbildung. Die eigentliche Initiative kam aber auch in diesen Fällen manchmal von unten.

Entsprechend dem Zusammenspiel der Akteure innerhalb dieser Grundmuster lassen sich verschiedene Problemtypen unterscheiden. Sie setzen zugleich unterschiedliche Rahmenbedingungen für die Problemlösung. Kriterien für die Unterscheidung s i n d d i e Anzahl

Betroffener

u n d d i e Intensität

ihrer

Betroffenheit.

Intensität der Betroffenheit

Anzahl Betroffene

eher gering

eher gross

eher wenige

Eliteproblem

Interessengruppenproblem

eher viele

Strukturproblem

Krisenproblem

2. Problementstehung auf kollektiver Ebene

75

2.3.1. Eliteprobleme Charakteristik Bei Eliteproblemen fühlt sich nur eine kleine Minderheit interessierter Sachkundiger direkt betroffen und äussert sich. Die Intensität der Betroffenheit ist gering, so dass die Anbieter politischer Massnahmen keinen Handlungsdruck wahrnehmen. Die Problembehandlung wird daher vielfach wegen anderen, dringlicher erscheinenden Problemen hinausgeschoben. Aus diesem Grunde können Eliteprobleme oft während längerer Zeit ungelöst weiterbestehen. Eine allfällige Ausbreitung der Problemsicht erfolgt typischerweise von oben nach unten. Der Medienzugang einzelner Engagierter und deren Stellung innerhalb des wirtschaftspolitischen Prozesses ist dabei wichtig für die Ausbreitung der Problemsicht, weil meist auch Gegeninteressen mobilisiert werden. Bedeutung

Beispiele

Kurzfristig ist die praktische Bedeutung von Eliteproblemen als Auslöser wirtschaftspolitischer Entscheide oder Massnahmen eher gering, weil sie mangels Mobilisierungsmöglichkeiten und überladenen Traktandenlisten im wirtschaftspolitischen Prozess oftmals nicht weiter behandelt werden. Typisch ist deshalb, dass verschiedene Eliteprobleme auch längerfristig bestehen bleiben und zyklisch auf die Traktandenlisten kommen, ohne gelöst zu werden. Nach längerer Zeit kann sich ein Meinungswandel einstellen, so dass das bisherige Eliteproblem von anderen Gruppen aufgegriffen wird und die entsprechenden Massnahmen realisierbar werden. • Verfassungsrevision • Ordnungspolitische Reformen

76

Kapitel 3: Der wirtschaftspolitische Prozess: Problementstehung

• •

Einführung der Mehrwertsteuer in der Schweiz Studie des Club of Rome

2.3.2. Interessengruppenprobleme Charakteristik Vom Interessengruppenproblem wird nur eine Minderheit erfasst, welche sich aber stark betroffen fühlt. Dadurch steigt die marginale Zahlungsbereitschaft der betroffenen Akteure für eine Problemlösung so stark an, dass sich die Organisation ihrer Interessen lohnt. Sie wenden sich an bestehende Gruppen (z.B. Verbände, Institutionen), von denen sie annehmen, dass diese ihre Interessen in ihrem Sinne vertreten können, oder formieren sich als Interessengruppe mit gemeinsamen Forderungen und einem vereinten Potential politischer Ressourcen, welche anderen Akteuren einen gewissen Handlungsdruck auferlegen können. - Die Regierung kann auf Forderungen von Interessengruppen mit Zugeständnissen oder der Mobilisation von genügend starken Gegeninteressen reagieren. Bedeutung

Beispiele

Die praktische Bedeutung von Interessengruppenproblemen ist gross, weil aufgrund der starken Betroffenheit weniger Akteure ein relativ grosser Anreiz zu Organisation der entsprechenden Interessen und zur Ausübung politischen Druckes besteht. Dieser Problemtyp dominiert deshalb die wirtschaftspolitischen Traktandenlisten. • Importschutz der Landwirtschaft • Exportförderung der Industrie • Konjukturanfälligkeit der Bauindustrie • Probleme des Strukturwandels bestimmter Branchen (z.B. Stahl, Kohle)

2. Problementstehung auf kollektiver Ebene

77

2.3.3. Strukturprobleme Charakteristik Bei Vorliegen eines Strukturproblems ist eine grosse Anzahl von Akteuren betroffen, doch ist die individuelle Betroffenheit eher gering oder nicht von ausgeprägter Einseitigkeit, so dass die Organisation der Interessen oftmals nicht lohnend erscheint. Es bestehen in der Regel auch starke Gegeninteressen gut organisierter Minderheiten, welche sich äussern, wenn das Strukturproblem angegangen werden soll. Der potentielle Handlungsdruck auf die Regierung im Falle der Gefährdung solcher Gegeninteressen ist höher als der aktuelle Handlungsdruck zur Lösung des bestehenden Strukturproblems. Ein zusätzliches Interessengruppenproblem wäre die Folge. Trotz Fortbestand eines Strukturproblems kann so ein politisches Gleichgewicht Bestand haben. Strukturprobleme werden oft erst gelöst, wenn sie einen krisenartigen Verlauf nehmen und der von breiteren Bevölkerungskreisen ausgeübte Handlungsdruck auf die Regierung wächst. Bedeutung

Beispiele

Die praktische Bedeutung von Strukturproblemen liegt zwischen Elite- und Interessengruppenproblemen. D.h. sie üben zwar einen permanenten Druck auf die Akteure aus, weil - im Gegensatz zu Eliteproblemen - die Anzahl Betroffener hoch ist, doch ist dieser Druck mangels Intensität der Betroffenheit, geringer Organisierbarkeit der Interessen und der potentiellen Opposition von Interessengruppen nicht so gross wie bei Interessengruppenproblemen. • Boden- und Mietrecht • Europäische Integration

78

Kapitel 3: Der wirtschaftspolitische Prozess: Problementstehung



Bundesfinanzordnung der Schweiz

2.3.4. Krisenprobleme Charakteristik Bei Krisenproblemen sind grosse Teile der Bevölkerung sehr stark von einem Problem betroffen. Die weite Verbreitung der Problemwahrnehmung weckt auch in den Medien grosses Interesse. Diese übernehmen die Funktion der Interessenorganisation, indem sie die Problemsicht der Mehrheit thematisieren und kanalisieren. Die Regierung wird einem starken, oft emotional gefärbten Handlungsdruck seitens der Öffentlichkeit ausgesetzt. Die betroffene Mehrheit der Akteure wird dabei für die Regierung zu einer übermächtigen Interessengruppe, gegen deren Forderungen sie keine namhaften Gegeninteressen mehr mobilisieren kann. Der politische Handlungsspielraum ist vorübergehend gross, verkleinert sich aber mit Abnahme des Engagements der Akteure wieder.54 Bedeutung

54

"Echte" Krisenprobleme, d.h. Probleme, die von breiteren Bevölkerungskreisen und/oder mächtigen Interessengruppen als krisenhaft empfunden werden, weil sie von existenzieller Bedeutung sind, gibt es in der praktischen Wirtschaftspolitik eher selten. Treten sie aber auf, können sie in kurzer Zeit - bis zu ihrer Abschwächung oder Lösung - grosse Bedeutung erlangen. Daneben besteht v.a. bei Interessengruppen ständig der Anreiz, Entwicklungen oder Zustände als krisenhaft zu bezeichnen und so eine Krise herbeizureden, um den Handlungsspielraum zumindest

Zum Krisenproblem und -management siehe ausführlicher Kapitel 8.

2. Problementstehung auf kollektiver Ebene

Beispiele

79

vorübergehend zu ihren Gunsten zu erweitern. Solche Bestrebungen sind oft erfolgreich. • gestörte Landesversorgung • techn. Katastrophen mit wirtschaftlichen Folgen • schwere Störungen wichtiger Märkte (z.B. Börse, Öl, Welthandel)

2.4. Typische Entwicklungsmuster von Problemen In der Praxis lassen sich Probleme oft nicht eindeutig zuordnen und wandeln sich im Zeitablauf. Die obigen Beispiele sind deshalb als idealtypische Zuordnung in einem bestimmten Zeitpunkt zu verstehen. Dennoch lassen sich typische Entwicklungsmuster erkennen: Eliteprobleme wandeln sich typischerweise in Interessengruppenprobleme, falls die Elite sich (v.a. durch guten Medienzugang) genügend Gehör verschaffen kann und so eine eigene Lobby aufbauen oder bestehende Interessengruppen für sich gewinnen kann. Der Übergang von einem Elite- zu einem Strukturproblem ist seltener und tritt meist nur bei krisenartiger Verschärfung der Lage auf, weil Eliten häufig nicht die Möglichkeiten haben, Betroffenheit breiter Bevölkerungskreise direkt - d.h. ohne die Hilfe von Interessengruppen - auszulösen. Interessengruppenprobleme entstehen laufend spontan oder gelegentlich aufgrund von Eliteproblemen. Bei einer krisenartigen Entwicklung können sich Interessengruppenprobleme zu Strukturproblemen wandeln, indem neben den direkt Betroffenen auch breitere Bevölkerungskreise auf das Interessengruppenproblem aufmerksam werden. Strukturprobleme, deren Lösung meist von Interessengruppen verzögert oder verhindert wird, werden typischerweise erst dann angegangen oder gelöst, wenn aufgrund einer krisenartigen Zuspitzung die Betroffenheit und damit die Zahlungsbereitschaft

80

Kapitel 3: Der wirtschaftspolitische Prozess: Problementstehung

so weit steigt, dass die Widerstände der Interessengruppen überwunden werden können. Krisenprobleme in ihrer idealtypischen Form treten meist als Weiterentwicklung der anderen Problemtypen auf. Sinkt aufgrund von Massnahmen des Krisenmanagements55 die Betroffenheit und/oder die Anzahl Betroffener, wandeln sich Krisenprobleme oft in den ursprünglichen Problemtyp zurück. Spontane binnenwirtschaftliche Krisen, die unabhängig von den anderen Krisentypen entstehen, sind eher selten. Ein Beispieliür den Wandel, den ein Problem erfahren kann, ist die Entwicklung des Umweltproblems: • In einer ersten Phase (Eliteproblem) wurden Umweltprobleme v.a. von naturwissenschaftlichen Experten erkannt und diskutiert (vgl. z.B. den Bericht des Club of Rome). • In der zweiten Phase (Interessengruppenproblem) wurden Umweltprobleme durch Gruppen thematisiert, die davon besonders betroffen waren (z.B. durch verschmutzte Gewässer, durch Emissionen der Industrie etc.) und die sich in Interessengruppen und Umweltverbänden zu organisieren begannen. • Die dritte Phase (Strukturproblem) kennzeichnete sich dadurch, dass aufgrund einer grösseren Ausbreitung der (sichtbaren) Umweltschäden (z.B. Waldsterben, Luft- und Wasserqualität, Ozon), aufgrund der Arbeit der Interessengruppen (z.B. grüner Parteien, Aktionen von Greenpeace) sowie aufgrund einzelner krisenartiger Ereignisse (z.B. Tschernobyl, Schweizerhalle) das Problembewusstsein weiterer Bevölkerungskreise und damit die Anzahl Betroffener stieg. • Die Phase wer (Krisenproblem) zeichnet sich gegenwärtig ab. Der Handlungsdruck ist aber (noch) nicht sehr gross, und der Handlungsspielraum der Regierung hat sich (noch) nicht wesentlich erweitert, obwohl verschiedentlich von einer "Umweltkrise" gesprochen wird.

55

Z u m Krisenmanagement siehe ausführlicher Kapitel 8.

2. Problementstehung auf kollektiver Ebene

81

Wirkung von Filter 1: Problementstehung Die Filterwirkung der ersten Stufe des kollektiven Problemlösungsprozesses besteht darin, dass die Übertragung einer individuellen Problemsicht auf die kollektive Ebene nur durch ausreichende Mobilisierung möglich ist. Die Mehrzahl individueller Probleme lässt sich nicht auf die kollektive Ebene übertragen. Erst nach erfolgreicher Mobilisierung wird ein Problem - je nach Problemtyp - in einer breiteren oder engeren Öffentlichkeit als solches wahrgenommen und diskutiert. Ist dies der Fall, stellt sich die Frage, unter welchen Umständen ein Problem auch z u m politischen

Thema wird.

LITERATURHINWEISE ZU KAPITEL 3 Zum Umgang mit Unsicherheit aus ökonomischer Sicht siehe die gute Übersicht bei • Machina, M.J.: Choice Under Uncertainty: Problems Solved and Unsolved, in: Journal of Economic Perspectives, Vol. 1/1, 1987, S. 121 - 154.

sowie die ausführlicheren Darstellungen in • Dreze, J.H. (Hrsg.): Essays on Economic Uncertainty, Cambridge, 1987. • Hey, J.D. (Hrsg.): Oxford, 1987. • Sinn, H.-W.: berg, 1989.

Surveys

Economic

Decisions

in the Economics

Decisions

under

of

under

Uncertainty,

Uncertainty,

Heidel-

Zum Umgang mit Unsicherheit aus psychologischer Sicht siehe z.B. •Evers, Frankfurt

A., Nowotny, a.M.,

H.: Über den Umgang

mit

Unsicherheit.

1987.

Zu gesellschaftlichen und politischen Mobilisierungsprozessen siehe • Etzioni,

A.:

Die

aktive

Gesellschaft:

eine

Theorie

gesell-

82

Kapitel 3: Der wirtschaftspolitische Prozess: Problementstehung

schaftlicher und politischer Prozesse, Opladen, 1975. • Kriesi, H.: Bewegung in der Schweizer Politik, Fallstudien zu politischen Mobilisierungsprozessen in der Schweiz, Frankfurt a.M./Zürich, 1985. Zur Rolle von Ordnungsvorstellungen in der Wirtschaftspolitik siehe • Ernst, M.: Demokratische Wirtschaftspolitik. Ein kommunikationsorientierter Ansatz Politischer Oekonomie. Bern/Frankfurt a.M./ New York, 1986. Zur Problematik der individuellen und subjektiven Wahrnehmung und insbesondere der Rolle der Sprache siehe • Burkart, R. (Hrsg.): Kommunikationstheorien, Wien, 1992. Die Problemtypen sind entwickelt und modifiziert in Anlehnung an • Bennett, W.L.: Public Opinion in American Politics, New York etc., 1980

Kapitel 4 Der wirtschaftspolitische Prozess: Problemzulassung und -definition

ÜBERSICHT

Nach erfolgreicher Übertragung auf die kollektive Ebene müssen Probleme in einer Phase von Problemzulassung und -definition einerseits auf die wirtschaftspolitische Traktandenliste gelangen (Zulassung) und andererseits inhaltlich und formal abgegrenzt werden (Definition). Dabei stehen Mobilisierungsprozesse im Vordergrund, die nach Massgabe der mit dem Problem verbundenen Unsicherheit eher Sinngebungs- oder eher Tauschcharakter haben.

1. Problemzulassung durch Agendasetting Eng mit Filter 1 (Problementstehung) ist auf der nachfolgenden Stufe des wirtschaftspolitischen Problemlösungsprozesses der Filter 2 (Problemzulassung und -definition) verbunden: Artikulierte Probleme und Forderungen haben auf kollektiver Ebene zunächst eine Art Zulassungsverfahren zu bestehen, wenn sie im Rahmen eines politischen Prozesses behandelt werden sollen. Dazu müssen sie von etablierten 'agenda setters' und/oder 'opinion leaders' aufgegriffen und zu einem politischen Traktandum erhoben werden. Die Problematik in dieser Phase besteht darin, dass die Problemwahrnehmungs- und -behandlungskapazität beschränkt ist und stets eine Vielzahl anderer Probleme auf die Traktandenlisten drängt.56 Einerseits gilt es, die Mitglieder von Regierung und Parlament im Sinne der geäusserten Problemsicht zu mobilisieren. Dieser Weg

56

Hier geht es also nicht nur um konkurrierende Sichtweisen des "selben" Problems, sondern auch um Konkurrenz zu "anderen" Problemen.

84

Kapitel 4: Problemzulassung und -definition

steht in repräsentativen Demokratien im Vordergrund, wo er meist unter Einsatz der politischen Ressourcen von Parteien und Verbänden beschritten wird. Andererseits können in direkten Demokratien Akteure oder Akteurgruppen versuchen, die Bevölkerung mittels (Volks-) Initiativen zu mobilisieren. Das Beschreiten dieses zweiten Weges ist meist einfacher und führt v.a. schneller zum Ziel, wenn gleichzeitig auch Mitglieder von Regierung und Parlament mobilisiert werden können. Ist letzteres nicht der Fall, lässt sich beobachten, dass (Volks-) Entscheide durch die 'agenda setter' verzögert werden und/oder dass seitens der Politiker bereits (symbolische) Massnahmen unternommen werden, die die Problemsicht so weit abschwächen, dass ein breiteres Interesse an einem Entscheid stark sinkt. Dies hat zur Folge, dass ein Problem, wenn dann nach längerer Zeit entschieden werden soll, als "überholt" angesehen wird und die ursprünglichen Anliegen der mobilisierenden Akteure nicht verwirklicht werden (können).

2. Problemdefinition durch kollektive Sinngebung Ist ein Problem zugelassen, d.h. zum Thema einer breiteren (politischen) Diskussion geworden oder bereits in politischen Traktandenlisten aufgenommen, besteht nach Massgabe der mit dem Problem verbundenen Unsicherheit die Notwendigkeit, die für die Problemlösung massgeblichen Interpretationen, Ziele und Instrumente festzulegen. Dies geschieht im Rahmen eines kollektiven Sinngebungsprozesses. - Wie oben ausgeführt, sind Sinngebungsprozesse Teil jeder Mobilisierung. Am deutlichsten treten sie aber immer dann zutage, wenn ein Problem neu in die politische Diskussion oder Traktandenliste aufgenommen wird. 2.1. Inhaltliche Problemabgrenzung Zunächst bedarf jedes Problem einer inhaltlichen Abgrenzung: Die dem Problem zugrunde liegenden Diskrepanzen müssen

2. Problemdefinition durch kollektive Sinngebung

85

identifiziert und von anderen unterschieden werden. Anhand der Ordnungsvorstellungen wird das Problem eingeordnet und zusammen mit affektiven Elementen beurteilt. Besteht das Problem vorwiegend aufgrund von Unsicherheit, stehen Deutungsangebote der Akteure so lange im Vordergrund des Sinngebungsprozesses, bis sich eine mehrheitliche Problemsicht durchgesetzt hat. - Diese inhaltliche Problemabgrenzung umfasst idealtypisch folgende Schritte: A) Definition der Wirklichkeit Die wahrgenommenen Ereignisse oder Zustände werden durch die selektive Wahrnehmung und durch Interpunktion kontinuierlicher Ablaufprozesse abgegrenzt. Die Selektion und Charakterisierung wahrgenommener Probleme erfolgt anhand der Ordnungsvorstellungen. Zum Beispiel werden Phänomene als ökonomische, gesellschaftliche, kulturelle, politische, soziale oder als dauernde, vorübergehende, punktuelle, allgemeine, natürliche etc. bezeichnet. B) Benennen der Wirklichkeit Damit über wahrgenommene Diskrepanzen kommuniziert werden kann, werden sie mit einem leicht fassbaren, sprachlichen Etikett (Begriffe und Schlagworte) versehen. Die Benennung löst Assoziationen aus, welche auch eine wirklichkeitsschaffende Funktion haben. C) Erklären der Wirklichkeit Mit der Erklärung einer Diskrepanz wird auf Kausalitäten zurückgegriffen, die aufzeigen, weshalb die Diskrepanz eingetreten ist und welche Folgen zu erwarten sind. Bei bekannten Problemen kann auf bewährte Erklärungsmuster zurückgegriffen werden, bei neuartigen oder mehrdeutigen Problemen setzt eine Auseinandersetzung um konkurrierende Erklärungen ein. D) Bewerten des Handelns Die Erklärung eines Problems zeigt Handlungsalternativen auf. Sie werden auf ihre Verträglichkeit mit den eigenen Ordnungsvorstellungen überprüft. Im Gegensatz zu den Vorstel-

86

Kapitel 4: Problemzulassung und -definition

lungen einer rationalen Wirtschaftspolitik geht es weniger um den Zielerreichungsbeitrag unter Beachtung der Nebenwirkungen, als vielmehr um die Frage, ob die Handlungsalternativen den eigenen Ordnungsvorstellungen entsprechen. E) Legitimation des Handelns Sowohl gegen innen (gegenüber den Beteiligten) als auch gegen aussen (gegenüber der Öffentlichkeit) wird die Verträglichkeit der gemeinsam erarbeiteten und akzeptierten Handlungsgrundlage mit den herrschenden Ordnungsvorstellungen betont. Meist erfolgt in dieser Phase (Filter 2) jedoch keine vollständige und einheitliche Problemdefinition, so dass unterschiedliche Problemsichten weiter bestehen bleiben. Falls sich mehrheitlich die Auffassung durchsetzte, kollektives Handeln sei erforderlich, werden die unterschiedlichen Problemsichten in die nachfolgende Entscheidphase (Filter 3) übertragen, weshalb Sinngebungsprozesse nach dem gezeigten Muster auch in der Entscheidungsphase eine Rolle spielen. Weil aber die grundlegenden, interpretativen Positionen bereits bezogen sind, stehen dann Tauschprozesse im Vordergrund. 2.2. Formale Problemabgrenzung: Routinefall vs. Problemfall Konnte aufgrund einer inhaltlichen Abgrenzung eine für die Problemlösung massgebliche Interpretation im Sinne einer kollektiven Handlungsgrundlage gefunden werden, stellt sich im nächsten Schritt die Frage, ob und wie weit die weitere Problembehandlung bereits vorbereitet ist. ^

Routinefälle

Handelt es sich um ein Problem, das so oder ähnlich bereits früher aufgetreten ist, kann meist auf bestehende Verfahren zurückgegriffen werden. In einem solchen Routinefall ist die Konsensfindung über die Problembehandlung schon weitgehend vorweggenommen, und es können innerhalb eines bürokrati-

3. Beeinflussung von Bewusstseinsgrad und Meinungen

87

sehen Entscheidverfahrens festgelegte Verfahren, Routinen und Faustregeln angewandt werden. Die Kosten der Problemlösung werden dadurch gesenkt. ^

Problemfälle

Handelt es sich um ein neuartiges Problem, für welches noch kein Lösungsverfahren besteht oder welches die Anpassung bestehender Verfahren nötig macht, kann von einem Problemfall gesprochen werden. Für die Lösung von Problemfällen müssen die genauen Ziele, Instrumente und Massnahmen und z.T. die formalen (d.h. verfassungsmässigen oder gesetzlichen) Grundlagen erst geschaffen werden. Dies geschieht innerhalb der Entscheidphase (Filter 3) durch die politischen Entscheidungsmechanismen (vgl. dazu nachfolgend Kapitel 5 und v.a. 6). Jedes Problem, das auf kollektiver Ebene zugelassen ist, muss in einem Sinngebungsprozess inhaltlich und formal abgegrenzt werden. Je grösser die mit dem Problem verbundene Unsicherheit ist, um so umfangreicher ist der Prozess der inhaltlichen Abgrenzung und Definition. Bei geringer Unsicherheit beschränkt sich die Sinngebung inhaltlich auf den Bezug von Standpunkten und deren Darstellung nach innen und aussen. In jedem Falle erfolgt aber im Hinblick auf die Weiterbehandlung des Problems (d.h. die nachfolgende Entscheidungsphase) eine formale Abgrenzung. 2.3. Funktion von Sinngebungsprozessen: Unicherheit reduzieren, andere überzeugen In Fällen echter Unsicherheit sind kollektive Prozesse der Sinngebung wichtig. Sie helfen den Wirtschaftssubjekten, zu einer eindeutigenLagebeurteilung zu gelangen. Auf der individuellen Ebene bedeutet Unsicherheit, dass die eigenen Strategien zur Realitätskonstitution unzureichend sind. Das heisst, das Individuum kann anhand seiner Ordnungsvorstel-

88

Kapitel 4: Problemzulassung und -definition

lungen die Lage nicht ausreichend deuten. Daraus resultieren Konsequenzen für das wirtschaftliche und politische Verhalten: Investitions-, Konsum- sowie Wahl- und Abstimmungsentscheide können durch Unsicherheit beeinflusst werden. Bei extremer Unsicherheit kann insbesondere zukunftsgerichtetes Handeln blockiert werden. In der Phase der öffentlichen Sinngebung präsentieren nun verschiedene Gruppierungen ihre Deutungen über die künftige Entwicklung. Jedes Individuum wählt dann eine "passende", d.h. seinen Ordnungsvorstellungen entsprechende Zukunftsdeutung aus. Ist die Unsicherheit dadurch hinreichend reduziert, trifft es seine Dispositionen aufgrund der neuen Lagewahrnehmung. Die gewählte Deutung hat also direkte Auswirkungen auf das individuelle Handeln. Die kollektiven Sinngebungsangebote haben nicht nur den Zweck, individuelle Unsicherheit zu beseitigen. Vielmehr ergibt sich aus den konkurrierenden Sinngebungen, ob mehrheitlich kollektiver Handlungsbedarf wahrgenommen wird oder nicht. Im zweiten Falle scheidet das Problem aus dem kollektiven Prozess aus, im ersten Fall muss - wie erwähnt - die Unsicherheit soweit reduziert werden, dass eine gemeinsame Handlungsgrundlage entsteht. Zu beachten ist, dass die inhaltliche Problemabgrenzung sehr unterschiedliche Dimensionen umfasst. So kann wohl der Schritt C) "Erklären der Wirklichkeit" (siehe Seite 85) je nach den verwendeten Ordnungsvorstellungen zu einer sachlogischen Erklärung führen, die auch von den zuständigen Fachleuten als angemessen beurteilt wird. Im Schritt D) "Bewerten des Handelns" wird dagegen eine Sinngebung unter Berücksichtigung der eigenen Ordnungsvorstellungen vorgenommen, von denen die Interessen ein wichtiger Teil sind. Das entspricht in gewisser Weise der Sichtweise der Neuen Politischen Oekonomie, durch die das homo oeconomicus-Modell auf die Politik übertragen worden ist. Eine dritte Dimension stellt der Schritt E) "Legitimation des Handelns" dar. Hier geht es darum, andere Individuen bzw. Akteure zu überzeugen. Die Sinngebung wird den vermute-

3. Beeinflussung von Bewusstseinsgrad und Meinungen

89

ten Ordnungsvorstellungen der Adressaten angepasst. Dadurch wächst die Wahrscheinlichkeit, dass eine mehrheitsfähige Lösung gefunden wird bzw. es kann good will bei schon vorhandenen oder potentiellen politischen Anhängern erworben werden. Nun wird durchaus nicht jeder Anbieter von Sinngebungen stets alle drei Arten von Sinngebungen vornehmen. Zumindest wird er selten alle öffentlich bekanntgeben. Verallgemeinernd kann man die Hypothese aufstellen, dass bei den veröffentlichen Sinngebungen im Konfliktfall die sachlogische Sinngebung von der interessenenbezogenen bzw. der legitimierenden dominiert wird. Tendenziell wird sich sodann die legitimierende gegenüber der interessenbezogenen durchsetzen. Dies vor allem, wenn eine Mehrheit gefunden werden muss. Oppositionsparteien oder kleinere Gruppen von Grundsatzpolitikern oder Vertreter von Partialinteressen, die mit Vertretern anderer Partialinteressen konfrontiert sind, präsentieren dagegen oft auch Sinngebungen, in denen ihre Ordnungsvorstellungen ungeschminkt zum Ausdruck kommen. Der wirtschaftspolitische Prozess ist somit nicht nur eine marktähnliche Institution, wo Massnahmen gegen Stimmen getauscht werden, sondern er beinhaltet wichtige Meinungsbildungs- und Sinngebungsprozesse. Er ermöglicht die Präsentation vorhandener Ordnungsvorstellungen und deren Anwendung auf aktuelle Probleme. In unserer Sichtweise ist der politische Unternehmer nicht nur ein Anbieter von Programmen, sondern auch ein Anbieter von Deutungen. Auch als solcher kann er Stimmen gewinnen.

3. Beeinflussung von Bewusstseinsgrad und Meinungen Im Rahmen jedes Mobilisierungsprozesses und vorab bei Problemzulassung und -definition spielen verschiedene Formen der Beeinflussung eine bedeutende Rolle. Zuerst versuchen die

90

Kapitel 4: Problemzulassung und -definition

Akteure, die Aufmerksamkeit auf "ihr" Problem zu lenken. Dann versuchen sie - unter Einbezug der Medien - durch die Art der Darstellung, ihrer Problemsicht zum Durchbruch zu verhelfen (sog.

framing).

3.1. Aufmerksamkeitsregeln Damit ein Problem in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erlangt, müssen gewisse strukturelle Anforderungen an das Problem selber erfüllt sein. Je besser sie erfüllt werden, um so eher erregt ein Problem öffentliche Aufmerksamkeit: das Problem hat Neuigkeitsgehalt, so dass Unsicherheit oder Mehrdeutigkeit entsteht und die Situation mit bestehenden Ordnungsvorstellungen nicht bewältigt werden kann. d a s P r o b l e m hat dramatischen

oder emotionalen

Gehalt,

so

dass ein Ungleichgewicht zwischen Ängsten und Hoffnungen entsteht. ^

es kommt zu einer Bedrohung zentraler Ordnungsvorstellungen oder materieller Interessen bei weiten Teilen des Publikums oder bei wichtigen wirtschaftspolitischen Akteuren.

3.2. Stadien der öffentlichen Meinungsbildung und Meinungsbefragungen Der Prozess der öffentlichen Meinungsbildung durchläuft idealtypisch sieben Stadien, die sich durch Änderungen des Bewusstseinsgrades und der Intensität der Auseinandersetzung mit einem Problem kennzeichnen: 1.

Bewusstwerdung

Die Individuen werden sich bewusst, dass ein Problem existiert. 2.

Handlungsdruck

Die Individuen spüren, dass etwas getan werden muss. 3.

Alternativen

Die Politiker präsentieren alternative Lösungsmöglichkeiten. 4.

Zielkonflikte

Die Individuen stossen auf Widerstände, weil sie Zielkonflikte erkennen. Sie leugnen das Problem oder verfallen in Wunsch-

3. Beeinflussung von Bewusstseinsgrad und Meinungen

91

denken. Problemverarbeitung Die Individuen beginnen mit der Problemverarbeitung und versuchen, das Problem für sich zu "lösen". Dieser Prozess ist in der Regel sehr zeitintensiv und kann mehrere Jahre dauern. 6. Kognitive Lösung Die Individuen haben das Problem kognitiv für sich gelöst. 7. Affektiv-moralische Lösung Die Individuen haben das Problem affektiv und moralisch gelöst und sind damit zu einer stabilen Meinung gelangt. 5.

Der gesamte Prozess der öffentlichen Meinungsbildung ist langwierig und beruht auf einer Vielzahl von Interaktionen zwischen den Individuen. Dabei spielen die Medien vornehmlich in den ersten beiden Stadien eine bedeutende Rolle: Sie können Probleme bewusst machen und einen gewissen Handlungsdruck vermitteln. Meist sind diese Stadien aber von kurzer Dauer, weil die Medien rasch wieder neue Themen und Probleme aufgreifen. Die öffentliche Meinungsbildung dauert hingegen wesentlich länger. Dieses Fortschreiten ist aber nur dann gegeben, wenn die Öffentlichkeit am politischen Dialog beteiligt wird (vgl. oben Punkt 3). Bezüglich der Meinungsbefragungen bedeutet dieser Prozess, dass ihre Aussagekraft stark vom Zeitpunkt der Befragung abhängt: Befindet sich die Mehrheit der Öffentlichkeit in den ersten Stadien, sind Meinungsumfragen deutlich weniger zuverlässig als in den letzten Stadien, wo die Individuen zu einer stabilen Meinung gelagt sind. Entscheidend ist auch, in welcher Weise und in welchem Ausmass die Politiker den politischen Dialog suchen: Je weniger dies der Fall ist, um so unsicherer sind die Meinungen und um so weniger aussagekräftig sind die Meinungsumfragen. Generell ist festzustellen, dass Meinungsumfragen zu Wahlen aussagekräftiger sind als zu Sachvorlagen: Wahlen kennzeichnen sich durch eine klar begrenzte Anzahl Alternativen

92

Kapitel 4: Problemzulassung und -definition

(Kandidaten), eine konstante Problemstruktur und eine kurze Dauer. Sachvorlagen haben bis zur Abstimmungsvorlage oft viele mögliche Alternativen, eine unklare und im Zeitablauf veränderliche Problemstruktur, und ihre Behandlung dauert meist längere Zeit. 3.3. Rolle der Medien Die Medien spielen eine wichtige Rolle im Mobilisierungsprozess. Sie sind einerseits Kommunikationskanal zur Verbreitung von Problemdeutungen und Ordnungsvorstellungen verschiedener Akteure. Andererseits können sie auch von sich aus aktiv werden und von selber auf Diskrepanzen aufmerksam machen und damit ihre eigene Sicht bzw. jene der Medienschaffenden einbringen. Die Verbreitung subjektiv wahrgenommener Probleme hängt wegen der beschränkten Verfügbarkeit von Informationen stark vom Zugang der Betroffenen zu den Massenmedien ab. Die Berichterstattung unterliegt der Selektion und Interpretation durch die Ordnungsvorstellungen der Medienschaffenden. Sie beeinflussen damit massgeblich die Wirklichkeitssicht und das Verhalten der Akteure. Die von den Massenmedien verwendeten Deutungssysteme stellen einen Filter für die Ausbreitung wirtschaftspolitischer Probleme dar. 3.4. Meinungsbeeinflussung Mit ihren Sinngebungen versuchen die verschiedenen Gruppierungen, andere von ihrer Problemsicht zu überzeugen und deren Meinung zu beeinflussen. Dabei zeigt sich immer wieder, dass der informationsstand der Adressaten in der Regel niedrig ist. Das gilt auch für Parlamentarier oder exekutive Politiker. Fachleute verschiedener Art, auch Ökonomen tragen dem sehr oft nicht genügend Rechnung. Wenig oder keine Informationen zu haben heisst aber durchaus nicht, dass die entsprechenden Individuen keine Meinung hätten. Es ist ja gerade die Funktion von Vorurteilen, dass sie auch dort eine Orientierung ermöglichen, wo man keine Informationen besitzt, ja sie dispensieren die

3. Beeinflussung von Bewusstseinsgrad und Meinungen

93

Träger von Vorurteilen geradezu von der Aufnahme von Informationen. W o Vorurteile mit Emotionen v e r b u n d e n sind, erweisen sie sich als b e s o n d e r s resistent

gegenüber n e u e n oder abwei-

c h e n d e n Informationen. Es ist deshalb

nur für verstandesbetonte

staunlich,

konkrete

dass

Intellektuelle

Problemlösungsprozesse

oft

ersehr

emotional ablaufen und dass die Kontrahenten statt sachlogische A r g u m e n t e einzusetzen mit emotionalen Appellen Vorurteile ansprechen. Die Bereitschaft, die eigene Meinung zu ändern, ist abhängig von drei Faktoren:

^

Wertschätzung

der Quelle, die eine andere Meinung

äussert

Die W e r t s c h ä t z u n g einer Quelle hängt von der Sachkundigkeit (z.B. eines Wissenschafters) oder der Glaubwürdigkeit einer P e r s o n ab. Oft ist sie aber auch affektiv begründet (z.B. Attraktivität einer Person, Sympathie etc.). Die Bereitschaft, M e i n u n g e n von Quellen zu ü b e r n e h m e n , die nicht geschätzt werden, ist äusserst gering.

^

Beurteilung

der Meinung

der

Quelle

Die v o m a n d e r e n geäusserte Meinung wird selektiv wahrg e n o m m e n und kognitiv verarbeitet, das heisst a n h a n d der e i g e n e n Ordnungsvorstellungen interpretiert und beurteilt. Die Konnotation von Sender und Empfänger m u s s sich somit nicht decken. Äussert eine Quelle eine Meinung, die von d e r j e n i g e n der Adressaten abweicht, ist die Wahrscheinlichkeit von Missverständnissen besonders gross.

^

Eigene

Meinung

Die Akzeptanz einer anderen Meinung hängt stark von der e i g e n e n Meinung ab, das heisst wie stark die eigene Meinung verankert ist. Wer nur eine schwache oder unbestimmte Meinung hat, lässt sich eher von einer anderen überzeugen.

94

Kapitel 4: Problemzulassung und -definition

Es kann nun angenommen werden, dass eine Tendenz zur Konvergenz der drei oben genannten Elemente besteht. Das bedeutet, dass das schwächste Element angepasst wird. Ausgangspunkt ist die eigene Meinung. Ist diese ausgeprägt und anders als diejenige der Quelle, so ist eine Meinungsänderung schwierig zu erreichen, selbst wenn sie durch eine geschätzte Quelle versucht wird. Ein entsprechender Versuch kann sogar zu einer Reduktion der Wertschätzung der Quelle führen. Eine andere Folge kann sein, dass die abweichende Meinung der Quelle verzerrt wahrgenommen und damit der eigenen Meinung angepasst wird. Wer hingegen keine ausgeprägte eigene Meinung hat, die Quelle aber sehr schätzt, wird sich am leichtesten beeinflussen lassen. Wer schliesslich ohnehin schon die gleiche Meinung hat, wie sie von der Quelle geäussert wird, wird die Quelle nun höher schätzen.

Je weniger ausgeprägt die eigene Meinung des Adressaten ist, je höher er die Quelle schätzt und je besser die von der Quelle geäusserte Meinung mit seinen Ordnungsvorstellungen übereinstimmt, um so eher kann eine Meinungsänderung erreicht

Aus den geschilderten Schwierigekeiten der Meinungbeeinflussung haben viele Politiker Konsequenzen gezogen. So sind Wahlkämpfe etwa dadurch charakterisiert, dass Politiker sachliche Meinungsverschiedenheiten mit ihren (potentiellen) Wählern zu vermeiden suchen, dass sie Gemeinsamkeiten und Verbindendes betonen, dass sie den Beziehungsaspekt in den Vordergrund stellen, eine generelle, wenn auch diffuse persönlich Glaubwürdigkeit zu erreichen suchen, und dass sie Emotionen ansprechen und an den sog. "gesunden Menschenverstand" appellieren. Dies ist besonders ausgesprägt bei Ma/orzwahlen.

4. Affektive Aspekte: Ängste und Hoffnungen

95

4. Affektive Aspekte: Ängste und Hoffnungen 4.1. Bedeutung Es wurde bereits verschiedentlich darauf hingewiesen, dass neben den kognitiven auch die affektiven Aspekte57 der Ordnungsvorstellungen eine bedeutende Rolle spielen können. Sie können sowohl die Wahrnehmung als auch die Interpretation massgeblich beeinflussen: Erfahrungen werden immer innerhalb eines bestimmten Kontextes gemacht, der auch die emotionale Situation einschliesst. So sind bestimmte Erfahrungen mit positiven Gefühlen, andere mit negativen Gefühlen verbunden, ohne dass sich dies "rational" begründen liesse. Weil sich nun die Ordnungsvorstellungen aufgrund eigener oder vermittelter Erfahrung bilden, sind Ordnungsvorstellungen auch immer mit den entsprechenden Gefühlen verbunden (sog. affektive Assoziationen). Diese affektive Komponente lässt sich nicht trennen und häufig nicht begründen, aber sie kann die Wahrnehmung auf Situationen lenken, die mit besonders positiven oder negativen Gefühlen assoziiert sind, und beeinflusst dementsprechend auch die Interpretation. Vor allem bei den vorgängig behandelten Prozessen von Problemwahrnehmung und -interpretation (bzw. Problemzulassung und -definition) beeinflussen auch affektive Aspekte die Akteure. Dies gilt um so mehr, je grösser die Unsicherheit ist: Je weniger eindeutig eine Situation ist, um so grösser ist der Raum, den Emotionen einnehmen, und um so einfacher ist die emotionale Beeinflussung.58

57

Affektiv meint eine eher intuitive, gefiihlsmässige Regung ("des Herzens"), die sich vornehmlich unbewusst abspielt. Dagegen kann unter kognitiv die bewusste Verarbeitung ("des Kopfes") von Informationen zur Bereitstellung einer Handlungsgrundlage verstanden werden. 58

Vgl. dazu im vorherigen Abschnitt die Faktoren der Meinungsbeeinflussung und die Bedeutung der (affektiven) Beurteilung einer Quelle.

96

Kapitel 4: Problemzulassung und -definition

4.2. Definitionen Je nachdem, ob nun mit einer Situation negative oder positive Emotionen assoziiert sind, kann von Ängsten oder Hoffnungen gesprochen werden.59 Die Frage, ob es sich bei dieser Unterscheidung um "rein affektive" Phänomene handelt, kann aufgrund der Literatur nicht entschieden werden. Prinzipiell spricht nichts dagegen, dass mit Angst und Hoffnung kognitiv umgegangen werden kann. (Dies strebt zumindest ein Teil der Psychotherapie bei der Behandlung von "Angstneurosen" an.) Obwohl also beide Bereiche betroffen sein können, scheint der Ursprung von Angst und Hoffnung im affektiven Bereich zu liegen, was nachfolgend angenommen wird. - Angst und Hoffnung sind sozial-psychologische Phänomene. Die soziale Dimension bezieht sich auf soziale Ansteckungs- und Lernprozesse, denen beide unterliegen. Allgemein kann unter Angst und Hoffnung folgendes verstanden werden:

Angst ist ein Gefühlszustand oder -affekt, der sich auf die Erwartung einer möglichen Bedrohung oder Gefahr im Lichte der Bewältigungschancen bezieht (Denkund Verhaltensmöglichkeiten). Hoffnung ist eine emotionale Einstellung, verbunden mit der Vorstellung der Erreichbarkeit von Zielen (= Chance) im Zusammenhang mit Bedürfnissen und Wünschen.

59

Hierbei handelt es sich nicht um ein strenges Gegensatzpaar. So kann als "Gegenteil" von Angst auch Mut oder Neugier bezeichnet werden, was nicht Hoffnung entspricht. Als "etablierte" Gegensätze könnten stattdessen auch Chancen und Gefahren verwendet werden: Wer eine Gefahr sieht, hat "Angst". Wer eine Chance sieht, hat "Hoffnung".

4. Affektive Aspekte: Ängste und Hoffnungen

97

Wichtig für die Intensität mit der Ängste und Hoffnungen bzw. Gefahren und Chancen empfunden werden, sind die individuell empfundenen Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Umwelt (Denk- und Verhaltensmöglichkeiten). Ob aus Ängsten ein Handlungsbedarf entsteht, hängt davon ab, wie viele Hoffnungen ihnen gegenübergestellt werden können. Besteht ein (qualitatives) Gleichgewicht zwischen beiden, besteht kein Anlass zum Handeln. 4.3. Typologie Zur Strukturierung der verschiedenen Ängste und Hoffnungen lassen sich zwei Aspekte unterscheiden: Einerseits können Ängste und Hoffnungen aufgrund des Bereiches, auf den sie sich beziehen, thematisch kategorisiert werden. Andererseits besteht die Möglichkeit der psychologischen Unterscheidung. 4.3.1. Thematische Typologie Für das Individuum können Ängste und Hoffungen in seiner Beurteilung der Zustände oder Prozesse in seiner Umwelt begründet liegen, oder aber in ihm selbst ihren Ursprung finden:

98

Kapitel 4: Problemzulassung und -définition

Bezugssystem

Ängste

Hoffnungen

Natürliche Umwelt

Umweltzerstörung jeglicher Art

Entspannung, Erholung etc. in intakter Natur, Entdeckung neuer Ressourcen

Wirtschaftliche Umwelt

Arbeitsplatz-/Einkommensverlust, Geldentwertung, Wachstums-/Wohlstandseinbussen, Krisen, Entfremdung von der Arbeit

Einkommenserzielung, Wohlstand, persönliche Entfaltung am Arbeitsplatz, Bewährung der Marktwirtschaft

Politisch-administrative Umwelt

Krieg, Staatseingriffe in persönliche Freiheit, Bevormundung, hohe Regelungsdichte, Gefährdung der Demokratie

Sicherheit durch staatliche Institutionen, Sinngebung

Technische Umwelt

Technologische Bedrohung mit Auswirkungen auf übrige Umwelt

Problemlösung durch technischen Fortschritt, z.B. Medizin, Schaffung neuer Arbeitsplätze, effizientere Methoden, Entdeckung neuer Ressourcen

Soziale Umwelt

Verlust/Krankheit von Angehörigen, Kriminalität, Rücksichtslosigkeit, Überfremdung, Negativität der Medien, Bevölkerungsentwicklung

Vernunft und Menschlichkeit, Vertrauen in die anderen, gute Ausbildung, bessere Information

Individuum selbst

eigener Tod/Krankheit, sinkende Leistungsfähigkeit, "Weltschmerz"

Selbstvertrauen, gute eigene Ausbildung, eigener Leistungswille

4. Affektive Aspekte: Ängste und Hoffnungen

99

Diese Aufstellung hat nur Beispielcharakter und ist nicht abschliessend. Dennoch lassen sich verschiedene mögliche Quellen hier schwerpunktmässig einordnen. Eine eindeutige Zuordnung ist aber nicht in allen Fällen möglich und/oder sinnvoll. Beispiel: "Begründete" oder "unbegründete" Ängste im Zusammenhang mit dem Verlust des Arbeitsplatzes können prinzipiell in allen Themenkategorien auftreten: • Natürliche Umwelt: Umweltzerstörung vernichtet Lebensraum und Arbeitsplatz bzw. dessen natürliche Grundlagen. • Wirtschafliche Umwelt: Strukturwandel gefährdet Arbeitsplätze. • Politisch-administrative Umwelt: Staatliche Auflagen/Verbote gefährden Arbeitsplätze. • Technische Umwelt: Technischer Fortschritt und Rationalisierung gefährden Arbeitsplätze. • Soziale Umwelt: Migration gefährdet Arbeitsplätze. • Individuum: Sinkende Leistungsfähigkeit aus individuellen Gründen (z.B. Unlust, Alkohol, Drogen, "burn-out"). Alle (thematischen) Bezugssysteme können prinzipiell Ängste und Hoffnungen hervorrufen. Oft sind für beide die gleichen Quellen massgebend. Alle Entwicklungen bergen Chancen und Gefahren, die aber individuell unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt werden. Beispiel: Im Bereich der Energiepolitik wird die Kernenergie von manchen Akteuren als Hoffnungsträger betrachtet, während sie für andere Anlass zu Ängsten ist. 4.3.2. Psychologische Typologie Die rein thematische Typologie ist nicht ausreichend. Aus ihr wird nicht ersichtlich, welche Dimensionen bzw. Ausprägungen innerhalb einer Thematik Ängste und Hoffnungen annehmen. Deren Kenntnis ist jedoch wichtig, um die Möglichkeiten (sowie die Sensitivität) der Beeinflussung von Ängsten und Hoffnungen durch wirtschaftspolitische Akteure und Prozesse zu erkennen.

100

Kapitel 4: Problemzulassung und -definition

Ängste und Hoffnungen haben somit nicht nur eine thematische Ordnung, sondern auch einen Bezug zum Handeln bzw. zu den Handlungsmöglichkeiten. Ängste und Hoffnungen lassen sich aufgrund der mit ihnen verbundenen Erwartungen im psychologischen Raum zuordnen: Ausgangspunkt ist die schon oben angedeutete ZweiKomponenten-Strukurder Erwartungen, die Angst bzw. Hoffnung erzeugen. Danach ensteht Angst, wenn Anforderungen empfunden werden, zu deren Bewältigung nicht die entsprechenden Kompetenzen bestehen. Die Quelle der Hoffnung ist die Kompetenz zur Bewältigung von Anforderungen.

Anforderungen können auf 1) interner oder externer Bedrohung beruhen. 2) systembedingter oder persönlicher Bedrohung beruhen. 3) sozialer oder politischer Bedrohung beruhen. Kompetenz kann 1) individuell oder kollektiv begründet sein. 2) durch Institutionen oder durch Personen begründet sein. 3) ideell oder pragmatisch begründet sein. Beispiele für Anforderungen, die als Bedrohung interpretiert werden können:

interne

vs.

Unglaube, Unmoral, Misstrauen

systembedingte

Umweltzerstörung, Krieg, Tod von Angehörigen

vs.

persönliche Bedrohung

vs.

politische Bedrohung

unmenschliche Arbeitswelt

soziale Arbeitslosigkeit, Kriminalität

externe Bedrohung

Unfall, Krankheit Individuums

des

staatliche Kontrolle, Ge fährdung der Demokratie, Konflikte mit der 3.Welt

4. Affektive Aspekte: Ängste und Hoffnungen

101

4.4. Bezug zu den Ordnungsvorstellungen Ängste und Hoffnungen bilden das affektive Element der Ordnungsvorstellungen. Sie treten zur reinen Kognition hinzu. Überwiegen die Hoffnungen, ändern sich die bestehenden Ordnungsvorstellungen kaum. Es besteht sogar die Tendenz, dass sich diese festigen (bestätigtes Vertrauen). Beginnen die Ängste (dauerhaft) zu überwiegen, steigt die Unsicherheit, und es bedarf neuer kollektiver Sinngebungsangebote, wodurch die Ordnungsvorstellungen beeinflusst werden: Es ist zu vermuten, dass bei dauerhaftem Überwiegen von Ängsten der Handlungsbedarf zum Aufbau von Kompetenzen wächst. Diese Kompetenzen konnten vom bestehenden wirtschaftspolitischen System nicht generiert werden und verlangen deshalb einer "Neubesinnung" / "Umorientierung". Die bestehenden Ordnungsvorstellungen haben sich nicht als länger tauglich erwiesen und müssen deshalb revidiert werden. 4.5. Bedeutung für die Wirtschaftspolitik Je nachdem, wo Ängste und Hoffnungen im psychischen Raum angesiedelt sind, stehen dem Politiker oder seinem Berater unterschiedliche Möglichkeiten zur Förderung der Hoffnung durch (vermeintliche) Steigerung der (z.B. institutionellen) Kompetenz oder der Vermeidung zusätzlicher (angstauslösender) Anforderungen offen. Zusammenfassend können folgende Hypothesen formuliert werden: 1) Soll an den bestehenden Ordnungsvorstellungen festgehalten werden oder sollen diese gefestigt werden, muss die Wirtschaftspolitik ein Gleichgewicht zwischen Anforderungen (Ängsten) und Kompetenzen zu deren Lösung (Hoffnungen) anstreben bzw. die Kompetenzen (und damit das Vertrauen) stärken. 2) Entstehen zusätzliche Anforderungen, müssen entsprechende Kompetenzen geschaffen und/oder demonstriert werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Ängste überwiegen und sich die Ordnungsvorstellungen verändern. Dies kann natürlich durch Gruppen, die eine solche Veränderung wünschen, in ihrem Sinne gefördert werden (Propaganda).

102

Kapitel 4: Problemzulassung und -définition

3) Für die Wirtschaftspolitik ist es am einfachsten, externe, (wirtschafts-)politische Bedrohungen des Systems zu beeinflussen. Persönliche, soziale und interne Bedrohungen entziehen sich meist ihrem Zugriff. Durch die wirtschaftspolitischen Akteure bewusst angesprochen oder manipuliert werden können Ängste prinzipiell aber in allen Bereichen des psychischen Raumes. 4) Hoffnungen lassen sich durch die Wirtschaftspolitik am sichersten durch Institutionen oder Personen auf kollektivpragmatischer Ebene wecken. Problematischer ist die Förderung persönlicher, individueller und ideeller Hoffnungen. Hier scheint v.a. die Ausbildung entscheidend zu sein.

5. Symbole und Rituale 5.1. Bedeutung Gerade die Sinngebungsprozesse, in denen um die Definition, Ursachen und Konsequenzen von Problemen gerungen wird, verdeutlichen, dass Wirtschaftspolitik mehr ist als ein Entscheidungsprozess, bei dem aufgrund einer objektiven Lageanalyse eine zweckrationale Mittelanalyse zur Erreichung vorgegebener wirtschaftspolitischer Ziele getroffen wird. Wirtschaftspolitik ist vielmehr auch ein verständigungsorientierter, kommunikativer Problemlösungsprozess, in dem die Akteure versuchen, andere von ihrer Problemsicht und oft auch von ihren Ordnungsvorstellungen zu überzeugen, also ihre Sinngebung zu verbreiten. Innerhalb solcher Kommunikationsprozesse verwenden wirtschaftspolitische Akteure oft Symbole und Rituale, wenn sie Informationen, Sichtweisen und Handlungsvorschläge austauschen. In der traditionellen Theorie der Wirtschaftspolitik werden sie kaum thematisiert, und ihre Funktion wird unterschätzt, weil von ihnen keine Wirkungen erwartet werden. Ausgehend vom kognitiven Menschenbild können sie aber durchaus substantielle Wirkungen entfalten. Die virtuellen Effekte durch den Einsatz von Symbolen und Ritualen sind nicht zu unterschätzen. Weil die

5. Symbole und Rituale

103

Wirtschaftssubjekte nur über unvollständige Informationen verfügen, stützen sie sich bei der Beurteilung von geäusserten Meinungen und Handlungsvorschlägen auch auf äusserliche Hinweise. Indem Symbole und Rituale die Wahrnehmung prägen, können sie auch die Erwartungsbildung der Akteure und folglich indirekt auch ihr Handeln beeinflussen. 5.2. Verbale und nonverbale Symbole

Symbole sind Erkennungszeichen bzw. Substitute für bestimmte Sachen oder Ideen, die meist nur umständlich, ungenügend oder gar nicht explizit beschreibbar sind.

Je nachdem, ob Symbole durch Sprache vermittelt werden oder nicht, kann zwischen verbalen und nonverbalen Symbolen unterschieden werden: 5.2.1. Verbale Symbole Verbale Symbole dienen der Übermittlung inhaltlicher Aspekte, indem sie bestimmte Interpretations- und Erklärungsmuster sowie Ordnungsvorstellungen ansprechen, bekräftigen, ergänzen oder modifizieren. Zu diesem Zweck können sie auf zwei Arten eingesetzt werden: ^ Verbale Symbole können erstens verweisenden Charakter haben, indem sie nachweisbare Tatbestände etikettieren und vergegenwärtigen. Sie ermöglichen damit eine effizientere Kommunikation. Gleichzeitig entfalten sie aber auch definitorische Wirkung, denn die vom Sender ausgewählten, verbal dargestellten Sachverhalte vermitteln jenen Realitätsausschnitt, der von ihm als relevant erachtet wird.

104

Kapitel 4: Problemzulassung und -definition

Verbale Symbole können zweitens verdichtend eingesetzt werden, indem dem Empfänger auch Hinweise für das Verständnis und die Interpretation der behandelten Sachverhalte vermittelt werden (Kategorisierung). Im Extremfall erfüllen Symbole nur eine der beiden Funktionen. In der Regel erfüllen sie aber beide gleichzeitig, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass. Die verdichtende Funktion wird oft unterstützt durch den Einsatz rhetorischer Techniken oder bestimmter Sprachstile.

Rhetorische Techniken • Dialektisches Überzeugen: Der Empfänger wird durch Ansprechen allgemein bejahter Sachverhalte in eine zustimmende Folgestimmung versetzt. • Sprachliche Vereinfachung zur Erleichterung der kognitiven Verarbeitung beim Empfänger. • Berufen auf Sachzwänge: Die Behauptung des Vorliegens von Sachzwängen tritt an die Stelle einer argumentativen Diskussion und dient gleichzeitig als Legitimationsbasis. ^

Sprachstile

• appellierende Sprache: richtet sich an ein Jedermann-Publikum und ruft zur Unterstützung auf. Sie basiert auf (im- oder explizit ausgesprochenen) allgemein akzeptierten Prämissen, aus denen positive oder negative Zukunftserwartungen abgeleitet werden, die zu politischem Handeln veranlassen (sollen). Beispiel: Wahlkampfrede • juristische Sprache: v.a. in Gesetzestexten verwendete, ambivalente Sprache mit einer oft vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichenden Begriffsverwendung. Nach aussen wird der Eindruck von präziser Festlegung und Entschlossen-

5. Symbole und Rituale

105

heit signalisiert. Nach innen werden Interpretationsspielräume und Flexibilität offengehalten. Gelegentliche Verwendung zur Verschleierung. Beispiel: Präambel • administrative Sprache: meist von der Verwaltung verwendete, aus Rationalisierungs- und Effizienzgründen stark formalisierte und routinisierte Sprache. Ähnliche Ambivalenz wie juristische Sprache. Sie wird von Aussenstehenden nur schlecht verstanden und kann bei mangelndem Prestige des Absenders Belustigung, Unverständnis oder Verärgerung hervorrufen. Beispiel: militärisches Reglement • Verhandlungssprache: sachliche, offen formulierte und nur mit wenigen verdeckten Anspielungen operierende Sprache, die zur Übermittlung von Offerten, Konzessionen u.ä. dient. Sie wird meist nur intern, d.h. innerhalb des engeren politischen Entscheidungsprozesses verwendet. Die Grundfunktionen

politischer Sprache sind

Unterstützung des eigenen Standpunktes nung, Übertreibung, Dramatisierung und ^

durch Beto-

Beschwichtigung der Gegner durch Dämpfung, Untertreibung, Entdramatisierung. Dies kann geschehen, indem bestehende Deutungssysteme formelhaft und routinemässig aufgerufen werden, etwas kreativere Deutungsangebote vorgenommen werden, oder indem Ängste und Hoffnungen angesprochen werden.

5.2.2. Nonverbale Symbole Während verbale Symbole vorwiegend der Übermittlung von Inhalten dienen, betonen nonverbale Symbole wie Flaggen, Abzeichen, Gesten, Körperhaltung etc. vor allem Beziehungsaspekte der Kommunikation. Drei Elemente der Beziehung zwischen wirtschaftspolitischen Akteuren sind von besonderer

106

Kapitel 4: Problemzulassung und -definition

Bedeutung: • die soziale Identität und Rolle der Akteure sind aufgrund verschiedener äusserer Merkmale für andere erkennbar und erlauben damit seine Einordnung in hierarchischer und sozialer Hinsicht. • das Verhältnis zwischen den Akteuren zeigt sich durch die Art, wie die Interaktion durchgeführt bzw. inszeniert wird, wodurch Zusammengehörigkeit und Identifikation gestärkt, aber auch Positionen demonstriert werden können. • das emotionale Befinden der Akteure ist in der direkten Interaktion v.a. durch Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Sprechweise erkennbar und ist ein Indikator für Sympathie oder Antipathie. Wichtig ist v.a. die Veränderung des emotionalen Befindens im Laufe der Interaktion.

5. Symbole und Rituale

107

5.2.3. Beispiele verbaler und nonverbaler Symbole Verbale Symbole I) Verweisend Abkürzungen (BSP, M1, SBB, AHV, etc.), Begriffe oder Aussagen II) Verdichtend 1. Appell Hochwertwörter (z.B. Freiheit, Gerechtigkeit), Slogans 2. Interpretation Schlagwörter (z.B. Marktwirtschaft), Neologismen (z.B. Computerisierung der Arbeitswelt), Metaphern (z.B.wir sitzen alle im gleichen Boot), Mythen 3. Verschleierung Euphemismen (z.B. natürliche Arbeitslosigkeit), Relativierungen, Leerformeln, Unscharfen 4. Legitimation Beschwören von Feindbildern, Einsatz von Hochwertwörtern, Anrufen von Sachzwängen

Non-Verbale Symbole 1. Soziale Identität und Rolle der Akteure Kanzel, Rednerpult, Tribüne, Büroeinrichtung, Kleidung, Fahrzeug, Rangabzeichen, Wortwahl 2. Verhältnis zwischen den Akteuren (Zusammengehörigkeit, Identifikation) Runder Tisch, Uniform, Abzeichen, Firmensignet, Parteifarbe, -logo, Tonsignet, Nationalhymne 3. Emotionen (Sympathie/Antipathie etc.) Gesichtsausdruck (ernst, fröhlich, verschlossen), Körperhaltung (entspannt, angespannt), geöffnete Arme, Victory-Zeichen, geballte Faust, Sprechweise (Rhythmus, Lautstärke)

108

Kapitel 4: Problemzulassung und -definition

5.3. Rituale

Rituale sind festgelegte, standardisierte Verhaltensweisen, die oft in ausdrucksvoller oder feierlicher Form vorgenommen werden. Sie machen zugrunde liegende Bedeutungen sichtbar und erfahrbar.

Während verbale Symbole vorwiegend Inhalte übermitteln und nonverbale Symbole die Beziehungsaspekte der Kommunikation betonen, haben Rituale die folgenden Funktionen: ^ Mobilisierung Rituale zur Verdeutlichung von Stellungnahmen und Forderungen können im Sinngebungsprozess dazu dienen, Sympathien zu wecken und die Identifikation zu erleichtern oder sie können im Zusammenhang mit Verhandlungen Entschlossenheit signalisieren. ^ Reduktion von Unsicherheit und Angst Insbesondere Rituale, die institutionelle Kompetenz demonstrieren, vermögen die Unsicherheit der Akteure zu verringern und ihre Aengste abzubauen. Den Akteuren soll Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Institutionen vermittelt werden, und es soll gezeigt werden, dass bestimmte Funktionäre Verantwortung übernehmen und die Lösung des Problems in Angriff nehmen. ^

Reduktion von Konflikten und Legitimation Entscheidungen

von

Rituale der Mitwirkung dienen einerseits der Offenlegung von Interessen und der Reduktion von Konflikten. Andererseits werden sie zur Legitimation von Entscheiden eingesetzt, denn wer mitgewirkt hat, kann einen Entscheid nicht mehr ohne weiteres in Frage stellen.

5. Symbole und Rituale

109

5.3.1. Beispiele für Rituale und ihre Funktion 1. Verdeutlichung von Stellungnahmen, Forderungen Pressekonferenz, Podiumsgespräch, Versammlung, Demonstration, Boykott, Streik, Aussperrung 2. Sichtbarmachung institutioneller Kompetenz • Demonstration von Verfügbarkeit: Repräsentation, Besuche, Reden •Anstrengungen zur Problemlösung: Informationsbeschaffung veranlassen, Studie in Auftrag geben, Kommission einsetzen, Parlamentsdebatte, Aushandlungsprozesse, Gipfeltreffen • Einleitung von Massnahmen: Beschlüsse verkünden, Bausteinlegung, Spatenstich, Eröffnung, neue Funktion schaffen •Zuweisung und Übernahme von Verantwortung: Amtseinsetzung; Funktionär auszeichnen, auswechseln oder entlassen; Gerichts- oder Disziplinarverfahren einleiten, Exempel statuieren, Rücktritt 3. Einräumen von Mitwirkungsmöglichkeiten Konsultation, Vernehmlassungsverfahren, Initiative, Referendum, Abstimmung, Wahl, Gemeindeversammlung, Aushandlungsprozesse

110

Kapitel 4: Problemzulassung und -definition

Wirkung von Filter 2: Problemzulassung und -definition

Die Wirkung des zweiten Filters besteht (1) darin, dass nicht alle Probleme, die auf kollektiver Ebene diskutiert werden, auch zum wirtschaftspolitischen Thema erhoben werden (können), weil die Problemwahrnehmungsund -behandlungskapazität des politischen Systems beschränkt ist. Neue Probleme gelangen meist nur durch einflussreiche Akteure auf die wirtschaftspolitische Traktandenliste. (2) Ausserdem provozieren Probleme in der Regel verschiedene Sinngebungen, wobei sich die Problemsicht der initiierenden Akteure nicht unbedingt durchsetzt.

LITERATURHINWEISE ZU KAPITEL 4

Der Begriff des opinion leaders geht zurück auf • Lazarsfeld, PF. (et al.): The People's Choice: How the Voter Makes Up His Mind in a Presidental Campaign, New York, 1944. Zur inhaltlichen Abgrenzung von Problemen siehe • Dyllick, T.: Management als Sinnvermittlung,

in: gdi-Impuls,

1. Jhg., S. 1-12. Zu den Aufmerksamkeitsregeln siehe: • Luhmann, N.: Öffentliche Meinung, in: Langebucher, W.R. (Hrsg.): Politik und Kommunikation, Über die öffentliche Meinungsbildung, München, 1979, S. 29-61.

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5. Symbole und Rituale

Zur Meinungsbeeinflussung siehe: • Bennett, W.L.: Public Opinion in American Politics, New York etc., 1980 Zu den Stadien der öffentlichen Meinungsbeeinflussung siehe: • Yankelovich, D.: Coming to Public Judgment: Making Democracy Work in a Complex World, University of Syracuse Press, 1991; Interview in Challenge, May-June 1992, S. 20 27. Zu Ängsten und Hoffnungen siehe: • Schmittchen, G: Angst und Hoffnung, Beobachtungen zur Sozialpsychologie der Krise, in: Lobkowicz, N. (Hrsg.): Irrwege der Angst, Chancen der Vernunft, Mut zur offenen Gesellschaft, Köln, 1983, S. 27-46. Zu Symbolen und Ritualen sowie rhetorischen Techniken und Sprachstilen siehe: • Edelman, M.: Politik als Ritual: Die symbolische staatlicher Institutionen und politischen Handelns, a.M./New York, 1990.

Funktion Frankfurt

• Hübner, K.: Die Wahrheit des Mythos, München, 1985. • Bock, J: Zur Inhalts- und Funktionenanalyse de, Diss., Frankfurt/a.M., 1982.

der Politikerre-

Kapitel 5 Problembehandlung I: Akteure und Konstellationen

ÜBERSICHT In diesem Kapitel werden die einzelnen Akteure des wirtschaftspolitischen Prozesses dargestellt. Sie verfügen über unterschiedliche Ausstattungen mit persönlichen, rollenbezogenen und politischen Ressourcen, was ihnen verschiedenartige Einflussmöglichkeiten verleiht. Diese ergeben zusammen mit der spezifischen Stellung der Akteure im Prozess eine politische Grundkonstellation, die die möglichen Interaktionen zwischen den Akteuren unter Berücksichtigung ihres relativen Einflusses wiedergibt. Aufgrund ihres grossen Einflusses in der Schweiz ist den Interessengruppen - insbesondere den Verbänden - ein eigener Abschnitt gewidmet.

1. E i n f ü h r u n g Ist ein Problem auf kollektiver Ebene zugelassen sowie inhaltlich und formal abgegrenzt worden, muss es zu seiner "Lösung" durch die zuständigen Instanzen und Gremien behandelt werden. Falls es sich um einen Routinefall handelt, wird dieser innerhalb eines bürokratischen Entscheidverfahrens abgewickelt. Andernfalls liegt ein Problemfall vor, der politische Entscheidungsmechanismen in Gang setzt.60 In beiden Fällen bildet ein formaler Entscheid den Abschluss der Problemlösungsphase, weshalb

60 Zur formalen Abgrenzung zwischen Routine- und Problemfällen vgl. in Kapitel 4 den Abschnitt 2.2.

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Kapitel 5: Problembehandlung I: Akteure und Konstellationen

hier auch von einer Entscheidungsphase kann.

gesprochen werden

In den vorherigen Kapiteln wurde nicht zwischen verschiedenen Akteuren unterschieden, und die konkreten wirtschaftspolitischen Prozesse, wie sie aufgrund der institutionellen Gegebenheiten ablaufen, wurden nicht explizit berücksichtigt. Einzig bei den Mobilisierungsprozessen (vgl. Kapitel 3, Abschnitt 2.2) und im Rahmen der Diskussion über Möglichkeiten der Beeinflussung von Bewusstseinsgrad und Meinungen (vgl. Kapitel 4, Abschnitt 3) wurde darauf hingewiesen, dass die Akteure aufgrund ihrer Ressourcenausstattung verschiedene Möglichkeiten haben. Dies gilt vor allem auch in der Entscheidungsphase: Hier können die Akteure je nach Ressourcenausstattung auf unterschiedliche Art und Weise Einfluss nehmen. Deshalb sind zunächst verschiedene Akteure bzw. Akteurgruppen zu unterscheiden. Aufgrund dieser Möglichkeiten ergeben sich innerhalb von politischen Systemen bestimmte Konstellationen als Resultat des Zusammenspiels der Akteure. Diese Konstellationen entstehen also aufgrund formeller (d.h. v.a. institutioneller) und informeller Gegebenheiten und Abläufe und umfassen alle Möglichkeiten der Interaktion zwischen den Akteuren. Im Vordergrund stehen dabei die formellen und informellen Möglichkeiten der Einflussnahme auf andere Akteure und den Entscheidungsprozess bzw. dessen Ergebnis. - So ergeben sich beispielsweise in repräsentativen Demokratien mit starken Führungsgremien (EU, USA, Frankreich) für die Akteure andere Möglichkeiten als in Staaten mit direkter Demokratie (Schweiz). Während im ersten Beispiel bei Entscheiden weniger auf starke Minderheiten oder Einzelinteressen Rücksicht genommen werden muss (v.a. wenn das Parlament schwach ist oder seine Mehrheit regierungstreu ist), resultieren im zweiten Beispiel eher "flache Kompromisse" unter Berücksichtigung verschiedenster Minderheiten und Partialinteressen.

2. Die Akteure

115

Dieses Kapitel behandelt die einzelnen Akteure, ihre Einflussmöglichkeiten und die resultierenden Konstellationen. Auf die besondere Stellung der Interessengruppen in der Schweiz wird gesondert eingegangen. Wie sich die Problembehandlung abläuft, ist Gegenstand des nächsten Kapitels.

2. Die Akteure In jedem (westlichen) demokratischen Land gibt es eine grosse Zahl potentieller Akteure. Gründe dafür sind eine stark arbeitsteilige Wirtschaft mit vielen autonomen Wirtschaftssubjekten, eine pluralistische Gesellschaft, in der verschiedenste Werte und Interessen nebeneinander bestehen sowie einen mehr oder weniger föderalistischen Staat, der den Individuen auf unterschiedlichen Ebenen Mitwirkungsrechte einräumt. Aufgrund ihrer Beteiligungsmöglichkeiten lassen sich grob zwei Gruppen von Akteuren unterscheiden: ^

Entscheidungsträger sind formell, d.h. von Amtes- oder Gesetzes wegen am Entscheidungsprozess beteiligt. Es sind dies: • Regierung • Parlament • Verwaltung • Judikative • Notenbank • Volk/Bürger • supranationale Instanzen • Interessengruppen - Verbände - Arbeitsmarktverbände(Gewerkschaften und Arbeitgeber) - weitere Wirtschaftsverbände - fallweise andere Interessenorganisationen ( Umweltschutz, Konsumentenschutz usw.)

Je nach der Art des Problems sind die Entscheidungsträger

116

Kapitel 5: Problembehandlung I: Akteure und Konstellationen

unterschiedlich stark involviert, so dass nicht jeder Entscheidungsträger in jedem Falle beteiligt ist. Bei den ersten vier genannten Entscheidungsträgern sowie z.T. bei den Interessengruppen lassen sich zudem die drei staatlichen Ebenen (Bund, Kantone/Länder, Gemeinden) unterscheiden. ^

Einflussträger sind nicht formell, aber de facto beteiligt. Es sind dies: • Parteien • Interessengruppen/Verbände • Marktmächtige Unternehmen • Massenmedien • Wissenschaftler (Berater) • Internationale Organisationen

Es fällt auf, dass Interessengruppen - und insbesondere Verbände - zu beiden Kategorien zählen können, was besonders für die Schweiz zutrifft. Hierauf wird später noch detaillierter eingegangen. Akteure können unterschiedlich spezialisiert sein (z.B. Verbände, Notenbank) und einen unterschiedlichen Dezentralisierungsgrad aufweisen (z.B. föderalistische Dachverbände der Wirtschaft). Der hier verwendete Begriff des Akteurs meint somit nicht bestimmte Personen, sondern Rollen, die Personen innerhalb des wirtschaftspolitischen Prozesses übernehmen. Einzelne Personen können durchaus verschiedene Akteur-Rollen übernehmen: Typischerweise sind die Mitglieder der Regierung auch Parteimitglieder und in der Schweiz Parlamentarier ausserdem in Unternehmen oder anderen Organisationen beschäftigt. Jedermann ist zudem immer in der Rolle des Bürgers. Diese Beispiele zeigen, dass im wirtschaftspolitischen Prozess nicht unabhängige Akteure aufeinandertreffen, sondern dass ein interdependentes System von Rollen besteht. Für die Meinungsund Willensbildung hat dies zur Folge, dass (1) das Individuum oft Konflikte zwischen seinen verschiedenen Rollen zu bewältigen hat und dass (2) auch innerhalb der Akteure komplizierte

3. Quellen von Einfluss

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Prozesse ausgelöst werden.

3. Quellen von Einfluss Einfluss hat ein einzelner Mensch oder ein (wirtschafts)politischer Akteur, wenn er die Ordnungsvorstellungen oder direkt das Verhalten anderer Individuen oder Akteure verändern kann. In unserm Zusammenhang von besonderm Interesse ist die Beeinflussung von wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Eine solche Einflussnahme beruht auf verschiedenen Quellen von Einfluss. Diese lassen sich folgendermassen systematisieren: Quellen von Einfluss Persönliche Ressourcen • Zugeschriebene Eigenschaften und Fähigkeiten (soweit losgelöst von Rollen vorhanden bzw. über mehrere Rollen hinweg konstant) • Verfügbarkeit von Zeit • Verfügungs- und Nutzungsrechte an Finanz- und Sachaktiven • Eigene Stimme Rollenbezogene Ressourcen • Explizite und implizite Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen • Stellung in Informations- und Kommunikationsprozessen • Verfügungs- und Nutzungsrechte an Finanz- und Sachaktiven Politische Ressourcen i.e.S. • Unterstützung durch andere Akteure (Stimmen)

118

Kapitel 5: P r o b l e m b e h a n d l u n g I: A k t e u r e u n d K o n s t e l l a t i o n e n

Die persönlichen Ressourcen bestehen relativ unabhängig von der jeweiligen Akteur-Rolle. Sie sind deshalb in verschiedenen Rollen einsetzbar. Besonders relevant sind die Eigenschaften und Fähigkeiten, die einem Akteur durch andere zugeschrieben werden. 61 Sie müssen nicht "objektiv" vorhanden sein, sondern es reicht ihre blosse Vermutung durch andere. 62 Diese Quelle kann durch den Akteur selbst meist nicht direkt und zumindest nicht kurzfristig beeinflusst werden. Er kann aber versuchen, langfristig ein entsprechedes "Image" aufzubauen und sich dadurch zusätzlichen Einfluss verschaffen. Demgegenüber ist die verfügbare Zeit eine Ressource, die in ihrer Zuordnung sehr flexibel, in ihrem Umfang aber fix ist. Persönliche Verfügungsund Nutzungsrechte über Finanz- und Sachaktiven können ebenfalls flexibel zugeordnet werden, aber ihr Umfang lässt sich meist nur längerfristig vergrössern. Die rollenbezogenen Ressourcen stützen sich ausschliesslich auf die entsprechende Rolle und können durch den Akteur selbst nur schwer und gegebenenfalls langfristig geändert werden. Trotzdem können Akteure versuchen, ihren Einfluss zu vergrössern, indem sie ihre expliziten und v.a. ihre impliziten Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen ausweiten (z.B. durch neue Aufgabenbereiche), ihre Stellung im Informations- und Kommunikationsprozess verbessern (z.B. durch Mitarbeit in Kommissionen) oder ihre Verfügungs- und Nutzungsrechte erweitern (z.B. durch grössere Budgets). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in einer arbeitsteiligen Wirtschaft innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft viele Akteure Einfluss haben können und damit Träger der

61

Hier wurde bewusst der Begriff Akteur gewählt, weil Eigenschaften und Fähigkeiten neben Personen auch Organisationen oder Institutionen (wie Regierung, Notenbank, Verbände etc.) zugeschrieben werden können. 62

Diese Zuschreibung erfolgt aber meist nicht unabhängig von der ausgeübten Rolle, weshalb die persönlichen Ressourcen oben als "relativ unabhängig von der Rolle" bezeichnet wurden. Beispiel: Die Eigenschaften und Fähigkeiten, die einem Regierungsmitglied zugeschrieben werden, beruhen zumindest zum Teil auch auf seiner Rolle.

4. Rollen und Einfluss

119

Wirtschaftspolitik sind. Ein Teil der Akteure ist in vielen Zusammenhängen einflussreich, während der grösste Teil nur bei bestimmten Sachfragen Einfluss erlangt. Der Einfluss wird massgebend, aber nicht ausschliesslich von der Rolle bestimmt. Akteure mit wenig rollenbezogenem Einfluss können durch entsprechenden Einsatz persönlicher Ressourcen versuchen, zusätzlichen Einfluss zu gewinnen, z.B. durch persönliche, aufsehenerregende Auftritte. Wie nun der Zusammenhang zwischen Rollen und Einfluss im einzelnen aussieht, wird im nächsten Abschnitt erläutert.

4. Rollen und Einfluss 4.1. Einfluss auf Ebene des Individuums Einerseits ist das Individuum Träger einer oder mehrerer Rollen. Andererseits verfügt es über Persönlichkeitsmerkmale, die über verschiedene Rollen hinweg bestehen und sich nur langsam ändern. Diesen Aspekt bezeichnen wir als Persönlichkeit. Die aktuellen Rollen und die Persönlichkeit beeinflussen gemeinsam sowohl die Ordnungsvorstellungen als auch die einsetzbaren Ressourcen (vgl. untenstehende Abbildung). Insbesondere die Soll-Parameter (Präferenzen und Wertvorstellungen) werden einerseits durch die Persönlichkeit geprägt (Anlagen, Erziehung, Sozialisation, Erfahrung) und andererseits durch jene Präferenzen, die sich aufgrund der aktuellen Rolle(n) ergeben. Diese rollenbezogenen Präferenzen beruhen auf verschiedenen Faktoren, wie bestehende Ressourcenausstattung (und damit Einflusspotential); Zugehörigkeit zu Produktionssektor, -branche oder -zweig; Profession oder Berufsstand; sozio-demographische Position (Alter, Geschlecht, Zivilstand sowie regionale, konfessionelle, sprachliche und ethnische Zugehörigkeit).

120

Kapitel 5: Problembehandlung I: Akteure und Konstellationen

Individuum

Konsequenzen

.. • Akteure

Abb. 9: Determinanten des Ressourceneinsatzes

4. Rollen und Einfluss

121

Die Ressourcenausstattung bildet ein Potential, das seinerseits auf den aktuellen Rollen sowie auf der Persönlichkeit beruht und über dessen Einsatz (Art und Umfang) entschieden werden muss. Dieser Entscheid erfolgt anhand eines strategischen Kalküls, welches aufgrund der Ordnungsvorstellungen - unter Einbezug zusätzlicher Grössen - Art und Umfang des Ressourceneinsatzes zwecks Einflussnahme auf den aktuellen Entscheidungsprozess festlegt. Das Ziel dieser Einflussnahme besteht letztlich in der Sicherung bestehender und/oder der Erlangung zusätzlicher Ressourcen 63 . Massgeblich sind die relativen Preise der Einflussmöglichkeiten unter Berücksichtigung der in früheren Entscheidungsprozessen gemachten Erfahrungen und des erwarteten Verhaltens der anderen involvierten Akteure. Ausserdem ist zu beachten, dass zumindest ein Teil der Ressourcen (v.a. die persönlichen) auch ausserhalb des politischen Prozesses eingesetzt werden können. Dieser Aspekt ist deshalb beim strategischen Kalkül ebenfalls einzubeziehen. Werden nun Ressourcen aufgrund dieses Kalküls aktuell eingesetzt, kann der Entscheidungsprozess entsprechend Art und Umfang des Einsatzes im Hinblick auf das zu erreichende Ziel beeinflusst werden, und es entstehen Konsequenzen für das aktuelle und zukünftige Verhalten der anderen Akteure. In diesem Zusammenhang sind zwei Aspekte von Bedeutung: Erstens werden potentielle Einflussmöglichkeiten nicht in jedem Falle bzw. nicht in vollem Umfang genutzt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die zur Einflussnahme nötigen Ressourcen sich in einem anderen (politischen oder ausserpolitischen) Zusammenhang gewinnbringender einsetzen lassen und wenn

63

Dieses Ziel beinhaltet umfangreiche Aktivitäten und ist meist nur längerfristig zu erreichen. Aus diesem Grunde beteiligen sich die Akteure auch an der Lösung von Problemen, die sie nicht direkt betreffen und/oder ihnen keine kurzfristigen Vorteile bringen. Ersteres kann dazu dienen, neue Tauschmöglichkeiten zu schaffen oder den allgemeinen politischen Einfluss eines Akteurs zu sichern und ihm eine Reputation als aktiver und umsichtiger Mitspieler bescheren, der sich nicht nur um seine Interessen kümmert. Letzteres beruht auf einem langfristig ausgerichteten Kalkül.

122

Kapitel 5: Problembehandlung I: Akteure und Konstellationen

aus ihrem aktuellen Einsatz negative Auswirkungen auf zukünftige Entscheidungsprozesse bzw. das Verhalten anderer Akteure zu erwarten sind. Dies bedeutet zweitens, dass bei jeder Einflussnahme die entstehenden politischen Rückwirkungen 64 zu berücksichtigen sind. Vor allem wenn Einfluss über das funktional notwendige Mass hinaus oder gegen den Willen anderer Akteure eingesetzt wird, sind verschiedene Formen der Anpassung zu erwarten: 1. Ausweichen Akteure, die massiv und/oder gegen ihren Willen beeinflusst werden, versuchen diesem Einfluss auszuweichen. 2. Aufbau von Gegenpositionen Ist ein Ausweichen nicht möglich oder mit hohen Kosten verbunden, versuchen die Beeinflussten eine Gegegenposition aufzubauen, indem sie Koalitionen bilden. Aus diesen Gründen ist es für den Akteur wichtig, nur das gerade zur Erreichung seiner Ziele notwendige Mass an Einfluss auszuüben und diesen wenn immer möglich im Einverständnis mit den Beeinflussten einzusetzen. Dazu stehen drei Wege offen: Erstens kann der Akteur versuchen, andere aufgrund seines Wissensvorsprungs oder seiner persönlichen Eigenschaften zu überzeugen. Zweitens kann er seine organisatorisch oder gesetzlich legitimierten Kompetenzen wahrnehmen. Drittens kann er durch Bezahlung oder Belohnung mit Vermögenswerten oder Rollen Einfluss auf andere nehmen. Ist keiner dieser Wege zielführend, bestehen folgende weitere Möglichkeiten: Der Akteur kann versuchen, andere zu manipulieren, wobei der Unterschied zum Überzeugen in der Verschleierung der tatsächlichen Intentionen und/oder der Urheber besteht.

64

Vgl. dazu Kapitel 9.

4. Rollen und Einfluss

123

Manipulation setzt zudem kein Einverständnis voraus. 65 Dies gilt auch für den Einsatz struktureller Macht, die ebenfalls verdeckt ausgeübt wird. Sie liegt vor, wenn sich die Beeinflussten bewusst oder unbewusst den Interessen und Wertvorstellungen des Einflussreichen übermässig anpassen, weil sie ihn als so mächtig empfinden, dass sie ein abweichendes Verhalten nicht wagen. So können sie über das funktional Notwendige hinaus auf Meinungsäusserungen und Verhaltensweisen verzichten, von denen sie annehmen, dass sie von denjenigen des Einflussreichen abweichen. Oder sie können sich auch in anderen Lebensbereichen den effektiven oder vermuteten Vorstellungen des Einflussreichen anpassen. 66 Ein noch stärkeres Mittel der Einflussnahme ist die offene Konfrontation, z.B. durch Drohungen, Demonstrationen, Streik, Boykott etc. Hier werden aber meist starke Gegenreaktionen ausgelöst (siehe oben), oder aber die Mittel der offenen Konfrontation verlieren ihre Wirkung, wenn sie übermässig und/oder zu häufig eingesetzt werden (siehe nachfolgend zum "Abnutzungseffekt"). Zusammenfassend ergibt sich folgende Liste:

65

Weil die dabei eingesetzten Informationen immer selektiv und subjektiv sind, ist der Übergang von Überzeugung zu Überredung und zu Manipulation fliessend.

66

Ein typisches Beispiel für strukturelle Macht ist die Position eines bedeutenden Arbeitgebers in einer Gemeinde oder Region: Er hat in vielen Lebensbereichen Einfluss; insbesondere auch in der kommunalen oder regionalen Wirtschaftspolitik. Strukturelle Macht besteht also de facto, ungeachtet der Frage, ob sie gewollt und ausgeübt wird oder nicht.

124

Kapitel 5: Problembehandlung I: Akteure und Konstellationen

Formen der Einflussnahme •Überzeugung •Wahrnehmung von Kompetenzen •Bezahlung/Belohnung •Manipulation •strukturelle Macht •Konfrontation

Allgemein ist festzuhalten, dass Einfluss nicht an sich vorhanden ist, sondern stets an Kommunikations- oder Austauschbeziehung e n gebunden ist. Ein einflussreicher Akteur muss weniger Ressourcen aufwenden, wenn er beim zu Beeinflussenden schon als glaubwürdiger Akteur etabliert ist, wenn der zu

Beein-

flussende weiss, über welche Quellen von Einfluss der Einflussreiche verfügt und wenn er überzeugt ist, dass der Einflussreiche diese Ressourcen auch einsetzen wird. Die Verfügbarkeit über Quellen bedeutet deshalb nur potentiellen Einfluss. Die Möglichkeit,

die Quellen optimal einzusetzen, geht verloren ("Abnutzungseffekf), wenn nicht laufend "Ersatzinvestitionen" getätigt werden. Solche Ersatzinvestitionen sind: 1. Kommunikationskanäle offen halten (Beziehungspflege) 2. G e m e i n s a m e Ordnungsvorstellungen immer wieder an sprechen 3. Verständnis für die Interessen der zu Beeinflussenden zeigen und die Bereitschaft bekunden, die eigenen Ressourcen gegebenenfalls für diese Interessen einzusetzen 4. Eigene Ressourcen regelmässig einsetzen und ihr Vorhandensein dadurch sichtbar machen. Offensichtlich stellen auch solche Ersatzinvestitionen Ressourc e n v e r b r a u c h dar. Sie werden deshalb nicht in

beliebigem

4. R o l l e n u n d Einfluss

125

Ausmass vorgenommen. Der Einsatz von Ressourcen im konkreten Fall hat einen abnehmenden Grenznutzen, weshalb ein über das funktional notwendige Ausmass hinaus gehender Einsatz ineffizient ist und darüber hinaus die oben genannten Gegenreaktionen auslöst (Ausweichen, Gegenpositionen). - Neben dem Ausmass der Einflussnahme ist auch ihre Form von Bedeutung: Sollen die Gegenreaktionen vermieden oder gemindert werden, kommt einerseits die Wahrnehmung von Kompetenzen in Frage. Diese Form der Einflussnahme ist meist durch staatliche oder organisatorische Autorität legitimiert, der die Beeinflussten oft nur schlecht bzw. unter hohen Kosten ausweichen können, und gegen die sich eine Gegenpostition nur schlecht und allenfalls längerfristig aufbauen lässt. Andererseits besteht ein Anreiz zum Einsatz verdeckter Formen der Einflussnahme (Manipulation und strukturelle Macht). Das "optimale Mass" und die "ideale Form" der Einflussnahme sind somit schwierig zu kalkulieren und müssen aufgrund der aktuellen Situation laufend überdacht werden. Erfahrungen und Kenntnisse über andere Akteure sowie über frühere Entscheidungsprozesse sind dabei für den einzelnen Akteur besonders wichtig. Es zeigt sich darüber hinaus, dass nicht jeder Einfluss, der potentiell besteht, auch tatsächlich ausgeübt wird. Der Grund hierfür kann entweder auf ein entsprechendes Kalkül zurückgeführt werden oder auch in einer falschen Einschätzung der Situation liegen. 67

67

S o setzten z.B. in der Schweiz die Wirtschaftsvertreter bei der Abstimmung vom 6.12.92 über den Beitritt zum E W R ihre personellen und v.a. finanziellen Ressourcen erst zu einem relativ späten Zeitpunkt ein, als die meisten Bürger bereits ihre Meinung gebildet hatten. Es ist zu vermuten, dass ein besseres "timing" einen grösseren Erfolg gehabt hätte.

126

Kapitel 5: P r o b l e m b e h a n d l u n g I: A k t e u r e u n d K o n s t e l l a t i o n e n

4.2. Einfluss auf Ebene der Akteure Was im vorigen Abschnitt über die Determinanten des Ressourceneinsatzes auf Ebene des Individuums gesagt wurde, gilt analog für die Akteure. Die einzigen Unterschiede bestehen darin, dass ein Akteur aus einer einzigen Rolle besteht und nicht über eine davon unabhängige Persönlichkeit verfügt. Die Ordnungsvorstellungen eines Akteurs beruhen auf den Ordnungsvorstellungen all jener Individuen, die diese Akteur-Rolle innehaben. Obwohl diese Ordnungsvorstellungen differieren können und deshalb zu Konflikten und Konsensfindungsprozessen zwischen den an einer Akteur-Rolle beteiligten Individuen führen (können), konvergieren sie meist längerfristig, und es ergibt sich eine interne Kultur, die ein geschlossenes Auftreten nach aussen ermöglicht.68 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass auch Akteure - analog zu Individuen - neben den rollenbezogenen auch über persönliche Ressourcen verfügen können. Insbesondere werden ihnen Eigenschaften und Fähigkeiten zugeschrieben, und neben einer gewissen Zeitautonomie verfügen viele Akteure (v.a. die Einflussträger) über Finanz- und Sachaktiven, die auch ausserhalb des politischen Prozesses eingesetzt werden können. Daneben verfügen sie über politische Ressourcen im engeren Sinne, d.h. über eine mehr oder weniger grosse (politische) Unterstützung durch andere Akteure, die ihnen (potentiellen) Einfluss verleihen. - Im übrigen verlaufen strategisches Kalkül und politische Rückwirkungen analog zum oben Gesagten.

68

Diese interne Geschlossenheit wird durch verschiedene Mechanismen wie Parteidisziplin, hierarchische Durchsetzung innerhalb von Organisationen oder das Kollegialitätsprinzip innerhalb von Gremien unterstützt. Ist diese Geschlossenheit nicht mehr gegeben, kommt es durch Abspaltungen zu neuen Akteuren (z.B. bei Parteien und Verbänden.)

5. Einfluss und Konstellationen in der Schweizer Wirtschaftspolitik

127

5. Einfluss und Konstellationen in der Schweizer Wirtschaftspolitik 5.1. Grundsätzliches Aufgrund der Einflussmöglichkeiten der Akteure ergeben sich innerhalb eines bestimmten wirtschaftspolitischen Systems bestimmte Konstellationen. Hierunter verstehen wir alle Möglichkeiten der Interaktion zwischen Akteuren unter Berücksichtigung der relativen Einflussmöglichkeiten. Solche Konstellationen sind grundsätzlich system- bzw. länderspezifisch, weil sie einerseits durch die formellen Abläufe des Problembehandlungsprozesses und andererseits durch die informellen Beziehungen69 zwischen den Akteuren geprägt sind. In der Politikwissenschaft wird statt von Konstellationen oft auch von Netzwerken gesprochen. Die nachfolgend gezeigte Grundkonstellation der Schweizer Wirtschaftspolitik stellt eine Abstraktion dar, indem sie die Interaktions- und Einflussmöglichkeiten, wie sie im Durchschnitt zu beobachten sind, aufzeigt. Im konkreten Fall sind meist nicht alle Akteure involviert, oder sie sind nur in gewissen Phasen des Prozesses aktiv, so dass nur der jeweils relevante Teil der Grundkonstellation betrachtet werden muss. 5.2. Einfluss im schweizerischen politischen System Um die Konstellation des Systems ermitteln zu können, muss zunächst der relative Einfluss der Akteure aufgrund der Verfügbarkeit von Ressourcen und ihrer Stellung im System ermittelt werden. Die folgende Tabelle gibt dazu eine Übersicht:

69

Diese informellen Beziehungen umfassen all das, was man auch als "politische Kultur" eines Systems bezeichnen könnte. "Systeme" können einzelne Länder, aber auch supranationale Organisationen wie die UNO oder die EU sein.

128

Kapitel 5: Problembehandlung I: Akteure und Konstellationen •

Kompetenzen

Information

Verfügungsund Nutzungsrechte

®® Stellung im Gesetzgebungsverfahren

® Sachinformationen

ausserhalb des Budgets gering

®® dito sowie im Vollzug

® Sachinformationen

ausserhalb des Budgets gering

eigene Infrastruktur

®® im jeweiligen Sachbereich, in der vorparlamentarischen Phase und im Vollzug

®® erhebliche finanzielle und personelle Mittel (z.T. nur indirekt via Mitglieder)

®® formelle Entscheide ® Gesetzgebung - Wahl der Regierungsmitglieder

geringer als bei 1. bis 3.

Nur im Rahmen des Budgetierung s-verfahrens

wenig formelle, aber z.T. informelle

-

gering

(®) Im internationalen Vergleich relativ gross, aber Einfluss des Einzelnen gering, eher verhindernd

nur vereinzelt und sachspezifisch

kaum

keine

®(®) Artikulierung und Kommentierung

kaum

, ;;

1. Regierung 2. •'Verwaltung 3. Verbände

/

'

. \

1

.

4 Parlament

Parteien

6. Bürger

:

Medien

-

geringer als bei 1. bis 3. bei Wahlen und Abstimmungen

5. Einfluss und Konstellationen in der Schweizer Wirtschaftspolitik

129

Diese Übersicht gibt einen ersten Eindruck vom relativen Gewicht der Akteure, welches durch ® bzw. ®® angezeigt wird. Diese Gewichtung wird nachfolgend begründet. 5.2.1. Kompetenzen Aus obiger Tabelle geht hervor, dass die Exekutive (Regierung und Verwaltung) die grössten (v.a. formellen) Kompetenzen besitzt, denn die Organe der Exekutive • • • • • • •

können auf einfachem Wege von sich aus aktiv werden. bestimmen den gesetzgeberischen Prozess (zeitlicher Ablauf, Traktanden). vergeben Studienaufträge und setzen Expertenkommissionen zusammen. leiten Vernehmlassungsverfahren und werten sie aus. verfassen Botschaften und wirken in Kommissionen, Fraktionen und im Plenum des Parlaments mit. vollziehen formelle Entscheide weitgehend autonom. wählen oder ernennen die leitenden Beamten, welche für die Politik der Ämter verantwortlich sind.

Formell betrachtet hat das Parlament primär die Aufgabe der Gesetzgebung und sekundär das Recht zur Wahl der Regierungsmitglieder. Tatsächlich beschränkt sich aber seine Aufgabe auf formelle Entscheide und Wahlen im Sinne einer formaldemokratischen Lösung durch Abstimmung: Der eigentliche Meinungsbildungsprozess hat meist schon vorher stattgefunden (Vernehmlassung, vorparlamentarisches Verfahren, Kommissionen), so dass in Parlamentsdebatten häufig nur vorgefasste Meinungen und Standpunkte dargestellt werden, ohne dass die Mehrheitsverhältnisse dadurch massgeblich beeinflusst werden. Zwar ist ein wesentlicher Teil aller Vorlagen zur Verfassungsänderung, zu Bundesgesetzen sowie zu allgemeinen verbindlichen und dringlichen Bundesbeschlüssen auf parlamentarische Vorstösse zurückzuführen, doch wurden viele

130

Kapitel 5: P r o b l e m b e h a n d l u n g I: A k t e u r e und K o n s t e l l a t i o n e n

davon von Regierung oder Verwaltung inspiriert. Die Ausarbeitung solcher Vorstösse erfolgt zudem i.d.R. ausserhalb des Parlaments. Den grössten Einfluss besitzt das Parlament somit durch seine Kompetenz zur Überprüfung und Modifikation weitgehend vorbereiteter Gesetzesvorlagen und der Möglichkeit, diese zur Überarbeitung zurückzuweisen sowie seine formelle Entscheidungskompetenz. Letztere kann endgültig oder zuhanden einer Volksabstimmung sein. Im internationalen Vergleich besitzt das Schweizer Parlament damit einen mittleren Einfluss. Bezüglich der Bürger zeigt ein solcher Vergleich, dass Schweizerinnen und Schweizer durch Volksinitiative und Volksabstimmung relativ mehr Einfluss haben. In der Vergangenheit wurde diese Einflussmöglichkeit aber eher zur Verhinderung von Vorlagen eingesetzt als zugunsten von Innovationen. 70 5.2.2. Informationen Bezüglich ihrer Stellung im Informations- und Kommunikationsprozess hat die Exekutive aufgrund der Verfügbarkeit von Sachinformationen (v.a. der Ämter) relativ grossen Einfluss. Dies gilt noch mehr für Verbände, die einerseits in der vorparlamentarischen Phase als "betroffene Fachleute" spezifische Sachinformationen einbringen und andererseits bei der Implementation von Entscheiden beteiligt sind. Für beide Fälle gilt, dass die Verbände in ihrem Tätigkeitsbereich gegenüber Exekutive und Legislative fast immer über einen deutlichen Informationsvorsprung verfügen. Über spezifische Sachkenntnisse und Informationen verfügen meist nur einzelne Parlamentarier, insbesondere, wenn sie in Kommissionen mitarbeiten. Die Parteien verfügen im Bereich von Information und Kommuni-

70

Von 1891 bis 1996 scheiterten in 280 Volksabstimmungen 91 vom Parlament beschlossene Vorlagen am Volkswillen. In der jüngeren Vergangenheit nehmen Volksinitiativen allerdings deutlich zu, was auch an der relativ tiefen Hürde von 100'000 Stimmen für das Zustandekommen einer solchen Initiative liegen mag.

5. Einfluss und Konstellationen in der S c h w e i z e r Wirtschaftspolitik

131

kation über keine wesentliche Stellung, was hauptsächlich auf die geringen personellen und materiellen Ressourcen zurückzuführen ist. Zwar haben die Parteien eigene Programme und geben entsprechende Abstimmungsempfehlungen, doch hat die Vergangenheit gezeigt, dass diese auch bei bedeutenden Volksentscheiden wenig Wirkung zeigen. 71 Der einzige bedeutende Einfluss der Medien besteht im Bereich der Sammlung, Kommentierung und Verbreitung von Informationen. Dadurch nehmen sie einerseits eine Selektionsfunktion wahr, die sowohl eine Artikulationsmöglichkeit für gewisse Akteure darstellt als auch die Meinungen der Medienschaffenden vermittelt. Andererseits ist damit auch eine Interpretationsfunktion verbunden, die eine Einflussnahme auf Mobilisierungsund in geringerem Masse auch auf Entscheidungsprozesse erlaubt. 5.2.3. Verfügungs- und Nutzungsrechte Die einzigen Akteure, die über erhebliche flexibel einsetzbare finanzielle und personelle Mittel verfügen, sind die Verbände. Insbesondere die Dachorganisationen und Spitzenverbände verfügen aufgrund ihrer Mitgliederzahl und der eigenen Mittel der Mitglieder (indirekt) über massgebliche Ressourcen, die sie im Gegensatz zu den staatlichen Organen frei einsetzen können. Letztere sind nämlich an feste Aufgaben und Budgets gebunden, weshalb häufig kaum spezifische Mittel zur Einflussnahme auf bestimmte Entscheide frei verfügbar sind. 5.2.4. Schlussfolgerung Insgesamt zeigt sich, dass in der schweizerischen Wirtschaftspolitik neben Regierung und Verwaltung vor allem die Verbände eine einflussreiche Stellung einnehmen. Die Rolle des Parlaments ist deutlich schwächer, wobei zu beachten ist, dass

71

Bei den Vorlagen über UNO, E W R und Finanzreform plädierte jeweils eine grosse Mehrheit der Parteien für eine Annahme, während der Souverän diese ablehnte.

132

Kapitel 5: P r o b l e m b e h a n d l u n g I: A k t e u r e und K o n s t e l l a t i o n e n

zwischen Verbänden und Parlament vielfältige (v.a. personelle) Beziehungen bestehen, weshalb letzteres keine vollständig unabhängige Rolle hat. Die Parteien verfügen in der Schweiz im Gegensatz etwa zur Bundesrepublik - über wenig finanzielle und personelle Ressourcen sowie professionelle Sachverständige. Ihr Einfluss ist bei der personellen Zusammensetzung von Gremien und Organen am grössten. Der Einfluss der Bürger beschränkt sich meist auf Ja/Nein-Entscheide, weil Volksinitiativen aufwendig und i.d.R. nur mit Hilfe anderer Akteure zu lancieren und ausserdem wenig erfolgversprechend sind.72 5.3. Grundkonstellation des schweizerischen politischen Systems Die nachfolgend gezeigte Grundkonstellation der Schweizer Wirtschaftspolitik stellt eine Abstraktion dar, indem sie die Interaktions- und Einflussmöglichkeiten, wie sie im Durchschnitt zu beobachten sind, aufzeigt. Im konkreten Fall sind meist nicht alle Akteure involviert oder sie sind nur in gewissen Phasen des Prozesses aktiv, so dass nur der jeweils relevante Teil der Grundkonstellation betrachtet werden muss. Wie oben ausgeführt, nutzen zudem nicht immer alle Akteure ihre Einflusspotentiale vollständig und jederzeit. In nachfolgender Abbildung (8) werden die relativen Einflussmöglichkeiten der Akteure aufgrund ihrer Ausstattung mit Kom-

72

Diese Feststellung ist insofern zu relativieren, als die Volksinitiativen selbst zwar häufig abgelehnt werden, ihnen aber Gegenvorschläge des Bundesrates gegenüberstehen, die zumindest einen Teil der Anliegen der Initianten berücksichtigen und häufiger angenommen werden. Ebenso werden diese Anliegen (meist in abgeschwächter Form) bereits in neuen Gesetzen oder Gesetzesvorlagen berücksichtigt, so dass die Initiative zum Zeitpunkt der Volksabstimmung keine Mehrheit erlangt oder vorzeitig zurückgezogen wird. Der geringe Erfolg von Volksinitiativen und die Bedeutung von bundesrätlichen Gegenvorschlägen lässt sich wie folgt belegen: Von 1891 bis 1996 kamen 206 Initiativen formell zustande. Davon wurden 50 ohne und 15 zugunsten eines Gegenentwurfs zurückgezogen. Von den 117 zur Abstimmung gebrachten Initiativen wurden nur 10 ohne Gegenentwurf angenommen, und lediglich zwei wurden angenommen, während der Gegenentwurf abgelehnt wurde. 94 Initiativen ohne Gegenentwurf wurden abgelehnt. In 6 Fällen wurde der Gegenentwurf angenommen, und 5mal wurden Initiative und Gegenentwurf verworfen.

5. Einfluss und Konstellationen in der S c h w e i z e r Wirtschaftspolitik

133

petenzen, Informationen und Verfügungs- und Nutzungsrechten mit der Stellung der Akteure im politischen Prozess kombiniert. Es zeigt sich, dass die Verbände, die Exekutive und z.T. das Parlament eine tragende Rolle spielen: Obwohl die Verbände nur im vorparlamentarischen Verfahren gewisse formale Kompetenzen besitzen, verfügen sie einerseits über Sach- und Detailinformationen, die sie sowohl in diesem Verfahren (Vernehmlassung, Kommissionen etc.) als auch bei der Umsetzung von beschlossenen Massnahmen gegenüber der Verwaltung einsetzen (vgl. dicke Pfeile in Abb. 8, welche die Wichtigkeit von Beziehungen hervorheben). Andererseits nutzen sie diese Informationen für die Vorbereitung von Motionen und parlamentarischen Vorstössen. Zudem geben sie (häufig gemeinsam mit den Parteien) Abstimmungsempfehlungen zuhanden der Bürger und sind massgeblich bei der Nominierung von Kandidaten beteiligt. Die Verbände pflegen enge Kontakte zu den Regierungsparteien, welche sowohl auf traditionellen ideologischen Verbindungen beruhen73 als auch auf zahlreichen Doppelfunktionen von Personen in Verbänden und Parteien. Damit fällt es den grossen Spitzenverbänden leicht, ihre Vertreter auf die Kandidatenlisten der Parteien zu bringen. Im Unterschied zu den Verbänden beruht der Einfluss der Exekutive hauptsächlich auf ihrer formellen Stellung bei der Entscheidvorbereitung und -findung: Die Ausarbeitung von Gesetzesvorlagen findet aufgrund von Volksbegehren (Gegenvorschläge), im Auftrag des Parlaments oder auf eigene Initiative hin statt und steht immer unter der Federführung der Regierung.74 73

Typische traditionelle Verbindungen auf ideologischer Ebene sind jene zwischen dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) und der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) sowie zwischen Arbeitgeberverbänden und bürgerlichen Parteien. 74

Dabei arbeitet die Regierung eng mit der Verwaltung zusammen, die die nötige Detailinformation liefert und die Gesetzesvorlagen mit den entsprechenden Botschaften formuliert. Diese Informationen stammen sowohl aus den (Bundes)-Ämtern selbst als auch aus externen Quellen (Expertenkommissionen, Gutachten etc.) und nicht zuletzt von den Verbänden. Der Informationsvorsprung gegenüber anderen Akteuren (meist nicht gegenüber den Verbänden) ist neben den formellen Kompetenzen der zweite

134

Kapitel 5: Problembehandlung I: Akteure und Konstellationen

Medien Comp. Info.

V.N.R.

Abstimmungsergebnis Formeller Entscheid / Wahl der Mitglieder

Regierung Komp.

Info.

V.N.R

Motionen, Parlament. Vorstösse

Delegation 1er mplemenation

Bürger