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German Pages 265 [268] Year 2015
Wirtschaftsgeschichte
Akademie Studienbücher Geschichte
Toni Pierenkemper
Wirtschaftsgeschichte Die Entstehung der modernen Volkswirtschaft 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage
Der Autor: Prof. Dr. Toni Pierenkemper, Jg. 1944, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität zu Köln
ISBN 978-3-11-039972-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-039973-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043013-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelabbildung: Reichsbanknote über 100 Millionen Mark zu Zeiten der Hyperinflation (1923). Satz: Beltz Bad Langensaltza GmbH, Bad Langensalza Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany
www.degruyter.com
Wirtschaftsgeschichte Die Entstehung der modernen Volkswirtschaft
1 1.1 1.2 1.3
Armut und Reichtum Armut in Europa seit dem Mittelalter Armut im vorindustriellen Deutschland Armut heute
7 9 14 17
2 2.1 2.2 2.3
Wohlstand und Wirtschaftswachstum Vormoderne Entwicklung und modernes Wirtschaftswachstum Wohlfahrtsmessung und Wohlstandsindikatoren Wachstum und Wohlstand in Deutschland
23 25 29 33
3 3.1 3.2 3.3
Arbeit und Lohnarbeit Die Entstehung von Lohnarbeit in Deutschland Die Entfaltung eines Arbeitsmarktes Strukturen der Lohnarbeit in Deutschland
39 41 46 51
4 4.1 4.2 4.3
Wissen und Kknnen Wissen als Produktivkraft Wissensgesellschaft und Wissenso¨konomie Ertra¨ge des Wissens
57 59 62 68
5 5.1
73
5.2 5.3
Kapital und Investitionen Kapitalbildung in Großbritannien wa¨hrend der Industriellen Revolution Kapitalbildung in Deutschland Kapital und Banken in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert
75 79 81
6 6.1 6.2 6.3
Innovationen und technischer Fortschritt Innovationen und Wirtschaftswachstum Technik in der Industriellen Revolution Technologische Innovationen in Deutschland
87 89 93 97
7 7.1 7.2
Geld und Wohrung Zur Entstehung des Geld- und Bankwesens in Mitteleuropa Die Konsolidierung der Wa¨hrungsordnung in Deutschland im 19. Jahrhundert Die Zerru¨ttung der deutschen Wa¨hrung in zwei Inflationen Stabilita¨tskultur in Nachkriegsdeutschland
7.3 7.4
103 105 108 112 115 5
IN HA LT
8 8.1 8.2 8.3 8.4
Einkommen und Vermkgen Kategorien und Maßkonzepte von Einkommensverteilung Einkommensungleichheit im 19. und 20. Jahrhundert Reichtum und Armut in der Bundesrepublik Vermo¨gensverteilung in der Industriegesellschaft
121 123 126 130 133
9 9.1 9.2 9.3
Wandel der wirtschaftlichen Strukturen Sektoraler Strukturwandel Sektortheorie Industrie- oder Dienstleistungsgesellschaft?
137 139 142 145
10 10.1 10.2 10.3
Unternehmen und Big Business Pioniere in den USA und Deutschland Wachstum deutscher Großunternehmen im 19. Jahrhundert Big Business im 20. Jahrhundert
151 153 155 159
11 11.1 11.2 11.3
Stabilitot und Entwicklung Historische Erfahrungen o¨konomischer Instabilita¨t Methoden zur Erfassung o¨konomischer Instabilita¨t Konjunkturen und Krisen in Deutschland
165 167 171 177
12 12.1 12.2 12.3
Handel und Globalisierung Die Entstehung der Weltwirtschaft Das Außenwirtschaftsregime europa¨ischer Staaten Deutschlands Außenhandel 1800–2000
183 185 189 195
13 13.1 13.2 13.3
Staat und Wirtschaftsordnung Staat und Wirtschaft nach 1648 Die Rolle des Staates in der deutschen Wirtschaft im 19. Jahrhundert Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik im 20. Jahrhundert
199 201 206 209
14 14.1 14.2 14.3
Die Zukunft der modernen Volkswirtschaft Wirtschaftswachstum ohne Krisen? Die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre Die erste Krise des 21. Jahrhunderts
217 219 221 225
15 Serviceteil 233 15.1 Das Fach Wirtschaftsgeschichte und seine Institutionen 233 15.2 Studium Wirtschaftsgeschichte – allgemeine bibliografische Hilfsmittel 235 16 16.1 16.2 16.3 16.4
Anhang Zitierte Literatur Abbildungsverzeichnis Sachregister Glossar 6
239 239 256 259 263
1 Armut und Reichtum
Abbildung 1: Die Geschichte der Weltwirtschaft in einem Bild / Unser Aufstieg (Clark 2007, S. 2)
Warum gibt es Reichtum und Armut auf der Welt? Das ist die entscheidende moralische Frage der Menschheitsgeschichte. Wer durch den Zufall in Deutschland, Amerika oder Singapur wohnt, lebt im Wohlstand. Wer in Afrika auf die Welt kommt, bleibt arm. So war es nicht immer. Dass zwischen reichen und armen La¨ndern eine gigantische Einkommenslu¨cke klafft, ist historisch ein relativ neues Pha¨nomen. Mehr oder weniger bis zum Jahr 1800 sah die Verteilung des bescheidenen Wohlstands u¨ber Jahrtausende hinweg in nahezu allen La¨n-
dern der Welt gleich aus. Wa¨hrend eine kleine Elite ein behagliches Leben fu¨hrte, verharrte die große Masse in bitterer Armut. [. . .]. Das alles a¨nderte sich schlagartig im England des fru¨hen 19. Jahrhunderts. Fortan wuchs die Ungleichheit zwischen den Staaten dramatisch, wa¨hrend sie innerhalb der Staaten nicht minder dramatisch abnahm. Kein Wunder, dass die Wirtschaftshistoriker seit langem fieberhaft nach der Zauberformel fahnden, welche diesen Einschnitt der Menschheitsgeschichte zu verantworten hat.
Rainer Hank: Unser Aufstieg, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 33 vom 19. August 2007 (Hank 2007)
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AR MU T UND R EI CH TUM
Der Kurvenverlauf im Schaubild veranschaulicht auf einen Blick, worum es bei der Entwicklung von Armut und Reichtum in der Weltgeschichte geht. mber nahezu zwei Jahrtausende bis in die unmittelbare Gegenwart des 19. Jahrhunderts waren alle Gesellschaften arm. Ihre Bevo¨lkerung bezog nur ein a¨ußerst bescheidenes Pro-Kopf-Einkommen und trotz aller Schwankungen blieb dieses auf einem geringen Niveau weitgehend stabil. Am Ende des 18. Jahrhunderts a¨nderte sich diese Situation plo¨tzlich und zuna¨chst nur wenige, spa¨ter einige mehr Staaten erzielten einen rapiden Wohlstandsgewinn. Die entsprechende Kurve fu¨r die Industriestaaten schoss in die Ho¨he und u¨berstieg das Jahrtausende wa¨hrende Ausgangsniveau bald um ein mehrfaches, wa¨hrend fu¨r die u¨brige Welt alles im Hergekommenen, in tiefer Armut eben, verharrte. Nur wenigen Nationen gelang es in den letzten 250 Jahren, die Fesseln der Armut abzustreifen und einen bisher nie gesehenen Wohlstand zu erreichen. Dies gilt insbesondere fu¨r Europa, wo eine einmalige Wohlfahrtssteigerung ihren Ausgangspunkt nahm und von dort u¨ber den Atlantik zuna¨chst nach Nordamerika ausgriff, um spa¨ter auch auf anderen Kontinenten Ausbreitung zu finden. „Kein Wunder, dass die Wirtschaftshistoriker seit langem fieberhaft nach der Zauberformel fahnden, welche diesen Einschnitt der Menschheitsgeschichte zu verantworten hat.“ (Hank 2007, S. 28) Jedoch ist diese Zauberformel zur Generierung von Wohlstand bis heute noch nicht vollsta¨ndig entschlu¨sselt. Vielfa¨ltige Versuche und Experimente zur Fo¨rderung gesellschaftlichen Wohlstandes haben unterschiedliche Ergebnisse gezeitigt und waren nicht immer erfolgreich. Wie effektiv diese im Einzelnen gewesen sind, kann man nur im Hinblick auf die jeweilige Ausgangssituation beurteilen. Deshalb ist es zuna¨chst einmal wichtig, sich ein genaueres Bild von der vorindustriellen Armut zu machen, insbesondere in Europa, auf das sich die folgenden Ausfu¨hrungen schwerpunktma¨ßig beziehen und fu¨r das auch die sichersten Daten verfu¨gbar sind. Auch wenn heute vielfach weiterhin o¨ffentlich u¨ber eine „neue“ Armut diskutiert wird, so muss man dabei immer beru¨cksichtigen, dass diese relative Armut nicht mit einer absoluten Armut der fru¨heren Menschheitsgeschichte zu vergleichen ist. 1.1 Armut in Europa seit dem Mittelalter 1.2 Armut im vorindustriellen Deutschland 1.3 Armut heute 8
AR MUT I N EURO PA SE IT D E M M ITT EL ALTE R
1.1 Armut in Europa seit dem Mittelalter Der relative Wohlstand, den das ro¨mische Imperium in der Antike bereits geschaffen hatte, ging im Europa der Spa¨tantike (3.–6. Jahrhundert n. Chr.) wa¨hrend des Zerfalls des Ro¨mischen Reiches wieder verloren. Der zivilisatorische Niedergang wa¨hrend dieses Zeitraums fu¨hrte zweifellos auch zu einer o¨konomischen Verarmung. In Europa, im westlichen Teil der antiken Welt, war die Armut vor allem ein la¨ndliches Pha¨nomen. Große Sta¨dte wie im Orient gab es hier nicht (mehr). Die Armut im westlichen Europa war daher vor allem darin begru¨ndet, dass die Mehrheit der Bevo¨lkerung von den Rechten an Grund und Boden ausgeschlossen war. Hinzu kamen Bevo¨lkerungsverluste (etwa durch die Pest 542–547 n. Chr.) und permanente kriegerische Auseinandersetzungen, sodass ein planvoller Landbau kaum mo¨glich war und die Wirtschaft stark beeintra¨chtigt blieb. Hungersno¨te und Volksaufsta¨nde pra¨gten die gesellschaftlichen Verha¨ltnisse der Spa¨tantike und die Zahl der Armen wuchs stetig an, sodass „Bauer“ und „Armer“ gleichsam zu Synonymen wurden (Mollat 1984, S. 34f.). Die Situation von Armut, Not und Hunger fu¨r eine große Zahl von Menschen hielt auch wa¨hrend des Mittelalters (6.–15. Jahrhundert) weiter an. Der Mangel an Nahrungsmitteln war allgegenwa¨rtig und immer wieder kam es zu periodischen Hungersno¨ten. Diese fanden ihre Ursachen nicht nur in den witterungsbedingten Missernten, sondern auch in Naturkatastrophen, Klimaschwankungen, Epidemien (wie der Pest im 14. Jahrhundert), Scha¨dlingsbefall und a¨hnlichem, sowie in der generell unzureichenden Produktivita¨t der stetig wachsenden Bevo¨lkerung. Diese Entwicklungen waren in allen europa¨ischen Regionen mehr oder weniger gleichzeitig zu beobachten. Doch zeigten sich in den europa¨ischen La¨ndern daru¨ber hinaus auch einige Besonderheiten speziell im Hinblick auf die Agrarverfassung. Insbesondere in England hatten die adeligen Grundherren den verfu¨gbaren Boden nahezu ausschließlich unter sich selbst aufgeteilt. Dadurch verfu¨gten die Kleinbauern nicht mehr u¨ber ausreichendes Ackerland, von dem sie sich erna¨hren konnten. ~hnliches ließ sich in zahlreichen deutschen Territorien und auch im o¨stlichen Europa, dort insbesondere im Zuge der Ausdehnung der sogenannten zweiten Leibeigenschaft, beobachten. Auch in Spanien waren freie Bauern so gut wie verschwunden und mit hohen Ablieferungspflichten an die Grundherren versehen. ~hnlich war es in Italien, wo zum Teil sogar noch Sklavenwirtschaften verbreitet waren. Allein in Frankreich fand
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Niedergang in der Spotantike
Hungersnkte im Mittelalter
Armut auf dem Land . . .
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. . . und in den Stodten
Lokale Armenpflege
Klksterliches Hospizwesen
sich eine gro¨ßere Zahl von Kleinbauern, die allerdings wegen der geringen landwirtschaftlichen Produktivita¨t ebenfalls in großer Armut lebten. In den mittelalterlichen Sta¨dten, in denen nur eine Minderheit der Bevo¨lkerung wohnte, waren die Verha¨ltnisse nicht viel besser. Mindestens die Ha¨lfte aller Stadtbewohner lebte von der Hand in den Mund, also knapp an der Armutsgrenze und gelegentlich auch darunter. Es waren sogenannte Unterschichten, die die Stadtbevo¨lkerung dominierten. In ausgewa¨hlten Sta¨dten der Schweiz und Deutschlands lag der Anteil der Unterschichten an der Stadtbevo¨lkerung im spa¨ten Mittelalter des 15. Jahrhunderts zwischen 50 und 75 % (Fischer 1982, S. 17). Dazu za¨hlten die kleinen Gewerbetreibenden und Handwerksmeister ebenso wie deren Gesellen, Knechte, Ma¨gde und Tagelo¨hner, außerdem eine beachtliche Marginalgruppe (Fahrensleute, Scha¨fer, Kranke, Alte usw.). Die Lebenssituation dieser Unterschichten war außerordentlich schlecht und gelegentlich von Hunger gepra¨gt. Etwa 80 % des gesamten Einkommens war fu¨r Nahrung aufzubringen, 20 % allein fu¨r Brot, dem Hauptnahrungsmittel der Zeit (Cipolla 1980, S. 29f.). Die Beka¨mpfung einer derart weit reichenden Armut im Rahmen der Armenpolitik war nur begrenzt mo¨glich. Man trennte daher strikt zwischen Formen einer „ehrbaren“ Armut, die als unverschuldet angenommen wurde und zu der Kranke, Kru¨ppel, Witwen und Waisen za¨hlten, und der „selbstverschuldeten“ Armut, zum Beispiel der gesunden und arbeitsfa¨higen Bettler, die als lasterhaft, su¨ndig und unmoralisch angesehen wurde. Die zumeist lokal angebundene Armenpflege bot in normalen Zeiten ein bescheidenes Maß an Unterstu¨tzung fu¨r die ehrbaren Armen. Insbesondere die Kirchspiele spielten dabei eine große Rolle. Hier wurden zum Teil Listen der unterstu¨tzungswu¨rdigen Armen (Armenmatrikel) gefu¨hrt, deren Versorgung aus Kirchenabgaben finanziert wurde. In Krisenzeiten versagte dieses System jedoch sehr schnell, da der Umfang der notwendigen Unterstu¨tzung die Leistungsfa¨higkeit der Gemeinden u¨bertraf. Ein klo¨sterliches Hospizwesen trat dem lokalen Armenwesen erga¨nzend hinzu. Die Leistungen der Klo¨ster stu¨tzten sich auf eine erfolgreiche Landwirtschaft und entsprachen dem Ziel zahlreicher Orden, die christliche Mildta¨tigkeit in ihre Ordensregeln mit aufgenommen hatten. Bruderschaften sollten eine gewisse solidarische Selbsthilfe bilden, zu denen sich verschiedene (Berufs-)Gruppen zusammenfanden und die durch minimale gegenseitige Unterstu¨tzungen, die Einrichtung von Herbergen, Waisenha¨usern etc., versuchten, ihr Armutsrisi10
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ko zu begrenzen. Dies konnte natu¨rlich nur fu¨r einigermaßen gut situierte Gruppen funktionieren, die in der Regel u¨ber ein gesichertes Einkommen verfu¨gten. Alle diese Versuche einer Armenpolitik blieben angesichts des gewaltigen Ausmaßes der Armut im Mittelalter allerdings nicht viel mehr als jener ha¨ufig beschworene „Tropfen auf den heißen Stein“. Eine Lo¨sung des Armutsproblems im herrschenden Produktionssystem schien daher nicht mo¨glich. Die unzureichende Produktivita¨t der menschlichen Ta¨tigkeit bildete das Grundproblem der vorindustriellen Arbeit. Diese war zu gering, um ha¨ufig selbst in normalen Zeiten und bei a¨ußerster Anstrengung ein hinreichendes Maß an Subsistenzmitteln, also die Deckung des Eigenbedarfs, zu generieren. Die Armut war daher absolut und nicht nur relativ, weil der zum Teil augenfa¨llige Wohlstand der wenigen Reichen bei Umverteilung auch nicht ausgereicht ha¨tte, den Hunger der Armen zu stillen. Dass diese Behauptung nicht aus der Luft gegriffen ist, mag an einer Beispielrechnung aus dem Jahre 1688 veranschaulicht werden. Es handelt sich um die Scha¨tzung des Gesamteinkommens in England, welches der englische Wirtschaftsstatistiker Gregory King, differenziert nach verschiedenen Gesellschaftsklassen, vorgenommen hat. Demnach gab es 1688 in England gut 1,36 Millionen Familien, die zusammen ca. 43 Millionen Pfund Sterling als Einkommen bezogen (Sokoll 1988, S. 183, 189). Daraus la¨sst sich ein durchschnittliches ja¨hrliches Familieneinkommen von 31 Pfund berechnen. Natu¨rlich waren die Familieneinkommen stark differenziert: die reichste Sozialklasse der Kaufleute und Seefahrer erzielte mit 240 Pfund ein mehr als zwanzigmal ho¨heres Jahreseinkommen als die unterste Einkommensklasse mit lediglich 11 Pfund. Wenn man nun in einer hypothetischen Umverteilung allen Sozialklassen das gleiche Einkommen zukommen ließe, so wu¨rde das bedeuten, dass die Familien aller Klassen 31 Pfund Jahreseinkommen erzielten. Die ho¨heren Klassen mu¨ssten in diesem Fall alle auf einen Teil ihrer Einkommen verzichten, Großkaufleute und Adelige ha¨tten bei einer Gleichverteilung sogar gravierende Einbußen von u¨ber zwei Dritteln ihres vormaligen Einkommens hinzunehmen (Großkaufleute: 87 %; die Sozialgruppe Adel etc.: 83 %). ~hnlich, wenn auch nicht ganz so schwerwiegend, wu¨rde es den u¨brigen Gruppen ergehen. Allein die a¨rmste Gruppe wu¨rde ihr Durchschnittseinkommen steigern (immerhin fast um 200 % auf das Dreifache des Ausgangseinkommens). Was wa¨re mit dieser hypothetischen Einkommensumverteilung gewonnen? Wa¨re 11
Unzureichende Produktivitot
Beispiel: Gesamteinkommen in England 1688 . . .
. . . und hypothetische Gleichverteilung
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Verholtnis von Produktivitot und Subsistenzmitteln
Bevklkerungszahl und Reallkhne
die Armut des vorindustriellen Englands damit u¨berwunden? Vermutlich nicht, allenfalls wa¨re die bitterste Armut gelindert, eine Wohlstandsgesellschaft wa¨re damit aber noch kaum begru¨ndet. Man ko¨nnte mit einer gewissen |berakzentuierung vielleicht festhalten, dass vor der Umverteilung die gro¨ßte Mehrheit der Bevo¨lkerung Englands im Jahre 1688 arm gewesen sei, nach der Umverteilung aber alle Einwohner, denn reich war man mit 31 Pfund Jahreseinkommen auch damals nicht. Dieses Gedankenexperiment veranschaulicht eindringlich das Grundproblem der vorindustriellen Armut. Die Menschen waren nicht deshalb arm, weil die Gu¨ter der Welt ungleich verteilt waren und die Reichen auf Kosten der Armen lebten. Sie waren deshalb arm, weil die Produktivita¨t der Gesellschaft so gering war, dass nicht alle ihre Mitglieder mit hinreichenden Subsistenzmitteln versorgt werden konnten. Die „Zauberformel“ zur Reichtumsgewinnung hieß also nicht Umverteilung, sondern Produktivita¨tssteigerung. Aber diese Zauberformel war noch nicht entschlu¨sselt. Wenn es zutreffend ist, dass die vorindustrielle Welt durchgehend von Armut gepra¨gt war, so heißt das nicht, dass immer und u¨berall Elend oder gar Hunger gewu¨tet ha¨tten. Es hat stets mal bessere, mal schlechtere Zeiten gegeben. Einmal waren es drei der apokalyptischen Reiter – Krieg, Seuchen und Missernten –, die die Verha¨ltnisse dramatisch werden ließen, in anderen Jahren fu¨hrten glu¨cklichere Umsta¨nde mo¨glicherweise zu einer kurzfristigen Verbesserung der Lage. Daru¨ber hinaus hat es aber auch langfristige Entwicklungen in den Lebensverha¨ltnissen der europa¨ischen Bevo¨lkerung gegeben. Bis in die fru¨he Neuzeit hinein haben die beiden volkswirtschaftlichen Zentralressourcen, die Arbeitskraft der Bevo¨lkerung und der Umfang des bebaubaren Bodens, ganz wesentlich das Wohlfahrtsniveau der Bevo¨lkerung bestimmt. Ihr Verha¨ltnis zueinander, die Wohlfeilheit bzw. Knappheit des einen Faktors gegenu¨ber dem anderen, hat daru¨ber bestimmt, welcher der beiden Produktionsfaktoren „Boden“ oder „Arbeit“ einen ho¨heren Anteil am gesamtwirtschaftlichen Produkt fu¨r sich beanspruchen konnte. Der Historiker Wilhelm Abel hat diesen Zusammenhang fu¨r nahezu 800 Jahre grob umrissen und dabei festgestellt, dass mit steigender Bevo¨lkerungszahl immer eine Tendenz zum Ru¨ckgang der Reallo¨hne und – vice versa – mit sinkender Bevo¨lkerungszahl eine solche zu ihrem Anstieg zu beobachten war (Abel 1986, S. 17).
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Abbildung 2: Bevo¨lkerung in Mitteleuropa und Bauarbeiterlo¨hne im su¨dlichen England von 13. bis zum 20. Jahrhundert (Abel 1986, S. 17)
Der Bevo¨lkerungsanstieg im hohen Mittelalter war verbunden mit Landesbau und Ostsiedlung und allenfalls stagnierenden Reallo¨hnen (> ABBILDUNG 2). Der Bevo ¨ lkerungsru¨ckgang durch die große Pest im 14. Jahrhundert verringerte die Zahl der Arbeitskra¨fte und ließ die Reallo¨hne tendenziell ansteigen. Das fu¨hrte wiederum zu einem bemerkenswerten Wachstum der Bevo¨lkerung, was Arbeitskraft wohlfeiler werden ließ und die Reallo¨hne tendenziell erneut nach unten dru¨ckte. Die Folgen des Dreißigja¨hrigen Krieges wirkten sich in Mitteleuropa in hohen Bevo¨lkerungsverlusten aus, sodass eine Verknappung des Faktors Arbeit und eine Tendenz zum Anstieg der Reallo¨hne beobachtbar waren. Schließlich wuchs im 18. Jahrhundert die Bevo¨lkerung abermals stark an, sodass sinkende Reallo¨hne erneut zu beobachten waren. Erst im 19. Jahrhundert wurde dieser Zusammenhang zwischen Bevo¨lkerungs- und Reallohnentwicklung durchbrochen und beide Gro¨ßen, Bevo¨lkerungszahl und Lohnniveau, konnten sich gleichzeitig nach oben bewegen. Der gesamtwirtschaftliche Produktionszusammenhang zwischen bebaubarem Land und verfu¨gbarer Arbeitskraft hatte sich aufgelo¨st, an seine Stelle waren industrielle Produktionsformen getreten. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts waren die arbeitenden Menschen zunehmend verarmt, sie hatten einen gravierenden Kaufkraftschwund hinnehmen mu¨ssen. Zu dieser Zeit sind die Preise fu¨r Nah13
Industrielle Produktionsformen
Schwund der Kaufkraft
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rungsmittel und Gewerbeerzeugnisse weit sta¨rker gestiegen als die Lo¨hne. Die sogenannte Preisrevolution des 16. Jahrhunderts, nicht zuletzt auch gespeist durch die umfangreichen Edelmetallzufuhren aus der Neuen Welt, beeintra¨chtigte die Kaufkraft der europa¨ischen Konsumenten deutlich. Die Preise fu¨r Getreide erho¨hten sich zum Beispiel von einem Index, den man fu¨r den Zeitraum 1501 / 25 auf 100 festsetzen kann, bis zum Zeitraum 1576 / 1600 auf 280, das heißt, er stieg um 180 Prozentpunkte. Bei den Gewerbeerzeugnissen stieg der Index lediglich auf ca. 185, der Lohnsatz nur auf 150 (Abel 1986, S. 22). Und diese Entwicklung setzte sich im 17. Jahrhundert weiter fort. Letzteres wird auch in den Schwankungen der Kaufkraft der Bauarbeiterlo¨hne in Leipzig deutlich, wie sie weiter unten dargestellt werden (> ABBILDUNG 3).
1.2 Armut im vorindustriellen Deutschland Pauperismus
Pauperismus als Bedrohung
In der fru¨hen Neuzeit kam es natu¨rlich auch in den deutschen Territorien zu einem derartigen Reallohnverfall. Der Pauperismus wurde zum Signum dieser Epoche und pra¨gte das Leben der Unterschichten bis in die Zeit der Industrialisierung hinein. Mit dem Begriff Pauperismus (von lateinisch pauper „arm“, davon englisch „pauperism“) bezeichnet man die katastrophale Massenarmut zur Zeit der Fru¨hindustrialisierung. Er erwies sich als letzter Ausla¨ufer der weit zuru¨ck reichenden Armut, die sich in der ersten Ha¨lfte des 18. Jahrhunderts in aller Scha¨rfe zeigte und sich nach 1750 in Deutschland nochmals zu versta¨rken schien (Conze 1954; Abel 1966). Obwohl sich der Pauperismus in die seit Jahrhunderten vertraute Armutserfahrung der Unterschichten in Deutschland einfu¨gte, enthielt er durchaus auch Elemente, die von den Zeitgenossen als etwas Neues empfunden wurden. Er wurde also nicht mit der traditionellen, der „alten“ Armut identisch erlebt, sondern wurde als ho¨chst unheilvolle neue Erscheinung gedeutet. Den Zeitgenossen erschien die „neue“ Armut tief greifender als der bis dahin stetig empfundene Mangel an Subsistenzmitteln, weil sie eine absolute, unumkehrbare Verelendung zu bedeuten schien. Zudem wurde sie von einer viel gro¨ßeren Zahl von Menschen erfahren, als das bislang der Fall gewesen war. Der gesamten Gesellschaft schien der Absturz ins Elend zu drohen. Diese Gefahr schien vor allem deshalb real, weil die Armut nunmehr nicht periodisch durch a¨ußere Ereignisse (Missernten etc.) hervorgerufen schien, sondern sich dauerhaft und permanent, quasi
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A RMU T IM VO RI NDUS TRI ELL EN D EU TSC HL AND
strukturell verfestigte. Selbst durch regelma¨ßige Arbeit konnte man der ununterbrochenen Verarmung kaum noch entgehen. Man spricht daher in diesem Zusammenhang auch von den „labouring poor“, also den arbeitenden Armen (Schulz 1995, S. 389). Fu¨r die Pauper, die Armen, zeigte sich die Situation Ende des 18. und im fru¨hen 19. Jahrhundert in Deutschland zunehmend gepra¨gt durch eine wachsende Unterbescha¨ftigung. Es fanden sich immer weniger Mo¨glichkeiten, durch seiner Ha¨nde Arbeit den eigenen Lebensunterhalt zu gewa¨hrleisten. Selbst wenn man permanent arbeitete waren die Lo¨hne so gering, dass man davon kaum leben konnte, geschweige denn eine Familie erna¨hren (> ABBILDUNG 3). Dem versuchte man durch gesteigerten Arbeitseinsatz und erho¨hten Fleiß entgegen zu wirken, was sich allerdings in einer Ausdehnung der Arbeitszeit und in verschlechterten Arbeitsbedingungen niederschlug. Einen Ausdruck fand diese preka¨re Lebenssituation großer Teile der Bevo¨lkerung in wachsendem Wohnungselend, unzureichender Erna¨hrung sowie der Flucht vor den Verha¨ltnissen in Form von Auswanderung oder abweichendem Verhalten (Sozialkriminalita¨t). Die Zeitgenossen, insbesondere die der ho¨heren Sta¨nde, die sich in ihrer Stellung durch die wachsende Armut bedroht fu¨hlten, widmeten sich diesen Problemen durch umfangreiche Untersuchungen und Elendsschilderungen, der sogenannten Pauperismusliteratur, in der gelegentlich auch Vorschla¨ge zur |berwindung dieser Misssta¨nde geliefert wurden (Carl Jantke und Dietrich Hilger haben solche Texte in ihrem Band von 1965 Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgeno¨ssischen Literatur zusammengestellt). An diese Beobachtungen knu¨pfte sich dann Mitte des 19. Jahrhunderts eine fru¨he sozialpolitische Kontroverse um die Ursachen der Massenverelendung der Unterschichten an. Wa¨hrend Friedrich Engels und Karl Marx auf das wachsende Elend der Industriearbeiterschaft, insbesondere in England, verwiesen und im Wachsen der „industriellen Reservearmee“ den eigentlichen Grund fu¨r das Massenelend sahen, bezogen sich andere, wie etwa der Nationalo¨konom und Historiker Bruno Hildebrand, auf die Kontinuita¨t der vorindustriellen, insbesondere der la¨ndlichen Armut. Sie erwarteten von der aufstrebenden Industrie eher die Lo¨sung als eine Verscha¨rfung der Sozialen Frage der Zeit. Empirische Untersuchungen und verla¨ssliche Daten u¨ber die Lebenssituation der arbeitenden Klassen in Deutschland fu¨r diesen Zeitraum sind rar (Pierenkemper 2015a). Die Entwicklung der Lo¨hne im fru¨hen 15
Unterbeschoftigung
Verelendung
Kontroverse jber die Ursachen
Lebenssituation arbeitenden Klassen
AR MU T UND R EI CH TUM
Beispiel Bauarbeiterfamilie
19. Jahrhundert weist nach unten (Kuczynski 1961, S. 246, 253), kann aber nur als grober Indikator gelten, weil die meisten Menschen noch gar nicht gegen Geldlohn arbeiteten, sondern in vormodernen Bescha¨ftigungsverha¨ltnissen ta¨tig waren (> KAPITEL 3). Blickt man auf die individuelle Haushaltsgestaltung der arbeitenden Bevo¨lkerung, so zeigt sich beispielsweise fu¨r eine fu¨nfko¨pfige Maurerfamilie um das Jahr 1800, dass diese nahezu drei Viertel (72,7 %) des gesamten Familieneinkommens allein fu¨r Nahrungsmittel verwenden musste. Der knappe Rest wurde fu¨r die Befriedigung weiterer Grundbedu¨rfnisse, insbesondere fu¨r Wohnung und Kleidung verbraucht, sodass fu¨r die Befriedigung gehobener Kulturbedu¨rfnisse nichts u¨brig blieb (Abel 1974, S. 396).
Abbildung 3: Kaufkraftschwankungen der Bauarbeiterlo¨hne in Leipzig (1781 / 1800–50) (Abel 1974, S. 350)
Diese zeitpunktbezogene Schilderung der Verha¨ltnisse um das Jahr 1800 gewinnt noch sta¨rker an Dramatik, wenn man die Lohnentwicklung der folgenden Jahre mit in Rechnung stellt. Die sinkenden Reallo¨hne nach 1800 machten es offenbar auch den vollbescha¨ftigten Bauarbeitern immer weniger mo¨glich, ihre Familien angemessen zu versorgen. Zeitweise reichte der Lohn nicht einmal aus, hinreichend Nahrungsmit-
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A RMU T HE UT E
tel zu beschaffen, sodass Hunger die unabweisbare Folge fu¨r die Familien darstellte. Sie waren gezwungen, durch Selbstversorgung weitere Subsistenzmittel zu erschließen, und auch Frauen und Kinder (Pierenkemper 2015b) waren gehalten, zum Familieneinkommen und zum bloßen physischen Erhalt der Familie beizutragen. Erst nach 1820 besserte sich die Lage allma¨hlich und das Existenzminimum der Familien schien gesichert, wurde aber in periodisch auftretenden Krisen immer wieder auch kurzfristig unterschritten. Zusa¨tzlich ist zu beachten, dass es sich bei diesen Bauarbeiterfamilien um eine Gruppe aus dem gehobenen Bereich der Erwerbsta¨tigen handelte. Der Mann war als qualifizierter Arbeiter gegen Geldlohn ta¨tig, was fu¨r die Mehrheit der Bevo¨lkerung nicht zutraf. Zudem wird in der Beispielrechnung unterstellt, dass der Erna¨hrer der Familie stetig bescha¨ftigt war, eine Unterstellung, die fu¨r die Mehrheit der Erwerbsta¨tigen ebenfalls kaum Gu¨ltigkeit beanspruchen kann. Die Lage der Unterschichten war deshalb tatsa¨chlich noch weitaus dramatischer, als das in diesem Beispiel deutlich wird. Zu den kurzfristigen Schwankungen in den Lebensverha¨ltnissen der Bevo¨lkerung trugen ganz wesentlich auch die Agrarkrisen bei, die aufgrund von Ernteschwankungen unregelma¨ßig auftraten und u¨ber gravierende Preisvariationen fu¨r Nahrungsmittel die Versorgung der Bevo¨lkerung entscheidend pra¨gten. Im fru¨hen 19. Jahrhundert sind in Deutschland mehrere solcher Agrarkrisen, wenn auch regional unterschiedlich ausgepra¨gt, zu konstatieren. Diese haben maßgeblich auch zu den Schwankungen im Versorgungsgrad des in > ABBILDUNG 3 exemplarisch betrachteten Bauarbeiterhaushaltes beigetragen (Bass 1991). Eine erste solche Notlage la¨sst sich Anfang des 19. Jahrhunderts in Preußen beobachten, 1817 / 18 folgte eine weitere schwere Krise, und diejenige von 1847 / 48 fu¨hrte ja bekanntlich auch in Deutschland zu einer Revolution.
1.3 Armut heute „Jeder Vierte in Deutschland ist von Armut betroffen“ stellte Arbeitsminister Olaf Scholz im Mai 2008 fest (Scholz in: Hank 2008, S. 33). Hat sich also im Vergleich zum 18. und 19. Jahrhundert oder gar zur mittelalterlichen und fru¨hneuzeitlichen Armut nur wenig gea¨ndert? Sind wir weiterhin in einer Gesellschaft der Armut befangen, und was hat es mit dem eingangs zitierten Artikel auf sich, in dem doch von dem gewaltigen Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens seit der Industriellen Revolution die Rede war?
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Selbstversorgung
Agrarkrisen
AR MU T UND R EI CH TUM
Armut in Deutschland?
Absolute und relative Armut
Nettooquivalenzeinkommen
Die Existenz von Armut in fortgeschrittenen Industriegesellschaften scheint allen historischen Erfahrungen zu widersprechen. In den letzten beiden Jahrhunderten hat sich in Westeuropa die Wirtschaftsleistung insgesamt verzwanzigfacht, und auch die Reallo¨hne und das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland sind auf ein Vielfaches angewachsen. Ein Blick in die Konsumstrukturen der privaten Haushalte zeigt, dass sich die Ausgaben fu¨r Nahrungsmittel auf weniger als 20 % des Gesamteinkommens belaufen, sodass Hunger wohl keine ernsthafte Bedrohung mehr fu¨r die Menschen in Deutschland darstellt. Wieso also dann „Armut“ in der modernen Gesellschaft? Es kann sich hier wohl nur um ein Missversta¨ndnis handeln, dergestalt na¨mlich, dass in beiden Fa¨llen unter demselben Begriff etwas ganz unterschiedliches verstanden wird. Galt es noch in der vorindustriellen Zeit, in einer Gesellschaft des Mangels, absolute Armut zu vermeiden, das heißt einem permanenten Elend und Hunger zu entfliehen, so tritt Armut in der Industriegesellschaft ganz anders auf. Hier steht die relative Armut einer Wohlstandsgesellschaft im Mittelpunkt der Betrachtung. Es geht im Wesentlichen um die Ungleichheit im Zugang zu den Reichtu¨mern der modernen Welt. Wu¨rde man heutzutage den Maßstab absoluter Armut an die moderne Industriegesellschaft anlegen, so fa¨nden sich dort keine Armen mehr. Die Vereinten Nationen definieren zum Beispiel Armut durch die Verfu¨gbarkeit von einem US-Dollar pro Tag und Person (neuerdings 1,25 US $) – und in zahlreichen La¨ndern der sogenannten Dritten Welt finden sich bis heute Bevo¨lkerungsgruppen, die unter einer derartigen absoluten Armut leiden. Das la¨sst sich fu¨r die Bundesrepublik Deutschland kaum behaupten. Worum geht es also hier? Was ist „Armut“ in der modernen Industriegesellschaft? Hier dreht sich die Diskussion zumeist um die Frage der Ho¨he des Einkommens bzw. genauer: um eine „gerechte“ Einkommensverteilung. Die moderne Armutsforschung hat versucht, ein quantitatives Maß fu¨r den Umgang mit der relativen Armut festzulegen. Sie bezieht sich dabei allein auf das Einkommen, wobei allerdings nicht einfach die perso¨nlichen Einkommen der Haushaltsmitglieder, sondern ein Nettoa¨quivalenzeinkommen berechnet wird, sodass Haushaltsgro¨ße und Altersstruktur der Haushaltsmitglieder ebenfalls Beru¨cksichtigung finden. Dieses wird ins Verha¨ltnis zum Durchschnittseinkommen der Bevo¨lkerung gesetzt. Wenn dann das Einkommen der betroffenen Haushalte einen bestimmten Anteil des Durchschnittseinkommens unterschreitet, gelten diese Haushalte als „arm“. 18
A RMU T HE UT E
Zahlreiche Annahmen und Konventionen bestimmen also eine so gewonnene Armutsquote: Die Berechnung des ~quivalenzeinkommens durch unterschiedliche Beru¨cksichtigung von Abgaben und Transfers, die Ho¨he des Gewichtungsfaktors fu¨r das Alter der Haushaltsmitglieder, die Verwendung eines statistischen Mittelmaßes (arithmetisches Mittel oder Median) und auch den territorialen Bezug des Durchschnittseinkommens (Ost-, West- oder Gesamtdeutschland). Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung Lebenslagen in Deutschland (BT-Drucksache 14 / 5990) aus dem Jahre 2001 bietet daher insgesamt 22 verschieden definierte Armutsquoten und ermo¨glicht so die Auswahl, ob man zwischen 5,3 % oder 20 % der Bevo¨lkerung in Westdeutschland als arm bezeichnen mo¨chte, fu¨r Ostdeutschland reicht die Spanne von 2,9 % bis 29,6 %. Dieses Ergebnis tra¨gt hinsichtlich der Bestimmung von Armut in Deutschland eher zur Verwirrung als zur Kla¨rung des Sachverhaltes bei (Sell 2002, S. 12). Angesichts dieses Befundes verwundert es nicht, dass der Pra¨sident des ifo Institut fu¨r Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, bei Vorlage des dritten Armutsberichts der Bundesregierung im Jahr 2008 in diesem Zusammenhang von „bedarfsgewichtetem Ka¨se“ spricht (Sinn 2008). Derartige Armutsberichte wurden seit den 1980er-Jahren zuna¨chst von den Kommunen vorgelegt (Bremen 1987, Mu¨nchen 1987, Hamburg 1993) und fanden dann in Berichten der Wohlfahrtsverba¨nde und Gewerkschaften, die sich auf die gesamte Bundesrepublik bezogen, ihre Nachfolger (Caritasverband 1993, DGB 1994, Parita¨tischer Wohlfahrtsverband 1994, 2000). Seit 2001 ist nunmehr die Bundesregierung gehalten, auf Beschluss des Bundestages in regelma¨ßigen Absta¨nden solche Berichte vorzulegen. Auch im Bereich der Sozialforschung lassen sich a¨hnliche Versuche seit La¨ngerem beobachten. In Schweden (1968), den USA (1971) und in weiteren skandinavischen La¨ndern (1972) hatten Sozialwissenschaftler Wohlfahrtsberichte (Quality of Live Survey) verfasst, in denen nach unterschiedlicher Schwerpunktsetzung u¨ber die Lebensverha¨ltnisse in den jeweiligen La¨ndern berichtet wurde. Ein erster deutscher Wohlfahrtssurvey wurde 1978 von einer Forschergruppe an der Universita¨t Mannheim verfasst. Darin und in den folgenden wissenschaftlichen Untersuchungen eines Sonderforschungsbereiches an der Universita¨t Mannheim sowie des Wissenschaftszentrums Berlin wurde der Versuch unternommen, „objektive“ Merkmale der Wohlfahrt, wie die genannten Armutsquoten der Armutsberichte mit weiteren „subjektiven“ Merkmalen u¨ber die Befindlichkeit der Bevo¨lkerung zu kombinieren (Zapf 1977; Becker 2001). 19
Berechnung von Armutsquoten
Armutsberichte
Sozialwissenschaftliche Untersuchungen
AR MU T UND R EI CH TUM
Konzepte der Armutsmessung
Lebenslage
Relative Deprivation
Armut in der Europoischen Union
Es galt darin neben den Faktoren der objektiven Lebensbedingungen auch das subjektive Wohlbefinden und die wahrgenommene Qualita¨t der Gesellschaft zu messen und zu dokumentieren, um so eine Basis fu¨r eine zielfu¨hrende Gesellschaftspolitik bereitzustellen. Dieser Ansatz ging weit u¨ber eine bloße quantitative Konstatierung von „Armut“, wie immer man diese auch definierte, hinaus. Die Konzepte der Armutsmessung zeigen also eine außerordentliche Spannbreite. Absolute Armutskonzepte (1 US-Dollar pro Tag pro Person) erweisen sich fu¨r entwickelte Industriegesellschaften als ga¨nzlich ungeeignet. Als Bezugspunkt der Bestimmung der relativen Armut in einer Gesellschaft eignet sich vielmehr der durchschnittliche Lebensstandard der Bevo¨lkerung. In einem ersten, unvollkommenen Zugriff kann man sich ausschließlich auf das Einkommen konzentrieren und damit Schwellen der Armut identifizieren, die beispielsweise beim Sozialhilfesatz oder bestimmten Quoten des durchschnittlichen Einkommens liegen ko¨nnen (Ressourcenansatz). Daru¨ber hinaus lassen sich weitere materielle Ressourcen (z. B. Wohnungsausstattung, Lebensfu¨hrung) mit in die Betrachtung einbeziehen und / oder auch die subjektive Bewertung der eigenen Situation. Damit na¨hert man sich dem Konzept der Lebenslage, die vor allem durch die Versorgung mit zahlreichen Lebensnotwendigkeiten charakterisiert ist. Wird dem subjektiven Empfinden ein gro¨ßerer Raum fu¨r die Bestimmung von Armut in der Gesellschaft eingera¨umt, so na¨hert man sich dem Konzept der relativen Deprivation als Maßstab der Armutsmessung. Unter diesem Konzept versteht man im Allgemeinen, wenn u¨ber soziale Vergleichsprozesse in einer Referenzgruppe ein Individuum feststellt, dass es hinsichtlich seiner Erwartungen und Wu¨nsche benachteiligt, unzufrieden oder entta¨uscht ist. Alle diese unterschiedlichen Messkonzepte haben ihre eigentu¨mlichen methodischen Probleme und keines scheint unumstritten die Armut in der modernen Gesellschaft gu¨ltig abzubilden. Ihre begrenzte Aussagekraft muss also immer mit reflektiert werden. Die Europa¨ische Union verwendet zum Beispiel als Armutsmaß eine Schwelle, die dann u¨berschritten ist, wenn eine Person u¨ber weniger als 60 % des durchschnittlichen Netto-Jahreseinkommens je Einwohner (einschließlich Wohnungsmiete) verfu¨gt. Fu¨r Deutschland errechnet sich daraus fu¨r das Jahr 2004 ein Betrag von 9 891 Euro pro Person, unterhalb dem ein Einwohner als arm gelten wu¨rde; im untersuchten Jahr 2004 fielen 13 % aller Bundesbu¨rger unter diese Schwelle. Mit 13 % Armen nimmt die Bundesrepublik einen mittleren Platz unter den europa¨ischen Staaten ein. An der Spitze findet 20
FR AG EN UND LE K TrR E E MPFEH LUN GEN
sich Litauen mit einer Armutsquote von 21 %; am Ende der Skala liegt Schweden mit einer Armutsquote von lediglich 9 %. Doch betrachtet man die absoluten Einkommen der Armutsschwelle in den betroffenen La¨ndern, so liegt diese Schwelle in Schweden mit 8 582 Euro deutlich unter der deutschen (minus 1 309 Euro ¼ 13 %), in Litauen mit 2 341 Euro sogar noch viel gravierender (minus 7 758 Euro ¼ 78 %). Diese erheblichen Differenzen lassen an der Nu¨tzlichkeit derartiger Vergleiche zweifeln. Die Zweifel versta¨rken sich noch, wenn man La¨nder mit gleichen Armutsquoten in Beziehung setzt. Deutschland, Luxemburg und die Slowakei haben beispielsweise alle eine Armutsquote von 13 %. Um arm zu sein, darf man in Deutschland ein Einkommen von 9 891 Euro erzielen, in Luxemburg hingegen 16 375 Euro, also fast doppelt so viel, und in der Slowakei lediglich 3 118 Euro. Zieht ein Normalverdiener aus Deutschland wenige Kilometer u¨ber die Grenze nach Luxemburg, so wird er, statistisch betrachtet, zu einem armen Schlucker; zieht es ihn hingegen in die Slowakei, so wird er zum Kro¨sus. Diese Unterschiede lassen sich gewiss nicht allein aus den unterschiedlichen Lebenshaltungskosten in den drei betroffenen La¨ndern erkla¨ren, sondern weisen darauf hin, dass Armutsquoten in gewissen Grenzen immer auch ein statistisches Artefakt sind. Sie bilden also nicht die soziale Realita¨t eins zu eins ab, sondern sind ho¨chst erkla¨rungsbedu¨rftig. Zudem ist daran zu erinnern, dass eine durch Armutsquoten definierte Armut weniger die Lebenssituation der betreffenden Bevo¨lkerungsgruppen abbildet als vielmehr ihre relative Stellung im Einkommensgefu¨ge. Sie misst daher eigentlich gar nicht die Armut, sondern vielmehr die Ungleichheit der Einkommen. Daraus ergeben sich gravierende Probleme, auf die noch ausfu¨hrlicher einzugehen sein wird (> KAPITEL 7). Fragen und Anregungen • Worin unterscheidet sich die vorindustrielle Armut von „Armut“, wie wir sie heute vorfinden? • |berlegen Sie, ob sich Armut messen la¨sst, und wenn ja, wie? • In welchem Verha¨ltnis stehen Armut und Ungleichheit in den modernen Industriegesellschaften?
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Grenzen der Vergleichbarkeit
Ungleichheit der Einkommen
AR MU T UND R EI CH TUM
Lektjreempfehlungen rbersichten
• Erich Wiegand / Wolfgang Zapf (Hg.): Wandel der Lebensbedingungen in Deutschland. Wohlfahrtsentwicklung seit der Industrialisierung, Frankfurt a. M. 1982. Eine Sammlung wichtiger Aufsa¨tze, in denen der quantitative Rahmen der Wohlfahrtsentwicklung in Deutschland seit der Industrialisierung entfaltet wird.
Forschung
• Wilhelm Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, Versuch einer Synopsis, Hamburg 1974. Umfassende Darstellung der Armuts- bzw. Wohlfahrtsentwicklung in Europa seit der Neuzeit mit quantitativen Informationen. • Wolfram Fischer: Armut in der Geschichte. Erscheinungsformen und Lo¨sungsversuche der „Sozialen Frage“ in Europa seit dem Mittelalter, Go¨ttingen 1982. Beschreibung der Armut in Europa seit dem Mittelalter mit dem Schwerpunkt Armenpolitik. • Bronislaw Geremek: Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa, Mu¨nchen 1988. Gut lesbare Beschreibung der gewandelten Einstellungen gegenu¨ber der Armut in Europa seit dem Mittelalter. • Wolfgang von Hippel: Armut, Unterschichten und Randgruppen in der fru¨hen Neuzeit (Enzyklopa¨die deutscher Geschichte Bd. 34), Mu¨nchen 1995. Zusammenfassende Darstellung von Armut und sozialer Ungleichheit in der fru¨hen Neuzeit.
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2 Wohlstand und Wirtschaftswachstum
„Reich ist, wer weiß, dass er genug hat.“ Laotse Abbildung 4: Chinesischer Lampion (Boule chinoise)
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Es ist ja nicht unbedingt richtig, dass mehr Besitz auch glu¨cklicher macht. Die Eremiten der Antike oder die Bettelmo¨nche des Mittelalters suchten andere Mo¨glichkeiten zum Glu¨cklichsein. Und vielleicht weist auch der Spruch des Laotse einen besseren Weg. Doch fu¨r die u¨berragende Mehrheit der Menschheit bleibt bis heute die Verbesserung des materiellen Wohlstandes ein zentrales Ziel. Die großen Unterschiede im Wohlfahrtsniveau zwischen La¨ndern und Weltregionen sind relativ neu. Es ist gerade etwa 200 Jahre her, dass die Europa¨er anfingen reich zu werden. Bis etwa 1800 war es hier wie anderswo auf der Welt so, dass eine zahlenma¨ßig kleine Elite ein behagliches Leben fu¨hrte, wa¨hrend die Masse der Bevo¨lkerung in bitterer Armut verharrte. Das a¨nderte sich erst mit der industriellen Revolution in England, wo zwischen ca. 1780 und 1850, also in weniger als drei Generationen, eine Umwa¨lzung, die seit der neolithischen Revolution knapp 10 000 Jahre zuvor nicht ihresgleichen gesehen hatte, die Lebensverha¨ltnisse der Menschen grundlegend umgestaltete. Danach war ihre Welt nicht mehr die gleiche. Die industrielle Revolution verwandelte die Menschen von Ackerbauern und Viehzu¨chtern zu Beta¨tigern von Maschinen, die von lebloser Energie angetrieben waren. Das sich entfaltende Industriesystem setzte eine Wirtschaftsweise frei, die stetiges Wirtschaftswachstum und permanente Wohlstandsmehrung ermo¨glichte. Auf welche Weise sich dieses moderne Wirtschaftswachstum von den vorangehenden Epochen unterscheidet, wie es zu bemessen ist und wie es sich bei uns darstellt, ist der Gegenstand des folgenden Kapitels.
2.1 Vormoderne Entwicklung und modernes Wirtschaftswachstum 2.2 Wohlfahrtsmessung und Wohlstandsindikatoren 2.3 Wachstum und Wohlstand in Deutschland 24
VOR MO DE R NE ENT WIC KLU NG, M OD ER N ES W IRT SCH AF TSWACHS TUM
2.1 Vormoderne Entwicklung und modernes Wirtschaftswachstum > KAPITEL 1 sollte klar gemacht haben, dass die vorindustrielle Welt arm war. Jahrtausendelang existierte die Menschheit am Rande des Elends, auch wenn einzelne Wenige in Luxus leben konnten. Zwar gab es gelegentlich auch Zeiten verbesserter allgemeiner Lebensumsta¨nde, allerdings dauerten diese nie lange an. Solch eine Phase mag es im spa¨ten Mittelalter gegeben haben, in der der Historiker Wilhelm Abel einen u¨ppigen Fleischkonsum nachweisen zu ko¨nnen glaubt, wa¨hrend es in den folgenden Dekaden erneut zu einer Verarmung der Kost kam (Abel 1981, S. 9–13, 32f.). Auch die Lohnentwicklung scheint diesen Tendenzen seit dem spa¨ten Mittelalter zu folgen (Abel 1986, S. 16–29). Reallohnverfall und Verarmung der Kost pra¨gten also die Wohlfahrtsentwicklung der mitteleuropa¨ischen Bevo¨lkerung seit dem spa¨ten Mittelalter. Ausgangspunkt war dabei ein langfristig eher untypisch gehobenes Niveau, das wegen der Bevo¨lkerungsverluste der großen europa¨ischen Pestwelle des 14. Jahrhunderts – es kam in manchen La¨ndern mehr als die Ha¨lfte der Bevo¨lkerung ums Leben – den |berlebenden fu¨r etwa ein Jahrhundert deutlich verbesserte Lebenschancen bot (Le Roy Ladurie 1985, S. 19–62). Einen Wechsel zwischen guten und schlechten Zeiten hat es daher auch schon in der vormodernen Welt gegeben, wie es ja schon aus biblischer Zeit heißt, dass es „fette“ und „magere“ Jahre gab. Die Frage aber bleibt, ob es sich bei diesen Vera¨nderungen im Wohlfahrtsniveau vorindustrieller Gesellschaften um eine nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Bevo¨lkerung gehandelt hat. Eine Antwort auf diese Frage versucht Graeme D. Snooks fu¨r England im letzten Jahrtausend zu geben (Snooks 1994). Ausgehend von den Angaben im Doomsday Book, das der englische Ko¨nig Wilhelm der Eroberer fu¨r das Jahr 1086 anlegen ließ und das eine Erfassung aller Haushalte seines neuen Herrschaftsbereichs beabsichtigte, versuchte der Autor eine Scha¨tzung des Gesamteinkommens der englischen Gesellschaft. Er errechnete dafu¨r eine Gro¨ße von 136 621 Pfund Sterling, was bei einer angenommenen Bevo¨lkerungszahl von gut einer halben Million einem Pro-Kopf-Einkommen von knapp 1,8 Schilling ja¨hrlich entspricht. Diese Zahl la¨sst sich mit einer Scha¨tzung des bereits genannten Gregory King, einem Pionier der fru¨hen Wirtschaftsstatistik, aus dem Jahre 1688 u¨ber das englische Volkseinkommen vergleichen (oben S. 11–12). So errechnet sich fu¨r
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Vorindustrielle Welt war arm
Verbesserte Lebenschancen nach Pestwelle
Gesamteinkommen in England 1086
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600 Jahre geringes Wachstum
Adam Smith
Wachstum nur in wenigen Staaten
den Zeitraum von 1086 bis 1688, also fu¨r knapp 600 Jahre, eine Wachstumsrate von lediglich 0,29 % pro Jahr (Pierenkemper 1996, S. 30–31). Ein derart geringes Wachstum war von den Zeitgenossen kaum wahrnehmbar, es betrug fu¨r die Spanne einer Generation lediglich 8 % und pro Jahrhundert nur 34 %. Eine nachhaltige Verbesserung der Lebensverha¨ltnisse der Bevo¨lkerung war damit nicht verbunden, eine solche la¨sst sich erst in einem spa¨teren Zeitraum feststellen (Horn 2008, S. 56. Dort werden Wachstumsraten des Welt-Bruttoinlandsprodukts auf der Basis von Scha¨tzungen der OECD und des IWF genannt. Fu¨r die Jahre 1 bis 1000 betrug demnach die ja¨hrliche Wachstumsrate 0,01 %, von 1000 bis 1820 0,22 %, fu¨r die Jahre von 1820 bis 1998 jedoch 2,21 %). Erst das „moderne Wirtschaftswachstum“ (Kuznets 1966) im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts vera¨nderte die Situation vollkommen. Der Nationalo¨konom Adam Smith berichtete in seinem Werk mit dem bezeichnenden Titel The Wealth of Nations (Der Wohlstand der Nationen) von 1776 vorausschauend u¨ber den mo¨glichen Reichtum der Vo¨lker im sich nun entfaltenden Wirtschaftssystem. Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses epochemachenden Werkes war allerdings von der gewerblich-industriellen Expansion, wie sie sich wenige Jahre spa¨ter in England entfalten sollte, noch nicht viel zu beobachten. Und auch als die Industrielle Revolution bald darauf begann, wurden zuna¨chst nur ein kleiner Teil der britischen Wirtschaft und spa¨ter nur sehr wenige weitere europa¨ische Staaten von der neuen Dynamik erfasst. Die alte Armut blieb vorerst u¨berall bedru¨ckend. Ganz im Gegenteil, es zerfiel in manchen Regionen das u¨berkommene Wirtschaftssystem und neue Formen der Verelendung breiteten sich aus (> KAPITEL 1). Das gesamtwirtschaftliche Wachstum wurde noch nicht entscheidend vorangebracht, die Wachstumsrate verharrte auf geringem, vorindustriellem Niveau. Erst die durchgreifende Industrialisierung im 19. Jahrhundert schuf fu¨r einige wenige La¨nder die Basis fu¨r ein beschleunigtes und stetiges Wirtschaftswachstum. Der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt beschreibt diese Situation folgendermaßen: „In Europa wurde die Barriere der Produktivita¨tsentwicklung durchstoßen, haben die Menschen begonnen, in großem Umfang den riesigen Vorrat anderer als pflanzlicher und tierischer Energiequellen auszunu¨tzen und Produktionsprozesse von erheblich gro¨ßerem technischen Wirkungsgrad als zuvor anzuwenden. Hierfu¨r sind viele Faktoren maßgebend gewesen. Der letzte Schlu¨ssel wird aber in der organisierten Erfindungs- und Neuerungsta¨tigkeit gese26
VOR MO DE R NE ENT WIC KLU NG, M OD ER N ES W IRT SCH AF TSWACHS TUM
hen, die nach 1760 eine derartige Beschleunigung erfahren hat, dass wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel in allen Bereichen erstmals deutlich erkennbar wurde und nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum eingesetzt hat. Bis heute ist keine Barriere der Produktivita¨tsentwicklung aufgetaucht, da die organisierte Scho¨pferta¨tigkeit des Menschen bislang noch – anders als fru¨her der Boden – unbeschra¨nkt ausdehnbar scheint.“ (Borchardt 1967, S. 15f.) Das starke Wirtschaftswachstum stellt eine epochale Neuerung der modernen Volkswirtschaft dar. Deutlich unterscheidet es sich von den Entwicklungsprozessen der vorindustriellen Zeit. Diese zeichneten sich nicht nur durch ihre kaum merklichen Wachstumsraten und einen Mangel an Stetigkeit aus. Vor allem waren vorindustrielle Wachstumsprozesse durch Extensivita¨t gekennzeichnet. Das bedeutet, dass sie u¨berwiegend von einer Ausweitung des o¨konomischen Inputs, also durch die Steigerung der Einsatzmengen physischer Produktionsfaktoren (Bevo¨lkerungswachstum, Landesausbau) getragen wurden. Hierbei spielte auch die Verfu¨gung und die Nutzung von Energie eine u¨berragende Rolle (Malanima 2010). Erst die grundlegende Neuerung des „industriellen Kapitalismus“ (Kuznets 1966, S. 9) verlagerte den Schwerpunkt der Wirtschaftsta¨tigkeit auf das Gewerbe bzw. die Industrie, weil dort mit einer erho¨hten Kapitalintensita¨t produziert wurde. Ein sta¨rkerer Einsatz von Kapital, beispielsweise durch den Kauf von Maschinen und den Bau von Fabriken, fu¨hrte letztlich zu u¨berproportional ho¨heren Ertra¨gen als beim versta¨rkten Einsatz traditioneller Produktionsfaktoren. Damit verbunden war eine Ausdehnung des kapitalistischen Erwerbsstrebens in weite Bereiche der Wirtschaft; dieses Prinzip wurde gar zum tragenden Motiv der Wirtschaftsta¨tigkeit. Hinzu trat auch eine technologische Dimension. Die Probleme der Produktion wurden zunehmend mit wissenschaftlichen Methoden angegangen, praktisches Wissen trat dahinter zuru¨ck (Vogel 2004). Im Ergebnis bewirkte das moderne Wirtschaftswachstum eine ungeheure Ausdehnung der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt. Reichtum wurde in einem solch hohen Maße generiert, dass die vorindustrielle Armut fu¨r weite Teile der Bevo¨lkerung u¨berwunden schien. In Deutschland la¨sst sich z. B. seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis ca. 1990 eine Vervielfachung des Sozialproduktes pro Kopf der Bevo¨lkerung konstatieren. Dabei zeigt sich in der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts ein relativ stetiges Wachstum mit einem Boom in den fru¨hen 1870er- und spa¨ten 1890er-Jahren. Die Entwicklung im 27
Vormodernes Wachstum durch Extensivitot
Kapitalistisches Erwerbsstreben
Deutsche Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert
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Erster Weltkrieg
Zweiter Weltkrieg
20. Jahrhundert war hingegen zuna¨chst wesentlich weniger stetig. Der Erste Weltkrieg fu¨hrte zu deutlichen Wohlfahrtsverlusten, die in den 1920er-Jahren nur mu¨hsam wettgemacht werden konnten. Zudem kam es wa¨hrend der Hyperinflation 1923, in der die monatliche Inflationsrate bis zu 50 % betrug, und der Wirtschaftskrise von 1929–33, die die gesamte Weltwirtschaft betraf, zu weiteren Einbru¨chen. Erst der Ru¨stungsboom in der NS-Zeit ließ das Pro-Kopf-Einkommen wieder kurzfristig auf und u¨ber das Niveau von 1913 steigen, ehe der Zweite Weltkrieg einen gewaltigen Absturz bewirkte. Dieser konnte zuna¨chst nur mu¨hsam, ab den 1950er-Jahren aber merklich und nachhaltig u¨berwunden werden (> ABBILDUNG 5). Diese Charakterisierung der Wohlfahrtsentwicklung in Deutschland beruht auf Daten, die von verschiedenen Autoren fu¨r das 19. und fru¨he 20. Jahrhundert gescha¨tzt wurden (Hoffmann 1965; fu¨r Scha¨tzungen fu¨r die Jahre vor 1850 vgl. Spree 1977; zur Verla¨sslichkeit der Scha¨tzungen in einem kritischen |berblick vgl. Fremdling 1995 neuerdings auch Burhop 2011, S. 32–40). Fu¨r die zweite Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts ist es mo¨glich, auf amtliche Daten zuru¨ckzugreifen, weil nach dem Zweiten Weltkrieg eine international koordinierte Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung zur Messung des Sozialprodukts eingefu¨hrt wurde (> KAPITEL 2.2).
Abbildung 5: Sozialprodukt je Einwohner in Deutschland bzw. Westdeutschland 1850–1990 in konstanten Preisen von 1913 (nach Buchheim 1997, S. 87)
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Die exorbitante Wohlstandssteigerung in den modernen Volkswirtschaften seit 1850 war natu¨rlich nicht auf die deutsche Volkswirtschaft beschra¨nkt. Allerdings waren es im 19. Jahrhundert erst wenige weitere La¨nder, die ein a¨hnliches Wachstum der Wohlfahrt realisieren konnten (Matis 1988, S. 234). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts geho¨rte Deutschland zu den reichsten Nationen Europas und damit der Welt. 80 Jahre zuvor hatte es erst knapp den europa¨ischen Durchschnitt u¨bertroffen.
Deutschland war eine der reichsten Nationen
2.2 Wohlfahrtsmessung und Wohlstandsindikatoren Die Einzigartigkeit der Wirtschaftsentwicklung wurde auch den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts bereits bewusst und es fehlte nicht an fru¨hen Versuchen, diesen neuen Tatbestand zu beschreiben und statistisch zu erfassen. Die Vera¨nderung der Wirtschaftsstruktur und die damit verbundene Wohlfahrtssteigerung waren augenfa¨llig, doch es mangelte an Konzepten, diesen neuen Sachverhalt angemessen empirisch zu durchdringen (Tooze 2004). Es war eben nicht ganz klar, was eigentlich genau zu messen sei und wie man eine solche Messung zu bewerkstelligen habe. Ein fru¨her, wichtiger Versuch dieser Art wurde bereits 1805 von Leopold Krug, einem preußischen Statistiker, unternommen (Krug 1970). Krug benannte nicht nur zutreffend die wichtigsten Untersuchungsgegensta¨nde (Ermittlung des Staatsreichtums, d. h. des Nationaleinkommens bzw. Sozialprodukts, und des Wohlstandes seiner Bewohner bzw. ihres Lebensstandards), er entwickelte auch ein Messkonzept dafu¨r und nahm eine quantitative Scha¨tzung ihres Umfanges vor. Natu¨rlich zeigten sich dabei noch einige methodische Schwa¨chen, etwa die unvollsta¨ndige Erfassung aller o¨konomischen Aktivita¨ten sowie eine |berscha¨tzung der Bedeutung der landwirtschaftlichen Produktion. Auch war die empirische Basis der Scha¨tzung, beruhend auf den preußischen Fabriktabellen, Katastern u. a¨., noch sehr schwach. Doch insgesamt stellt diese Arbeit einen bemerkenswerten Versuch dar, den wachsenden Wohlstand Preußens zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu bestimmen. Mit großer Akribie und in privater Initiative versuchte Krug die Gesamtproduktion im preußischen Staat zu erfassen. So entstand quasi eine Vorform einer Entstehungsrechnung des Sozialprodukts. 29
Veronderung der Wirtschaftsstruktur
Leopold Krugs Messkonzept
Vorform der Entstehungsrechnung
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Untersuchungen in privater Initiative
Erste offizielle Schotzung
Große Unterschiede in den Schotzungen
Internationales Standardverfahren
Weitere Untersuchungen dieser Art wurden mit abweichenden methodischen Ansa¨tzen, z. B. u¨ber die Erfassung des Gesamtverbrauchs, auf der Basis der Statistik des deutschen Zollvereins, d. h. als Verwendungsrechnung des Sozialprodukts unternommen (Dieterici 1838). Spa¨ter wurden auch die Ergebnisse der neueren Scha¨tzungen mit den fru¨heren in Bezug gebracht und dabei deutliche gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtsgewinne bereits in der ersten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts konstatiert (Dieterici 1846). Alle derartigen Untersuchungen gingen noch fu¨r la¨ngere Zeit allein auf private Initiativen zuru¨ck, weil die entstehende amtliche Statistik im 19. Jahrhundert noch mit ganz anderen Dingen als der Berechnung eines Sozialprodukts befasst war (Tooze 2001). So legte z. B. Karl Helfferich, ein Direktor der Deutschen Bank, zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Scha¨tzung u¨ber die Entwicklung des deutschen Volkswohlstands seit dem spa¨ten 19. Jahrhundert auf der Basis der zeitgeno¨ssischen Steuerstatistik vor (Helfferich 1913). Eine erste offizielle Scha¨tzung des Volkseinkommens fu¨r das Deutsche Reich wurde vom Statistischen Reichsamt erst 1932 unternommen. Dazu waren zuna¨chst umfangreiche theoretische Vorarbeiten durch den Statistiker Ernst Wagemann notwendig, die dieser auf der Basis der Arbeiten des }konomen Irving Fisher leistete (Tooze 2001, S. 116–125). Nunmehr gab es ein elaboriertes Messkonzept fu¨r einen klar definierten Gegenstand und auch eine hinreichende statistisch-empirische Basis zu seiner Bemessung. Die von verschiedenen Institutionen vorgenommenen Scha¨tzungen waren aber noch wenig genau und ihre Ergebnisse differierten in bemerkenswertem Maße voneinander. Fu¨r das Jahr 1925 scha¨tzte z. B. der Reichsverband der deutschen Industrie das deutsche Volkseinkommen auf 43 Milliarden Reichsmark, die Gewerkschaften hingegen auf 52 Milliarden Reichsmark und das Statistische Reichsamt auf 50 bis 55 Milliarden Reichsmark (Tooze 2001, S. 123f.). Inzwischen hat sich fu¨r die Berechnung von Sozialprodukt und Volkseinkommen ein internationales Standardverfahren entwickelt, das derartige Abweichungen nicht mehr zula¨sst. Wie in Deutschland hatte auch in den USA in den 1920er-Jahren eine Entwicklung eingesetzt, die zu a¨hnlichen Methoden fu¨hrte. Das National Bureau of Economic Research (NBER) der USA hatte bereits 1920 mit Versuchen zur Messung des Volkseinkommens der USA begonnen, und auch die Brookings Institution in Washington D. C. widmete sich seit ihrer Gru¨ndung im Jahre 1927 diesem Unterfangen. Der US-amerikanische }konom Simon Kuznets war von Anfang an daran betei30
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ligt. Auch der Vo¨lkerbund in Genf nahm sich dieser Aufgabe an und organisierte 1928 eine internationale Konferenz, auf der Richtlinien fu¨r eine koordinierte Wirtschaftsstatistik beschlossen wurden. Auf dieser Basis konnte der Vo¨lkerbund ein Jahrzehnt spa¨ter (1939) einen „World Economic Survey“ mit Volkseinkommensscha¨tzungen von 26 La¨ndern fu¨r die Jahre 1929 bis 1938 vorlegen. 1945 pra¨sentierte dann ein Unterausschuss des Vo¨lkerbundes unter wesentlichem Beitrag des }konomen Richard Stone ein Konzept zur Erfassung von Volkseinkommensdaten. Wie Kuznets (1971) erhielt auch Stone (1984) spa¨ter den Nobelpreis fu¨r }konomie fu¨r seine bahnbrechenden Leistungen bei der Entwicklung von volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungssystemen, wodurch Stone die Grundlage empirischer Wirtschaftsanalyse umfassend verbesserte. An diese Vorarbeiten konnte ein Unterausschuss der Nachfolgeorganisation des Vo¨lkerbundes, der Vereinten Nationen (UN), 1947 unmittelbar anknu¨pfen, als wiederum unter Leitung von Richard Stone ein „System of National Accounts“ zur Berechnung von Sozialprodukt und Volkseinkommen beschlossen wurde. Auf dieses System bezog sich auch die Organization of European Economic Cooperation (OEEC), als sie 1952 ein „Standardized System of National Accounts“ vorlegte, dessen Weiterentwicklung bis heute als Basis fu¨r die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) aller entwickelten Staaten gilt. Dieses System wird auch in allen Standardlehrbu¨chern der Makroo¨konomie ausfu¨hrlich behandelt (Samuelson / Nordhaus 2005, S. 603–631; Mankiw / Taylor 2008, S. 561–583; zur geschichtlichen Entwicklung der VGR vgl. Stobbe 1980, S. 368–405). Die Berechnung des Sozialprodukts auf der Basis der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bildet heutzutage die Basis fu¨r jegliche Art gesamtwirtschaftlicher Analysen. Allerdings ist diese Gro¨ße als Wohlfahrtsmaß mit gravierenden methodischen und empirischen Problemen behaftet (Reich u. a. 1977, S. 21–55). Vor allem stellen sich statistisch-technische Berechnungsprobleme, wie z. B. die Beru¨cksichtigung von Qualita¨tsa¨nderungen der Gu¨ter (eine Waschmaschine aus dem Jahre 1950 ist kaum mit einer heutigen Waschmaschine vergleichbar), Probleme der Auswahl und Bewertung der erfassten Gu¨ter und Dienste sowie die Probleme der Vergleichbarkeit von Scha¨tzungen fu¨r unterschiedliche Staaten. Auch zeigt sich, dass eine VGR nur fu¨r kapitalistische Marktgesellschaften sinnvoll anzuwenden ist. Zur Bemessung der Wirtschaftsleistung z. B. einer sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft sind andere Messkonzepte no¨tig (Heske 2005). In den modernen Volkswirtschaften werden daher auch 31
World Economic Survey
Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung
Methodische und empirische Probleme
WOH LSTA N D UN D WI RTS CHA FT SWACH STU M
Modifizierte und erweiterte Konzepte
Zusotzliche Variablen
System umfangreicher Sozialberichterstattung
Erfassung jber Versorgungslage
modifizierte und erweiterte Konzepte zur Messung der Wirtschaftsleistung diskutiert (Weber / Hofmann 2006; Holtfrerich 2007, S. 92–106). Kurzum: Das Problem der Bemessung der Wirtschaftsleistung einer Volkswirtschaft besteht weiterhin. Und ob mit dieser Gro¨ße u¨berhaupt Wohlfahrt und Lebensstandard der Bevo¨lkerung beschrieben werden ko¨nnen, bleibt zweifelhaft. Die Kritik an den Schwa¨chen und Ma¨ngeln der VGR hat schon fru¨h dazu Anlass gegeben, nach alternativen Mo¨glichkeiten zur Bemessung von „Volkswohlfahrt“, „Lebensstandard“ u. a¨. Ausschau zu halten. Denn eine bloße Benennung des Pro-Kopf-Einkommens der Bevo¨lkerung schien oft zu simpel, um die vielfa¨ltigen Dimensionen von Wohlstand und Lebensstandard zu erfassen. Daher wurde in den 1970er-Jahren versucht, zusa¨tzliche Variablen in die Betrachtung zu integrieren. Ziel war es, mo¨glichst alle wohlfahrtsrelevanten Lebensbereiche der Menschen einzubeziehen (Zapf 1977). Beru¨cksichtigt wurden nun zahlreiche Zieldimensionen (z. B. Bevo¨lkerungsentwicklung, sozialer Status, Bescha¨ftigung, Einkommen, Gesundheit, Bildung, Wohnung, Partizipation), die sich in weitere gesellschaftliche Unterziele aufspalten und durch Maßgro¨ßen quantifizieren lassen (z. B. Gesundheit durch ~rztezahl, Krankenhausbetten u. a¨.). Somit steht ein System umfangreicher Sozialberichterstattung zur Verfu¨gung, auf dessen Grundlage genauere Auskunft u¨ber die Lebensbedingungen der Bevo¨lkerung gegeben werden kann als bei bloßer Betrachtung des Pro-Kopf-Einkommens. Allerdings handelt es sich dabei um ein komplexes, eher unu¨bersichtliches System von Sozialindikatoren, deren Auswahl zudem keinesfalls systematisch-theoretisch begru¨ndet werden kann und das daher eher willku¨rlich und unsystematisch erscheint. |berdies sind die meisten dieser Indikatoren mit dem Pro-Kopf-Einkommen hoch korreliert, was ihren zusa¨tzlichen Erkla¨rungsgehalt im Hinblick auf die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt stark einschra¨nkt. Daher gibt es bereits seit langem Versuche, die Lebensverha¨ltnisse der Menschen unmittelbar durch ihre Versorgungslage zu erfassen und die Analyse dabei auf einige wenige Aspekte zu konzentrieren. Dazu za¨hlte in vormodernen Zeiten gewiss die Versorgung mit Nahrungsmitteln, aber mo¨glicherweise auch die Gestaltung der gesamten Haushaltsausgaben (Pierenkemper 1991). Dass z. B. ein Haushalt mit Normalbudget in vormodernen Zeiten etwa 80 % seiner Ausgaben fu¨r Nahrungsmittel aufwenden musste und dass dieser Anteil in Deutschland im Jahr 2006 auf 14,6 % gesunken ist, veranschaulicht nachdru¨cklich den gewachsenen Wohlstand in diesem Teil der 32
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Welt. Wo es an genaueren Angaben zur Nahrungsmittelversorgung fehlt, wurde in neuester Zeit sogar die Ko¨rpergro¨ße der Menschen herangezogen, u¨ber die es aus milita¨rischen Rekrutierungsverzeichnissen oder a¨lteren Grablegungen Informationen gibt. Sie wird als ein Maß der Nahrungsversorgung und Gesundheit, also damit indirekt der Wohlfahrt verwandt (Baten 2000). Auch ein neuer Versuch zur vergleichenden Bemessung nationaler Wohlfahrt knu¨pft an die Vorstellung an, dass die Analyse der Entwicklung des Pro-Kopf-Einkommens allein fu¨r eine Bestimmung der Wohlfahrt nicht ausreicht. Als weitere Dimensionen des „Human Development Index“ (HDI) der Vereinten Nationen wird daher die Lebensqualita¨t der Individuen durch drei Gro¨ßen, na¨mlich langes Leben, hinreichende Bildung und materieller Lebensstandard, zu erfassen versucht. Diese drei Dimensionen lassen sich quantifizieren, z. B. als durchschnittliche Lebenserwartung, Schulbesuch und Alphabetisierungsquote bzw. fu¨r fortgeschrittene La¨nder Akademisierungsquote sowie Pro-Kopf-Einkommen. Dann kann man diese Gro¨ßen skalieren nach der relativen Auspra¨gung gegenu¨ber dem „besten“ Fall und miteinander verknu¨pfen, wobei die jeweiligen Gewichte gleichma¨ßig ein Drittel betragen. Fu¨r das Deutsche Reich und die Bundesrepublik Deutschland zeigt sich demnach ein differenziertes Bild (Wagner 2008). Erst in den 1970er-Jahren erreichte der Human Development Index fu¨r Deutschland erstmals einen Wert von mehr als 0,8 und damit das Niveau eines hohen Lebensstandards. Zuvor hatten Kriege und Krisen die Wohlfahrtsentwicklung derartig beeintra¨chtigt, dass von einer Wohlstandsgesellschaft noch nicht die Rede sein konnte. Und bis heute bleibt in Deutschland die Dimension „Bildung“ deutlich hinter der des „Einkommens“ zuru¨ck. Wenn also von einer „Wohlstandsexplosion“ in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg die Rede ist, sollte man immer beachten, dass damit vor allem der materielle Wohlstand gemeint ist und dass die Lebensqualita¨t in anderen Dimensionen mo¨glicherweise weit weniger zufriedenstellend ist (Miegel 2003, S. 89–98). Darauf weisen auch Ergebnisse der neueren Glu¨cksforschung hin, die u¨ber Ursachen und Verteilung von Zufriedenheit und Glu¨ck Auskunft zu geben bemu¨ht ist (Layard 2005, S. 42–43).
2.3 Wachstum und Wohlstand in Deutschland Seit der Industriellen Revolution hat also Deutschland ein relativ stetiges Wirtschaftswachstum genossen und trotz aller Ru¨ckschla¨ge in
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Kkrpergrkße als Indikator
Human Development Index (HDI)
HDI in Deutschland
Gljcksforschung
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Historisch einmalige Entwicklung
Deutsches Sozialprodukt seit 1850
Industrialisierung als Kern modernen Wachstums
Wiederaufbau und Wirtschaftswunder
Industrielle Produktion
Krisen und Kriegen eine nachhaltige Verbesserung des Lebensstandards seiner Bevo¨lkerung erlebt. Diese Entwicklung ist historisch einmalig. Sie blieb allerdings nicht auf Deutschland beschra¨nkt, sondern ließ sich in a¨hnlicher Form zuna¨chst in einigen anderen europa¨ischen La¨ndern, dann in den USA und schließlich in vielen La¨ndern weltweit beobachten. In den mehr als 100 Jahren seit 1850 stieg in Deutschland das reale Sozialprodukt (also unter Beru¨cksichtigung der Inflation) ja¨hrlich im Durchschnitt um ca. 2,7 %. Da die Bevo¨lkerung in diesem Zeitraum um ja¨hrlich durchschnittlich 1,0 % angewachsen ist, betrug die durchschnittliche ja¨hrliche Steigerung des realen Sozialprodukts pro Kopf ca. 1,7 %. So konnte der Lebensstandard der Bevo¨lkerung nachhaltig angehoben werden (> ABBILDUNG 5). ~hnliche Entwicklungen gab es auch in den u¨brigen Industriestaaten. In Frankreich stieg wa¨hrend knapp 130 Jahren das reale Sozialprodukt pro Kopf um ebenfalls 1,7 %, in den USA wa¨hrend 125 Jahren um 1,6 % und in Großbritannien gar u¨ber einen Zeitraum von 180 Jahren um 1,2 % (Holtfrerich 1980a, S. 416). Eine Institutionalisierung des Wirtschaftswachstums als Folge der Industriellen Revolution macht den Kern der modernen Wirtschaft aus (Buchheim 1997, S. 21–23). Diese „epochal innovation“ (Kuznets 1966, S. 9) schlug sich bereits im 19. Jahrhundert in einem deutlichen Zuwachs des Sozialprodukts und des Pro-Kopf-Einkommens nieder. Zwischen 1870 und 1913 betrug die ja¨hrliche Wachstumsrate des Sozialprodukts pro Kopf in Deutschland durchschnittlich 1,8 %. Dieser Zuwachs konnte in den folgenden Dekaden wegen der Kriege, der daraus resultierenden Inflationen und der gravierenden Weltwirtschaftskrise nicht erreicht werden. Der entsprechende Wert sank fu¨r den Zeitraum von 1913 bis 1950 auf 0,4 %. In den Zeiten von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder stieg er dann auf 5,6 % (1950–65) an, ehe er sich u¨ber 3,9 % (1965–80) auf wiederum 1,8 % (1980–2000) normalisierte (Abelshauser 2004, S. 293). Buchheim vermutet eine quasi „natu¨rliche“ Wachstumsrate industriekapitalistischer Wirtschaftssysteme in etwa dieser Gro¨ßenordnung (Buchheim 1994, S. 17). Noch eindrucksvoller erscheint die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands seit dem 19. Jahrhundert, wenn man nicht das gesamtwirtschaftliche Wachstum betrachtet, welches ja auch die Wertscho¨pfung weniger dynamischer Teile der Wirtschaft (z. B. Handwerk, Landwirtschaft) beinhaltet, sondern sich dem besonders dynamischen Sektor, der Industrie, zuwendet. Die industrielle Produktion gewann, ausgehend von ihren bescheidenen Anfa¨ngen im fru¨hen 19. Jahrhun34
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dert, im Laufe der Industrialisierung der Volkswirtschaft eine immer gro¨ßere Bedeutung fu¨r die Gesamtwirtschaft. Dies wurde schon den Zeitgenossen deutlich, Friedrich Engels schrieb bereits 1878: „Wa¨hrend in Frankreich der Orkan der Revolution das Land ausfegte, ging in England eine stillere, aber darum nicht minder gewaltige Umwa¨lzung vor sich. Der Dampf und die neue Werkzeugmaschinerie verwandelten die Manufaktur in die moderne große Industrie und revolutionierten damit die ganze Grundlage der bu¨rgerlichen Gesellschaft.“ (Engels 1975, S. 35) In den Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung schlug sich diese Entwicklung darin nieder, dass in der Hochphase der Industriegesellschaft in Deutschland in den 1950er- und 1960er-Jahren das produzierende Gewerbe 55 bis 60 % der Wertscho¨pfung erwirtschaftete und auch die Mehrheit der Bescha¨ftigten beanspruchte (> KAPITEL 3). Entsprechend dynamisch entwickelte sich die industrielle Nettoproduktion (Abelshauser 2004, S. 45). Zwischen 1870 und 1913 hatte sich diese bereits etwa verfu¨nffacht, eine a¨hnliche Entwicklung la¨sst sich fu¨r die zweite Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts konstatieren. Die industrielle Dynamik hat sich also trotz aller Tendenzen zu einer Dienstleistungsgesellschaft in Deutschland bis dahin nicht abgeschwa¨cht. Die entscheidende Frage liegt nun darin, wo die Ursachen fu¨r die exorbitante Steigerung des Sozialproduktes und der Industrieproduktion in den beiden letzten Jahrhunderten zu finden sind. Verschiedentlich sind im Kontext der heute vorherrschenden neoklassischen Produktionstheorie Versuche unternommen worden, durch die Bestimmung sogenannter Wachstumskomponenten die Gru¨nde fu¨r das moderne Wirtschaftswachstum zu identifizieren und ihren Wachstumsbeitrag zu messen (Pierenkemper 2005, S. 35–39). So lassen sich die Beitra¨ge der unterschiedlichen Produktionsfaktoren zum Wirtschaftswachstum einer Volkswirtschaft bestimmen (vgl. weiter unten, Kap. 4.2, S. 62). Fu¨r die deutsche Volkswirtschaft ergibt sich danach folgendes Bild (Borchardt 1978, S. 78–98): Trotz zweier verheerender Kriege, Wirtschaftskrise und Inflation in der ersten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts la¨sst sich in der langen Sicht eine historisch einmalige Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktion und des Wohlfahrtsniveaus beobachten. Dazu hat die Ausweitung des Arbeitspotenzials nur in geringem Maße beigetragen. Die verfu¨gbare Arbeitsmenge stieg von 1873 bis 1913 ja¨hrlich lediglich um 0,8 bis 0,9 %, zwischen 1913 und 1950 dann nur noch um 0,3 %. Zwar erfolgte nach dem Zwei35
Hochphase der Industriegesellschaft
Ursachen fjr Steigerung des Sozialprodukts
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Steigerung der Arbeitsproduktivitot
Hkhere Kapitalintensitot
Technischer Fortschritt
ten Weltkrieg wegen der zustro¨menden Vertriebenen und Flu¨chtlinge kurzfristig wiederum eine deutliche Ausweitung des Arbeitsvolumens, doch bald stagnierte es und begann schließlich zu schrumpfen. Das hatte vor allem mit einer deutlichen Reduzierung der durchschnittlichen Arbeitszeit zu tun (seit 1870 um ca. 40 %), welche dem Wachstum der Bevo¨lkerung und der Zuwanderung entgegen wirkte. Allerdings ist die Arbeitsproduktivita¨t im Gesamtbetrachtungszeitraum deutlich sta¨rker gewachsen als das Arbeitsvolumen, was auf eine zunehmende Bedeutung der Qualita¨t der Arbeit hinweist. Zwischen 1870 und 1923 wuchs die Arbeitsproduktivita¨t pro Bescha¨ftigtem in Deutschland im Durchschnitt um 1,5 % und pro Arbeitsstunde gar um 2,1 %. Die entsprechenden Vergleichszahlen betragen fu¨r den Zeitraum von 1950 bis 1972 4,8 % bzw. 5,6 %. Aus diesen Angaben wird deutlich, dass das Wirtschaftswachstum in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert keinesfalls entscheidend auf den Einsatz einer zunehmenden Arbeitsmenge zuru¨ckzufu¨hren ist. Blickt man auf die Entwicklung des Kapitalstocks – und damit auf die Menge des eingesetzten Kapitals –, so ist dieser zwar durch die durchlittenen Kriege und Krisen ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen worden, aber insgesamt dennoch erheblich angewachsen. Das gilt nicht nur fu¨r seinen bis heute bedeutendsten Teil, die Geba¨ude, sondern auch fu¨r das industrielle Anlagevermo¨gen, dessen Bedeutung deutlich zugenommen hat. Diese Entwicklung schla¨gt sich in einer wachsenden Kapitalintensita¨t der Arbeit nieder, d. h. ein Bescha¨ftigter wird mit einem immer gro¨ßeren Kapitalbestand ausgestattet. Dazu sind permanent hohe Investitionen no¨tig, die nicht nur den Kapitalbestand aufrechterhalten, sondern daru¨ber hinaus auch der qualitativen Verbesserung und der Erweiterung des Kapitalstocks dienen mu¨ssen. Aber auch eine hohe Investitionsquote allein vermag das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht zu erkla¨ren. Dazu hat ganz wesentlich auch der technische Fortschritt entscheidend beigetragen. Dieser bemisst sich in der neoklassischen Produktionstheorie als Residualgro¨ße, als unerkla¨rter Rest des Wachstums, die allein durch eine Erho¨hung der Einsatzmenge von Kapital und Arbeit nicht zu erkla¨ren ist. Der technische Fortschritt ist zum Teil einverleibt in der zunehmenden Qualita¨t der Arbeit – wenn man so will also im Humankapital. Wichtig sind aber auch Erfindungen und Innovationen, die durchaus auch organisatorischer (wissenschaftliche Betriebsfu¨hrung, Rationalisierung u. a¨.) und politischer Art (z. B. Wettbewerbs-, Stabilita¨ts- und Sozialpolitik) sein ko¨nnen. 36
FR AG EN UND LE K TrR E E MPFEH LUN GEN
Alles in allem la¨sst sich das moderne Wirtschaftswachstum also vor allem durch eine Effizienzsteigerung des Wirtschaftssystems, also eine bessere Nutzung der vorhandenen Ressourcen, erkla¨ren und nicht durch die Erschließung weiterer, neuer Ressourcen. Fu¨r den Zeitraum von 1950 bis 1962 kann dieser Zusammenhang im Sinne der Wachstumskomponentenrechnung quantitativ etwas genauer veranschaulicht werden (van der Wee 1984, S. 158–159). Demnach la¨sst sich das enorme ja¨hrliche Wachstum der „Wirtschaftswunderjahre“ von 6,27 % nur zu 44 % durch eine Ausweitung der Produktionsfaktoren, zu 56 % jedoch durch den technischen Fortschritt (also die Steigerung der Gesamtfaktorproduktivita¨t) erkla¨ren. Blickt man auf die Entwicklung der Einsatzfaktoren im Einzelnen, so leistet der Produktionsfaktor Kapital hinsichtlich der Ausweitung der Faktoren den gro¨ßten Beitrag zum Wachstum (51 %), der Faktor Boden gar keinen und der Faktor Arbeit aber ebenfalls beachtliche 49 %. Hierfu¨r spielte die Ausweitung der Zahl der Bescha¨ftigten bei sinkender Arbeitszeit die gro¨ßte Rolle, die Vera¨nderung in den Alters- und Geschlechterproportionen lediglich eine geringe und die verbesserte Ausbildung eine ga¨nzlich untergeordnete. Das Wachstum des Kapitalstocks wird im Wesentlichen also durch eine Erho¨hung des industriellen Anlagevermo¨gens getrieben. Den gro¨ßten Beitrag zum Wachstum des Sozialprodukts leistet erwartungsgema¨ß der technische Fortschritt (> KAPITEL 6). Die deutsche Wirtschaft wurde im Betrachtungszeitraum deutlich effizienter gestaltet, dies trug entscheidend zum Wachstum bei. Die quantitative Ausweitung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital trat demgegenu¨ber in der Bedeutung fu¨r das Wachstum deutlich zuru¨ck. Fragen und Anregungen • |berlegen Sie, worin sich das moderne Wirtschaftswachstum von o¨konomischen Entwicklungen der vorausgehenden Zeiten unterscheidet. • Glauben Sie, dass Sozialproduktsberechnungen hinreichend Auskunft u¨ber die Wohlfahrt eines Landes geben ko¨nnen? Worin liegen die Schwa¨chen dieses Messkonzeptes, worin aber auch dessen Sta¨rke? • Welche Faktoren trugen wesentlich zum außerordentlichen Wachstum der deutschen Wirtschaft in den letzten 150 Jahren bei?
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Bessere Nutzung vorhandener Ressourcen
Entwicklung der einzelnen Einsatzfaktoren
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Lektjreempfehlungen rbersichten
• Wilhelm Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, Go¨ttingen 1972. Knappe, mittlerweile klassische Beschreibung der Lebensverha¨ltnisse in Deutschland seit dem Mittelalter. • Christoph Buchheim: Industrielle Revolutionen. Langfristige Wirtschaftsentwicklung in Großbritannien, Europa und in lbersee, Mu¨nchen 1994. Kompetente Diskussion von Wirtschaftswachstum und Wohlfahrtsentwicklung in vergleichender Perspektive. • Erich Wiegand / Wolfgang Zapf (Hg.): Wandel der Lebensbedingungen in Deutschland: Wohlfahrtsentwicklung seit der Industrialisierung, Frankfurt a. M. 1982. Entha¨lt eine Reihe wichtiger Beitra¨ge zur langfristigen Entwicklung verschiedener Lebensbereiche in Deutschland.
Forschung
• Simon Kuznets: Modern Economic Growth. Rate, Structure, and Spread, New Haven 1966. Klassischer Text zum modernen Wirtschaftswachstum. • Graeme Donald Snooks: Great Waves of Economic Change: The Industrial Revolution in Historical Perspective, 1000 to 2000, in: ders. (Hg.), Was the Industrial Revolution Necessary?, London 1994, S. 43–78. Anregende Auseinandersetzung mit dem langfristigen Wirtschaftswachstum in den spa¨teren Industriestaaten. • Adam Tooze: Statistics and the German State, 1900–1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001. Wichtiger Beitrag u¨ber die konzeptionelle Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft und der amtlichen Statistik.
Handbjcher / Lexika
• Deutsche Bundesbank (Hg.): Wa¨hrung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975, Frankfurt a. M. 1976. Anschauliche und umfassende Darstellung der Wirtschaftsentwicklung Deutschlands. • Walther G. Hoffmann: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965. Trotz aller Kritik und Revisionen bis heute unverzichtbares Werk fu¨r eine quantitative Darstellung der deutschen Wirtschaft seit Beginn der Industrialisierung. • Angus Maddison: The World Economy. A Millenial Perspective, Paris 2001. International vergleichende Daten u¨ber einen la¨ngeren Zeitraum. 38
3 Arbeit und Lohnarbeit
Abbildung 6: Krupp-Werke, Deutschland; Lokomotiv- und Wagenra¨derbau in der Gussstahlfabrik von Friedrich Krupp in Essen (1900) Abbildung 7: Bu¨roangestellte in der Schokoladenfabrik Cadbury, England (Ende 19. Jh.)
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AR B E IT U ND LOH NA RB EI T
Die beiden Bilder geben einen Einblick in die Radreifenherstellung der Kruppschen Gussstahlfabrik und in ein Bu¨ro der Schokoladenfabrik Cadbury. Charakteristikum der Industrialisierung ist einerseits die Entstehung einer industriellen Arbeiterschaft, wofu¨r das Beispiel Krupp stehen kann. Auf der anderen Seite entstand bei der Durchsetzung industrieller Großbetriebe am Ende des 19. Jahrhunderts auch ein Heer nicht manuell arbeitender Bescha¨ftigter, die sogenannten Angestellten. Beiden Gruppen ist zu eigen, dass sie ihre Subsistenz, also ihren Lebensunterhalt, allein durch diejenige Arbeit sichern konnten, die sie gegen Entgelt einem Arbeitgeber zur Verfu¨gung stellten. Gleichgu¨ltig, ob in Werkstatt oder Kontor, in Industriebetrieb oder Verwaltung, mit der Entstehung der modernen Volkswirtschaft hatten sich ga¨nzlich neue Arbeitsbedingungen etabliert. Die optimale Allokation (Einsatz) des Faktors Arbeit im Industriesystem bildete eine wesentliche Voraussetzung fu¨r die Steigerung der Effizienz und der weiteren Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums. Damit waren gravierende Vera¨nderungen in der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit verbunden. Die Entstehung von Lohnarbeit bzw. die Entstehung und Entfaltung von Arbeitsma¨rkten ist ein wesentliches Charakteristikum der modernen Volkswirtschaft. Es handelt sich bei einem derartigen sozialen Arrangement um Erwerbsarbeit, die dem Ziel der individuellen Reproduktion (also der Sicherung der eigenen Existenz und der der Familie) durch Erzielung von Einkommen diente und die zunehmend u¨ber Ma¨rkte in Form von Lohnarbeit getauscht wurde. Die Kommodifizierung der Arbeitskraft, d. h. die Verwandlung der menschlichen Arbeit in eine Ware, bildet also eine wesentliche Bedingung der Entstehung der modernen Volkswirtschaft. Wie genau vollzog aber sich dieser Wandel, wo und auf welche Weise wurde und wird die menschliche Arbeitskraft in der modernen Volkswirtschaft eingesetzt?
3.1 Die Entstehung von Lohnarbeit in Deutschland 3.2 Die Entfaltung eines Arbeitsmarktes 3.3 Strukturen der Lohnarbeit in Deutschland 40
D I E E N TST E HUN G VON L OHN AR B EIT I N D EU TSC HL AN D
3.1 Die Entstehung von Lohnarbeit in Deutschland Die Organisation von Arbeit in Form von Lohnarbeit ist historisch betrachtet eine relativ neue Erscheinung, die sich massenhaft erst im 19. Jahrhundert verbreitet hat. Natu¨rlich haben die meisten Menschen auch in fru¨heren Zeiten immer und zumeist sehr intensiv arbeiten mu¨ssen. Aber sie taten es in anderen Formen als in der der Lohnarbeit (Polanyi 1977). Fu¨r die moderne, kapitalistische Industriegesellschaft erweist sich Lohnarbeit als die entscheidende Form der Allokation gesellschaftlicher Arbeit. Offenbar ist diese Form die angemessene fu¨r die moderne Volkswirtschaft. Aber warum? Zu Beginn der Industrialisierung, in Deutschland im fru¨hen 19. Jahrhundert, war Lohnarbeit noch wenig verbreitet. Ein Blick auf die Bescha¨ftigten in den deutschen Territorien um 1800 zeigt eine eindeutige Verteilung zugunsten der Landwirtschaft (> ABBILDUNG 8). Sektor
Beschoftigungsbereich
Landwirtschaft
Gu¨ter Spannfa¨hige Bauern Kleinbauern Landarme / Landlose Ha¨usliche Dienste
0,08 2,05 3,29 2,77 0,97
0,60 16,20 26,10 21,90 7,70
Summe
9,17
72,50
Handwerk Verlegtes Textilgewerbe Sonstige Verlage Manufaktur, Bergbau
1,26 0,34 0,02 0,07
10,00 2,70 0,20 0,50
Summe
1,69
13,40
Dienstleistungen
Handel / Transport (ev.) Kirche, Beamte, Schule (kath.) Klerus Milita¨r Ha¨usliche Dienste Summe
0,94 0,26 0,09 0,20 0,29 1,78
7,50 2,00 0,70 1,60 2,30 14,10
Insgesamt
Summe
12,64
100,00
Gewerbe
Beschoftigte (in Millionen)
Beschoftigte (in %)
Abbildung 8: Bescha¨ftigung in Deutschland um 1800 nach Wirtschaftssektoren (Dipper 1991, S. 98)
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Lohnarbeit als relativ neue Erscheinung
Unterschiedliche Arten gesellschaftlicher Arbeit
AR B E IT U ND LOH NA RB EI T
Arten der Beschoftigung in der Landwirtschaft
Totigkeiten im gewerblichen Sektor
Zu dieser Zeit waren also etwa drei Viertel aller Bescha¨ftigten in der Landwirtschaft ta¨tig, im Gewerbe und im Dienstleistungssektor hingegen nur jeweils knapp 15 % (Schissler 1978, S. 72–74). Schaut man auf die landwirtschaftlich Bescha¨ftigten, so arbeitete nur eine verschwindend kleine Zahl direkt auf Gu¨tern. Hierbei handelte es sich zumeist um leitendes Personal (Gutsbeamte, Verwalter), kaum um Lohnarbeiter. Auch Vollbauern waren keine Lohnarbeiter, sondern Selbststa¨ndige, ebenso wie die gro¨ßte Gruppe der landwirtschaftlich Bescha¨ftigten, die Kleinbauern. Ihr Landbesitz reichte jedoch ha¨ufig nicht aus, um eine Familie zu erna¨hren, sie waren daher auf Zuerwerb angewiesen. Dieser erfolgte selten als Lohnarbeit, sondern in einem eigentu¨mlichen Dienstverha¨ltnis als Eigenversorger oder als kontraktlich gebundene Arbeitskraft (Heuerling, Scharwerker, Instmann o. a¨.) auf den Gu¨tern oder bei den Vollbauern. Oder sie arbeiteten als Landhandwerker oder Heimgewerbetreibender in quasi-selbststa¨ndiger Ta¨tigkeit. Auch die Landlosen waren in a¨hnlichen Formen als Hilfskra¨fte (Deputatsempfa¨nger, Dienstleute) in die Land- und Gu¨terwirtschaft eingegliedert und somit kaum als moderne Lohnarbeiter zu klassifizieren. ~hnliches gilt auch fu¨r das Gesinde, das gegen Kost und Logis im Haushalt der Bauern oder der Gutsherren diente. Insgesamt la¨sst sich zeigen, dass in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts im landwirtschaftlichen Sektor Lohnarbeitsverha¨ltnisse und ein entsprechend freier Arbeitsmarkt kaum vorzufinden waren. Es dominierten vielmehr traditionelle vormoderne, z. T. noch feudal gepra¨gte Arbeitsformen (Kocka 1990a, S. 83–89). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war dies auch im gewerblichen Sektor der Fall. Hier herrschten handwerkliche Ta¨tigkeiten vor (Wehler 1987, S. 90–119). Zwar befand sich das alte Handwerk bereits in der Auflo¨sung, weil eine stark anwachsende Zahl von Gesellen immer weniger Aussicht auf Selbststa¨ndigkeit als Meister hatte. Dennoch blieben die Gesellen meist in einem traditionellen Arbeitsverha¨ltnis, jenseits der marktvermittelten Lohnarbeit. Sie unterlagen der hausherrlichen Gewalt des Meisters sowie den Regelungen der jeweiligen Zu¨nfte (z. B. dem Wanderzwang). Kost und Logis, nicht Geldlohn, stellten weiterhin einen beachtlichen Teil ihrer Entlohnung dar. Quasi-Selbststa¨ndige mit teilweise eigenen Produktionsmitteln (Spinnrad, Webstuhl) und weiteren Hilfskra¨ften (ha¨ufig Familienmitgliedern) arbeiteten zeitlich begrenzt fu¨r u¨bero¨rtlich fungierende Verleger, so hießen die Auftrageber, die Geld und Material „vorlegten“. Diese Verlagsarbeiter waren ha¨ufig nur im Nebenerwerb gewerblich ta¨tig, teils in der Landwirtschaft (Landlose, Kleinstellenbesitzer), teils
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auch mit dem sta¨dtischen Handwerk verbunden. Lohnarbeiter in dem Sinne, dass sie ihre Arbeitskraft auf einem freien Arbeitsmarkt anboten, waren sie jedenfalls keine. Diese ließen sich am ehesten noch in den wenigen Manufakturen und Bergfabriken (Montanunternehmen) finden. Doch auch hier gab es noch u¨berkommene Arbeitsformen, so z. B. die der Gewerke in den bergrechtlichen Gewerkschaften oder die Bergleute in den Knappschaften des Bergbaus. Lediglich in den ersten Eisenhu¨tten und den fru¨hen Textilfabriken lassen sich in Deutschland um 1800 einige wenige moderne Lohnarbeiter finden (Kocka 1990b, S. 297–355, 377–520). Blickt man auf den dritten und letzten Bescha¨ftigungssektor, den der Dienstleistungen, so dominierten auch hier andere Bescha¨ftigungsverha¨ltnisse als freie Lohnarbeit. Milita¨rs, Geistliche und Beamte sind wohl kaum als Lohnarbeiter anzusehen. Am ehesten fanden sich solche im Transportbereich (Schiffer, Treidelknechte, Fuhrleute u. a¨.), wobei zahlreiche dieser Ta¨tigkeiten nur nach Bedarf und selten vollberuflich ausgeu¨bt wurden. Auch der Handel war zumeist in selbststa¨ndiger Ta¨tigkeit als Wanderhandel (Ho¨ker, Hausierer), Kleinhandel (Kra¨mer) oder durch Großkaufleute organisiert. Dienstboten spielten in der vormodernen Gesellschaft eine große Rolle, erhielten jedoch als Diener, Ko¨chinnen oder Alleinma¨dchen kaum Barlohn, sondern ebenfalls u¨berwiegend Kost und Logis (Kocka 1990b, S. 109–144). Zusammenfassend la¨sst sich daher festhalten, dass Lohnarbeit in den deutschen Territorien um 1800 ein Minderheitenpha¨nomen war. Die absolute Zahl der Lohnarbeiter wird auf 85 000 bis 160 000 Personen gescha¨tzt (Schmoller 1900, S. 344; Kuczynski 1961, S. 222), also auf allenfalls etwa ein Prozent der Bescha¨ftigten. In allen Bereichen der Volkswirtschaft dominierten noch traditionelle Bescha¨ftigungsverha¨ltnisse und vormoderne Allokationsformen, herrschaftliche auf dem Lande, zu¨nftige im sta¨dtischen Handwerk und genossenschaftliche z. B. im Bergbau. Dem freien Arbeitsmarkt, d. h. dem Tausch von Lohn gegen Arbeitsleistung, waren noch enge Grenzen gesetzt. Das sollte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts grundlegend a¨ndern. In den folgenden 100 Jahren entwickelte sich Lohnarbeit zur vorherrschenden Form des Bescha¨ftigungssystems und demgema¨ß der Arbeitsmarkt zur entscheidenden Institution fu¨r die Allokation der gesellschaftlichen Arbeit (Pierenkemper 2015b). Zur Mitte des 19. Jahrhunderts arbeitete nur noch die Ha¨lfte aller Bescha¨ftigten in der Landwirtschaft, ein Drittel war im Gewerbe ta¨tig, der Rest entfiel 43
Beschoftigungen im Dienstleistungssektor
Lohnarbeit um 1800 ein Minderheitenphonomen
Lohnarbeit entwickelt sich zur dominierenden Form
AR B E IT U ND LOH NA RB EI T
Entstehung des Arbeitsmarktes
Industrielle Reservearmee
Emigration
Rjckgang der Realeinkommen
Steigende Einkommen bis 1913
auf den Dienstleistungssektor, dessen Anteil bis dahin im Wesentlichen stabil blieb. Am Ende des langen 19. Jahrhunderts (1913) fanden sich im gewerblichen Sektor mit etwa 38 % die meisten Bescha¨ftigten, die Landwirtschaft folgte mit etwa 34 % und die Dienstleistungen mit etwa 28 % (Henning 1996, S. 678). Diese du¨rren Zahlen spiegeln jedoch lediglich quantitative Vera¨nderungen im Bescha¨ftigungssystem und geben keine Auskunft u¨ber die Gru¨nde fu¨r die Entstehung eines Arbeitsmarktes in diesem Zeitraum. Dafu¨r waren andere Gru¨nde ausschlaggebend. Vor allem fu¨hrte ein enormes Bevo¨lkerungswachstum – begu¨nstigt durch eine verbesserte Versorgung mit Lebensmitteln, medizinische Fortschritte und verbesserte Hygiene – zu einer deutlichen Ausweitung des Angebots an Arbeitskra¨ften. Eine gewaltige Lu¨cke zwischen den Bescha¨ftigungsmo¨glichkeiten und der Zahl der Erwerbspersonen tat sich auf (Ko¨llmann 1974, S. 61–98). Sowohl die Ausweitung der la¨ndlichen Unterschichten als auch die Entstehung eines sta¨dtischen Proletariats fu¨hrten zu einem starken Anwachsen der arbeitenden Klassen, oder, wie Marx diese nannte, der „industriellen Reservearmee“. Das Ergebnis war eine tief greifende Verelendung weiter Bevo¨lkerungskreise, deren Lebensschicksal, wie es schien, nachhaltig und ausweglos beeintra¨chtigt war. Diese historische Situation wird in der Literatur gemeinhin als Pauperismus bezeichnet (> KAPITEL 1). Als ein Ausweg aus dieser Situation galt u¨ber Jahrzehnte hinweg die Auswanderung. Anfangs emigrierten viele Menschen aus Deutschland nach |bersee, hauptsa¨chlich nach Nordamerika (Marschalck 1973). Spa¨ter, als das industrielle Wachstum in Deutschland in Gang gekommen war, kam es zu einer ausgreifenden Binnenwanderung vom Land in die Sta¨dte, vor allem aus den preußischen Agrarregionen Ostelbiens in die industriellen Zentren an Rhein und Ruhr (Ritter / Tenfelde 1992, S. 175–197). Ein lang anhaltender Ru¨ckgang der Realeinkommen der arbeitenden Bevo¨lkerung ab dem fru¨hen 18. Jahrhundert bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Folge des |berangebots an Arbeitskra¨ften. Zwar stiegen auch in diesem Zeitraum die Nominaleinkommen weiter, doch die steigenden Lebensmittelpreise machten diesen Anstieg mehr als wett, und Armut breitete sich immer weiter aus. In den wegen Missernten auftretenden Hungerkrisen der Jahre 1818 und 1846 erreichte diese Entwicklung traurige Ho¨hepunkte. Erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung auch in Deutschland allma¨hlich Raum gewann, kehrte sich diese Tendenz um und fu¨hrte bis 1913 zu nachhaltig steigenden Einkommen (Go¨mmel 1979, S. 12; > ABBILDUNG 9). 44
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Abbildung 9: Lo¨hne in Deutschland (gleitende Dreijahresmittel, 1900–13 ¼ 100) (Saalfeld 1984, S. 231)
Traditionell wurde wa¨hrend der Zeit des Tageslichtes gearbeitet, im Sommer also deutlich la¨nger als im Winter. Moderne Fabrikbetriebe verfu¨gten jedoch u¨ber ku¨nstliches Licht. Dies ermo¨glichte eine Ausdehnung der regelma¨ßigen ta¨glichen Arbeitszeit von 10 bis 12 Stunden (um 1800) auf 14 bis 16 Stunden in den 1830er-Jahren. Bei sechs Arbeitstagen pro Woche la¨sst sich so eine Wochenarbeitszeit von 80 bis 85 Stunden errechnen. Als Lohnform setzten sich Geldlo¨hne mehr und mehr durch und auch die Lohnperioden verku¨rzten sich deutlich von Jahres- zu Wochen- und Tagelo¨hnen. Dies alles la¨sst auf einen rationelleren Arbeitseinsatz schließen, Arbeitszeiten und ihr Preis wurden einer kaufma¨nnischen Kalkulation unterworfen und Leistungslo¨hne hielten Einzug in das Entlohnungssystem. So trat ein Marktkontext des Tausches Lohn gegen Leistung immer deutlicher hervor. Diese Entwicklungen beschleunigten sich in der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts noch weiter. Das Bevo¨lkerungswachstum hielt weiter an, doch wegen des dynamischen Wirtschaftswachstums wuchs das Angebot von Arbeitsmo¨glichkeiten noch sta¨rker als die Bevo¨lkerung. Der Auswanderungsdruck ließ entsprechend nach. Die neuen Arbeitspla¨tze waren nun u¨berwiegend in Form von Lohnarbeit organisiert. Zusa¨tzliche Arbeiter fanden Bescha¨ftigung in den Bergwerken und Werksta¨tten, Angestellte in Bu¨ros und Ladengescha¨ften. Die Lohnarbeitsgesellschaft setzte sich auch in Deutschland fla¨chendeckend durch, der Arbeitsmarkt wurde zur dominierenden Instanz fu¨r die Al-
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Ausdehnung der Arbeitszeit
Geldlkhne setzen sich durch
Zahl der Erwerbspersonen verdoppelt sich
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lokation gesellschaftlicher Arbeit. Die Verha¨ltnisse auf dem Arbeitsmarkt waren dabei zunehmend gepra¨gt durch wachsende Bescha¨ftigungsunsicherheit, einen stetigen Anstieg der Reallo¨hne und eine tendenzielle Senkung der Arbeitszeiten (Pierenkemper 2006a, S. 255).
3.2 Die Entfaltung eines Arbeitsmarktes Arbeitsmarkt zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Eingriffe des preußischen Staates
Einfjhrung von Sozialversicherungen
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Arbeitsmarkt in Deutschland noch ga¨nzlich frei und unreguliert. Die Unternehmer unterlagen keinerlei Restriktionen zur Nutzung oder auch Ausbeutung der Arbeitskraft ihrer Arbeiter. Diese waren dem Gewinnstreben und der Profitgier der Kapitalisten mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert. Dementsprechend waren auch die auf dem Arbeitsmarkt entstehenden Ergebnisse beklagenswert: Geringe Einkommen, u¨berlange Arbeitszeiten und hohe Bescha¨ftigungsunsicherheit pra¨gten die Lage der Arbeiter und schufen eine Situation, die als Soziale Frage des 19. Jahrhunderts bezeichnet wird. Der preußische Staat sah sich daher bereits 1839 gezwungen, gegen die allerschlimmsten Auswu¨chse der Fabrikarbeit vorzugehen. Er verha¨ngte ein gesetzliches Fabrikarbeitsverbot fu¨r Kinder unter zwo¨lf Jahren und begrenzte die Arbeitszeiten und die Nachtarbeit fu¨r Frauen und Jugendliche. Weitere Eingriffe des preußischen Staates in den Arbeitsmarkt erfolgten durch die Gewerbeordnung von 1845, nach der auch den Fabrikarbeitern, wie bislang nur den Handwerkern, erlaubt wurde, zur Selbsthilfe und zur Verbesserung ihrer Lage Vereinigungen (Hilfskassen) zu gru¨nden, die aber lediglich Unterstu¨tzung bei Krankheit etc. anboten. Eine gewerkschaftliche Interessenvertretung (Koalitionsrecht) war den Arbeitern noch verwehrt. Als dann 1869 durch die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes das herrschende Koalitionsverbot aufgehoben wurde, blieb es wegen des restriktiven preußischen Vereinsrechts gleichwohl wesentlich eingeschra¨nkt. Weit reichende Wirkungen entfaltete eine Initiative des Reichskanzlers Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelms I., nach denen seit den 1880er-Jahren sukzessive halbstaatlich organisierte Sozialversicherungen gegen die Hauptrisiken der Arbeiterexistenz eingefu¨hrt wurden. Den Anfang machte die Krankenversicherung (1882), gefolgt von der Unfallversicherung (1883) und, als vorla¨ufigem Abschluss, einer Invaliden- und Altersversicherung (1889). Zu u¨bergreifenden, kollektiven Vereinbarungen zwischen den Arbeitsmarktparteien kam es hingegen erst nach 1890, als erste Tarifvertra¨ge abgeschlossen wurden (Englber-
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ger 1995, S. 69–88). Den Tarifverba¨nden der Arbeiter, den Gewerkschaften, stellten die Unternehmer dabei sogenannte Antistreikverba¨nde (Arbeitgeberverba¨nde) gegenu¨ber. Damit waren die Konturen fu¨r die folgenden kollektiven Auseinandersetzungen um Lohn und Leistung gezeichnet. Insgesamt hatten die zahlreichen Regulierungen des 19. Jahrhunderts die Position der Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt deutlich gesta¨rkt. Es handelte sich dabei um gesetzliche (Arbeitsschutz), sozialversicherungsrechtliche (Versicherungen) und in Ansa¨tzen um tarifvertragliche Regelungen. Arbeitszeiten, Lo¨hne und Lebensrisiken wurden nicht mehr allein individuell und frei bestimmt, sie unterlagen nun vielmehr rechtlich definierten Begrenzungen und Bestimmungen. Eine Entwicklung vom freien Arbeitsvertrag zu kollektiven Tarifvertra¨gen war deutlich erkennbar, ein gesetzlich, sozialversicherungsrechtlich und tarifvertraglich fixiertes „Normalarbeitsverha¨ltnis“ war zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits in Umrissen erkennbar. Die Krisen und Katastrophen in der ersten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts hatten jedoch herbe Beeintra¨chtigungen fu¨r die Bescha¨ftigten auf dem Arbeitsmarkt zur Folge. Im Ersten Weltkrieg wurde ein freier Arbeitsmarkt außer Kraft gesetzt. Das Milita¨r bestimmte weitgehend u¨ber die Verwendung des deutschen Arbeitspotenzials. Einberufungen zum Milita¨rdienst reduzierten dieses Potenzial enorm, auch der Einsatz von Frauen und Kriegsgefangenen konnte die entstandene Lu¨cke kaum fu¨llen. Daher fu¨hrte man 1916 mit dem Gesetz u¨ber den vaterla¨ndischen Hilfsdienst einen Arbeitszwang fu¨r alle ma¨nnlichen Personen u¨ber 16 Jahren ein und unterwarf die Allokation der gesellschaftlichen Arbeit einem strengen bu¨rokratischen Regime. Die Lage der Bescha¨ftigten vera¨nderte sich wa¨hrend des Krieges dramatisch: |berlange Arbeitszeiten, sinkende Einkommen und eine immer schlechtere Versorgungslage, die bis hin zu Hunger fu¨hrte, pra¨gten das Bild (Feldman 1985). Nach 1918 kam es in den revolutiona¨ren Umsta¨nden der unmittelbaren Nachkriegszeit zu einer zentralen und grundsa¨tzlichen |bereinkunft zwischen den Unternehmern, vertreten durch den Industriellen Hugo Stinnes, und dem Fu¨hrer der Gewerkschaften, Carl Legien. Es wurde eine Zentralarbeitsgemeinschaft eingerichtet, in der alle strittigen Fragen unmittelbar zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gelo¨st werden sollten. Angesichts der dramatischen Umsta¨nde, in denen auch Sozialisierung und Enteignung denkbar schienen, machten die Unternehmer dabei gewaltige Zugesta¨ndnisse (Feldman 47
Kollektive Tarifvertroge
Erster Weltkrieg
Hilfsdienstgesetz
Zentralarbeitsgemeinschaft
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Die „goldenen Jahre“
Soziale Errungenschaften in der Weimarer Republik
Arbeitslosenversicherung
Umgestaltung nach 1933
1984). Sie stimmten u. a. der Einfu¨hrung des Acht-Stunden-Tages und massiven Lohnerho¨hungen zu. Letzteres fiel ihnen angesichts einer stetig voranschreitenden Inflation nicht besonders schwer. Dieser bis zum Herbst 1923 exponentiell wachsende Preisanstieg fu¨hrte na¨mlich mittelfristig zu deutlichen Realeinkommensverlusten der Arbeiter. Die wegen der Inflation niedrigen Reallo¨hne hatten andererseits zur Folge, dass es relativ wenige Probleme mit der Wiedereingliederung der aus dem Krieg zuru¨ckgekehrten Soldaten in den regula¨ren Arbeitsmarkt gab. Die nach der Stabilisierung der Wa¨hrung im Jahre 1924 durch den vermehrten Einsatz automatisierter Produktion hervorgerufene Rationalisierungskrise der Jahre 1925 / 26 fu¨hrte dann zu einem massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit, die auch wa¨hrend der kurzen „goldenen Jahre“ der Weimarer Republik (1927–29) nicht ga¨nzlich abgebaut werden konnte. Allerdings kam es in diesen Jahren zu einem merklichen Anstieg der Einkommen, welcher jedoch in der folgenden Wirtschaftskrise (1929–33) und einer bis dahin unbekannten Massenarbeitslosigkeit schnell wieder aufgezehrt wurde. Dennoch kam es in der Weimarer Republik zu einigen sozialen Errungenschaften auf dem Arbeitsmarkt, auch wenn diese in den Zeiten der Wirtschaftskrise nur noch teilweise Anwendung fanden. Im Arbeitsrecht wurde der Arbeitsvertrag aus dem individuellen Schuldrecht (BGB) in ein kollektives Recht transformiert. Tarifvertra¨ge traten an Stelle individueller Vereinbarungen, diese waren unabdingbar und allgemeinverbindlich. Eine Betriebsverfassung garantierte einen obligatorischen Betriebsrat, eine besondere Arbeitsgerichtsbarkeit wurde eingerichtet und der gesetzliche Arbeitsschutz wurde verbessert (z. B. Ho¨chstarbeitszeiten). Auch in der Lohnpolitik und im Schlichtungswesen gab es Fortschritte. Einen Ho¨hepunkt bildete 1927 das Gesetz u¨ber die Arbeitslosenversicherung. Darin wurde die Arbeitsvermittlung reichsweit in einer Reichsanstalt zentralisiert und dort eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit begru¨ndet, die als vierte Sa¨ule neben die drei bereits bestehenden Sozialversicherungen (Unfall-, Krankensowie Invaliden- und Alterversicherung) trat. Nach 1933 erfolgte erneut eine grundlegende Umgestaltung des Arbeitsmarktes. Die Gewerkschaften wurden zerschlagen, die Arbeitgeberorganisationen gleichgeschaltet und beide in der Deutschen Arbeitsfront (DAF) zusammengefu¨hrt. Ein freier Arbeitsmarkt wurde durch das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit außer Kraft gesetzt und weitgehenden Regulierungen unterworfen. Ein sogenannter Treuha¨nder der Arbeit bestimmte die Lohnho¨he, im Betrieb galt das 48
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„Fu¨hrerprinzip“, das den Arbeitnehmern als „Gefolgschaft“ nur wenige Rechte ließ (Mason 1977). Ein Preisstopp (1936) und ein Lohnstopp (1938) setzten den Allokationsmechanismus des Marktes ga¨nzlich außer Kraft, dieser wurde durch rigide bu¨rokratische Regelungen ersetzt. Selbst ein massiver Einsatz von Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern und KZ-Ha¨ftlingen vermochte dabei die durch den Krieg entstandenen Lu¨cken im Arbeitskra¨fteangebot nicht zu fu¨llen (Spoerer 2001). Die Arbeits- und Lebensbedingungen der verbliebenen deutschen Arbeitskra¨fte wurden immer schwieriger, ihr Arbeitseinkommen stagnierte, die Anforderungen an Intensita¨t und Dauer der Arbeit stiegen und die Versorgungslage verschlechterte sich. Neuere Untersuchungen zeigen, dass es vor allem die Verbraucher und die Lohnarbeiter waren, die die Hauptlast der verha¨ngnisvollen NS-Politik zu tragen hatten. Bereits unmittelbar nach der „Machtergreifung“ Hitlers setzten seitens der neuen Regierung Bemu¨hungen ein, den privaten Konsum der Bevo¨lkerung zu Gunsten der Investitionen der Industrie und der Aufru¨stung zu begrenzen. Hinzu kamen schon in der fru¨hen Phase des „Dritten Reichs“ Maßnahmen, die „bereits einem kleinen Teil der Bevo¨lkerung zwangsarbeitsa¨hnliche Bescha¨ftigungsverha¨ltnisse zumutete[n]“, wie z. B., durch die Einfu¨hrung einer Arbeitsdienstpflicht und den Reichsarbeitsdienst (Spoerer / Streb 2013, S. 122). Dies fu¨hrte dazu, dass das durchschnittliche Konsumniveau der deutschen Arbeiter zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nicht ho¨her lag als zu Beginn der Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre in den „Goldenen Jahren“ der Weimarer Republik. Diese Beeintra¨chtigung der Lebensverha¨ltnisse der deutschen Bevo¨lkerung setzte sich mit Beginn des Krieges weiter fort und auch die gigantisch Ausbeutung des o¨konomischen Potentials der besetzten La¨nder und der brutale Einsatz von Zwangsarbeitern konnten den Konsumstandard der deutschen Bevo¨lkerung wa¨hrend des Krieges nicht aufrecht erhalten. Die Militarisierung des Arbeitseinsatzes auch fu¨r deutsche Arbeitskra¨fte begleitete ihre Realeinkommensverluste und trug wesentlich zur Absenkung des Lebensstandards der Bevo¨lkerung bei (Hachtmann 1988). Nach dem Krieg war die Bundesrepublik Deutschland, a¨hnlich wie die DDR, bei ihrer Gru¨ndung mit einer durch die Kriegszersto¨rungen zerru¨tteten Wirtschaft konfrontiert. Auf dem Arbeitsmarkt gab es zuna¨chst ein massives |berangebot an Arbeitskra¨ften, welches durch den stetigen Zustrom von Vertriebenen und Flu¨chtlingen noch weiter erho¨ht wurde. Das Ergebnis war eine Arbeitslosenquote von u¨ber 10 % Anfang der 1950er-Jahre. Dennoch wurde im Zuge des sogenannten Wirtschaftswunders bis 1960 nahezu Vollbescha¨ftigung 49
Bjrokratisierung des Arbeitsmarktes
Ljcken im Arbeitskrofteangebot
NS-Politik
Hohe Arbeitslosigkeit nach dem Krieg
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Gastarbeiter
Rjckkehr der Massenarbeitslosigkeit
Tendenz zum Normalarbeitsverholtnis
erzielt. In den 1970er-Jahren sprach man in Westdeutschland gelegentlich sogar von einer |berbescha¨ftigung. Die Nachfrage nach zusa¨tzlichen Arbeitskra¨ften wurde, nachdem dem Flu¨chtlingsstrom aus der DDR durch den Mauerbau 1961 ein Ende gesetzt war, durch eine erho¨hte Frauenerwerbsta¨tigkeit und die Anwerbung von „Gastarbeitern“ aus Su¨deuropa und der Tu¨rkei befriedigt. Die Zahl der Erwerbspersonen stieg stark an, von 22 Millionen (1950) auf 27 Millionen (1970). Die Arbeitskra¨fteknappheit, versta¨rkt durch sinkende Arbeitszeiten, fu¨hrte außerdem zu steigenden Einkommen bei einem hohen Maß von Bescha¨ftigungssicherheit. Der Staat hatte mit dem Stabilita¨tsgesetz von 1967 quasi eine Vollbescha¨ftigungsgarantie gegeben, und das Arbeitsfo¨rderungsgesetz von 1969 sollte das notwendige Instrumentarium bereitstellen, diese politische Zielvorgabe auch umzusetzen. Die Tarifparteien nutzten diese Situation, um den Bescha¨ftigten zahlreiche Segnungen des Sozialstaates zukommen zu lassen. Die Lasten einer damals nicht erwarteten Arbeitslosigkeit wurden dem Staat und den Steuerzahlern aufgebu¨rdet. Dass dieser Weg hohe Lo¨hne zur Folge hatte und so die internationale Wettbewerbsfa¨higkeit der deutschen Wirtschaft untergrub, was in den 1990erJahren zu einer Ru¨ckkehr der Massenarbeitslosigkeit fu¨hrte, wurde zuna¨chst verdra¨ngt. „Der kurze Traum immerwa¨hrender Prosperita¨t“ (Lutz 1984) zerstob, und eine zo¨gerliche Reformpolitik wurde eingeleitet, um deren Ausgestaltung man beispielsweise im Zusammenhang mit der Agenda 2010 weiterhin heftig streitet. In den „goldenen“ 1970er- und 1980er-Jahren hatte sich die im 19. Jahrhundert begonnene Tendenz zu einem vielfa¨ltig privilegierten Normalarbeitsverha¨ltnis weiter versta¨rkt. Arbeitgeber, Staat und Gewerkschaften waren sich darin einig, stetig steigende Einkommen, nachhaltig sinkende Arbeitszeiten (35-Stunden Woche, 30 Tage Jahresurlaub), Ku¨ndigungs- und Rationalisierungsschutz, verku¨rzte Lebensarbeitszeit bei dynamisch steigenden Rentenbezu¨gen und weitere Vergu¨nstigungen seien nunmehr als normal anzusehen (Pierenkemper 2009). Tatsa¨chlich aber waren diese Verha¨ltnisse einer historisch einmaligen glu¨cklichen Situation des Arbeitsmarktes geschuldet – und damit alles andere als normal – und nicht einmal fu¨r alle Erwerbsta¨tigen gu¨ltig. Zuna¨chst einmal bedeutete diese Privilegierung einer Gruppe von Erwerbsta¨tigen, dass Randbelegschaften (Leiharbeiter, unstetig Bescha¨ftigte) und Nicht-Erwerbsta¨tige (Frauen in der stillen Reserve, Arbeitslose) einen Teil der Kosten zu tragen hatten. Daru¨ber hinaus ließen sich im Zuge der Globalisierung diese Verha¨ltnisse nur fu¨r 50
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eine immer kleiner werdende Gruppe von Bescha¨ftigten aufrechterhalten. Die Zahl der Arbeitslosen hingegen stieg stetig an, und noch deutlicher die Zahl atypischer, preka¨r Bescha¨ftigter. Vollbescha¨ftigung und Normalarbeitsverha¨ltnis scheinen sich also auszuschließen. Ein Zielkonflikt zwischen Vollbescha¨ftigung bei flexiblem Arbeitsmarkt und Normalarbeitsverha¨ltnis bei Massenarbeitslosigkeit tat sich auf; entsprechende Interessensauseinandersetzungen sind in Deutschland bereits heute sichtbar.
Prekore Beschoftigung
3.3 Strukturen der Lohnarbeit in Deutschland Im Vorausgehenden war zumeist von der Bescha¨ftigung und dem Arbeitsmarkt die Rede. Einen solchen einheitlichen Arbeitsmarkt fu¨r alle Bescha¨ftigten gibt es aber gar nicht. Vielfa¨ltige Unterschiede sind unu¨bersehbar: die beruflichen Ta¨tigkeiten unterscheiden sich, das Alter der Menschen, die Branche, die Betriebsgro¨ße der Unternehmen u. v. m. spielen fu¨r die Bescha¨ftigungschancen ebenfalls eine Rolle. Eine bedeutsames Kriterium zur Strukturierung des Bescha¨ftigungssystems ist das Geschlecht. Frauen haben natu¨rlich schon immer gearbeitet, im Durchschnitt vermutlich seit jeher mehr als Ma¨nner, aber sie arbeiteten vornehmlich in einem haushaltsbezogenen Kontext (Willms 1980). Mit der Industrialisierung sind die Chancen fu¨r Frauen auf außerha¨usliche Erwerbsarbeit, d. h. vermittelt u¨ber den Arbeitsmarkt gegen Geldlohn, deutlich gestiegen. Haus- und Heimarbeit als vormoderne Arbeitsformen fu¨r Frauen treten dagegen zuru¨ck. Dieser Prozess la¨sst sich auch an der Entwicklung der Frauenerwerbsquote in Deutschland ablesen. War Ende des 19. Jahrhunderts lediglich ein Viertel aller Frauen außerhalb des Hauses erwerbsta¨tig (1882: 24 %) so verdoppelte sich dieser Anteil bis 2005 nahezu (42,7 %) (Statistisches Bundesamt 1972, S. 140; Institut der deutschen Wirtschaft 2007a, S. 11). Blickt man nur auf den Anteil der Frauen im erwerbsfa¨higen Alter, so sind inzwischen zwei von drei Frauen außerha¨usig erwerbsta¨tig. Diese versta¨rkte Ausscho¨pfung des weiblichen Arbeitspotenzials in Deutschland erfolgte jedoch nicht stetig, sondern unterlag den Konjunkturen des Arbeitsmarktes, fu¨r den Frauen lange Zeit als „Puffer“ galten. In der Wirtschaftskrise nach 1929 z. B. sank deren Beteiligung am Erwerbsleben wieder, in der NS-Ru¨stungswirtschaft wurden sie versta¨rkt eingesetzt, in der Nachkriegszeit dann wieder weniger. Der Boom der 1960er-Jahre brachte schließlich den endgu¨ltigen Durchbruch zu einer umfassenden Frauenerwerbsta¨tigkeit.
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Hochgradig differenzierter Arbeitsmarkt
Bedeutung des Geschlechts
Verstorkte Nutzung weiblichen Erwerbspotenzials
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Familienstand als Determinante
Geschlechtsspezifische Segregation
Kinderarbeit
Als wichtige Determinante fu¨r die Einbeziehung von Frauen in außerha¨usliche Erwerbsarbeit erweist sich ihr Familienstand. Ledige Frauen waren, der Not gehorchend, auch im 19. Jahrhundert bereits in erheblichem Umfang erwerbsta¨tig, verheiratete Frauen weit weniger. Diese arbeiteten allerdings ha¨ufig im Familienkontext als mithelfende Familienangeho¨rige, z. B. im Handwerk, im Ladengescha¨ft oder im ba¨uerlichen Betrieb. Dort wurden sie selten u¨berhaupt als Erwerbsta¨tige wahrgenommen, und auch die amtliche Statistik wendet ihnen erst seit 1907 Aufmerksamkeit zu. Frauen, die außerhalb des Hauses erwerbsta¨tig waren, arbeiteten in der Regel in nur wenigen Bescha¨ftigungsbereichen (Stockmann 1985). Zuna¨chst waren ledige Frauen vor allem als Dienstma¨dchen in bu¨rgerlichen Haushalten, als ungelernte Arbeiterinnen in Industrie und Landwirtschaft, spa¨ter auch als Verka¨uferinnen und Bu¨rohilfskra¨fte bescha¨ftigt. Verheiratete Frauen arbeiteten u¨berwiegend als Arbeiterinnen der Industrie oder als Selbststa¨ndige im Kleinhandel. Das Bescha¨ftigungssystem zeigte daher ein hohes Maß an geschlechtsspezifischer Segregation (Entmischung). Zwischen 1882 und 1933 war die u¨berwiegende Mehrheit der weiblichen Bevo¨lkerung (70 bis 80 %) in nicht mehr als fu¨nf Branchen bescha¨ftigt, na¨mlich Nahrung und Genuss, Bekleidung, Textil, Handel sowie Gaststa¨tten und Beherbergung. Es bildeten sich typische Frauenbranchen mit sogenannten Frauenberufen heraus. In neuerer Zeit sind zu diesen Branchen zwei weitere, Gesundheit und Hygiene sowie Erziehung, hinzugekommen. Von einer gleichberechtigten Entwicklung von Frauen im Berufs- und Erwerbsleben ist man in der Bundesrepublik deshalb weiterhin deutlich entfernt. In vormodernen Zeiten waren auch Kinder in vielfa¨ltiger Weise in das Arbeitsleben eingebunden. Eine wohldefinierte Kindheit als altersbedingter Schutzraum kindlicher Entwicklung war lange Zeit weitgehend unbekannt (Arie`s 1975). In der fru¨hen Industrialisierung war Kinderarbeit auch in den Fabriken verbreitet. Kinder arbeiteten zu deutlich geringeren Lo¨hnen und waren leichter zu disziplinieren als Erwachsene. Der genaue Umfang der Kinderarbeit in dieser Phase ist nur schwer abzuscha¨tzen. Ha¨ufig wird er aber auch u¨berscha¨tzt, es handelte sich keinesfalls um ein Massenpha¨nomen (Ritter / Tenfelde 1992, S. 198–202). Dies ist nicht nur auf gesetzliche Vorschriften (> KAPITEL 3.2) zuru ¨ ckzufu¨hren. Auch die qualifikatorischen Anforderungen der Industriearbeit setzten dem Einsatz von Kindern Grenzen. Die scha¨rfere Kontrolle der Schulpflicht wirkte in die gleiche Richtung, und wachsende Familieneinkommen minderten ebenfalls den Druck auf die Familien, ihre Kinder arbeiten zu lassen.
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STRU KTUR E N D E R L OHN AR B EIT I N D EU TSC HL AN D
Fu¨r Preußen wird die Anzahl der Fabrikkinder in den 1840er-Jahren auf etwa 30 000 gescha¨tzt. Sie waren vor allem in jenen Wirtschaftsbereichen zu finden, die sich bereits im Abschwung befanden, z. B. im Textilgewerbe. Wichtiger als fu¨r die Fabriken war Kinderarbeit im Heimgewerbe und in der Landwirtschaft. Dort war die Mitarbeit von Kindern bei Arbeitsspitzen (z. B. wa¨hrend der Ernte) lange Zeit u¨blich und wurde kaum problematisiert. Natu¨rlich waren Kinder in den Haushalten der Bauern und Heimgewerbetreibenden nicht vollberuflich ta¨tig, ihre Mitarbeit beschra¨nkte sich zumeist auf einige Stunden am Tag (Feldenkirchen 1981). Im 20. Jahrhundert war das Problem der Kinderarbeit weit weniger brisant als zuvor. Im Gegenteil kehrte sich das Problem gelegentlich gar um, wenn etwa in Krisenzeiten von wachsender Jugendarbeitslosigkeit die Rede war. Aber nicht nur Geschlecht und Alter determinieren Chancen am Arbeitsmarkt und die Bescha¨ftigungsstruktur. Ein wichtiger Faktor sind berufliche Qualifikationen (> KAPITEL 4). Als letztes strukturierendes Element des Bescha¨ftigungssystems soll daher kurz auf die Bedeutung von Branche und Betriebsgro¨ße eingegangen werden. Bereits seit dem 19. Jahrhundert haben die neu entstehenden Großbetriebe, zuna¨chst der Textil- und Montanindustrie, spa¨ter auch der elektrotechnischen und chemischen Industrie, durch den Aufbau einer Stammbelegschaft versucht, sich von den Vera¨nderungen des betriebsexternen Arbeitsmarktes unabha¨ngig zu machen. Das war deshalb nu¨tzlich und no¨tig, weil das Bescha¨ftigungssystem der fru¨hen Industrialisierung von einer außerordentlich hohen Flexibilita¨t gepra¨gt war. Fluktuationsraten zwischen 50 und 100 %, d. h. ein weitgehender Austausch der Bescha¨ftigten im Laufe eines Jahres, waren keine Seltenheit. Qualifizierte Fachkra¨fte waren allerdings, auch bei einem generellen |berangebot an Arbeitskra¨ften, a¨ußerst knapp. Durch erho¨hte Bescha¨ftigungssicherheit, Anreize verschiedener Art und ho¨here Lo¨hne (Effizienzlo¨hne) wurde daher versucht, Fachkra¨fte mit betriebsbezogener Qualifikation fu¨r la¨ngere Zeit zu binden. Die Folge war die Entstehung quasi betrieblicher Arbeitsma¨rkte (Pierenkemper 1981), in denen Eintritt, Qualifikation, Aufstieg und Gratifikation durch bestimmte betriebliche Regeln bestimmt wurden. Auf diese Weite gewann das jeweilige Unternehmen ein gewisses Maß an Unabha¨ngigkeit von den Entwicklungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Natu¨rlich galten diese Regelungen nur fu¨r einen kleinen Teil der Arbeiterschaft, die „Arbeiteraristokratie“, und fu¨r Teile der Angestellten, nicht fu¨r die gesamte Belegschaft.
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Arbeitende Kinder Landwirtschaft und Heimgewerbe
Wachsende Jugendarbeitslosigkeit
Branche und Betriebsgrkße
Quasi betriebliche Arbeitsmorkte
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Fragen und Anregungen • |berlegen Sie, seit wann Arbeitsma¨rkte fu¨r die Allokation menschlicher Arbeit bestimmend werden und ob sie heute in der modernen Volkswirtschaft u¨berall wirksam sind. • Vergleichen Sie die Bescha¨ftigungsstruktur einer Agrargesellschaft mit der einer Industriegesellschaft. Wo lassen sich heute auf der Erde Beispiele fu¨r diese beiden Gesellschaftstypen finden? • Kinderarbeit ist in modernen Volkswirtschaften weitgehend obsolet – u¨berlegen Sie, ob das u¨berall in der Welt so ist und ob es auch bei der Frauenarbeit Unterschiede in verschiedenen Gesellschaften gibt?
Lektjreempfehlungen rbersichten
• Leonhard Bauer / Herbert Matis: Geburt der Neuzeit. Vom Feudalsystem zur Marktgesellschaft, Mu¨nchen 1989. Untersuchung des gesellschaftlichen Wandels, der zur Entstehung der modernen Volkswirtschaft fu¨hrt. • Robert Castel: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000. Eine allgemeine Gesellschaftsanalyse, aufbauend auf dem Formenwandel der Arbeit in der Neuzeit. • Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und o¨konomische Urspru¨nge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, (1. Auflage 1944) Wien 1977. Grundlegende Analyse der Entstehung und Entfaltung von Marktgesellschaften, auch des Arbeitsmarktes. • Toni Pierenkemper: Bescha¨ftigung und Arbeitsmarkt. Entstehung und Entwicklung der modernen Erwerbsarbeit in Deutschland (1800–2000), Stuttgart 2015.
Forschung
• Dietrich Freiburghaus / Gu¨nther Schmid: Theorie der Segmentierung von Arbeitsma¨rkten. Darstellung und Kritik neuerer Ansa¨tze mit besonderer Beru¨cksichtigung arbeitsmarktpolitischer Konsequenzen, in: Leviathan. Zeitschrift fu¨r Sozialwissenschaft 3, 1975, Heft 3, S. 417–448. Auseinandersetzung mit Ansa¨tzen, die die Homogenita¨tsannahme von Arbeitsma¨rkten aufgegeben haben und einen differenzierteren Zugang suchen.
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FR AG EN UND LE K TrR E E MPFEH LUN GEN
• Ju¨rgen Kocka / Claus Offe (Hg.): Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt a. M. 2000. Aktuelle Zusammenstellung von Ansa¨tzen, die sich den Problemen von Arbeit und Arbeitsma¨rkten in historischer Perspektive na¨hern. • Toni Pierenkemper: Historische Arbeitsmarktforschung. Voru¨berlegungen zu einem Forschungsprogramm, in: ders. / Richard Tilly (Hg.), Historische Arbeitsmarktforschung. Entstehung, Entwicklung und Probleme der Vermarktung von Arbeitskraft, Go¨ttingen 1982, S. 9–36. Beschreibung der Mo¨glichkeiten einer historischen Perspektive auf das Arbeitsmarktgeschehen. • Ju¨rgen Kuczynski: Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, 40 Ba¨nde, Berlin 1961ff. Insbesondere Band 1 bis 4: Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland. • Gerhard A. Ritter (Hg.): Geschichte der Arbeiter und der Arbeitsbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, 14 Bde., Bonn 1990ff. Ambitionierte Reihe, in der zahlreiche renommierte Autoren die Geschichte der Arbeit in der modernen Industriegesellschaft seit dem 18. Jahrhundert nachzeichnen. Beginnend mit Band 1 von Ju¨rgen Kocka: Weder Stand noch Klasse (1990) bis zum mittlerweile erschienenen Band 15 von Peter Hu¨bner, Arbeiter und Technik in der DDR, 1971 bis 1989 (2014). • Frans van der Ven: Sozialgeschichte der Arbeit, 3 Ba¨nde, Mu¨nchen 1971 / 72. Umfassende allgemeinversta¨ndliche Darstellung zum Thema Arbeit von der Antike bis ins 20. Jahrhundert.
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Handbjcher / Lexika
4 Wissen und Kknnen
Gegen den Andrang zur Universita¨t Nachdem Se. K_nigl. Majest\t in Preußen u. s. w. Unser allergn\digster K_nig und Herr erwogen, was gestalt bereits von vielen Zeiten her geklagt worden, daß die Studia in allen Fakult\ten dadurch in Abgang und fast in Verachtung gerathen, weilen ein jeder bis auf Handwerker und Bauern seine S_hne ohne Unterschied der Ingeniorum und Capacit\t studiren und auf Universit\ten und hohen Schulen sumptibus publicis unterhalten lassen will, da doch dem Publico und gemeinen Wesen vielmehr daran gelegen, wann dergleichen zu denen Studiis unf\hige Ingenia bei Manufacturen, Handwerkern und der Militz, ja gar bei dem Ackerbau nach eines jeden Condition und nat^rlicher Zuneigung angewendet, und sie dergestalt ihres Lebens Unterhalt zu verdienen unterwiesen w^rden. Als seynd Se. K_nigl. Majest\t aus Landesv\terlichen treuer Vorsorge veranlasset worden, dahin bedacht zu seyn, welcher gestalt solchen Inconvenientzien remediret, die Studia in vorigen Werth gebracht und das Commodum publicum bef_rdert werden m_ge, zu welchem Ende Se. K_nigl. Majest\t hiermit und Kraft dieses verordnen, auch zugleich allen und jeden Magistr\ten in St\dten und f^rnehmlich denjenigen, sowohl Geistlichen als Weltlichen, welchen die Aufsicht der Schulen anvertraut ist, allergn\digst und ernstlich anbefehlen auf die Jugend in selbigen fleißig acht zu haben, solche selbsten zum _ftern zu visitiren, unter denen Ingeniis, welche zu denen Studiis sich wohl anlassen und von ihrer F\higkeit gute Proben geben, einen Selectum zu machen, und diesen zwar in ihrem Zweck bef_rderlich zu sein, diejenigen aber, welche entweder wegen Stupidit\t, Tr\gheit oder Mangel des Lustes und Triebes, oder auch anderen Ursachen zum Studiren unf\hig seynd, in Zeiten davon ab und zur Erlernung einer Manufactur, Handwerks oder anderen redlichen Profession anzuweisen, selbige auch nicht weiter, als f^rnemlich in dem wahren Christenthum und Fundament der Gottesfurcht, dann auch im Lesen, Schreiben und Rechnen unterweisen und informiren zu lassen, damit nicht, wie es sich wohl zutr\get, Sch^ler von 20 bis 30 Jahren dem Publico und ihnen selbst zur Last, und den Informatoren zur Verkleinerung erfunden werden m_gen. Hieran geschiehet Unser ernstlicher Wille und Meynung. Signatum Charlottenburg, den 25. Aug. 1708.
Friedrich (Gegz.) Graf von Wartenberg. Abbildung 10: Erlass des preußischen Ko¨nigs Friedrich I. (1708)
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Die verzweifelten Bemu¨hungen des preußischen Ko¨nigs Friedrich I. zu Beginn des 18. Jahrhunderts um die Sicherung und o¨konomische Konsolidierung des preußischen Staates schlossen in merkantilistischer Manier auch die Bildungspolitik ein. Neben der Durchsetzung einer allgemeinen Schulpflicht bezogen sie sich auch auf das Hochschulwesen. Ko¨nig Friedrich I. beklagte sich besonders u¨ber die Vergeudung von Ressourcen durch die u¨berma¨ßig hohe Zahl von Studenten in seinem Ko¨nigreich. An den Universita¨ten schienen ihm nur unnu¨tze Dinge vermittelt zu werden, die die jungen Leute von einer nu¨tzlichen Ta¨tigkeit fernhielten. Um das „commodum publicum“, das Gemeinwohl zu fo¨rdern, schien ihm eine sorgfa¨ltige Vorbereitung und Selektion fu¨r den Hochschulzugang geboten, um „Stupidita¨t, Tra¨gheit oder Mangel des Lustes und Triebes“ vorab als Ausschlusskriterium zu bestimmen und den jungen Leuten die „Erlernung einer Manufactur, Handwerks oder anderen redlichen Profession“ anzuempfehlen. Eine „nutzlose“ Alimentierung von Studenten wollte der Ko¨nig offenbar dringend vermeiden. Die Sorge des preußischen Ko¨nigs um die effiziente Nutzung der Arbeitskraft seiner Untertanen war durchaus berechtigt, und die Frage der Qualita¨t und der Effizienz der gesellschaftlichen Arbeit bildet bis heute ein zentrales Problem jeder Volkswirtschaft. Dabei wird immer wieder auf die Wichtigkeit von Bildungsinvestitionen als Voraussetzung des modernen Wirtschaftwachstums verwiesen. Die genaue Funktion von Bildung erscheint dabei jedoch widerspru¨chlich. Dient sie allein der Vervollkommnung des Menschen, wie dies im klassischen Bildungsideal umschrieben wird, so handelt es sich, o¨konomisch gesprochen, um ein Konsumgut: Bildungsaufwendungen dieser Art fließen ausschließlich in den privaten Verbrauch. Dient die Bildung jedoch auch „nu¨tzlichen“ Zwecken, d. h. wird dadurch die Arbeitsleistung und die Arbeitsfa¨higkeit von Menschen verbessert, so ist sie o¨konomisch betrachtet durchaus als Investition anzusehen: sie fo¨rdert die Bildung von Humankapital und stellt so einen wichtigen Produktionsfaktor dar. Es stellt sich also vorderhand die Frage, wie viel und vor allem welche Bildung sich eine Gesellschaft leisten kann und will, wenn sie auf den „Nutzen“ von Bildung schaut. 4.1 Wissen als Produktivkraft 4.2 Wissensgesellschaft und Wissenskkonomie 4.3 Ertroge des Wissens 58
WIS SE N A LS PRODUKT IVK RA FT
4.1 Wissen als Produktivkraft Die Tatsache, dass Bildung, d. h. das Ergebnis der gesellschaftlichen Aufwendungen fu¨r Erziehung und Ausbildung der Kinder und Jugendlichen, auch als Investition zu betrachten ist, hat sich in den Wirtschaftswissenschaften erst in den 1950er-Jahren auf breiter Basis Anerkennung verschafft. Die Bildungso¨konomie entstand als eine wirtschaftswissenschaftliche Teildisziplin. Sie widmete sich insbesondere der Untersuchung gesellschaftlicher Bildungsinvestitionen und dem Umfang und der Akkumulation des sogenannten Humankapitals. Dieses wurde dem Sachkapital als wesentlichem Produktionsfaktor gleichbedeutend zur Seite gestellt. Natu¨rlich haben auch die klassischen }konomen dieses Pha¨nomen und seine Bedeutung bereits erkannt, doch gelang es ihnen noch nicht, diesen Sachverhalt umfassend in ihre o¨konomische Analyse zu integrieren (Borchardt 1965, S. 380–392). Bereits der schottische }konom und Begru¨nder der klassischen Volkswirtschaftslehre Adam Smith hatte in seinem grundlegenden Werk Der Wohlstand der Nationen (1776) darauf hingewiesen, dass o¨konomischer Fortschritt nicht nur durch eine wachsende Arbeitsteilung zu erzielen war, sondern auch eine bessere Nutzung von Wissen einschließt. Der deutsch-russische Wirtschaftswissenschaftler Heinrich von Storch entwickelte gar eine Konzeption „innerer Gu¨ter“ (1818), in der „unko¨rperliche Arbeit“ und Dienstleitungen fu¨r investive Zwecke eine große Rolle spielen. Auch der deutsche Wirtschaftstheoretiker Friedrich List schrieb in seinem Werk Das nationale System der politischen nkonomie von 1841 der gehobenen Ausbildung eine große Bedeutung fu¨r die Produktivita¨t der Arbeit zu. Ein halbes Jahrhundert spa¨ter bezeichnete der britische }konom Alfred Marshall in seinen Principles of Economics (1890) Wissen gar als die kraftvollste Produktionsmaschine. Ernst Engel, der bedeutende preußische Statistiker, hatte bereits 1883 umfangreiche empirische Untersuchungen u¨ber das Bildungswesen im internationalen Vergleich unternommen und dabei auch den Versuch gemacht, den „Ertragswert“ des Menschen als seinen o¨konomischen Nutzen quantitativ zu bestimmen (Engel 1883; Pierenkemper 2012). Diese Arbeiten kann man durchaus als den Beginn der modernen Bildungso¨konomie bezeichnen, auch wenn sie damals noch keinen Eingang in die o¨konomische Theoriebildung fanden (Helmsta¨dter 2006). Wesentliche Gru¨nde fu¨r die Vernachla¨ssigung des Wissens im Rahmen der o¨konomischen Theorie mo¨gen neben der offensichtlichen 59
Bildungskkonomie
„Wissen“ in der historischen Literatur
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Abstraktes und konkretes Wissen
Rjckkopplungen von abstraktem und konkretem Wissen
Technischer Fortschritt
Bedeutung von Sachkapitalinvestitionen fu¨r die industriellen Großunternehmen darin gelegen haben, dass Wissen als mehrdimensionales Pha¨nomen sowohl theoretisch schwer zu fassen als auch empirisch schwierig zu messen ist. Wie schon Ko¨nig Friedrich I. im Eingangszitat bemerkte, ist Bildung bzw. Wissen mindestens in zwei Formen vorfindbar: Zum einen in einer eher abstrakten Form, als Wissensbestand der Gesellschaft, der in allen mo¨glichen Formen (Kunst, Wissenschaft, Vergnu¨gen u. a¨.) seinen Ausdruck findet, zum anderen in einer konkreten, „nu¨tzlichen“ Form als Voraussetzung der Steigerung der Effizienz des bestehenden Produktionssystems, als technisches Wissen. Beide Formen des Wissens lassen sich aber in der Praxis nicht sauber voneinander trennen, sondern sind in vielfa¨ltiger Weise miteinander verknu¨pft (Mokyr 2002). Einerseits bauen na¨mlich die in der Praxis genutzten Techniken auf der abstrakten Wissensbasis einer Gesellschaft auf. So kann man darauf vertrauen, dass die Chance, konkret anwendbares Wissen zu entwickeln, mit dem Umfang der abstrakten Wissensbasis steigt. Doch dieser Zusammenhang ist nicht zwingend. Es finden sich viele Beispiele dafu¨r, dass potenziell nutzbares abstraktes Wissen nicht genutzt wurde, z. B. weil ein Forscher mit seinem Wissen seiner Zeit voraus war. Andererseits ist es auch so, dass praktisch angewandtes Wissen zu einer Ausweitung der Wissensbasis einer Gesellschaft beitra¨gt, also auch das abstrakte Wissen vermehrt. Die zahlreichen praktischen Erfindungen im Zuge der industriellen Revolution in England haben gewiss auch den Wissensbestand der englischen Volkswirtschaft, der bis dahin als eher gering anzusehen war, entscheidend befo¨rdert. Eine positive Ru¨ckkopplung von konkretem und abstraktem Wissen wurde so in Gang gesetzt und der Wissensbestand der gesamten Gesellschaft deutlich vermehrt. Auch wenn beide Formen des Wissens eng verwoben sind, so bleibt doch die Unterscheidung von abstraktem und konkretem Wissen, oder zwischen „Wissen“ (Knowledge) und „Ko¨nnen“ (KnowHow), von entscheidender Bedeutung fu¨r die o¨konomische Analyse von Wissen und Bildung (Machlup 1980, S. XIII). Nur angewandtes Wissen vermag eine stetige Wohlfahrtsmehrung zu bewerkstelligen und damit das Ertragsgesetz außer Kraft zu setzen. Gema¨ß diesem Gesetz fu¨hrt der vermehrte Einsatz von traditionellen Produktionsfaktoren zwar zu weiteren Ertra¨gen, aber je gro¨ßer der Faktoreinsatz wird, desto kleiner werden die zusa¨tzlichen Ertra¨ge (Grenzertra¨ge). Allein durch stetigen technischen Fortschritt vermag eine Gesellschaft 60
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dieses Gesetz abnehmender Grenzertra¨ge zu u¨berwinden und mo¨glicherweise konstante oder gar steigende Grenzertra¨ge zu realisieren (> KAPITEL 6). Die Generierung von Wissen und die Nutzung dieses Wissens als technischen Fortschritt im Produktionsprozess sind also wichtige Bestandteile des modernen Wirtschaftswachstums. Innovationen vielfa¨ltiger Art, insbesondere technische Neuerungen, werden so zum Motor stetigen Wachstums. Die moderne Volkswirtschaft wa¨chst damit in erster Linie nicht extensiv durch eine stetige Ausweitung des Faktoreinsatzes, sondern vornehmlich intensiv durch eine effektivere Nutzung vorhandener Faktoren auf der Basis eines verbreiterten Wissensbestandes. Dieser wird vor allem erreicht durch Investitionen in die Bildung, d. h. in die Qualita¨t des Faktors Arbeit. Zu diesem Zweck sind zahlreiche Institutionen geschaffen worden (Universita¨ten, Forschungseinrichtungen u. a¨.), die einen zunehmenden Anteil der o¨konomischen Ressourcen beno¨tigen. Die o¨konomische Theorie, insbesondere die Wachstumstheorie, hat mittlerweile diesen Zusammenhang auch modelltheoretisch zu erfassen versucht. Die in den 1950er-Jahren entstandene und auf den US-amerikanischen }konomen Robert M. Solow („Solow-Modell“) zuru¨ckgehende neoklassische Wachstumstheorie hatte dabei zuna¨chst den Wissensstand einer Gesellschaft noch als gegeben angenommen und in die Randbedingungen der o¨konomischen Analyse verwiesen. So ließ sich die Wirkung des technischen Fortschritts als Residualgro¨ße lediglich exogen, als Restgro¨ße unbekannter Herkunft, bestimmen, wie bereits fru¨h mit Hinweis auf die Bedeutung des Wissens kritisch angemerkt wurde (Hayek 1945). Der Teil des gesamtwirtschaftlichen Wachstums, der nicht durch eine Erho¨hung der Faktoreinsatzmengen zu erkla¨ren war, wurde dem technischen Fortschritt als unerkla¨rter Rest zugeschrieben, der gleichsam „wie Manna“ vom Himmel fiel. Erst in ju¨ngerer Zeit wurde versucht, diesen wenig zufrieden stellenden Sachverhalt im Rahmen der „neuen“ Wachstumstheorie (Romer 1986) dadurch zu beheben, dass man den technischen Fortschritt endogenisiert, d. h. in den Analysezusammenhang mit einbezieht. Das geschieht in der einfachsten Weise, indem man neben der Kapitalakkumulation auch die Akkumulation von Humankapital in der Beschreibung der Produktionsentwicklung beru¨cksichtigt. In der Regel nimmt man eine historisch gewonnene fixe Wachstumsrate des Humankapitals an, deren Determinanten allerdings genauer zu spezifizieren wa¨ren.
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Innovation als Wachstumsmotor
Wachstumstheorie
Endogenisierung des technischen Fortschritts
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4.2 Wissensgesellschaft und Wissenskkonomie
Produktionsfaktoren
Bedeutung der Natur und der Imagination
Wissen als Produktionsfaktor
Wenn eine makroo¨konomische Produktionsfunktion als analytisches Instrument dazu geeignet sein soll, die gesamtwirtschaftliche Produktion als Ergebnis eines Systems produktiver Faktoren zu beschreiben, so bleibt die Aufgabe, Zahl, Art und Umfang der Produktionsfaktoren genauer zu bestimmen. Die klassischen }konomen waren sich weitgehend daru¨ber einig, dass es drei zentrale Produktionsfaktoren ga¨be: Boden, Arbeit und Kapital. Doch diese klassische Dreiteilung war und blieb immer umstritten. Sahen z. B. die Physiokraten im Boden den alleinigen und ausschließlichen Werte schaffenden Produktionsfaktor, so begrenzten die Neoklassiker die Zahl der maßgeblichen Faktoren auf lediglich zwei: Arbeit und Kapital. Gelegentlich finden sich Vorschla¨ge, auch Arbeitsteilung oder Außenwirtschaft als eigensta¨ndige, Werte schaffende Kra¨fte in die Liste der Produktionsfaktoren einzufu¨gen. Einen interessanten neueren Ansatz dieser Art hat z. B. Hans Christoph Binswanger vorgestellt (Binswanger 2006). Er verweist auf die zentrale Bedeutung der Natur (Ressourcen) und der menschlichen Imagination (Wissen und Ko¨nnen) fu¨r das moderne Wirtschaftswachstum. In der vormodernen traditionellen Wirtschaft bestimmte vor allem die Verfu¨gbarkeit u¨ber naturgegebene Energien die Mo¨glichkeiten wirtschaftlichen Handelns (Malanima 2010). Erst die Erweiterung der energetischen Basis der Gesellschaft durch eine versta¨rkte Nutzung weiterer natu¨rlicher Ressourcen in Verbindung mit der Scho¨pferkraft des menschlichen Geistes im Zuge der Industrialisierung ermo¨glichte ein stetiges Wirtschaftswachstum in den modernen Volkswirtschaften. Auch hier, in der modernen Volkswirtschaft, bleibt die Einbindung von „Natur“ in ihren vielfa¨ltigen Formen ein wesentliches Merkmal des Produktionsprozesses und ihre nachhaltige Nutzung erweist sich zunehmend als Problem. Gleiches gilt auch fu¨r den menschlichen Geist, seine Imaginationskraft und seinen Erfindungsreichtum. Der steigende Aufwand an Forschungs- und Entwicklungskosten in den modernen Volkswirtschaften gibt daru¨ber Auskunft. Ein stetig fortlaufender Innovationsprozess erweist sich als notwendig, um das moderne Wirtschaftswachstum aufrecht zu erhalten (> KAPITEL 6). Insgesamt bleibt festzustellen, dass eine formalisierte Beschreibung des gesamtwirtschaftlichen Produktionszusammenhanges lediglich eine Konvention darstellt, die dem Erkla¨rungszusammenhang ada¨quat sein muss. Deshalb spricht nichts dagegen, in aktuellen Modellierungen zumindest das Wissen als eigensta¨ndigen Produktionsfaktor zu beru¨cksichtigen. 62
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Die Benennung unserer modernen Gesellschaft als Wissensgesellschaft oder Wissenso¨konomie ru¨ckt diesen Zusammenhang in den Vordergrund (Stehr 1994). Damit ist gemeint, dass erstens in der modernen }konomie der Ertrag der traditionellen Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital gegenu¨ber den Ertra¨gen des Wissens immer weiter zuru¨cktritt, d. h. die Rentabilita¨t von Bildungsinvestitionen u¨berdurchschnittlich ist. Das hat zweitens zur Folge, dass in einer derartigen Gesellschaft Wissen mehr als Arbeit und Eigentum o¨konomische Aktivita¨ten und soziale Chancen bestimmt. Drittens ist festzuhalten, dass eine Entwicklung hin zur Vorherrschaft des Wissens als bedeutendster Produktivkraft sich als ein nur allma¨hlich fortschreitender Prozess vollzieht und zudem auch an weitere Kapitalakkumulation gebunden ist. Letztlich und viertens erweist es sich, dass der Einfluss von Kultur auf das wirtschaftliche Geschehen stetig zunimmt, je weiter der Prozess der Wissensakkumulation voranschreitet (Stehr / Bo¨hme 1986). Wissensgesellschaft in diesem umfassenden Sinne ist damit weit mehr als nur eine Wissenso¨konomie. Sie umfasst alle Bereiche der Gesellschaft und nicht nur die der gesellschaftlichen Produktion. Sie u¨berwindet die reine Industriegesellschaft und entwickelt sich zu einer Gesellschaft, die man als postindustriell bezeichnen kann. Dieser Gesellschaftsentwurf war urspru¨nglich von dem US-amerikanischen Soziologen Daniel Bell (1973) als Kritik an der Sektortheorie formuliert worden, in der er eine zwangsla¨ufige Entwicklung von der Agrar-, u¨ber die Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft postuliert. In der postindustriellen Gesellschaft werde die Bedeutung der }konomie insgesamt zuru¨ckgedra¨ngt, weil Wissen an die Stelle der bis dahin dominierenden o¨konomischen Potenzen treten und zwangsla¨ufig daraus ein |berwiegen von Dienstleistungen gegenu¨ber der Produktion resultieren werde. Daraus erga¨ben sich, so die Vertreter dieses Ansatzes, zweierlei Konsequenzen: Einerseits werde der technische Wandel weitestgehend durch die Wissenschaft als dem prima¨ren Produzenten neuen Wissens gepra¨gt, andererseits werde sich die Form der erbrachten Dienstleistungen entscheidend vera¨ndern. Nicht mehr einfache, perso¨nliche und haushaltsbezogene Dienstleistungen oder Transportdienstleistungen wu¨rden dominieren, sondern akademisch begru¨ndete Dienste (> KAPITEL 9). Ga¨nzlich neue Berufe (z. B. in Beratung und Gestaltung) ko¨nnten hervortreten und eine neue Klasse von „Dienstleistungsarbeitern“ entstehen lassen – mit allen Konsequenzen fu¨r die Vera¨nderungen in der Sozialstruktur. Die „Knowledge-Society“ (Lane 1966) u¨berwindet also die Vorstellung 63
Wissensgesellschaft
Postindustrielle Gesellschaft
Rolle der Wissenschaft
„Knowledge-Society“
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Produktionsfaktor „Wissen“ ist hochproduktiv
Gesellschaftliche Arbeitsteilung
von Wissenschaft als untergeordnetem Subsystem der Gesellschaft und weist ihr eine dominante, allen u¨brigen Systemen u¨bergeordnete Rolle zu. Aus o¨konomischer Sicht ist an der Knowledge-Society vor allem von Bedeutung, dass neben der gesellschaftlich strukturierenden Funktion von Wissen auch seine Produktivkraft nochmals unterstrichen wird. Das Wissen ersetzt quasi den Faktor Boden in der klassischen Produktionsfunktion, sodass in der modernen Volkswirtschaft Kapital, Arbeit und Wissen entscheidend den gesamtwirtschaftlichen Ertrag determinieren. Nicht zufa¨llig tra¨gt eines der wichtigen Werke zum Thema den Titel Arbeit, Eigentum, Wissen (Stehr 1994). Der Produktionsfaktor Wissen erbringt hohe Ertra¨ge, weil die Wissensproduktion im Rahmen der Wissenschaften mit hoher Intensita¨t betrieben wird. Wissen in diesem umfassenden Sinne bedeutet aber nicht nur wissenschaftlich gewonnenes Wissen. Wissen als Fa¨higkeit zum sozialen Handeln verstanden (Stehr) impliziert vielmehr mehr als nur Knowledge, sondern auch Know-How, „Ko¨nnen“, und daru¨ber hinaus soziale Kompetenz. Ein erweitertes Versta¨ndnis von Wissen ist hier unterstellt, also konkretes Wissen der Praxis eingeschlossen. Umfang und Verfu¨gbarkeit dieser beiden Dimensionen gesellschaftlichen Wissens, Knowledge und Know-How, ha¨ngen nun wiederum vom Entwicklungsstand einer Gesellschaft ab und sind damit ru¨ckgekoppelt mit der gesellschaftlichen Entwicklung und dem o¨konomischen Strukturwandel. Ein zweiter Sachverhalt der Wissensgesellschaft erscheint, neben der Bedeutung von Wissen als Produktivkraft, o¨konomisch ebenfalls als außerordentlich relevant: die Bedeutung des Wissens fu¨r die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Das Entstehen einer neuen Arbeiterklasse der Dienstleistungsarbeiter la¨sst neue Formen der Arbeit in der Wissensgesellschaft deutlich hervortreten. Experten, Berater, Ratgeber und andere Gruppen formieren eine „neue Elite“ (Bell 1973) der auf Wissen basierenden Berufe der „Wissensdienstleister“. Ihre Aufgaben gehen ha¨ufig weit u¨ber die bloße Vermittlung von Dienstleistungen hinaus und beziehen z. B. die Mediation von Interessenkonflikten, die Organisation neuer Aufgaben oder die Einfu¨hrung von Neuerungen mit ein. Das liegt z. T. daran, dass komplexes Wissen nur selten selbstversta¨ndlich, sondern ha¨ufig erkla¨rungs- und interpretationsbedu¨rftig ist. Die Implementierung neuen Wissens, wie auch eine Neukombination vorhandenen Wissens, stellt einen stetigen, beratungsbedu¨rftigen Prozess dar. 64
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Blickt man auf die historische Entwicklung in Deutschland zuru¨ck, so finden sich die Wurzeln der modernen Wissensgesellschaft spa¨testens im 19. Jahrhundert. Auch hier hat die Industrialisierung wesentlich zum Ausbau bestehender und zur Begru¨ndung neuer Institutionen der Wissensproduktion beigetragen. Die deutschen Universita¨ten waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch stark geisteswissenschaftlich gepra¨gt. Die Humboldtsche Bildungsreform um 1810 versta¨rkte diese Orientierung, die z. B. im Aufstieg der Geschichtswissenschaft ihren Ausdruck fand. Erst ab den 1840er-Jahren ließ sich auch in Deutschland ein Aufschwung der exakten Wissenschaften bzw. der Naturwissenschaften beobachten. In Frankreich und England hatte diese Entwicklung bereits fru¨her eingesetzt. Die neuen experimentellen Methoden, verbunden mit einer exakteren Messtechnik, den systematischen Fragen und theoretisch begru¨ndeten Erkla¨rungsversuchen, waren in der Chemie besonders erfolgreich. 1824 errichtete Justus von Liebig in Gießen ein zukunftsweisendes Forschungslabor, Otto Linne´ Erdmann experimentierte seit 1831 in Leipzig, Friedrich Wo¨hler seit 1836 in Go¨ttingen und Robert Wilhelm Bunsen seit 1839 in Kassel und Marburg. Die Pharmaforschung wurde außerhalb der Universita¨ten durch Apotheker vorangetrieben (Heinrich Emanuel Merck, Carl Remigius Fresenius, Johann Bartholoma¨us Trommsdorff). Im Rahmen dieser fru¨hen chemischen Forschungen entwickelten sich an deutschen Universita¨ten zwei zukunftsweisende Wissenschaftsprinzipien, die Einheit von Forschung und Lehre sowie ihre Freiheit und Unabha¨ngigkeit in Bezug auf Obrigkeit und Wirtschaftsinteressen. Preis dieses elita¨ren Wissenschaftsversta¨ndnisses waren Praxisferne und Mangel an technischer Umsetzung. Aus dieser Erfahrung heraus versuchte eine Reihe deutscher Staaten sehr bald sta¨rker praxisorientierte Ausbildungssta¨tten wissenschaftlicher Art zu gru¨nden. Sie konnten dabei an zahlreiche Schulen des Bau- und Bergwesens, an Veterina¨rkollegs u. a¨. anknu¨pfen. Gerade auch im u¨berwiegend staatlich kontrollierten Metallbergbau der Fru¨hen Neuzeit in Mitteleuropa spielte eine qualifizierte bergma¨nnische Ausbildung eine bedeutende Rolle. Man kann deshalb in diesem Wirtschaftsbereich bereits seit dem Mittelalter die Herausbildung einer kameralistisch gepra¨gten „Wissenskultur“ beobachten (Vogel 2013). In der Neuzeit wurde das bis dahin angesammelte bergma¨nnische Wissen dann systematisiert und auf vielfa¨ltige Weise erweitert. Dabei war die Begru¨ndung von Bergakademien in Freiberg in Sachsen und in Schemnitz in Neu-Ungarn (Slowenien) von außer65
Wurzeln der modernen Wissensgesellschaft
Universitoten
Aufschwung der Naturwissenschaften
Bergmonnische Ausbildung
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Technische Hochschulen
Vereine, Stiftungen, wissenschaftliche Gesellschaften
ordentlicher Bedeutung. Zur Mehrung des Wissens u¨ber den Bergbau trugen daru¨ber hinaus auch die wissenschaftlichen Arbeiten von Bergbeamten, die Begru¨ndung von Fachzeitschriften und eine reichhaltige Fachliteratur sowie ausgedehnte Forschungs- und Erkundungsreisen ebenfalls bei. Allerdings wurden diesen Bemu¨hungen um einen freien Austausch von Wissen und Kenntnissen auch Widersta¨nde durch den zu¨nftlerisch organisierten Privatbergbau entgegengesetzt, weil die privaten Gewerke um den Verlust ihrer Berufs- und Gescha¨ftsgeheimnisse fu¨rchteten. Mit der 1794 in Paris geschaffenen „E´cole Polytechnique“ und den daran orientierten Gru¨ndungen Polytechnischer Institute in Prag (1806) und Wien (1815) hatten auch die deutschen Staaten gla¨nzende Vorbilder zur Gru¨ndung Technischer Hochschulen vor Augen. Diesen folgte in Baden als erste 1825 die Karlsruher Polytechnische Schule als Fusion einer bestehenden Bau- und einer Ingenieurschule. Nur ein Jahr spa¨ter folgte Sachsen mit einer Gru¨ndung in Dresden, 1827 Mu¨nchen, 1828 Stuttgart, sodass bis 1910 in Deutschland insgesamt elf Technische Hochschulen entstanden waren. Bei diesen Gru¨ndungen standen von Anfang an gewerblich industrielle Interessen im Vordergrund, die auch regionale Sonderinteressen (wie z. B. bei der Gru¨ndung der TH Aachen 1874 die Interessen der rheinischwestfa¨lischen Schwerindustrie) mit beru¨cksichtigten. Eine sta¨rkere wissenschaftliche Orientierung der Technischen Hochschulen vollzog sich erst im Zuge ihres Ausbaus und fand z. B. in der Verleihung des Promotionsrechts 1899 ihren Ausdruck. Auch vielfa¨ltige private Initiativen fo¨rderten im 19. Jahrhundert eine Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und damit die Entstehung einer Wissenschaftslandschaft in Deutschland. Private Vereine, Stiftungen und wissenschaftliche Gesellschaften wurden hier in vielfa¨ltiger Weise aktiv. Sie verfolgten im weitesten Sinne gemeinnu¨tzige Ziele, aber eben auch die Fo¨rderung der Wissenschaft und der scho¨nen Ku¨nste. Zu nennen sind hier z. B. die Polytechnische Gesellschaft in Frankfurt a. M. (1816), aber auch berufssta¨ndische Vereine wie die Gesellschaft der Naturforscher und ~rzte (1822), der Verein deutscher Ingenieure (1856) und die Deutsche Chemische Gesellschaft (1868). Ebenso wurde auch der Staat in diesem Zusammenhang aktiv und war z. B. an der Gru¨ndung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (1887) beteiligt, mit der eine Tradition staatlich organisierter Forschung außerhalb der Universita¨ten mit dem expliziten Ziel der Industriefo¨rderung begru¨ndet wurde. Weitere o¨ffentliche wissenschaftliche Einrichtungen entstanden auf direkte 66
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Initiative der Industrie. Die Farbwerke Hoechst gru¨ndeten 1891 das Robert-Koch-Institut und 1896 das Paul-Ehrlich-Institut, die CarlZeiss-Stiftung fo¨rderte seit 1895 die wissenschaftliche Forschung, und die Robert-Bosch-Stiftung tat es ihr seit 1910 nach. 1908 war der Verein Chemische Reichsanstalt nach dem Vorbild der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt gegru¨ndet worden. Diese Initiative war auch in soweit erfolgreich, als dass 1911 als gemeinsame Institution der Reichsanstalten die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (heute MaxPlanck-Gesellschaft) gegru¨ndet wurde. Aber nicht nur im o¨ffentlichen Bereich, auch in den Unternehmen selbst war die Industrie inzwischen aktiv geworden und hatte eine eigene wissenschaftliche Forschung begru¨ndet. Der Beginn einer Industrieforschung la¨sst sich mo¨glicherweise mit der Einrichtung eines Laboratoriums fu¨r Stahl- und Rohstoffanalyse in der Kruppschen Gussstahlfabrik im Jahre 1867 datieren, obwohl dessen Hauptaufgabe zuna¨chst noch vornehmlich im Bereich der Qualita¨tskontrolle lag. Die Einrichtung eines Forschungslaboratoriums bei Siemens & Halske 1872 diente dann tatsa¨chlich der Gewinnung neuer wissenschaftlicher und dann praktisch verwendbarer Erkenntnisse. Gleiches galt fu¨r das ka¨ltetechnische Labor bei Linde (1879) und das glastechnische Labor in den Zeisswerken (1882) sowie fu¨r die chemischen Laboratorien bei Hoechst, BASF (1883) und Bayer (1885). Inwieweit diese vielfa¨ltigen Bemu¨hungen von Erfolg gekro¨nt waren, ist schwer abzuscha¨tzen. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Forschungsbemu¨hungen, gesamtwirtschaftlichem Wachstum und einzelwirtschaftlichem Unternehmenserfolg ist kaum zu bemessen. Forschung und noch viel mehr Grundlagenforschung ist nicht unmittelbar rentabel. Nach empirischen Scha¨tzungen zahlen sich Aufwendungen fu¨r Grundlagenforschung auch heute erst in ca. 30 Jahren aus. Eine direkte Korrelation mit dem Betriebserfolg ist nicht zu erkennen. Andererseits ist der Zusammenhang zwischen Industrialisierung, Wirtschaftswachstum und technologisch-wissenschaftlicher Entwicklung zu augenfa¨llig, als dass er ignoriert werden ko¨nnte (Weber 2004, S. 607–628). Der Umfang des verfu¨gbaren Wissens und die Gewinnung neuen Wissens ko¨nnen als maßgebliche Faktoren fu¨r Industrialisierung und Wirtschaftswachstum wohl kaum zu hoch eingescha¨tzt werden. Zwar hat es auch vor der Industriellen Revolution in England gelegentlich Schu¨be technologischer Innovationen gegeben, wie z. B. die Ausbreitung von Wassermu¨hlen im spa¨ten Mittelalter, doch gelang es zuvor niemals, diesen Neuerungsprozess zu verfesti67
Industrieforschung
Erfolge der Grundlagenforschung
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Wissenschaftliche Revolution
gen. Sehr bald waren diese Produktivita¨tseffekte verpufft und durch eine wachsende Bevo¨lkerung wieder aufgezehrt. Ein modernes Wirtschaftswachstum (> KAPITEL 2) konnte dadurch nicht in Gang gesetzt werden. Das neue, verwertbare Wissen war offenbar eher zufa¨llig, nicht in vorhersehbarer Weise gewonnen worden. Die Voraussetzung fu¨r die Industrielle Revolution bildete deshalb eine wissenschaftliche Revolution (Ortner 2006), die einen Fortschritt im Wissensbestand, hervorgerufen wie z. B. durch Galilei, Kopernikus und Newton, und eine neue wissenschaftliche Methode voraussetzte, wie sie seit dem 16. Jahrhundert etwa durch Francis Bacon entwickelt worden war. Diese neue Methode erlaubte, jenseits aller metaphysischen Weltinterpretationen, durch Beobachtung und Experiment und die daraus hergeleiteten Schlussfolgerungen, einen stetigen Wissenszugewinn und die Eliminierung von Irrtu¨mern. Die fu¨r Deutschland im 19. Jahrhundert erfolgte Institutionalisierung wissenschaftlicher Forschung, die damit verbundene Routinisierung wissenschaftlichen Arbeitens und die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der gesellschaftlichen Produktion waren eine spa¨te Auswirkung der wissenschaftlichen Revolution in der fru¨hen Neuzeit. Die Menschen hatten eine Methode zur Generierung von Erfindungen erfunden.
4.3 Ertroge des Wissens
Humankapitalbildung als strategischer Wachstumsfaktor
Diese „Erfindung“ wirkte sich fu¨r die betroffenen Volkswirtschaften außerordentlich segensreich aus. War die vormoderne Wirtschaft bestenfalls mit Raten um ca. 0,2 % ja¨hrlich gewachsen (1700 bis 1820), so vervielfachte sich das Tempo des Wachstums der gesellschaftlichen Wohlfahrt im Zuge der Industrialisierung in den europa¨ischen Staaten auf 1,2 bis 2,0 % (> KAPITEL 2.3). Es ist wohl vor allem die Lernfa¨higkeit der Menschen gewesen, die sich in dieser Rate niederschlug. Daher bildet die Verbesserung der Lernfa¨higkeit, die Generierung von Wissen, die Humankapitalbildung oder wie immer man dieses Faktum bezeichnen will, den strategischen Faktor fu¨r wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftlichen Fortschritt. Variationen in der Rate des tatsa¨chlich realisierten Wachstums lassen sich auf exogene Schocks und institutionelle Rahmenbedingungen zuru¨ckfu¨hren. Die Lernfa¨higkeit des Menschen, die Akkumulation von Wissen in der Gesellschaft und dessen Anwendung in der Wirtschaft, bringt daher einen bemerkenswerten Nutzen, der sich in einer erho¨hten Wachstumsrate niederschla¨gt. Dies ist die gesamtwirtschaftliche Sicht
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ERTR tGE D E S WISS E NS
der Dinge. Es bleibt aber die Frage, wie sich die Wohlfahrtsgewinne in der Gesellschaft verteilen, ob tatsa¨chlich auch jene von den Fru¨chten der Wissensakkumulation profitieren, die sich den Mu¨hen des Erwerbs einer ho¨heren Bildung unterzogen haben. Diesen Fragen nach der Rentabilita¨t von Bildungsinvestitionen, gesamtwirtschaftlich und individuell, widmet sich die Bildungso¨konomie, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA begru¨ndet wurde. Die Beobachtung, dass das dynamische Wachstum der Nachkriegszeit nur zum geringsten Teil auf einen erho¨hten Faktoreinsatz zuru¨ckzufu¨hren war, verweist auf die Tatsache, dass es vor allem die verbesserte Qualita¨t der Faktoren war, die die Produktivita¨t entscheidend erho¨hte. Verschiedene Untersuchungen u¨ber die US-Wirtschaft kamen zu dem Schluss, dass große Teile des Wachstums in den USA einer ho¨heren Bildung der Bevo¨lkerung zu verdanken waren. Fu¨r den Zeitraum von 1929 bis 1957 rechnete man 23 % des gesamtwirtschaftlichen Wachstums der Humankapitalakkumulation zu (Denison 1966), fu¨r den Zeitraum von 1960 bis 1980 betrug dieser Wert 19 %. Andere Autoren kommen zu a¨hnlichen, im Zeitablauf zwar schwankenden, manchmal aber noch deutlich ho¨her liegenden Bildungsertra¨gen der amerikanischen Volkswirtschaft im 20. Jahrhundert (Schultz 1961, S. 46–88; Engerman 1971). ~hnliches la¨sst sich auch fu¨r die modernen Volkswirtschaften in Europa vermuten, wo sich ja das außerordentlich hohe Wachstumstempo ebenfalls durch eine Steigerung der Produktivita¨t der Faktoren und nicht allein durch erho¨hte Einsatzmengen erkla¨ren la¨sst. Den Umfang und Wert dieser Bildungsinvestitionen genauer zu bestimmen, erweist sich hingegen als außerordentlich schwierig. Man kann ihren Umfang nicht direkt messen, sondern ist auf Hilfsgro¨ßen, wie z. B. Dauer des durchschnittlichen Schulbesuchs, Anteil der Hochschu¨ler pro Jahrgang, o¨ffentliche Ausgaben fu¨r die Bildung, Aufwendungen fu¨r Forschung und Entwicklung u. a¨., angewiesen. Alle diese Gro¨ßen messen lediglich den Aufwand, mit dem Wissen gesichert und generiert wird, nicht jedoch den Ertrag, der damit erzielt werden kann. Erwartet wird jedoch, dass bessere Bildung irgendwie schon zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum beitragen wird. Beru¨cksichtigt werden muss allerdings auch, dass ein beachtlicher Teil der Bildungsaufwendungen dem unmittelbaren Konsum der Bevo¨lkerung dient und nicht o¨konomisch genutzt werden kann. Ein hoher Bildungsstand der Bevo¨lkerung garantiert eben noch nicht seine effiziente Nutzung in der Produktion. Blickt man auf die Gegenwart der Bundesrepublik, so zeigt der Bildungsstand der Bevo¨lkerung trotz allen Wehklagens bislang eine 69
Verteilung der Wohlfahrtsgewinne
Bildungsertroge in den USA
Messgrkßen fjr den Erfolg von Bildungsinvestitionen
Bildungsstand in Deutschland
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Bildungsrendite
international außerordentlich gute Position. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft liegt Deutschland, was den status quo des gegebenen Wissens angeht, auf Rang 3 (Institut der deutschen Wirtschaft 2007b), doch mangelt es an der Aktualisierung dieses Wissens gemessen an Weiterbildungsmaßnahmen (Rang 22) und an der Ausnutzung des Wissenspotenzials in Form einer angemessenen Arbeitsdauer (Rang 24), sodass insgesamt Deutschland nur auf Rang 17 der internationalen Skala des Bildungsstandes gefu¨hrt wird. Andere Indikatoren, wie z. B. der Anteil forschungsintensiver Industrien an der gesamtwirtschaftlichen Wertscho¨pfung, der Anteil forschungsintensiver Unternehmen und der Anteil forschungsintensiver Produkte am Export weisen darauf hin, dass Deutschland den Wettlauf um zuku¨nftige Ma¨rkte jedoch noch lange nicht verloren hat (Kro¨her / Mu¨ller 2007, S. 126). Lohnen sich Bildungsanstrengungen aber auch fu¨r den Einzelnen? Die privaten Aufwendungen fu¨r die Ausbildung in den USA zwischen 1939 und 1958 rentierten sich in beachtlichem Maße. Eine HighSchool-Ausbildung erbrachte dort eine Bildungsrendite (also einen Zugewinn an Arbeitseinkommen durch zusa¨tzliche Bildungsmaßnahmen) zwischen 16 und 28 %, eine College-Ausbildung eine solche von 12 bis 14 % (Engerman 1971, S. 249). Der hohe private Nutzen einer guten Schul- und Hochschulausbildung besta¨tigt sich in vielen La¨ndern und fu¨r unterschiedliche Zeitra¨ume (Laer 1977, S. 41). Die in Bildung investierten Aufwendungen der privaten Haushalte zahlen sich demnach in ho¨heren Lebenseinkommen aus. Das gilt allerdings nicht fu¨r alle Berufe und alle Studienrichtungen im gleichen Maße. Eine neuere Untersuchung des Centrum fu¨r Hochschulentwicklung (CHE) kommt zu dem Ergebnis, dass zahlreiche Studienga¨nge an den Hochschulen zu beachtlichen Bildungsrenditen fu¨hren, zeigt allerdings auch, dass manche Studienga¨nge nur geringe oder gar negative Renditen (Verluste) erwarten lassen (Ohlendorf 2003). Fu¨r Medizinstudenten verzinsen sich demnach die Bildungsaufwendungen mit einer Rate von 11,62 %, fu¨r Juristen mit 9,14 % und fu¨r Betriebswirte immerhin noch mit 6,3 %. Das Studium der evangelischen Theologie weist hingegen eine negative Bildungsrendite von 4,79 % und Germanistik oder Anglistik sogar eine von minus 5,73 % auf. Langfristig la¨sst sich sogar noch ein weiterer Anstieg der Bildungsrenditen erwarten, ebenso wie eine Angleichung der heute noch bestehenden Unterschiede zwischen Ma¨nnern und Frauen hinsichtlich ihrer Bildungsertra¨ge.
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Fragen und Anregungen • Sie unterziehen sich derzeit einer gehobenen Ausbildung. Haben Sie einmal durchgerechnet, ob sich das finanziell fu¨r Sie auszahlt, oder ob es nicht lukrativer gewesen wa¨re, fru¨hzeitig einer Erwerbsta¨tigkeit nachzugehen? Was wu¨rden Sie Friedrich I. angesichts seiner Behauptung „nutzlosen“ Wissens entgegenhalten? • Frankreich galt im 18. Jahrhundert als fortschrittlichster Ort von Wissenschaft und Bildung, doch die Industrielle Revolution nahm im eher ru¨cksta¨ndigen England ihren Ausgang. Spielte der geringere Bildungsstand dafu¨r eine Rolle und warum war z. B. das kulturell so hoch stehende China nicht am Industrialisierungsprozess des 19. Jahrhunderts beteiligt? • Ergibt es u¨berhaupt Sinn, den o¨konomischen „Wert“ eines Menschen zu berechnen? Wie ko¨nnte sich so etwas bewerkstelligen lassen?
Lektjreempfehlungen • Knut Borchardt: Zum Problem der Erziehungs- und Ausbildungsinvestitionen im 19. Jahrhundert, in: Hermann Aubin (Hg.), Beitra¨ge zur Wirtschafts- und Stadtgeschichte. Festschrift fu¨r Hektor Ammann, Wiesbaden 1965, S. 380–392. Fru¨he Thematisierung von Wissen und Bildung fu¨r die deutsche Industrialisierung. • Edward F. Denison: Why Growth Rates Differ. Postwar Experience in Nine Western Countries, Washington D. C. 1967. Umfassende Analyse der Wachstumsfaktoren der westeuropa¨ischen und USamerikanischen Nachkriegswirtschaft mit Hinweisen auf die Bedeutung von Erziehung und Bildung. • Hermann von Laer: Industrialisierung und Qualita¨t der Arbeit. Eine bildungso¨konomische Untersuchung fu¨r das 19. Jahrhundert, New York 1977. Eine erste Untersuchung u¨ber die Bedeutung von Bildungsinvestitionen in Deutschland. • Joel Mokyr: The Gifts of Athena. Historical Origins of the Knowledge Economy, Princeton 2002. Wichtige neuere Arbeit zur Bedeutung von Wissen im Prozess wirtschaftlichen Wachstums. • Nico Stehr: Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen mkonomie, Frankfurt a. M. 2001. Verdienstvolle Untersuchung u¨ber die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Wachstums. 71
Forschung
5 Kapital und Investitionen
Abbildung 11: Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen nkonomie. Erster Band, Titelblatt der Erstausgabe (1867)
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Nur wenige Bu¨cher haben die Weltgeschichte mehr beeinflusst als „Das Kapital“ von Karl Marx, das im Jahr 1867 erschien. Darin unternimmt Marx nicht weniger als den Versuch, das Bewegungsgesetz der Geschichte zu ergru¨nden, das er in der Logik der Kapitalakkumulation der Klassengesellschaft gefunden zu haben glaubte. Damit war zugleich dem neuen Zeitalter und dem neuen Gesellschaftssystem eine Chiffre zugewiesen: „Kapitalismus“. Dieses Interpretationsmuster fasziniert bis heute. Es lieferte nahezu ein Jahrhundert lang die Grundidee fu¨r den Auf- und Ausbau eines sozialistischen Weltsystems und gab auch der Wissenschaft vielfa¨ltige Anregungen fu¨r Interpretationen der historischen Entwicklung. Noch immer gibt es eine Reihe von Staaten, die sich auf die Lehren des Marxismus-Leninismus beziehen (Kuba) oder diese neu fu¨r sich zu entdecken scheinen (Hugo Chavez in Venezuela). Und auch ein Teil der Globalisierungskritiker beruft sich auf die Lehren von Karl Marx. Der Mythos von „Das Kapital“ lebt also weiter. Der Mythos „Kapital“ dient dabei durchaus unterschiedlichen Zwecken. Begreifen die einen Kapital als zentralen Bestandteil einer Soziologie kapitalistischer Dynamik (Deutschmann 2009), machen die anderen „Kapitalismus“ zu einem Totschlagargument der politischen Auseinandersetzung. Doch erst wenn der derart weit gespannte Kapitalbegriff im Hinblick auf seine Bedeutung fu¨r die wirtschaftliche Entwicklung pra¨zisiert wird, kann er die Entstehungsbedingungen der modernen Volkswirtschaft erhellen. Dabei muss das Sachkapital als entscheidender Faktor im gesamtwirtschaftlichen Produktionsprozess isoliert betrachtet und vom Geld- und Humankapital unterschieden werden. Schließlich stellten Aufbau und Ausweitung des (Sach-)Kapitalstocks eine wesentliche Voraussetzung fu¨r den |bergang einer vormodernen Wirtschaft in den Prozess des modernen Wirtschaftswachstums dar. Dieser Prozess setzte im 18. Jahrhundert zuna¨chst in Großbritannien ein und erfolgte im 19. Jahrhundert auch in Deutschland. Erst sehr langsam orientierte sich das Bankensystem hin zu der neuen Aufgabe der Industriefinanzierung. 5.1 Kapitalbildung in Großbritannien wohrend der Industriellen Revolution 5.2 Kapitalbildung in Deutschland 5.3 Kapital und Banken in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert 74
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5.1 Kapitalbildung in Großbritannien wohrend der Industriellen Revolution Versucht man den „Mythos Kapital“ zu dechiffrieren, so ist man gehalten, seinen empirischen Gehalt zu bestimmen. Dazu bedarf es einer genaueren Umschreibung des Gegenstandes. Kapital wird im Sinne eines gesamtwirtschaftlichen Produktionszusammenhangs als „Sachkapital“ begriffen, verko¨rpert in Anlagen und Geba¨uden; es wird von „Geldkapital“ und „Humankapital“ abgegrenzt. Dieses Sachkapital bildet den Kapitalstock einer Volkswirtschaft und besteht aus deren sachlichen Produktionsmitteln. Die Bildung dieses Sachkapitals erfolgt aus Investitionen, die aus den Ersparnissen der Gesellschaft geta¨tigt werden mu¨ssen. Dies war in den vormodernen Armutsgesellschaften ein außerordentlich schwieriges Unterfangen, weil aus dem gesamtwirtschaftlichen Produkt wegen der Not der Mehrheit der Bevo¨lkerung kaum etwas zur Ersparnisbildung abgezweigt werden konnte. Wa¨hrend der Industriellen Revolution in England gelang es erstmals, diesen „circulus vitiosus“, den Teufelskreis zwischen Armut und Stagnation der vormodernen Wirtschaft, zu durchbrechen und eine hinreichende Menge von Geldkapital zur Finanzierung von Investitionen in Sachkapital zu mobilisieren. Damit konnten der Prozess des modernen Wirtschaftswachstums (> KAPITEL 2) in Gang gesetzt und langfristig die vorindustrielle Armut u¨berwunden werden. Sachkapitalbildung ist demnach vom Vorhandensein gesellschaftlicher Ersparnisse abha¨ngig. Daru¨ber hinaus muss es in der Gesellschaft Personen und Personengruppen geben, die bereit und in der Lage sind, entsprechende Investitionen in Fabrikanlagen vorzunehmen, die damit verbundenen Risiken zu tragen und sie erfolgreich zu Ende zu bringen. Der moderne Unternehmer (Mathias 1983, S. 136–148) entspricht diesem Typus und unterscheidet sich dadurch deutlich vom vormodernen Kaufmann. Da tatendurstige und risikobereite „entrepreneurs“ nicht auch unbedingt u¨ber entsprechende Ersparnisse verfu¨gen, bedarf es eines Mechanismus, der die gesellschaftlichen Ersparnisse in die Ha¨nde der risikobereiten Unternehmer leitet. Zur Finanzierung entsprechender Investitionen musste sich daher zu Beginn der Neuzeit erst allma¨hlich ein Kapitalmarkt herausbilden. All dies geschah zuerst in Großbritannien gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Scha¨tzungen u¨ber den Umfang der Kapitalbildung in Großbritannien finden sich bereits fu¨r die Mitte des 18. Jahrhunderts. Von 1761 bis 1770 sollen ja¨hrlich lediglich 4,3 Millionen Pfund investiert wor-
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Mythos Kapital
Teufelskreis zwischen Armut und Stagnation
Der moderne Unternehmer
Kapitalstock um 1770
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Sprunghafter Anstieg
Public property
den sein. Davon mussten allein 3,7 Millionen Pfund fu¨r den Erhalt des bestehenden Kapitalstocks aufgewendet werden (Abschreibungen). Demnach blieben nur 0,6 Millionen Pfund fu¨r die Nettokapitalbildung, d. h. fu¨r den Zuwachs zum Kapitalstock u¨brig. Das war recht bescheiden im Vergleich zum Sozialprodukt. Das Sozialprodukt von England und Wales kann fu¨r die Jahre um 1770 auf etwa 230 Millionen Pfund gescha¨tzt werden (Deane / Cole 1969, S. 156), der Gesamtkapitalstock umfasste im gleichen Zeitraum nur etwa 262 Millionen Pfund (Feinstein / Pollard 1988, S. 277), heute hingegen ein Vielfaches des Sozialprodukts. Zu Beginn der Industriellen Revolution war der Kapitalstock in England also relativ klein und der Umfang der Nettoinvestitionen a¨ußerst gering. In den folgenden Dekaden stieg die Kapitalbildung jedoch sprunghaft an. Die Nettokapitalbildung pro Jahr vervielfachte sich z. B. bis ins erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts auf 12 Millionen Pfund ja¨hrlich und der Gesamtkapitalstock wuchs auf 1,14 Milliarden Pfund. Auch in der Struktur des Kapitalstocks zeigten sich gravierende und fu¨r die Entstehung einer modernen Volkswirtschaft charakteristische Vera¨nderungen. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Situation am Ende des 18. Jahrhunderts mit derjenigen nach der erfolgreichen Industrialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergleicht. Die Bedeutung von Grund und Boden fu¨r den Kapitalstock reduzierte sich erheblich. Machte dieser Faktor 1798 noch 55% des Wertes am Gesamtkapital aus, so betrug sein Anteil 1912 nur noch 6,9 %. Andere Kapitalformen hatten den Boden in seiner Bedeutung als Produktivkraft verdra¨ngt. Somit a¨nderte sich auch die Zusammensetzung des Kapitalstocks. Neben den Geba¨uden, welche im Zuge von Sta¨dtewachstum und Urbanisierung eine immer gro¨ßere Bedeutung gewannen, spielten vor allem Investitionen in private Verkehrsunternehmen (Eisenbahnen) und Industrieanlagen sowie Auslandsanlagen, z. B. in den USA, eine große Rolle. 1912 bildeten Sachanlagen ein Drittel (33,7 %) des Kapitalstocks Großbritanniens. Parallel dazu wuchsen auch die Investitionen in die o¨ffentliche Infrastruktur, 1912 geho¨rte knapp ein Zehntel (9,7 %) des Kapitalstocks dazu, waren also „public property“ (1798: 1,7 %). Diese erstaunliche Kapitalbildung in Großbritannien bereits in der fru¨hen Phase der Industrialisierung war auch deshalb mo¨glich, weil das Land in der Phase des vorausgehenden Handelskapitalismus beachtlichen Reichtum hatte akkumulieren ko¨nnen (Kriedte 1980, S. 142–175), sodass bereits Ersparnisse gemacht werden konnten. Die Wirkung dieser Entwicklung auf die heimische Wirtschaft und 76
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den Aufbau eines Kapitalstocks beschrieb und analysierte Karl Marx 1867 in Das Kapital unter dem Begriff der „urspru¨nglichen Akkumulation“ (Marx 1972, S. 741–791). Dieses im Handel, im Finanzwesen und auch in der Landwirtschaft angesammelte Kapital konnte nun mobilisiert und einer neuen Anlage zugefu¨hrt werden (Postan 1935, S. 2–7). Hinzu kam, dass die Kapitalbedu¨rfnisse in den Betrieben der fru¨hen Industrialisierung nicht u¨berscha¨tzt werden du¨rfen (Pollard 1964, S. 299–314). Es handelte sich zumeist nur um kleine Unternehmen, und ein Großteil der Produktivita¨tsgewinne resultierte dort eher aus einer vera¨nderten Arbeitsorganisation und weniger aus der Einfu¨hrung komplexer technischer Anlagen (Hudson 1986). Die Herkunft des Industriekapitals, also des Anlagekapitals der Industrie wa¨hrend der Industriellen Revolution, unterstreicht diesen Eindruck. Ein Großteil des Anlagekapitals industrieller Gru¨ndungen stammte aus Gewinnen handwerklicher Ta¨tigkeiten oder aus dem Verlagssystem (> KAPITEL 3.1). Auch der Handelssektor, insbesondere in Gestalt der Kohlen- oder Eisenha¨ndler, trug zur industriellen Kapitalbildung bei, ebenso wie Neugru¨ndungen und Erweiterungen bereits bestehender Industriebetriebe. Einkommen aus Grundbesitz oder den Kolonien spielten hingegen eine untergeordnete Rolle (Crouzet 1976). Waren die Industrieunternehmen erst einmal erfolgreich in Gescha¨ftsta¨tigkeit getreten, so ero¨ffneten sich ihnen danach neue Wege der Finanzierung. Zuna¨chst einmal machten sie gute Gescha¨fte und die hohen Gewinne versetzten sie in die Lage, einen Teil davon zu reinvestieren. Daneben stand es ihnen frei, „frisches“ Kapital durch die Aufnahme neuer Partner, die Begebung von Anleihen oder u¨ber den Gang an den Kapitalmarkt zu beschaffen (Hoselitz 1968). Letztere Mo¨glichkeit, also die Gru¨ndung von Aktiengesellschaften, war allerdings durch den Bubble Act von 1720 stark eingeschra¨nkt, welcher bis zu seiner Aufhebung 1825 die Gru¨ndung einer Gesellschaft mit Haftungsbeschra¨nkung sehr erschwerte. Das Bankensystem Großbritanniens war strikt getrennt zwischen London und dem „Country“ und war zur Finanzierung langfristigen industriellen Anlagekapitals wenig geeignet (Cameron 1967, S. 35–59). Die Landbanken, die als Finanzier der vorwiegend außerhalb Londons angesiedelten Industriebetriebe infrage gekommen wa¨ren, widmeten sich vor allem dem kurzfristigen Kreditgescha¨ft und weniger der langfristigen Investitionsfinanzierung (Pressnell 1956). Die Banken und der Kapitalmarkt waren fu¨r die Finanzierung der britischen Industrieanlagen daher nur von untergeordneter Bedeutung. Sie stellten kaum langfristiges Kapital zur Verfu¨gung, waren aber im kurz77
Ursprjngliche Akkumulation
Selbstfinanzierung aus Gewinnen
Landbanken
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Kurzfristiges Kapital
Englisches Bankensystem
fristigen Kreditgescha¨ft der Unternehmen stark engagiert. Dies entsprach durchaus auch den Bedu¨rfnissen der fru¨hen Industrieunternehmen, deren Anlagekapital im Verha¨ltnis zum Umlaufkapital eher gering war. Selbst in den Unternehmen der Eisenindustrie betrug das Umlaufkapital, also die Ausgaben fu¨r Rohstoffe, Halb- und Fertigfabrikate, fu¨r Zinsen, Mieten und Steuern und insbesondere Lo¨hne, zum Teil ein Mehrfaches des Anlagekapitals. Zahlreiche ihrer Produktionsanlagen waren selbst erstellt und mussten daher gar nicht als Anlagekapital finanziert werden. Dieser Zusammenhang la¨sst sich auch an den Bilanzen der Unternehmen ablesen, die zeigen, dass der Umfang der Forderungen und Verbindlichkeiten im Verha¨ltnis zum Anlagekapital außerordentlich groß war (Pollard 1964, S. 306). Die Vera¨nderungen in diesen Posten (Finanzinvestitionen) waren fu¨r die fru¨hen Industrieunternehmen mindestens ebenso bedeutend wie Vera¨nderungen im Anlagekapital (Kapitalinvestitionen). |berstiegen die Schulden die ausstehenden Forderungen, entstand zudem die Mo¨glichkeit, auf diesem Wege einen Teil der Anlageinvestitionen zu finanzieren. Der Handelskredit, d. h. kurzfristiges Kapital, hat aber durchaus auch einen wichtigen Beitrag zur Finanzierung der britischen Industrie in der fru¨hen Phase der Entwicklung geleistet, allerdings nicht direkt fu¨r die Kapitalbildung. Der britische Kapitalmarkt zu Beginn des fru¨hen 19. Jahrhunderts war daher weit entfernt davon, den Bedu¨rfnissen der entstehenden modernen Volkswirtschaft zu entsprechen. Das Bankensystem war regional und funktional a¨ußerst spezialisiert und fragmentiert (Bagehot 1874). Neben den Landbanken gab es den von der Bank of England dominierten Geldmarkt und daru¨ber hinaus die großen Auslandsbanken (merchant bankers). Der Geldmarkt wurde neben der Bank of England von den großen Depositenbanken bestimmt, den „Big Five“, hinzu traten die Diskontha¨user und Wechselha¨ndler. Auf dem nationalen Kapitalmarkt tummelten sich zahlreiche Institutionen: neben der Bo¨rse gab es spezialisierte Emissions- und Brokerha¨user, aber auch Sparbanken, Bausparkassen, Investment- und Versicherungsgesellschaften u. a¨. Sie boten Kapital zu unterschiedlichen Zwecken an, aber selten zur Investition in industrielles Anlagekapital; ganz abgesehen von den Handels-, Kolonial- und Auslandsbanken, die sich vorwiegend dem Außenhandel und Kapitalexport widmeten. Alles in allem bestand in Großbritannien ein außerordentlich komplexes Finanzsystem, das in seinen Grundzu¨gen bis heute u¨berlebt hat und dessen u¨berragendes Ziel eben nicht vorrangig die Fo¨rderung der Investitionen der heimischen Industrie war (Frey 1938). 78
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5.2 Kapitalbildung in Deutschland Als Deutschland sich im fru¨hen 19. Jahrhundert anschickte, England auf dem Weg in die Industriewirtschaft zu folgen, stand die Wirtschaft vor a¨hnlichen Problemen wie England ein halbes Jahrhundert zuvor. Es ging darum, Kapital zu akkumulieren, genauer: Ersparnisse zu mobilisieren und diese in industrielles Anlagekapital zu u¨berfu¨hren. Vereinzelt war das an verschiedenen Stellen bereits gelungen, jedoch ohne nachhaltige Wirkung. So war etwa in Ratingen eine moderne Textilfabrik auf gru¨ner Wiese entstanden oder in Oberschlesien durch staatliche Initiative eine moderne Watt’sche Dampfmaschine im Bergbau installiert worden. Zu einem selbsttragenden gewerblichen Aufschwung hatten diese vereinzelten Maßnahmen noch nicht gefu¨hrt, dazu fehlte es noch an wagemutigen Unternehmern (Boch 1991) und an Kapital fu¨r industrielle Investitionen. Schaut man auf den Umfang der gesamtwirtschaftlichen Investitionen, so zeigt sich, dass von den ca. 125 Millionen Mark, die in den Jahren 1816 bis 1822 in Preußen ja¨hrlich netto investiert wurden, ganze 2,8 Millionen Mark (2,2 %) in die Industrie flossen. Bis in die 1840er-Jahre hatte sich dieser Anteil auf lediglich 3,3 % erho¨ht (7 von 209 Millionen Mark) (Tilly 1978a, S. 427). Der Lo¨wenanteil der Nettoinvestitionen floss hier weiterhin in den Agrarsektor, der zwischen 1816 und 1822 knapp 70 % und auch von 1840 bis 1849 noch immer 29 % der Nettokapitalbildung auf sich zog. Neben den wachsenden Investitionen in Geba¨ude war es ab den 1840er-Jahren besonders der Eisenbahnbau, der einen Großteil der preußischen Kapitalbildung fu¨r sich in Anspruch nahm (zwischen 1840 und 1849 waren es 35 %) und der damit eine wichtige Vorbedingung fu¨r die spa¨tere Industrialisierung schuf. Erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde ein nennenswerter industrieller Kapitalstock in Deutschland aufgebaut. La¨sst sich der Wert des gewerblichen Kapitalstocks fu¨r das Jahr 1850 auf ca. 7,16 Millionen Mark (15,3 % des gesamtwirtschaftlichen Kapitalstocks) beziffern, so stieg dieser bis 1913 auf 255,94 Millionen Mark (20,8 %) an (preisbereinigt, in Werten von 1913) (Hoffmann 1965, S. 253f.). Entsprechend verdoppelte sich die preisbereinigte Investitionsquote von 7,9 % auf 15,5 %, d. h. ein immer gro¨ßerer Teil des Sozialprodukts wurde fu¨r zusa¨tzliche Investitionen aufgewandt (> ABBILDUNG 12). So wurde das Wirtschaftswachstum entscheidend befo ¨ rdert. Der erfolgreiche Aufbau eines bedeutsamen Kapitalstocks, welcher zu einem großen Teil auch aus industriellem Anlagekapital bestand, 79
Kapitalakkumulation zu Beginn der Industrialisierung
Investitionen im frjhen 19. Jahrhundert
Aufbau eines industriellen Kapitalstocks
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Pauperismuskrise
Kapitalmangelthese
Nicht ausreichendes Kapitalangebot in der Industrie
Institutionelle Hemmnisse
ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch als arm eingeordnet werden muss. Nicht nur im Vergleich zum fortgeschrittenen England war eine deutliche Wohlstandslu¨cke zu konstatieren, in den deutschen Territorien spitzte sich die Lage im Zuge der Pauperismuskrise der 1830er- und 1840erJahre (> KAPITEL 1) sogar noch dramatisch zu. Wie also war es in Deutschland angesichts dieser Situation mo¨glich, gro¨ßere und wachsende Anteile des Einkommens in industrielles Kapital zu investieren? Die relative Armut Deutschlands galt lange Zeit als eines der wesentlichen Entwicklungshemmnisse der Volkswirtschaft im spa¨ten 18. und fru¨hen 19. Jahrhundert und damit als Ursache dafu¨r, dass die Industrialisierung im Vergleich zu England, Belgien und selbst Frankreich nur verzo¨gert einsetzte. Entgegen a¨lterer Annahmen deuten viele Anhaltspunkte jedoch auf eine ausreichende Kapitalversorgung der deutschen Wirtschaft in diesem Zeitraum. Nicht-Industrieunternehmen (Eisenbahnen, Handelsunternehmen) und auch der Staat hatten offenbar kaum Schwierigkeiten, sich zu finanzieren und dies z. T. sogar zu sinkenden Zinssa¨tzen. Ablo¨sungszahlungen, welche die Bauern den ehemaligen Grundherren nach den Agrarreformen zu leisten hatten, vergro¨ßerten das Kapitalangebot ebenso wie die Ausdehnung des Sparkassenwesens und ein zunehmender Export ins Ausland. Es verwundert daher nicht, dass sich in manchen Kaufmannsfamilien, zu denen etwa die Krupps in Essen za¨hlten, beachtliche Vermo¨gen angesammelt hatten (Pierenkemper 1990, S. 69–97). Das Problem bestand allerdings darin, dass die verfu¨gbaren Fonds nicht ohne Weiteres fu¨r industrielle Investitionen eingesetzt wurden, weil deren Rentabilita¨t noch nicht erwiesen waren, ihre Risiken aber hoch erschienen. Obwohl also die Kapitalbedu¨rfnisse der Industrieunternehmen im fru¨hen 19. Jahrhundert in Deutschland eher bescheiden waren, stand diesen kein angemessenes Angebot gegenu¨ber. Die zahlreich erhobenen Klagen der Unternehmer u¨ber fehlende Finanzierungsmo¨glichkeiten waren daher wohl berechtigt. Dies lag aber weniger an einem allgemeinen Kapitalmangel in Deutschland als vielmehr an einem fehlenden bzw. nicht funktionierenden Kapitalmarkt. Die Ma¨ngel waren z. T. auch institutionell begru¨ndet. Den Sparkassen war das Kapitalanlagegescha¨ft rechtlich verwehrt, weil deren Anlagen mu¨ndelsicher (d. h. praktisch mit garantiertem Ausschluss von Wertverlusten) sein mussten. Ebensowenig durfte die Preußische Bank Industrieunternehmen u¨ber die Hereinnahme von Handelswechseln finanzieren. Fehlende Mo¨glichkeiten der Haftungs80
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beschra¨nkungen (z. B. durch Aktiengesellschaften) erschwerten risikoscheuen Investoren den Zugang zum Kapitalmarkt, hinzu kam eine allgemeine Scheu vor dem „Schuldenmachen“ als Teil der Ethik traditioneller Kaufleute. Dennoch gelang es den zahlreichen Industrieunternehmen, das notwendige Kapital zur Finanzierung ihrer Investitionen zu beschaffen. Die Quellen waren vielfa¨ltig (Coym 1971): Ein Teil des Kapitals kam aus den vorausgehenden Handelsgewinnen oder aus den Ertra¨gen des Grundbesitzes, und auch der Staat gewa¨hrte gelegentlich Unterstu¨tzungen und Darlehen, um die gewerbliche Entwicklung zu fo¨rdern. Daru¨ber hinaus wurden sehr schnell Gewinne in teilweise beachtlicher Ho¨he erzielt, welche dann erneut investiert werden konnten. Das Bankensystem spielte fu¨r die Finanzierung der Industrieunternehmen in Deutschland in der ersten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts dagegen kaum ein Rolle (Tilly 1967).
Quellen fjr industrielles Kapital
5.3 Kapital und Banken in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert Nach dem Durchbruch zum industriellen Wachstum Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Kapitalbedu¨rfnisse der Industrie in Deutschland auf traditionelle Weise nicht mehr zu befriedigen. Es bedurfte neuer Institutionen und eines entwickelten Kapitalmarktes. Und diese wurden auch geschaffen. Die Privatbanken, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts insbesondere fu¨r die Finanzierung des Staatskredits in den deutschen Territorien und auch daru¨ber hinaus eine große Rolle gespielt hatten, waren nicht in der Lage, die bedeutenden Kapitalbedu¨rfnisse der entstehenden Großindustrie, der Bergwerke und Hu¨tten der Schwerindustrie im Besonderen, zu bedienen (Cassis 1992). Zwar waren sie im Rahmen des Handels mit Wechseln, Eisenbahnobligationen und Staatspapieren zu den vermutlich wichtigsten Kreditinstitutionen der deutschen Wirtschaft geworden, nunmehr aber mit der Finanzierung des industriellen Anlagekapitals u¨berfordert (Tilly 1966, S. 46–93). Diese Aufgabe wurde von den neu gegru¨ndeten Aktienbanken u¨bernommen. Ist die Umgru¨ndung des A. Schaaffhausenschen Bankvereins 1848 noch als Notlo¨sung in der Krise einzuordnen, weil ihr ansonsten der Zusammenbruch gedroht ha¨tte, kam es seit den 1850er-Jahren zu zahlreichen Neugru¨ndungen, auch gegen den anhaltenden Widerstand der preußischen Regierung. Zum eigentlichen
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Neue Institutionen
Privatbanken
Aktienbanken
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Universalbanken
Kapitalimport nach dem Ersten Weltkrieg
Verstaatlichung der Großbanken
Siegeszug der Aktienbanken kam es allerdings erst in den 1870erJahren. 1870 wurden die Deutsche Bank und die Commerz- und Diskonto-Bank gegru¨ndet, 1872 die Dresdner Bank. Diese Banken erlangten einen beachtlichen Einfluss in den Industrieunternehmen, die sie als Hausbanken betreuten. Sie schu¨tzten sie aber zugleich in Krisen und gegenu¨ber der in- und ausla¨ndischen Konkurrenz. Ihre Bedeutung wuchs auch dadurch, dass sie sich zu „Universalbanken“ entwickelten. Das bedeutet, dass praktisch alle Bankgescha¨fte in einem Haus betrieben wurden, das Wechsel, Kontokorrent- und Depositengescha¨ft ebenso wie das Emissionsgescha¨ft (Born 1976, S. 321–335). Die Finanzaktiva der Großbanken vervielfachten sich von 0,9 Milliarden Mark (1880) auf 8,4 Milliarden Mark im Jahre 1913, wa¨hrend die entsprechenden Zahlen fu¨r die Privatbankiers (1880: 2,5 Milliarden; 1913: 4 Milliarden Mark) lediglich eine knappe Verdoppelung anzeigen. Die drei gro¨ßten Banken waren, gemessen an ihrem Gescha¨ftskapital, 1913 in Deutschland die drei gro¨ßten Unternehmen, und unter den 25 gro¨ßten Unternehmen Deutschlands befanden sich in diesem Jahr 17 Aktienbanken (Tilly 2003, S. 104). Zu diesem Aufstieg hatten sowohl die Liberalisierung des Aktienwesens wie auch die des Bo¨rsenwesens entscheidend beigetragen (Go¨mmel 1992). Im 20. Jahrhundert operierten die Gescha¨ftsbanken in Deutschland weit weniger erfolgreich und konnten nur in geringem Umfang zum Aufbau eines Kapitalstocks beitragen. Geschwa¨cht durch finanzielle Verluste bei der Kriegsfinanzierung im Ersten Weltkrieg und durch die daraus resultierende Inflation blieb die deutsche Kapitalbildung auch nach der Stabilisierung der Wa¨hrung nur unzureichend. Ein latenter Kapitalmangel konnte zuna¨chst mit einem durch hohe Zinsen ausgelo¨sten bemerkenswerten Kapitalimport ausgeglichen werden. Doch nach Versiegen dieser Kapitalquelle gerieten die deutschen Banken sehr bald in eine schwere Krise, von der auch die Großbanken 1931 stark betroffen waren. Diese mussten zum Teil sogar verstaatlicht werden, um ihre Zahlungsfa¨higkeit sicherzustellen (Born 1967). Immerhin betrug der Staatsanteil bei der Dresdner Bank im Jahr 1931 91 %, bei der Commerz- und Privat-Bank 70 % und auch bei der Deutschen Bank und Disconto-Gesellschaft noch 35 % (Ha¨user 1993, S. 407). Wa¨hrend der Zeit des Nationalsozialismus war die Gescha¨ftsta¨tigkeit der Banken stark eingeschra¨nkt, weil das Regime im Rahmen seiner Ru¨stungs- und Kriegspolitik den Spielraum privater Gescha¨ftsbanken stark begrenzt hatte. Gleichwohl betrieben die Banken ihre Gescha¨fte weiter und ließen dabei, wenn auch in unterschiedlichem Maße, die Regeln serio¨sen Gescha¨ftgeba82
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rens außer Acht. Teilweise beteiligten sie sich an den verbrecherischen Praktiken des Regimes, z. B. bei Arisierungen. Nach dem Krieg drohte den als Kriegstreibern angesehenen deutschen Großunternehmen und Banken daher zuna¨chst die Zerschlagung, zumindest war dies ein Ziel der US-amerikanisch gepra¨gten Bankenpolitik der ersten Nachkriegsjahre. Die Reorganisation des deutschen Bankwesens in seiner alten Form gelang erst wieder 1957, als die in regional operierende Teilbanken entflochtenen Großbanken wieder zusammengefu¨hrt wurden. Von da an entwickelten sich die großen Gescha¨ftsbanken wiederum zum Kern der allgemein sogenannten „Deutschland AG“, welche durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Großbanken und Industrie gekennzeichnet war. Erst der vermeintliche Erfolg des amerikanisch gepra¨gten Investmentbankings, welches Bo¨rse und Kapitalmarkt sta¨rker nutzte, machte in den 1990er-Jahren diesem Modell ein Ende – und legte damit die Basis fu¨r die im fru¨hen 21. Jahrhundert erlebte internationale Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise.
Reorganisation des Bankenwesens nach dem Krieg
Abbildung 12: Investitionsquoten 1850 / 70–1994, Deutschland (Lindlar 1997, S. 149)
Die Finanzierung der Kapitalbildung nach den Zersto¨rungen des industriellen Kapitalstocks des Zweiten Weltkriegs, auch wenn diese nicht so gewaltig waren wie zuna¨chst angenommen (Abelshauser 1983, S. 20–24), erfolgte mithilfe der Großbanken und mittels steuerlicher Fo¨rderung der Eigenkapitalbildung in der Großindustrie. Entsprechend wuchs auch der Kapitalstock in der Bundesrepublik und Ersparnisse und Investitionen erreichten im Wiederaufbau Re-
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Wiederaufbau storkt Kapitalstock
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Kapitalkoeffizient
kordho¨hen. Im Vergleich zur Industrialisierungsepoche des 19. Jahrhunderts lag die Investitionsquote wa¨hrend dieses Zeitraums deutlich ho¨her (Lindlar 1997, S. 149) (> ABBILDUNG 12) und entsprechend schneller wuchs der Kapitalstock. Der deutsche Kapitalstock betrug 2004 etwa 5,7 Billionen Euro und u¨berstieg damit die Bruttowertscho¨pfung des gleichen Jahres um den Faktor 3,3 Im Jahr 1970 hatte dieses Kapitalkoeffizient genannte Verha¨ltnis noch 2,7 betragen (Institut der Deutschen Wirtschaft 2007a, S. 27). Daraus la¨sst sich ablesen, dass immer mehr Kapital verwendet wird, um die gleiche Menge an Waren und Dienstleistungen zu produzieren. Daru¨ber hinaus beno¨tigt die moderne Volkswirtschaft aber weiterhin auch eine steigende Kapitalakkumulation, um den Prozess des modernen Wirtschaftswachstums weiter fortsetzen zu ko¨nnen. Diese wichtige und in Zukunft eher noch wachsende Bedeutung des Kapitals spiegelt sich auch im Umfang und in der Entwicklung der Anlageinvestitionen wider. Mehr als ein Fu¨nftel der ja¨hrlich erbrachten Wirtschaftsleistung muss in Deutschland reinvestiert werden, um die Leistungsfa¨higkeit des gewaltigen Kapitalstocks aufrecht zu erhalten und ihn stetig zu erweitern. Fragen und Anregungen • Wieso gelang es den industriellen Unternehmern in England so leicht, Kapital fu¨r ihre neu begru¨ndeten Industriebetriebe zu beschaffen? • Deutschland war im fru¨hen 19. Jahrhundert im Vergleich zu England gewiss ein ,armes‘ Land. Gab es daher einen gravierenden Kapitalmangel zur Finanzierung der Industrialisierung in Deutschland? • Industrie und Banken sind in Deutschland eine enge Symbiose eingegangen. Worauf la¨sst sich diese Entwicklung zuru¨ckfu¨hren und wann sto¨ßt sie an Grenzen?
Lektjreempfehlungen rbersichten
• Rondo E. Cameron: Banking in the Early Stages of Industrialization. A Study in Comparative Economic History, New York 1967. International vergleichende Studie zur Unternehmensfinanzierung wa¨hrend der fru¨hen Industrialisierung. 84
FR AG EN UND LE K TrR E E MPFEH LUN GEN
• Jakob Riesser: Die deutschen Großbanken und ihre Konzentration. Im Zusammenhange mit der Entwicklung der Gesamtwirtschaft in Deutschland, Jena 1910. Klassische Darstellung der Entwicklung und der Bedeutung der Großbanken im Industrialisierungsprozess, von einem ,Insider‘ verfasst. • Richard Tilly: Geld und Kredit in der Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart 2003. Umfassende Darstellung der Bedeutung des Finanzsystems fu¨r die wirtschaftliche Entwicklung in international vergleichender Perspektive. • Carsten Burhop: Die Kreditbanken in der Gru¨nderzeit, Frankfurt a. M. 2004. Neuere Untersuchung zur Rolle der Banken in der deutschen Industrialisierung.
Forschung
• Dietmar Petzina (Hg.): Zur Geschichte der Unternehmensfinanzierung, Berlin 1990. Verschiedene Beitra¨ge zur Mobilisierung von Industrieinvestitionen und zur Bedeutung der Banken in Deutschland in verschiedenen Zeitra¨umen. • Richard Tilly: Capital Formation in Germany in the Nineteenth Century, in: Cambridge Economic History of Europe, Vol. VII, Cambridge 1978, S. 382-441. Scha¨tzungen u¨ber den Umfang der Kapitalbildung in Deutschland in der ersten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts. • Gu¨nter Ashauer (Hg.): Deutsche Bankengeschichte, 3 Ba¨nde, Frankfurt a. M 1982 und 1983.
Handbjcher / Lexika
• Hans Pohl (Hg.): Deutsche Bo¨rsengeschichte, Frankfurt a. M. 1992. • Hans Pohl (Hg.): Europa¨ische Bankengeschichte, Frankfurt a. M. 1993.
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6 Innovationen und technischer Fortschritt
Abbildung 13: Die Waterframe. Mit Wasserkraft arbeitende Spinnmaschine von Richard Arkwright (1769) Der gro¨ßte Umsturz der Geschichte seit der Neolithischen Revolution in der Steinzeit beginnt mit einem Peru¨ckenmacher, der keine Lust mehr hat, Peru¨cken zu machen. Der sich dazu entschließt, eine Apparatur zu erschaffen, die eine pflanzliche Faser ohne das Zutun menschlicher Ha¨nde zu Fa¨den spinnt. Der Dutzende dieser Apparate durch die Kraft von Wasser antreiben la¨sst. Dem es gelingt, die Fa¨den schneller, gu¨nstiger und besser zu fertigen als alle vor ihm. Und der auf diese Weise um 1770 in den la¨ndlichen Weiten Mittelenglands das erste Fabrikwesen, die erste Industrie der Welt begru¨ndet. Jens-Rainer Berg: Scho¨pfer einer neuen Welt, in: GeoEpoche, Nr. 30: Die industrielle Revolution, 2008 (Berg 2008, S. 25)
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IN N OVATIO NEN U ND TE CH NI SCH ER FORTSC HR ITT
Die Spinnmaschine, die sogenannte Waterframe, fu¨r die der Engla¨nder Richard Arkwright, eigentlich ein gelernter Peru¨ckenmacher, 1769 ein Patent erhielt, war in der Tat die erste „moderne“ Maschine. Anders als die Vorga¨ngermodelle wie etwa die „Spinning Jenny“, die sich in ihrer Konstruktion noch sehr stark am u¨berkommenen Spinnrad orientierte und von Hand betrieben wurde, konnte mit diesem neuen Mechanismus ein kontinuierlicher Spinnvorgang betrieben werden. Die Walzen im oberen Teil der Maschine verdrehten und festigten das Vorgarn zu einem gleichma¨ßigen und stabilen Garn und die Spindeln unten im Gera¨t, versehen mit losen, bei unterschiedlicher Spinngeschwindigkeit vor- und ru¨cklaufenden Flu¨geln, ermo¨glichten ein kontinuierliches Aufwickeln des gesponnenen Garns. Links sieht man ein Antriebsrad, denn der neue Mechanismus war nicht mehr durch einen einzelnen Menschen zu betreiben, sondern bedurfte eines externen Antriebs. Dies konnte durch Pferde geschehen, wurde meist aber durch Wasserkraft bewerkstelligt – daher auch der Name Waterframe fu¨r die Arkwrightsche Erfindung. Die Maschine war allerdings nahezu ga¨nzlich aus Holz gefertigt und somit z. T. noch dem vorindustriellen, dem „ho¨lzernen“ Zeitalter zuzurechnen. Eiserne Maschinen fanden erst einige Zeit spa¨ter allgemeine Verbreitung, und dann wurde auch der Antrieb durch Wasserra¨der von Dampfmaschinen ersetzt. Damit lo¨ste sich die Textilindustrie von den Standorten der Wasserkraft und wurde weitgehend ortsunabha¨ngig. Das mechanische Spinnen stellte nur einen ersten Schritt in einer langen Kette von Ta¨tigkeiten dar, bis aus der rohen Wolle fertiges Garn, Tuch oder schließlich Kleider oder Hemden wurden. Die Erfindung einer mechanischen Spinnmaschine war daher nur ein wenn auch zentraler Teil eines umfassenden Neuerungsprogrammes hin zu einer modernen Textilindustrie. Technische Innovationen waren nicht in erster Linie der Eingebung eines genialen Erfinders zu verdanken, sondern entwickelten sich in einem komplexen technischen, sozialen und o¨konomischen Umfeld, wobei die fu¨r die Industrielle Revolution entscheidenden Innovationen in England entstanden. Das noch ru¨cksta¨ndige Deutschland konnte spa¨ter auf die dort entwickelten Technologien zuru¨ckgreifen und in kleinen Schritten selbst einfu¨hren. 6.1 Innovationen und Wirtschaftswachstum 6.2 Technik in der Industriellen Revolution 6.3 Technologische Innovationen in Deutschland 88
IN N OVATI ONE N U ND W IRT SCH AF TSWACHS TUM
6.1 Innovationen und Wirtschaftswachstum Verschiedentlich wurde darauf hingewiesen, dass die |berwindung der Armut der vorindustriellen Welt der enormen Steigerung der Produktivita¨t der einzelnen Produktionsfaktoren seit der Industriellen Revolution, also dem |bergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft, geschuldet war. Auch die Malthusianische Bevo¨lkerungsfalle (benannt nach dem britischen }konomen Thomas Robert Malthus), welche besagt, dass die Bevo¨lkerung schneller wachse als die Versorgung mit Lebensmitteln, wurde außer Funktion gesetzt. Das Gesetz abnehmender Ertragszuwa¨chse bei zunehmendem Einsatz der Produktionsfaktoren galt nicht mehr, stattdessen wurden langfristig steigende Ertragszuwa¨chse erzielt. Ein langfristig quasi „natu¨rliches“ Wirtschaftswachstum von ca. 1,5 bis 2,0 % wurde dadurch ermo¨glicht (> KAPITEL 2.3). Wie war das mo¨glich? Eine erste Antwort gibt der Hinweis auf die steigende Leistungsfa¨higkeit der Wirtschaft. Dies gelang vor allem durch die Bildung von Humankapital und die qualitativen Verbesserungen beim Einsatz menschlicher Arbeitskraft im Produktionsprozess. Aber die Steigerung der Gesamtfaktorproduktivita¨t der makroo¨konomischen Produktionsfunktion ist natu¨rlich auch dadurch zu erkla¨ren, dass die eingesetzten Hilfsmittel der menschlichen Arbeit, na¨mlich das „Kapital“, nicht nur mengenma¨ßig erho¨ht, sondern auch qualitativ deutlich verbessert wurden. Die Produktivita¨t der eingesetzten Kapitalbestandteile konnte sich optimieren, weil die Produktionstechnik, und damit die Qualita¨t der eingesetzten Maschinen und Anlagen, effizienter wurde (> KAPITEL 5). Diese Zuwa¨chse in der Produktivita¨t des eingesetzten Kapitals erfolgten natu¨rlich nicht gleichma¨ßig, sondern es gab deutliche Schu¨be und Phasen verlangsamter und beschleunigter Entwicklung. Diese Unstetigkeit in der Wirkung des technischen Fortschritts ist offenbar auf bestimmte, ungleichma¨ßig auftretende Schu¨be von Neuerungen in der Volkswirtschaft zuru¨ckzufu¨hren, auf „Innovationen“, wie sie der o¨sterreichische }konom Joseph A. Schumpeter in seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung aus dem Jahre 1912 nannte. Dabei lassen sich nicht nur technische Innovationen auffinden, sondern auch solche o¨konomischer, organisatorischer, gesellschaftlicher und institutioneller Art. Innovation, d. h. die Einfu¨hrung von Neuerungen, ist also kein allein technischer Vorgang, sondern ein komplexer gesellschaftlicher Prozess, fu¨r dessen Erfolg auch sogenannte weiche Faktoren eine große Rolle spielen. Dazu za¨hlen u. a. betriebliche und 89
rberwindung der Bevklkerungsfalle
Entwicklung der Gesamtfaktorproduktivitot
Schumpeters Theorie der Innovationen
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Schkpferische Zerstkrung
Schkpferisches Unternehmertum
soziale Interessen, kulturelle Normen und Wertvorstellungen, aber auch Wissen und Ko¨nnen der Menschen. Individuelle Verhaltensweisen entscheiden daher weit mehr u¨ber den Erfolg von Innovationen als etwa staatliche Fo¨rderprogramme. Auf Schumpeters Innovationstheorie nehmen, nach ihrer Wiederentdeckung in den 1970er-Jahren, heute zahlreiche neuere Arbeiten (Lazonick 2003) Bezug. In seinem Fru¨hwerk verweist Schumpeter darauf, dass die Produktion als ein Prozess der Kombination von Produktionsfaktoren zu verstehen ist und ein Fortschritt dabei nur dann zustande kommen kann, wenn neue Formen der Kombination gefunden werden. Das bedeutet, dass die alten Kombinationen entwertet (scho¨pferische Zersto¨rung) und durch Innovationen neue, effizientere Kombinationen gefunden werden mu¨ssen. Dabei scheinen ihm im Hinblick auf die Erweiterung der wirtschaftlichen Produktionsmo¨glichkeiten Innovationen in verschiedenen Auspra¨gungen denkbar: durch neue Gu¨ter, neue und erweiterte Absatzma¨rkte oder Bezugsquellen, verbesserte Organisationsformen oder effizientere technische Produktionsmethoden. Nur die letztgenannte Mo¨glichkeit von Innovation thematisiert explizit Technik und technologische Erneuerung. Sie stellt zwar nicht die einzige Form der Effizienzsteigerung des Faktoreinsatzes dar, steht hier jedoch im Folgenden im Zentrum der Betrachtung. Tra¨ger von Innovationen in der Schumpeterschen Terminologie ist der „dynamische Unternehmer“, der sich im Unterschied zum „statischen Wirt“, welcher die vertrauten Formen der Gescha¨ftsta¨tigkeit nicht verla¨sst, an neue, risikoreiche, aber auch potenziell ho¨chst profitable Projekte herantraut, sie durchsetzt und bei Erfolg Pioniergewinne realisieren kann. Erst wenn ein solcher Pionierunternehmer ein neues Gescha¨ftsfeld erschlossen hat, folgen ihm nach und nach weniger risikobereite Unternehmer und bringen durch ihre Konkurrenz die Pioniergewinne zum Verschwinden. Dieses Modell la¨sst sich auch auf managergeleitete Großunternehmen u¨bertragen, die heute weit mehr als eigentu¨mergefu¨hrte „Schumpetersche“ Unternehmen das Gescha¨ftsleben pra¨gen. Demnach sucht ein „innovative enterprise“ sta¨ndig nach neuen Mo¨glichkeiten, seine Gescha¨ftsta¨tigkeit auszuweiten, wa¨hrend eine „optimizing company“ lediglich nach Wegen einer optimalen Anpassung in einer gegebenen Situation Ausschau ha¨lt (Lazonick 2003, S. 31–61). Wenn Innovationen eine so große Bedeutung fu¨r den o¨konomischen Fortschritt und das Wirtschaftswachstum zufa¨llt, so besteht eine wichtige Aufgabe darin, ihren Umfang zu bestimmen und sie mo¨glichst genau zu beschreiben. Das ist aber nicht so einfach. Zu90
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na¨chst einmal ist es no¨tig, die Innovation als erstmalige erfolgreiche Einfu¨hrung einer Neuerung in den Produktionsprozess von dem vorgelagerten Prozess der Invention, der Entdeckung oder Erfindung dieser neuen Produktionsmo¨glichkeit, zu trennen. Dies gilt ebenso fu¨r den nachgelagerten Prozess der Diffusion, also der massenhaften Verbreitung dieser neuen Produktionsweise. Hierbei ist auf den Prozesscharakter von Innovationen zu verweisen, der sich formal unterscheiden la¨sst in gelegentlich auftretende, grundlegende Basisinnovationen und sich daran anschließende, zahlreiche kleinere Folgeinnovationen. Ob sich diese Unterschiede in der Praxis tatsa¨chlich genau auffinden lassen, ist eher unwahrscheinlich. Zudem sind Innovationen unterschiedlich ,verko¨rpert‘. Sie ko¨nnen als Produktinnovationen, als Prozessinnovationen und als institutionelle Innovationen auftreten. Die „evolutiona¨re }konomik“ als ein eigener Forschungszweig der Wirtschaftswissenschaften widmet sich in besonderer Weise diesen Fragestellungen (Nelson / Winter 1982). Verschiedene Autoren haben Versuche unternommen, die wichtigsten Innovationen der letzten Jahrhunderte zu benennen und zeitlich zu verorten, wie > ABBILDUNG 14 verdeutlicht.
Abbildung 14: Ereignisha¨ufigkeit der Innovationsdaten, nach Gerhard Mensch, J. J. van Duijn und Ronald Baker (nach Metz 2001, S. 706)
Derartige Reihen veranschaulichen historisch sowohl eine steigende Zahl von Innovationen in den letzten 300 Jahren, als auch offensichtliche Ha¨ufungen in bestimmten Zeitra¨umen. Der Wirtschaftswis-
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Invention, Innovation und Diffusion
Evolutionore skonomik
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Europoische Industrialisierung
Zweite Industrielle Revolution
Dritte Industrielle Revolution Kondratieff-Zyklus
Einfjhrung des Patentschutzes
senschaftler Gerhard Mensch z. B. unterscheidet vier Epochen einer besonders innovativen Wirtschaftsta¨tigkeit, die er mit der Industrialisierungsgeschichte Europas in Beziehung setzt (Mensch 1975). Zwischen ca. 1740 und 1780 ist die Industrielle Revolution in Großbritannien anzusetzen, in deren Verlauf eine Vielzahl von Basisinnovationen, insbesondere in der Textil- und Eisenindustrie, vorgenommen wurden. Wa¨hrend der erfolgreichen Industrialisierung des westeuropa¨ischen Kontinents, dessen Ho¨hepunkt zwischen 1815 und 1840 zu datieren ist, haben sich wiederum zahlreiche Innovationen im Eisenbahnbau, der Eisen- und Stahlindustrie und im Steinkohlebergbau ergeben. Wa¨hrend der sogenannten „zweiten“ Industriellen Revolution verlagerte sich in den 1870er- und 1880er-Jahren die Neuerungsta¨tigkeit auf die neuen Sektoren der chemischen und elektrotechnischen Industrie, von denen nun auch besonders die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland profitierte. Und schließlich ist in der vielfach gesto¨rten o¨konomischen Entwicklung der ersten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts eine kurze, versta¨rkte Innovationsta¨tigkeit in den 1920er- und 1930er-Jahren zu beobachten, die Mensch als „dritte“ Industrielle Revolution bezeichnet. Das Auftreten von derartigen Schu¨ben im Innovationsverhalten einer Gesellschaft wurde schon fru¨h vom russischen }konomen Nikolai D. Kondratieff (1892–1938) erkannt und zur Basis einer Theorie langer, etwa 45 bis 60 Jahre wa¨hrender Wellen der wirtschaftlichen Entwicklung gemacht, deren Bedeutung auch von Joseph A. Schumpeter in seinem Werk u¨ber Business Cycles von 1939 nochmals hervorgehoben wurde und wie sie seitdem ha¨ufig und bis in die Gegenwart erweitert dargestellt werden (Lindlar 1997). Ob allerdings derartig langfristige Wellen der wirtschaftlichen Entwicklung tatsa¨chlich existieren und ob sie mit den empirisch nur schwer zu identifizierenden Innovationszyklen in einem kausalen Verha¨ltnis stehen, ist umstritten. Wie > ABBILDUNG 14 verdeutlicht, zeigen die verschiedenen Zeitreihen u¨ber Innovationsta¨tigkeiten, die von unterschiedlichen Autoren (Mensch, van Duijn, Baker) zusammengestellt wurden, nicht ganz u¨bereinstimmende Muster. Eine Verlaufsskizze ju¨ngsten Datums (IAB–Datenbank) zeigt fu¨r den Zeitraum von 1750 bis 1990 einen stetig ansteigenden Trend in der Ha¨ufigkeit von Neuerungen, gefolgt von einer Stagnation auf hohem Niveau – allerdings lassen sich daran keine „Kondratieff-Zyklen“ ablesen (Metz 2001). Seit dem 19. Jahrhundert haben Erfinder und Unternehmen versta¨rkt versucht, die Nutzungsrechte an Erfindungen und Innovationen durch Patente rechtlich schu¨tzen zu lassen. Derartige Mo¨glich92
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keiten gab es in England bereits im 17. Jahrhundert und a¨hnliches erfolgte auch auf dem Kontinent. In Frankreich bestand seit 1791 ein Patentschutz, in Deutschland wurden 1877 die landesrechtlichen Regelungen im Reichspatentgesetz vereinheitlicht und eine Patentstatistik eingefu¨hrt. Die Nutzung dieser Statistik als Indikator der Innovationsta¨tigkeit ist allerdings nicht ganz unproblematisch, weil manche Neuerungen aus Geheimhaltungsgru¨nden nicht patentiert wurden. Ferner sagen Anmeldungen nichts u¨ber den o¨konomischen Nutzen der Patente aus. Zudem fallen oft Nutzung und Anmeldung von Patenten zeitlich auseinander und auch inhaltlich sind sie nur schwer zu klassifizieren, insbesondere eine Zuordnung zu bestimmten Branchen und Produktionsbereichen ist nicht immer eindeutig mo¨glich. Gleichwohl existieren Versuche, Patentanmeldungen hinsichtlich ihrer Werthaltigkeit zu beurteilen und entsprechende Ha¨ufigkeiten als Indikatoren der Innovationsta¨tigkeit zu interpretieren (Streb / Baten 2007).
Patente als Indikator
6.2 Technik in der Industriellen Revolution Die Industrielle Revolution in England wird ha¨ufig und vor allem auch als eine Revolutionierung der Produktionstechnologie verstanden. Zur Veranschaulichung dieses Zusammenhanges dient ja auch hier der Hinweis auf die Arkwrightsche Waterframe (> ABBILDUNG 13). Zugespitzt wird diese Interpretation vom franzo¨sischen Nationalo¨konom Adolphe Je´roˆme Blanqui (1798–1854), der sich im Jahre 1837 wie folgt a¨ußerte: „Kaum dem Gehirn der beiden genialen Ma¨nner Watt und Arkwright entsprossen, nahm die industrielle Revolution von England Besitz.“ (Blanqui 1840, S. 209) Der seinerzeit sehr beru¨hmte Gelehrte bezieht sich dabei auf die Erfinder der atmospha¨rischen, doppelwirkenden Dampfmaschine von James Watt und auf Richard Arkwright und dessen Spinnmaschine. Dennoch ist die Verflechtung von Technik und Wirtschaft viel komplexer, als es aus den Worten des Zeitgenossen herausklingt. Die Erfindung als Ausgangspunkt einer genialen Idee einer Einzelperson ignoriert die Tatsache, dass sie wesentlich in einen sozialen Kontext eingebunden und meist das Ergebnis einer langen Folge von „Trial and Error“ ist. Ferner ist aus o¨konomischer Sicht nicht die theoretische Neuerung (Invention), sondern deren erfolgreiche praktische Umsetzung (Innovation) entscheidend. Dazu bedarf es zusa¨tzlicher Hilfe und Unterstu¨tzung. Zudem stellt sich langfristiger o¨kono-
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Verflechtung von Technik und Wirtschaft
Invention – Innovation – Diffusion
IN N OVATIO NEN U ND TE CH NI SCH ER FORTSC HR ITT
Entwicklung der Spinnmaschinen
John Wyatt und Lewis Paul
mischer Erfolg erst ein, wenn sich die Erfindung fla¨chendeckend und gegen konkurrierende Verfahren durchgesetzt hat (Diffusion). Dabei ist oft kaum zu bestimmen, ob eine technische Erfindung zur Lo¨sung eines bestimmten Problems durch Anregungen von außen (Nachfrage) oder eher zufa¨llig durch den Gedankenblitz eines Individuums (Angebot) hervorgerufen wurde. Ein genauerer Blick auf die Geschichte der Technik in der Industriellen Revolution la¨sst diesen Zusammenhang deutlicher hervortreten. Die Industrielle Revolution in England war natu¨rlich begleitet von zahlreichen technischen Neuerungen, aber diese erfolgten nicht voraussetzungslos und waren keinesfalls alternativlos (Mokyr 1990). Betrachten wir zuna¨chst die Entwicklungen in der Spinntechnik, die mit dem Patent von Richard Arkwright 1769 einen ersten Ho¨hepunkt erlebten. Dabei standen zuna¨chst Versuche im Vordergrund, das Spinnen von Wolle, dem traditionellen Faserstoff englischen Textilgewerbes, zu mechanisieren. Dabei spielten John Wyatt und Lewis Paul eine bedeutsame Rolle (Mantoux 1948). Charles Wyatt, der Sohn des John Wyatt, hatte vermutlich die Idee zur Entwicklung einer Spinnapparatur fu¨r Wolle. Um 1730 begann er mit den ersten entsprechenden Versuchen. 1733 war ein erstes Modell fertig, und ein erster Faden konnte ohne Handarbeit gewonnen werden. Ob dieser Mechanismus von Wyatt und Paul dabei tatsa¨chlich die erste Spinn-„Maschine“ gewesen ist, bleibt unklar, denn in der englischen Patentrolle werden fu¨r 1678 bereits Richard Dereham aus Sussex und Richard Haines aus London mit einer a¨hnlichen Apparatur erwa¨hnt (no. 202). Ferner findet sich 1723 ein weiterer Eintrag (no. 459), der den Weber Thomas Thwaites und den Kaufmann Francis Clifton in der gleichen Sache auffu¨hrt (Mantoux 1948). Wie und ob diese Erfindungen funktioniert haben, la¨sst sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Allerdings weisen diese Eintragungen darauf hin, dass man seit langem intensiv am Problem der Mechanisierung des arbeitsaufwendigen Spinnvorgangs im Textilgewerbe arbeitete. Lewis Paul jedenfalls erhielt 1733, also mehr als 30 Jahre vor Arkwright, ein Patent auf die gemeinsam mit Vater und Sohn Wyatt entwickelte Spinnapparatur. Diese war aber offenbar noch sehr unvollkommen und bedurfte weiterer, intensiver Entwicklungsarbeit. Ein o¨konomischer Erfolg stellte sich noch nicht ein und 1738 wurde das Patent wieder gelo¨scht, das Unternehmen machte 1742 bankrott. Die Erfindung wurde an den englischen Gescha¨ftsmann Edward Cave verkauft und dieser versuchte erneut sein Glu¨ck mit den mechanischen Spinnapparaturen. In Northampton gru¨ndete er eine gro¨94
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ßere Fabrik, die mit fu¨nf nunmehr durch Wasserkraft betriebene Spinnmaschinen bestu¨ckt war und etwa 50 Arbeiter bescha¨ftigte. Aber auch Edward Cave hatte keinen nachhaltigen Erfolg und musste 1764 seine Fabrik stilllegen. Immerhin kann er fu¨r sich in Anspruch nehmen, die erste mechanische Spinnerei in England betrieben zu haben. Allerdings hatte er sich dem Spinnen von Wolle und der Herstellung von Wollgarnen zugewandt, eine Faser, die wegen ihrer natu¨rlichen Beschaffenheit fu¨r einen mechanischen Spinnprozess nur schlecht geeignet ist. Auch schien eine Mechanisierung in diesem Zweig des englischen Textilgewerbes nicht so dringlich. Wyatt und Paul bzw. Cave waren mit ihren zukunftstra¨chtigen Neuerungen offenbar zu fru¨h und am falschen Ort. Das war in der Baumwollverfertigung in England zur Mitte des 18. Jahrhunderts ganz anders. Die Nachfrage nach Baumwollprodukten war so enorm, dass die Handspinnerei nicht in der Lage war, die Nachfrage der Weber nach Baumwollgarnen hinreichend zu bedienen: Man sprach zu dieser Zeit von einer „yarn-famine“, einem ungeheuren Garnhunger also. Auch waren die Baumwollfasern besser als Wolle geeignet, in einer mechanischen Apparatur maschinell versponnen zu werden. Der britische Baumwollweber James Hargreaves brachte als erster eine dem traditionellen Handspinnrad noch sehr a¨hnliche Konstruktion zum mechanischen Spinnen auf den Markt. Die eingangs erwa¨hnte Spinning Jenny, die erste industrielle Spinnmaschine zum Verspinnen von Wolle zu Garn, verbreitete sich sehr schnell, war sie doch handgetrieben und konnte daher leicht an die Stelle des Spinnrads treten. Bis dahin waren etwa drei bis vier Personen no¨tig, um einen Weber mit genu¨gend Garn zu versorgen. Nunmehr konnte ein Spinner mittels der neuen „Maschine“ mehr Garn produzieren als ein Weber allein verweben konnte. Der Kapazita¨tsengpass beim Spinnen war also durch eine technologische Innovation behoben und die Produktion von Baumwollstoffen konnte gewaltig ausgedehnt werden. Zudem erschloss die Mechanisierung ein bis dahin nicht genutztes la¨ndliches Arbeitspotenzial (Frauen und Kinder), weil nunmehr auch wenig geu¨bte und geschickte Personen mit dem Spinnen von Baumwollgarnen betraut werden konnten. Die wirtschaftlichen Effekte dieser Innovation waren enorm (Landes 1973). Nicht nur wurde damit eine Steigerung der Arbeitsproduktivita¨t jedes einzelnen Spinners um das sechs- bis vierundzwanzigfache gesteigert, auch die Garnqualita¨t wurde verbessert, weil nunmehr unabha¨ngig von der individuellen Geschicklichkeit des Spinners eine immer gleiche, standardisierte Garnsta¨rke produziert werden konnte. Wegen der u¨berproportionalen Ausdehnung des Ab95
Erste mechanische Spinnerei in England
Baumwollverfertigung
Garnhunger
Spinning Jenny
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Steigerung der Produktivitot
Protoindustrialiserung
Spinning Mule
Weitere Innovationen in der Baumwollspinnerei
Entwicklung und Einsatz von Dampfmaschinen
satzes erwies sich diese Neuerung außerordentlich rentabel, trotz dramatisch sinkender Garnpreise. Dies galt auch und in besonderem Maße fu¨r die Arkwrightsche Maschine, deren Produktivita¨tssteigerung gegenu¨ber dem Handspinnen in etwa mit dem Faktor 100 anzusetzen ist. Auch erlaubte sie weitere Qualita¨tssteigerungen und Standardisierungen der Garne. Allerdings war diese Maschine recht komplex und daher teuer, und sie bedurfte eines mechanischen Antriebs. Erst die Waterframe machte daher eine zentralisierte fabrikma¨ßige Organisation des Spinnprozesses no¨tig und gab damit den Anstoß zu dem, was wir heute Industrialisierung nennen. Natu¨rlich war damit der Innovationsprozess in der Baumwollspinnerei noch nicht vollendet, er setzte sich stetig weiter fort. Der englische Weber Samuel Crompton erhielt z. B. bereits 1779 ein Patent fu¨r seine „Spinning Mule“, eine Spinnmaschine zum Ausspinnen von Baumwolle, die sich nach 1790 schnell verbreitete. Diese Maschine besaß Merkmale ihrer beiden Vorga¨ngertypen Waterframe und Spinning Jenny. Aus der Vereinigung dieser beiden Maschinen leitet sich auch ihr Name ab: Maultier (englisch mule), eine Kreuzung aus Pferd und Esel. Der o¨konomische Vorteil lag vor allem darin, dass damit auch feinere Garnsorten als Massenprodukt hergestellt werden konnten. Die Wirkung all dieser Innovationen in der Baumwollspinnerei war derartig groß, dass nunmehr Baumwollgarne im |berfluss zur Verfu¨gung standen und die Handweber kaum noch nachkamen, die Garne zu Tuchen zu verweben. Handweber waren plo¨tzlich außerordentlich begehrt und sie konnten in England hohe Einkommen erzielen. Ein Teil der Garne wurde exportiert, z. B. auch nach Deutschland, wo sie dort zur Entwicklung einer Baumwollindustrie beitrugen. In England suchte man nach einer technischen Lo¨sung zur |berwindung des Engpasses zwischen Spinnen und Weben. Edmund Cartwright, ein englischer Geistlicher, erlangte schließlich im Jahre 1785 ein Patent fu¨r einen mechanischen Webstuhl. Seine Einfu¨hrung in die Praxis machte aber große Probleme, und erst zwischen 1800 und 1810 erfolgte die erfolgreiche Innovation. Sie verzo¨gerte sich u. a. auch durch Proteste der Handweber, die sich in ihrer Existenz bedroht sahen und mit „Maschinenstu¨rmerei“ reagierten. Da mechanische Webstu¨hle sehr teuer und, wie die neueren Spinnmaschinen, auf einen Antrieb durch Dampfmaschinen angewiesen waren, trugen sie wesentlich zum Durchbruch des Fabriksystems in der englischen Industrie bei (Pierenkemper 1996). Leistungsfa¨hige Dampfmaschinen standen mittlerweile dazu bereit. Aber auch deren Entwicklung und Implementierung in der Praxis ging ein langer Prozess voraus. Dem englischen Ingenieur Thomas Savery 96
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war es erstmals gelungen, eine relativ funktionstu¨chtige Dampfpumpe zu konstruieren, die dann bei der Lo¨sung der Probleme der Wasserhaltung in tiefer gehenden Bergwerken eingesetzt wurde. Obwohl diese Maschine lediglich mit Unterdruck arbeitete und u¨ber keinen Zylinder verfu¨gte, damit also ho¨chst ineffizient arbeitete und gewaltige Mengen an Brennstoff beno¨tigte, fand die 1698 patentierte Erfindung Einsatz in zahlreichen Kohlenbergwerken. Der englische Eisenwarenha¨ndler Thomas Newcomen erarbeitete entscheidende Verbesserungen gegenu¨ber dem Vorla¨ufermodell, insbesondere weil er einen Zylinder beim Pumpvorgangs einsetzte. Die Newcomenschen „Feuermaschinen“ fanden im Bergbau des 18. Jahrhunderts weite Verbreitung und konnten sich anschließend auch auf dem europa¨ischen Kontinent durchsetzen. Der entscheidende Fortschritt gelang aber erst James Watt, Sohn eines schottischen Zimmermanns, der durch den Einbau eines Kondensators den Wirkungsgrad des Energieeinsatzes entscheidend steigern konnte. Zugleich nutzte er erstmals beide Bewegungsrichtungen des Zylinders und daru¨ber hinaus ein von ihm entwickeltes Planetengetriebe, das die Hubbewegung des Zylinders in eine Drehbewegung u¨bersetzte. Doch der Weg zu dieser technischen Lo¨sung war lang und ihre Umsetzung in die Praxis gefahrvoll und beschwerlich (Scherer 1976). Die Geschichte der „Erfindung“ der Dampfmaschine durch James Watt zeigt erneut die Komplexita¨t des Innovationsprozesses einer technischen Neuerung in der Industrie. Sie knu¨pfte an eine lange Tradition derartiger Versuche an und durchlief einen außerordentlich schwierigen und kostspieligen Entwicklungsprozess: sie war alles andere als plo¨tzlich dem Gehirn eines genialen Mannes entsprungen, wie Adolphe Blanqui 1837 behauptete. Zudem wa¨re Watt vermutlich ohne die finanzielle Unterstu¨tzung der Unternehmer Roebuck und Boulton gescheitert. Auch technische Hilfe war no¨tig, so z. B. durch John Wilkinson, der 1774 eine Zylinderbohrmaschine erfunden hatte, die wesentlich zur Fertigung eines passgenauen Zylinders beitrug. Weitere Probleme der Ventilsteuerung, der Ausgestaltung des Kesselbodens u. a¨. waren zu lo¨sen, ehe die atmospha¨rische Dampfmaschine des James Watt ihren Siegeszug in der Industrie beginnen konnte.
Innovation als komplexer Prozess
6.3 Technologische Innovationen in Deutschland Ein „Vorteil der Ru¨cksta¨ndigkeit“ (Gerschenkron 1976, S. 59) Deutschlands in wirtschaftlicher Hinsicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestand darin, dass man in den deutschen Territorien auf die
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Rjckstondigkeit Deutschlands
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Industriespionage
Einsatz der Dampfmaschine in Deutschland
entwickelten Produktionstechnologien Englands zuru¨ckgreifen konnte. Zwar versuchte das Britische Ko¨nigreich durch ein Ausfuhrverbot fu¨r Maschinen und Konstruktionszeichnungen (1781) sowie ein Auswanderungsverbot fu¨r Facharbeiter, den Transfer von Technologie zu verhindern. Doch fanden sich Mittel und Wege, diese Hindernisse zu u¨berwinden. Spionagereisen deutscher Beamter und Unternehmer, der Schmuggel von Maschinen, die Anwerbung ausla¨ndischer Arbeiter und Techniker sowie ein Netz von Agenten und Spionen in England selbst unterliefen erfolgreich die staatlichen Schutzmaßnahmen, die 1843 auch formal wieder aufgehoben wurden. Eine |bernahme der fortgeschrittenen englischen Technologien in Preußen und den u¨brigen deutschen La¨ndern erfolgte dennoch sehr zo¨gerlich und spa¨t (Mieck 1965). Vor 1780 kam es zu keinerlei entsprechenden Versuchen. Lediglich Carl Friedrich Bu¨ckling hatte auf zwei Englandreisen die Newcomenschen Feuermaschinen studieren ko¨nnen. Dem Hu¨ttenbauinspektor und spa¨teren Bergassessor gelang 1784 / 85 ein erfolgreicher Nachbau, der in einigen Bergwerken zur Wasserhaltung Verbreitung fand (Wagenbreth 2002). Zu diesem Zeitpunkt waren traditionelle Feuermaschinen gegenu¨ber den neuen Watt’schen Dampfmaschinen aber bereits technisch veraltet. Eine erste Watt’sche Dampfmaschine aus englischer Produktion wurde in Deutschland 1788 auf der staatlichen Friedrichsgrube, einem Bleiund Silberbergwerk in Oberschlesien, installiert. Dort konnte sie allerdings nur wenig effizient genutzt werden und wurde hingegen als technisches Wunderwerk eher bestaunt als o¨konomisch genutzt – u. a. auch von Johann Wolfgang Goethe. Einige wenige weitere Versuche zur o¨konomischen Nutzung der Dampfmaschine in Deutschland wurden bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts unternommen. 1795 wurde von der Maschinen-Spinnerei Sieburg in Berlin eine englische Dampfmaschine erworben. Sie wurde jedoch auf dem Transportsweg bescha¨digt und die Beschaffung von Ersatzteilen gestaltete sich schwierig. Zwei Jahre spa¨ter war sie endlich betriebsbereit, doch es zeigte sich, dass die Maschine mit 118 PS zum Betrieb von 1 500 Spindeln viel zu stark ausgelegt war. Da sich ihr Betrieb als zu kostspielig und ineffizient erwies, wurde sie bald wieder stillgelegt. Auch bei der Ko¨niglichen Porzellan Manufaktur in Berlin hatte es seit 1788 Pla¨ne zum Bau einer Dampfmaschine gegeben. Ihr Bau verzo¨gerte sich jedoch. Erst im Jahr 1800 ging eine durch den Schotten John Baildon gebaute Dampfmaschine in Gleiwitz / Oberschlesien in Betrieb und lief dort etwa 25 Jahre als Antrieb von Werkzeugmaschinen. Die Aufstellung einer Dampfmaschine in der Spinnerei Alberti 98
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in Waldenburg / Niederschlesien erwies sich als kostspielig und war ebenfalls nur mit staatlicher Unterstu¨tzung mo¨glich. Es zeigt sich, dass die Einfu¨hrung moderner Dampfmaschinen in Deutschland um 1800 nur zo¨gerlich und zumeist durch den Staat selbst oder mit massiver staatlicher Hilfe erfolgte. Bei Privatpersonen gab es offenbar noch kein großes Bedu¨rfnis zur |bernahme der modernsten Technologien aus England. Dazu waren die notwendigen Voraussetzungen im ru¨cksta¨ndigen Deutschland noch nicht vorhanden, die eine rentable Verwertung derartig kostspieliger Innovationen ermo¨glicht ha¨tten. Der Technologietransfer aus dem fortgeschrittenen England in das ru¨cksta¨ndige Deutschland erfolgte also sehr zo¨gerlich und bedurfte bestimmter Formen angepasster Technologien an die spezifischen Bedingungen auf dem Kontinent. Ein gutes Beispiel dafu¨r bietet die Eisenindustrie (Fremdling 1986). Die Eisengewinnung ist in ein zweistufiges Produktionsverfahren gegliedert, in dem auf einer ersten Stufe im Hochofen aus dem Erz ein kohlenstoffreiches Roheisen gewonnen wird, welches anschließend auf einer zweiten Stufe zu einem vielseitig einsetzbaren, schmiedbaren Eisen weiterverarbeitet wird. Die Ergebnisse dieser Verfahren tragen je nach Herstellungsart und Qualita¨t verschiedene Namen, wie beispielsweise Schmiedeeisen, Stabeisen oder Stahl. Die Fortschritte in der Eisentechnologie in England erfolgten auf beiden Stufen der Eisengewinnung. Die Roheisenherstellung (1. Stufe) wurde durch den mit Steinkohlenkoks betriebenen Hochofen revolutioniert und das Puddelverfahren (2. Stufe), also die Herstellung von Stahl aus Roheisen, ermo¨glichte erstmals eine Massenproduktion von schmiedbarem Eisen. Mit diesen grundlegenden Neuerungen waren auf beiden Produktionsstufen weitere zahlreiche Verbesserungen verbunden, wie z. B. das Heißluftblasen im Kokshochofen oder das Walzen des Puddeleisens. Der |bergang vom traditionellen Holzkohlehochofen zum modernen Kokshochofen erfolgte in Deutschland im Vergleich zu England erheblich spa¨ter. Dort hatte der Eisenfabrikant Abraham Darby bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Coalbrookdale erfolgreich Roheisen mithilfe von Steinkohlenkoks erschmolzen (Ashton 1924). Zwar dauerte es noch geraume Zeit, bis sich dieses neue Verfahren in England verbreitete, weil die unterschiedlichen chemischen Beimengungen zur Steinkohle in den verschiedenen Revieren eine einfache |bertragung erschwerten, doch der Erfolg des Kokshochofens in der Eisenindustrie ließ sich nicht aufhalten. Ganz anders in Deutschland. Hier hielt man noch sehr lange am Erschmelzen des 99
Technologietransfer von England nach Deutschland
Beispiel aus der Eisenindustrie
Roheisenherstellung und Puddelverfahren
Entwicklung vom Holzkohle- zum Kokshochofen
IN N OVATIO NEN U ND TE CH NI SCH ER FORTSC HR ITT
Eisenbahn als Katalysator
Verbreitung des Puddelverfahrens
Roheisens durch Holzkohle fest, obwohl auf den staatlichen Hu¨ttenwerken in Oberschlesien bereits seit 1791 / 92 (Malapane) bzw. 1794 / 96 (Gleiwitz) mit den neuen Verfahren erfolgreich experimentiert wurde (Lange-Kothe 1965). Das hatte gewiss auch damit zu tun, dass die Nachfrage nach Eisenprodukten im agrarisch gepra¨gten Deutschland um 1800 noch relativ gering war. Als jedoch mit dem Eisenbahnboom ab den 1830er-Jahren die Nachfrage deutlich anstieg, standen billige Roheisenimporte, insbesondere aus Schottland, zur Verfu¨gung. Zudem war ein Teil der Verbesserungen am Kokshochofen auch bei den Holzkohlehocho¨fen einsetzbar, so z. B. die Nutzung der Gichtgase und die Verbesserungen beim Einblasen von Luft in den Schmelzprozess, um dessen Temperatur zu steigern. Zudem hatte das Holzkohlenroheisen zuna¨chst noch qualitative Vorzu¨ge gegenu¨ber dem Koksroheisen. Der erste Kokshochofen im Ruhrgebiet wurde z. B. erst 1849 auf der Friedrich-Wilhelms-Hu¨tte in Mu¨lheim angeblasen. Auf der erwa¨hnten zweiten Stufe der Eisengewinnung, beim „Frischen“ des Roheisens, um dessen Kohlenstoffgehalt zu reduzieren und ein schmiedbares und verformbares Eisen zu erhalten, wa¨hlte man in Deutschland einen anderen Weg als bei der Roheisengewinnung. Der moderne Puddelprozess war 1784 durch den englischen Metallurgen Henry Cort (1740–1800) eingefu¨hrt worden und fand dann seit dem fru¨hen 19. Jahrhundert in den deutschen Zentren der Eisenindustrie relativ rasch Verbreitung (Paulinyi 1987). Den Anfang machten die Gebru¨der Remy auf dem Rasselstein bei Neuwied und es folgten in rascher Folge die Unternehmer Eberhard Hoesch (1825) in Lendersdorf / Eifel, Friedrich Harkort (1826) in Wetter / Ruhr, Ferdinand Remy (1827) in Alf an der Mosel, Eduard Schmidt (1828) in Nachrodt bei Iserlohn und weitere Werke, sodass bis 1835 das Verfahren fla¨chendeckend von mehr als zehn Eisenwerken unter Nutzung von 38 bis 40 Puddelo¨fen praktiziert wurde (Bosack 1970). Staatliche Eisenhu¨tten hatten bereits seit 1817 (Rybnik in Oberschlesien, Geislautern / Saarrevier) wenig erfolgreich mit dem Puddelverfahren experimentiert. In den 1840er-Jahren gingen dann praktisch alle deutschen Eisenhu¨tten zu diesem Verfahren u¨ber. Sie waren dadurch zunehmend in der Lage, die explodierende heimische Nachfrage nach Eisenbahnmaterialien (Schienen, rollendes Material) zu befriedigen. Dies geschah noch weitestgehend unter Verzicht auf den Ausbau einer heimischen Roheisenbasis, sondern gestu¨tzt auf umfangreiche Roheisenimporte. Man kann daher die Innovationsta¨tigkeit in der deutschen Eisenindustrie im fru¨hen 19. Jahrhundert als 100
FR AG EN UND LE K TrR E E MPFEH LUN GEN
eine „Teilmodernisierung“ (Fremdling 1986, S. 153) bezeichnen. Damit wurde den Bedingungen der deutschen Wirtschaft zu diesem Zeitpunkt Rechnung getragen. Man befand sich gegenu¨ber England in einem gravierenden technologischen Ru¨ckstand und weder die eigenen Ressourcen, noch die vorfindbare Nachfrage ha¨tten eine komplette |bertragung der neuen Technologien ermo¨glicht. Man begnu¨gte sich daher mit kleinen Schritten unter Ausnutzung relativer Kostenvorteile. Das bedeutete, dass man einzelne Neuerungen aufgriff, um die u¨berkommenen Produktionsverfahren effektiver zu gestalten, z. B. durch Heißwindblasen im Holzkohlenhochofen, wodurch die Wettbewerbsfa¨higkeit der traditionellen Verfahren noch eine gewisse Zeit aufrecht erhalten werden konnte. Zum anderen nutzte man preiswerte Inputs (Roheisen), um neue Verfahren der Weiterverarbeitung (Puddeln) anzuwenden und zu optimieren. Man passte gleichsam die englischen Technologien an die noch unvollkommenen deutschen Verha¨ltnisse an und schuf so eine Basis fu¨r eine spa¨tere vollkommene |bernahme der neuen Verfahren.
Teilmodernisierung der deutschen Eisenindustrie
Fragen und Anregungen • Großen Erfindern wird zumeist in der }ffentlichkeit eine große Wirkung auf den Lauf der Weltgeschichte zugeschrieben. La¨sst sich eine derartig vereinfachende Sichtweise auch fu¨r die Industriegeschichte nachweisen? • Ist das Wirtschaftswachstum der letzten 200 Jahre tatsa¨chlich der Entwicklung der Technik geschuldet? • Kann man die |bernahme technologischer Neuerungen in Deutschland im 19. Jahrhundert mit den Problemen einer „angepassten“ Technologie in Entwicklungsla¨ndern heute vergleichen?
Lektjreempfehlungen • Wolfgang Ko¨nig: Technikgeschichte. Eine Einfu¨hrung in ihre Konzepte und Forschungsergebnisse, Stuttgart 2009. Aktuelle mbersicht u¨ber die Technikgeschichte als Wissenschaft und die Geschichte wichtiger Schlu¨sselindustrien wa¨hrend der Industrialisierung.
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rbersichten
IN N OVATIO NEN U ND TE CH NI SCH ER FORTSC HR ITT
• David Landes: Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa 1750 bis zur Gegenwart, Ko¨ln 1973. Standardwerk zur Industrialisierung Westeuropas mit besonderer Beru¨cksichtigung der technologischen Neuerungen. • Gerhard Mensch: Das technologische Patt. Innovationen u¨berwinden die Depression, Frankfurt a. M. 1975. Untersuchung der Wachstumsschwa¨che moderner Volkswirtschaften mit Ru¨ckgriff auf die historische Innovationsforschung. Forschung
• Rainer Fremdling: Technologischer Wandel und internationaler Handel im 18. und 19. Jahrhundert. Die Eisenindustrie in Großbritannien, Belgien, Frankreich und Deutschland (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 35), Berlin 1986. Grundlegende Untersuchung u¨ber internationalen Wettbewerb und den Zwang zu Innovationen in den betrachteten La¨ndern am Beispiel der Eisenindustrie. • Rainer Metz: Wirtschaftliches Wachstum, technischer Fortschritt und Innovationen in Deutschland. Eine Sa¨kularbetrachtung, in: Dietrich Ebeling / Volker Henn u. a. (Hg.), Landesgeschichte als multidisziplina¨re Wissenschaft. Festgabe fu¨r Franz Irsigler zum 60. Geburtstag, Trier 2001, S. 679–709. Guter mberblick u¨ber Ergebnisse der historischen Innovationsforschung.
Handbjcher / Lexika
• Armin Hermann / Wilhelm Dettmering (Hg.): Technik und Kultur, 11 Bde., Du¨sseldorf 1989–95. • Wolfgang Ko¨nig (Hg.): Propyla¨en Technikgeschichte, 5 Bde., Berlin 1990–92. • Melvin Kranzberg / Carroll W. Pursell, Jr. (Hg.): Technology in Western Civilization, New York u. a. 1967. • Charles Singer u. a. (Hg): A History of Technology, 8 Bde., Oxford 1954–84. • Rolf Sonnemann u. a. (Hg.): Geschichte der Technik, Ko¨ln 1978.
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7 Geld und Wohrung
Abbildung 15: Reichsbanknote u¨ber 10 Millionen Mark zu Zeiten der Hyperinflation (1923)
Die Grundlage aller Nationalo¨konomie ist das sog. ,Geld‘. Geld ist weder ein Zahlungsmittel noch ein Tauschmittel, auch ist es keine Fiktion, vor allem aber ist es kein Geld. Fu¨r Geld kann man Waren kaufen, weil es Geld ist, und es ist Geld, weil man dafu¨r Waren kaufen kann. Doch ist diese Theorie inzwischen fallen gelassen worden. Woher das Geld kommt, ist unbekannt. Es ist eben da bzw. nicht da – meist nicht da. Kaspar Hauser (d. i. Kurt Tucholsky): Kurzer Abriß der Nationalo¨konomie, in: Die Weltbu¨hne, Nr. 37 vom 15. September 1931 (Tucholsky 1931)
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GELD UN D Wt HRUN G
Die Verwirrung u¨ber die Eigentu¨mlichkeiten des Geldes, wie sie in den Zeilen von Kurt Tucholsky 1931 zum Ausdruck kommt, scheint versta¨ndlich angesichts der Erfahrungen, die in jener Zeit gemacht wurden. Eine Banknote u¨ber 10 Millionen Mark – welch eine unglaubliche Summe! Nicht jedoch zur Zeit der Hyperinflation, der rasenden Geldentwertung im Deutschen Reich des Jahres 1923. In immer ku¨rzeren Zeitabsta¨nden vervielfachten sich die Preise: Am 1. September 1923 kostete ein einfacher Fahrschein fu¨r die Straßenbahn in Berlin 150 000 Mark. Ende September waren es bereits 4,5 Millionen Mark. Schließlich verlor das Geld mit seinem Wert all seine Funktionen. Der abgebildete Geldschein wurde von einem Wertgegenstand wieder zu dem, was er eigentlich war: ein bedrucktes Stu¨ck Papier. Was verbirgt sich aber hinter dem Pha¨nomen Geld? In a¨lteren Zeiten gab es in Mitteleuropa nur vollwertig ausgepra¨gte Edelmetallmu¨nzen und unedle unterwertige Scheidemu¨nzen, deren Metallwert niedriger war als ihr nomineller Wert. Diese Form des Geldes dominierte bis weit in die Neuzeit, in Deutschland z. B. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Doch schon fru¨h schufen Kaufleute aus Gru¨nden der Bequemlichkeit und Sicherheit fu¨r ihre unsicheren und schwer zu handhabenden Transaktionen mit Mu¨nzgeld Ersatz. Dazu dienten ihnen zuna¨chst Wechsel, also gegenseitige Schuldverschreibungen. Auch Buchgeld fand bald Verbreitung und schließlich konnte mithilfe von Banken auch werthaltiges Papiergeld in Umlauf gebracht werden. Bei dieser Vielfalt der Formen des Geldumlaufs fa¨llt es bis heute schwer, die tatsa¨chliche Menge des Geldes einer Volkswirtschaft genau zu bestimmen.
7.1 Zur Entstehung des Geld- und Bankwesens in Mitteleuropa 7.2 Die Konsolidierung der Wohrungsordnung in Deutschland im 19. Jahrhundert 7.3 Die Zerrjttung der deutschen Wohrung in zwei Inflationen 7.4 Stabilitotskultur in Nachkriegsdeutschland 104
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7.1 Zur Entstehung des Geld- und Bankwesens in Mitteleuropa Geld als eine soziale Innovation zur Erleichterung des Warentausches ist eine kulturelle Errungenschaft, die seit Jahrtausenden verwendet wird. In Mitteleuropa konnte man im fru¨hen Mittelalter an das ro¨mische Mu¨nzsystem anknu¨pfen, das den Solidus als Goldmu¨nze und Siliquen als Silbermu¨nzen kannte. Beide orientierten sich in ihrem Edelmetallgewicht am Ro¨mischen Pfund (327,45 Gramm). Der Solidus wurde in zwo¨lf Unzen zu je sechs Solidi ausgepra¨gt, wa¨hrend aus einem Pfund Silber 144 Siliquen geschlagen wurden. Diese Mu¨nzen blieben lange weiter in Umlauf, auch als die Fra¨nkische Silberwa¨hrung mit 288 Denaren (y Silique) aus dem ro¨mischen Pfund als neue Wa¨hrung eingefu¨hrt war. Die stetigen Mu¨nzverschlechterungen, d. h. die Abnahme des Edelmetallgehaltes der Mu¨nzen vom 4. bis zum 8. Jahrhundert, machten trotz aller Versuche zur Stabilisierung langfristig eine Sanierung des fru¨hmittelalterlichen Mu¨nzwesens no¨tig. Diese erfolgte in der Karolingischen Mu¨nzreform, von Karl dem Großen in den 780er-Jahren vollendet, welcher ein neues, das Karolingische Mu¨nzpfund, einsetzte. Dessen Gewicht bemaß sich nach unterschiedlichen neueren Scha¨tzungen auf 367 bis 409 Gramm, war also ho¨her als das der alten Wa¨hrung. In England hielt sich ein entsprechendes Mu¨nzsystem mit zwanzig Schilling zu je zwo¨lf Pence (denare) pro Pfund Sterling bis in die 1970er-Jahre, auf dem Kontinent hingegen fand die Mark als Mu¨nzgewicht, in Deutschland unter dem Namen „Ko¨lnische Mark“, weite Verbreitung (Sommerland 1910). Daneben blieben a¨ltere Mu¨nzen weiter in Umlauf und neue mit unterschiedlichem Feingehalt traten hinzu. Auch fanden infolge der Kreuzzu¨ge insbesondere seit dem 14. Jahrhundert von dort mitgebrachte Goldmu¨nzen zunehmend Verbreitung, die das Mu¨nzwirrwarr in Mitteleuropa noch weiter vergro¨ßerten. Trotz aller Bemu¨hungen der Mu¨nzherren, z. B. durch vertragliche Regelungen untereinander (Rheinischer Mu¨nzverein 1386) oder durch Reichstagsbeschlu¨sse (Reichsmu¨nzordnungen 1524, 1551 und 1559), gelang es bis in die fru¨he Neuzeit nicht, der stetigen Mu¨nzverschlechterung Einhalt zu gebieten und zu einer Vereinheitlichung des Geldwesens zu gelangen. Besonders unu¨bersichtlich wurde es in der sogenannten Kipper- und Wipperzeit um 1620, als der Mu¨nzwert der allseits verbreiteten Silberwa¨hrungen besonders drastisch reduziert wurde (Lexis 1910, S. 847–853).
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Karolingische Mjnzreform
Mjnzenvielfalt in Europa
Stetige Mjnzverschlechterung
GELD UN D Wt HRUN G
Handelsexpansion
Spezialisierung im Bankgeschoft
Wechselkreditsystem
Erst mit der Entwicklung gro¨ßerer Territorialstaaten auf deutschem Boden glu¨ckte auch hier eine allma¨hliche Stabilisierung und Ordnung des Geldwesens. 1738 war ein Reichsmu¨nzfuß mit 12 Talern pro Mark festgelegt worden, an dem sich z. B. Preußen bereits seit 1690 orientierte (ein Taler zu 30 Groschen a` 12 Pfennige). }sterreich folgte diesem Beispiel aber nicht und pra¨gte 13y Taler aus der Mark. Im Hinblick auf die Uneinigkeit des Geldwesens der vormodernen Wirtschaft muss angemerkt werden, dass nur ein kleiner, im Zeitverlauf allerdings deutlich wachsender Teil der Bevo¨lkerung in die Geldwirtschaft integriert war. Der gro¨ßere Teil der Menschen lebte noch in Formen einer Subsistenzo¨konomie mit umfangreicher Selbstversorgung und einem gelegentlichen und a¨ußerst bescheidenen Bedarf an Bargeld, der mu¨helos durch umlaufende unterwertige Scheidemu¨nzen zu befriedigen war. „Gutes Geld“, also Edelmetallmu¨nzen, blieb der Mehrheit der Bevo¨lkerung noch weitgehend unbekannt. Das a¨nderte sich in der fru¨hen Neuzeit grundlegend, als na¨mlich die Expansion des u¨berregionalen Handels immer mehr Menschen in die Verkehrswirtschaft mit einbezog (Braudel 1986, S. 426–431). Die Ha¨ndler und Kaufleute hingegen, die mit diesem interregionalen und internationalen Handel befasst waren, litten unter den Unzula¨nglichkeiten des Geldwesens und suchten nach Wegen diese zu beheben. In dieser Zeit gewannen Geldwechsler, die sich mit den unterschiedlichen Mu¨nzsorten, ihrem Feingehalt und Zustand auskannten, eine große Bedeutung. Aus diesen Gescha¨ften wuchsen ebenso wie aus Handelsgescha¨ften erste Geldha¨ndler, Bankiers eben, hervor. Eine derartige Spezialisierung war als erstes in den italienischen Sta¨dten zu beobachten (Ehrenberg 1910, S. 360–366). So bereits im 12. Jahrhundert in Genua, wo „bancheri“ neben dem Geldwechsel bereits regelrechte Bankgescha¨fte (Depositen- und Darlehensgescha¨fte) betrieben. Im 13. Jahrhundert traten die Florentiner hinzu, die nicht nur mit ihrem Geld den expandierenden Handel finanzierten, sondern z. B. auch den englischen Ko¨nigen Kredite gewa¨hrten. Als dann nach der Entdeckung Amerikas zwischen 1550 und 1650 ein gewaltiger Silberstrom nach Europa floss, erlangten die als Lombarden bezeichneten italienischen Kaufleute und Bankiers in ganz Europa großen Einfluss, weil sie den Fluss des spanischen Silbers innerhalb Europas weitgehend kontrollierten. Neben dem Handel mit Mu¨nzen und Edelmetallen waren sie auch am Aufbau eines bargeldlosen Wechsel(kredit)systems beteiligt. Dieser „Handel mit Papier“, dem traditionelle su¨ddeutsche Kaufleute 106
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(z. B. die Fugger und Welser) eher skeptisch gegenu¨ber standen, verdra¨ngte sehr bald das Bargeld aus den Kaufmannsgescha¨ften. Dem Ausgleich der Geldforderungen dienten die Messen von Piacenza, die ab 1535 regelma¨ßig, ab 1597 sogar viermal ja¨hrlich abgehalten wurden. Eine kleine Gruppe von ca. 60 „bancheri“, vornehmlich aus Genua, durch eine hohe Kaution legitimiert, glichen die gegenseitigen Wechselforderungen aus, und nur zur Abdeckung der Spitzen war noch Bargeld in relativ geringem Umfang no¨tig. Ein weitgehend bargeldloser Giroverkehr war damit erfolgreich etabliert. Er entlastete den Zahlungsverkehr zwischen Kaufleuten und schuf daru¨ber hinaus neue Kreditmo¨glichkeiten. Neben diesen Privatbankiers gab es zu Beginn der Neuzeit auch bereits einige o¨ffentliche Banken, die ihren Ursprung ha¨ufig in mildta¨tigen Stiftungen von Pfandha¨usern hatten. Diese sta¨dtischen Banken betrieben vornehmlich das o¨rtliche Wechselgescha¨ft und organisierten den Giroverkehr untereinander. Daru¨ber hinaus nahmen sie auch Einlagen der Sta¨dte und gewa¨hrten ihnen Kredite. Derartige o¨ffentliche Banken blieben nicht lange auf Italien begrenzt. Sehr bald wurden an anderen europa¨ischen Handelspla¨tzen a¨hnliche Institutionen geschaffen. Den Anfang machte 1609 die Amsterdamer „Wisselbank“, deren Hauptaufgabe in der Wechselfinanzierung der Gescha¨fte der holla¨ndischen Kaufleute bestand. Sie entwickelte daru¨ber hinaus zur Vereinfachung der Abrechnung und zur Versicherung der Transaktionen ein eigenes Rechengeld, eine Bancowa¨hrung, und betrieb daneben ein Depositen- und Kreditgescha¨ft mit vollwertigen Mu¨nzwa¨hrungen. ~hnlich wie in Amsterdam wurden z. B. in Hamburg (1619), Nu¨rnberg (1621) und in London (1694) o¨ffentliche Banken gegru¨ndet. Preußen war auch in dieser Hinsicht ru¨cksta¨ndig, die erst 1765 gegru¨ndete Ko¨nigliche Giro- und Lehnbank war zudem nicht sehr erfolgreich und konnte erst nach 1848 als Preußische Bank erfolgreich wirken. Die o¨ffentlichen Banken widmeten sich zuna¨chst vor allem der Abwicklung des Wechselgescha¨fts der Kaufleute. Erst spa¨ter u¨bernahmen sie dann die Rolle von Notenbanken durch die Ausgabe werthaltigen Papiergeldes, das sich in Form von Banknoten seit dem Mittelalter langsam verbreitete. Damit wurde der Wirtschaft Liquidita¨t zur Verfu¨gung gestellt, die den fu¨r den Handelsverkehr als unzureichend empfundenen Umfang der Edelmetallmu¨nzen erga¨nzte.
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Entstehung kffentlicher Banken
Kreditgeber fjr die Wirtschaft
GELD UN D Wt HRUN G
7.2 Die Konsolidierung der Wohrungsordnung in Deutschland im 19. Jahrhundert
Mjnchener Mjnzkonvention 1837
Einfjhrung der Mark
Bereits am Ende des 18. Jahrhunderts war in den deutschen Territorien eine gewisse Bereinigung der chaotischen Wa¨hrungsverha¨ltnisse erfolgt. Eine Silberwa¨hrung hatte sich u¨berall durchgesetzt und zwei große Wa¨hrungsra¨ume, der des preußischen Talers und der des su¨ddeutschen Guldens hatten sich etabliert. Doch die teilweise franzo¨sische Besetzung und die Kriege hatten an der Wende zum 19. Jahrhundert die gewonnene Ordnung wieder untergraben und eine Reorganisation war dringend geboten. Nach Neuordnung der staatlichen Verha¨ltnisse im Deutschen Bund 1815 und der Schaffung eines Zollvereins 1834 wurde auch die Vereinheitlichung der Wa¨hrungsverha¨ltnisse zu einem dringenden Anliegen der deutschen Staaten (Holtfrerich 1989, S. 216–241). Die su¨ddeutschen Staaten unternahmen mit der Mu¨nchener Mu¨nzkonvention von 1837 einen ersten Schritt in diese Richtung, weil hier wegen der Vielfalt der Wa¨hrungen eine Regelung als besonders dringlich empfunden wurde. Die Ho¨he des mo¨glichen Mu¨nzgewinns bei Neuauspra¨gungen, also die Differenz zwischen aufgepra¨gtem Nennwert und tatsa¨chlich anfallenden Kosten fu¨r die ausgebende Stelle, wurde vertraglich auf ein Zehntel des Metallwertes reduziert und bildete neben der Eingrenzung des u¨berma¨ßigen Umlaufs von Scheidemu¨nzen den Hauptgegenstand der |bereinkunft. Die Dresdener Mu¨nzkonvention des folgenden Jahres (1838) bezog auch den norddeutschen Talerraum mit ein. Alle deutschen Staaten sollten sich demnach in ihrer Wa¨hrung entweder dem preußischen Taler oder dem su¨ddeutschen Gulden anschließen. Damit verfu¨gte das Zollvereinsgebiet quasi u¨ber zwei Parallelwa¨hrungen und war als ein einheitliches Wa¨hrungsgebiet anzusehen, da der Kurs zwischen Taler und Gulden fixiert war (1 Taler entsprach 13/4 Gulden). Eine besondere Vereinbarung u¨ber den Notenumlauf war offenbar noch nicht no¨tig, da der Umlauf von Papiergeld in Deutschland zu diesem Zeitpunkt außerordentlich gering war. Noch 1871 waren mehr als drei Viertel der umlaufenden Geldmenge in Form von Edelmetallmu¨nzen ausgepra¨gt. Ab 1873 regelte das Mu¨nzgesetz fu¨r das Deutsche Reich die Wa¨hrung neu und fu¨hrte die Mark zu einhundert Pfennigen anstelle von Taler und Gulden als Reichswa¨hrung ein. Die Ausgabe von Papiergeld der 1875 gegru¨ndeten Reichsbank sollte durch Gold gedeckt werden, doch der |bergang von der Silber- zur Goldwa¨h-
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D IE KONS OLI D IERUNG DER Wt HRUN GSO RDN UNG I N D EU TSC HL AND
rung zog sich noch bis 1909 hin, sodass man fu¨r diesen Zeitraum von einer „hinkenden Goldwa¨hrung“ im Deutschen Reich spricht (Borchardt 1976, S. 3–55). Eine Neuordnung von Notenausgabe und Notenumlauf wurde erst durch die Reichsbank betrieben. Bereits 1870 war den Staaten des Deutschen Bundes eine weitere Ausgabe von Staatspapiergeld untersagt worden. Die in den betroffenen zwanzig Staaten noch in Umlauf befindlichen Staatspapiergeldnoten wurden 1874 durch Reichskassenscheine im Umfang von 120 Millionen Mark abgelo¨st. 1876 trat dann die Reichsbank mit eigenen Reichsbanknoten ebenfalls an den Markt. Die Reichsbank la¨sst sich bis auf die bereits erwa¨hnte 1765 in Berlin gegru¨ndete Ko¨nigliche Giro- und Lehnbank zuru¨ckfu¨hren. Sie war als private Gru¨ndung mit einer starken Beteiligung des Staates in Gestalt des Ko¨nigs gegru¨ndet worden und erhielt bereits 1767 das Recht der Notenausgabe. Zuna¨chst wurde von diesem Recht nur in geringem Umfang (200 000 Taler) Gebrauch gemacht, bis 1793 wurden dann aber mehr als 1,3 Millionen Taler in Banknoten emittiert. Allma¨hlich wuchs daru¨ber hinaus die Bank in die Rolle einer Staatsbank hinein (Lichter 1999). Neben den Noten der Giro- und Lehnbank hatte der preußische Staat aber seit 1806 in der Finanzkrise auch eigenes Staatspapiergeld, sogenannte Tresorscheine, in Umlauf gebracht. Im Zusammenhang mit der Staatskrise nach 1806 wurde dann 1808 die Giro- und Lehnbank als „Ko¨nigliche Bank“ verselbststa¨ndigt, um als Notenbank dienen zu ko¨nnen. Das tat sie wenig erfolgreich und fu¨hrte bis zu ihrer Sanierung und Reorganisation als Preußische Bank 1846 nur ein Schattendasein. Ihre Noten liefen kaum um. Wichtiger fu¨r die Zirkulation erwiesen sich die Tresorscheine des preußischen Staates als Staatspapiergeld, die 1807 zu gesetzlichen Zahlungsmitteln gemacht wurden. Zwar sank ihr Kurs gemessen an den Ausgabewerten in den napoleonischen Kriegen deutlich (1813 auf 24 %), doch nach Kriegsende kehrte das Vertrauen zuru¨ck, 1815 waren es wieder 99,25 %. Neben den wenigen Noten der Ko¨niglichen Bank und dem preußischen Staatspapiergeld (Tresorscheine) gab es noch eine Reihe privater Banken, die mit dem Privileg der Notenausgabe ausgestattet waren und die deshalb ebenfalls Banknoten bzw. „Zettel“ in Umlauf brachten. Zu den fru¨hen sogenannten Zettelbanken za¨hlten die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1835), die Leipziger Bank (1839) und die 1846 als private Aktiengesellschaft umgegru¨ndete Preußische Bank. 109
Reichsbank
Preußische Bank 1846
Zettelbanken in den deutschen Staaten
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Notenbanksperrgesetz
Das Notenbanksperrgesetz von 1874 untersagte dann den privaten Notenbanken eine weitere Ausdehnung ihrer Notenausgabe. Die Umstellung auf die Mark als Reichswa¨hrung zwang sie, die Stu¨ckelung ihrer Noten auf den hohen Betrag von mindestens 100 Mark zu begrenzen, was die Attraktivita¨t der Notenausgabe deutlich einschra¨nkte. Hinzu kamen weitere Maßnahmen der Reichsbank, die die Kosten der Notenausgabe fu¨r die Privatnotenbanken deutlich heraufsetzten und sie schließlich ga¨nzlich aus dem Markt dra¨ngten. Die Reichsbanknoten monopolisierten damit quasi das Angebot an Banknoten im Deutschen Reich, deren Bedeutung bis 1913 deutlich anwuchs, die jedoch keinesfalls den Mu¨nzgeldumlauf verdra¨ngten (> ABBILDUNG 16).
Abbildung 16: Entwicklung der Geldbesta¨nde 1870–1913 (Deutsche Bundesbank 1976, S. 27)
Umgestaltung des Bankwesens
Parallel zur Reorganisation des Geldwesens in Deutschland im 19. Jahrhundert erlebte auch das Bankwesen eine grundlegende Umgestaltung. Im fru¨hen 19. Jahrhundert waren es vornehmlich Privatbankiers, die auf der Basis ihres privaten Vermo¨gens Bankgescha¨fte betrieben. Frankfurt am Main und die dortige Bo¨rse dominierten eindeutig das Geschehen, und die Finanzierung des Staatskredits bildete den Hauptgescha¨ftszweig (Ullmann 1990). Zwar waren auch auf die-
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sem Felde bereits bedeutende Finanzinnovationen (z. B. Partialobligationen, d. h. die Stu¨ckelung einer großen Kreditsumme in zahlreiche kleine, handelbare Anteile) vollzogen worden, doch stellte die Finanzierung des Eisenbahnbaus seit den 1830er-Jahren und die der Großindustrie seit den 1850er-Jahren ga¨nzlich neue Anforderungen, die die Finanzkraft der etablierten Institutionen u¨berforderten. Die Bankiers reagierten auf diese Herausforderungen, indem sie Aktienkreditbanken gru¨ndeten, zuna¨chst gegen den Willen des preußischen Staates unter Umgehung der entsprechenden Vorschriften, z. B. bei der Disconto Gesellschaft in Berlin (Gru¨ndung 1851), oder außerhalb des preußischen Staatsgebietes (Darmsta¨dter Bank, 1853 als Bank fu¨r Handel und Industrie gegru¨ndet). Spa¨ter, als auch Banken als Aktiengesellschaften zugelassen waren, entstanden in |bereinstimmung mit den rechtlichen Vorgaben z. B. die Deutsche Bank (1870) und die Dresdner Bank (1872). Diese neuen Banken, als „Privatbankiers erho¨hter Potenz“ erdacht, widmeten sich erfolgreich dem Gru¨ndungs- und Finanzierungsgescha¨ft und ru¨ckten sehr bald in eine zentrale Rolle bei der Finanzierung der deutschen Wirtschaft (> KAPITEL 5). Das Aktienwesen wurde neben dem Depositengescha ¨ ft zum Hauptgegenstand ihrer Gescha¨ftsta¨tigkeit, und die Berliner Bo¨rse gewann sehr bald als Handelsplatz an Bedeutung, weil hier am Sitz der Regierung und der Reichsbank auch alle großen Gescha¨ftsbanken ihre Hauptniederlassung hatten. Die Privatbankiers und die Frankfurter Bo¨rse verloren umgekehrt sehr schnell an Bedeutung und die Berliner „Big Five“ entwickelten sich zu Universalbanken, die nahezu alle Bankgescha¨fte in ihrem Hause ta¨tigen konnten (Tilly 1980a, S. 29–54). Die geschilderte Konsolidierung des deutschen Geld- und Bankwesens ging einher mit einer Sanierung der Staatsfinanzen, denn eine stabile Wa¨hrungsordnung setzt auch geordnete Staatsfinanzen voraus. Der Weg dorthin war jedoch lang. Die finanziellen Verha¨ltnisse vormoderner Staaten waren außerordentlich vielfa¨ltig geregelt. Neben den Fu¨rsten gab es weitere Institutionen mit eigener Finanzhoheit wie z. B. Sta¨dte oder Sta¨nde und quasi o¨ffentliche Ko¨rperschaften. Auch bei den Fu¨rsten war eine strikte Trennung der Finanzen zwischen der privaten Schatulle des Herrschers und den Einnahmen und Ausgaben seines Staates noch nicht gegeben. Ein rationales Steuersystem lag noch in weiter Ferne (Ullmann 2005).
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Entstehung von Aktienkreditbanken
Sanierung der Staatsfinanzen
GELD UN D Wt HRUN G
7.3 Die Zerrjttung der deutschen Wohrung in zwei Inflationen
Enormer Anstieg der Geldmenge
Beeintrochtigte Wohrungsstabilitot
Das 20. Jahrhundert in Deutschland wurde in den 1950er-Jahren als Jahrhundert der Inflationen apostrophiert (Hielscher 1968). Dass darunter der Verlust des Geldwertes zu verstehen ist, ist uns heute durchaus vertraut. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das ganz und gar nicht der Fall und selbst der Begriff Inflation war weitgehend unbekannt, das gemeinte Pha¨nomen wurde zuna¨chst etwas unscharf als „Geldbla¨he“ umschrieben. In der Praxis hatte man sich weitgehend an stabiles Geld gewo¨hnt und Abweichungen von dieser Norm wurden in einem Mu¨nzgeldsystem als Mu¨nzverschlechterung und in der fru¨hen Neuzeit allenfalls als Teuerung erfahren. Das sollte sich im 20. Jahrhundert gravierend a¨ndern (Borchardt 1982, S. 151–161). Die wichtigste Ursache fu¨r den Wertverfall der deutschen Wa¨hrung bildete die Finanzierung der Kriegskosten des Ersten Weltkriegs. Die enormen Kriegslasten hatten zu Staatsschulden von ca. 150 Milliarden Mark gefu¨hrt, die etwa zu zwei Dritteln durch Anleihen und zu einem Drittel durch die Erho¨hung der schwebenden Schuld des Reiches bei der Reichsbank finanziert worden waren (Holtfrerich 1980b, S. 97–115). Dies war nur mo¨glich, weil die Deckungsvorschriften der Reichsbank gleich zu Beginn des Krieges außer Kraft gesetzt wurden. Im Ergebnis zeigte sich eine Erho¨hung der Geldmenge (inklusive aller Schuldverschreibungen mit einer Laufzeit bis zu zwei Jahren) im Deutschen Reich von 36 Milliarden (1914) auf 120 Milliarden Mark (1919) bei einem real sinkenden Sozialprodukt von 46 auf 40 Milliarden Mark im gleichen Zeitraum. Die Wirkung dieser enormen Ausweitung der Geldmenge schlug sich sogleich in Preissteigerungen nieder, bereits im ersten Kriegsjahr war der Preisindex der Lebenshaltung deutlich angestiegen und der Wechselkurs der Mark stark gesunken. Dieser Prozess beschleunigte sich in den folgenden Jahren noch weiter. Der Außenwert der Wa¨hrung fiel deutlich ab, wie auch der innere Wert, die Kaufkraft der Mark, stark beeintra¨chtigt war. Mit diesem Erbe des Kaiserreichs – einer zerru¨tteten Wa¨hrung und gewaltigen Staatsschulden – musste nun die junge Weimarer Republik an den Start gehen. Die Weimarer Republik stand in ihrer Gru¨ndungsphase wirtschaftlich und politisch unter außerordentlich hohem Druck. Nicht nur revolutiona¨re Umtriebe von rechts und links bedrohten ihre Existenz, auch die Demobilisierung des Heeres und die Umstellung
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DI E ZE R Rr TTUN G DER D EU TSC HEN Wt HRUN G IN ZW EI I NF LAT ION EN
der Wirtschaft auf Friedensproduktion stellten weitere große Belastungen dar. Unter diesen Umsta¨nden, bei hohen finanziellen Anforderungen sowie geringen und sinkenden Einnahmen, war an eine Stabilisierung der Wa¨hrung gar nicht zu denken und die Reichsregierung setzte die Politik des „leichten Geldes“ weiter fort. Der damit verbundene Inflationsschub stabilisierte zuna¨chst die Lage und fu¨hrte zu Vollbescha¨ftigung und außerordentlichen Exporterfolgen. Doch nach einer Phase relativer Stabilisierung in den Jahren 1920 und 1921 beschleunigte sich der Verfall der Wa¨hrung immer mehr, das Geld verlor seine Funktion ga¨nzlich. Es diente nicht la¨nger als Wertmaßstab und Wertaufbewahrungsmittel, und auch seine Tauschfunktion ging verloren. Man suchte nach Ersatz fu¨r die Mark und fand sie im Gold (Goldmark), im Dollar oder in anderen Maßgro¨ßen. Die Hyperinflation des Jahres 1923, die in einem sich ta¨glich beschleunigenden Wertverlust des Geldes ihren Ausdruck fand, erforderte unausweichlich eine Wa¨hrungsstabilisierung. Diese erfolgte dann autonom, d. h. ohne die Unterstu¨tzung des Auslandes, in zwei Stufen (Holtfrerich 1980b, S. 298–315). Zuna¨chst wurde am 15. November 1923 die Rentenmark eingefu¨hrt. Dabei handelte es sich um eine reine Binnenwa¨hrung, deren Wert durch eine hypothekarische Belastung der Bodenbesitzer im Deutschen Reich in Ho¨he von 3,2 Milliarden Goldmark gesichert werden sollte. Die Ha¨lfte des so kreierten Betrages wurde der Regierung als Kredit, die andere Ha¨lfte der Wirtschaft in Form neuer Banknoten zur Verfu¨gung gestellt. Die Wertbesta¨ndigkeit der neuen Wa¨hrung hing nun davon ab, ob das Reich die notwendige Ausgabendisziplin zeigen wu¨rde. Und tatsa¨chlich, das „Wunder der Rentenmark“ ereignete sich. Etwa ein Jahr spa¨ter, am 30. August 1924, wurde dann in einem zweiten Schritt die Reichsmark (RM) als eine Goldkernwa¨hrung eingefu¨hrt. Deren Wert war an Gold- und Devisenreserven gebunden und sie war international handelbar. Der Wechselkurs wurde wieder dem Vorkriegskurs gleichgestellt, was wegen der Schwa¨chung der deutschen Wirtschaft zu einer |berbewertung der Reichsmark fu¨hrte und deshalb den deutschen Export behinderte. Die Gescha¨ftspolitik der Reichsbank wurde der Kontrolle eines international besetzten Generalrats unterworfen, um Manipulationen der Wa¨hrung vorzubeugen (Holtfrerich 2001, S. 123–146). Die internationale Kontrolle der Reichsbank stand im Zusammenhang mit den Reparationsforderungen der Alliierten, die im Versailler Vertrag festgeschrieben waren und deren Ho¨he und Zahlungsmodalita¨ten in mehreren folgenden Konferenzen festgelegt wurden. Die Be113
Vklliger Funktionsverlust des Geldes
Einfjhrung der Rentenmark . . .
. . . und der Reichsmark
Alliierte Kontrolle
GELD UN D Wt HRUN G
Erlass der Reparationsschulden
Staatliche Bewirtschaftung
dienung der Reparationsverpflichtungen wa¨hrend der Inflationszeit stellte fu¨r die Regierung zuna¨chst kein großes Problem dar. Das a¨nderte sich allerdings nach der Stabilisierung der Wa¨hrung und ein umfangreicher neuer Plan, der Dawes-Plan, legte den Umfang der Zahlungen und ihre Abwicklung fest. Zur Sicherstellung ihrer Forderungen griffen die alliierten Ma¨chte auch in die Souvera¨nita¨tsrechte des deutschen Staates ein (Reparationsagent, Reichsbahnverpfa¨ndung, Kontrolle der Reichsbank u. a¨.). Als dann in den sogenannten goldenen Jahren der Weimarer Republik diese Problematik einigermaßen geregelt schien, kam man auf die Idee, die restlichen Reparationsschulden des Reiches zu kommerzialisieren und damit handelbar zu machen (Balderston 2002, S. 10–33), was jedoch durch den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise vereitelt wurde. Im Gegenteil, die Bedienung der Reparationsschulden wurde zuna¨chst durch das „Hoover-Moratorium“ ausgesetzt und die Schulden schließlich ganz gestrichen (Lausanner Schuldenkonferenz 1933). Fu¨r die Weimarer Republik bildete die Frage der Reparationen wa¨hrend ihrer gesamten Existenz eine schwere Bu¨rde und die internationalen Beziehungen wurden durch ihre Verquickung mit den interalliierten Schulden nachhaltig belastet. Die Wa¨hrungsfrage blieb also bis zum Ende der Weimarer Republik preka¨r. In der Endphase der Weimarer Republik wurde zur Stabilisierung des Außenwertes der Reichsmark bereits zu dirigistischen Maßnahmen gegriffen z. B. zur Devisenbewirtschaftung 1931, und nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ 1933 konnte nahtlos daran angeknu¨pft werden (Boelcke 1983). Die Devisenknappheit der deutschen Wirtschaft erzwang schon sehr bald eine Rohstoffbewirtschaftung, was bedeutet, dass die knappen Rohstoffe staatlich zentral beschafft und zugeteilt wurden. Die mit der gestiegenen Ru¨stungsnachfrage verbundenen Preissteigerungen fu¨hrten 1936 zu einem staatlich verordneten Preisstopp. Die Anspru¨che des Staates an das Sozialprodukt wuchsen immer weiter und das Regime erwies sich als außerordentlich kreativ bei der Finanzierung der Aufru¨stung. Zuna¨chst dienten MEFO-Wechsel (benannt nach der Metallurgischen Forschungsgesellschaft) als Finanzinstrument. Nach Aufhebung der Unabha¨ngigkeit der Reichsbank (1937) schuf dann ein neues Gesetz 1939 quasi unbegrenzte Mo¨glichkeiten der Geldscho¨pfung durch das Reich. Die Geldmenge war bis dahin bereits gewaltig angewachsen, konnte sich aber wegen des allgemeinen Preisstopps nicht im Preisindex niederschlagen. Zwei Drittel aller Ru¨stungsausgaben waren bis dahin durch Kredite finanziert worden und hatten so einen inflatio114
S TABI LIT tT SKULTUR IN N ACHK RI EG SD EU TSC HL AND
na¨ren Geldu¨berhang geschaffen, den man angesichts des Lohn- und Preisstopps als „zuru¨ckgestaute Inflation“ bezeichnen kann (Boelcke 1985). Mit Beginn des Krieges liefen dann die Staatsfinanzen vo¨llig aus dem Ruder. Der „totale Krieg“ erforderte auch die totale Mobilisierung aller o¨konomischen Ressourcen ohne Ru¨cksicht auf finanzwirtschaftliche Solidita¨t (Tooze 2007). Das gewaltige Loch im Staatshaushalt wurde durch eine wachsende Staatsverschuldung gedeckt, die „gera¨uschlos“, d. h. durch Schuldtitel, bei institutionellen Anlegern finanziert wurde. Kaufkraft wurde somit in Ersparnis gebunden und der Inflationsdruck gemildert. Dennoch wuchs der Umlauf von Bargeld gewaltig an (er stieg von 8,7 Milliarden Reichsmark im Juni 1939 auf 70,3 Milliarden Reichsmark im April 1945). Gu¨ter waren zuvor rationiert, doch ein gravierender Mangel oder gar Hunger traten im Reichsgebiet nirgends auf. Zur relativ guten Versorgung der deutschen Bevo¨lkerung trug u. a. auch die Ausbeutung der besetzten La¨nder wesentlich bei (Banken 2009, Aly 2005). Als Ergebnis dieser Finanzpolitik hatte sich eine Staatsschuld von ca. 300 Milliarden Reichsmark angeha¨uft, der ein auf ca. 25 Milliarden Reichsmark gesunkenes Volkseinkommen gegenu¨ber stand. Fu¨r die Nachkriegswirtschaft bedeutete dies, dass sie auf ein funktionierendes Wa¨hrungssystem verzichten musste. Ersatzwa¨hrungen, z. B. Zigaretten fanden Verbreitung, die Tauschwirtschaft ersetzte die Geldwirtschaft und das Bewirtschaftungssystem musste beibehalten werden. Eine Reorganisation der Wa¨hrung wurde zu einem dringenden Bedu¨rfnis. Geld war weitgehend aus der Zirkulation verschwunden und eine Inflation konnte daher nicht offen zu Tage treten, obgleich der Wertverfall a¨hnlich dramatisch wie ein knappes Vierteljahrhundert zuvor war.
7.4 Stabilitotskultur in Nachkriegsdeutschland Fu¨r den Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bildete die Wa¨hrungsreform von 1948 eine wesentliche Voraussetzung. Der Zusammenbruch des Geldsystems, die nur unzureichende Versorgung der Bevo¨lkerung und ein umfangreicher Schwarzmarkt machten eine derartige Lo¨sung unabwendbar. Doch die Alliierten zo¨gerten noch, weil die fu¨r eine funktionierende Geldwirtschaft notwendige Gu¨termenge unmittelbar nach dem Krieg noch nicht bereit stand und erst mu¨hsam in den ersten Nachkriegsjahren geschaffen werden musste. Erste Versuche, u¨ber hohe Steuerlasten ei-
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Gerouschlose Rjstungsfinanzierung
Ersatzwohrungen
GELD UN D Wt HRUN G
Unabhongige Zentralnotenbank
Einfjhrung der D-Mark
Geldjberhang und Staatsschulden
nen Teil der u¨berschu¨ssigen Reichsmarkgeldmenge abzuscho¨pfen, waren wenig erfolgreich, zu groß war die Diskrepanz zwischen Geldund Gu¨termenge. Zahlreiche Pla¨ne zur Reform der Wa¨hrung wurden gemacht, auch von deutschen Experten (Mo¨ller 1961), doch diese alle wurden verworfen und stattdessen der amerikanische Colm-DodgeGoldsmith-Plan umgesetzt. Zuna¨chst wurde zum 1. Ma¨rz 1948 die Bank deutscher La¨nder als Zentralnotenbank gegru¨ndet, aus der dann 1957 die Deutsche Bundesbank hervorging (Buchheim 1998, S. 91–138). Diese Notenbank war ga¨nzlich unabha¨ngig von den politischen Instanzen konzipiert, was auf Widerspruch bei zahlreichen Experten und auch bei der spa¨teren Bundesregierung stieß. Die Unabha¨ngigkeit der Notenbank wurde also auf amerikanische Initiative verankert und es dauerte lange, bis sich die Bundesregierung mit dieser Konstruktion abfand und sie schließlich sogar zu scha¨tzen lernte. Am 20. Juni 1948 erfolgte dann die eigentliche Wa¨hrungsreform mit der Außerwertsetzung der Reichsmark und der Einfu¨hrung der Deutschen Mark (DM) als neuer Wa¨hrung in den westlichen Besatzungsgebieten. Gespra¨che u¨ber eine Wa¨hrungsreform fu¨r ganz Deutschland waren im Alliierten Kontrollrat gescheitert. Am 23. Juni 1948 verfu¨gte die Sowjetunion fu¨r ihre Zone eine eigene Wa¨hrungsreform, die Spaltung Deutschlands in Ost und West manifestierte sich zunehmend. Mit der Wa¨hrungsreform in den Westsektoren waren zahlreiche weitere Regelungen verbunden, so die Streichung der Staatsschuld, die Umstellung von Sparguthaben im Verha¨ltnis 10 RM zu 0,65 DM sowie die Auszahlung einer Kopfpra¨mie von zuna¨chst 40 DM und weiteren 20 DM zu einem spa¨teren Zeitpunkt. Den Banken, die durch die Wa¨hrungsreform sa¨mtliche Aktiva verloren hatten, mussten zur Aufrechterhaltung ihres Gescha¨ftsbetriebes als Guthaben sogenannte Ausgleichsforderungen seitens des Staates eingera¨umt werden. Damit waren zwei gravierende Probleme des Geldsystems der Nachkriegswirtschaft u¨berwunden: der immense Geldu¨berhang und die horrenden Staatsschulden im Inneren. Die Regelung der Auslandsschulden stand noch an und diese erfolgte durch das Londoner Schuldenabkommen im Jahre 1952 (Abs 1991). Ebenso war ein Lastenausgleich zwischen den unterschiedlich von den Kriegsfolgen betroffenen Teilen der Bevo¨lkerung no¨tig. Dies wurde durch das Lastenausgleichsgesetz von 1953 geregelt. Zeitgleich mit der Wa¨hrungsreform wurden zahlreiche Bewirtschaftungsbestimmungen außer Kraft gesetzt, um die Bildung freier Preise zu ermo¨glichen. Wegen der befu¨rchteten Wirkung dieser Wirtschaftsreform in Richtung auf eine neue Inflation wurde diese von der deutschen Wirt116
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schaftsverwaltung (unter der Leitung des damaligen Wirtschaftsministers und spa¨teren Bundeskanzlers Ludwig Erhard) veranlasste Maßnahme von den Alliierten a¨ußerst skeptisch beurteilt. Doch die befu¨rchtete Wirkung blieb weitgehend aus und ein dynamischer Wachstumsprozess setzte sich in Gang. Der Bank deutscher La¨nder fiel nun die Aufgabe zu, die Stabilita¨t des Geldwertes der neuen Wa¨hrung nach innen und außen zu gewa¨hrleisten. Mit den klassischen Instrumenten der Geldpolitik suchte sie, dieser Aufgabe gerecht zu werden, war aber hinsichtlich des Außenwertes der D-Mark durch die Bundesregierung gebunden, die diesen im System fester Wechselkurse fu¨r die D-Mark festlegte. Die neue Wa¨hrung erwies sich zuna¨chst als schwach. Trotz restriktiver Geldpolitik geriet sie wegen der Importu¨berschu¨sse der Jahre 1948 bis 1950 unter Druck und musste durch einen Kredit der Europa¨ischen Zahlungs-Union in Ho¨he von 120 Millionen US-Dollar gestu¨tzt werden (Buchheim 1990, S. 131). Erst danach wendete sich die Handelsbilanz ins Positive und permanente Zahlungsbilanzu¨berschu¨sse erho¨hten die interne Geldmenge, sodass nun eine importierte Inflation drohte, weil die Wechselkurse fixiert waren und nicht als Ausgleichsmechanismus genutzt werden konnten. Ein Konflikt zwischen innerem Geldwert und der Wechselkursstabilita¨t pra¨gte u¨ber viele Jahre die Politik der Zentralnotenbank und schlug sich in einer schleichenden Inflation nieder. Dieser Konflikt entfiel 1973, als nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Fixkurssystems flexible Wechselkurse in die Weltwirtschaft einkehrten (> KAPITEL 12). Die Deutsche Bundesbank versuchte in diesem neuen Rahmen Wa¨hrungsstabilita¨t nunmehr durch die Steuerung der Geldmenge zu erreichen. Dies gelang nur sehr unvollkommen und man versuchte deshalb zumindest im europa¨ischen Rahmen in den 1970er-Jahren in verschiedenen Formen, die Außenwerte der Wa¨hrungen gegeneinander stabil zu halten (Pierenkemper 1999, S. 21–47). Die Deutsche Mark diente in diesem System als stabile Ankerwa¨hrung und trug so zur Entstehung einer Stabilita¨tskultur in den europa¨ischen Volkswirtschaften wesentlich bei. Bei der Gru¨ndung der Europa¨ischen Wa¨hrungsunion und der Einfu¨hrung des Euro (1999 / 2002) stand zwar das bundesrepublikanische System Pate (Sarrazin 1997), mußte sich in Zukunft aber erst noch bewa¨hren, was nur unvollkommen gelang (Sarrazin).
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Importjberschjsse 1848–1850
Stabilitotskultur
GELD UN D Wt HRUN G
Fragen und Anregungen • Heute ist es uns ga¨nzlich selbstversta¨ndlich, mit Geldscheinen oder gar mit Geld- und Kreditkarte elektronisch zu zahlen. Dies war in der Generation unserer Eltern und Großeltern noch keineswegs der Fall, sie hatten mit Geld ganz andere Erfahrungen gemacht. Welche waren das? • Wa¨hrend der NS-Zeit hat es keine Inflation gegeben und doch wurde das Wa¨hrungssystem durch die staatliche Ausgabenpolitik ga¨nzlich ruiniert. Ko¨nnen Sie diesen Widerspruch erkla¨ren? • Vor der Einfu¨hrung des Euro wurde ha¨ufig darauf hingewiesen, dass eine gemeinsame Wa¨hrung ohne die Schaffung einer politischen Einheit Europas nicht mo¨glich sei. Wie beurteilen Sie dieses Argument vor dem Hintergrund der deutschen Erfahrungen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts?
Lektjreempfehlungen rbersichten
• Theo Balderston: Economics and Politics in the Weimar Republic, Cambridge 2002. Knappe Diskussion der wichtigsten o¨konomischen Probleme der Weimarer Republik. • Manfred Pohl: Konzentration im deutschen Bankwesen (1848–1980), Frankfurt a. M. 1982. Umfassende Darstellung des deutschen Bankwesens seit Mitte des 19. Jahrhunderts. • Bernd Spenger: Das Geld der Deutschen. Geldgeschichte Deutschlands von den Anfa¨ngen bis zur Gegenwart, Paderborn 1995. Gut lesbare, umfassende Geldgeschichte Deutschlands.
Forschung
• Carl-Ludwig Holtfrerich: The Monetary Unification Process in the 19th Century Germany: Relevance and Lessons for Europe Today, in: Marcello de Cecco / Alberto Giovancini (Hg.), A European Central Bank? Perspectives on Monetary Unification after Ten Years of the EMS, Cambridge 1989, S. 216–241. Vergleich der Entstehung eines einheitlichen europa¨ischen Wa¨hrungsraumes mit den Erfahrungen der Vereinheitlichung der Wa¨hrungsverha¨ltnisse in Deutschland im 19. Jahrhundert.
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FR AG EN UND LE K TrR E E MPFEH LUN GEN
• Harold James Rambouillet: 15. November 1975. Die Globalisierung der Wirtschaft, Mu¨nchen 1997. Umfassende Darstellung des internationalen Finanzsystems seit dem Zweiten Weltkrieg. • Richard Tilly: Banken und Industrialisierung in Deutschland, 1850–1870: Ein lberblick, in: ders.: Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung, Go¨ttingen 1980, S. 29–54. Problematisierung des mo¨glichen Beitrages des Geldund Bankensystems zur deutschen Industrialisierung und zum Wirtschaftswachstum. • Deutsche Bundesbank (Hg.): 40 Jahre Deutsche Mark. Moneta¨re Statistiken 1948–1987, Frankfurt a. M. 1988. • Deutsche Bundesbank (Hg.): Deutsches Geld- und Bankwesen in Zahlen 1876–1975, Frankfurt a. M. 1976. • Deutsche Bundesbank (Hg.): Fu¨nfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Wa¨hrung in Deutschland seit 1948, Mu¨nchen 1998. • Deutsche Bundesbank (Hg.): Wa¨hrung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975, Frankfurt a. M. 1976.
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Handbjcher / Lexika
8 Einkommen und Vermkgen
Abbildung 17: Robert Dudley Baxter: Stilisierte Einkommensverteilung der englischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert (Mitte 19. Jhdt.)
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E IN KOMM EN UN D VER MsGEN
Ein Geldsack als Symbol des Kaufmannskapitalismus bildet den Kopf der am menschlichen Ko¨rperbau orientierten Darstellung, die der englische Nationalo¨konom Robert Dudley Baxter Mitte des 19. Jahrhunderts entwarf, um die Ungleichheitsverha¨ltnisse der englischen Gesellschaft abzubilden. Er wa¨hlte dafu¨r eine bildliche, allegorische Darstellung. In der gleichzeitigen ohnlichkeit und Abweichung vom vertrauten Bild des menschlichen Ko¨rpers wurden die sozialen Verha¨ltnisse seinen Zeitgenossen unmittelbar anschaulich. Dass die Fru¨chte der wirtschaftlichen Ta¨tigkeiten in einer Volkswirtschaft nicht allen Menschen in gleicher Weise zuteil werden, ist offensichtlich. In modernen Gesellschaften resultiert die Ungleichheit rechtlich gleichgestellter Menschen vor allem aus der Ho¨he ihrer Markteinkommen und nicht la¨nger wie in vormodernen Zeiten aus ihrer unterschiedlichen Rechtsstellung etwa als Herr oder Knecht. An diese Tatsache lassen sich drei relevante Fragen knu¨pfen. Zum einen ist zu fragen, wie denn diese Einkommensverteilung tatsa¨chlich aussieht und wie sie zu bemessen ist. Daran schließt sich zweitens die Frage an, welche Gru¨nde zu einer unterschiedlichen Beteiligung der Menschen am Ergebnis des Wirtschaftsprozesses fu¨hren, und schließlich drittens, welche Bedeutung die Ungleichheit in der Einkommensverteilung fu¨r die gesellschaftliche Ordnung hat. Die Antworten auf diese drei Fragen ha¨ngen auch vom Entwicklungsstand der Volkswirtschaft ab. In einer Feudalgesellschaft z. B. vermochten sich die Grundherren, die Besitzer des knappen Produktionsfaktors Boden, einen großen Anteil am wirtschaftlichen Ertrag anzueignen, wa¨hrend dies im Kapitalismus die Kapitalbesitzer zu sein scheinen und in der Arbeits- und Wissensgesellschaft mo¨glicherweise Facharbeiter und Experten. Im Folgenden geht es vornehmlich um die Einkommensverteilung seit der Entstehung der modernen Industriewirtschaft im 19. Jahrhundert.
8.1 8.2 8.3 8.4 122
Kategorien und Maßkonzepte von Einkommensverteilung Einkommensungleichheit im 19. und 20. Jahrhundert Reichtum und Armut in der Bundesrepublik Vermkgensverteilung in der Industriegesellschaft
KATEGOR IE N UN D MAS SKON ZEPTE VON E I NKOM MEN SVERT E IL UNG
8.1 Kategorien und Maßkonzepte von Einkommensverteilung Die Verteilung des Einkommens auf verschiedene Bevo¨lkerungsgruppen la¨sst sich nach vielen verschiedenen Kriterien beschreiben. So kann man zuna¨chst einmal auf die Funktion der Menschen hinsichtlich der produktiven Faktoren der Volkswirtschaft blicken. Manche Menschen verfu¨gen lediglich u¨ber ihr Arbeitsvermo¨gen und bringen „Arbeit“ als produktive Ressource in den gesamtwirtschaftlichen Produktionsprozess ein, andere haben zudem „Boden“, „Kapital“ und „Wissen“, die ebenfalls als Produktionsfaktoren wirken (> KAPITEL 4.2). Die Betrachtung der funktionalen Einkommensverteilung misst die Ertra¨ge dieser Faktoren und schreibt sie ihren Besitzern zu. Man kann auch ganz unabha¨ngig vom Produktionsprozess gesellschaftliche Gruppen und Schichten, also unterschiedliche Kategorien sozialer Ungleichheit, bestimmen und nach deren Anteilen am Gesamteinkommen fragen. Arbeiter, Bauern und Grundbesitzer, Mittelschichten und Arme verfu¨gen u¨ber sehr unterschiedliche Anteile am Einkommen. Eine derartige kategoriale Einkommensverteilung gibt Auskunft u¨ber wichtige Formen sozialer Unterschiede in der Gesellschaft und la¨sst sich jeweils auf den bedeutendsten sozialen Sachverhalt hin pra¨zisieren, z. B. Klasse, Schicht oder Ethnizita¨t. Schließlich la¨sst sich ga¨nzlich von sozialer Stellung und o¨konomischer Funktion abstrahierend eine personale Einkommensverteilung bestimmen, bei der die Individuen geordnet nach ihren Einkommen formalen Einkommensklassen zugerechnet werden. Teilt man die Individualeinkommen in dieser Art in zehn gleich große Gruppen (Dezile), bilden z. B. die 10 % der gro¨ßten Einkommen die ho¨chste von zehn Einkommensklassen. Werden fu¨nf Gruppen gebildet (Quintile) umfasst die ho¨chste Einkommensklasse die 20 % der ho¨chsten Einkommen. Weitere derartige Klassifizierungen sind denkbar und werden praktiziert, z. B. solche nach Stadt und Land, Ortsgro¨ße, West- und Ostdeutschland u. a¨., sollen aber im Folgenden keine Beru¨cksichtigung finden. Fu¨r die Entwicklung der modernen Volkswirtschaft bieten funktionale, kategoriale und personale Einkommensmaße hinreichende Informationen (Pierenkemper 2006b). Ein einfaches und genaues Maß fu¨r die funktionale Einkommensverteilung bietet die sogenannte Lohnquote. Zur Errechnung der Lohnquote wird unterstellt, dass das gesamtwirtschaftliche Produkt (Y) durch den Einsatz von Arbeit (A) und Kapital (K) erstellt wird
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Funktionale Einkommensverteilung
Kategoriale Einkommensverteilung
Personale Einkommensverteilung
Lohn- und Gewinnquote
E IN KOMM EN UN D VER MsGEN
und die Besitzer dieser beiden Faktoren entsprechend am gesamtwirtschaftlichen Einkommen beteiligt werden. Das Volkseinkommen (Y) verteilt sich demnach auf Lo¨hne (L) und Gewinne (G), oder in Gleichungen ausgedru¨ckt: Y ¼ f(A, K) Y¼G+L
„Skill-Ratio“
Pareto-Alpha
Gini-Koeffizient
Das Verha¨ltnis der beiden Einkommensformen zum Gesamteinkommen nennt man die Lohnquote (L / Y) bzw. die Gewinnquote (G / Y). Sie messen den jeweils relativen Anteil der beiden Faktoren am Gesamtprodukt und ihre Vera¨nderungen in der Verteilungsrelation der Volkswirtschaft. Allerdings muss bei einer la¨ngerfristigen Betrachtung in Rechnung gestellt werden, dass im Zeitverlauf eine zunehmende Anzahl von Menschen als Unselbststa¨ndige Lohn bezogen haben und immer weniger als Selbststa¨ndige Gewinn. Die Einkommensbezieher lassen sich ebenfalls in vielfa¨ltige Kategorien aufteilen, z. B. nach Alter, Geschlecht, Ausbildung usw. In Deutschland spielten lange Zeit Einkommensunterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten eine große Rolle in der sozialpolitischen Auseinandersetzung. Heute werden Qualifikationsunterschiede zwischen den Bescha¨ftigten immer wichtiger. Dieser Unterschied zwischen Hochqualifizierten und Geringqualifizierten bemisst sich durch einen „skill-ratio“. Im Zeitverlauf zeigt sich z. B. eine relativ bessere Einkommenssituation der Hochqualifizierten. Und auch zur Bestimmung der personalen Einkommensverteilung gibt es verschiedene Verteilungsmaße, von denen die gebra¨uchlichsten das Pareto-Alpha und der Gini-Koeffizient sind, benannt nach zwei italienischen Gelehrten des spa¨ten 19. bzw. fru¨hen 20. Jahrhunderts, Vilfredo Federico Pareto und Corrado Gini, die sich besonders der Untersuchung sozialer Ungleichheit gewidmet haben. Das ParetoAlpha ist ein numerischer Wert, der die „Schiefe“ einer Verteilung misst (Blu¨mle 1975, S. 27–29). Ein hoher Wert signalisiert ein eher geringes Maß an Ungleichheit bei der Einkommensverteilung und ein geringer Wert entsprechend eine geringere Gleichheit. Der Gini-Koeffizient bietet ebenfalls ein numerisches Maß zur Bestimmung von Ungleichheit: Sein Wert liegt zwischen Null und Eins. Er misst den Grad der Abweichung einer beobachtbaren Verteilung von einer vo¨lligen Gleichverteilung. Der Gini-Koeffizient la¨sst sich sehr scho¨n grafisch veranschaulichen (> ABBILDUNG 18).
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KATEGOR IE N UN D MAS SKON ZEPTE VON E I NKOM MEN SVERT E IL UNG
Abbildung 18: Personale Einkommensverteilung in Deutschland (Deckl 2003, S. 1182)
Die Fla¨che zwischen den tatsa¨chlichen kumulierten Einkommen in Deutschland und der Gleichverteilungsgeraden gilt nach Gini als Maß der Ungleichheit. Wa¨ren alle Einkommen gleich verteilt, so wu¨rde diese Gerade die tatsa¨chliche Verteilung aller Einkommen repra¨sentieren; der Wert des Gini-Koeffizienten wa¨re gleich Eins. Je gro¨ßer die Fla¨che wird, je weiter der Koeffizient also unter den Wert Eins sinkt, umso gro¨ßer ist die Ungleichheit. 125
Maß der Ungleichheit
E IN KOMM EN UN D VER MsGEN
8.2 Einkommensungleichheit im 19. und 20. Jahrhundert Industrialisierung und Einkommensverteilung
Lohn- und Gewinnquote in der Industrialisierung
Steuerstatistik zur Schotzung der Einkommensverteilung
Die Industrielle Revolution wird in marxistischer Tradition ha¨ufig gleichgesetzt mit einer Massenverelendung der unteren Volksschichten. Dabei wird zumeist vergessen, dass dieser Prozess im Zuge des Bevo¨lkerungswachstums des 18. Jahrhunderts la¨ngst zuvor eingesetzt hatte und vor allem die la¨ndlichen Unterschichten betraf. In Deutschland hatte die Krise des Pauperismus (> KAPITEL 1) gerade in der ersten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts zu wachsenden Massenelend auf dem Lande gefu¨hrt, sodass die erfolgreiche Industrialisierung in der zweiten Ha¨lfte des Jahrhunderts das Armutsproblem eher entscha¨rfte als versta¨rkte. Wie aber spiegelt sich diese Entwicklung in den Daten zur Einkommensverteilung wider? In bereits weiter vorangeschrittenen Industriestaaten wie England la¨sst sich in der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts tatsa¨chlich ein deutlicher Anstieg der Lohnquote erkennen (Kaelble 1983, S. 35). Eine a¨hnliche, wenn auch zeitlich verzo¨gerte Entwicklung war in Deutschland zu beobachten, sodass auch hier die Lohnquote stieg und die Gewinnquote entsprechend zuru¨ckging. Dies signalisiert fu¨r diesen Zeitraum eine Umverteilung des Volkseinkommens zugunsten der Lohnbezieher. In diesen Relationen lassen sich gewiss die Knappheitsverha¨ltnisse zwischen den Faktoren Arbeit und Kapital erkennen. Arbeit wurde im Verlauf der fortschreitenden Industrialisierung gegenu¨ber dem Kapital relativ knapper und ihr Preis, der Lohnsatz, erho¨hte sich im Verha¨ltnis zum Preis fu¨r Kapital, der Kapitalrendite. Was die personelle Einkommensverteilung betrifft, so ist diese fu¨r das Deutsche Reich insgesamt nur unzureichend zu rekonstruieren. Auf der Basis der Steuerstatistik la¨sst sich in Preußen fu¨r den Zeitraum 1873 bis 1913 zuna¨chst ein Anstieg der Anteile der ho¨heren Einkommensklassen konstatieren, danach dann wiederum ein Ru¨ckgang (Mu¨ller / Geisenberger, 1972, S. 39). Die Einkommensungleichheit in Preußen hat demnach zuna¨chst weiter zugenommen, ehe sich dann im 20. Jahrhundert eine Tendenz zu ho¨herer Gleichheit durchsetzen konnte. Entsprechend sank der Anteil der untersten Einkommensbezieher (unter 900 Mark ja¨hrlich) von 75,2 % im Jahr 1895 auf 65,9 % im Jahr 1912 (Hentschel 1978, S. 67). In anderen deutschen Staaten lagen die Verha¨ltnisse a¨hnlich, wenngleich der jeweilige Industrialisierungsgrad fu¨r die Verteilung der Einkommen noch eine wichtige Rolle spielte.
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Daraus wird eine Entwicklung der Einkommensverteilung deutlich, die fu¨r wachsende Volkswirtschaften als typisch angesehen wird und die von dem US-amerikanischen }konomie-Nobelpreistra¨ger Simon Kuznets erstmals systematisch beschrieben wurde (Kuznets 1955). Die „Kuznets-Kurve“ zeigt einen unterstellten langfristigen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung (gemessen am Pro-Kopf-Einkommen) und der Verteilung. Sie verla¨uft wie ein umgekehrtes „U“, d. h. bei steigendem Pro-Kopf-Einkommen nimmt die Ungleichheit zuna¨chst zu, spa¨ter a¨ndert die Kurve jedoch ihren Verlauf, nun sinkt die Ungleichheit bei weiter steigendem Einkommen wieder. Die Entwicklung in Deutschland unterstu¨tzt diese allgemeine Hypothese. Hier sank z. B. das Pareto-Alpha von einem Wert um 1,9 (1850) auf etwa 1,4 (1900) ab und signalisiert so eine deutlich wachsende Einkommensungleichheit. Die Bezieher ho¨herer Einkommen profitierten vom Industrialisierungsprozess zuna¨chst offenbar deutlich mehr als die unteren Schichten. Das spiegelt sich auch in der Entwicklung der Lohnquote: Zuna¨chst wurden ca. 80 % des Gesamteinkommens als Lo¨hne, d. h. als Einkommen unselbststa¨ndiger Arbeitskra¨fte verausgabt, spa¨ter waren es deutlich weniger als 75 %. Entsprechend wuchs der Anteil der Selbststa¨ndigen und Kapitaleigner am Volkseinkommen. Und auch die qualifizierten Arbeitskra¨fte profitierten vom Wachstum sta¨rker als die unqualifizierten, denn der skill-ratio schwankt im 19. Jahrhundert zwar stark, weist jedoch insgesamt eine sinkende Tendenz auf. Der unterstellte idealtypische Verlauf in der Entwicklung der Einkommensunterschiede in den letzten Jahrhunderten, wie er in der Kuznets-Kurve seinen Ausdruck fand, wurde unla¨ngst vehement in Frage gestellt. Thomas Piketty unternimmt auf der Basis von Scha¨tzungen u¨ber die langfristige Entwicklung der Einkommensverteilung in Frankreich und Großbritannien den Versuch nachzuweisen, dass in diesen beiden La¨ndern langfristig eine Tendenz zu einer stetigen Entwicklung hin auf eine wachsende Ungleichheit der Einkommen und der Vermo¨gen zu beobachten ist (Piketty 2014). Demgema¨ß fordert er wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Begrenzung dieser Entwicklung, vor allem die Einfu¨hrung bzw. eine deutliche Anhebung der Vermo¨genssteuer um dieser unheilvollen Entwicklung entgegenzuarbeiten. So begru¨ßenswert eine derartige Analyse auf der Basis historischer Daten auch ist, umso bedauernswerter erscheint der nachla¨ssige Umgang mit der Qualita¨t dieser Daten und ihrer irrefu¨hrender Pra¨sentation im Text. Die Figur 2.4. auf Seite 100 seines hochgelobten Bu127
Kuznets-Kurve
Entwicklung der Einkommensverteilung in Deutschland
Thomas Piketty
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Umverteilung von unten nach oben
Optimistische Interpretation: Wohlstand durch Wirtschaftswachstum
ches verzerrt z. B. den historischen Verlauf des Wachstums der proKopf Produktion von der Antike bis in die Gegenwart in unzula¨ssiger Weise. Auf der x-Achse der Darstellung benutzt er vom Jahre Null (Christi Geburt) bis 1700/1820 einen anderen Maßstab als fu¨r den relativ kurzen folgenden Zeitraum zwischen 1700 und 2000 und die folgenden Daten bis 2100 sind reine Fiktion. Wie auf Grund dieser Daten die behauptete „Double Bell Curve of Global Growth“ entstehen kann, vermag ich nicht nachzuvollziehen. Zudem widerspricht diese Behauptung allen u¨brigen Erkenntnissen u¨ber den historischen Verlauf des globalen Wachstums der letzten zweitausend Jahre (Abb. 1). Die Zuverla¨ssigkeit historischer Daten wird an keiner Stelle des Bandes hinreichend diskutiert, sondern lediglich auf eine umfangreiche Datenbank verwiesen. Neben diesem laxen Umgang mit den historischen Daten kommen zahlreiche theoretische Ungereimtheiten und methodische Ma¨ngel der Analyse bei Piketty hinzu, die den Wert seiner Untersuchung entscheidend einschra¨nken. Besonders augenfa¨llig erscheint eine durchga¨ngige Verwischung des Unterschiedes einer produktions- von einer verteilungstheoretischen Argumentation. Schon John Stuart Mill hat 1848 darauf hingewiesen, dass die Gesetze der Produktion ga¨nzlich andere seien als die der Verteilung. In der Produktion herrsche eine technisch determinierte Logik des Handels, wa¨hrend in Verteilungsfragen politische Handlungsmo¨glichkeiten gegeben seien. An zahlreichen Stellen der Analyse wird deshalb nicht deutlich, ob von Produktionskapital im Sinne der Produktionstheorie oder von Vermo¨gen im Sinne der Verteilungsanalyse die Rede ist. Diese Verwirrung wird auch noch dadurch gesteigert, dass der Autor darauf hinweist, die Begriffe Kapital und Vermo¨gen gelegentlich synonym zu verwenden. Der gesamte Band ist daher weniger als ein theoretisch begru¨ndeter Beitrag zur modernen Produktions- und Verteilungstheorie zu betrachten, sondern viel mehr als ein engagiertes, politisch motiviertes Pla¨doyer fu¨r eine versta¨rkte Umverteilungspolitik. Im 19. Jahrhundert scheint also die Einkommensverteilung in Deutschland deutlich ungleicher geworden zu sein. Die Reichen haben vom Aufschwung der Wirtschaft offenbar sta¨rker profitiert als die Armen. Wa¨hrend das statistische Pro-Kopf-Einkommen stieg, nahm zuna¨chst die Ungleichheit der Einkommensverteilung zu. In einer eher optimistischen Interpretation kann man darin einen zwar betru¨blichen, gleichwohl notwendigen Zwischenschritt zu einer langfristig ho¨heren Gleichheit sehen. Hierbei geht man davon aus, dass einkommensschwache Schichten in einer relativ armen Gesell128
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schaft kaum Ersparnisse bilden ko¨nnen, sondern sozusagen von der Hand in den Mund leben, ihr gesamtes Einkommen also konsumieren mu¨ssen. In dieser Perspektive erscheint eine Umverteilung zugunsten der Reichen zuna¨chst dazu geeignet, die Sparquote und damit die Investitionsquote erho¨hen zu ko¨nnen. Das aus den versta¨rkten Investitionen resultierende Wirtschaftswachstum vermag dann Raum zu geben, um die Einkommensverteilung langfristig wieder zugunsten der Armen zu vera¨ndern. Die weniger optimistische Interpretation dieser Entwicklung sieht darin eine zwangsla¨ufige Verelendung der Arbeitermassen und das Potenzial zu verscha¨rften Verteilungskonflikten. Der im 19. Jahrhundert in Deutschland zu beobachtende Trend zu steigender Einkommensungleichheit kehrte sich im 20. Jahrhundert jedoch um. Diese Entwicklung entspricht dem Verlauf der KuznetsKurve. Kuznets ha¨lt sie in modernen Volkswirtschaften fu¨r typisch, verkennt dabei aber, dass sich eine Umverteilung zu Gunsten der a¨rmeren Schichten nicht zwangsla¨ufig ergibt, sondern politisch erka¨mpft werden muss. Zu Beginn der Industrialisierung durchlaufen diese zumeist eine Zeit wachsender Ungleichheit. Doch „saturierte“ La¨nder mit einem gewissen Wohlfahrtsniveau ko¨nnen dann Umverteilungsmechanismen, z. B. durch den Aufbau eines Sozialsystems, etablieren, die dann die bereits aus den Marktrelationen zwischen Arbeit und Kapital sich ergebende Tendenz zur Begrenzung der Einkommensungleichheit weiter versta¨rken und zu wachsender Gleichheit beitragen. Aus diesen Beobachtungen ließe sich ein mo¨glicher Zielkonflikt zwischen Gleichheit und Wirtschaftswachstum herauslesen, denn ein gewisses Maß an Ungleichheit scheint als wesentliche Triebkraft des Wirtschaftswachstums zu wirken und ist damit quasi ein Preis des Fortschritts zu sein. Die Einkommensverteilung entwickelter Volkswirtschaften im 20. Jahrhundert ist deshalb in hohem Maße durch Umverteilung bestimmt. In Europa ist der Wohlfahrtsstaat auf dem Vormarsch. Dies war in Deutschland in der ersten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts, bedingt durch die durchlaufenen Krisen und Katastrophen, noch nicht augenfa¨llig. Gleichwohl ist infolge der in der Hyperinflation 1923 gipfelnden Geldentwertung und deren Verteilungswirkung fu¨r die Besitzer von Geldvermo¨gen der Anteil der Bezieher hoher Einkommen dramatisch zuru¨ckgegangen: Pareto-Alpha und Lohnquote steigen deutlich an und auch der skill-ratio weist in die gleiche Richtung. Diese Entwicklung blieb natu¨rlich nicht auf Deutschland beschra¨nkt. Auch in anderen Industriestaaten zeigt sich im 20. Jahrhun129
Pessimistische Interpretation: Verelendung der Arbeiterschaft
Zielkonflikt zwischen Gleichheit und Wirtschaftswachstum?
Zunehmende Gleichheit im 20. Jahrhundert
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Jjngste Entwicklungen
dert langfristig eine Tendenz zu ho¨herer Einkommensgleichheit (Kraus 1987, S. 187). Der Anteil des obersten Dezils (also die 10 % mit den ho¨chsten Einkommen) am Gesamteinkommen zeigte sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien und den USA zwischen 1935 und 1970 eine deutlich fallende Tendenz. In Deutschland sank sein Anteil in diesem Zeitraum von knapp 40 % auf gut 30 %, in Großbritannien von ebenfalls knapp 40 % sogar auf gut 25 % und selbst in den USA von 35 % auf 25 %. Auf der anderen Seite stiegen die Anteile der unteren Dezile leicht an, wa¨hrend die mittleren Dezile (sechs bis neun) die deutlichsten Fortschritte verzeichneten. Eine Ausnahme bildete hier allenfalls Deutschland, wo die unteren Dezile sta¨rker und die mittleren weniger stark von der allgemeinen Entwicklung profitierten. In ju¨ngster Zeit weist jedoch die sinkende Lohnquote in den Industriela¨ndern auf eine problematische Entwicklung hin. An dieser Beobachtung knu¨pft Piketty mit seinem Werk an. Dieser Ru¨ckgang beruht allerdings weniger auf sinkenden Lo¨hnen, sondern sta¨rker auf einer Vera¨nderung in der Struktur der Erwerbsta¨tigen. Die Zahl der Unselbststa¨ndigen und die der Arbeitslosen ist stetig gewachsen, sodass sich den steigenden Lohnanteil am Sozialprodukt immer mehr abha¨ngig Bescha¨ftigte teilen mu¨ssen, was die Verteilungswirkung einer wachsenden Lohnquote deutlich relativiert. Aber auch innerhalb der Erwerbsta¨tigen ist eine wachsende Lohnspreizung zu beobachten. Qualifizierte Arbeitskra¨fte genießen weitaus sta¨rkere Lohnzuwa¨chse als unqualifizierte, und letztere sind versta¨rkt von Arbeitslosigkeit betroffen (> KAPITEL 3).
8.3 Reichtum und Armut in der Bundesrepublik
Relative Armut
Gegenwa¨rtig wird in der Bundesrepublik Deutschland immer wieder darauf hingewiesen, dass trotz aller Wohlfahrtszugewinne der letzen Dekaden auch bei uns Armut noch lange nicht verschwunden ist. Natu¨rlich besteht die Armut der Gegenwart nicht in einer Bedrohung durch Hunger, sondern sie zeigt sich in relativer Armut und sozialer Ausgrenzung (> KAPITEL 2). Nach zahlreichen ju¨ngeren Untersuchungen gelten in unserer Gesellschaft mehr als ein Achtel aller Einwohner als armutsgefa¨hrdet. Dieses Armutsrisiko konzentriert sich zudem bei bestimmten Bevo¨lkerungsgruppen, bei den Unqualifizierten, bei allein erziehenden Frauen und bei Migranten. Auch ist in Ostdeutschland eine gravierendere Armutsrate als in Westdeutschland zu
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beobachten, dort stieg der Gini-Koeffizient von unter 0,21 (1992) auf 0,25 (2005), und die Armutsrate betrug 2005 sogar 22 %. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass es sich hierbei immer um relative Armut handelt (> KAPITEL 1). Als arm gilt in Deutschland, wer nur ein monatliches Einkommen erzielt, das weniger als 60 % des Durchschnittseinkommens aller Einkommensbezieher entspricht: „Der Armutsbegriff hat sich vom absoluten Wohlfahrtsniveau gelo¨st.“ (Miegel 2003, S. 103–106). Zu dieser Entwicklung haben verschiedene Ursachen beigetragen. Einmal la¨sst sich auf den Arbeitsma¨rkten entsprechend der skill-ratio eine zunehmende Lohnspreizung beobachten, sodass gut und hoch qualifizierte Arbeitskra¨fte steigende Einkommen verzeichnen, wa¨hrend die Einkommen der Geringqualifizierten z. T. unter die statistisch definierte Armutsgrenze sinken. Zweitens ist das Auseinanderbrechen u¨berkommener sozialer Institutionen wie Ehe und Familie ein Grund dafu¨r, dass zahlreiche Menschen in relative Armut fallen. Sei es, weil etwa bei Alleinerziehenden die Mo¨glichkeit der Erzielung hinreichender Erwerbseinkommen vermindert wird oder weil die finanziellen Aufwendungen durch Trennung, Scheidung, Haushaltsverdoppelung u. a¨. deutlich ansteigen. Staatliche Transferleitungen vermo¨gen drittens diese Lu¨cke zwischen den erforderlichen Subsistenzmitteln zu einer angemessenen Lebensfu¨hrung und den erzielbaren Erwerbseinkommen wegen der Finanznot des Staates immer weniger zu schließen (Andreß / Seeck 2007). Allerdings empfiehlt es sich, in der gegenwa¨rtig heiß gefu¨hrten Armutsdebatte der Bundesrepublik Deutschland gelegentlich auch einmal inne zu halten und in einer historischen Ru¨ckschau das Problem absoluter Armut der Gegenwart zu reflektieren. In Geldwerten gemessen kann heute ein einzelner Sozialhilfeempfa¨nger preisbereinigt in etwa genau so viel ausgeben wie ein durchschnittlicher Vier-Personen-Arbeitnehmerhaushalt in den 1950er-Jahren, na¨mlich ca. 600 Euro im Monat (Miegel 2003, S. 103). Die Mehrheit der heute u¨ber 50-Ja¨hrigen ist demnach in Haushalten aufgewachsen, die nach heutigen Maßsta¨ben „Armenhaushalte“ waren, und diese Haushalte vermochten damals in sehr vielen Fa¨llen Ersparnisse zu bilden und Wohneigentum zu erwerben. Ein Blick u¨ber die Grenzen vermag das Bild der Armut in der Bundesrepublik Deutschland zu relativieren. In den osteuropa¨ischen Beitrittsstaaten zur Europa¨ischen Union beziehen ~rzte, Ingenieure und Universita¨tsprofessoren Einkommen, die, in Kaufkraft gemessen, kaum u¨ber denen der deutschen Sozialhilfeempfa¨nger liegen. Ein por131
Armutsrisiken
Absolute Armut im intertemporalen Vergleich
Absolute Armut im internationalen Vergleich
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Ungleichheit unter Selbststondigen
„Gesagt wird Armut, gemeint ist Gleichheit“
Gleichheit und Ungleichheit im rechten Maß
tugiesischer Durchschnittshaushalt hat weniger, der spanische nur wenig mehr als die „Armen“ in Deutschland. Daher finden sich in Deutschland speziell, aber auch in der EU allgemein, zahlreiche Migranten, die sich dra¨ngen, um hier „arm“ sein zu ko¨nnen. Auch ein na¨herer Blick auf die „Reichen“ in der Bundesrepublik kann das allzu simple Bild einer als ungerecht empfundenen Einkommensverteilung ein wenig korrigieren (Merz 2004). Die Einkommen der Selbststa¨ndigen, die gemeinhin als reich angesehen werden, sind noch viel ungleicher verteilt als die der unselbststa¨ndig Bescha¨ftigten. An der Spitze der Einkommenspyramide der Reichen stehen natu¨rlich die Milliona¨re, die deutlich ho¨here Einkommen erreichen als der Durchschnitt der Selbststa¨ndigen. Die u¨brigen Selbststa¨ndigen erzielen eher durchschnittliche Einkommen, ein Teil von ihnen deutlich geringere als viele Unselbststa¨ndige, z. B. Manager. Manche Positionen in der Debatte um Armut in der Bundesrepublik scheinen als Ziel weniger die Beka¨mpfung der Armut als vielmehr die Gewinnung ho¨herer Gleichheit zu verfolgen: „Gesagt wird Armut, gemeint ist Gleichheit“, so bringt dies der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel auf den Punkt (Miegel 2003, S. 106). Ob eine gleiche Einkommensverteilung als gerecht empfunden wird, kann mit gutem Recht bezweifelt werden. Es geht wohl eher um ein angemessenes Maß von Gleichheit und Ungleichheit. In unserem Wertesystem nehmen Menschenwu¨rde, Menschenrechte u. a¨. einen bedeutenden Platz ein, diese ethischen Grundsa¨tze machen eine Sicherung der Existenz von Menschen unabweisbar. Und auch o¨konomisch betrachtet stellt die Grundsicherung aller Bu¨rger einen hohen Wert dar, weil nur so die gesellschaftliche Stabilita¨t als Voraussetzung fu¨r ein gedeihliches Wirtschaftsleben gewa¨hrleistet werden kann. Ungleichheit hat eine nu¨tzliche Funktion als Antriebskraft fu¨r Menschen, mehr und Neues zu wagen und dafu¨r im Erfolgsfall u¨berproportional belohnt zu werden. Das richtige Maß von Gleichheit und Ungleichheit in einer Gesellschaft zu finden ist also die Aufgabe, wobei klar sein sollte, dass u¨ber das Ausmaß der jeweiligen Gro¨ße sehr unterschiedliche Auffassungen bestehen und daru¨ber zu Recht eine sta¨ndige Auseinandersetzung gefu¨hrt wird. Eines hat die historische Erfahrung allerdings gelehrt, dass es offenbar recht einfach ist, alle Bu¨rger gleich arm zu machen, aber unendlich schwieriger, sie gleich reich zu machen. Ungleichheit ist wohl Preis der Effizienz und des Fortschritts, und dies wird in der Bundesrepublik Deutschland weitgehend akzeptiert. Das Ziel sollte daher nicht Gleichheit heißen, sondern Chancengleichheit. 132
VE R MsGEN SVE RTE IL UNG I N D ER IN DUST RI EGE S EL LS CHA FT
8.4 Vermkgensverteilung in der Industriegesellschaft Reichtum in Deutschland tritt ha¨ufig weniger als ein Problem ungleicher Einkommensverteilung als vielmehr als ein solches der ungleichen Verteilung des Vermo¨gens der Gesellschaft auf. Vermo¨gen wurde in der Vergangenheit aus Einkommen aufgebaut, akkumuliert und sollte bei rentabler Verwendung in Zukunft weiteres Einkommen generieren. Was aber ist Vermo¨gen? Traditionell versteht man darunter die Summe all dessen, was in der Zukunft Einkommen erbringen kann, quasi die Wertsumme aller Aktiva in einer Gesellschaft. In erster Linie sind dies Geld-, Sachund Anlagevermo¨gen. Doch so einfach diese Definition klingt, eine Menge Fragen bleiben dabei offen. Bilden z. B. Rentenanspru¨che oder Lebensversicherungen Vermo¨gensbestandteile? Gerade fu¨r den a¨rmeren Teil der Bevo¨lkerung sind Anspru¨che an die gesetzliche Rentenversicherung außerordentlich wichtig, obwohl er nicht frei u¨ber dieses „Vermo¨gen“ verfu¨gen kann und dessen Umfang zudem nur schwer zu bewerten ist. Eine andere Frage ist, wie das gesellschaftliche Vermo¨gen, die Einrichtungen des Bildungswesens oder die Infrastruktur (z. B. Autobahnen) zu bewerten ist. Auch sie stiften zuku¨nftigen Nutzen und erho¨hen zuku¨nftige Einkommen (Schulen, Universita¨ten etc.) (Opitz 1980, S. 69). Eine Zuordnung zu einzelnen Personen oder Haushalten als Teil deren Vermo¨gens erscheint aber unmo¨glich. Das Humankapital einer Gesellschaft, verko¨rpert in Arbeitskraft und Qualifikation ihrer Bevo¨lkerung, vermag ebenfalls in Zukunft Einkommen zu generieren und dieses fließt sogar unmittelbar seinen Tra¨gern zu. Gleichwohl la¨sst sich diese Art von Vermo¨gen nur schwer durch die konventionelle Vermo¨gensdefinition erfassen. Eine erweiterte Definition von Vermo¨gen in der modernen Volkswirtschaft erscheint daher angemessen, in die neben dem materiellen auch immaterielles Vermo¨gen einbezogen wird. Zur Benennung von Umfang und Verteilung der Vermo¨gen in den modernen Staaten stehen nur außerordentlich wenige Daten zur Verfu¨gung. Seit den gro¨ßeren Untersuchungen in den 1960er-Jahren durch die Volkswirte Carl Fo¨hl (Fo¨hl 1964), Wilhelm Krelle (Krelle 1968) und Bruno Gleitze (Gleitze 1969) sind in der Bundesrepublik Deutschland keine weiteren umfangreichen Erhebungen erfolgt. Die Wirtschaftspolitik und die Forschung der folgenden Dekaden haben
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Bezug von Einkommen und Vermkgen
Konventionelle Definition
Vermkgen als schwer zu fassender Begriff
Mangel an substanziellen Untersuchungen
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Vermkgensaufbau in der Bundesrepublik
Strategische Bedeutung des Produktivvermkgens
sich eher der Steigerung von Einkommen zugewandt und der Vermo¨gensbildung als politischem Ziel keine gro¨ßere Aufmerksamkeit mehr gewidmet. Erst neuerdings scheint eine gewisse Ru¨ckbesinnung erkennbar, beispielsweise in Gestalt des Investivlohns, bei dem die Arbeitnehmer einen Teil ihrer Bezu¨ge in Form von Beteiligungen am Unternehmen erhalten. In der Wiederaufbauphase der Bundesrepublik Deutschland war ein bemerkenswerter Vermo¨gensaufbau zu beobachten. Dieser konzentrierte sich zwar zuna¨chst auf das unternehmerische Produktionsvermo¨gen, doch der Anteil privater Haushalte am Gesamtvermo¨gen ist bereits seit den 1950er-Jahren deutlich angestiegen. Die Not der fru¨hen Nachkriegszeit war bald u¨berwunden und nicht nur die o¨ffentliche Infrastruktur wurde stark ausgebaut, auch der private Wohnungsbau und der Erwerb langlebiger Konsumgu¨ter wie Haushaltsausstattung oder Autos schufen einen gewissen Vermo¨gensbestand bei den privaten Haushalten. Die Ersparnisse wuchsen ebenfalls und auch Geldvermo¨gen konnten wieder entstehen, wobei deutlich wurde, dass sich gerade beim Vermo¨gensaufbau die Unterschiede im Einkommen versta¨rkt auswirkten. Ho¨here Einkommen setzen die Menschen eher in die Lage, Teile des Einkommens fu¨r Sparzwecke zu eru¨brigen; je ho¨her die Einkommen, umso ho¨her die Ersparnis, und die Ertra¨ge dieser Auslagen steigern wiederum die Einkommen und verscha¨rfen so die Einkommensungleichheit. Die Verteilung der Vermo¨gen ist daher noch weitaus ungleicher als die der Einkommen. Besonders bedeutsam ist dabei, dass eine ho¨here Ersparnis ha¨ufig in eine besondere Anlageform investiert wird: in das Produktionsvermo¨gen. Zwar repra¨sentiert diese Vermo¨gensform, als Betriebsvermo¨gen oder Kapitalanteile, nur einen kleinen Teil des Gesamtvermo¨gens einer Volkswirtschaft – sein Wert ist z. B. geringer als der der Spareinlagen –, doch ist dieser Teil von strategischer Bedeutung. Denn damit verbunden ist die unternehmerische Dispositionsfreiheit in einer kapitalistischen Marktwirtschaft. Die Besitzer des Produktivvermo¨gens treffen die zentralen o¨konomischen Entscheidungen in einer Volkswirtschaft, na¨mlich was, wie viel und wie produziert wird. Ihre Investitionsentscheidungen bestimmen u¨ber Wachstum und Arbeitspla¨tze, u¨ber Konjunkturen und Krisen. Die ordnungspolitische Einbindung und politische Legitimation unternehmerischer Entscheidungen bleibt daher eine komplexe und brisante Aufgabe kapitalistischer Marktwirtschaften.
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FR AG EN UND LE K TrR E E MPFEH LUN GEN
Fragen und Anregungen • Denken Sie einmal daru¨ber nach, ob die Pensions- und Rentenanspru¨che Ihrer Eltern zum Vermo¨gen Ihres Familienhaushaltes zu za¨hlen sind. • Ist Ungleichheit tatsa¨chlich der Preis des Fortschritts oder nur eine bequeme Ausrede zur Aufrechterhaltung einer u¨berkommenen und ungerechten Einkommens- und Vermo¨gensverteilung? • Erla¨utern Sie verschiedene Dimensionen sozialer Ungleichheit. • Wie la¨sst sich der historisch beobachtbare U-fo¨rmige Verlauf der Entwicklung o¨konomischer Ungleichheit im Industrialisierungsprozess erkla¨ren?
Lektjreempfehlungen • Ferdinand Lundberg: Die Reichen und die Superreichen. Macht und Allmacht des Geldes, Hamburg 1969. Popula¨rer und kritischer Versuch, sich mit der Ungleichheit und der amerikanischen Gesellschaft auseinander zu setzen.
rbersichten
• Michael Jungblut: Die Reichen und die Superreichen. Macht und Allmacht des Geldes, Hamburg 1971. Folgt dem amerikanischen Vorbild, das Lundberg fu¨r Amerika vorlegt, und versucht, die deutschen Verha¨ltnisse anschaulich und popula¨r zu beschreiben. • Hartmut Kaelble: Industrialisierung und soziale Ungleichheit. Europa im 19. Jahrhundert. Eine Bilanz, Go¨ttingen 1983. Zusammenfassende Darstellung der historischen Ungleichheitsforschung mit einem wichtigen Kapitel zur Einkommens- und Vermo¨gensverteilung. • Anthony Giddens: Die Frage der sozialen Ungleichheit, Frankfurt a. M. 2001. Eine modernistische Kritik von Neoliberalismus und traditionell sozialdemokratischer Umverteilungspolitik sowie Propagierung eines „Dritten Wegs“. • Hartmut Kaelble: Historische Mobilita¨tsforschung. Westeuropa und die USA im 19. und 20. Jahrhundert, Darmstadt 1978. Bilanz der Ergebnisse der historischen Erforschung zu Chancengleichheit und Vera¨nderung sozialer Ungleichheit im internationalen Vergleich.
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Forschung
9 Wandel der wirtschaftlichen Strukturen
Abbildung 19: Traditionelle Feldarbeit (1930er-Jahre)
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WAN DEL DE R WI RT SCH AFT LI CHEN S TRUK TUR EN
Ein Bauer bestellt seinen Acker – ein vertrautes Bild, gleichwohl aus einer fernen, scheinbar vergangenen Welt stammend. Man kann noch nicht einmal genau sagen, wo und wann die Szene zu verorten wa¨re. Ob es sich dabei um einen su¨dosteuropa¨ischen Bauern heute, einen aus Westfalen um 1950 oder um einen Schlesier des 19. Jahrhunderts handelt. Ja, mit wenigen Vera¨nderungen ko¨nnte das Bild sogar aus dem Mittelalter stammen, und selbst die ro¨mischen Kolonisten haben vermutlich die Bodenbearbeitung ziemlich a¨hnlich betrieben. Das Bild vermittelt den Eindruck einer langfristig stabilen, gleichsam ewigen Wirtschafts- und Gesellschaftsform einer Agrargesellschaft. mber Jahrhunderte stellte die Bodenbewirtschaftung die Basis fu¨r die menschliche Existenz dar und die Verfu¨gung u¨ber den Boden bestimmte die gesellschaftliche Machtverteilung. Erst in historisch relativ kurz zuru¨ckliegender Zeit, im Industrialisierungsprozess des 19. Jahrhunderts, hat sich die o¨konomische Basis der gesellschaftlichen Existenz der Menschen deutlich verschoben, und der Boden als o¨konomische Zentralressource der Volkswirtschaft hat entscheidend an Bedeutung verloren. An dessen Stelle ist das Kapital als Ausdruck der scho¨pferischen Kraft des Menschen getreten und hat die gesellschaftlichen Verha¨ltnisse grundlegend umgestaltet. Den Prozess des sektoralen Strukturwandels nennen wir gemeinhin Industrialisierung. Er fand seinen unmittelbaren quantitativen Ausdruck seit dem fru¨hen 19. Jahrhundert in einem stetig sinkenden Anteil der Bescha¨ftigten, die in der Landwirtschaft Arbeit und Brot fanden, und in einem parallelen Ru¨ckgang der Bedeutung der Wertscho¨pfung im Agrarsektor. Die sogenannte Sektortheorie versucht diesen Strukturwandel theoretisch zu untermauern und den |bergang von der Agrargesellschaft der vormodernen Zeit zur modernen Industriegesellschaft zu analysieren. Bei aller Plausibilita¨t ist die Sektortheorie jedoch auch kritisch zu befragen, ebenso wie die oft behauptete Entwicklung hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft.
9.1 Sektoraler Strukturwandel 9.2 Sektortheorie 9.3 Industrie- oder Dienstleistungsgesellschaft? 138
SE KTORA LE R S TRUK TURWA NDE L
9.1 Sektoraler Strukturwandel }konomisches Wachstum und soziale Entwicklung sind mit tief greifenden Vera¨nderungen in der Struktur der Wirtschaft und mit tief greifenden Ungleichgewichten in der Gesellschaft verbunden. Es sind gerade auch die Vera¨nderungen im o¨konomischen Kreislauf, die entscheidend zur Entwicklung einer Volkswirtschaft beitragen. Der o¨sterreichische }konom Joseph Alois Schumpeter hat dem Pha¨nomen der „scho¨pferischen Zersto¨rung“ durch Innovation / Neuerung in seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (> KAPITEL 6) eine theoretische Basis verschafft. Seiner Auffassung nach besteht die o¨konomische Produktion grundsa¨tzlich in der Kombination produktiver Faktoren. Diese Kombinationen ko¨nnen sowohl technischer Art sein als sich auch auf Produkte, Rohstoffe, Organisation und Ma¨rkte beziehen. Fortschritt und Entwicklung ergeben sich nur, wenn diese Faktorkombination vera¨ndert, d. h. effektiver gestaltet wird. Alte Kombinationen werden aufgegeben, neue bessere Kombinationen ersonnen und durchgesetzt. Diesen Prozess der Durchsetzung neuer Faktorkombinationen nennt Schumpeter Innovation. Die jeweilige Kombination produktiver Faktoren findet ihren Ausdruck in der komplexen Struktur der Volkswirtschaft. Diese zeigt sich ja nicht als ein monolithischer Block, sondern vielfach gegliedert. Das gilt sowohl fu¨r die Inputseite, die Vielfalt der Einsatzfaktoren, wie auch fu¨r die Outputseite mit der Vielgestaltigkeit der volkswirtschaftlichen Wertscho¨pfung. Dieser Sachverhalt war auch fru¨heren Denkern bereits gegenwa¨rtig und sie suchten nach Mo¨glichkeiten, die strukturellen Eigentu¨mlichkeiten der Wirtschaft zeitgema¨ß zu beschreiben. Fu¨r den Begru¨nder der physiokratischen Schule der }konomie im 18. Jahrhundert, Franc¸ois Quesnay, schien in seinem beru¨hmten Tableau e´conomique von 1758, einer der ersten Darstellungen des Wirtschaftskreislaufs, eine Aufteilung der Wirtschaft in drei Klassen angemessen. Er unterschied zwischen einer Klasse von Grundbesitzern, die als Eigentu¨mer den Grund und Boden zur gesellschaftlichen Produktion bereitstellten, einer „produktiven“ Klasse der Landwirte, die mit diesem Boden einen Ertrag erwirtschafteten, von dem die Gesellschaft leben musste, und einer „unproduktiven“ (sterilen) Klasse von Handwerkern und Kaufleuten, die lediglich mit der Stoffumwandlung des landwirtschaftlichen Produkts befasst waren. Diese Unterteilung in drei Klassen entsprach der physiokratischen Vorstellung, dass allein der Boden und die landwirtschaftliche Ta¨tigkeit einen Reinertrag zu erwirtschaften erlaubte. Der Begriff Physiokratie 139
Veronderungen des kkonomischen Kreislaufs
Tableau qconomique
Physiokratie
WAN DEL DE R WI RT SCH AFT LI CHEN S TRUK TUR EN
Primorsektor
Sekundorsektor
Tertiorsektor
Beschreibung der sektoralen Entwicklung
Entwicklungsvergleich Output . . .
kommt aus dem griechischen und bedeutet urspru¨nglich „Herrschaft der Natur“. Diese Auffassung mag einer vorindustriellen Agrargesellschaft ada¨quat gewesen sein, den Verha¨ltnissen einer modernen Volkswirtschaft entspricht sie kaum. Das war auch gut 100 Jahre spa¨ter Karl Marx vo¨llig bewusst, der in seinem System der „erweiterten Reproduktion“ zwei Sektoren unterschied: einen, der sich mit der Produktion von Gu¨tern zum unmittelbaren Verbrauch befasste (Konsumgu¨ter), und einen zweiten, der Gu¨ter produzierte (Produktionsgu¨ter), die erst in weiteren Perioden zur Produktion von Konsumgu¨tern dienen konnten. Die relative Bedeutung dieser beiden Sektoren zueinander kann sogar zum Maßstab fu¨r den Entwicklungsstand einer Volkswirtschaft gemacht werden (Hoffmann 1931) mit dem Ergebnis: Je gro¨ßer der Anteil der indirekten Produktion (Investitionen), um so fortgeschrittener die Volkswirtschaft. In der modernen Volkswirtschaftslehre hat die Vorstellung einer Unterteilung der wirtschaftlichen Produktion in drei Hauptsektoren weite Verbreitung gefunden. Man geht davon aus, dass es in diesen drei Sektoren eigentu¨mliche, deutlich voneinander zu unterscheidende Produktionsbedingungen gibt. Im prima¨ren Sektor, der sogenannten Urgewinnung, geht es darum, die „Fru¨chte der Natur“ fu¨r produktive Zwecke unmittelbar zu nutzen. Als Beispiele dafu¨r gelten die landwirtschaftliche Produktion (Ackerbau und Viehzucht), die Forstwirtschaft, das Fischereiwesen und z. T. auch der Bergbau. Im sekunda¨ren Sektor erfolgt dann eine Stoffumwandlung der Produkte der Urproduktion in eine Vielzahl gewerblich hergestellter Produkte: Aus dem Korn wird Brot, aus Erzen Maschinen usw. Schließlich widmet sich der tertia¨re Sektor der Verteilung der gewerblichen Produkte (Handel) und erstellt daru¨ber hinaus mithilfe gewerblicher Vorprodukte zahlreiche immaterielle Gu¨ter (Dienstleistungen). Auf der Basis dieses dreigliedrigen Konzepts hat es zahlreiche Versuche gegeben, den sektoralen Strukturwandel der modernen Volkswirtschaften zu beschreiben und dabei insbesondere zuna¨chst den |bergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft genauer zu erfassen. Im fortgeschrittenen Entwicklungsstadium wird dann aber auch der mo¨glichen Weiterentwicklung zu einer sogenannten Dienstleistungsgesellschaft besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Eine Mo¨glichkeit einer derartigen Betrachtung bietet die Untersuchung der Vera¨nderung in der Verteilung der gesamtwirtschaftlichen Wertscho¨pfung auf die genannten drei Sektoren. Schaut man auf die Entwicklung in Deutschland, so zeigt sich dort zur Mitte des 140
SE KTORA LE R S TRUK TURWA NDE L
19. Jahrhunderts ein deutliches |berwiegen der Wertscho¨pfung der Landwirtschaft mit 45 %, gefolgt von Dienstleistungen (34 %) und erst danach dem Gewerbe (21 %). Das war gut 50 Jahre spa¨ter 1910 / 13 ganz anders: Nun war die gewerbliche Wertscho¨pfung (45 %) am bedeutendsten geworden und die Landwirtschaft hatte daran den geringsten Anteil (23 %) (Hoffmann 1965, S. 33). Eine vergleichbare Entwicklung la¨sst sich konstatieren, wenn anstelle der Wertscho¨pfung (Output) die Anteile der Bescha¨ftigten (Input) in den drei volkswirtschaftlichen Hauptsektoren zum Maßstab genommen werden. Im 18. Jahrhundert waren zwei Drittel, um 1850 immer noch mehr als die Ha¨lfte aller Bescha¨ftigten in der Landwirtschaft ta¨tig. Ta¨tigkeiten im Gewerbe und im Dienstleistungssektor hielten sich in etwa die Waage (1780 ca. 19 % : 16 %; 1850 ca. 24 % : 21 %) (Henning 1973, S. 20). Erst danach nahm die Bescha¨ftigung im sekunda¨ren Sektor (Gewerbe) deutlich zu und u¨berflu¨gelte schließlich am Ende des 19. Jahrhunderts diejenige im prima¨ren Sektor. Die Entwicklung war damit allerdings nicht beendet, wie ein kurzer Blick auf > ABBILDUNG 20 zeigt.
. . . und Input
Abbildung 20: Anteil der in den einzelnen Wirtschaftssektoren Bescha¨ftigten an der Gesamtzahl (angelehnt an Henning 1973, S. 20)
Die landwirtschaftliche Bescha¨ftigung verlor im Laufe des 20. Jahrhunderts dramatisch an Bedeutung und Dienstleistungen, z. B. im Banken- und Versicherungswesen, bei den Verkehrsbetrieben oder im o¨ffentlichen Dienst, wurden bald zum dominierenden Bescha¨ftigungsbereich. ~hnliches gilt auch fu¨r die Entwicklung der Wertscho¨pfung
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Niedergang der Landwirtschaft
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Industrialisierung als Motor der sektoralen Veronderung
Aufstieg des Dienstleistungssektors
in Deutschland im 20. Jahrhundert. Die Dienstleistungsgesellschaft scheint die Industriegesellschaft abzulo¨sen. Es sieht so aus, als sei der fu¨r Deutschland beschriebene Wandel der sektoralen Struktur der Wirtschaft im 19. Jahrhundert prototypisch fu¨r alle sich entwickelnden Volkswirtschaften (Chenery / Syrquin 1975). International vergleichende Untersuchungen haben nachgewiesen, dass in allen beobachteten La¨ndern mit einem wachsenden Pro-Kopf-Einkommen im Zuge der Industrialisierung deutliche Vera¨nderungen in der sektoralen Struktur der Wirtschaft zu beobachten sind. Die Bescha¨ftigungsmo¨glichkeiten in der Landwirtschaft gehen u¨berall erheblich zuru¨ck, wa¨hrend diejenigen in Industrie und Dienstleistungen deutlich zunehmen. Doch zeigt sich hier bereits eine Entwicklung, die die „Gesetzma¨ßigkeit“ der sektoralen Vera¨nderungen infrage stellen: Die Bescha¨ftigungsanteile des Dienstleistungssektors liegen bei zahlreichen der beobachteten La¨ndern u¨ber denen der Industrie. Bei einer Betrachtung der Entwicklung der sektoralen Anteile der Wertscho¨pfung gilt diese Beobachtung analog. Eine eindeutige Dominanz industriell-gewerblicher Bescha¨ftigungs- und Wertscho¨pfungsanteile wie in Deutschland im spa¨ten 19. und fru¨hen 20. Jahrhundert findet sich also nicht u¨berall auf der Welt.
9.2 Sektortheorie
Wandel der gesamtwirtschaftlichen Struktur
Engelsches Gesetz
Die historischen Erfahrungen der fru¨hen Industriestaaten wurden gleichwohl zum Anlass genommen, eine allgemeine Theorie gesellschaftlicher Entwicklung zu formulieren, die als „Sektortheorie“ einige Verbreitung fand und bis heute z. T. sehr unkritisch propagiert wird. Der augenfa¨llige sektorale Strukturwandel entwickelter Volkswirtschaften wurde bereits in den 1930er-Jahren (Fisher 1939) zum Gegenstand theoretischer Ero¨rterungen gemacht. Die Ursache der Vera¨nderungen in der Wirtschaftsstruktur wurde in einem Wandel in der gesamtwirtschaftlichen Nachfragestruktur vermutet. Mit wachsenden Einkommen wurden Gu¨ter des ta¨glichen Bedarfs, insbesondere Nahrungsmittel, die ja gerade bei geringem Einkommen einen großen Teil des Haushaltsbudgets beanspruchten, relativ immer weniger nachgefragt. Gema¨ß dem Engelschen Gesetz sanken z. B. die Anteile der Ausgaben von Nahrungsmitteln an den Gesamtausgaben. Das Engelsche Gesetz ist eine von dem deutschen Statistiker Ernst Engel erstmals beschriebene Gesetzma¨ßigkeit, der zufolge der Prozentanteil des Einkommens, den ein Privathaushalt fu¨r die Erna¨hrung ausgibt,
142
S EKTORTH EO RI E
mit steigendem Einkommen sinkt (Engel 1857). Entsprechend gewinnen in einer Wohlstandsgesellschaft die gewerbliche Produktion und die gewerbliche Bescha¨ftigung nicht nur absolut, sondern auch relativ an Bedeutung. Sind auch diese Bedu¨rfnisse gesa¨ttigt, so bieten sich im Bereich der Dienstleistungen theoretisch nahezu unbegrenzte Mo¨glichkeiten der Nachfrageausweitung. In einem fortgeschrittenen Stadium der Entwicklung steigen entsprechend die Ausgaben fu¨r Dienstleistungen u¨berproportional an und bieten zahllose neue Bescha¨ftigungsmo¨glichkeiten. Diese Bescha¨ftigungschancen im Dienstleistungssektor bezeichnete Jean Fourastie´, franzo¨sischer }konom und bedeutender Vertreter der Drei-Sektoren-Hypothese fu¨r die wirtschaftliche Entwicklung eines Staates, als Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts (Fourastie´ 1954). Dies ist vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Massenarbeitslosigkeit in Europa in der ersten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts zu betrachten. Neben den unterschiedlichen Wirkungen der Nachfrageentwicklung auf die Struktur der Volkswirtschaft wird hier auch die Wirkung des technischen Fortschritts zum Thema gemacht. Die Chancen, technologische Neuerungen zu realisieren, erscheinen na¨mlich in den drei volkswirtschaftlichen Hauptsektoren nicht gleich, sondern außerordentlich unterschiedlich. Fu¨r den prima¨ren Sektor wird angenommen, dass sich dort nur ein ma¨ßiger, quasi natu¨rlich begrenzter technischer Fortschritt erzielen la¨sst. Der technische Fortschritt wirke vor allem im maschinisierten, technikbasierten Industriesektor, wa¨hrend auch bei den Dienstleistungen nur ma¨ßige, eher noch geringere technische Fortschritte als in der Landwirtschaft mo¨glich seien. Die Nachfragevera¨nderungen in Verbindung mit der Wirkung des technischen Fortschritts beeinflussen die Entwicklungschancen der Sektoren daher in a¨ußerst unterschiedlicher Weise. Der ma¨ßige technische Fortschritt in der Landwirtschaft la¨sst diesen Sektor in Verbindung mit tendenziell sinkender relativer Nachfrage nach Agrarprodukten der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung eher nachhinken: Er verliert an gesamtwirtschaftlicher Bedeutung. Die hohe Nachfrage nach gewerblichen Produkten und technischen Innovationen weisen dagegen dem sekunda¨ren Sektor eine dominante Rolle zu. Doch langfristig wird dem tertia¨ren Sektor durch die hohe Nachfrage nach Leistungen bei gleichzeitig geringen Rationalisierungschancen eine immer gro¨ßer werdende Rolle zufallen. Der Weg in die Dienstleistungsgesellschaft scheint daher vorgezeichnet (Clark 1960). Die hier in knappen Strichen umrissene Sektortheorie beinhaltet weit mehr als lediglich eine Theorie des sektoralen Strukturwandels 143
Veronderung in der Nachfrageentwicklung und . . .
. . . unterschiedliche Umsetzung technischer Mkglichkeiten
. . . fjhren zu unterschiedlicher Sektorentwicklung
. . . und zukjnftiger Dominanz des tertioren Sektors
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Kritik an der Sektortheorie
Abgrenzung schwierig
Uneinheitliche Klassifikation
Erklorungsgehalt unklar
der Wirtschaft. Diese Theorie bildet den Kern der Vorstellungen einer Dienstleistungsgesellschaft (Bell 1975, S. 136–146) oder gar einer „tertia¨ren Zivilisation“ (Fourastie´ 1954, S. 310). Doch diese weiter gehenden Interpretationen sektoralen Strukturwandels ko¨nnen an dieser Stelle nicht vertieft werden, hier gilt es die o¨konomischen Implikationen dieses Konzeptes zu veranschaulichen. Wie jede wissenschaftliche Theorie muss sich auch die Sektortheorie der Pru¨fung stellen, ob sie logisch widerspruchsfrei und empirisch zutreffend ist. Tatsa¨chlich lassen sich sowohl auf der systematischen wie auf der empirischen Ebene Vorbehalte gegenu¨ber einer allzu unkritischen |bernahme dieses auf den ersten Blick so u¨berzeugenden Konzeptes formulieren. Zuna¨chst einmal ist einzuwenden, dass die Abgrenzung dreier Sektoren der prima¨ren, sekunda¨ren und tertia¨ren Produktion einer reinen „ad-hoc“-Konvention entspricht und die Zuordnung der einzelnen Wirtschaftsbranchen unklar und z. T. widerspru¨chlich ist – geho¨rt der Bergbau z. B. zur Urproduktion oder zur Industrie, ist die kapitalintensive Agrarindustrie tatsa¨chlich Teil der Landwirtschaft u. a¨.? Auch sind die unterschiedlichen nationalen Klassifikationssysteme nicht einheitlich. Die Untergliederung der Sektoren folgt der amtlichen Statistik einer Industriegesellschaft und ist z. B. fu¨r den Teil der gewerblichen Produktion a¨ußerst differenziert, wa¨hrend Dienstleistungen nur ganz allgemein als Restkategorie angefu¨hrt werden. Sie entspricht daher nicht den Anforderungen einer modernen Dienstleistungso¨konomie. |berhaupt erscheint eine Gliederung der Bescha¨ftigten nach beruflichen Funktionen weitaus angemessener als eine solche nach den Eigenarten der erstellten Produkte (> KAPITEL 8.1). Auch la¨sst sich u¨ber den Erkla¨rungsgehalt der Sektortheorie mancher Zweifel anmelden. Die Nachfrage nach Gu¨tern ist natu¨rlich nicht allein von der Einkommensentwicklung abha¨ngig, sondern auch Geschmacksvera¨nderungen, technische Neuerungen u. a¨. tragen zu Vera¨nderungen bei. Zudem wirkt der technische Fortschritt innerhalb der drei Sektoren sehr unterschiedlich. Dass z. B. die Landwirtschaft nur einen ma¨ßigen technischen Fortschritt realisieren kann, ist zwar eine weit verbreitete Ansicht, gleichwohl aber empirisch falsch (Kopsidis 2006). Die große Hoffnung auf eine quasi automatische Kompensation von Bescha¨ftigungsverlusten im gewerblichen Sektor durch ein erweitertes Angebot an Dienstleistungen hat sich leider als unzutreffend erwiesen, weil dabei der Einkommens-Kosten-Aspekt von Dienstleistungen nicht mitbedacht wurde, dass na¨mlich die mo¨g144
IN DU STR IE- OD E R D I EN ST LEIS TUN GSGE SEL LSC HA FT?
licherweise gewu¨nschten Dienstleistungen sehr teuer sind und daher nicht effektiv nachgefragt werden. Kurzum: Die Sektortheorie erweist sich als zu grobschla¨chtig fu¨r die Erfassung des Strukturwandels in den komplexen modernen Volkswirtschaften und ein Teil ihrer Annahmen als fragwu¨rdig und sogar falsch. Wie aber sieht es mit der empirischen Bewa¨hrung des darin inkorporierten sektoralen Strukturwandels aus? Betrachtet man allein die fru¨hen Industriestaaten Westeuropas, wie Großbritannien, Belgien, Deutschland und die Schweiz, so besta¨tigt sich das unterstellte Entwicklungsschema von einer Agrar- u¨ber die Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Doch erweitert man die Betrachtung auf außereuropa¨ische Staaten (USA, Japan, Australien, Kanada), so zeigt sich, dass dort in keiner historischen Phase die Bescha¨ftigung in der Industrie diejenige des Dienstleistungssektors in seiner Bedeutung u¨bertroffen hat (Kaelble 1986). Allein in Westeuropa scheint eine derartige Sequenz einige Plausibilita¨t beanspruchen zu ko¨nnen. |ber diese Grenzen hinaus hat es wohl eine Industriegesellschaft niemals gegeben und die Agrargesellschaft wurde direkt in eine Dienstleistungsgesellschaft u¨berfu¨hrt.
Sektortheorie zu unkomplex fjr moderne Volkswirtschaften
Sektortheorie außerhalb Europas
9.3 Industrie- oder Dienstleistungsgesellschaft? Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine tief greifende Kontroverse in Deutschland um die Ausgestaltung der Zollpolitik, in der es darum ging, zu kla¨ren, ob Deutschland eine Agrargesellschaft mit starker industrieller Basis bleiben oder eine moderne Industriegesellschaft werden sollte (Wagner 1901). Diese Kontroverse erscheint vor dem Hintergrund des damals la¨ngst vollzogenen Schritts zur Industriegesellschaft im Ru¨ckblick ein wenig kurios, veranschaulicht aber zugleich, dass es damals um weit mehr als bloß um die Frage der sektoralen Wirtschaftsstruktur ging (Wehler 1995, S. 662–80). Es ging um Macht und Einkommen, darum, ob den traditionellen Eliten ihre feudale Machtbasis erhalten blieb oder ob Unternehmertum und industrielle Arbeiterschaft eine sta¨rkere Position in Gesellschaft und Politik erringen durften (Pierenkemper 2012). ~hnlich wie vor 100 Jahren stellt sich auch heute die Frage nach der Ausgestaltung einer zukunftstra¨chtigen Wirtschaftsstruktur und den damit verbundenen Wirkungen auf die Verteilung von Wohlstand und politischem Einfluss im 21. Jahrhundert. Welche Rolle kann die Industrie weiterhin spielen und welche Chancen haben ihre
145
Kontroverse um Agrar- oder Industriegesellschaft
Frage nach zukjnftigen Wirtschaftsstrukturen
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Industrie- versus Dienstleistungsgesellschaft
Postindustrielle Gesellschaft
Wissensgesellschaft
Dienstleistungsgesellschaft
Herausforderer im Dienstleistungssektor? Welche Rolle soll der Finanzsektor spielen und welchen Einfluss will man ihm zugestehen? Die besondere Bedeutung der Industrie und insbesondere die u¨berragende Rolle industrieller Großbetriebe in der modernen Volkswirtschaft wurde in der zweiten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts immer wieder hervorgehoben (Baran / Sweezy 1968; > KAPITEL 10)). Doch zugleich wurde der Industriegesellschaft als Gegenentwurf die zuku¨nftige Dienstleistungsgesellschaft entgegen gehalten (Bell 1975). Ganz im Sinne der Sektortheorie erschien Daniel Bell ein u¨berproportionales Wachstum von Wertscho¨pfung und Bescha¨ftigung im tertia¨ren Sektor unvermeidbar, mit einem Vorrang professionalisierter und qualifizierter Berufe und der Dominanz theoretischen Wissens vor praktischer Erfahrung als Quelle beruflichen und gesellschaftlichen Erfolgs. In der kommenden nach- oder postindustriellen Gesellschaft werde zudem die Planung und Steuerung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse die Anpassungen an den Markt zuru¨ckdra¨ngen und eine neue intellektuelle Technologie der Entscheidungsfindung dabei die Basis bilden (Ha¨usermann / Siebel 1995). Ob diese scho¨ne neue Welt mittlerweile bei uns Einzug gehalten hat, wa¨re zu hinterfragen. Das Konzept der postindustriellen Gesellschaft bezieht sich natu¨rlich auf weitaus mehr als auf den sektoralen Wandel im Bescha¨ftigungssystem. Wesentliche Elemente lassen sich unter dem Begriff „Wissensgesellschaft“ subsumieren (> KAPITEL 4.2). Die Frage stellt sich also, ob heutzutage im Verha¨ltnis zu den anderen Sektoren wesentlich mehr Dienstleistungen als fru¨her produziert werden, oder ob es sich bei dem wachsenden Anteil von Dienstleistungsbescha¨ftigten mo¨glicherweise lediglich um ein „outsourcing“, also eine Auslagerung von Dienstleistungsta¨tigkeiten handelt, die fru¨her in der Industrie erbracht wurden. Schon vor knapp 30 Jahren wurde fu¨r Großbritannien die Auffassung vertreten, dass in der dort bereits weiter fortgeschrittenen Dienstleistungsgesellschaft relativ eben nicht mehr Dienstleistung als zuvor bereitgestellt wurden (Gershuny 1981, S. 88–93). Als Maß der Dienstleistungsproduktion wurde nicht die gesamtwirtschaftliche Wertscho¨pfung und auch nicht die sektorale Bescha¨ftigung gewa¨hlt, sondern der Endverbrauch, der von der Bevo¨lkerung privat oder o¨ffentlich konsumiert wurde. Eine Untersuchung u¨ber die Struktur der Ausgaben der privaten Haushalte zwischen 1954 und 1974 zeigte keinen signifikanten Anstieg des Verbrauches von Dienstleistungen. 1954 wurden 13,1 % des Budgets fu¨r Dienstleistungen ausgegeben, 20 Jahre spa¨ter sogar nur 12,1 %, also weniger. Lediglich fu¨r Trans146
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port wurden relativ ho¨here Ausgaben geta¨tigt (1954: 7 %; 1974: 13,5 %). Doch diese bezogen sich vor allem auf Ausgaben fu¨r den Kauf und den Betrieb von Kraftfahrzeugen (Transportgu¨ter 1974: 11,1 %) und nicht auf Transportdienste (z. B. Reisen). In einer deutlichen Akzentuierung dieses Sachverhaltes kann man daher die moderne Gesellschaft weit zutreffender als „Selbstbedienungsgesellschaft“ denn als „Dienstleistungsgesellschaft“ bezeichnen. In die gleiche Richtung einer Infragestellung eines augenscheinlichen Wandels zur Dienstleistungsgesellschaft weist auch die Tatsache, dass ein großer Teil der erbrachten Dienstleistungen in engem Zusammenhang mit der materiellen Produktion erbracht werden und konsumorientierte Dienstleistungen, seien sie personen- oder haushaltsbezogen, nur einen Teil der Dienstleistungen ausmachen. Im Gegenteil, es herrscht zunehmend eine Tendenz, die Kunden und Verbraucher immer mehr Aufgaben selbst erledigen zu lassen, sie holen ihr Geld vom Geldautomaten, benutzen Fahrkartenautomaten oder schrauben ihre Mo¨bel selbst zusammen. Die Konsumenten werden, durch die modernen Medien verkoppelt, sogar fu¨r die betriebliche Produktion eingesetzt (Voss / Rieder 2007), z. B. zur Qualita¨tssicherung, wenn sie im Internet die Zuverla¨ssigkeit einer Leistung beurteilen sollen. Die zwangsla¨ufige Zunahme der Produktion von Dienstleistungen fu¨r den Endverbrauch wie auch die wachsenden Bescha¨ftigungschancen im tertia¨ren Sektor sind deshalb bislang also lediglich eine „Hoffnung“ (Fourastie´ 1954) geblieben. Dies gilt auch fu¨r die Bundesrepublik Deutschland. Auch hier gibt es keinen ungebrochenen Trend zur Dienstleistungsgesellschaft. Denn einerseits signalisiert ein wachsender Anteil o¨ffentlicher Dienstleistungen, gemessen in einer wachsenden Staatsquote, eben nicht automatisch eine Zunahme konsumnaher Dienstleistungen. Und andererseits beruht eine wachsende Staatsquote z. T. darauf, dass staatliche Dienstleistungen nur als Vorleistungen zur materiellen Produktion gelten (die Rechtssprechung z. B. erho¨ht nicht unmittelbar die private Wohlfahrt, tra¨gt aber zur Fo¨rderung des Rechtsfriedens und zur Sicherung arbeitsteiliger Produktionsformen bei) und zudem mo¨glicherweise lediglich Preiseffekte spiegeln, etwa beim wachsenden Einkommen der Staatsdiener. Und andererseits erscheint in der Struktur des privaten Verbrauchs ein Trend zum Verbrauch langlebiger Konsumgu¨ter ungebrochen (Reckendrees 2007). Die Wertscho¨pfung im tertia¨ren Sektor in Deutschland wa¨chst allenfalls schwach (Voss 1982). Eine genauere Analyse der Entwicklung der privaten Ausgaben in Deutschland auf der Basis der Einkommens- und Verbrauchsstich147
Selbstbedienungsgesellschaft
Entwicklung des tertioren Sektors in Deutschland
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probe des Statistischen Bundesamtes zeigt, dass auch hier die Ausgaben der privaten Haushalte fu¨r Dienstleistungen nicht gestiegen sind, wie die Tabelle (> ABBILDUNG 21) verdeutlicht.
DL Bekleidung DL Haushaltsfjhrung DL Gesundheitspflege DL Kkrperpflege DL Verkehr DL Nachrichtenjbermittlung DL Freizeit und Kultur DL Reisen / Ferien DL Bildung DL Hotel, Gaststotten DL Persknliche Ausstattung Gesamt
62 / 63 %
1973 %
1978 %
1983 %
1988 %
1993 %
1998 %
0,14 1,92 0,48 1,00 2,36 0,60 1,21 * 1,32 4,66 0,44
0,21 0,96 1,59 0,62 1,30 1,29 1,16 2,36 0,47 5,90 0,51
0,16 0,80 1,42 0,64 1,11 1,66 1,32 2,59 0,37 6,25 0,56
0,13 0,64 1,29 0,65 1,13 1,69 1,28 1,86 0,52 5,02 0,44
0,11 0,54 1,29 0,67 0,99 1,64 1,28 2,05 0,49 5,27 0,37
0,04 0,23 1,74 0,89 1,39 1,70 1,46 1,96 0,46 4,77 0,22
0,14 0,49 1,42 0,68 1,01 1,68 2,15 2,14 0,38 3,66 1,23
14,11
16,37
16,89
14,64
14,70
14,85
14,99
* ¼ nicht getrennt erhoben Abbildung 21: Anteil der Aufwendungen fu¨r Dienstleistungen am gesamten privaten Verbrauch (nach Loheide 2008, S. 90) Private Ausgaben fjr Dienstleistungen
„Servicewjste“ Deutschland
Nur ca. 14 % der Ausgaben der privaten Haushalte, sowohl im Jahre 1962 / 63 wie auch im Jahre 1998, werden fu¨r den Kauf von Dienstleistungen ausgegeben, wenn man die Preiseffekte eliminiert. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Einkommen in diesem Zeitraum real um ca. 82 % angestiegen sind. Es sind eben nicht die Ausgabenanteile fu¨r den Konsum von Dienstleistungen im Budget der privaten Haushalte gestiegen, sondern vor allem solche fu¨r langlebige Konsumgu¨ter wie z. B fu¨r Haushaltsgera¨te, Kraftfahrzeuge oder Unterhaltungselektronik. Die Haushalte benutzen diese industriell gefertigten Gu¨ter wiederum dazu, Leistungen selbst zu produzieren, die alternativ durch ha¨usliche Dienste, Verkehrsdienste oder Kulturproduktion, also durch Dienstleistungen herzustellen wa¨ren. Eine Substitution von Dienstleistungen durch den Kauf und Gebrauch von langlebigen Verbrauchsgu¨tern in der ha¨ufig zitierten „Dienstleistungs-“ bzw. „Servicewu¨ste“ Bundesrepublik ist daher weit eher zu konstatieren, als Umrisse einer Dienstleistungsgesellschaft. Der preisbereinigte Ausgabenanteil fu¨r Haushaltsdienste ging z. B. von 1,92 % (1962 / 63) des Budgets auf 0,49 % (1998) zuru¨ck, wa¨hrend der Anteil fu¨r den Kauf von Transportgu¨tern (vornehmlich Autos) im gleichen Zeitraum von 2,2 % auf 148
FR AG EN UND LE K TrR E E MPFEH LUN GEN
8,58 % anstieg. Ebenso erho¨hte sich der entsprechende Anteil fu¨r Unterhaltungselektronik von 0,8 % auf 1,21 %. Erweitert man die Betrachtung von der privaten Nachfrage auf die o¨ffentliche Nachfrage, so besta¨tigt sich das gewonnene Bild. Auch deren Anteile sind in den betrachteten Dekaden nicht gestiegen, sie sind sogar gesunken. 1962 / 63 umfasste der Anteil der o¨ffentlichen Ausgaben fu¨r Dienstleistungen am Gesamtverbrauch (Gu¨ter und Dienstleistungen) lediglich 18,6 % und dieser Anteil sank sogar bis 1998 auf 10,9 %. Auch die Entwicklung der o¨ffentlichen Dienstleistungen la¨sst Deutschland kaum als Dienstleistungsgesellschaft erscheinen. Das modische Reden von einer Dienstleistungsgesellschaft, einer „tertia¨ren Zivilisation“, ist also mit großer Skepsis zu betrachten. Gewerbliche Produktion und der Verbrauch von industriell gefertigten langlebigen Verbrauchsgu¨tern stellen immer noch den Kern unseres Produktionssystems, zumindest in Deutschland, dar. Das mag man bedauern und mo¨glicherweise als ru¨cksta¨ndig oder u¨berindustrialisiert betrachten. Doch angesichts einer „McDonaldisierung“ in den USA und den Erfahrungen mit einem aufgebla¨hten Finanzsystem in den angelsa¨chsischen La¨ndern kann man mit gutem Recht Zweifel an der Zukunftstra¨chtigkeit derartiger Dienstleistungen haben. Fragen und Anregungen • Ist der Strukturwandel in der deutschen Wirtschaft in den letzten zwei Jahrhunderten durch die sogenannte Sektortheorie erkla¨rbar? Inwieweit gilt dies auch fu¨r andere moderne Volkswirtschaften? • Wenn Sie an Ihre perso¨nlichen Lebensumsta¨nde denken, ko¨nnen Sie dann behaupten, dass Sie zunehmend personenbezogene Dienstleistungen konsumieren? Ist das Reden von der Dienstleistungsgesellschaft also begru¨ndet oder handelt es sich eher um eine fixe Idee? • Zo¨gern Sie ha¨ufig, im ta¨glichen Leben personenbezogene Dienstleistungen zu kaufen und machen stattdessen vieles lieber selber? Wenn ja, warum?
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sffentliche Ausgaben fjr Dienstleistungen
Tertiore Zivilisation
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Lektjreempfehlungen rbersichten
• Colin Clark: The Conditions of Economic Progress, 3. Auflage London 1960. Klassische Begru¨ndung der Sektortheorie mit zahlreichen Belegen fu¨r verschiedene La¨nder. • Allan G. B. Fisher: Production. Primary, Secondary, Tertiary, in: The Economic Record 15, 1939, Heft 1, S. 24–38. Erster Versuch einer sektoralen Analyse der Industriegesellschaft. • Jean Fourastie´: Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts, Ko¨ln 1954. Ausdehnung der Sektortheorie zu einer umfassenden Theorie zivilisatorischen Wandels.
Forschung
• Jonathan Gershuny: Die mkonomie der nachindustriellen Gesellschaft. Produktion und Verbrauch von Dienstleistungen, Frankfurt a. M. 1981. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Sektortheorie und der darin behaupteten Entwicklung am Beispiel Großbritanniens. • Walther G. Hoffmann: Stadien und Typen der Industrialisierung. Ein Beitrag zur quantitativen Analyse historischer Wirtschaftsprozesse, Jena 1931. Klassische Arbeit, die sektoralen Wandel mit der Industrialisierung in Beziehung setzt. • Boris Loheide: Wer bedient hier wen? Service oder Selfservice – Die Bundesrepublik Deutschland als Dienstleistungsgesellschaft, Saarbru¨cken 2008. Anwendung des Ansatzes von Gershuny auf die Bundesrepublik Deutschland.
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10 Unternehmen und Big Business
Abbildung 22: Karte der Gussstahlfabrik Friedrich Krupp (1889)
151
UN TER NEHM E N UN D B I G BUS IN ES S
Die Kruppsche Gussstahlfabrik in Essen war zeitweise das gro¨ßte deutsche Unternehmen im 19. Jahrhundert. Die Karte gibt einen Eindruck von dem gigantischen Ausmaß der Werksanlagen. Die Stadt Essen, eine bedeutende Stadt bereits seit dem Mittelalter, erscheint nur noch als ein Anha¨ngsel des Industriebetriebes, der 1889 ein Mehrfaches der Fla¨che der Stadt beanspruchte. Die Fabrik wurde zu einer Welt fu¨r sich mit einer eigenen Infrastruktur (Wasserver- und -entsorgung, Eisenbahn, Hafen, Energieversorgung u. a¨.) und eigenen Wohnkolonien. Dies alles war das Ergebnis eines gewaltigen Wachstumsprozesses, den das Unternehmen unter der ogide von Alfred Krupp (1812–87) in nur einer Generation durchlaufen hatte. Der am Beispiel Krupp deutlich werdende Prozess der Herausbildung moderner Großunternehmen vollzog sich zuna¨chst in nur wenigen Branchen. Verkehrsunternehmen, Textilbetriebe, Eisenhu¨tten und Bergwerke schritten voran, und erst spa¨ter konnten auch andere Branchen von den Gro¨ßenvorteilen industrieller Großbetriebe (economics of scale) profitieren. Neben den Unternehmen der chemischen und elektrotechnischen Industrie za¨hlten dazu am Ende des 19. Jahrhunderts auch solche der Nahrungsmittelindustrie. Im 20. Jahrhundert setzte sich der Prozess der Verbreitung industrieller Großunternehmen weiter fort, etwa in der Automobil- und Flugzeugindustrie. Eine Zusammenstellung der gro¨ßten Industrieunternehmen des Jahres 1912 in den USA, Großbritannien und Deutschland zeigt eine entsprechende Verteilung. In den USA fu¨hrte US-Steel mit 757 Millionen US-Dollar Marktkapitalisierung vor Standard Oil (NJ) mit 389 Millionen US-Dollar, in Deutschland Krupp (umgerechnet 142 Millionen US-Dollar) vor Siemens (umgerechnet 121 Millionen US-Dollar) (Schmitz 1995, S. 23). Die Entstehung und Entwicklung der großen Unternehmen wird im Folgenden nachgezeichnet, beginnend mit den Eisenbahngesellschaften des 19. Jahrhunderts bis hin zu den industriellen Großbetrieben der heutigen Zeit.
10.1 Pioniere in den USA und Deutschland 10.2 Wachstum deutscher Großunternehmen im 19. Jahrhundert 10.3 Big Business im 20. Jahrhundert 152
PION IE R E I N D E N US A U ND D EU TSC HL AND
10.1 Pioniere in den USA und Deutschland Die ersten modernen Großunternehmen waren die Eisenbahngesellschaften, die im fru¨hen 19. Jahrhundert in den USA und in Europa entstanden waren. Hier stellte sich erstmals die innovative Aufgabe, eine große Menge von Fixkapital bei der Leistungserstellung u¨ber weite Distanzen durch eine große Zahl von Mitarbeitern erfolgreich einzusetzen. Die schiere Gro¨ße dieses Unterfangens stellte nach der Fertigstellung der großen Ost-West-Linien in den USA zwischen 1851 und 1854 eine gewaltige Aufgabe dar und bedurfte des Aufbaus einer neuen Großorganisation, um planvoll bewa¨ltigt zu werden (Chandler 1965). Diese Großorganisation fu¨hrte in den USA zu neuen Methoden der Finanzierung umfangreicher Investitionen wie auch des laufenden Gescha¨fts. Dabei war die Unterstu¨tzung der New Yorker Bo¨rse von großer Bedeutung, wo neue Finanzinstrumente wie Vorzugsaktien erprobt wurden, die neben die bereits vertrauten Hypothekenkredite traten. Wegen der hohen Kapitalbindung ru¨ckte die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Kapazita¨tsauslastung der Anlagen in den Vordergrund und machte neue Formen der Tarifgestaltung und -staffelung fu¨r die Arbeitnehmer sowie der Rabattgewa¨hrung fu¨r die Kunden no¨tig. Erstmals war eine gro¨ßere Zahl technischer Experten fu¨r die Aufrechterhaltung des laufenden Betriebs vonno¨ten und unter den Eisenbahnbediensteten kam es in den USA erstmals zur Formierung nationaler Gewerkschaften, die der Gescha¨ftsfu¨hrung mit ihren Forderungen entgegentraten. Auch der Staat intervenierte versta¨rkt, weil auch ein o¨ffentliches Interesse an der Aufrechterhaltung eines effizienten Verkehrssystems bestand. So ermo¨glichte er umstrittene Streckenfu¨hrungen, fo¨rderte die |bereinkunft u¨ber technische Standards zwischen den privaten Gesellschaften und leistete gelegentlich auch finanzielle Unterstu¨tzung. Eine planvolle Unternehmensorganisation musste aufgebaut werden, um diesen Anforderungen entsprechen zu ko¨nnen. Die bedeutsamsten Innovationen in diesem Feld waren erstens die Errichtung einer funktional gegliederten Organisation mit separaten Abteilungen fu¨r Beschaffung, Instandhaltung, Verkauf usw. Damit war zweitens eine eindeutige Festlegung der Verantwortlichkeiten und Informationspflichten, d. h. der Aufbau einer betrieblichen Hierarchie, verbunden, sowie drittens eine entsprechende Formalisierung des Informationsflusses zwischen den Abteilungen und Hierarchieebenen. Ein Liniensystem kla¨rte Autorita¨t und Verantwortung und machte zu153
Pionierrolle der Eisenbahngesellschaften
Großorganisation und Großunternehmen
Funktionale Unternehmensstruktur
UN TER NE HM EN UN D B I G BUS IN ES S
Erste Eisenbahngesellschaften sind private Unternehmen
Aktive Eisenbahnpolitik des preußischen Staates
Rheinische Eisenbahn-Gesellschaft
gleich eine Abgrenzung gegenu¨ber den Stabsaufgaben und -positionen no¨tig. Auch in Deutschland stellte sich der Bau von Eisenbahnen nicht nur als ein technisches, sondern vor allem auch als ein wirtschaftliches Problem dar. In den Eisenbahngesellschaften wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch hier „die Organisationstendenzen der Zukunft bereits deutlich“ (Wiedenfeld 1940, S. 2). Neben neuen Wegen der Kapitalbeschaffung und -verwendung waren auch solche der Verwaltung und Organisation zu beschreiten. Die ersten Eisenbahnen wurden auch in Deutschland nicht wegen ihrer volkswirtschaftlichen Nu¨tzlichkeit, sondern wegen der Aussicht auf bedeutende private Gewinne gegru¨ndet (Schreiber 1874, S. 1). Zur Gru¨ndung und zum Betrieb einer Eisenbahngesellschaft in Deutschland war im fru¨hen 19. Jahrhundert zuna¨chst noch die Konzession des Landesherrn no¨tig, deren allgemeine Bestimmungen fu¨r Preußen 1836 festgelegt wurden (Treue 1987, S. 5–28). Das Eisenbahngesetz von 1838 enthielt daru¨ber keine Aussagen, wohl aber u¨ber den Betrieb der Gesellschaften (Enteignungsrecht fu¨r den Streckenbau, dreißigja¨hriger Schutz vor konkurrierendem Streckenbetrieb sowie Kontrolle und Oberaufsicht durch den Staat). Die zehn bis 1842 in Preußen konzessionierten Bahnen waren rein privatwirtschaftlich orientierte Unternehmen, bedurften aber schon in der Anfangszeit staatlicher Unterstu¨tzung. Als sich diese fru¨hen Unternehmen in ihren hohen Gewinnerwartungen geta¨uscht sahen, ging die Gru¨nderta¨tigkeit schnell zuru¨ck. Doch der preußische Staat hatte ein großes Interesse an einer Verkehrserschließung des gesamten Staatsgebiets und entschloss sich zwischen 1842 und 1848 zu einer aktiven Eisenbahnpolitik durch die Einra¨umung von Zinsgarantien an Privatbahnen. Nach der Krise von 1848 und dem darauf folgenden Kursverfall der Eisenbahnpapiere reichte diese Politik aber nicht mehr aus. Der Staat errichtete deshalb eine zentrale Eisenbahnverwaltung, baute einen Teil der fehlenden Bahnen selbst und etablierte so ein Mischsystem staatlicher und privater Bahnen. Noch 1866, durch territoriale Angliederung bedingt, weitete sich das preußische Staatsbahnsystem weiter aus. Gleichzeitig kam es vor allem u¨ber den Umfang der Staatsaufsicht zu Konflikten mit den Privatbahnen. Ein anschauliches Beispiel fu¨r die Probleme der fru¨hen Eisenbahnunternehmen in Deutschland liefert die Rheinische Eisenbahn-Gesellschaft, die 1835 in Ko¨ln gegru¨ndet wurde (Kumpmann 1910). Sie sollte den Rhein an das belgische Eisenbahnnetz und damit indirekt 154
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an den Seehafen Antwerpen anschließen. Schon die Festlegung der Streckenfu¨hrung der Bahn fu¨hrte zu schwerwiegenden Konflikten mit den Interessen der Stadt Aachen und ihrer Kaufleute, die gerne einen die Stadt Aachen beru¨hrenden, aber topografisch schwer zu realisierenden Streckenverlauf gesehen ha¨tten. Die wachsenden Kapitalerfordernisse wa¨hrend der mehrja¨hrigen Bauphase brachten das Projekt immer wieder an den Rand des Scheiterns, was nur durch gewagte Finanztransaktionen der beteiligten Bankiers und durch Unterstu¨tzung des preußischen Staates verhindert werden konnte. Erst nach |berwindung der Anfangsschwierigkeiten und dem Aufbau einer effizienten Unternehmensorganisation konnte die Rheinische EisenbahnGesellschaft nach der Mitte des Jahrhunderts zu einem erfolgreichen und profitablen Unternehmen heranreifen (Pierenkemper 1976). Die privaten Eisenbahnunternehmen waren schließlich derart erfolgreich, dass sie nicht nur nach ihrer Verstaatlichung in den 1880er-Jahren einen beachtlichen Beitrag zur Finanzierung des preußischen Staatshaushaltes liefern konnten, sondern u¨berhaupt in ihrer Bedeutung fu¨r das industrielle Wachstum in Deutschland kaum u¨berscha¨tzt werden ko¨nnen (Fremdling 1975).
Verstaatlichung der Eisenbahnen
10.2 Wachstum deutscher Großunternehmen im 19. Jahrhundert Das Wachstum der Großunternehmen in Deutschland hat das Wachstum der deutschen Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert entscheidend mit befo¨rdert. Allerdings hat die eigentliche Expansion der Großunternehmen in Deutschland erst nach 1850 eingesetzt und blieb zuna¨chst auf den Steinkohlebergbau, die Eisen- und Stahlindustrie und den Maschinenbau beschra¨nkt, also auf Branchen, die eng mit dem Eisenbahnbau verbunden waren (Tilly 1974). Einige dieser Unternehmen bescha¨ftigten schon bald mehr als 1 000 Arbeitskra¨fte und investierten Kapitalien von mehr als eine Million Taler. Das erste industrielle Großunternehmen in Deutschland war wohl die 1808 / 10 gegru¨ndete Hu¨ttengewerkschaft Jacobi, Haniel & Hyssen in Oberhausen, die Gutehoffnungshu¨tte, die bereits bei ihrer Gru¨ndung ein Grundkapital von nahezu 100 000 Talern aufwies (Ba¨hr / Banken / Flemming 2008, S. 38). Doch schien diese Gru¨ndung ihrer Zeit noch voraus zu sein, denn zahlreiche Unternehmenszusammenbru¨che in der ersten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts unterstreichen die o¨konomischen Probleme von Industrieunternehmen in dieser fru¨hen Phase der deutschen Industrialisierung.
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Erste Großunternehmen
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Siegeszug der Großunternehmen ab den 1870er-Jahren
Aufkommen von Aktiengesellschaften
„Grjnderboom“ und „Grjnderkrach“
Erst ab den 1870er-Jahren, nach Gru¨nderboom und Gru¨nderkrach, begann der eigentliche Siegeszug industrieller Großunternehmen in Deutschland (Tilly 1978b). Entsprechend wuchsen auch die industriellen Anlageinvestitionen, allerdings nicht stetig, sondern in Abha¨ngigkeit von der konjunkturellen Lage. Schon zwischen 1850 und 1857 wurden in den preußischen Aktiengesellschaften mehr als 80 % aller Anlageinvestitionen in Bergbau- und Hu¨ttenunternehmen geta¨tigt. Daneben findet sich allenfalls in der Textilindustrie noch ein bemerkenswerter Anteil von Investitionen – andere Industriebranchen gab es ja auch noch kaum. Ein beachtlicher Teil des investierten Kapitals stammte dabei von Investoren jenseits der preußischen Grenzen, fu¨r die eine Anlage in Preußen offenbar vielversprechend war. Da der Großteil der industriellen Anlageinvestitionen in Aktiengesellschaften erfolgte, gibt die Verbreitung dieser Rechtsform einen Anhaltspunkt fu¨r das Wachstum von Großunternehmen (Martin 1969). Zuna¨chst war die Gru¨ndung einer Aktiengesellschaft an eine staatliche Konzession gebunden. Das Prozedere wurde in Preußen erstmals im „Gesetz u¨ber die Aktiengesellschaften“ (1843) geregelt, doch blieb deren Verbreitung allerdings zuna¨chst außerordentlich begrenzt. Vor 1800 fanden sich in Preußen ganze acht Aktiengesellschaften (Engel 1875, S. 467). Nach 1826 gab es dann eine erste Hochphase in der Gru¨ndung von Aktiengesellschaften, der insbesondere dem Eisenbahnbau geschuldet war. Erst die Aktienrechtsnovelle von 1870, mit der die Konzessionspflicht abgeschafft wurde, fu¨hrte zum „Gru¨nderboom“. Mit knapp 1 000 Neugru¨ndungen von Aktiengesellschaften im Deutschen Reich zwischen 1871 und 1873 in zahlreichen Branchen setzte sich in diesem Boom die Aktiengesellschaft als Rechtsform endgu¨ltig durch (Moll 1923, S. 155). Das Aktienkapital der neu gegru¨ndeten Aktiengesellschaften betrug u¨ber drei Milliarden Mark und gibt, selbst wenn es nur selten voll eingezahlt war, eine gewisse Vorstellung von den gesamtwirtschaftlichen Investitionen, die mit diesem Gru¨ndungsboom verbunden waren. Auch wenn der Aufschwung der Aktiengru¨ndungen im folgenden „Gru¨nderkrach“ schon 1873 sein Ende fand, so blieb die Aktiengesellschaft die typische Rechtsform industrieller Großbetriebe, und seit den 1880er-Jahren erfolgten wieder versta¨rkt Neugru¨ndungen. Bis 1909 stieg ihre Anzahl auf u¨ber 5 000 und ihr nominelles Aktienkapital auf u¨ber 14 Milliarden Mark; 229 Gesellschaften wiesen ein Grundkapital von je mehr als zehn Millionen Mark aus. Aber nicht nur hinsichtlich ihrer Rechtsform haben die modernen Großunternehmen in Deutschland wesentlichen Neuerungen zum 156
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Durchbruch verholfen. Auch hinsichtlich der Organisation hat es bedeutende Vera¨nderungen gegeben. Dem Vorbild der Eisenbahngesellschaften folgend, bedienten sich die Industrieunternehmen zuna¨chst einer funktionalen Gliederung der Gescha¨ftsbereiche, die nach Aufgaben differenziert und zentral kontrolliert wurden. Erst nach 1900 begannen die Unternehmen versta¨rkt Teilaufgaben dezentral zu organisieren, in Abteilungen mit sta¨rkerer Autonomie auszugliedern. Dieser Prozess setzte sich z. T. weiter fort bis hin zu einer weitgehend selbststa¨ndigen Gescha¨ftsfu¨hrung von Unternehmensteilen unter lediglich finanzieller Kontrolle (Holding). Bei der Kapitalmobilisierung wurden in Deutschland ebenfalls neue Wege beschritten. Die Bo¨rse erlangte fu¨r die Aktiengesellschaften als Finanzquelle eine immer gro¨ßere Bedeutung, und private Aktienbanken wurden zur Unterstu¨tzung industrieller Kapitalbildung immer wichtiger. In der Unternehmensfu¨hrung behielten in manchen Fa¨llen zwar die Gru¨nderfamilien (Krupp, Siemens, Bosch u. a.) weiterhin großen Einfluss oder vermochten gar weitere Unternehmen zu gru¨nden, doch blieb andererseits die Tendenz zu einem durch angestellte Manager gefu¨hrten Großunternehmen unu¨bersehbar. Der Trend zur Trennung von Eigentum und Kontrolle in Großunternehmen breitete sich weiter aus. In vielfa¨ltiger Weise gewann der Staat fu¨r die modernen Großunternehmen bereits im 19. Jahrhundert an Bedeutung. Er griff durch gesetzliche Regelungen in die Arbeitsbeziehungen ein, initiierte ein umfassendes Programm sozialversicherungsrechtlicher Regelungen zur Sicherung vor den Grundrisiken proletarischer Existenz (Alter, Krankheit, Unfall, Invalidita¨t) (> KAPITEL 3.2) und ermo¨glichte und fo¨rderte Wettbewerbsregulierungen gegen die Bildung von Kartellen. Einen manchesterliberalen „Nachtwa¨chterstaat“ hat es daher in Deutschland auch im 19. Jahrhundert niemals gegeben. An der Geschichte der Gelsenkirchener Bergwerks AG (Gelsenberg) kann man gleichsam paradigmatisch die Begru¨ndung und Entwicklung moderner Großunternehmen in Deutschland nachvollziehen (Steinkohlebergwerke 1930). Mit 4,5 Millionen Talern (13,5 Millionen Mark) Kapital – 1873 als Umgru¨ndung einer bereits seit den 1850er-Jahren betriebenen gewerkschaftlichen Zechenanlage durch den deutschen Industriellen Friedrich Grillo als Aktiengesellschaft geschaffen – sollte sie die mit u¨berwiegend ausla¨ndischem Kapital im Gelsenkirchener Raum betriebenen Zechen vereinen. In einer ersten Phase der Konsolidierung wurde die ehemalige bergrechtliche Gewerkschaft Vereinigte Alma & Rheinelbe nun zielstrebig ausgebaut. Die verschiedenen Grubenfelder wurden konsolidiert, d. h. 157
Funktionale Gliederung auch in Deutschland
Wachsende Bedeutung der Bkrse
Staatliche Interventionen
Musterbeispiel Gelsenkirchener Bergwerks AG
Drei Phasen der Entwicklung von Großunternehmen
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Externes Wachstum
Vertikale Integration
Strategische Erweiterung des Produktangebotes
zu einem einzigen Grubenfeld zusammengefu¨gt, und zahlreiche technische Neuerungen eingefu¨hrt, etwa ein Wetterschacht, der der Belu¨ftung der Grube diente, ein Eisenbahnanschluss und eine eigene Brikettfabrik. Trotz des Konjunktureinbruchs nach 1873 gelang es dem Unternehmen, sich durch den Abbau der Belegschaft und somit sinkende Lohnkosten bei gesteigerter Fo¨rderung zu behaupten. Das Unternehmen blieb stetig in der Lage, Dividenden zu erzielen und Reserven aufzubauen, die es im Konjunkturaufschwung der 1880er-Jahre in einer zweiten Phase der Unternehmensentwicklung zum Erwerb und zur Angliederung weiterer Kohlenzechen nutzen konnte. Diese nach interner Konsolidierung ab 1882 verfolgte Strategie externen Wachstums konnte nur durch Unterstu¨tzung der großen Aktienbanken bewerkstelligt werden, und fu¨r Gelsenberg spielte die Disconto-Gesellschaft dabei als Hausbank die entscheidende Rolle. Die Vorteile externen Wachstums lagen fu¨r das Unternehmen in einer Stabilisierung der Produktion durch die Verminderung des bergma¨nnischen Risikos bei sowie in der Verfu¨gbarkeit zahlreicher Zechen, der Nutzung der Kostenvorteile des Großbetriebs und in einer Stabilisierung der Ertra¨ge und Dividenden. Auch spielte die gute Position innerhalb des im Jahr 1893 geschaffenen Rheinisch-Westfa¨lischen KohlenSyndikats eine Rolle. 1903 begann dann fu¨r das Unternehmen eine dritte Entwicklungsphase, als es den Aachener Hu¨ttenverein Rothe Erde erwarb, dafu¨r das Grundkapital auf 119 Millionen Mark fast verdoppelte und damit den Weg zu einem gemischten schwerindustriellen Unternehmen mit Kohlenzechen und Hu¨ttenwerk beschritt. Im fru¨hen 20. Jahrhundert war damit die Gelsenkirchener Bergwerks AG zu einem der gro¨ßten deutschen Industrieunternehmen herangewachsen. Dass diese Entwicklung keine Ausnahme darstellt, veranschaulicht eine Untersuchung, die die 100 gro¨ßten Industrieunternehmen Deutschlands im Jahre 1907 mit denen des Jahres 1887 vergleicht (Kocka / Siegrist 1979). Es zeigt sich nicht nur eine Branchenstruktur, in der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen- und Stahlindustrie eindeutig dominieren, und in der sich mehrheitlich Aktiengesellschaften finden. Auch wird eine wesentliche Zunahme der Komplexita¨t dieser Unternehmen offensichtlich. Es erfolgte eine deutliche Erweiterung der Produktgruppen innerhalb der Unternehmen selbst, insbesondere in der Metallindustrie, und bei den betrieblichen Funktionen erho¨hte sich der Integrationsgrad der Großunternehmen. Deutsche Großunternehmen erweiterten also strategisch ihr Produktionsangebot und erschlossen sich dadurch erweiterte Ma¨rkte. Zugleich kombinierten sie versta¨rkt zusa¨tzliche Aufgaben innerhalb ihrer Großorganisation. 158
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10.3 Big Business im 20. Jahrhundert Die wachsende Bedeutung industrieller Großbetriebe in Deutschland rief auch das Interesse der amtlichen Statistik auf den Plan. Bereits 1906 hatte das Statistische Reichsamt damit begonnen, ein Register deutscher Kapitalgesellschaften anzulegen. Mo¨glich war eine derartige Sammlung von Einzelinformationen u¨ber Kapitalgesellschaften geworden, weil diese seit 1900 durch das Handelsgesetzbuch verpflichtet worden waren, regelma¨ßig u¨ber ihr Gescha¨ftsergebnis Rechenschaft abzulegen und dies auch zu vero¨ffentlichen. In einer ersten Publikation des Statistischen Reichsamts aus dem Jahre 1927 ergab sich, dass rund 300 deutsche Konzerne etwa 3 500 einzelne Unternehmen kontrollierten und u¨ber ca. 500 ausla¨ndische Zweigstellen verfu¨gten (Tooze 2001, S. 99). 1931 wurden gar 1 688 deutsche Konzerne und Trusts registriert. Eine weitere Ausdehnung von Großunternehmen in Deutschland im 20. Jahrhundert wurde also offensichtlich. Struktur und Leistungsfa¨higkeit von Großunternehmen entwickelten sich aber sehr unterschiedlich. Die Bedeutung der unterschiedlichen Industriebranchen in Deutschland wa¨hrend des 20. Jahrhunderts hat sich sehr stark verschoben. Betrachtet man die jeweils gro¨ßten 25 Industrieunternehmen in unterschiedlichen Zeitra¨umen, so zeigt sich hinsichtlich der Bilanzsumme bzw. des Gesamtumsatzes zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine deutliche Dominanz der Schwerindustrie, die bis zur Mitte des Jahrhunderts diese Fu¨hrungsposition mit knapp einem Drittel (29–30 % zwischen 1911 / 13 und 1954 / 56) auf sich vereinigte. Eine gewisse Bedeutung erlangten daneben auch die chemische und die elektrotechnische Industrie (Dammers / Fischer 2006). Die zweite Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts ist demgegenu¨ber vom Aufstieg der Automobilindustrie gepra¨gt, die 1998 / 2000 in Deutschland die Stelle der einstmals dominierenden Schwerindustrie mit einem Anteil von 28 % eingenommen hat. Diese Zahlen reflektieren einen dramatischen Strukturwandel innerhalb der deutschen Industrie im 20. Jahrhundert. Der Niedergang des deutschen Steinkohlebergbaus nach der ersten Kohlekrise 1957 ist augenfa¨llig, und auch die Gru¨ndung der Ruhrkohle AG bzw. deren Weiterentwicklung zur Deutschen Steinkohle AG konnte diesen Trend kaum stoppen. Gegenwa¨rtig ist eine Lo¨sung politisch vereinbart, die das Ende des deutschen Steinkohlebergbaus fu¨r das fru¨he 21. Jahrhundert vorsieht. Die zahlreichen Unternehmen der deutschen Eisen- und Stahlindustrie sind in den letzten 50 Jahren ebenfalls fast vo¨llig verschwunden. 159
Statistische Erfassung industrieller Großbetriebe
Dominanz der Schwerindustrie
Aufstieg der Automobilindustrie
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Als einzigem u¨berlebenden Unternehmen scheint der Thyssen-Krupp AG neben der Salzgitter AG noch eine erfolgreiche Zukunft gewa¨hrt zu sein. Branche
1911–13
1927–29
1954–56
1970–72
1998–2000
Bergbau u. a¨. Eisen- und Stahlindustrie u. a¨. Schwerindustrie insgesamt Elektrotechnische Industrie Chemische Industrie Fahrzeugbau
12 % 17 % 29 % 14 % 6% 5%
4% 25 % 29 % 12 % 20 % 2%
15 % 15 % 30 % 12 % 14 % 6%
7% 14 % 21 % 16 % 19 % 18 %
4% 3% 7% 11 % 8% 28 %
Abbildung 23: Verteilung der Bilanzsumme verschiedener Branchen bezogen auf den Gesamtumsatz der jeweils 25 gro¨ßten Industrieunternehmen
Die „großen Drei“ der chemischen Industrie
Auch die „großen Drei“ der chemischen Industrie, die Bayer AG, die Hoechst AG und die BASF, haben ein sehr unterschiedliches Schicksal durchlaufen. Hoechst ist im Pharmateil zu Aventis geworden und mittlerweile im franzo¨sischen Unternehmen Sanofi-Aventis aufgegangen, Bayer hat sich neu aufgestellt und einen Teil des Gescha¨fts als Lanxess abgespalten, wa¨hrend allein die BASF in weitgehend unvera¨nderter Form weiter fortexistiert. Im Bereich der elektrotechnischen Unternehmen hat von den zwei deutschen Giganten nur Siemens u¨berlebt, wa¨hrend die AEG untergegangen ist. Und auch von den zahlreichen, spa¨ter stark gewachsenen deutschen Automobilunternehmen des fru¨hen 20. Jahrhunderts konnten nur wenige selbststa¨ndig ihre Existenz bewahren, na¨mlich Volkswagen, Porsche und Daimler. Oder sie fanden wie Opel als Teil amerikanischer Unternehmen eine |berlebenschance bzw. wurden wie Ford als solche gegru¨ndet. Doch nicht nur das bloße |berleben am Markt kann als entscheidendes Ziel von industriellen Großunternehmen beschrieben werden. Auch Zugewinn von Marktanteilen (relatives Wachstum) und Gewinntra¨chtigkeit (Rentabilita¨t) bilden weitere Fixpunkte erfolgreichen unternehmerischen Handelns. Eine Untersuchung der Dividendenrendite (Return on Equity, ROE) und der Kapitalrentabilita¨t (Holding Return, HR) zeigt, dass diese Maßgro¨ßen in der Schwerindustrie eher unterdurchschnittlich erfolgreich ausgepra¨gt waren und sich im Zeitverlauf eher noch verschlechterten. Der beschriebene Strukturwandel folgt damit auch vera¨nderten Erfolgschancen der betroffenen Großunternehmen. Eine Reallokation des Kapitals, also ein vera¨ndertes Investitionsverhalten, fu¨hrte zu Strukturanpassungen, die dem
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Wachstum zukunftstra¨chtiger Branchen diente. Die ,alten‘ Industrien verloren dramatisch an Bedeutung und ,neue‘ traten an ihre Stelle. Neben einer Reallokation des Kapitals war wa¨hrend des 20. Jahrhunderts auch eine umfassende Internationalisierung der Großunternehmen pra¨gend. Dies galt fu¨r Deutschland in hohem Maße, obwohl hier infolge zweier Weltkriege mehrfach der Verlust des Auslandsvermo¨gens deutscher Großunternehmen zu beklagen war. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellt sich daher die Frage, wie „deutsch“ die deutschen Unternehmen u¨berhaupt noch sind. Die internationale Verflechtung der deutschen Unternehmen hat dazu gefu¨hrt, dass nach einer Ausdehnung des Auslandsabsatzes zusa¨tzlich die Produktion im Ausland aufgenommen wurde und ausla¨ndische Kapitalbeteiligungen erfolgreich eingeworben wurden. Eine Untersuchung der an der Deutschen Bo¨rse gelisteten deutschen DAX-Unternehmen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigt, dass das Kapital dieser „deutschen“ Großunternehmen zumeist mehrheitlich in ausla¨ndischer Hand liegt, ebenso der Umsatz zumeist zu mehr als der Ha¨lfte im Ausland erzielt wird und selbst die Mitarbeiter ha¨ufig im Ausland ta¨tig sind (Petersdorff 2005). Es wa¨re aber verfehlt, aus dem hohen Umfang der Internationalisierung der DAX-Unternehmen zu schließen, dass die deutschen Großunternehmen international eine u¨berragende Rolle spielen wu¨rden. Dies ist mitnichten der Fall, ganz im Gegenteil. International spielen deutsche Großunternehmen in zahlreichen Bereichen lediglich eine untergeordnete Rolle. Im internationalen Rahmen dominieren u¨berwiegend angelsa¨chsische Unternehmen: weltweit jene der USA, europaweit ha¨ufig britische. International betrachtet sind deutsche Großunternehmen eher klein. Ob dies unbedingt ein Nachteil sein muss, ist jedoch umstritten. Die Forderung nach einer aktiven Industriepolitik zu Fo¨rderung „nationaler Champions“ erscheint daher zwiespa¨ltig (Donges 2005). Wer vermag schon von vornherein die Zukunftsfa¨higkeit bestimmter Technologien abzuscha¨tzen und damit sichere Wohlfahrtsgewinne aus sogenannten „Zukunftsindustrien“ zu garantieren? Zu zahlreich sind Gegenbeispiele (Kernenergie, Transrapid, Concorde), die zu gigantischen Fehlinvestitionen gefu¨hrt haben. Zukunftstra¨chtiger erscheint es daher, gu¨nstige Rahmenbedingungen fu¨r private Investitionen zu schaffen, deren Erfolg oder Misserfolg privatwirtschaftlich getragen wird. Die Betrachtung der Bedeutung und des Wachstums industrieller Großunternehmen verstellt den Blick darauf, dass diese Institutionen industriellen Wachstums im 19. und 20. Jahrhundert bis heute noch 161
Internationalisierung der deutschen Großunternehmen
Dominanz der angelsochsischen Unternehmen
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Kleinere und mittlere Unternehmen als „hidden champions“
Große Bedeutung von familiengefjhrten Unternehmen
eine Minderheit im Wirtschaftsleben darstellen. Kleine und mittlere Unternehmen (KMUs) bilden die absolute Mehrheit aller Unternehmen in Deutschland, sie bescha¨ftigen ca. 70 % aller Werkta¨tigen, erwirtschaften mehr als die Ha¨lfte der gesamtwirtschaftlichen Wertscho¨pfung, ta¨tigen nahezu die Ha¨lfte aller Investitionen und fu¨hren in vielen weiteren Bereichen die Statistiken an. Zwar wird bereits seit den Zeiten von Karl Marx der Untergang des Mittelstandes immer wieder prognostiziert, doch zeigen kleine und mittlere Unternehmen bis heute eine außerordentlich große Beharrungskraft (Berghoff 2006). Mo¨glicherweise liegt das an der hohen Anpassungsfa¨higkeit der KMUs, die sich zahlreiche profitable Nischen neben Großunternehmen erschließen und dort nicht selten zu „hidden champions“ (Simon 1996) heranreifen konnten. Allerdings finden sich auch zahlreiche Branchen, in denen kleinere Unternehmen deutlich an Bedeutung verloren haben. Das gilt in Deutschland z. B. fu¨r Unternehmen der Unterhaltungselektronik, der Uhrenindustrie, des Fotoapparatebaus, der Bekleidungs- und der Textilindustrie, wo deutsche Unternehmen praktisch keine Rolle mehr spielen. Gerade in Deutschland ist zudem das Beharrungsvermo¨gen familiengefu¨hrter Unternehmen augenfa¨llig, und das gilt nicht nur fu¨r KMUs, sondern auch fu¨r eine ganze Reihe von Großunternehmen (BMW mit der Familie Quandt, VW / Porsche mit der Familie Porsche / Piech, Bosch, Haniel usw.). Dieser Sachverhalt la¨sst sich auch bereits im 19. Jahrhundert konstatieren, wo neben den weit verbreiteten Aktiengesellschaften unter den 100 gro¨ßten deutschen Unternehmen 1887 auch 15 und 1907 noch 7 Personengesellschaften zu finden waren. Fragen und Anregungen • Kennen Sie Familienunternehmen? Welche Bedeutung hat dieser Typus von Unternehmen in der deutschen Wirtschaft? • Internationale Konzerne pra¨gen z. T. die Weltwirtschaft. Demgegenu¨ber mu¨ssen sich deutsche Großunternehmen behaupten. Auf welche Weise tun sie das und inwieweit lassen sie sich noch als „deutsch“ betrachten? • Ko¨nnen Sie sich vorstellen, dass die Deutsche Bahn AG als privates Unternehmen gefu¨hrt werden kann? Welche historischen Vorbilder gibt es dafu¨r und lassen sie sich auf die Gegenwart u¨bertragen?
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FR AG EN UND LE K TrR E E MPFEH LUN GEN
Lektjreempfehlungen • Youssef Cassis: Big Business. The European Experience in the Twentieth Century, Oxford 1997. Kompakte Darstellung der Entwicklung von Großunternehmen und ihrer Leiter in Großbritannien, Frankreich und Deutschland in Staat und Gesellschaft sowie deren o¨konomischen Erfolge.
rbersichten
• Christopher J. Schmitz: The Growth of Big Business in the United States and Western Europe, 1850–1939 (New Studies in economic and social history 23), Cambridge 1995. Knapper mberblick u¨ber die Entwicklung von Großunternehmen in international vergleichender Perspektive. • Alfred D. Chandler: Strategy and Structure. Chapters in the History of the Industrial Enterprise, Cambridge / Mass. 1962. Bahnbrechende Studie u¨ber die Entstehung und Entwicklung moderner Großunternehmen am Beispiel von vier US-amerikanischen Firmen. • Alfred D. Chandler: Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism, Cambridge / Mass. 1990. Grundlegender, quantitativ unterlegter Vergleich der Entwicklung von Großunternehmen in den USA, Großbritannien und Deutschland seit dem 19. Jahrhundert auf der Basis zahlreicher Fallstudien. • Ju¨rgen Kocka / Hannes Siegrist: Die hundert gro¨ßten deutschen Industrieunternehmen im spa¨ten 19. und fru¨hen 20. Jahrhundert. Expansion, Diversifikation und Integration im internationalen Vergleich, in: Norbert Horn / Ju¨rgen Kocka (Hg.), Recht und Entwicklung von Großunternehmen im 19. und 20. Jahrhundert. Wirtschafts-, sozial- und rechtshistorische Untersuchungen zur Industrialisierung in Deutschland, Frankreich, England und der USA, Go¨ttingen 1979, S. 55–122. Umsetzung des Chandlerschen Ansatzes fu¨r die deutschen Großunternehmen.
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Forschung
11 Stabilitot und Entwicklung
Abbildung 24: Semper Augustus, die scho¨nste aller holla¨ndischen Tulpen (um 1640)
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STA BIL ITt T UN D E N TWI CKL UN G
Wa¨ren Sie bereit, fu¨r das hier abgebildete Gewa¨chs 20 000 Euro zu bezahlen? Wohl kaum, und dennoch wurden 1637 wa¨hrend des „Tulpenwahns“ in den Niederlanden vergleichbare Summen bezahlt. Die hier abgebildete Tulpenart „Semper Augustus“ soll in jener Zeit in der Spitze pro Stu¨ck Preise von ca. 20 000 Gulden erzielt haben, wa¨hrend z. B. ein Handwerker fu¨r 250 Gulden ein ganzes Jahr arbeiten musste. Waren also die Leute verru¨ckt geworden, wenn sie solch exorbitante Preise fu¨r relativ nutzlose Gu¨ter wie Tulpen boten und offenbar auch zahlten? Die Antwort auf diese Frage ist: Nein! Denn auch eine derartige Spekulation folgt einer eigenen Logik, die sich allerdings von der Logik des gewo¨hnlichen Gescha¨ftsbetriebs deutlich unterscheidet und deren Folgen fu¨r die Wirtschaft manches Mal in verheerenden Krisen enden. Die wirtschaftliche Entwicklung einer Volkswirtschaft sollte idealer Weise stetig und sto¨rungsfrei erfolgen, doch bleibt dies leider nur ein frommer Wunsch. Immer wieder wird die Wirtschaftsta¨tigkeit von Sto¨rungen beeintra¨chtigt und manche davon wachsen sich sogar zu bedrohlichen Krisen aus. Das galt schon fu¨r die vormoderne Wirtschaft, in der manchmal „fette Jahre“ genossen wurden, ha¨ufig aber auch Elend und Hunger das Leben der Menschen bestimmten. Die moderne, dynamische Wirtschaft ist sogar noch weit sta¨rker von Instabilita¨t gepra¨gt. Regelma¨ßige Konjunkturschwankungen ko¨nnen sich dabei gelegentlich zu Boomphasen oder zu Krisen auswachsen. War die vormoderne Welt noch von klimabedingten Ernteschwankungen und langfristigen Vera¨nderungen der Bevo¨lkerungszahl gepra¨gt, so wurde die Wirtschaftsentwicklung in der Industriegesellschaft zunehmend durch eine der Dynamik der Industriewirtschaft innewohnende konjunkturelle Rhythmik gepra¨gt.
11.1 Historische Erfahrungen kkonomischer Instabilitot 11.2 Methoden zur Erfassung kkonomischer Instabilitot 11.3 Konjunkturen und Krisen in Deutschland 166
HIS TOR ISC HE ERFA HRUN GE N sKO NOM ISC HER I NSTABIL IT tT
11.1 Historische Erfahrungen kkonomischer Instabilitot Die o¨konomische Instabilita¨t der vorindustriellen Welt ist in ihren Erscheinungsformen und Determinanten nur schwer zu erfassen. Die Menschen erfuhren sie zumeist im Niedergang als eine drastische Verschlechterung der Lebensbedingungen, in schweren Fa¨llen als Hunger und Not. Aufschwu¨nge fu¨hrten allenfalls zu Zeiten einigermaßen ausko¨mmlicher Lebensverha¨ltnisse. Vormoderne, kurzfristige Krisen waren zumeist die Folge von schlechten Ernten, die entscheidend von den wechselhaften Witterungsverha¨ltnissen bestimmt waren. Agrarkrisen traten demnach erratisch und nicht regelma¨ßig oder gar vorhersagbar auf. Inwieweit Schwankungen der Wirtschafts- und Lebensverha¨ltnisse der Bevo¨lkerung auch in fru¨heren Zeiten zu beobachten waren, ist in der Literatur umstritten, weil die zugrunde liegenden Daten sehr mangelhaft sind (Schuster 1999). Die auf Missernten beruhenden Schwankungen in vormodernen Zeiten fu¨hrten zwar zu Preissteigerungen der Agrarprodukte, bewirkten aber bei den Bauern dennoch Einkommensverluste, weil ein Nachfrageru¨ckgang die Wirkung der Preise auf das Einkommen nicht kompensieren konnte. Da der Verbrauch von Nahrungsmitteln aber eher unelastisch war, musste an anderer Stelle gespart werden und auf den Kauf von Gu¨tern und Dienstleistungen verzichtet werden. Gewerbeabsatz und Handelsumschlag stagnierten, die Arbeitslo¨hne zeigten eine sinkende Tendenz und die Lage konnte sich erst wieder bessern, wenn gute Ernten die Nahrungsmittel wohlfeiler machten. Bereits seit dem hohen Mittelalter lassen sich langfristig deutliche Schwankungen der Nahrungsmittelpreise, vor allem von Getreide beobachten, die von Auf- und Abschwu¨ngen der Wirtschaft in diesem Zeitraum ku¨nden (> ABBILDUNG 25). Eine solche Krise wird von dem Wirtschaftshistoriker Wilhelm Abel insbesondere fu¨r das 15. Jahrhundert konstatiert, als sich die Schere zwischen Agrarpreisen und Lo¨hnen zuungunsten der arbeitenden Bevo¨lkerung weit o¨ffnete. Der franzo¨sische Sozial- und Wirtschaftshistoriker Camille-Ernest Labrousse nannte diese agrarisch determinierten Phasen in der Vormoderne Krisen vom „typ ancien“ (Labrousse 1944). Dieser typ ancien einer Agrarkrise wurde im Zuge der Industrialisierung verdra¨ngt durch einen neuen Typus von Wirtschaftsrhythmik. In Deutschland waren infolge der Missernten 1816 / 17 und 1846 / 47 letztmalig gravierende Hungerkrisen beobachtbar, weil da-
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Krisen in der Vormoderne
Missernten und Agrarkrisen
Krisen des „Typs Ancien“
STA BIL ITt T UN D E N TWI CKL UN G
Abbildung 25: Getreidepreise in Mitteleuropa vom 13. bis zum 20. Jahrhundert (Abel 1978, S. 13)
Gewerbliche Konjunkturen statt Agrarkrisen
bei offenbar noch die Mechanismen der fru¨heren Agrarkrisen wirkten (Bass 1991). Doch bereits in der Krise der 1840er-Jahre waren zusa¨tzliche Elemente einer Handels-, Finanz- und Gewerbekrise sichtbar. Eine neue, gewerblich determinierte Form wirtschaftlicher Instabilita¨t wurde darin deutlich, die nun nicht mehr langfristige Vera¨nderungen der Lebensverha¨ltnisse betraf, sondern bei einer stetigen Verbesserung der Lebensumsta¨nde kurzfristige Schwankungen der Wirtschaftsta¨tigkeit offensichtlich werden ließ. Ein agrarisch gepra¨gtes Krisenmuster wurde durch gewerblich determinierte Konjunkturen ersetzt. Die letzte agrarisch bedingte Krise der 1840er-Jahre in Deutschland a¨ußerte sich zuna¨chst wiederum in einer massiven Hungerkrise. Wegen der sinkenden Realeinkommen der Bevo¨lkerung und der gewachsenen Bedeutung der gewerblichen Wirtschaft wuchs sich die Krise sehr bald zu einer Gewerbekrise aus. Dies brachte einen Niedergang des Handwerks mit sich und den Verfall des Heimgewerbes, d. h. des Nebenerwerbs la¨ndlicher Haushalte, die als Zubrot z. B. Garn gesponnen hatten. Auf ihrem Ho¨hepunkt entwickelte sich die Krise auch zu einer Handels- und Geldkrise. Sie fu¨hrte zu Unternehmens- und Bankenzusammenbru¨chen, z. B. der Privatbank Abraham Schaaffhausen, die, um vor dem Konkurs bewahrt zu werden,
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HIS TOR ISC HE ERFA HRUN GE N sKO NOM ISC HER I NSTABIL IT tT
1848 als erste Bank in Preußen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde (Tilly 1990, S. 12–38). Neben den Agrarkrisen vom typ ancien hat es seit dem Entstehen des modernen Kapitalismus in der Neuzeit ebenfalls schon Finanz-, Handels- und Spekulationskrisen gegeben. Diese waren aber fu¨r die Gesamtwirtschaft noch von begrenzter Bedeutung geblieben. Die großen Handelsha¨user und die vermo¨genden Bu¨rger eines Landes waren seit Jahrhunderten mit der internationalen Wirtschaft verbunden. Sie beteiligten sich an weltumspannenden Handels- und Spekulationsgescha¨ften und vermochten so Reichtum anzuha¨ufen, konnten aber auch scheitern. Die Geschichte gibt Auskunft u¨ber zahlreiche solcher Finanz- und Spekulationskrisen, die offenbar einem bis heute kaum vera¨nderten Ablauf unterlagen (Kindleberger 2001). Die Gegensta¨nde solcher Spekulationen ko¨nnen jedoch sehr unterschiedlich ein. So wuchs sich 1634–37 in Holland der lebhafte Handel mit Tulpenzwiebeln in eine gigantische Spekulation aus, an deren Ho¨hepunkt einzelne Zwiebeln zum Wert eines ganzen Hauses gehandelt wurden. Das Ende war ein totaler Zusammenbruch des Marktes. Gut 100 Jahre spa¨ter war es a¨hnlich, nur wurde jetzt mit Aktien von |berseekompanien spekuliert, die die Reichtu¨mer der Su¨dsee oder des Mississippi-Tales zu heben versprachen. 1711 war in London zu diesem Zweck die „South Sea Company“ als privilegierte (chartered) Aktiengesellschaft entstanden, und bis 1720 wurden etwa zweihundert weitere derartige Handelsgesellschaften gegru¨ndet, einige davon von vornherein in betru¨gerischer Absicht. Eine gewaltige Spekulation setzte ein und ließ die Aktien der Su¨dseekompanie um ca. 600 % ansteigen, obwohl die Gesellschaft selbst u¨ber einen schlechten Gescha¨ftsgang klagte: Eine sogenannte Spekulationsblase, bei der den ungeheuren Kursen der Aktien wenig reale Werte gegenu¨berstanden, hatte sich gebildet. Der Zusammenbruch des Marktes ließ nicht lange auf sich warten und veranlasste den Staat zum Erlass des Verbots der Gru¨ndung von Gesellschaften mit Haftungsbegrenzung, dem Bubble Act von 1720, der bis 1824 gu¨ltig war. Diese Krise ging unter dem Namen „South Sea Bubble“ (Su¨dsee-Spekulationsblase) in die Finanzgeschichte ein. ~hnliches spielte sich zur gleichen Zeit auch in Frankreich ab. Dort war 1717 die „Compagnie des Indes“ als Aktiengesellschaft gegru¨ndet worden, deren Gescha¨ftsziel darin bestand, die vermuteten Scha¨tze am Mississippi in Nordamerika zu heben. Die Mississippigesellschaft entwickelte sich zuna¨chst wenig Erfolg versprechend und 169
Finanz-, Handelsund Spekulationskrisen seit der frjhen Neuzeit
Tulpenkrise in den Niederlanden 1634–37
South Sea Bubble in England 1711–20
Mississippi-Schwindel in Frankreich 1718–20
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Gleichfkrmiger Verlauf von Spekulationskrisen
Spekulations-Manie: „Gier besiegt Vernunft!“
Platzen der Spekulationsblase
demgema¨ß halbierte sich der Kurs ihrer Aktien bis 1718. Im folgenden Jahr setzte aber eine gewaltige Spekulation mit Papieren der Gesellschaft ein und im Fru¨hjahr 1720 wurde der Ho¨chststand von 3 600 % erreicht. Bald darauf kam es zum Zusammenbruch des Marktes und zum Totalverlust. Diese Beispiele ließen sich bis in die Gegenwart, bis zur InternetBlase der Jahre 1999–2001 und bis zur Finanzkrise 2009 zwanglos weiterfu¨hren (Pierenkemper 2012). Ihre Verla¨ufe zeigen bemerkenswerte Gleichfo¨rmigkeiten, aus denen fu¨r die Folgekrisen aber offenbar nicht gelernt wird. Am Anfang steht immer eine scheinbar tragfa¨hige, mo¨glicherweise auch tatsa¨chlich gute Gescha¨ftsidee, wie z. B. der Handel mit exotischen Tulpenzwiebeln, die Erschließung des o¨konomischen Potenzials ferner Weltregionen oder in der Gegenwart die o¨konomische Nutzung des Internets oder der Handel mit strukturierten Krediten. Im Prinzip ist ein derartiges Gescha¨ftsmodell praktikabel und nicht selten zukunftsweisend. Zumeist bewa¨hrt es sich zuna¨chst auch und weckt weitere Erwartungen. Diese Erwartungen lo¨sen sich dann aber sehr schnell vom tatsa¨chlichen Gescha¨ftsgang und verselbststa¨ndigen sich zu einer Spekulation. Eine „Manie“ nimmt ihren Anfang mit einer entsprechenden Verblendung hinsichtlich der tatsa¨chlichen Gescha¨ftsvorga¨nge und -chancen. Auch rational handelnde Wirtschaftssubjekte beginnen im Boom, sich an der wachsenden Spekulation zu beteiligen, um die dabei gebotenen Gescha¨ftschancen nicht zu verpassen. Alles Warnen vor der |bertreibung des Marktes wird zuna¨chst noch durch die Entwicklung des Marktes widerlegt. Diese Entwicklung tra¨gt aber nur solange, wie alle Beteiligten Anlass haben zu glauben, dass die Spekulation noch weitergeht. Davon kann man vernu¨nftiger Weise aber nicht ausgehen, nur weiß niemand, wann dieser Zeitpunkt gekommen ist, wann die Spekulationsblase platzt. Ein beliebiger Anlass kann nun dazu fu¨hren, dass die Erwartungen sich a¨ndern, und sogleich schla¨gt die Manie in eine Panik um. Nunmehr versucht jedermann, die sachlich nicht zu rechtfertigenden Spekulationsgewinne zu realisieren. Die ersten mo¨gen das noch ko¨nnen und einen scho¨nen Gewinn einstreichen, die anderen aber beißen die Hunde, und sie bleiben auf den Verlusten sitzen. Das Gescha¨ftsmodell ist damit nicht unbedingt gescheitert, Tulpen werden heute noch gehandelt und mit dem Internet werden Gescha¨fte gemacht. Nur konnten diese Gescha¨ftsmodelle keine Basis fu¨r die gewaltige |bertreibung bieten, die unabha¨ngig davon zur Spekulation gefu¨hrt hatte (> KAPITEL 14). 170
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Die Vorstellung eines stetigen, in sicheren Bahnen ablaufenden Wirtschaftsprozess der vormodernen Zeiten ist also falsch, auch hier zeigte sich bereits ein bemerkenswertes Maß von Instabilita¨t. Allerdings sind unterschiedliche Formen der Sto¨rung eines Gleichgewichts unterscheidbar. Neben langfristigen, sa¨kularen Schwankungen der Lebensverha¨ltnisse lassen sich kurzfristige Hunger- bzw. Agrarkrisen beobachten, die durch witterungsbedingte Ernteschwankungen verursacht wurden. Daru¨ber hinaus finden sich seit Beginn der Neuzeit, d. h. mit dem Entstehen eines kapitalistisch motivierten Handelsund Finanzsystems, auch Spekulationskrisen, die mit den genannten o¨konomischen Ursachen nicht unmittelbar in Beziehung stehen, sondern offenbar einer eigenen Logik folgen.
Wirtschaftliche Instabilitot als Kennzeichen der vormodernen Wirtschaft
11.2 Methoden zur Erfassung kkonomischer Instabilitot Die historischen Erfahrungen mit dem Wandel zwischen prosperierenden und krisenhaften Wirtschaftszusta¨nden haben schon fru¨h zum Nachdenken u¨ber dieses Pha¨nomen Anlass gegeben. Bei den klassischen Autoren, wie etwa dem Schotten Adam Smith als bekanntestem Vertreter, standen zwar zuna¨chst die Gesetze der Produktion und der Verteilung im Vordergrund, doch zeitgleich (1837) hat der englische Bankier und Geldtheoretiker Lord Overstone (eigentlich Samuel Jones Loyd 1st Baron Overstone) darauf hingewiesen, dass der Umfang der wirtschaftlichen Ta¨tigkeiten periodisch schwanke und in einen festen Zyklus gebunden sei. „Zuerst finden wir sie in einem Zustand der Ruhe – dann der Verbesserung – des wachsenden Vertrauens – der Prosperita¨t – der Erhitzung – der |beraktivita¨t – der Erschu¨tterung – der Bedra¨ngnis – der Stagnation – der Not – und dann wieder in der Ruhe endend.“ (Overstone 1837, zitiert nach: Vosgerau 1978, S. 479) Damit hat er bereits das umschrieben, was man spa¨ter einen Konjunkturzyklus nannte. Als der eigentliche Entdecker des Konjunkturzyklus gilt allerdings nicht zu unrecht der franzo¨sische }konom Clement Juglar, weil er die Wirtschaftskrisen Frankreichs, Englands und der Vereinigten Staaten in einem gro¨ßeren Werk einer genaueren Untersuchung unterzog (Juglar 1860). Auf der Basis historischer Analyse und untermauert durch statistisches Material war er in der Lage, wiederkehrende, wenn auch nicht ga¨nzlich gleichfo¨rmige Muster
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Entdeckung der Konjunkturzyklen: Overstone und Juglar
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Beginn der Konjunkturforschung: Harvard Barometer
Vorloufer im deutschen Kaiserreich
Institut fjr Konjunkturforschung
Theorie der wirtschaftlichen Wechsellagen
o¨konomischer Aktivita¨ten dieser La¨nder aufzuzeigen. Damit war eine systematische Konjunkturbeobachtung und -analyse begru¨ndet. Auch in Deutschland wandte man sich diesem Pha¨nomen, wenn auch im internationalen Vergleich verspa¨tet, zu. In den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und Schweden wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine empirische Konjunkturforschung betrieben, wa¨hrend im Statistischen Reichsamt in Berlin erst im Jahre 1924 eine konjunkturstatistische Abteilung eingerichtet wurde. Seit 1919 vero¨ffentlichte die Harvard Universita¨t auf der Basis von seit 1903 gesammelten statistischen Daten Konjunkturberichte, die dann zur Konstruktion des sogenannten „Harvard Barometers“, eines ersten Konjunkturindikators in grafischer Darstellung, herangezogen wurden. Dabei konnten sich die Forscher auf das bahnbrechende Werk Business Cycles (englisch fu¨r Konjunkturzyklen) ihres Landsmannes Wesley Clair Mitchell beziehen (Mitchell 1913). In Deutschland war zwar seit 1895 in den Jahrbu¨chern fu¨r Nationalo¨konomie und Statistik eine Volkswirtschaftliche Chronik regelma¨ßig erschienen, deren Daten reichten jedoch fu¨r konjunkturstatistische Aussagen nicht aus. Auch die Entstehung der Zeitschrift Thu¨nen Archiv, die sich dezidiert als Zeitschrift fu¨r exakte Wirtschaftsforschung bezeichnet, wirkte in eine a¨hnliche Richtung, ebenso wie private Initiativen etwa der Deutschen Bank, die seit 1920 in ihren Wirtschaftlichen Mitteilungen insbesondere preisstatistisches Material regelma¨ßig publizierte. Eine eigensta¨ndige Konjunkturforschung hatte sich in Deutschland bis in die Mitte der 1920er-Jahre dadurch allerdings noch nicht etablieren ko¨nnen. Dazu sollte die Gru¨ndung des „Instituts fu¨r Konjunkturforschung“ auf Betreiben von Ernst Wagemann, dem Pra¨sidenten des Statistischen Reichsamtes, im Jahre 1925 erst entscheidend beitragen. Im gleichen Jahr erschien im Handwo¨rterbuch der Staatswissenschaften der Artikel Krisen des Volkswirts Arthur Spiethoff (Spiethoff 1925). Darin setzt sich der Autor mit dem seit etwa 1820 in den fortgeschrittenen La¨ndern beobachtbaren Wechsel von Aufschwung und Stockung der Wirtschaftsta¨tigkeit auseinander. Er bezeichnet dieses Pha¨nomen mit dem Begriff „Wechsellagen“, der Begriff „Konjunktur“ war zu diesem Zeitpunkt noch nicht gebra¨uchlich. „Die Wechsellagen Aufschwung und Stockung sind die Entwicklungsform hochkapitalistischer Wirtschaft“, so Spiethoff (Spiethoff 1925, S. 8). Ihren Ablauf formalisiert er in einem Musterkreislauf in fu¨nf Phasen (> ABBILDUNG 26).
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Abbildung 26: Fu¨nf-Phasen-Zyklus der Konjunktur (Spiethoff 1925, S. 38)
Der Ablauf innerhalb dieser fu¨nf Phasen wird rein empirisch hergeleitet und entsprechend beschrieben. Derartige Wechsellagen unterscheiden sich deutlich von den bereits seit Jahrhunderten bekannten Agrarschwankungen, die auf variierende Enteergebnisse der Landwirtschaft zuru¨ckzufu¨hren waren und eben keine kurzfristige Rhythmik wie die industriellen Wechselspannen aufwiesen und daher unregelma¨ßig und erratisch auftraten. Eine Vielzahl von Indikatoren zieht Spiethoff zur Veranschaulichung seiner Wechselspanne heran, z. B. Renditen, Investitionen, Umsa¨tze, Produktion, Zinssa¨tze und Preise. In seinem Hauptwerk Die wirtschaftlichen Wechsellagen unternahm Spiethoff dann den Versuch, verschiedene Wechsellagen empirisch aufzuzeigen und theoretisch zu begru¨nden (Spiethoff 1955). Es zeigte sich dabei, dass mehrere Wechsellagen zu Stockungs- bzw. Aufschwungsspannen zusammengefasst werden ko¨nnen und jeweils danach bestimmt werden ko¨nnen, ob in diesem Zeitraum Aufschwungsjahre die Stockungsjahre numerisch u¨bertreffen oder umgekehrt. 173
Fjnf-Phasen-Zyklus der Konjunktur
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Wechsellagen in England 1822–42
Wechsellagen in Deutschland 1842–1913
Konzept der „Business Cycles“
Konjunktur oszilliert um einen Wachstumstrend
Zyklen unterschiedlicher Dauer und Amplitude
In der ersten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts konnte er ein regelma¨ßiges Auf und Ab der Wirtschaft allein fu¨r England aufzeigen, weil nur dort der industrielle Entwicklungsstand entsprechend weit fortgeschritten war. Zwischen 1822 und 1844 waren dort zwei Wechsellagen mit einer Dauer von zehn bzw. elf Jahren zu beobachten. Neun Aufschwungs- standen zwo¨lf Stockungsjahre gegenu¨ber, sodass die gesamte Spanne als Stockung zu klassifizieren ist. Nach 1842 vermag Spiethoff die Wechsellagen auch in Deutschland zu identifizieren, sie bescherten dem Land in drei Kreisla¨ufen mit einer Dauer von zwischen sieben und elf Jahren einen lang anhaltenden Aufschwung bis 1873. Es folgte dann wiederum eine Stockungsspanne (1874 bis 1894 mit drei Wechsellagen) und danach eine Aufschwungsspanne (1895 bis 1913 mit zwei und einem halben Kreislauf). Der Konjunkturbegriff findet in diesem Konzept noch keine Verwendung und die Entwicklungen der zeitgleich erfolgten amerikanischen Konjunkturforschungen wurden weitgehend ignoriert. In den USA war bis dahin der Begriff „business cycle“ la¨ngst gebra¨uchlich geworden, das Konzept von Mitchell wurde im National Bureau of Economic Research (NBER) weiter ausgebaut (Burns / Mitchell 1964). Die NBER entwickelte fu¨r die Darstellung von Konjunkturzyklen ein einfaches Zwei-Phasen-Schema mit einer je dreifach unterteilten Aufschwungs- und Abschwungsphase, die als Expansion bzw. Kontraktion bezeichnet wurden. Dieses einfache Schema gilt bis heute als Referenzzyklus fu¨r die Darstellung empirisch zu beobachtender Konjunkturzyklen, wobei allenfalls unterschiedliche Charakterisierungen und Unterteilungen der Auf- bzw. Abschwungsphasen vorgenommen werden. Daru¨ber hinaus hat sich bisher gezeigt, dass Konjunkturzyklen in einer stetig wachsenden Wirtschaft um einen aufwa¨rts gerichteten Trend oszillieren. Nun erweist es sich in der Realita¨t allerdings weitaus schwieriger als in diesen Schemata, verschiedene Konjunkturzyklen zu bestimmen und eindeutig voneinander abzugrenzen. Verschiedene Autoren haben auf Unterschiede in Dauer und Intensita¨t der Auf- und Abschwu¨nge hingewiesen und diese durch die Konstruktion anderer Zyklen zu erfassen gesucht. Diese alternativen Zyklen unterscheiden sich von den bisher beschriebenen Konjunkturzyklen hinsichtlich ihrer Amplitude und der Zeitdauer (Kitchin 1923). Die bekanntesten Zyklen dieser Art sind wohl Lagerzyklen, welche die kurzfristigen Wirkungen der Ausdehnung und Verminderung der Lagerhaltung reflektieren, und Innovationszyklen, die die Wirkungen von Neuerungen auf den Wirtschafts174
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prozess spiegeln und die neben Konjunkturen den zeitlichen Ablauf der Wirtschaftsta¨tigkeit pra¨gen. Saisonale Schwankungen mit weniger als einem Jahr Dauer sowie 18 bis 22 Jahre wa¨hrende Wachstums- oder Kuznets-Zyklen bleiben dabei noch außer Betracht. Der }konom Joseph A. Schumpeter benannte die unterschiedlichen Zyklen 1939 nach ihren „Entdeckern“ (Schumpeter 1961, S. 179). So bezeichnete er die etwa vierzig Monate dauernden Lagerzyklen als „Kitchin-Zyklen“ nach dem englischen Gescha¨ftsmann Joseph Kitchin, den etwa zehn Jahre wa¨hrenden Konjunkturzyklus als „Juglar-Zyklus“ nach dem franzo¨sischen Mediziner und Konjunkturforscher Cle´ment Juglar und einen etwa ein halbes Jahrhundert wa¨hrenden Innovationszyklus als „Kondratieff-Zyklus“ nach dem russischen Wirtschaftswissenschaftler Nikolai D. Kondratieff. Eine schematische Darstellung dieser drei Zyklen und die Addition der dort auftauchenden Abweichungen von der Ausgangslage ergibt einen guten Eindruck u¨ber die Unstetigkeit der Wirtschaftsentwicklung (> ABBILDUNG 27).
„Kitchin-Zyklus“, „Juglar-Zyklus“ und „Kondratieff-Zyklus“
Abbildung 27: Unterschiedliche Vorstellungen von wirtschaftlichen Zyklen (Schumpeter 1961, S. 223)
Die Vera¨nderungsrate der Abweichungen, mathematisch bestimmt durch die 1. Ableitung, la¨sst die Instabilita¨t der Entwicklung noch drastischer deutlich werden, wobei unterstellt wird, dass die Abweichungen eindeutig zu bestimmen und zu messen sind. Nach welchen Kriterien aber misst man am besten Abweichungen vom gewohnten Gang der Gescha¨fte, um sinnvolle Aussagen zum Konjunkturverlauf treffen zu ko¨nnen?
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Verknjpfung der Zyklen
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Wachstum des BIP
Verschiedene KonjunkturIndikatoren
Vor- und nachlaufende Konjunkturindikatoren
Widersprjche zwischen KonjunkturIndikatoren
In der neueren Konjunkturforschung werden ha¨ufig die Wachstumsraten des Sozial- (BSP) oder Inlandsprodukts (BIP) und deren Vera¨nderungen als Maßstab der konjunkturellen Zyklizita¨t verwendet. Es stellt sich jedoch die Frage, ob ein so allgemeines Maß tatsa¨chlich in der Lage ist, die Komplexita¨t des Wirtschaftsprozesses im Hinblick auf seine Stabilita¨t bzw. Instabilita¨t hinreichend abzubilden. Zweifel sind erlaubt, und fu¨r historische Untersuchungen steht es außer Frage, dass wegen des Mangels solcher Daten andere, zusa¨tzliche Indikatoren zur Beschreibung des Konjunkturverlaufs herangezogen werden mu¨ssen. Eine Vielzahl entsprechender Indikatoren steht fu¨r derartige Untersuchungen zur Verfu¨gung. So verwendete Spiethoff z. B. bei seiner Analyse der wirtschaftlichen Wechsellagen eine große Zahl verschiedener Indikatoren, die er z. T. der Finanzspha¨re (Gewinne, Zinssa¨tze, Kreditbesta¨nde, Geldversorgung u. a¨.), der realen Spha¨re (Gu¨terverbrauch, Produktion, Investitionen etc.) und der Marktspha¨re (Preise) entnahm. Das Problem, das sich bei der Verwendung einer derartigen Vielfalt von Daten ergibt, besteht allerdings darin, dass diese verschiedenen Indikatoren in unterschiedlicher Weise zeitlich mit dem Konjunkturverlauf verkoppelt sind. Manche laufen dem Konjunkturzyklus zeitlich voraus, andere parallel und wiederum andere folgen der Entwicklung zeitlich verzo¨gert. Man versucht daher die zeitlichen Differenzen zwischen Konjunktur und den sie messenden Indikatoren durch eine Klassifikation nach „lag“-, d. h. verzo¨gert folgenden, Pra¨sens- und „lead“-Indikatoren, also voraus laufenden Indikatoren, zu erfassen. Ein Fru¨hindikator, z. B. die Auftragseinga¨nge von Unternehmen, erreicht seinen Ho¨hepunkt zwangsla¨ufig, ehe die Produktion als Pra¨sensindikator ihr Maximum erreicht. Die Auftragseinga¨nge sinken bereits, wenn die Unternehmen noch damit bescha¨ftigt sind, ihre alten Auftra¨ge bei steigender Produktion abzuarbeiten. Sie erfolgt noch mo¨glicherweise zu steigenden Preisen, weil diese sich noch an der vorausgehenden Boomphase orientieren und daher als Spa¨tindikatoren zu betrachten sind. Entsprechend unterschiedlich und sogar widerspru¨chlich sind daher in den einzelnen Konjunkturphasen die Reaktionen der unterschiedlichen Indikatoren. So ko¨nnen etwa steigende Zinssa¨tze einen neuen Aufschwung signalisieren, wa¨hrend wachsende Arbeitslosenzahlen noch vom schon beendeten Abschwung ku¨nden. Neuerding wird im Rahmen der Real Business Cycle-Theorie von einer Reihe von Autoren die Existenz mehr oder weniger regelma¨ßig 176
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auftretender Konjunkturzyklen ga¨nzlich bestritten und damit zugleich die Erkenntnisse der Konjunkturtheorie der letzten Jahrzehnte in Frage gestellt. Die zweifellos zu beobachtenden Sto¨rungen im Wirtschaftsablauf werden von ihnen auf zufa¨llige reale, nicht moneta¨re Schocks, wie z. B. Vera¨nderungen in der Produktionstechnologie, zuru¨ckgefu¨hrt (Kydland/Preston 1982, Plossner 1989). Die theoretische Basis dieser Auffassungen bildet eine Modellwelt, die in idealer Weise vollkommene Ma¨rkte unterstellt, in den alle Anpassungen quasi automatisch erfolgen und die von ihren Kritikern als irreal kritisiert wird (Summers 1986).
11.3 Konjunkturen und Krisen in Deutschland Die Zyklizita¨t der deutschen Wirtschaft seit den 1840er-Jahren, also seit Beginn der eigentlichen Industrialisierung in Deutschland wurde von dem Wirtschaftshistoriker Reinhard Spree genauer untersucht (Spree 1977). Er orientiert sich dabei an einer Methode, die das NBER (National Bureau of Economic Research) der USA ohne Bezug auf die Gro¨ße Sozialprodukt entwickelt hat. Diese Methode erfasst ein Grundmuster von etwa 1 000 Reihen realer und o¨konomischer Gro¨ßen in Form von Monatsdaten, um daraus ein Maß zur Feststellung des Konjunkturzyklus’ zu entwickeln. Seit 1967 werden daraus insgesamt 88 Reihen von Indikatoren ermittelt, von denen 25 Reihen als Kern der Konjunkturanalyse dienen. Aus diesen Reihen wird ein sogenannter Referenzzyklus gebildet, indem die jeweiligen Hoch- und Tiefpunkte der einzelnen Reihen bestimmten Phasen des Konjunkturzyklus zugeordnet werden. Ein „Diffusionsindex“ zur Modellierung des Konjunkturverlaufs wird durch die Kombination der expansiven und kontraktiven Reihen gebildet und deren Differenzen dargestellt. |berwiegen die positiven Reihen, signalisiert das einen Aufschwung der Wirtschaftsentwicklung, ist es umgekehrt, handelt es sich um einen Abschwung (A-Kurve in > ABBILDUNG 28). Die kumulierten Differenzen zeigen demnach die konjunkturelle Lage an und deren Vera¨nderungen die Entwicklung der Wirtschaft (BCC-Kurve). Genau dieses Verfahren verwendet auch Reinhard Spree, wenn er aus insgesamt 48 verschiedenen Reihen, von denen 21 Reihen Mengen- und 27 Reihen Wertgro¨ßen erfassen, einen Gesamtindikator der konjunkturellen Entwicklung der deutschen Wirtschaft zwischen 1840 und 1880 konstruiert (> ABBILDUNG 28).
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NBER-Methode zur Bestimmung von Konjunkturzyklen
Bildung eines „Referenzzyklus“
Konjunkturzyklen in Deutschland 1840–80
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Die A-Kurve misst den Anteil expansiver Reihen an der Gesamtzahl der betrachteten Reihen von Konjunkturindikatoren. Der Wert liegt zwischen 100 %, wenn alle Reihen expansiv sind, und 0 %, wenn nur kontraktive Reihen zu beobachten sind. Die BCC-Kurve summiert die Anteile der expansiven Reihen im Zeitverlauf auf und vermittelt so einen Eindruck von der langfristigen Expansionsfa¨higkeit der Wirtschaft. Abbildung 28: Scha¨tzung von Wachstumszyklen aus Konjunkturindikatoren (nach Spree 1977, S. 90)
Erste Wachstumszyklen zwischen 1840–73
1873–95: „Große Depression“ als „Große Deflation“?
Erhkhte Industrieproduktion
Dem Verlauf der abgebildeten, mit BCC bezeichneten Kurve nach gab es in den Jahren 1847, 1857, 1873 einen oberen Wendepunkt der Konjunktur, die einen konjunkturellen Abschwung einleitete, wa¨hrend in den Jahren 1848 und 1859 bereits wieder leichte Aufschwungtendenzen zum Durchbruch kamen, die die konjunkturellen Abschwu¨nge sehr verku¨rzten. Der Abschwung von 1873 nach dem Gru¨nderboom hat unter dem Namen „Große Depression“ Eingang in die Literatur gefunden, obwohl es sich dabei wohl eher um eine „Große Deflation“ gehandelt hat, weil vorwiegend moneta¨re Indikatoren einen Abschwung reflektieren, reale Indikatoren weitaus weniger. Zwischen 1873 und 1895 zeigten na¨mlich die realen Gro¨ßen weiterhin eine deutliche Tendenz der Expansion, wa¨hrend die Preise weitgehend stagnierten und z. T. sogar gesunken sind. Die Industrieproduktion erho¨hte sich in diesem Zeitraum beispielsweise deutlich. Ausgehend von einem Indexwert von 22,5 % der Gesamtproduktion des Jahres 1913 verdoppelte sie sich auf immerhin 47,5 %, wa¨hrend das Preisniveau eine deutlich sinkende Tendenz aufwies (Borchardt 1976, S. 24). Natu¨r178
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lich ließ auch diese Entwicklung wa¨hrend der Großen Depression bzw. der Großen Deflation eine deutliche konjunkturelle Rhythmik erkennen, die sich in verschiedenen Indikatoren abbilden la¨sst, bis heute aber noch einer genaueren Untersuchung harrt. Der konjunkturellen Entwicklung in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg hat die Wirtschaftshistorikerin Margrit Grabas besondere Aufmerksamkeit gewidmet (Grabas 1992). Ein lang anhaltender Aufschwung setzte in Deutschland nach Ende der Großen Depression (1895) ein und hielt bis 1913 an. Es handelte sich bei den in diesem Zeitraum beobachteten Schwankungen der Wirtschaftsta¨tigkeit wohl eher um Wachstumszyklen, a¨hnlich der Zeit vor 1873, die sich durch 21 ausgewa¨hlte Indikatorenreihen auf Monatsbasis beschreiben lassen. Dazu berechnete Grabas fu¨r jeden Monat die Abweichung jeder Reihe vom Trend und nutzte das arithmetische Mittel aller Standardabweichungen als Gesamtmaß der Konjunkturentwicklung. Auf diese Weise offenbart sich auch fu¨r diesen Zeitraum ein deutliches konjunkturelles Muster im Wachstumsprozess. Im 20. Jahrhundert wurde die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland von einer Reihe dramatischer Krisen beeintra¨chtigt, hinter die die Bedeutung konjunktureller Zyklen deutlich zuru¨cktrat. Als gravierende Einbru¨che in den sa¨kularen Wachstumstrend der Volkswirtschaft sind hier vor allem die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise zu benennen. Erst in der Bundesrepublik Deutschland konnte sich ein „normaler“ Konjunkturzyklus allma¨hlich wieder durchsetzen. Nach den sogenannten Wirtschaftswunder-Jahren wurde erst 1967 erstmals ein geringer Ru¨ckgang der gesamtwirtschaftlichen Wirtschaftsleistung beobachtet, der jedoch nur kurzfristig anhielt. Diese Erfahrung wiederholte sich in den folgenden Abschwu¨ngen und pra¨gt auch gegenwa¨rtig die Erwartungen. Allerdings zeigen sich im Vergleich der bundesrepublikanischen „Krisenjahre“ mit der Weltwirtschaftskrise bislang gravierende Unterschiede: Weder in der Dauer noch in der Schwere der Rezession sind die Szenarien vergleichbar. Man ist also gut beraten, „Konjunkturen“ mit einer kurzfristigen, zyklischen Sto¨rung der Wirtschaftsta¨tigkeit – erkennbar an einem leichten Innehalten des ansonsten stetigen wirtschaftlichen Wachstums – zu unterscheiden von tatsa¨chlichen „Krisen“, in denen die Funktionsfa¨higkeit des kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Systems grundlegend gesto¨rt ist und die zu gravierenden Wohlstandsverlusten fu¨hren ko¨nnen. Von derartigen Krisen wurde die Wirtschaftsentwicklung der Bundesrepublik bislang verschont, einen dauerhaften Schutz 179
Wachstumszyklen 1895–1913
Weltkriege und Weltwirtschaftskrise
Konjunktureller Abschwung vs. Krise
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gibt es aber wohl nicht. Gegenwa¨rtig (seit 2009) zeigt sich allerdings eine Lage, die der oben diskutierten Spekulationskrise nicht ganz una¨hnlich sieht, in der die Wirtschaftsaktivita¨ten in zahlreichen La¨ndern weit gravierender vom langfristigen Gleichgewichtspfad abweichen, als das im Rahmen konjunktureller Zyklizita¨t zu erwarten wa¨re. Fragen und Anregungen • Glauben Sie, dass unser Wirtschaftssystem langfristig stabil ist und gravierende Wirtschaftskrisen durch besonnene wirtschaftspolitische Maßnahmen abgewendet werden ko¨nnen? Begru¨nden Sie Ihre Auffassung. • |berlegen Sie einmal, ob und wie man „normale“ Konjunkturschwankungen von Krisen unterscheiden kann. • Was la¨sst sich aus Tulpenkrise, South Sea Bubble und MississippiSchwindel fu¨r unsere Gegenwart lernen?
Lektjreempfehlungen rbersichten
• Charles P. Kindleberger: Manien, Paniken, Crashs. Die Geschichte der Finanzkrisen dieser Welt, Kulmbach 2001 (Englische Originalausgabe 1978). Ausfu¨hrliche Auseinandersetzung mit der Logik internationaler Spekulationskrisen seit dem 17. Jahrhundert bis ca. 1996. • Joseph A. Schumpeter: Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses, Go¨ttingen 2008 (Englische Originalausgabe 1939). Umfassende Darstellung der modernen Konjunkturzyklen im internationalen Vergleich.
Forschung
• Reinhard Spree: Die Wachstumszyklen der deutschen Wirtschaft von 1840 bis 1880 mit einem konjunkturstatistischen Anhang, Berlin 1977. Erstmaliger Versuch der Anwendung des modernen konjunkturstatistischen Konzepts auf die historische Entwicklung in Deutschland seit Beginn der Industrialisierung.
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FR AG EN UND LE K TrR E E MPFEH LUN GEN
• J. Adam Tooze: Statistics and the German State, 1900–1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001, insb. S. 103–148. Darstellung der Entwicklung der amtlichen Statistik in Deutschland und der Anfa¨nge der modernen Konjunkturforschung. • Arthur Spiethoff: Die wirtschaftlichen Wechsellagen. Aufschwung, Krise, Stockung, 2 Bde., Tu¨bingen 1955. Grundlegende Darstellung der Spiethoffschen Konjunkturtheorie mit einer Fu¨lle von empirischem Material in Band 2.
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Handbjcher / Lexika
12 Handel und Globalisierung
Abbildung 29: Willem van de Velde: The Capture of the Royal Prince, 13 June 1666, }lgema¨lde (1666 oder spa¨ter)
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HA ND EL U ND GLOBA LI SIERUN G
Mit gebla¨hten Segeln stechen die niederla¨ndischen Galeonen in See auf dem Weg zu den Reichtu¨mern der Welt. Sie repra¨sentieren ein Zeitalter, das man in den Niederlanden das „goldene“ genannt hat, in dem niederla¨ndische Kaufleute, geeint in der 1602 gegru¨ndeten „Vereenigde-Oost-Indische Compagnie“ (VOC), die Ma¨rkte der Welt dominierten. Sie hatten vor allem das Gescha¨ft mit den in Europa hoch gescha¨tzten Gewu¨rzen aus Ostasien auf eine neue Grundlage gestellt. Nicht mehr u¨ber den Landweg und u¨ber das Mittelmeer gelangten diese zu den europa¨ischen Verbrauchern, sondern u¨ber den Seeweg um das Kap der Guten Hoffnung, nachdem der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama (1469–1524) diese Route Ende des 15. Jahrhunderts erschlossen hatte. Das Gescha¨ft war allerdings nicht konkurrenz- und risikolos. Spanier und Portugiesen hatten bereits zuvor ausgedehnte Handelsreisen unternommen und zeitgleich organisierte sich die englische Konkurrenz in der „East India Company“ (gegru¨ndet 1600). Auch war der Weg bis Su¨dostasien weit, beschwerlich und gefahrvoll, sodass Totalverluste nicht selten waren. Gleichwohl lockten Gewinne, die gigantisch waren und daher das Risiko wert schienen. In der Heimat wurde dadurch ein gewaltiger Reichtum angeha¨uft. Amsterdam entwickelte sich zum Zentrum eines internationalen Handelssystems und die Niederlande im 17. Jahrhundert zur reichsten und o¨konomisch fortgeschrittensten Region Europas. Die o¨konomische Eroberung der Welt hatte ihren Anfang genommen.
12.1 Die Entstehung der Weltwirtschaft 12.2 Das Außenwirtschaftsregime europoischer Staaten 12.3 Deutschlands Außenhandel 1800–2000 184
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12.1 Die Entstehung der Weltwirtschaft Die Entdeckungsreisen, vornehmlich die der Portugiesen und Spanier am Ende des 15. Jahrhunderts, schufen die Voraussetzungen fu¨r die o¨konomische Erschließung der Erde. Der Handel folgte den Entdeckern auf dem Fuße und das europa¨ische Handelssystem begann sich vom Ostseeraum und Mittelmeer weg hin zum Atlantik und Pazifik zu orientieren. Der Handel begrenzte sich anfangs auf wenige Produkte, vor allem auf Edelmetalle aus Amerika und Gewu¨rze aus Asien, deren Gewicht im Verha¨ltnis zu ihrem Wert sehr gering war und daher die hohen Transportkosten rechtfertigen konnte. Das Kolonial- und Handelssystem des 16. Jahrhunderts blieb zuna¨chst noch wesentlich durch Raub, Plu¨nderung und nackte Ausbeutung gepra¨gt, doch bald zeigte sich, dass eine systematische Plantagenwirtschaft ein nachhaltigeres Gescha¨ftsmodell darstellte. In Brasilien und in der Karibik stu¨tzte sich die Plantagenwirtschaft wesentlich auf die Arbeitskraft importierter afrikanischer Sklaven, sodass neben dem Handel mit Kolonialwaren auch der Sklavenhandel eine weitere Quelle fu¨r hohe Gewinne bot. Das Reservoir fu¨r den lukrativen Sklavenhandel bildete Westafrika, von wo aus bereits bis zum Jahre 1700 mehr als zwei Millionen Sklaven nach Amerika verkauft worden sein mu¨ssen (Kriedte 1980, S. 104). Ein Großteil von ihnen wurde zuna¨chst nach Su¨damerika und in die Karibik verschleppt sowie spa¨ter im 18. Jahrhundert in den Su¨den Nordamerikas. Hier konnte sich eine ineinander greifende Kolonialwirtschaft entfalten, zu der Edelmetallbergbau, Rinderfarmen und Plantagen mit den verschiedensten Bepflanzungen geho¨rten. Zu den wichtigsten Handelsgu¨tern za¨hlten Tabak, Baumwolle, Kaffee, Kakao, Ingwer, Indigo und vor allem Zucker. Ihr Absatz in Europa bildete die dritte Ecke eines Handelsdreiecks zwischen Afrika, Amerika und Europa als Basis der atlantischen }konomie (O’Rourke / Williamson 1999). Aus Europa wurden preiswerte Industrieprodukte, vor allem Textilien und Metallwaren, nach Afrika verschifft. Dort wurden neben einigen Gu¨tern, die wiederum direkt nach Europa geliefert wurden wie Gold und Elfenbein, vor allem Sklaven eingehandelt und diese dann auf brutale Weise nach Amerika verschleppt. Der Verkaufserlo¨s der Sklaven konnte zum Ankauf von Kolonialwaren genutzt werden, die dann profitabel in Europa an den Markt gebracht werden konnten. Auf allen Stufen dieses Handels konnten hohe Gewinnmargen erzielt werden. Auch das Handelsvolumen war beachtlich und nahm stetig zu. 185
Ausweitung des europoischen Handelssystems
Handel mit Kolonialwaren und Sklaven
Entstehung einer atlantischen skonomie
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Die europoischen Handelsmochte
Kriege um Kolonien
Neue Welt
Das Vordringen der niederla¨ndischen und englischen Handelskompanien in den asiatischen Raum im 17. Jahrhundert verdra¨ngte dort zum Teil die Portugiesen und Spanier und zog Vera¨nderungen in der Struktur des Asienhandels nach sich (Rothermund 1978). Neben Gewu¨rzen wurden nun auch Textilien, vor allem Kattun, immer wichtiger. Doch es fehlte den Europa¨ern weitgehend an Handelsgu¨tern, mit denen sie die hochwillkommenen asiatischen Importe bezahlen konnten. Die negative Handelsbilanz mit Asien musste daher zum Teil durch Edelmetallexporte ausgeglichen werden. Dies gelang mitunter durch Ertra¨ge, die die europa¨ischen Handelsgesellschaften durch den Vorstoß in den innerasiatischen Handel erzielten. Die Niederlande konnten als u¨berragender Stapelplatz u¨berseeischer Produkte in Europa eine beherrschende Stellung als Finanz- und Handelsplatz erringen und ein wahrhaft „goldenes“ Zeitalter genießen, ehe die Handelskriege mit England diesem im 18. Jahrhundert ein Ende setzten und England an die erste Stelle ru¨cken ließen (Wilson 1969, S. 22–47). Im 18. Jahrhundert verstrickten sich die europa¨ischen Ma¨chte in eine Reihe kriegerischer Auseinandersetzungen, in denen auch Kolonialfragen eine große Rolle spielten. Angesichts der sich bemerkbar machenden Schwa¨che Spaniens war es fu¨r die rivalisierenden europa¨ischen Staaten England, Frankreich und die Niederlande von großer Bedeutung, am Reichtum Spanisch-Amerikas teilzuhaben, weil von dort weiterhin große Mengen an Silber nach Europa stro¨mten. Die Kaperung spanischer Schiffe, die Eroberung spanischer Kolonien und der Schleichhandel boten verschiedene Wege zu diesem Ziel, und alle wurden beschritten. Zudem gru¨ndeten die europa¨ischen Staaten eigene Kolonien, vornehmlich in Nordamerika, welche dann auch von Europa¨ern besiedelt wurden und so fu¨r sich eine „Neue Welt“ schufen. Die dortigen Kolonien entwickelten sich zu bedeutenden Nachfragern nach europa¨ischen Waren und lieferten begehrte Produkte nach Europa, z. B. Tabak. So entwickelte sich der direkte Handel mit Nordamerika insbesondere fu¨r England neben dem vertrauten Dreieckshandel zu einer zweiten Sa¨ule des Außenhandels (Davies 1974). Ein besonders lukrativer Gescha¨ftszweig tat sich dabei neu auf: die Weiterverarbeitung kolonialer Vorprodukte und ihr Absatz im In- und Ausland. Die Baumwollindustrie in England und ihr exorbitanter Aufschwung am Ende des 18. Jahrhunderts bildet dafu¨r ein herausragendes Beispiel: Baumwolle wurde als Rohstoff importiert und als Garn oder Stoff mit hohem Gewinn weiter verkauft.
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Mit der beginnenden Industrialisierung in England verlagerte sich der Schwerpunkt der internationalen }konomie nach Europa und die koloniale Welt verlor zumindest zeitweilig deutlich an Bedeutung. Das Handelskapital drang in die Produktionsspha¨re ein und im Rahmen einer „Protoindustrialisierung“, der Ausbreitung heimgewerblicher Warenproduktion auf dem Lande vor der eigentlichen Industrialisierung (Mendels 1972), erfolgte auch eine gewerbliche Durchdringung des Landes in einigen europa¨ischen Regionen (Flandern, Schlesien, Rheinland u. a.). Die Rentabilita¨t derartiger Investitionen innerhalb der europa¨ischen La¨nder lag offenbar u¨ber der in den Kolonien und es begann danach in verschiedenen europa¨ischen La¨ndern der Aufbau einer Industriewirtschaft. Dabei gewannen die Außenwirtschaftsverflechtungen zwischen diesen La¨ndern selbst mehr und mehr and Bedeutung, wohingegen ihre Beziehungen zu den außereuropa¨ischen Regionen zuru¨ckgingen. Auch wenn das 19. Jahrhundert gelegentlich als das Zeitalter des europa¨ischen Imperialismus gekennzeichnet wird, so ist doch darauf hinzuweisen, dass die Bildung dieser Imperien weit weniger von o¨konomischen denn von politischen Motiven geleitet wurde (Wehler 1984). Erst nach erfolgreicher Industrialisierung richteten einige europa¨ische Staaten ihr Augenmerk erneut auf die außereuropa¨ische Welt. Dabei lagen ihre o¨konomischen Interessen nicht in erster Linie in der Ausbeutung von Kolonien, sondern im Kapitalexport. Gerade Großbritannien kontrollierte durch umfangreiche Direktinvestitionen in Su¨damerika und Ostasien ein „informal empire“ (Imlah 1958) formal selbststa¨ndiger Staaten neben seinen eigentlichen Kolonien. Die erwarteten ho¨heren Renditen waren der Grund fu¨r diese umfangreichen Auslandsanlagen (in Verkehrsinfrastruktur, Rohstoffgewinnung, Landwirtschaft u. a¨.) britischer Investoren, die sich bis 1913 auf umgerechnet etwa 80 Milliarden Mark beliefen. Zusammengefasst waren deren Ertra¨ge deutlich ho¨her als die ja¨hrlich neu geta¨tigten Auslandsinvestitionen, d. h. es kam zu einem Vermo¨gensimport nach Großbritannien. Im Vergleich zu den britischen werden die deutschen Direktinvestitionen im Ausland bis zum Ersten Weltkrieg auf lediglich 20 Milliarden Mark gescha¨tzt. Die weltwirtschaftlichen Beziehungen hatten sich also in der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts erneut intensiviert, sie waren dabei aber auf eine neue Basis gestellt worden. Nicht mehr allein der Austausch von Handelsgu¨tern bestimmte die außenwirtschaftlichen Beziehungen, auch die Mobilita¨t der Produktionsfaktoren, sichtbar in Kapitalexport und der enormen Emigration von Arbeitskra¨ften, war an 187
Kolonien verlieren, Europa gewinnt an kkonomischer Bedeutung
Imperialismus im 19. Jahrhundert
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Beginn der Globalisierung Wirtschaftliche Verflechtung
Direktinvestitionen
dessen Seite getreten (Torp 2005). Neben den enormen Direktinvestitionen waren auch umfangreiche Bevo¨lkerungsbewegungen, vornehmlich u¨ber den Atlantik nach Nordamerika, zu beobachten. Eine wahre Weltwirtschaft mit einem eigenen Systemcharakter, mit mobilen Gu¨tern und Faktoren war entstanden: die Globalisierung hatte begonnen! Der Grad der Verflechtung, den diese Weltwirtschaft bereits am Ende des 19. Jahrhunderts gewonnen hatte, la¨sst sich sehr gut an einigen Indikatoren aufzeigen. So wuchsen im 19. Jahrhundert die Weltagrarma¨rkte zusammen (O’Rourke 1997). Betrug der Unterschied im Weizenpreis zwischen Chicago und Liverpool bis ca. 1880 etwa 20 Dollar, so waren es danach nur noch wenige Pence (Tilly 1999, S. 30). Die Differenzen im Preis fu¨r Rindfleisch zwischen den USA und Großbritannien verminderten sich durch die Einfu¨hrung von Ku¨hlketten nach 1910 ebenfalls dramatisch. Dies hatte mitunter weltweite Auswirkungen auf die internationale Verteilung der Handelsgewinne. Die Konkurrenz der britischen Exporteure auf den Weltma¨rkten dru¨ckte die Preise fu¨r Industrieprodukte weit mehr als die Preise von Nahrungsmitteln und Rohstoffen. Deren Erzeuger profitierten von der steigenden Nachfrage, die Preise in diesem Bereich blieben daher weitestgehend stabil. Durch Direktinvestitionen, d. h. durch die Konkurrenz zwischen Inlands- und Auslandsinvestitionen, na¨herten sich die Renditen von Auslands- und Inlandsanlagen deutlich an. Auch die Wechselkurse
Abbildung 30: Unterschiedliche Konzepte der Globalisierung im 19. und 20. Jahrhundert (Tilly 1999, S. 8)
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zwischen den verschiedenen Wa¨hrungen na¨herten sich, sobald diese, wie etwa Russland und }sterreich, dem Goldstandard beigetreten waren, den u¨brigen Goldwa¨hrungen an und blieben stabil (Tilly 1999, S. 26–27). |berdies darf die große Mobilita¨t der Arbeitskra¨fte im Rahmen der Weltwirtschaft nicht vergessen werden. Millionen von Auswanderern strebten von Europa aus in alle Welt, die Mehrzahl nach Nordamerika, aber auch nach Su¨damerika, Su¨dafrika, Australien und Neuseeland. Eine globale Weltwirtschaft war begru¨ndet, auch wenn sie zuna¨chst noch nicht den gesamten Globus umfasste, sondern u¨berwiegend auf einen Teil der no¨rdlichen Hemispha¨re begrenzt blieb (Tilly 1999, S. 8). Auch Deutschland spielte im Rahmen dieser Weltwirtschaft eine bedeutende Rolle (> KAPITEL 12.3).
12.2 Das Außenwirtschaftsregime europoischer Staaten Adam Smith, der Begru¨nder der modernen }konomik, hat in seinem großen Werk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations von 1776 (deutsch: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen) bereits nachdru¨cklich auf die Vorteile des Außenhandels hingewiesen. Er bezog sich dabei auf Erfahrungen, die die Menschen mit der vorausgehenden Handelsexpansion des 17. und 18. Jahrhunderts gemacht hatten, und von der England in besonderem Maße profitierte. In diesem „Merkantilsystem“, wie Smith die o¨konomischen Verha¨ltnisse seiner Zeit bezeichnete, beruhte der Austausch zwischen den Weltregionen auf deren unterschiedlichen Ausstattungen mit produktiven Ressourcen. Man produziert das, was man gut und gu¨nstig herstellen kann, verkauft dies und kauft dafu¨r Produkte ein, die andere besser und gu¨nstiger produzieren (Smith 1974, S. 347). Getauscht wurden also Gewu¨rze aus Asien oder Kolonialprodukte aus der Karibik gegen Gewerbeprodukte aus Europa. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts weckten neue Vera¨nderungen – die Ausdehnung des innereuropa¨ischen Handels sowie die fortgeschrittene und richtungweisende Entwicklung der englischen Volkswirtschaft – die Aufmerksamkeit der }konomen. Sie beobachteten, dass offenbar auch zwischen unterschiedlich weit entwickelten Volkswirtschaften, vor allem bzgl. Produktivita¨t und Kosten, ein fu¨r beide Seiten profitabler Außenhandel mo¨glich sei. Dem britischen Nationalo¨konomen David Ricardo gelang es 1817 am Beispiel des gerade ab-
189
Merkantilsystem
Außenhandelstheorie Ricardos . . .
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. . . und ihre Kritikpunkte
geschlossenen Methuen-Handelsvertrags zwischen England und Portugal nachzuweisen, dass ein vorteilhafter Handel auch dann mo¨glich ist, wenn ein Land bei allen Gu¨tern einen Produktivita¨ts- bzw. Kostenvorteil hat (Ricardo 1994, S. 109–128). Dabei wird allerdings vorausgesetzt, dass diese Vorteile nicht bei allen Gu¨tern gleich sind. Konzentriert sich ein fortschrittliches Land auf die Produktion derjenigen Gu¨ter, bei denen der Kostenvorsprung am gro¨ßten ist und u¨berla¨sst die Produktion der Gu¨ter mit dem geringsten Kostenvorteil einem anderen Land, so ist die Produktion beider La¨nder gro¨ßer, als wenn jedes diejenigen Gu¨ter mit dem relativ gro¨ßten Kostenvorteil herstellt. Durch einen Austausch kann so der Wohlfahrtsgewinn beiden La¨ndern zugute kommen. Diese |berlegungen haben unter der Bezeichnung „Theorem der relativen Kostenvorteile“ Eingang in die Außenwirtschaftstheorie gefunden und dienen bis heute zur Begru¨ndung, warum internationaler Handel fu¨r alle Teilnehmer von Nutzen sein kann (Kurz 2008). Allerdings entha¨lt dieses Theorem keinen Hinweis darauf, wie die mo¨glichen Handelsgewinne verteilt werden, d. h. welches Land den gro¨ßeren Nutzen aus dem Außenhandel zu ziehen vermag. Daru¨ber hinaus beru¨cksichtigt diese Theorie nur die gegebene Faktorausstattung. Eine Aussage u¨ber langfristige Wirkungen der internationalen Arbeitsteilung kann auf dieser Basis deshalb nicht getroffen werden. Es handelt sich also um eine statische Analyse mit eng begrenzten Modellannahmen. Dies wurde auch sehr bald erkannt und bereits von Zeitgenossen vehement kritisiert. Der Wirtschaftstheoretiker Friedrich List wies 1841 in seinem Werk Das nationale System der Politischen nkonomie darauf hin, dass es fu¨r ein weniger entwickeltes Land als England nicht darauf ankomme, zu einer optimalen internationalen Arbeitsteilung unter den gegebnen Bedingungen zu gelangen. Vielmehr mu¨sse die Entwicklung der „produktiven Kra¨fte“ einer Volkswirtschaft, d. h. eine Vera¨nderung der gegebenen internationalen Wettbewerbsverha¨ltnisse, im Vordergrund stehen (List 1950, S. 220–238, Wendler 2013). Dementsprechend pla¨dierte er dafu¨r, bereits in der fru¨hen Entwicklungsphase einer nationalen Wirtschaft weniger profitable bzw. unterlegene Gewerbezweige durch Zo¨lle vor der u¨berlegenen ausla¨ndischen Konkurrenz zu schu¨tzen. Dies sollte solange erfolgen, bis die eigene Wettbewerbsfa¨higkeit hergestellt war. Erst danach sollte als na¨chster Schritt ein offener Handelsaustausch mo¨glich sein. Ganz a¨hnlich argumentierte bereits 1791 auch Alexander Hamilton, einer der Gru¨nderva¨ter der Vereinigten Staaten von Amerika, der die jungen USA in einer vergleichbaren Situation sah (Hamilton 1966, S. 230–240). 190
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Die praktischen Konsequenzen der einzelnen Staaten aus diesen theoretischen Erwa¨gungen waren hingegen z. T. u¨berraschend und widerspru¨chlich. So schirmte England einerseits seine Landwirtschaft durch einen Schutzzoll vor der ausla¨ndischen Konkurrenz ab und wollte gleichzeitig seine u¨berlegenen Industrieprodukte auf dem europa¨ischen Markt absetzen. Preußen ging 1818 mit dem neuen Zollgesetz andere Wege und verschrieb sich dem Freihandel, obwohl seine Gewerbeprodukte noch keine Wettbewerbsreife gegenu¨ber England erreicht hatten. Preußen sah seine Interessen zuna¨chst einmal in einer forcierten Integration des deutschen Marktes, die ja mit dem 1834 gegru¨ndeten Zollverein einen wesentlichen Schritt vorankam (Hahn 1984). Die USA verschrieben sich einem strikten Protektionismus, der die eigene Wirtschaft schu¨tzen sollte, im Verlauf des 19. Jahrhunderts weiter ausgebaut wurde und mit der Monroe-Doktrin von 1823 sogar den gesamten Kontinent ins Visier nahm. Die internationale handelspolitische Konstellation des fru¨hen 19. Jahrhunderts war jedoch nicht von Dauer. In Deutschland drangen schutzzo¨llnerische Interessen weiter vor, und 1844 wurden in Preußen Eisenzo¨lle zum Schutz der Eisenindustrie vor der u¨berlegenen britischen Industrie eingefu¨hrt. In Großbritannien hingegen setzten sich Freihandelsinteressen langsam durch, die Kornzo¨lle wurden abgeschafft und der Cobden-Chevalier-Vertrag von 1860 mit dem bis dahin stark protektionistisch orientierten Frankreich brachte das Prinzip des Freihandels endgu¨ltig zum Durchbruch. Massive Zollsenkungen in Frankreich und die vereinbarte Meistbegu¨nstigung, nach der alle weiteren La¨nder, mit denen Handelsvertra¨ge abgeschlossen wurden, ebenfalls die Vorteile dieses Vertrags nutzen konnten, fu¨hrten zu einem europa¨ischen Freihandelssystem. 1862 kam es zu einem entsprechenden Vertrag zwischen Frankreich und Preußen und dieser entfaltete eine positive Wirkung im deutschen Zollverein (Torp 2005, S. 121–145). Nach der Herausdra¨ngung des weiterhin protektionistischen }sterreich aus dem deutschen Bund 1866 erlebten die deutschen Territorien im Rahmen des europa¨ischen Systems eine Hochphase der Freihandelspolitik mit einem stetigen Abbau von Zo¨llen. Doch diese Phase wa¨hrte nicht sehr lange, denn bereits in den fru¨hen 1870er-Jahren meldeten sich die Schutzzo¨llner wieder zu Wort. Das lag zum einen daran, dass durch die „grain invasion“, die „Korninvasion“ aus den USA die deutsche Landwirtschaft stark unter Druck geriet und in ihrer Wettbewerbsfa¨higkeit beeintra¨chtigt war (O’Rourke 1997). Zum anderen hatte die Gru¨nderkrise von 1871 / 73 die inzwischen aufgebauten |berkapazita¨ten der deutschen Schwerindus191
Die politischen Konsequenzen der Theorien
tnderungen in den nationalen handelspolitischen Konzeptionen
HA ND EL U ND GLOBA LI SIERUN G
Desintegration der Weltwirtschaft
Neubeginn eines liberalen Außenwirtschaftssystems
Etablierung eines liberalen Weltwirtschaftssystems
trie offenbar werden lassen. Zwei wichtige Handelsbranchen der deutschen Volkswirtschaft, Roggen und Eisen, suchten in einer Abschottung vor der internationalen Konkurrenz einen Ausweg aus der Krise. Und sie waren erfolgreich, denn bereits 1879 wurden Agrarund die erst 1872 aufgegebenen Eisenzo¨lle wieder eingefu¨hrt. Dieses Schutzzollsystem wurde in den folgenden Dekaden, wenn auch in Schwankungen und gegen Widersta¨nde, stetig weiter ausgebaut. Die USA folgten einem noch radikaleren protektionistischen Weg (Morrill-Tarif 1861, McKinley-Tarif 1890, Dingley-Tarif 1889) mit Zollsa¨tzen von bis zu 50 % (Torp 2005, S. 325f.). Das internationale Wirtschafts- und Handelssystem in der ersten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts wurde durch massive Desintegrationstendenzen gepra¨gt, in denen die Vorteile einer globalen Arbeitsteilung wieder aufgeben wurden und die zum Zerfall der im 19. Jahrhundert begru¨ndeten Weltwirtschaft fu¨hrten (Borchardt 2001, S. 21). Dabei fo¨rderten Zahlungsbilanzprobleme, beruhend auf Ungleichgewichten im Handel miteinander, die protektionistische Entwicklungen. Das Bild der internationalen Wirtschaft wurde durch die Aufgabe des Goldstandards, der Abwertungskonkurrenz zwischen den nationalen Wa¨hrungen, sowie striktem Protektionismus vieler La¨nder neu gezeichnet. Ein gedeihlicher Außenhandel war unter diesen Bedingungen kaum mehr mo¨glich. Dies a¨nderte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als unter der Fu¨hrung der USA ein liberales Außenwirtschaftsregime fu¨r die westlichen Industriestaaten mehr oder weniger erzwungen wurde. Den Anfang machten die Konferenz von Bretton-Woods im Jahr 1944, auf der ein neues Weltfinanzsystem begru¨ndet wurde, und das 1947 folgende GATT (General Agreement on Tariffs and Trade), das sich der Reduzierung der Zo¨lle und dem Abbau nicht tarifa¨rer – d. h. von diskriminierenden Regeln und Vorschriften bestimmter – Handelshemmnisse widmete. Eine enorme Expansion des Welthandels seit den 1950erJahren war die Folge (Lindlar 1997, S. 151–155). Auch das internationale Finanzsystem expandierte in großem Stil und trug trotz aller gelegentlicher Krisen wie des Zerfalls des Bretton-Woods-Systems (1972), der Asienkrise (1997 / 98) und der Bankenkrise (2008 / 09) wesentlich zum Wachstum der Weltwirtschaft bei (> KAPITEL 7). Ein liberales Weltwirtschaftssystem konnte sich zu Beginn nur mu¨hsam etablieren. Man wollte von Anfang an nicht die Fehler der Zwischenkriegszeit wiederholen, also nicht die Probleme des internationalen Handels und der Weltfinanzen in einem Schritt auf einmal lo¨sen. Deshalb trennte man beide Problemkomplexe voneinander. 192
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Das System von Bretton-Woods hatte den US-Dollar mit seiner Goldbindung als Leitwa¨hrung etabliert und die angeschlossenen Wa¨hrungen mit fixen Wechselkursen an diesen gebunden. Wechselkursvera¨nderungen waren nur bei gravierenden Ungleichgewichten und nur mit Zustimmung der Beteiligten mo¨glich. Zum Ausgleich tempora¨rer Zahlungsbilanzungleichgewichte war der Internationale Wa¨hrungsfonds geschaffen worden. Die ebenfalls neu gegru¨ndete Weltbank sollte sich der Wirtschaftsfo¨rderung weniger entwickelter Staaten widmen. Die europa¨ischen Staaten waren unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den Amerikanern nur schwer fu¨r dieses Liberalisierungsprogramm zu gewinnen (Buchheim 1990, S. 109–170). Ihre Volkswirtschaften litten unter den Lasten des Krieges und seinen Zersto¨rungen, ihre Wa¨hrungen waren schwach und ein Handelsdefizit gegenu¨ber den USA verschlimmerte die Lage weiter. Die Handelsbeziehungen untereinander wurden zumeist bilateral abgewickelt, weil es ihnen an internationaler Liquidita¨t, also an Dollars fehlte. Erst die Einrichtung der Europa¨ischen Zahlungsunion (EZU), die amerikanische Unterstu¨tzung durch den Marshallplan und die Organisation fu¨r europa¨ische wirtschaftliche Zusammenarbeit OEEC, der spa¨teren OECD, schufen die Voraussetzung fu¨r die Teilnahme der westeuropa¨ischen Staaten am amerikanisch initiierten Projekt der Liberalisierung der Außenwirtschaft – die sozialistischen Staaten unter Fu¨hrung der Sowjetunion blieben außen vor. Fu¨r den Abbau von Handelshemmnissen war das bereits erwa¨hnte GATT geschaffen worden. Es wurde schon wa¨hrend des Zweiten Weltkriegs mit der Havanna-Charta, die auf einer ersten Konferenz auf Kuba beschlossen wurde, in zahlreichen Verhandlungsrunden vorbereitet. Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen wurde im Oktober 1947 mit 23 beteiligten La¨ndern in Genf abgeschlossen, als der Plan fu¨r eine Internationale Handelsorganisation nicht verwirklicht werden konnte. Bis 1994 wurden in acht Verhandlungsrunden Zo¨lle und andere Handelshemmnisse Schritt fu¨r Schritt abgebaut und der Mitgliederkreis auf 128 Partnerla¨nder erweitert. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte ist das GATT dem Ideal eines freien Welthandels deutlich na¨her gekommen. Probleme macht bezeichnender Weise heute vor allem der Handel mit Agrarprodukten, der in den fortgeschrittenen Industriestaaten kurioser Weise durch Zo¨lle und Handelshemmnisse besonders geschu¨tzt wird. Dies fu¨hrt gegenwa¨rtig in der laufenden Doha-Runde (benannt nach der in Doha begonnen neuesten Verhandlungsrunde) zur Blockierung bei der Weiterentwicklung des Welthandelssystems (WTO), weil weitere Zugesta¨ndnisse 193
Bretton-Woods
Kriegslasten
GATT
HA ND EL U ND GLOBA LI SIERUN G
Ungleiche Verteilung der Gewinne
Neuere Außenhandelstheorie
beim Abbau von Zo¨llen von der Aufgabe des Agrarprotektionismus der Industriela¨nder abha¨ngig gemacht werden. Hier zeigt sich aber auch die Wirkung eines freien Welthandels, denn die Fru¨chte der Liberalisierung und der Wohlstandsmehrung sind nicht allen La¨ndern gleichma¨ßig und innerhalb der La¨nder nicht allen Bevo¨lkerungsgruppen in gleicher Weise zuteil geworden. Gewinner waren vor allem die Erzeuger hochwertiger Gewerbeprodukte, wa¨hrend die Agrarproduzenten eher zu den Verlierern der internationalen Arbeitsteilung geho¨ren. Die Verteilungswirkungen der internationalen Arbeitsteilung ebenso wie ihre dynamischen Effekte ließen sich im Rahmen der klassischen Außenhandelstheorie nach Smith und Ricardo nicht analysieren. Das Faktorpreistheorem, auch Heckscher-OhlinTheorem genannt, machte daher den Versuch zu erkla¨ren, wie u¨ber den Austausch der Handelsgu¨ter ein Ausgleich zwischen den Preisen der als immobil angenommenen nationalen Produktionsfaktoren zustande kommt (Werner 2004). |ber die Konkurrenz der Produkte der verschiedenen Produktionsfaktoren auf den Weltma¨rkten kommt es tendenziell zu einer Angleichung der Entlohnung der Faktoren. Dabei neigen die betroffenen Bevo¨lkerungsgruppen in einer Volkswirtschaft dazu, sich gegen die damit verbundenen Einkommensverluste zu stemmen. Sie fordern in diesem Zusammenhang z. B. den „Schutz der nationalen Arbeit“ und sehen ihr Heil in der Errichtung von Handelsbarrieren in Form von Schutzzo¨llen o. a¨. Die neuere Außenhandelstheorie hat inzwischen die Annahme fallen lassen, dass Außenhandel zwischen Volkswirtschaften „in toto“ stattfindet. Der Wirtschaftsnobelpreistra¨ger Paul Krugman, als wichtigster Vertreter dieser Theorie, verweist darauf, dass es Unternehmen aus Branchen mit a¨hnlichen Strukturbedingungen sind, die internationalen Handel treiben, und nicht Volkswirtschaften als ganze. Deshalb stellen sich fu¨r die verschiedenen Branchen die wirtschaftlichen Chancen fu¨r den Außenhandel ganz unterschiedlich dar (Krugman 1984): fu¨r die Textilindustrie anders als fu¨r den Maschinenbau, fu¨r die chemische Industrie anders als fu¨r die Landwirtschaft. Außerdem gilt es bei den Exportinteressen die Marktstruktur zu beru¨cksichtigen, wie auch die Tatsache, dass man selbst durch Exporte weit unter Preis zu einer Senkung der Durchschnittskosten kommen kann, weil auf diese Weise Skalenertra¨ge, also die Vorteile ho¨herer Produktionsmengen zum Tragen kommen. Es sind also die Effekte der Kostendegression bei Massenproduktion, die die Struktur des internationalen Handels heute weit sta¨rker pra¨gen als die Verteilung der Produktionsfaktoren. 194
DEUTSC HL AN D S AUSSE N HA ND E L 1 800 – 20 00
12.3 Deutschlands Außenhandel 1800–2000 Der deutsche Außenhandel zu Beginn des 19. Jahrhunderts war in seinem Umfang noch sehr begrenzt (Kutz 1974). Die gro¨ßten Gu¨terstro¨me bewegten sich auf dem Rhein und der Elbe zu den Seeha¨fen, und ein weiterer Strom fu¨hrte auf dem Landwege in West-Ost-Richtung mit Leipzig als Zentrum. Die Niederlande und Hamburg als Deutschlands Tor zur Welt nahmen im Außenhandel der deutschen Territorien ebenfalls eine bedeutende Stellung ein. Die Struktur des preußischen Außenhandels um 1800 vermittelt das Bild einer noch wenig entwickelten Volkswirtschaft (Borries 1970). Bei der Ausfuhr dominierten zwar bereits gewerbliche Fertigprodukte mit einem Anteil zwischen 60 und 70 %, doch handelte es sich dabei vorwiegend um heimgewerblich gefertigte Textilien und nicht um maschinell erzeugte Industriewaren. An zweiter Stelle der Ausfuhr standen Rohstoffe und Nahrungsmittel, vor allem Getreide, mit ca. 20 % der Exporte. Auch bei der Einfuhr dominierten Gewerbeprodukte (ca. 50 %), wobei sich darunter textile und eisenindustrielle Vorprodukte wie Garne und Roheisen fanden, die dem Ausbau einer eigenen industriellen Grundlage dienen konnten. Es folgten bei den Importen Nahrungsmittel, Kolonialwaren und Rohstoffe mit einem Anteil von ca. 40 %. Es la¨sst sich also festhalten, dass Deutschland um 1800 schon in beachtlichem Maße in den internationalen Warenhandel integriert war. Es war zwar gegenu¨ber England noch ru¨cksta¨ndig, keinesfalls jedoch auf dem Stand eines „unterentwickelten“ Landes. Dagegen spricht auch der in der Summe bedeutende Außenhandel der deutschen Staaten, der um 1800 auf ca. 360 Millionen Mark ja¨hrlich gescha¨tzt wird. Dies entspricht einer durchaus beachtlichen Exportquote, dem Verha¨ltnis von Export zum Bruttoinlandsprodukt, von etwa acht bis neun Prozent. Allerdings fu¨hrte weder das preußische Zollgesetz von 1818 – das alle Binnenzo¨lle im preußischen Staatsgebiet beseitigte und ein einheitliches Außenzollsystem fu¨r Preußen begru¨ndete – noch die Gru¨ndung des Deutschen Zollvereins 1833 / 34 unmittelbar zu einer sprunghaften Ausdehnung des Handels bzw. des Außenhandels. Zwar wuchs der Außenhandel des Zollvereins nach 1834 stetig an, doch war dieser eingebunden in eine langfristige Expansion und die Pro-Kopf-Ausfuhr erho¨hte sich zuna¨chst nicht. Bis in die 1850er-Jahre lief die Entwicklung des Außenhandels im Zollverein mit der allgemeinen Entwicklung allenfalls parallel. Erst danach erho¨hte sich dieser Wert allma¨hlich und nachhaltig, um dann zu Beginn der 1870er-Jahre ein signifikant ho¨heres Niveau 195
Außenhandel im frjhen 19. Jahrhundert
Integration in den internationalen Warenhandel
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Expansion des Außenhandels nach 1871
Weltkriege und Neubeginn
zu erreichen. Was die Struktur des deutschen Außenhandels in diesem Zeitraum betraf, so la¨sst sich eine Verschiebung beobachten. Bei der Einfuhr ging die Bedeutung von Fertigwaren deutlich zuru¨ck. Dementsprechend wuchs der Anteil von Nahrungsmitteln und Rohstoffen beim Import. Bei der Ausfuhr ist das Bild weniger eindeutig. Der Export von Nahrungsmitteln stieg insgesamt leicht an, die Ausfuhr von Fertigwaren dagegen zeigte eine leicht sinkende Tendenz. Der Außenhandelsstruktur eines fortgeschrittenen Industriestaates entsprach dieses Bild also (noch) nicht. Nach der Gru¨ndung des Deutschen Reiches und der durchgreifenden Industrialisierung der deutschen Volkswirtschaft setzte eine bis dahin unbekannte Expansion des deutschen Außenhandels ein. Wa¨hrend der ersten beiden Dekaden erho¨hte sich der deutsche Export zuna¨chst noch erst moderat, ab den 1890er-Jahren dann explosionsartig und deutlich sta¨rker als der ebenfalls stark wachsende Welthandel. Die Exportquote der deutschen Volkswirtschaft verdoppelte sich nahezu von 8,5 % (1874 / 78) auf 15,8 % (1909 / 13) (Torp 2005, S. 72). Wa¨hrend dieses gesamten Zeitraumes lagen die Importe nach Deutschland immer deutlich u¨ber den Exporten, weshalb der Saldo der Handelsbilanz negativ blieb. Dies mag z. T. Ergebnis der unterschiedlichen Rechnungsstellung fu¨r Export- und Importpreise sein – weil die Exporte mit den Werten bis zur Landesgrenze („free on border“, fob) berechnet werden, die Importpreise aber einschließlich aller Transportkosten („cost, insurance, freight“, cif) – spiegelt aber wohl auch die reale Situation des deutschen Außenhandels wider (Kutz 1974, S. 14–16). Einen genaueren Einblick gibt daher die Zahlungsbilanz (> ABBILDUNG 31). Die beachtlichen Ertra¨ge der Auslandsinvestitionen und der Export von Dienstleistung (z. B. Schiffstransport, Finanzdienstleistungen u. a.) waren demnach bis 1913 in der Lage, die mo¨glicherweise leicht negative Handelsbilanz Deutschlands bis 1913 auszugleichen und daru¨ber hinaus noch einen weiteren Kapitalexport zu finanzieren. Gewerbeprodukte bestimmten zunehmend die Struktur des Exports. Besonders Industrieprodukte wurden immer wichtiger, wa¨hrend bei den Importen Nahrungsmittel und Rohstoffe an Bedeutung gewannen. Drei Viertel aller Exporte gingen in europa¨ische La¨nder, auch die meisten Importe kamen von dort. Der Erste Weltkrieg stellte natu¨rlich einen tiefen Eingriff in die Weltwirtschaft dar. Danach, in der Zwischenkriegszeit, gelang es nicht, ein a¨hnlich liberales und expansives Außenwirtschaftssystem wie vor 1913 wieder zu errichten. Ganz im Gegenteil, alle Versuche 196
DEUTSC HL AND S AUSSEN HA ND E L 1 800 – 20 00
1883 / 88
1889 / 93
1894 / 98
1899 / 1903
1904 / 08
1909 / 13
Export Import
2807 3104
3143 4053
3439 4426
4588 5661
6112 7583
8246 9726
Handelsbilanz Kapitalertroge (Saldo) Sonst. Dienstleistungen (Saldo)
–297 786 184
–910 980 513
–987 1139 655
–1072 1304 400
–1472 1464 840
–1480 1618 699
Dienstleistungsbilanz
970
1494
1794
1704
2304
2318
Leistungsbilanz Kapitalbilanz i. e. S. Devisenbilanz
673 681 –7
584 549 34
808 721 87
631 486 145
833 585 248
838 643 195
Kapitalbilanz i. w. S.
673
584
808
631
833
838
Abbildung 31: Deutsche Zahlungsbilanz 1833–1913 (in Millionen Mark, laufende Preise) (Torp 2005, S. 72)
dazu scheiterten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden wiederum Bedingungen geschaffen, die zu einer erneuten dynamischen Entwicklung des internationalen Wirtschaftssystems fu¨hrten, und Deutschland profitierte davon in besonderem Maße. Die deutsche Exportquote erholte sich von einem historischen Tief (1935 / 38 ¼ 6,0 %; 1950 ¼ 0,9 %) und stieg auf Rekordho¨hen. Deutschland wurde zum „Exportweltmeister“, im Jahr 2000 lag die Exportquote bei 29,5 % (Abelshauser 2004, S. 219). Allerdings ist dabei zu bedenken, dass dieser hohe Exportanteil auch darauf beruht, dass ein großer Teil der Exportprodukte Importe aus anderen La¨ndern entha¨lt, die in Deutschland nur als Zulieferungen und Teilkomponenten in „deutsche“ Produkte eingebaut werden. Somit ko¨nnen diese Exportwerte nicht als Maß fu¨r die deutsche Wertscho¨pfung herangezogen werden. Ein Problem besteht darin, dass die Handelsgewinne sehr ungleich anfallen und verteilt werden (Sinn 2005, S. 9). Deutsche Arbeitskra¨fte profitieren von den Handelsgewinnen immer weniger, wenn immer gro¨ßere Anteile der deutschen Ausfuhren aus einer ausla¨ndischen Wertscho¨pfung stammen. 1995 waren das 31 % und zehn Jahre spa¨ter (2005) bereits 42 %. Die Erfolge der Globalisierung der Weltwirtschaft und die Vorteile, die insbesondere Deutschland daraus gezogen hat, sind also keinesfalls langfristig gesichert. Ein liberales Weltwirtschaftssystem ist es wert verteidigt zu werden, zu groß sind die Vorteile, die alle Beteiligten langfristig daraus ziehen ko¨nnen. 197
Deutschland als „ExportWeltmeister“
Ungleich verteilte Handelsgewinne
HA ND EL U ND GLOBA LI SIERUN G
Fragen und Anregungen • Die o¨konomische Entwicklung Europas in der fru¨hen Neuzeit wurde wesentlich durch außereuropa¨ische Ressourcen gefo¨rdert. Worin lagen die Beitra¨ge und auf welche Weise wurden diese fu¨r Europa mobilisiert? • Ist die internationale Arbeitsteilung tatsa¨chlich fu¨r alle Volkswirtschaften von Nutzen? • Wodurch unterscheidet sich das internationale Außenwirtschaftsregime nach dem Zweiten Weltkrieg von dem nach dem Ersten Weltkrieg und welche unterschiedlichen Folgen sind daraus erwachsen? • La¨sst sich der deutsche Außenhandel wa¨hrend des gesamten 19. Jahrhunderts als „Motor“ des Wirtschaftswachstums ansehen oder lassen sich deutlich unterscheidbare Perioden beobachten? Lektjreempfehlungen rbersichten
• Peter Kriedte: Spa¨tfeudalismus und Handelskapital. Grundlinien der europa¨ischen Wirtschaftsgeschichte vom 16. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Go¨ttingen 1980. Informative Darstellung der weltwirtschaftlichen Beziehungen vor der Industrialisierung. • Kevin H. O’Rourke / Jeffrey G. Williamson: Globalization and History: the Evolution of a Nineteenth Century Atlantic Economy, Cambridge / Mass. u. a. 1999. Beste Darstellung der Globalisierung aus historischer Perspektive. • Cornelius Torp: Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914, Go¨ttingen 2005. Darstellung der Expansion der deutschen Außenwirtschaft im 19. Jahrhundert mit Bezug zur Entwicklung der Weltwirtschaft.
Forschung
• Knut Borchardt: Globalisierung in historischer Perspektive (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 2 / 2001), Mu¨nchen 2001. Die moderne Globalisierung in einer umfassenden historischen Perspektive. • Richard Tilly: Globalisierung aus historischer Sicht und das Lernen aus der Geschichte (Ko¨lner Vortra¨ge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 41), Ko¨ln 1999. Die Globalisierung des 19. Jahrhunderts im Vergleich zur aktuellen Entwicklung. 198
13 Staat und Wirtschaftsordnung
Abbildung 32: Abraham Bosse: Leviathan, Frontispiz von: Thomas Hobbes, Leviathan (1651)
199
STA AT UN D WI RT SCHA FT SOR DN UN G
Der u¨ber allem thronende allgewaltige Herrscher, versehen mit Bischofsstab und Schwert, den Insignien der geistigen und weltlichen Macht, repra¨sentiert die Allmacht des Souvera¨ns, die Thomas Hobbes in seinem Hauptwerk „Leviathan“ (1651) als Lo¨sung fu¨r die Gewa¨hrleistung von staatlicher Ordnung und individueller Sicherheit empfiehlt. Den Hintergrund fu¨r die staatstheoretischen Ausfu¨hrungen des Gelehrten bilden die chaotischen Erfahrungen des englischen Bu¨rgerkrieges (1642–49), in dem ein gesetzloser Zustand, der „Naturzustand“, herrschte, dem nur durch einen staatlich verordneten Zwang zum Frieden erfolgreich zu begegnen sei, so Hobbes. Als Symbole des Widerspruchs zwischen chaotischem Naturzustand und geordnetem Staatswesen bedient sich Hobbes zweier Fabeltiere der ju¨disch-christlichen Mythologie, des Behemoth und des Leviathan (Hiob 38–40). Ersterer, ein Landungeheuer, repra¨sentiert den Naturzustand, in dem ein Krieg aller gegen alle tobt (bellum omnium contra omnes) und der Mensch als des Menschen Wolf (homo homini lupus) erscheint – so die klassischen Formulierungen bei Hobbes. Dem muss daher ein mit uneingeschra¨nkter Gewalt regierender Souvera¨n, der Leviathan, ein biblisches Seeungeheuer, entgegen gesetzt werden, der den Menschen zum Frieden zwingt und Sicherheit garantiert. Eine derartige Vorstellung vom Staat, gewonnen aus den traumatischen Bu¨rgerkriegserfahrungen in der fru¨hen Neuzeit, scheint kaum geeignet, einen Rahmen fu¨r eine selbstbestimmte produktive Wirtschaftsta¨tigkeit des Menschen zu geben. Nicht der absolutistische Staat, in dem die individuelle Freiheit der Sicherheit geopfert wird, bildet daher das Modell fu¨r die entstehende Marktgesellschaft, sondern eine staatliche Ordnung, die dem individuellen Erwerbsstreben der Menschen hinreichend Raum la¨sst. Eine solche Staatsordnung begann sich in Europa seit dem 18. Jahrhundert allgemein zu entwickeln. Auf diesem Weg waren zahlreiche Reformen und Neuerungen in Gesellschaft und Staat von No¨ten.
13.1 Staat und Wirtschaft nach 1648 13.2 Die Rolle des Staates in der deutschen Wirtschaft im 19. Jahrhundert 13.3 Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik im 20. Jahrhundert 200
STA AT UN D WI RT SCH AFT N ACH 16 48
13.1 Staat und Wirtschaft nach 1648 Die Entstehung des modernen Staates und die Nationenbildung in der fru¨hen Neuzeit sind nicht zuletzt auch vom Bedu¨rfnis der Menschen nach Sicherheit und nach dem Schutz vor Willku¨r bestimmt worden (Fehrenbach 2007). In der vorneuzeitlichen Gesellschaft und bis weit in die Geschichte zuru¨ckreichend hatten sich immer wieder Situationen eingestellt, in denen die herrschenden Ordnungsregeln, seien sie durch die geistliche oder die weltliche Obrigkeit gesetzt, versagten und Willku¨r oder gar Chaos Raum griff. Besonders verheerend waren diese Erfahrungen wa¨hrend des Dreißigja¨hrigen Krieges, als alle Regeln außer Kraft gesetzt zu sein schienen. Der Westfa¨lische Frieden von 1648 versuchte auf der zwischenstaatlichen Ebene einen neuen Rahmen fu¨r Europa zu setzen, und innerhalb der Staaten wurden Sta¨ndesystem und Feudalverfassung neu befestigt. Das galt auch fu¨r die deutschen Territorien. Die wesentlichen Entwicklungen wurden dabei von den neu entstehenden Einzelstaaten getragen. Die fortschreitende Verrechtlichung der sozialen Beziehungen fu¨hrte zu einer dichten Regulierung, in die alle Menschen, reich und arm, hoch oder niedrig, eingebunden waren. Stadt und Land bildeten dabei nicht nur sehr unterschiedliche Lebensbereiche, sondern begru¨ndeten auch verschiedene Rechtsra¨ume. Auf dem Lande bestand eine an die Bodenrechte, das Lehen (feudum), gebundene Rechtsordnung, die man gemeinhin als Feudalismus bezeichnet, wa¨hrend in der Stadt eine vielfach geschichtete, sta¨ndisch genannte Ordnung vorherrschte. Die la¨ndliche Sozialordnung war gepra¨gt durch die Eigentumsrechte an Grund und Boden. Die Folge war eine Scheidung zwischen Grundherren und Hintersassen, den mehr oder minder abha¨ngigen Landbewohnern. Die Grundherren hatten das ausschließliche Recht am Boden und sie gaben dieses in Form von differenzierten Nutzungsrechten an ihre Hintersassen weiter. Daraus entwickelte sich im Laufe der Zeit eine vielfach gegliederte la¨ndliche Sozialordnung. In den preußischen Mittel- und Ostprovinzen entschied z. B. der Grundherr als Eigentu¨mer der o¨konomischen Zentralressource einer Agrargesellschaft, dem Boden, u¨ber die o¨konomischen Chancen der Landbevo¨lkerung. Deren Nutzungsrechte waren dabei sehr unterschiedlich ausgepra¨gt. Die Bodenbindung der Hintersassen, mit der verschiedene Formen der Leibeigenschaft verbunden waren, sowie weitere Rechte des Grundherrn schra¨nkten die perso¨nlichen Freiheitsrechte eines großen Teils der Landbevo¨lkerung sehr weit ein. So 201
Die Entstehung moderner Staaten
Feudalismus
Londliche Rechtsordnung
Unterschiedliche Nutzungsrechte am Boden
STA AT UN D WI RT SCHA FT SOR DN UN G
Herrenrechte
Stodtische Hierarchien
Gewachsene Wirtschaftsordnung
Institutioneller Wandel
musste z. B. eine Heirat durch den Grundherrn genehmigt werden (Heiratskonsens). Zudem unterwarf die preußische Wehrverfassung, das Kantonalsystem, die wehrpflichtigen Landbewohner der Wehrhoheit ihres Grundherrn. Dieser war daru¨ber hinaus auch als Gerichtsherr im Rahmen der unteren Gerichtsbarkeit sowie als Patronatsherr in Kirchenfragen gegenu¨ber seinen Hintersassen mit Herrenrechten ausgestattet (Henning 1978a, S. 45–48). Kurzum: In allen Lebensbreichen war die la¨ndliche Sozialordnung durch die Herrschaft des Grundherrn entscheidend gepra¨gt. Fu¨r den einfachen Landbewohner gab es kein Entrinnen. Dies galt in a¨hnlichen Formen fu¨r alle deutschen Territorien. Nur Flucht in die angeblich freie Stadt schien einen Ausweg zu bieten. Doch auch dort wurde klar zwischen Stadtbu¨rgern mit entsprechenden Bu¨rgerrechten und Inwohnern ohne dieselben unterschieden. Der Anteil der Stadtbewohner ohne Bu¨rgerrechte war immer beachtlich gewesen und wuchs im 18. Jahrhundert sogar noch weiter an (Gall 1996, S. 22–37). Aber auch die Stadtbu¨rger selbst waren vielfach geschichtet und mit unterschiedlichen Rechten ausgestattet, was gelegentlich zu schweren Konflikten fu¨hrte. An der Spitze der sta¨dtischen Hierarchie standen die Patrizier, gefolgt von den Großkaufleuten. Darunter standen die Handwerker mit ihren Zu¨nften und die Kra¨mer, welche in Gilden organisiert waren. Auch in den Sta¨dten waren also die Mo¨glichkeiten o¨konomischer Beta¨tigung und damit die Lebenschancen streng reguliert. Die vormoderne Gesellschaft besaß demnach eine Wirtschaft mit hoher Regulierungsdichte. Von Freiheit im Erwerbsleben ließ sich keinesfalls sprechen. Diese Wirtschaftsordnung hatte sich u¨ber viele Jahrhunderte herausgebildet und verfestigt und entsprach offenbar den gewachsenen Verha¨ltnissen. Am Ende des 18. Jahrhunderts a¨nderten sich die Bedingungen grundlegend. Gravierende, ja revolutiona¨re Vera¨nderungen in Gesellschaftsordnung, Wirtschaftsverfassung und Rechtssystem schienen unausweichlich. Die Industrielle Revolution war weit mehr als nur eine Vera¨nderung der Produktionsweise. In England hatten sich die Vera¨nderungen des institutionellen Rahmens der Wirtschaftsta¨tigkeit allma¨hlich herausgebildet, wa¨hrend Deutschland dieser Entwicklung noch hinterherhinkte. Insbesondere in Preußen schuf jedoch die Staatskrise von 1806 einen dringenden Bedarf zum institutionellen Wandel, und die folgenden Reformen lassen sich, a¨hnlich wie nach dem Zusammenbruch des Sozialismus 1989, als „Perestroika a` la Prusse“ (Tilly 1996, S. 147–160) bezeichnen. 202
STA AT UN D WI RT SCH AFT N ACH 16 48
Die Vera¨nderungen begannen in Preußen bzw. Deutschland mit dem beru¨hmten Oktoberedikt vom 9. Oktober 1807. In diesem findet sich in § 12 folgender Satz: „Nach dem Martinstage 1810 gibt es nur freie Leute“. Damit war die Leibeigenschaft aufgehoben. Zugleich wurden in diesem Edikt weitere Maßnahmen angeku¨ndigt, so die „Freiheit des Gu¨terverkehrs“, die „Freie Wahl des Gewerbes“ und die Reform der la¨ndlichen Agrarverfassung. Die Umsetzung dieser Maßnahmen nahm allerdings noch einen betra¨chtlichen Zeitraum in Anspruch, auch kam es zu gravierenden Konflikten mit den Betroffenen. Das Projekt der Agrarreformen zog sich z. B. noch bis etwa 1850 hin (Dipper 1980, S. 9–37). Es umfasste neben der Aufhebung der perso¨nlichen Bindungen noch die Kla¨rung der Rechtsverha¨ltnisse zwischen den Grundherren und ihren Hintersassen, u. a. die Entlastung von Diensten (1807), die Regulierung der Bodennutzung (Verordnungen 1808, 1809, 1810; Edikt 1811; Deklaration 1815) sowie die Ablo¨sung von Zinspflichten (Ordnung 1821, Gesetz 1850). Daru¨ber hinaus waren die Verha¨ltnisse zwischen den nunmehr „freien“ und Grund besitzenden Bauern zu regeln, sowohl was die Separation vom Gutsland (1811) als auch was die Teilung der Gemeinheiten (1821) und die Flurbereinigung, also die Neuordnung der landwirtschaftlichen Fla¨chen betraf. Die Grundherren gaben ihre Rechte zudem nicht ohne Entscha¨digungen auf. Um die Ho¨he der Ablo¨sungszahlungen und ihre Dauer gab es z. T. erhebliche Auseinandersetzungen und ihre Abwicklung zog sich in einigen Fa¨llen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hin. Ein komplexes Regelwerk war an die Stelle der alten Agrarverfassung getreten. Ziel war es, eine freie Wirtschaftsta¨tigkeit der Landbewohner zu ermo¨glichen. Der Erfolg war beachtlich. Produktion und Produktivita¨t des Agrarsektors in Preußen stiegen gewaltig an (Harnisch 1984, S. 204–252). Der Index der Agrarproduktion verdoppelte sich zwischen 1800 / 10 und 1846 / 50 und die Arbeitsproduktivita¨t in der Landwirtschaft erho¨hte sich im gleichen Zeitraum um ca. 60 % (Helling 1966, S. 129–141). Die anderen deutschen Staaten durchliefen eine a¨hnliche Entwicklung wie Preußen, auch wenn dort die Reformen z. T. spa¨ter einsetzten und durch staatliche Zuschu¨sse erleichtert wurden. Auch im Bereich des Gewerbes stellte die u¨berkommene Gewerbeverfassung in Deutschland, a¨hnlich wie die Agrarverfassung, zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Entwicklungshemmnis auf dem Weg zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft dar. Gleichwohl hatte das alte Handwerk wesentliche Vera¨nderungen durchschritten und sich 203
Oktoberedikt
Agrarreform
Entschodigung der Grundherren
Erhkhte Agrarproduktion und -produktivitot
STA AT UN D WI RT SCHA FT SOR DN UN G
Wandel der Gewerbeverfassung
Expansion der Gewerbeproduktion
Handwerkerbewegung
Handwerkskammern
als anpassungsfa¨hig an die neue Zeit erwiesen (Abel 1978). Gewerbebeschra¨nkungen waren umgangen oder außer Kraft gesetzt worden und das Land war im Rahmen der Ausdehnung einer heimgewerblichen Gewerbeproduktion, der Protoindustrialisierung, weitgehend gewerblich durchdrungen worden, ein Prozess, den man auch Rustikalisierung des Gewerbes nennt (Kriedte u. a. 1978). Eine merkantilistisch orientierte Gewerbefo¨rderung hatte zudem neue Produktionsmo¨glichkeiten, z. B. Manufakturen geschaffen. Der Wandel der Gewerbeverfassung war also la¨ngst auf dem Weg, dennoch entsprachen die Ergebnisse noch nicht den Erfordernissen der neuen Wirtschaftsweise. Weitere Gewerbereformen waren dringend erforderlich. Auch hier machte die Anku¨ndigung im Edikt vom 9. Oktober 1807 den Anfang, sehr bald gefolgt vom Gewerbesteueredikt vom 2. November 1810 und dem Gesetz u¨ber die polizeilichen Verha¨ltnisse im Gewerbe vom 7. September 1811, das den Zunftzwang aufhob und die allgemeine Gewerbefreiheit einfu¨hrte. Damit wurden Monopole durchlo¨chert und sta¨ndische Privilegien beseitigt (Vogel 1983). Eine Expansion der Gewerbeproduktion in zahlreichen alten und neuen Bereichen, wie z. B. in der Leinenproduktion oder bei der Aufnahme der Produktion von Baumwollgeweben war die unmittelbare Folge. ~hnliches erfolgte wiederum zeitgleich in den u¨brigen deutschen Staaten. Inwieweit der Aufschwung der Gewerbeproduktion in Deutschland nach 1815 allerdings der Gewerbefreiheit zuzurechnen oder einem allgemeinen Wirtschaftsaufschwung geschuldet ist, ist umstritten und nur schwer zu entscheiden (Henning 1978b, S. 147–177). Zeitgleich formierte sich eine Handwerkerbewegung, die in den vertrauten Verha¨ltnissen verharren bzw. dazu zuru¨ckkehren wollte. Sie suchte die allgemeine Gewerbefreiheit durch die Einfu¨hrung einer Meisterpru¨fung als Befa¨higungsnachweis zur Fu¨hrung eines Handwerksbetriebs und die Zwangsmitgliedschaft in einer Zunft einzuschra¨nken. Diese Bewegung war zuna¨chst nur ma¨ßig erfolgreich, langfristig gelang es jedoch, mit der Zuweisung der Aufsicht u¨ber das Lehrlingswesen an die freiwilligen Zu¨nfte (1881), der Errichtung von Handwerkskammern (1897), der Einfu¨hrung des „kleinen“ Befa¨higungsnachweises fu¨r die Lehrlingsausbildung (1908) und des „großen“ Befa¨higungsnachweises zur Fu¨hrung eines Meisterbetriebes (1934) das Rad der Geschichte noch einmal zuru¨ckzudrehen (Pierenkemper 1994, S. 61–78). Doch das Handwerk hatte bis dahin la¨ngst seinen Charakter von einem Produktions- zu einem Wartungs- und Reparaturgewerbe vera¨ndert und gesamtwirtschaftlich entscheidend an Bedeutung verloren. 204
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Industrie und Dienstleistungen pra¨gten in zunehmendem Maße weit sta¨rker das Wirtschaftsleben in Deutschland als Handwerk und Landwirtschaft (> KAPITEL 9). Deren Bedingungen waren in diversen Gewerbeordnungen geregelt, von denen in Preußen die erste 1845 in Kraft trat. Diese blieb mit entsprechenden Novellierungen auch fu¨r den Norddeutschen Bund und spa¨ter fu¨r das Deutsche Kaiserreich gu¨ltig. Fu¨r einige Gewerbezweige gab es besondere Regulierungen, die in Spezialgesetzen, z. B. fu¨r den Bergbau in den Bergordnungen bzw. 1854 im Allgemeinen Preußischen Berggesetz, ihren Ausdruck fanden. Auch gab es besondere Regulierungen fu¨r bestimmte Sachverhalte, z. B. die Arbeitszeiten in den Fabriken, die bereits 1839 fu¨r Frauen, Jugendliche und Kinder gesetzlich beschra¨nkt wurden. Kurzum: Nicht absolute Freiheit oder gar Willku¨r bestimmten die Wirtschaftsverfassung nach |berwindung des Feudalsystems und der Sta¨ndeordnung. Vielmehr war eine neue Ordnung an die Stelle der alten getreten. Diese neue Ordnung entsprach offenbar weit mehr den Bedingungen einer dynamischen, kapitalistischen Marktwirtschaft als es die alte je ha¨tte tun ko¨nnen. Und der Erfolg war u¨berragend: In weniger als einem Jahrhundert wurde Deutschland in eine moderne Industriewirtschaft transformiert und konnte zu den vorausgeeilten Volkswirtschaften aufschließen. Gerade neueste Forschungen haben erneut auf die Bedeutung eines stabilen institutionellen Rahmens fu¨r die Entwicklung der modernen Volkswirtschaften hingewiesen. Einer stabilen Staatsverfassung kommt dabei eine entscheidende Rolle zu. Es scheint so zu sein, dass eine bestimmte Ausgestaltung o¨ffentlicher Institutionen und ihre Verknu¨pfung untereinander einen wohlfahrtssteigernden Effekt auf die wirtschaftliche Entwicklung entfalten. Zu derartigen „inklusiven“ Wirtschaftsinstitutionen za¨hlen in erster Linie gesicherte Eigentumsund Vertragsrechte, ein funktionierendes Justizsystem sowie der freie Wettbewerb um Ideen und Projekte unter demokratischer und zentralisierter Einbeziehung mo¨glichst weiter Bevo¨lkerungskreise (Acemoglu/Robinson 2013, S. 14 f.). Derartige Institutionen setzen o¨konomische Anreize zu Investitionen in die Zukunft und ermo¨glichen Wirtschaftswachstum und gesellschaftlichen Fortschritt. Mangelt es daran, weil „extraktive“ Institutionen ihnen entgegenstehen, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit des Eigentums nicht gewa¨hrleitet sind, so verharren die betroffenen Gesellschaften in Stagnation und Unterentwicklung. Alternativen zur Erkla¨rung der persistenten Armut in zahlreichen Weltregionen, z. B. auf Grund klimatisch unterschiedlicher 205
Gewerbeordnungen fjr Industrie und Dienstleistungen
Erfolge der neuen Ordnung
Die Bedeutung einer stabilen Staatsverfassung
STA AT UN D WI RT SCHA FT SOR DN UN G
Bedingungen (Diamond 2011) oder psychischer Dispositionen der lokale Bevo¨lkerung (Vanhanen 2014) erscheinen gegenu¨ber dem Institutionellen Ansatz weit weniger u¨berzeugend.
13.2 Die Rolle des Staates in der deutschen Wirtschaft im 19. Jahrhundert
Grjndung des Deutschen Reichs
Preußische Wirtschaftspolitik
Deutschland ist als Nationalstaat erst 1871 endgu¨ltig begru¨ndet worden. Bis 1806 hatte das „Alte Reich“ bestanden, welches in den Wirren der napoleonischen Zeit endgu¨ltig verfallen und im Deutschen Bund 1815 einen ga¨nzlich vera¨nderten Nachfolger gefunden hatte. In diesem betrieben 39 Einzelstaaten eine eigensta¨ndige und z. T. konfligierende Politik, welche dann u¨ber den Norddeutschen Bund von 1866 schließlich zu einer kleindeutschen, d. h. unter Ausschluss }sterreichs erfolgten Gru¨ndung des Deutschen Reichs fu¨hrte. Entsprechend la¨sst sich vor 1871 in den unkoordinierten Maßnahmen verschiedener Obrigkeiten kaum eine konsistente Wirtschaftspolitik und ein umfassendes Ordnungssystem entdecken (Fischer 1976, S. 287–304). Das gilt auch fu¨r Preußen, wo z. B. Friedrich II. bis zu seinem Tode 1786 eine Merkantilpolitik verfolgte, die den Bedu¨rfnissen des entstehenden Industrialismus nicht mehr entsprach. Immerhin hatte er am Ende seiner Regentschaft ein einigermaßen stabiles Wa¨hrungssystem und eine stabile Finanzverfassung hinterlassen, auf denen die weitere Entwicklung aufbauen konnte. Zwischen 1792 und 1815 gerieten allerdings die o¨ffentlichen Finanzen wegen der zahlreichen kriegerischen Verwicklungen Preußens erneut ga¨nzlich aus dem Gleichgewicht (Ullmann 2005, S. 22). Dies legte dem Staats-
Ausgabensparte Militor Schulden Erwerb* Verwaltung
1821
1829
1838
1847
1849
1856
1866
27 13 16 44
26 14 16 44
31 13 16 40
28 8 19 44
29 8 27 36
27 11 30 32
29 11 31 29
* Schließt Ausgaben fu¨r Bergwerke, Doma¨nenla¨nder und Wa¨lder, Eisenbahnen, die Post und Ausgaben des Ministeriums fu¨r Handel und o¨ffentliche Arbeiten ein. Abbildung 33: Zusammensetzung der Staatsausgaben in Preußen 1826–66 (in % aller Ausgaben) (Tilly 1980b, S. 61)
206
D IE RO LLE D ES STA ATES IN DER DEU TSCH E N WI RTS CHA FT
handeln nach 1815 enge Fesseln an und ero¨ffnete der fru¨hmodernen Gewerbefo¨rderung, die in merkantilistischer Tradition Subventionen, Kredite und Privilegien gewa¨hrte, nur einen geringen Spielraum. Zwar wuchsen auch in Preußen die Staatsausgaben, doch gemessen an der Bevo¨lkerungsentwicklung und damit an der Zahl der potenziellen Steuerzahler sanken diese nominell sogar zeitweilig: Betrugen sie 1821 pro Kopf noch 7,5 Taler, waren es 1874 pro Kopf nur noch 5,8 Taler (Tilly 1980b, S. 60). Blickt man auf die Struktur der preußischen Staatsausgaben in der ersten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts, so zeigt sich eine Umschichtung der Ausgaben zugunsten der Gewerbefo¨rderung. Milita¨rausgaben und Schuldendienst stagnierten hingegen und die Verwaltungsausgaben konnten sogar gesenkt werden. (> ABBILDUNG 33) Es wurden wichtige Investitionen in die Infrastruktur, insbesondere in den Bau eines Eisenbahnnetzes geta¨tigt. Dabei baute und betrieb der Staat nur den Teil der Bahnen, die o¨konomisch weniger lukrativ schienen, z. B. die Ost-Bahn, selbst. Die meisten Eisenbahnlinien wurden durch private Aktiengesellschaften errichtet, der Staat unterstu¨tzte dies allenfalls durch Zinssubventionen und -garantien sowie durch Beteiligungen (> KAPITEL 6). Auch auf der Einnahmeseite a¨nderte sich etwas im preußischen Staatsbudget. Die nichtsteuerlichen Einnahmen, vornehmlich also staatliche Erwerbseinku¨nfte, gewannen gegenu¨ber den Steuern an Bedeutung: Sie stiegen zwischen 1821 und 1866 von einem Drittel auf die Ha¨lfte der Staatseinnahmen (Tilly 1980b, S. 61). Zudem la¨sst sich eine a¨ußerst vorsichtige Schuldenpolitik des preußischen Staates beobachten. Das hatte gewiss ebenfalls damit zu tun, dass eine Erho¨hung der Staatsschuld nach dem Staatsschuldengesetz von 1820 die Einberufung des Repra¨sentationsorgans der Reichssta¨nde erforderlich Jahr
%
Papiergeld
1820 1833 1848 1855 1865
206,6 163,8 138,1 227,7 258,7
11,2 17,7 30,8 20,8 15,8
Notenumlauf*
0,7 10,5 63,4
Gesamt 217,8 181,5 169,6 259,0 347,9
Schließt einen Teil der Staatsverschuldung aus, da die Passiva einiger Staatsinstitutionen wie z. B. die Seehandlung hier nicht erfasst werden. * Abzu¨glich der Bargeldbesta¨nde der Preußischen Bank Abbildung 34: Preußische Staatsschulden, 1820–65 (in Millionen Thaler) (Tilly 1980b, S. 63)
207
Staatsausgaben in Preußen
Investitionen in Infrastruktur
Staatliche Einnahmen
Staatsschuld Preußens
STA AT UN D WI RT SCHA FT SOR DN UN G
Private Notenbanken
Interventionsstaat
gemacht ha¨tte. Dies ha¨tte eine Bewilligung ho¨herer Schulden von der Gewa¨hrung einer parlamentarischen Zustimmung abha¨ngig gemacht, was der preußische Ko¨nig strikt ablehnte. So reduzierte sich die Staatsschuld bis 1848 sogar deutlich. Auch die Ausgabe von Staatspapiergeld, die sogenannten Tresorscheine und die Notenemission durch die Preußische Bank konnte hier kaum Ersatz schaffen (> ABBILDUNG 34). Eine expansive Ausgabenpolitik des preußischen Staates la¨sst sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts demnach kaum konstatieren. Die Staatsnachfrage fiel als Motor der Fo¨rderung des gesamtwirtschaftlichen Wachstums weitestgehend aus. Ganz im Gegenteil sieht Richard Tilly im Verhalten des Staates wa¨hrend der Industrialisierung Preußens eher einen hemmenden Faktor, weil dieser im Mu¨nzwesen und bei der Papiergeldemission zo¨gerlich blieb und damit das Geldangebot fu¨r die expandierende Wirtschaft unno¨tig begrenzte (Tilly 1980b, S. 55–64). Die Wirtschaft musste daher selbst ta¨tig werden, um eine nicht ausreichende Geldversorgung zu kompensieren. Sie tat dies durch die Gru¨ndung privater Notenbanken, der sogenannten Zettelbanken, und die Ausdehnung des Wechselverkehrs und Wechseldiskonts. Eine aktive Rolle des Staates im Rahmen der modernen Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert in Deutschland ist trotz aller Maßnahmen zur Gewerbefo¨rderung kaum zu konstatieren. Am bedeutsamsten waren noch die Beitra¨ge zur Bereitstellung der materiellen und immateriellen Infrastruktur, wobei die Eisenbahninvestitionen fu¨r ersteres und Auf- und Ausbau eines differenzierten Bildungs- und Ausbildungssystems fu¨r letzteres wohl die wichtigsten Beispiele darstellen. Dies a¨nderte sich jedoch mit fortschreitender Industrialisierung bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Immer mehr traten Elemente eines direkt in den Wirtschaftskreislauf eingreifenden Interventionsstaats hervor. Mit dem Abschluss der Agrarreformen, der weitgehenden Durchsetzung der Gewerbefreiheit und der Etablierung eines internationalen Freihandelssystems in den 1860er-Jahren (> KAPITEL 12) hatte der Staat sich weitestgehend aus der Wirtschaft zuru¨ckgezogen, doch das a¨nderte sich nach 1871 wieder. Und dies, obwohl das neu geschaffene Deutsche Reich im Rahmen seiner Finanzpolitik nur geringe Spielra¨ume hatte, denn direkte Reichssteuern wurden nicht erhoben, dies scheiterte am Widerstand der Einzelstaaten. Die Finanzhoheit verblieb weitgehend bei den Einzelstaaten, das Reich wurde zu deren „Kostga¨nger“. Aber auch in den Einzelstaaten, in den 22 Fla¨chenstaaten, drei Stadtstaaten und im Reichsland Elsass208
WIRTSC HA FTS ORD N UN G UN D WI RT SCH AFT SPOL IT IK
Lothringen, blieben die Mo¨glichkeiten fu¨r staatliches Handeln in der Wirtschaftsspha¨re begrenzt und die Mittel knapp. Das „arme Reich“ (Ullmann 2005, S. 56) musste seine wachsenden Ausgaben aus wenigen Verbrauchs- und Verkehrssteuern, den Zo¨llen und den Ertra¨gen o¨ffentlicher Unternehmen wie der Post- und Telegrafenverwaltung finanzieren. Daru¨ber hinaus erhielt es von den Einzelstaaten begrenzte Zuschu¨sse und auch die Kreditaufnahme durch das Reich spielte am Ende des 19. Jahrhunderts eine immer gro¨ßere Rolle. Als neue Aufgabe wuchs dem Staat der Ausbau der Infrastruktur zu. Daru¨ber hinaus schuf er neue, quasi halbstaatliche Institutionen, sogenannte Parafisci, die im Zuge des Auf- und Ausbaus eines Sozialversicherungssystems die Grundrisiken des Lebens fu¨r die unteren Klassen absichern sollten (Berufsgenossenschaften, Versicherungsanstalten u. a¨.) (Syrup 1957, S. 126–142). Auch durch regulative Maßnahmen auf gesetzlicher Basis, z. B. durch das Arbeitsschutzgesetz, griff der Staat zunehmend in den Wirtschaftskreislauf ein und entwickelte sich immer mehr zu einem Interventionsstaat, der auch Sorge fu¨r das wirtschaftliche Wohl des Landes und die Lebensbedingungen seiner Bevo¨lkerung u¨bernahm (Ritter 1991). Dazu za¨hlte auch die insbesondere nach der Zolltarifreform von 1902 vollzogene Wende zu einer protektionistischen Außenwirtschaftspolitik, die den besonderen Schutz bedrohter Wirtschaftszweige, vor allem der Landwirtschaft und der Schwerindustrie beabsichtigte. Alles in allem zeigte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine Umkehr der Entwicklung in Deutschland. Das Deregulierungsprogramm mit den durchgreifenden Reformen des fru¨hen Jahrhunderts trug zum Durchbruch des Industrialismus in einer liberalen Phase zur Mitte des Jahrhunderts entscheidend bei. Doch mit den Problemen einer entwickelten Industriegesellschaft, die sich am Ende des Jahrhunderts abzeichneten, setzte sich erneut eine Tendenz zu versta¨rkten Staatseingriffen in den Wirtschaftsablauf durch (Boch 2004).
Verholtnis von Reich und Einzelstaaten
Protektionistische Außenwirtschaftspolitik
13.3 Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik im 20. Jahrhundert Der Beginn des Ersten Weltkriegs setzte der liberalen Phase der deutschen Volkswirtschaft endgu¨ltig ein Ende. Man hatte offenbar bei der Obersten Heeresleitung mit einem nur kurzen Krieg gerechnet und auf umfangreiche o¨konomische Kriegsvorbereitungen verzichtet.
209
Erster Weltkrieg
STA AT UN D WI RT SCHA FT SOR DN UN G
Kriegswirtschaft
Stinnes-LegienAbkommen
Weimarer Republik
Das erwies sich bald als vo¨llige Fehleinscha¨tzung und nach einem kurzen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu Beginn des Krieges – aufgrund unkoordinierter Einberufungen – bestimmte bald der Mangel auf allen Ebenen das Bild der Wirtschaft. Man suchte einen Ausweg aus diesem Dilemma in einer straffen Organisation und Militarisierung der deutschen Wirtschaft. Die Milita¨rs in den Wehrbezirkskommandos u¨bernahmen die Koordination der wirtschaftlichen Aktivita¨ten und bestimmten die Zuweisung von Rohstoffen und Arbeitskra¨ften. Dazu dienten die Gru¨ndung von Kriegsrohstoffgesellschaften und ab 1916 die Einfu¨hrung eines allgemeinen Arbeitszwanges fu¨r alle ma¨nnlichen Staatsbu¨rger (Hilfsdienstgesetz). Z. T. wurden eigene Kriegsgesellschaften gegru¨ndet, um den Bedu¨rfnissen der Kriegswirtschaft besser entsprechen zu ko¨nnen. Von diesen stark bu¨rokratisierten Maßnahmen profitierten vor allem die großen Ru¨stungsbetriebe, deren Investitionen und Gewinne gewaltig anstiegen. Die kleineren Unternehmen und solche des zivilen Sektors waren die Leidtragenden, und die Bevo¨lkerung litt große Not bis hin zum Hunger, besonders dramatisch im sogenannten Steckru¨benwinter 1916 / 17 (Feldman 1985). Es wundert daher kaum, dass mit Ende des Krieges und der Ausrufung der Republik Chaos und Revolution an zahlreichen Orten in Deutschland um sich griffen. Die Auflo¨sung der staatlichen Ordnung schuf ungewo¨hnlichen Arrangements Mo¨glichkeiten. So fanden die Vertreter der Wirtschaft und der gema¨ßigten Arbeiterschaft eine |bereinkunft, in der den Bedu¨rfnissen der Wirtschaft wie auch denen der Gewerkschaften entsprochen wurde. Die Arbeitgeber erhielten Schutz vor Verstaatlichung, die Gewerkschaften konnten den Acht-Stunden-Tag und weitere sozialpolitische Zugesta¨ndnisse erreichen. Zudem wurde im „Stinnes-Legien-Abkommen“ die Errichtung einer „Zentralarbeitsgemeinschaft“ von Wirtschaftsund Gewerkschaftsvertretern vereinbart, einer quasi privaten Einrichtung, die wesentlich zur Stabilisierung der o¨ffentlichen Ordnung und zur Wiederingangsetzung einer Friedenswirtschaft beitrug (> KAPITEL 3.2). Die Begru¨ndung einer neuen staatlichen Ordnung in Gestalt der Weimarer Republik erfolgte erst spa¨ter. Diese Republik und ihre Wirtschaft standen von Beginn an vor schweren Aufgaben. Dazu za¨hlte zuna¨chst die Wiederherstellung des Geldwertes, der durch eine Politik der Finanzierung des Krieges auf Kredit untergraben worden war, was bereits 1914 einen ersten Inflationsschub zur Folge hatte. Die junge Republik mit ihren zahllosen Aufgaben der Demobilisie210
WIRTSC HA FTS ORD N UN G UN D WI RT SCH AFT SPOL IT IK
rung und Schaffung neuer staatlicher Institutionen nach dem Ende des Kaiserreichs war kaum in der Lage, hier gegenzusteuern, nicht zuletzt, da viele die Republik grundsa¨tzlich ablehnten und beka¨mpften. So setzte sich die Politik des Schuldenmachens zuna¨chst fort und auch eine bald darauf einsetzende relative Stabilisierung der Wa¨hrung, gemessen in Inflationsrate und Entwicklung des Außenwerts der Mark, erwies sich nicht als nachhaltig. Eine endgu¨ltige Stabilisierung gelang erst nach einer Wa¨hrungsreform mit der Einfu¨hrung der Rentenmark 1923 und schließlich 1924 der Reichsmark, der eine dramatische Hyperinflation vorausgegangen war (Holtfrerich 1980b). Zu den großen Schwierigkeiten hatte auch die Reparationspolitik der alliierten Siegerma¨chte des Ersten Weltkriegs beigetragen. Diese hatten dem Deutschen Reich eine schwere Bu¨rde von umfangreichen Reparationszahlungen auferlegt, die zuna¨chst unter den Bedingungen einer galoppierenden Inflation relativ leicht zu tragen, nach der Wa¨hrungsstabilisierung aber neu zu fixieren waren. Unzweifelhaft befand sich der Staat in einer durch die Rahmenbedingungen gesetzten Zwangslage, die sich am Ende dieser Epoche durch die Weltwirtschaftskrise 1929 noch verscha¨rfte. Auch der Young-Plan von 1929, mit dem eine Kommerzialisierung der Reparationsschulden versucht wurde, verscha¨rfte die Situation weiter, weil nun die Reparationszahlungen gegenu¨ber dem privaten kommerziellen Schuldendienst sta¨rker in den Vordergrund ru¨ckten und damit zum Versiegen ausla¨ndischer Kapitalzuflu¨sse in die deutsche Volkswirtschaft fu¨hrte. Diese hatten seit 1925 immerhin ca. 25 Milliarden Reichsmark betragen. Deutschland geriet in eine Schuldenkrise, die sich zu einer Finanzkrise auswuchs und in der Weltwirtschaftskrise den Staat praktisch zahlungsunfa¨hig machte (Ritschl 2002). An den Versuchen zur Sanierung des Haushaltes ist dann die Weimarer Koalition letztendlich gescheitert, das folgende Pra¨sidialregime bereitete den Weg zur Machtu¨bernahme durch die Nationalsozialisten. Diese setzten von Anfang an andere Priorita¨ten des staatlichen Handelns und eine geordnete Finanzsituation geho¨rte gewiss nicht dazu. So erhielten Arbeitsfo¨rderung und Aufru¨stung bald allerho¨chsten Vorrang. La¨stige Restriktionen wie Gesetze und internationale Vertra¨ge, die einer solchen Politik entgegenstanden, wurden durch dirigistische Maßnahmen ausgehebelt. Die außenwirtschaftliche Flanke wurde durch Devisenbewirtschaftung, also dadurch, dass Verfu¨gungen u¨ber ausla¨ndische Zahlungsmittel einer staatlichen Kontrolle unterlagen, geschlossen, der Zugriff auf nahezu unbegrenzten 211
Wohrungsreform
Reparationszahlungen
Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten
STA AT UN D WI RT SCHA FT SOR DN UN G
Unternehmen als Profiteure
Soziale Marktwirtschaft
Marshallplan
Kredit durch Emission von Staatspapieren und durch ~nderungen bei den Deckungsvorschriften der Notenbank gewa¨hrleistet sowie eine Begrenzung des privaten Konsums durch Steuerpolitik, Lohnund Preisstopp bewirkt. So konnte sich der Staat bei wachsendem Sozialprodukt einen immer gro¨ßeren Anteil an der volkswirtschaftlichen Wertscho¨pfung sichern (Overy 1996). Die privaten Unternehmen waren darin voll eingebunden und folgten mehr oder weniger willig den staatlichen Vorgaben, weil der Staat die kapitalistischmarktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht a¨nderte und o¨konomische Anreize zum Mittun setzte. Die Zusammenarbeit zwischen Staat und Unternehmen ging so weit, dass zahlreiche Unternehmen und Unternehmer auch bei den verbrecherischen Aktivita¨ten des Regimes, der Arisierung, Sklavenarbeit, Raub und Plu¨nderung besetzter Gebiete und schließlich der Massenvernichtung in den Konzentrationslagern beteiligt waren (Tooze 2007, Spoerer/Streb 2013, S. 192–202). Nach Zusammenbruch der Wirtschaft und einer turbulenten Nachkriegszeit musste in Deutschland, getrennt nach Ost und West, eine neue Wirtschaftsordnung gefunden werden. In der 1949 gegru¨ndeten Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wurde eine sozialistische Zentralverwaltungswirtschaft eingefu¨hrt. Da dieses Wirtschaftsmodell jedoch vollkommen anderen Prinzipien folgte und nach dem Zusammenbruch des Ostblocks im Jahr 1989 auch keinen gro¨ßeren Einfluss auf die (wirtschaftliche) Entwicklung in Deutschland nahm, soll es an dieser Stelle nicht weiter behandelt werden (Steiner 2004). Fu¨r die Bundesrepublik Deutschland wurde die neue Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft entwickelt. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass bei grundsa¨tzlich marktwirtschaftlichen Verha¨ltnissen dem Staat die Aufgabe zufa¨llt, regulierend in den Wirtschaftsablauf einzugreifen, um Stabilita¨t und sozialen Ausgleich zu gewa¨hrleisten. Dieses war nach den Verwu¨stungen und Verwerfungen des vorausgegangenen Krieges eine schwierige Aufgabe. Zuna¨chst galt es, die Wirtschaft wieder in Gang zu setzen und zu einem gedeihlichen Verha¨ltnis mit den u¨brigen Staaten der Welt zu gelangen (Eichengreen 1995, S. 3–35). Die Stabilisierung der Wa¨hrung machte dabei bereits 1948 den Anfang, die Einbindung in den Marshallplan, in die Organisation fu¨r wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und in das europa¨ische Finanzsystem (EZU) waren weitere Schritte. Es folgte die Regulierung der deutschen Auslandsschulden und die allma¨hliche }ffnung zum Weltmarkt, die mit 212
WIRTSC HA FTS ORD N UN G UN D WI RT SCH AFT SPOL IT IK
der vollen Konvertibilita¨t 1958 der Wa¨hrung einen ersten Abschluss fand (Buchheim 1990). Das Wirtschaftswunder der 1950er- und 1960er-Jahre erleichterte diesen Prozess ganz wesentlich (Lindlar 1997). Im Inland gelangen die |berwindung der zuna¨chst gewaltigen Arbeitslosigkeit und eine bis dahin nie gekannte Wohlstandsmehrung breiter Bevo¨lkerungsschichten („Wohlstand fu¨r alle“). Der Erfolg der deutschen Wirtschaft auf den Auslandsma¨rkten ermo¨glichte eine enorme Expansion der Außenwirtschaft und schuf so stabile Wa¨hrungsreserven: Deutschland wurde zum „Exportweltmeister“. In diesem Umfeld boten sich zahlreiche Mo¨glichkeiten fu¨r staatliche Interventionen. Im Mittelpunkt stand dabei zuna¨chst die Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung. Dies fand im Gesetz zur Entwicklung und Stabilita¨t der Wirtschaft von 1967 seinen Ausdruck. Das Gesetz war gepra¨gt von den Theorien des britischen }konomen John Maynard Keynes, die in der wirtschaftspolitischen Debatte jener Zeit eine große Rolle spielten (Nu¨tzenadel 2005). Nach der Aufgabe des Systems fester Wechselkurse 1972 wurde der Bundesregierung die Herrschaft u¨ber den Außenwert der D-Mark genommen (Abelshauser 2004). Die Bundesbank u¨bernahm im Rahmen ihrer spa¨ter monetaristisch begru¨ndeten Geldpolitik die Pflege des Geldwertes nach innen und damit des Preisniveaus und die Bestimmung des Wechselkurses nach außen. Da ihr dies offenbar sehr erfolgreich gelang, wurde sie nach Einfu¨hrung des Euro 1999 / 2002 auch zum Vorbild fu¨r die europa¨ische Zentralbank (Sarrazin 1997). Durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaates versuchte der westdeutsche Teilstaat außerdem, seiner Aufgabe des sozialen Ausgleichs im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft gerecht zu werden. Damit wuchsen die Staatsausgaben permanent und gewaltig an, ganz im Sinne des Wagnerschen Gesetzes vom wachsenden Staatsbudget, welches fu¨r die Entwicklung der modernen Wirtschaft einen stetig wachsenden Staatsanteil prognostiziert. Zugleich stieg auch der Schuldenstand des Staates. Dies fu¨hrte insbesondere durch die Milliardenlasten, die mit der Wiedergewinnung der deutschen Einheit 1990 aufgeha¨uft wurden, in eine Krisensituation, der mit strikter Ausgabendisziplin begegnet werden sollte (Ritter 2006). Die 2008 ausgebrochene Weltfinanzkrise und die daraus erwachsenen Anforderungen an das staatliche Handeln stellen das Konsolidierungsziel der Staatsfinanzen allerdings wieder in Frage und erst im neuen Jahrtausend gelang erneut eine Begrenzung des Schuldenzuwachses.
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Wohlstand fjr alle
Gesetz zur Entwicklung und Stabilitot
Bundesbank
Weltfinanzkrise
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Fragen und Anregungen • Versuchen Sie sich einmal in die Situation eines gutsabha¨ngigen ostelbischen Hintersassen des 18. Jahrhunderts zu versetzen. Welche Motivation zu versta¨rkten Anstrengungen und Eigeninitiativen scheint Ihnen dabei gegeben? • Welche konkrete Bedeutung hatte der Satz „Nach dem Martinstage 1810 gibt es nur freie Leute“, der sich im beru¨hmten Oktoberedikt von 1807 findet? • Wenn man die o¨konomischen Krisen der Weimarer Republik bedenkt (Inflation, Reparationen, Depression) so verwundert es einigermaßen, dass man diese Epoche mit dem Aufbau eine Wohlfahrtsstaates in Beziehung setzt. Inwiefern stimmt dies und worin bestehen Unterschiede im Vergleich zur Bundesrepublik?
Lektjreempfehlungen rbersichten
• Rudolf Boch: Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert (Enzyklopa¨die deutscher Geschichte 70), Mu¨nchen 2004. Umfassende Darstellung der Rolle des Staates in der deutschen Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. • William O. Henderson: The State and the Industrial Revolution in Prussia 1740–1870, Liverpool 1967. Bewertung der staatlichen Gewerbe- und Technologiepolitik fu¨r die wirtschaftliche Entwicklung Preußens. • Hans-Peter Ullmann: Der deutsche Steuerstaat. Geschichte der o¨ffentlichen Finanzen vom 18. Jahrhundert bis heute, Mu¨nchen 2005. Hervorragende, ausfu¨hrliche Darstellung der Grundlinien der deutschen Finanzpolitik seit dem 18. Jahrhundert.
Forschung
• Eric D. Brose: The Politics of Technical Change in Prussia. Out of the Shadows of Antiquity 1809–1848, Princeton 1993. Kritische Darstellung der Bedeutung technischer Experten und der Staatsbeamten fu¨r die Fo¨rderung der technologischen Entwicklung in Preußen.
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FR AG EN UND LE K TrR E E MPFEH LUN GEN
• Karl Heinrich Kaufhold: Preußische Staatswirtschaft – Konzept und Realita¨t 1640–1806. Zum Gedenken an Wilhelm Freue, in: Jahrbuch fu¨r Wirtschaftsgeschichte, 1994 / 2, S. 33–70. Positive Wu¨rdigung der staatlichen Gewerbepolitik fu¨r die Industrialisierung Preußens. • Richard H. Tilly: Die politische mkonomie der Finanzpolitik und die Industrialisierung Preußens, 1815–1866, in: ders., Kapital, Staat und Sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 41), Go¨ttingen 1980, S. 55–64. Kritische Wu¨rdigung der preußischen Industrialisierungspolitik im fru¨hen 19. Jahrhundert. • Wolfram Fischer: Deutschland 1850–1914, in: ders. (Hg.), Handbuch der europa¨ischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 5, Stuttgart 1985, S. 357–442, insbesondere S. 425–442. • Friedrich Wilhelm Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Band 2: Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert, Paderborn 1996, S. 267–282, S. 618–634 und S. 1080–1094. mbersicht u¨ber die o¨ffentlichen Finanzen im 19. Jahrhundert. • Eckart Schremmer: Die Wirtschaftsordnungen 1800–1970; Wolfgang Zorn: Staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik und o¨ffentliche Finanzen, in: Hermann Aubin / Wolfgang Zorn (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 2, Stuttgart 1976, S. 122–147; 148–197.
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Handbjcher / Lexika
14 Die Zukunft der modernen Volkswirtschaft
Abbildung 35: Schwarzer Freitag an der Wall Street (1929)
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DIE Z UKU NFT D E R M ODE RN E N VOL KSW IRT SCH AF T
Am Donnerstag, den 24. Oktober 1929, begann an der New Yorker Bo¨rse in der Wall Street ein Kurssturz, in dessen Verlauf die amerikanischen Standardwerte etwa 90 % ihres Wertes verloren. Am folgenden „Schwarzen Freitag“ brachen auch in Europa die Kurse ein, die bereits kra¨nkelnde Weltwirtschaft stu¨rzte in die Weltwirtschaftskrise. Vorausgegangen war eine gewaltige Aktienspekulation in den USA mit einer nach herko¨mmlichen Kriterien grotesken mberbewertung der Aktien. Zahlreiche Wertpapiere waren in der Hoffnung auf weitere Kurssteigerungen auf Kredit gekauft worden und weite Teile der Bevo¨lkerung bis hin zu den sprichwo¨rtlichen „Witwen und Waisen“ hatten sich an diesem Spiel beteiligt. Nur ein Windstoß war no¨tig, um dieses Kartenhaus zum Einsturz zu bringen, und dieser blies im Oktober 1929, als eine leichte Verscha¨rfung der Geldpolitik die Erwartung der Anleger in einen weiteren Bo¨rsenaufschwung in Zweifel umschlagen ließ. In Panik versuchte nun jeder seine Aktien zu verkaufen, die plo¨tzlich niemand mehr haben wollte. Empo¨rte Anleger stro¨mten zur Wall Street und belagerten dort das Geba¨ude der Bo¨rse, um Neuigkeiten zu erhaschen oder ihre Papiere noch einigermaßen gu¨nstig losschlagen zu ko¨nnen. Die moderne Volkswirtschaft hat seit ihrer Entstehung immer wieder mit solchen Spekulationskrisen zu ka¨mpfen, weil ihr Zustand eben nicht stabil und statisch ist, sondern dynamisch und instabil. Der wirtschaftliche Fortschritt beruht auf immer wieder auftretenden Neuerungen, die neue Gewinnchancen ero¨ffnen und zu Spekulationen Anlass geben. Diesen destabilisierenden Prozess gilt es hier nachzuzeichnen und damit zugleich die Frage zu verbinden, ob solche regelma¨ßig auftretenden Krisen des kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Systems zu einer derartig großen Instabilita¨t fu¨hren ko¨nnen, dass das gesamte System vom Einsturz bedroht ist. Ist die seit mehr als zwei Jahrhunderten wa¨hrende Phase industriewirtschaftlichen Wachstums weiter fortzusetzen? Ist in einer endlichen Welt unendliches Wachstum denkbar, und welche Funktionen haben die sich regelma¨ßig wiederholenden Krisen innerhalb des Systems? Diese Fragen sollen in diesem abschließenden Kapitel ero¨rtert werden. 14.1 Wirtschaftswachstum ohne Krisen? 14.2 Die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre 14.3 Die erste Krise des 21. Jahrhunderts 218
WIRTSC HA FTS WACH STUM O HN E K RI SE N?
14.1 Wirtschaftswachstum ohne Krisen? Dass die Entwicklung der modernen Volkswirtschaft mit der Hypothek eines endlichen Wachstums behaftet sei, ist keine Erkenntnis der neuesten Zeit. Schon die Begru¨nder der modernen Volkswirtschaftslehre hatten Zweifel an der Nachhaltigkeit des neu entstehenden Wirtschaftssystems. Thomas Robert Malthus schrieb bereits am Ende des 18. Jahrhunderts u¨ber das Problem einer permanenten Verarmung der Masse der Bevo¨lkerung, und auch sein noch bedeutenderer Freund David Ricardo erwartete einen stagnierenden Endzustand der kapitalistischen Entwicklung. Karl Marx sah die Grenze einer kapitalistischen Akkumulation in der Logik des Kapitalismus selbst begru¨ndet und brachte dies in seinem beru¨hmt gewordenen „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“ zum Ausdruck, nach dem ein stetig wachsender Kapitalstock einer immer relativ geringeren Endnachfrage gegenu¨ber stehe, sodass schließlich die Profitrate auf Null gedru¨ckt werde und damit der Wachstumsprozess zum Stillstand komme (Marx 1979). An Krisenpropheten besteht also seit Anbeginn der modernen Volkswirtschaft kein Mangel und das bleibt bis heute so (Streek 2013). Die wichtige Erkenntnis u¨ber die latente Instabilita¨t der modernen Volkswirtschaft ist in den letzten Dekaden unter den meisten }konomen offenbar verloren gegangen. So zitiert der Wirtschaftsnobelpreistra¨ger von 2008, Paul Krugman, mit offensichtlichem Vergnu¨gen seinen nicht minder renommierten Kollegen Robert Lucas mit einer ~ußerung aus dem Jahre 2003: „Das zentrale Problem der Depressionsvermeidung ist in jeder praktischen Hinsicht gelo¨st.“ (Krugman 2009, S. 17) Lucas glaubte offenbar, dass die zyklischen Auf- und Abschwu¨nge der Wirtschaftsta¨tigkeit, die kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystemen inha¨rent sind (> KAPITEL 11), insoweit geza¨hmt seien, dass ein langfristiges und stetiges Wirtschaftswachstum so gut wie gesichert sei. Die Erkenntnisse der makroo¨konomischen Theorie, ihrer Modelle und die daraus ableitbaren wirtschaftspolitischen Maßnahmen, sowie die entsprechenden institutionellen Vorkehrungen ha¨tten dazu gefu¨hrt, dass ausgedehnte und tief greifende Rezessionen der Vergangenheit angeho¨rten. Ben Bernanke, Vorsitzender des amerikanischen Notenbanksystems, besta¨rkte ihn in dieser Einscha¨tzung und ging ebenfalls davon aus, dass dank wirtschaftswissenschaftlichen Forscherfleißes die Probleme der Konjunktur unter Kontrolle seien. Allenfalls seien noch kleine Unpa¨sslichkeiten, aber keine Krisen der modernen Volkswirtschaft zu erwarten (Krugman 2009, S. 18). 219
Krisenpropheten
Mangelndes Krisenbewusstsein
Wachstum langfristig gesichert
DIE Z UKU NFT D E R M ODE RN E N VOL KSW IRT SCH AF T
Krisen als notwendiger Bestandteil
Gemeinsamkeiten von Spekulationskrisen
Kritische Stimmen von }konomen, die einer solchen Verengung des Gesichtskreises widerstanden und der Untersuchung historischer Wirtschaftskrisen gebu¨hrende Aufmerksamkeit zukommen ließen, wurden lange Zeit nicht geho¨rt (Kindleberger 2001). So kommt John Kenneth Galbraith, einer der herausragenden }konomen des 20. Jahrhunderts, zu einer ga¨nzlich anderen Einscha¨tzung der Stabilita¨t kapitalistischer Entwicklung. Er behauptet in bewusstem Widerspruch zu herrschenden o¨konomischen Lehrmeinungen, dass freie Marktwirtschaften den Keim zu immer wiederkehrenden Zersto¨rungen in sich tragen, dass Krisen also ein unentrinnbares Schicksal der kapitalistischen Entwicklung bilden (Galbraith 1992). Und Hyman Minsky hat 1986 mit Stabilizing an Unstable Economy ein Buch vero¨ffentlicht – offenbar zur Unzeit, denn es blieb damals weitgehend unbeachtet – in dem er auf unvermeidliche Instabilita¨t kapitalistischmarktwirtschaftlicher Systeme hinwies. Der langfristige Aufschwung der Weltwirtschaft schien ihn damals zu widerlegen. Inzwischen hat sein Werk wieder erstaunliche Aktualita¨t erhalten, denn es versucht zu erkla¨ren, warum es immer wieder zu Spekulationsblasen kommt, wann Euphorie in Panik umschla¨gt und wann ein Finanzsystem praktisch bankrott ist. Mynski argumentiert, dass Finanzma¨rkte nach anderen Regeln als normale Gu¨terma¨rkte funktionieren. Dort ko¨nnen sich daher spekulative Blasen einstellen, nach deren Zusammenbruch dann gravierende Auswirkungen in der Realwirtschaft auftreten ko¨nnen (Minsky 1986). In der Geschichte der modernen Volkswirtschaften lassen sich bis in die Gegenwart zahlreiche Beispiele fu¨r gewaltige Spekulationen und Marktzusammenbru¨che finden. (> KAPITEL 11.1) Ihnen allen scheinen jedoch Gemeinsamkeiten zu Eigen zu sein. Alle derartigen Entwicklungen beginnen mit einer Neuerung, einer zukunftstra¨chtigen Innovation – die sich langfristig durchaus erfolgreich bewa¨hren kann, bei ihrer Einfu¨hrung aber hinsichtlich ihres mo¨glichen Gescha¨ftserfolges zu positiv bewertet wird. Das machen sich einige Marktteilnehmer zu Nutze, die beginnen, aus dem Handel mit positiven Erwartungen ein Gescha¨ft zu machen, sie beginnen zu spekulieren. Die Wertsteigerung der den Erwartungen unterlegten Wertpapiere muss allerdings an Grenzen stoßen, weil ja die Rendite des urspru¨nglich betriebenen Kerngescha¨fts dieser Entwicklung nicht folgt. Wenn diese Erkenntnis sich durchsetzt, ist die Krise da und die Kurse stu¨rzen plo¨tzlich in die Tiefe, weil jeder Spekulant sich mo¨glichst schnell noch zu gu¨nstigen Kursen von seinen Papieren trennen mo¨chte (Pierenkemper 2011). 220
D IE WE LT WIRTSCH AF TSK RI SE D E R 1 930 E R- JA HR E
Diese Prozesse beschra¨nken sich im Wesentlichen auf die Finanzspha¨re einer Wirtschaft und bewirken lediglich eine Umverteilung von Vermo¨gen zwischen in der Regel reichen Personen. Ob sie auch eine Wirkung in der sogenannten Realwirtschaft haben, ha¨ngt von einer Reihe von Faktoren ab. Dazu za¨hlen das Maß der Integration der Finanz- und Realwirtschaft, der Umfang der Vermo¨gensumverteilung, die Tiefe der Spekulation, d. h. wie weit sie in der Bevo¨lkerung verbreitet war, und nicht zuletzt der Zustand der Realwirtschaft, ob sich diese also in einer Phase der Prosperita¨t befindet oder bereits im Abschwung.
Betroffenheit der Realwirtschaft
14.2 Die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre Dass eine Systemkrise kapitalistischer Marktwirtschaften mo¨glich ist und welche verheerenden Folgen daraus resultieren ko¨nnen, haben die 1930er-Jahre gelehrt. Die Große Depression in den USA von 1929 bis 1936 fu¨hrte dabei zum gravierendsten Einbruch der Wirtschaftsta¨tigkeit in zahlreichen Industriela¨ndern wa¨hrend des 20. Jahrhunderts. Insbesondere die Volkswirtschaften der USA und Deutschland hatten unter den Folgen dieser Krise besonders zu leiden: Dauer, Tiefe und Ausbreitung waren einmalig. Ihren Ausgangspunkt nahm die Krise in einer enormen Aktienhausse in den USA (Galbraith 1963). 1929 erlebte die US-amerikanische Wirtschaft ein gutes Jahr und man sah mit großem Optimismus in die Zukunft. Die Gescha¨fte liefen gut, teilweise sogar zu gut, wie ein Grundstu¨cksboom in Florida bereits 1925 deutlich gemacht hatte, als – durch z. T. betru¨gerische Praktiken befeuert – eine erste Spekulationswelle Amerika erfasste. Galbraith verweist auf Charles Ponzi aus Boston, der wesentlich an dieser Spekulation beteiligt war und derartigen Booms seitdem einen Namen gibt („Ponzi-System“) (Galbraith 1992, S. 66). Der Zusammenbruch dieses Marktes hatte nur lokale Bedeutung, la¨sst sich aber als ein erstes Anzeichen einer um sich greifenden Spekulationsbereitschaft interpretieren. Diese griff denn auch auf den Aktienmarkt u¨ber und fu¨hrte seit 1927 dort zu einem stetigen Aufschwung der Kurse. Unterstu¨tzt wurde diese Entwicklung durch geringe Zinssa¨tze des Zentralbanksystems, sodass das Jahr 1928 bereits Ansa¨tze eines „Spekulationstaumels“ (Galbraith 1963, S. 37) zeigte. Nicht nur individuelle Spekulanten erkannten die Gewinnchancen, auch die Banken organisierten das Gescha¨ft in großem Stil. Sie gru¨ndeten Investmentgesellschaften, die
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Große Depression
Grundstjcksboom in Florida
Investmentgesellschaften
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„Schwarzer Freitag“
Kredite aufnahmen, damit Wertpapiere kauften und aus den Verkaufserlo¨sen dann wiederum neuen Aktien kauften. Ganze Kaskaden solcher Kettengescha¨fte wurden vollzogen und damit eine Verschuldungspyramide aufgebaut, deren Zusammenbruch verheerende Folgen haben musste. Doch diese Furcht schien zuna¨chst nicht zu bestehen; Galbraith kann den zeitgeno¨ssischen }konomen Irving Fisher von der Yale Universita¨t im Herbst 1929 mit dem Satz zitieren, die „Aktienkurse haben, wie es aussieht, ein dauerhaft hohes Niveau erreicht“ (Fisher 1929 in: Galbraith 1992, S. 71). Im September 1929 schien sich das Blatt jedoch zu wenden, und am Montag den 21. Oktober begann der Absturz, der am Donnerstag, den 24. Oktober – in Europa wegen Zeitverschiebung erst am na¨chsten Tag als „Schwarzer Freitag“ wahrgenommen – seinen ersten tragischen Ho¨hepunkt erlebte. Die Lage spitzte sich dramatisch zu, eine Bo¨rsenpanik griff um sich und es gelang trotz vielfa¨ltiger Bemu¨hungen nicht, die Lage zu stabilisieren. Der Kursverfall setzte sich in der folgenden Woche fort und am 29. Oktober 1929 erlebte die New Yorker Bo¨rse ihren bis dahin schlimmsten Tag (> ABBILDUNG 36).
Abbildung 36: Amerikanischer Aktienmarkt in der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre (Kiehling 2000, S. 120)
Internationale Verkopplung
Das gravierende Problem mit dem Aktienboom und dem Zusammenbruch der Spekulation in den USA war, dass sich daraus eine schwerwiegende Depression der US-Wirtschaft entwickelte und dass diese wegen der internationalen Verkopplung der Wirtschaft auch 222
DIE WE LT WIRTSCH AF TSK RI SE D E R 1 930 E R- JA HR E
auf andere Volkswirtschaften ausstrahlte. Die Folgen betrafen also nicht nur die Reichen und deren Vermo¨gensverteilung, sondern die gesamte Volkswirtschaft und somit auch den ,kleinen Mann‘. Das lag daran, dass sich die amerikanische Wirtschaft im Herbst 1929 in einem deutlichen konjunkturellen Abschwung befand, was in der Entwicklung der industriellen Produktion ablesbar war und zu einer Reduzierung von Einkommen und Bescha¨ftigung fu¨hrte. Dies war gewiss nicht der eigentliche Anlass fu¨r das Platzen der Aktienblase, verscha¨rfte aber dessen Wirkung auf die Realo¨konomie entscheidend. Anzeichen einer ungewo¨hnlichen Geld- und Kreditknappheit waren unu¨bersehbar und niemand war bereit oder in der Lage, neue Geldmittel in den Markt zu bringen. Das amerikanische Zentralbanksystem fiel als „lender of last resort“, als „Kreditgeber der letzten Zuflucht“ (Kindleberger 2001) aus; die Haltung der amerikanischen Notenbank, die sich in dieser Situation weigerte, durch eine expansive Geldpolitik weitere Liquidita¨t in die Ma¨rkte zu geben, wird von der Forschung als Hauptursache fu¨r die Ausweitung der Aktienkrise zu einer gravierenden Depression gesehen (Friedman / Schwartz 1963, S. 392). Auch eine „organisierte Unterstu¨tzung“ (Galbraith 1963, S. 151) durch die fu¨hrenden Bankha¨user konnte nur kurzfristig Entlastung bringen. Im Gegenteil, bald waren die Banken gezwungen, Wertpapiere aus dem eigenen Bestand zu verkaufen (Galbraith 1963, S. 167). Auch die Senkung des Diskontsatzes der Federal Reserve Bank von sechs auf fu¨nf Prozent mit dem Ziel, die Kreditversorgung der Wirtschaft zu erleichtern, konnte den Sturz der Kurse nicht mehr stoppen. Die Verkaufsordern u¨berstu¨rzten sich und viele Banken sahen sich gezwungen, auch gute Aktien unter Wert zu vera¨ußern. Die Wirkung der Baisse war verheerend. Nicht nur wird von zahlreichen Selbstmorden berichtet, auch Unterschlagungen erfolgten: Die „Depression bringt oft an den Tag, was Rechnungspru¨fer vergeblich suchen“ (Galbraith 1963, S. 192), weil nun Bilanztricks, die in normalen Zeiten verborgen blieben, offenbar wurden. Der allgemeine Glaube an freie Ma¨rkte, an das Laisser-faire in der Wirtschaft, schien schwer erschu¨ttert. Eine Untersuchung des Senatsausschuss fu¨r Bankwesen und Wa¨hrung deckte in den USA zudem gravierende Verfehlungen bei den Banken auf. Eine Konsequenz aus diesen Erkenntnissen bildete der Security Act von 1933 und der Security Exchange Act von 1934, mit dem eine Bo¨rsenaufsicht, die Security Exchange Commission (SEC) begru¨ndet wurde. Dem großen Krach an der Bo¨rse folgten die große Depression und der Versuch, deren schwerwiegende Folgen im „New Deal“ zu u¨ber223
Konjunktureller Abschwung
Rolle der Banken
Wirkung der Baisse
New Deal
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Depressionsspirale
Entwicklung in Deutschland
Wirtschafts- und Staatskrise
sffentliche Haushalte
winden, einem vom damaligen US-Pra¨sidenten Franklin D. Roosevelt initiierten Paket von Wirtschafts- und Sozialreformen, welches mit massiven staatlichen Subventionen die Konjunktur ankurbeln sollte (Krugman 2008, S. 67–90). Dies gelang nur sehr begrenzt, die Vereinigten Staaten verharrten in einer gedru¨ckten Lage. Die trostlose Zeit wa¨hrte etwa zehn Jahre und wurde erst in der Kriegskonjunktur des Zweiten Weltkriegs u¨berwunden. Das Sozialprodukt der USA sank bis 1933 um etwa ein Drittel, zumeist gab es im Jahresdurchschnitt mehr als 8 Millionen Arbeitslose, in der Spitze (1933) gar 13 Millionen. Die ungleiche Einkommensverteilung, die weite Verbreitung unserio¨ser Gescha¨ftspraktiken, ein labiles Bankwesen, Außenhandelsdefizite, ein unausgeglichener Staatshaushalt und manches mehr hatten zu dem betru¨blichen Zustand der amerikanischen Wirtschaft beigetragen, die durch den Aktiencrash in eine Depressionsspirale hineingetrieben worden war. Die Lage war in Deutschland nicht viel besser als in den USA. Hier hatte der Erste Weltkrieg die Wirtschaft entscheidend geschwa¨cht und die Hyperinflation des Jahres 1923, in der die finanziellen Kriegslasten auf Kosten der Staatsgla¨ubiger reguliert worden waren, hatte weitere Verwerfungen hervorgebracht. Reparationsverpflichtungen fu¨hrten zu zusa¨tzlichen Belastungen, denen sich die deutsche Wirtschaft nur durch erho¨hte Rationalisierungsanstrengungen, verbunden mit einer extremen Verschuldung im Ausland, entgegen stellen konnte. Dies wurde ihr nach 1929 zum Verha¨ngnis, als der Zufluss von Liquidita¨t aus dem Ausland zum Erliegen kam, ja sogar Kredite geku¨ndigt wurden und Mittel wieder abflossen. Eine Wirtschafts- und Staatskrise war die Folge, die die Wirtschaft in eine schwere Depression zwang und die in der Bankenkrise von 1931 einen Ho¨hepunkt fand. Massenarbeitslosigkeit, sinkendes Sozialprodukt und Verarmung weiter Bevo¨lkerungskreise waren die Folge. Doch noch ein weiterer Problemkomplex spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle, na¨mlich die Lage der o¨ffentlichen Haushalte. Die Gebietsko¨rperschaften, Sta¨dte und Gemeinden, die La¨nder und auch das Reich hatten in den vorausgegangenen Jahren u¨ber ihre Verha¨ltnisse gelebt und Schulden gemacht. Diese wirkten nun in der Krise angesichts sinkender Einnahmen und fehlender Kreditmo¨glichkeiten prozyklisch auf den Konjunkturverlauf und verschlechterten die desastro¨se Lage weiter. Offensichtlich wurden in der Zwangslage der Weimarer Republik von nahezu allen Beteiligten schwere Fehler gemacht, die mitverantwortlich fu¨r die tiefe Depression waren, in die die deutsche Volkswirtschaft zu Beginn der 1930er-Jahre fiel. Es fa¨llt 224
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allerdings schwer zu zeigen, wie denn diese Fehler unter den Bedingungen der Zeit ha¨tten verhindert werden ko¨nnen. Dass daraus ein Scheitern der Weimarer Republik und die „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten folgte, war keine zwangsla¨ufige Konsequenz des Krisenszenarios, befo¨rdert hat es diese tragische Entwicklung jedoch zweifellos (Borchardt 1979).
14.3 Die erste Krise des 21. Jahrhunderts Der erfolgreiche Ausbau einer globalisierten Weltwirtschaft (> KAPIhat zur außerordentlichen Expansion des Wohlstandes wa¨hrend der letzten Dekaden beigetragen. Ist dieser Wohlstand angesichts der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009 als der ersten Krise im jungen 21. Jahrhundert nunmehr bedroht und droht die Weltwirtschaft, der Zwischenkriegszeit gleich, wieder zu zerfallen? Noch im Sommer des Jahres 2008 waren sich die Experten einig: ein konjunktureller Abschwung der deutschen Wirtschaft war nicht absehbar, eine gravierende Wirtschaftskrise ga¨nzlich unvorstellbar. „Der Aufschwung in Deutschland ha¨lt an, nur der Schwung la¨sst etwas nach“, so la¨sst sich Axel Weber, der Pra¨sident der Deutschen Bundesbank am 1. Mai 2008 zitieren, und auch Hans-Werner Sinn, }konomieprofessor und Pra¨sident des ifo-Instituts fu¨r Wirtschaftsforschung in Mu¨nchen a¨ußerte sich hinsichtlich der Aussichten fu¨r das Jahr 2008 optimistisch: „Eine Rezession steht nicht an.“ (Nienhaus / Siedenbiedel 2009). Es kam jedoch alles ganz anders, Fragen am Ende des Jahres 2009 lauteten „Ist es schon so schlimm wie im Jahr 1929?“ (Abelshauser 2008) oder „War 2008 das neue 1931?“ (Ritschl 2009). Wie konnte das alles geschehen, obwohl doch warnende Stimmen beizeiten zu ho¨ren waren? Bereits im Jahr 2000 schrieb der Yale}konom Robert Shiller ein Buch, in dem er vor dem Platzen der New-Economy-Blase warnte, und bei der Neuauflage des Buches im Jahr 2005 (deutsch 2008) konnte er sich in einem neuen Kapitel der sich mittlerweile in den USA aufgebauten Immobilienblase widmen (Shiller 2000; Shiller 2008). Um die Problematik auf dem amerikanischen Immobilienmarkt besser analysieren zu ko¨nnen, wurde sogar ein eigener Index der Immobilienpreise entwickelt (Case / Shiller 2003) (> ABBILDUNG 37). Auch blieb Shiller nicht der einzige, der vor dem drohenden Zusammenbruch der Immobilienma¨rkte und der daraus folgenden Finanz- und Wirtschaftskrise warnte. Der amerikaniTEL 12)
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Falsche Vorhersagen
Warnende Stimmen
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Deutschland 2009
Beginn der Krise
Subprimes
sche }konom Nouriel Roubini z. B. trat ihm an die Seite (Roubini 2006), wurde jedoch im Jahr 2006 fu¨r seine Prognosen noch ausgelacht (Bernau 2008). Inzwischen hat sich das Blatt gewendet und jene }konomen stehen am Pranger, die wie der eingangs erwa¨hnte Robert Lucas noch vor wenigen Jahren vollmundig das Ende aller Wirtschaftskrisen verku¨ndeten. So war die Lage in Deutschland im Sommer 2009 gekennzeichnet durch einen gewaltigen Ru¨ckgang der Auftragseinga¨nge in der Industrie, einem daraus folgenden Einbruch der Industrieproduktion und von einem drohenden Anstieg der Arbeitslosigkeit. Viele Unternehmen standen am Rande des Bankrotts, zahlreiche Banken waren ebenfalls in ihrer Existenz gefa¨hrdet und wurden nur durch umfangreiche staatliche Unterstu¨tzung am Leben gehalten, obwohl ihnen seitens der Zentralbanken nahezu kostenlos umfangreiche Liquidita¨t zur Verfu¨gung gestellt wurde. Begonnen hat die Geschichte der Finanzkrise in den Vereinigten Staaten, wo angesichts deutlich steigender Ha¨userpreise die Banken dazu u¨bergingen, Hauska¨ufe mit mehr als 100 % ihres Wertes zu finanzieren. Damit war es als Ka¨ufer mo¨glich, durch den Kauf eines Hauses zugleich Geld fu¨r zusa¨tzliche Ausgaben zu erhalten. Die Tilgung der Schulden schien durch steigende Ha¨userpreise beim Wiederverkauf quasi automatisch zu erfolgen. Das lockte zusa¨tzliche Ka¨ufer in den Markt, weil diese bei weiter steigenden Ha¨userpreisen mit hohem Profit rechnen konnten. Dazu war weder Eigenkapital no¨tig, noch schien damit ein Risiko verbunden, da nach US-amerikanischem Recht zwar das Objekt an den Gla¨ubiger fa¨llt, falls der Schuldner den Hypothekenkredit nicht erfu¨llen kann, dieser jedoch jeder weiteren Verpflichtung ledig ist. Diese Rechtskonstruktion setzte auch fu¨r Hausbesitzer Anreize, bei steigenden Ha¨userpreisen neue Hypotheken auf ihre Ha¨user aufzunehmen, um so zusa¨tzlichen Konsum zu finanzieren. Hinzu kamen die Wirkungen des Community Reinvestment Act (RCA) von 1977, welcher urspru¨nglich der Sanierung von Slums und deren zuku¨nftiger Vermeidung dienen sollte. In einer Novelle von 1995 wurde den Banken quasi die Pflicht auferlegt, ohne Bonita¨tspru¨fungen Hypothekenkredite an Bewohner in problematischen Wohnvierteln zu vergeben. Es entwickelte sich dadurch ein Markt mit Hypothekenkrediten geringer Bonita¨t, der sogenannte Subprime-Markt, der bis 2006 einen immer gro¨ßeren Anteil an den neu ausgegebenen Immobilienkrediten gewann (Sinn 2009, S. 121). Dies ging gut, solange die amerikanischen Zinsen auf einem extrem niedrigen Niveau verharrten und die Ha¨userpreise tatsa¨chlich 226
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stiegen. Als aber die Zinsen zu steigen begannen und die Ha¨userpreise fielen (> ABBILDUNG 37), zeigte es sich, dass viele Hypothekenschuldner ihren Kreditverpflichtungen nicht nachkommen konnten – die Subprime-Krise wurde zum Auslo¨ser einer weltweiten Finanzkrise.
Fallende Houserpreise
Abbildung 37: Preisentwicklung der US-Immobilien (Case-Shiller-Index) (Sinn 2009, S. 48)
Dies lag nicht zuletzt auch daran, dass die Banken mittlerweile ein neues Gescha¨ftsmodell entwickelt hatten, welches ihre Rentabilita¨t außerordentlich, bis auf mehr als 25 % pro Jahr, verbessert hatte. Die Erkenntnis, dass man durch die |bernahme und Diversifizierung von finanziellen Risiken ein Gescha¨ft machen, aber ebenfalls auch scheitern kann, geho¨rt zu den Existenzgru¨nden von Banken u¨berhaupt. Und auch die Tatsache, dass man durch die |bernahme sehr hoher Risiken und ihre Weiterleitung an die Anleger hohe Gewinne machen kann, ist keine neue Erkenntnis, wie ein Blick auf vergangene Wirtschaftskrisen zeigt. Heute sind es nur nicht mehr Optionen auf Tulpenzwiebeln in Holland wie weiland 1637, Anteile an Kolonialhandelsgesellschaften wie 1720 in Frankreich oder u¨beroptimistische und teilweise gar betru¨gerische Gru¨ndungen von Aktiengesellschaften wie 1871 / 72 in Deutschland (> KAPITEL 11.1), sondern strukturierte Kredite.
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Strukturierte Kredite
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CDOs
Toxische Papiere
Staatliche Hilfen
Kreditklemme der Banken
In den Risikomanagementabteilungen der Banken haben sich vor einiger Zeit Mathematiker daran begeben, die Risiken einzelner Kredite, d. h. ihre Ausfallwahrscheinlichkeit in komplexen Modellen genauer zu bestimmen. Dabei schien es ihnen angemessen, Kredite mit unterschiedlich hohem Ausfallrisiko zu mischen, diese in einem Fond zusammenzufassen und dann als nahezu todsichere Papiere an das Publikum weiterzureichen. Diese sogenannten CDOs (Collateralized Debt Obligations) ko¨nnen mit sehr unterschiedlichen Krediten unterlegt werden; natu¨rlich auch mit Subprime-Hypotheken, wie das in den USA geschehen ist. Das macht aber nur Sinn, wenn sie in Tranchen verpackt werden, in denen auch besser gesicherte Papiere enthalten sind, sodass ihr rating, also ihre durch sogenannte ratingAgenturen zugeschriebene Qualita¨t, und damit ihre Marktga¨ngigkeit deutlich verbessert wird. Werden solche Tranchen erneut mit anderen gemischt, oder geschieht dies gar mehrmals (Sinn 2009, S. 132–136), so entsteht ein gewaltiges Angebot an zinstragenden Papieren, deren Werthaltigkeit kaum noch zu u¨berblicken ist. Die Banken verdienten an all diesen Transaktionen pra¨chtig und brachten auf diese Weise hochriskante Papiere unter das Publikum, deren toxischer Gehalt sich erst spa¨t herausstellte. Zahlreiche Banken und Privatanleger fanden sich nach Abklingen des Booms in der Position, auf großen Besta¨nden derartiger „Ramschpapiere“ zu sitzen. Gerade die US-Banken haben seit den 1990er-Jahren den Markt mit solchen Papieren u¨berschwemmt und nicht nur daran gut verdient, sondern entscheidend mit dazu beigetragen, die Verschuldung der amerikanischen Verbraucher und des US-amerikanischen Staates zu finanzieren. Diese Finanzanlagen sind weitgehend abzuschreiben, das dabei verlorene Geld fehlt an allen Ecken und Enden. Zahlreiche Banken befanden sich an der Grenze zur Zahlungsunfa¨higkeit und mussten durch gewaltige staatliche Hilfen unterstu¨tzt bzw. gerettet werden. Das deutsche Rettungspakt des Jahres 2009 belief sich auf 578 Milliarden Euro und war mit ca. 14 % das zweitgro¨ßte nach den USA (32 %) an der weltweit bereitgestellten Gesamtsumme von u¨ber vier Billionen Euro (Sinn 2009, S. 212). Diese Summe stellt allerdings keine echten Ausgaben des Staates dar, sondern umfasst vor allem Bu¨rgschaften, mit denen der Staat mo¨glicherweise sogar noch ein gutes Gescha¨ft machen kann. Die Kreditklemme der Banken, deren Kapitalausstattung aufgrund des sinkenden Werts ihrer Forderungen stark schmolz, fu¨hrte dazu, dass diese keine neuen Kredite ausgeben konnten oder wollten. Dies brachte auch zahlreiche Unternehmen der Realwirtschaft in Bedra¨ngnis. So strahlte die Krise der Finanzwirtschaft in die Realwirtschaft aus und 228
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machte kostspielige Konjunkturprogramme zur Stu¨tzung der Wirtschaft no¨tig. Die aufgelegten Konjunkturprogramme der G-20-Staaten – einem Forum der Finanzminister und Zentralbank-Pra¨sidenten der fu¨hrenden Wirtschaftsnationen – in Ho¨he von u¨ber einer Billion Euro fu¨hrten in jedem Falle zu einer wachsenden Staatsverschuldung, deren Abbau durch Steuererho¨hung oder Hinnahme einer erho¨hten Inflationsrate die Volkswirtschaften belastet. Natu¨rlich waren nicht alle Volkswirtschaften in Europa in gleicher Weise in der Lage, die auftretenden Lasten der Krise zu bewa¨ltigen. Hier war durch die Einfu¨hrung einer gemeinsamen Wa¨hrung zu Beginn des neuen Jahrtausends ein einheitlicher Wa¨hrungsraum entstanden, in dem die Mitgliedsla¨nder zwar wa¨hrungspolitisch, nicht jedoch finanzpolitisch miteinander verbunden waren (Sarrazin 1997). Die gemeinsame Wa¨hrung bescherte einer Reihe von La¨nder bis dahin ungewohnt niedrige Zinssa¨tze, die diese dazu verleiteten ihre Staatsausgaben kreditfinanziert in einem Umfang auszuweiten, der allenfalls bei dauerhaft niedrigem Zinsniveau zu finanzieren gewesen wa¨re. Als nun die Finanzkrise um sich griff und dramatisch steigende Zinssa¨tze die Folge waren, gerieten auch die Staatsfinanzen der Schuldnerla¨nder in Bedra¨ngnis. Hinzu kam, dass in zahlreichen La¨ndern nun auch deren international engagierte Banken in Not gerieten und ein Kollaps des gesamten Banken- und Finanzsystems drohte. Die Staaten waren mehr oder weniger gezwungen, ihre Banken zu „retten“ und dazu weitere Schulden aufzunehmen (Sarrazin 2012). Die Finanzkrise wuchs sich zu einer Staatsschuldenkrise aus und die Europa¨ische Zentralbank (EZB) trat als „lender of last resort“ auf den Plan und organisierte diverse Rettungsaktionen um die vom Staatsbankrott bedrohten La¨nder zu schu¨tzen. Damit hatte die EZB die Probleme keinesfalls gelo¨st, aber doch Zeit gewonnen, um den betroffenen Staaten Gelegenheit zu schaffen, durch umfangreiche Reformen die Misssta¨nde zu beheben. Wie das geschehen soll und wer welche Lasten und Kosten dafu¨r zu tragen hat, wird gegenwa¨rtig (2015) von den betroffenen Staaten heftig und kontrovers diskutiert. War dieses alles nicht absehbar und das Elend unvermeidlich? Hier la¨sst sich wieder auf das oben dargelegte Szenario einer Spekulation verweisen. Es ist durchaus rational, sich an einer Spekulation auch mit CDOs zu beteiligen. Und auch Staaten nutzen die Chancen des Marktes und machen eher stelten eine rationale (Wirtschafts-)Politik. Mit Warnungen verdient man eben kein Geld, wie Robert Shiller selbst in einem Interview resignierend feststellte (Bernau / Germis 2008). Gary Becker, }konomie-Nobelpreistra¨ger von 1992, gibt eine einfache und ein229
Gemeinsame europoische Wohrung
War die Krise vermeidbar?
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„Ewiges“ Wachstum?
Aus der Geschichte lernen
leuchtende andere Antwort: Die Menschen hatten andere Sorgen als die Zukunft des Finanzsystems, die Vogelgrippe fu¨hrte 2004 weltweit zur Hysterie, der }lpreis sprang auf ein historisches Hoch von fast 150 Dollar pro Fass, der Dollar-Kurs schien angesichts des enormen Leistungsbilanzdefizits der USA vom Absturz bedroht und vieles andere mehr. Schließlich kann auch auf die Kurzfristigkeit des Erinnerungsvermo¨gens der Menschen verwiesen werden, denen Krisenerfahrungen ga¨nzlich abhanden gekommen zu sein scheinen, wie der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger bemerkte (Matussek / Brauck 2008). Dynamik geho¨rt eben zum Betriebssystem des Kapitalismus, ein Verzicht darauf fu¨hrt zu Wachstumsverlusten. Daher wird man in einer wachsenden Wirtschaft immer wieder mit solchen Krisen rechnen mu¨ssen. Diesem kapitalistisch gesteuerten Wachstumsprozess verdanken wir aber eine u¨ber mehr als zwei Jahrhunderte andauernde einzigartige Wohlstandssteigerung (> KAPITEL 2). Ob und wie lange dieser Wachstumsprozess allerdings anhalten kann, ist eine offene Frage. An Untergangsszenarien herrscht seit den Zeiten von Karl Marx kein Mangel. Noch 1972 wurde der Wirtschaft der westlichen Welt ein baldiger Untergang wegen |berbevo¨lkerung, Verschmutzung und Ressourcenmangel vorausgesagt (Maedows 1972), und eine reiche Literatur zu Nachhaltigkeit und Qualita¨t des Wachstumsprozesses wird bis heute produziert. Dem stetigen Wirtschaftswachstum hat das wenig geschadet, das kapitalistische Wirtschaftssystem hat sich bis in die Gegenwart als außerordentlich flexibel erwiesen. Nebenbei ist sogar einem alternativ ausgestalteten Wirtschaftssystem – der Planwirtschaft – im Systemwettbewerb die Luft ausgegangen. Ob dieser Prozess ,ewig‘ anhalten kann ist eine irrelevante Frage, denn dass in einer endlichen Welt unendliches Wachstum nicht mo¨glich ist, stellt eine logisch zwingende Erkenntnis dar. Das mag Philosophen bescha¨ftigen – fu¨r }konomen gilt es, die Grenzen des Wachstums zu bemessen, und diese sind in einem absehbaren Zeitraum nicht zu erkennen. Die Zukunft bleibt jedoch ungewiss und problematisch, nicht weniger als die Gegenwart, und es bleibt die berechtigte Hoffnung, dass die Kreativita¨t des Menschen ausreicht, die zuku¨nftigen Probleme zu beherrschen. Bis dahin bietet einen ga¨nzlichen Schutz vor Krisen nur die Abschaffung des Kapitalismus – ein Preis, der zu hoch erscheint. Allerdings sollte man die Fehler der Vergangenheit nicht immer neu begehen: wer aus der Geschichte nicht lernt, ist verdammt sie zu wiederholen. Nicht zu Unrecht werden gegenwa¨rtig die vier Wo¨rter „this time is different“ als die kostspieligsten der englischen Sprache bezeichnet. 230
FR AG EN UND LE K TrR E E MPFEH LUN GEN
Fragen und Anregungen • Glauben Sie, dass es heute noch sinnvoll ist, sich mit historischen Wirtschaftskrisen wie der Tulpenspekulation von 1637 in den Niederlanden oder dem Aktienboom in den USA in den spa¨ten 1930er-Jahren zu befassen? • Die Große Depression der 1930er-Jahre bildet bis heute eine traumatische Erfahrung fu¨r zahlreiche Volkswirtschaften. Hat es damals besondere Gru¨nde gegeben, dass eine Wirtschaftskrise derartige Ausmaße annehmen konnte? • Worin unterscheidet sich die schwere internationale Wirtschaftskrise 2008 / 09 von der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren und gibt es Anlass zu vermuten, dass diese die letzte derartige Systemkrise bleiben wird?
Lektjreempfehlungen • Charles P. Kindleberger: Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939, Mu¨nchen 1973. Grundlegende klassische Darstellung u¨ber die große Depression im internationalen Kontext.
rbersichten
• Hans-Werner Sinn: Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist, Frankfurt a. M. 2009 Ausfu¨hrliche Analyse der Wirtschaftskrise 2008 / 09 mit Bewertung der politischen Stabilisierungs- und Restrukturierungsmaßnahmen. • Peter Temin: Lessons from the Great Depression, Cambridge / Mass. 1989. Neueres Standardwerk zur großen Depression und den daraus resultierenden Folgen fu¨r die internationale Politik.
Forschung
• Ben Bernanke: Essays on the Great Depression, Princeton 2000. Eine Auseinandersetzung neuester Art mit den Erfahrungen der großen Depression. • Werner Plumpe: Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart, Mu¨nchen 2010
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15 Serviceteil 15.1 Das Fach Wirtschaftsgeschichte und seine Institutionen Eine Darstellung der Entstehung der modernen Volkswirtschaft sollte in Begriffen und Kategorien erfolgen, die dem modernen o¨konomischen Denken entlehnt sind und die es zugleich erlauben, der Komplexita¨t der historischen Entwicklung im Bereich der Wirtschaft der letzten beiden Jahrhunderte gerecht zu werden. Insoweit ist sie – wie der vorliegende Band – zugleich eine Einfu¨hrung in Gegenstand und Methode der Wirtschaftsgeschichtsschreibung. Die Wirtschaftsgeschichte ist eine akademische Teildisziplin, die eine Bru¨ckenfunktion zwischen den Wirtschaftswissenschaften und den Geschichtswissenschaften wahrnimmt und sich der z. T. unterschiedlichen Methoden beider Disziplinen bedient. Es ist Aufgabe des Wirtschaftshistorikers, auch die Werkzeuge der modernen Wirtschaftswissenschaften systematisch auf die Analyse des (historischen) Wirtschaftsprozesses anzuwenden. Wenn es denn zutreffend ist, dass das „Denken in Modellen“ den Kern der Wirtschaftswissenschaften beschreibt, so muss der Wirtschaftshistoriker auch die Modelle und Kategorien der }konomik fu¨r die Entschlu¨sselung der Logik des Wirtschaftsprozesses zu Rate ziehen (Pierenkemper, 2012a). Gleichzeitig ist es no¨tig, auch der Komplexita¨t der historischen Realita¨t gerecht zu werden und die Abstraktion o¨konomischen Modelldenkens durch eine historische „Rekonstruktion von Komplexita¨t“ zu erga¨nzen. Der angemessene Zugang zum Gegenstand der Wirtschaftsgeschichte ist daher nicht unumstritten. Ein deskriptiv-historischer Ansatz steht neben einem sta¨rker analytisch-o¨konomischen Zugang. Beide Sichtweisen lassen sich begru¨nden, mu¨ssten aber idealer Weise zusammengefu¨hrt werden. • Toni Pierenkemper: Wirtschaftsgeschichte, in: Hans-Ju¨rgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, 3. revidierte und erweiterte Auflage, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 413–429. Versuch, die moderne Wirtschaftsgeschichte in ihrem Spannungsfeld zwischen o¨konomischem und historischem Zugang zu beschreiben. Es zeigt sich, dass das Fach im produktiven Spannungsfeld zwischen }konomie und Historie mit unterschiedlicher theoretisch-methodischer Orientierung operiert. 233
Wirtschaftsgeschichte zwischen skonomie und Historie
rberblicksartikel
SERVIC E TE IL
Theorie und Methode
• John Komlos / Scott Eddie (Hg.): Selected Cliometric Studies on German Economic History, Stuttgart 1997. Gibt einen Einblick in die Ansa¨tze der „New Economic History“. • Gu¨nther Schulz (Hg.): Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven, Stuttgart 2005. Hier steht die traditionell historiografische Vorgehensweise im Vordergrund.
Wirtschaftsgeschichte als akademische Disziplin
Zeitschriften
Wissenschaftliche Vereinigungen
Begru¨ndet wurde das Fach Wirtschaftsgeschichte als akademische Disziplin in Deutschland im Jahr 1919, als Bruno Kuske als erster eine spezifische „venia legendi“ (lateinisch: „Erlaubnis zu lesen“) erhielt. Kuske, der bereits seit 1912 als Privatdozent an der Handelshochschule in Ko¨ln ta¨tig gewesen war, wirkte ab 1919 an der im gleichen Jahr neu gegru¨ndeten Universita¨t zu Ko¨ln als Ordinarius fu¨r Wirtschaftsgeschichte. In den USA war bereits 1892 an der Harvard University der weltweit erste wirtschaftshistorische Lehrstuhl geschaffen und mit William J. Ashley besetzt worden. In Deutschland stand zu dieser Zeit noch die Historische Schule der Nationalo¨konomie in voller Blu¨te, die Geschichte als integralen, zentralen Gegenstand der Wirtschaftswissenschaften betrachtete, sodass es innerhalb der Volkswirtschaftslehre unno¨tig erschien, Geschichte besonders zu lehren. In den USA hatte sich dagegen, wie im gesamten angelsa¨chsischen Raum, bereits am Ende des 19. Jahrhunderts eine abstrakt-theoretisch argumentierende „economics“ von der empirisch-forschenden „economic history“ geschieden. Dieser Prozess vollzog sich in Deutschland erst nach der Jahrhundertwende, fu¨hrte dort zu betra¨chtlichen Kontroversen u¨ber Gegenstand und Methode der modernen Volkswirtschaftslehre und hielt fu¨r mehr als ein halbes Jahrhundert an. Die Spezialdisziplin Wirtschaftsgeschichte etablierte sich im Zuge einer sta¨rker theoretisch orientierten Volkswirtschaftslehre zu einem anerkannten akademischen Fach mit eigenen Lehrstu¨hlen, Lehrbu¨chern, wissenschaftlichen Zeitschriften und Gesellschaften. • Virtual Library. Deutsche Datenquellen zur Geschichte. Sektion: Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Web-Adresse: www.wiso.uni-koeln.de / wigesch / VL-DE / sites-lit.html. Ein mberblick u¨ber die fachrelevanten Zeitschriften la¨sst sich heute leicht u¨ber das Internet gewinnen. Die Gru¨ndung wissenschaftlicher Vereinigungen weist ebenfalls auf die Etablierung des Faches als einer wissenschaftlichen Disziplin hin. • International Economic History Association, Web-Adresse: www.uni-tuebingen.de / ieha. Bereits 1958 gegru¨ndete internationale wissenschaftliche Vereinigung des Faches. 234
ST UDIUM WIRTSCH AF TSGE SC HI CHT E
• Gesellschaft fu¨r Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Web-Adresse: www.gswg.net. Da der „International Economic History Association“ in Deutschland ein Ansprechpartner fehlte, gru¨ndete man 1961 diese deutsche Gesellschaft. • Wirtschaftshistorischer Ausschuss im Verein fu¨r Sozialpolitik, Web-Adresse: wisoge.uni-hohenheim.de / VfS. Zusammenschluss von Wirtschaftshistorikern im Rahmen der gro¨ßten wirtschaftswissenschaftlichen Vereinigung im deutschsprachigen Raum. Alle diese (und eine Reihe weiterer, sta¨rker spezialisierter) Vereinigungen entfalten bis heute lebhafte wissenschaftliche Aktivita¨ten. Ebenso organisieren sie zahlreiche wissenschaftliche Veranstaltungen, Tagungen u. a¨., in denen ein intensiver Austausch von Forschungsergebnissen auch u¨ber Landesgrenzen hinaus erfolgt. Mit der Etablierung von Lehrstu¨hlen an den Universita¨ten tat man sich in Deutschland zuna¨chst schwer. Der Bestallung Bruno Kuskes in Ko¨ln folgte lediglich noch diejenige Jakob Strieders in Mu¨nchen. Erst nach 1950 erlebte das Fach einen weiteren Ausbau.
Entwicklung des Faches
• Knut Borchardt: Wirtschaftsgeschichte. Wirtschaftswissenschaftliches Kernfach, Orchideenfach, Mauerblu¨mchen oder nichts von dem?, in: Hermann Kellenbenz / Hans Pohl (Hg.), Historia Socialis et Oeconomica. Festschrift fu¨r Wolfgang Zorn zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1987, S. 17–31. Berichtet ausfu¨hrlich u¨ber den Ausbau des Faches in der deutschen Universita¨tslandschaft seit 1950. Alles in allem stellt sich die Wirtschaftsgeschichte in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts als eine etablierte akademische Disziplin dar, mit einem wohl definierten Gegenstandsbereich an der Schnittstelle zwischen den Wirtschaftswissenschaften und den Geschichtswissenschaften. Sie verfu¨gt u¨ber eine eigensta¨ndige Methode, die das Denken in Modellen der }konomen mit der Technik der hermeneutischen Rekonstruktion von Komplexita¨t der Historiker verknu¨pft.
15.2 Studium Wirtschaftsgeschichte – allgemeine bibliografische Hilfsmittel • Virtual Library. Deutsche Datenquellen zur Geschichte. Sektion: Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Web-Adresse: www.wiso.uni-koeln.de / wigesch / VL-DE / sites-uni.html. Bietet
Studienorte
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eine mbersicht u¨ber die Universita¨ten im deutschsprachigen Raum, an denen heute das Studium der Wirtschaftsgeschichte mo¨glich ist.
Promotion
Die Wirtschaftsgeschichte ist z. T. in den wirtschaftswissenschaftlichen, z. T. aber auch in den philosophischen Fakulta¨ten angesiedelt, ein integrativer Studiengang existiert ebenso wenig wie ein separater Studiengang „Wirtschaftsgeschichte“; ein entsprechender Versuch auf Master-Ebene wird allerdings in Go¨ttingen unternommen. Eine Promotion im Fach ist problemlos an zahlreichen Universita¨ten mo¨glich, je nach Fakulta¨t als „Dr. rer. pol.“ oder „Dr. phil.“. In NordrheinWestfalen wurde der Versuch unternommen, eine Graduiertenschule in „Economic History“ zu begru¨nden, um ein strukturiertes Promotionsstudium auf internationalem Niveau zu gewa¨hrleisten. • N. W. Posthumus Instituut, Web-Adresse: www.rug.nl / posthumus / index. Vorbildliches Modell fu¨r eine solche Graduiertenschule, initiiert von niederla¨ndischen Wirtschaftshistorikern.
Einfjhrungen
• Ludwig Beutin: Einfu¨hrung in die Wirtschaftsgeschichte, Ko¨ln 1958. Bietet ganz traditionell einen ersten Eindruck u¨ber die Studieninhalte. • Gerold Ambrosius (Hg.): Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einfu¨hrung fu¨r Historiker und mkonomen, 2. u¨berarbeitete und erweiterte Auflage, Mu¨nchen 2006. Fokussiert sta¨rker auf interdisziplina¨re Ansa¨tze und Konzepte. • Christoph Buchheim: Einfu¨hrung in die Wirtschaftsgeschichte, Mu¨nchen 1997. • Toni Pierenkemper: Wirtschaftsgeschichte. Eine Einfu¨hrung – oder: Wie wir reich wurden, Mu¨nchen 2005. Beide Ba¨nde setzen als neuere Einfu¨hrungen eher thematische Schwerpunkte, die sich um Industrialisierung, Wirtschaftswachstum und Wohlstandmehrung ranken.
Integrative Darstellungen des historischen Stoffs
Neben diesen allgemeinen Einfu¨hrungen bieten natu¨rlich auch integrative Darstellungen, die den historischen Stoff umfassend und gegliedert darbieten, einen guten Zugang zur Entstehung und Entwicklung der modernen Wirtschaft. • Ju¨rgen Kuczynski: Allgemeine Wirtschafsgeschichte. Von der Urzeit bis zur sozialistischen Gesellschaft, Berlin 1949. Bezieht seine Ausfu¨hrungen in einer sehr langen Zeitperspektive stark auf marxistisches Gedankengut. 236
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• Friedrich Lu¨tge: Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1960. Nimmt eine liberal-marktwirtschaftliche Perspektive gegenu¨ber der Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahrhunderte ein. Daran haben sich zahlreiche weitere Versuche angeschlossen, die Fu¨lle des historischen Materials u¨ber die Entwicklung der modernen Volkswirtschaft in Form von Lehrbu¨chern zu erschließen.
Lehrbjcher
• Michael North (Hg.): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im lberblick, Mu¨nchen 2000. Neuerer Versuch zur Erfassung der wirtschaftlichen Entwicklung in einer langen Perspektive. • Hans Mottek: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß (3 Ba¨nde), Berlin (Ost) 1976. • Hermann Kellenbenz: Deutsche Wirtschaftsgeschichte (2 Ba¨nde), Mu¨nchen 1977. Zwei etwas a¨ltere, aber immer noch lohnende Arbeiten, die in einem gut lesbaren Stil die Geschichte der deutschen Wirtschaft seit ihren Anfa¨ngen bis in die 1970er-Jahre aus zwei unterschiedlichen Perspektiven beschreiben und interpretieren. Das Werk von Mottek ist eine marxistisch begru¨ndete Geschichtsschreibung aus der Zeit der DDR, das von Kellenbenz eine liberal-kapitalistisch fundierte aus der Bundesrepublik.
Geschichte der deutschen Wirtschaft
Weitaus ha¨ufiger als derart zeitlich weit zuru¨ckreichende la¨ngsschnittartige Darstellungen finden sich solche, die sich auf ku¨rzere Zeitra¨ume, insbesondere die Neuzeit bzw. die Industrielle Revolution beziehen.
Wirtschaftsgeschichten der Neuzeit
• Gustav Stolper u. a.: Deutsche Wirtschaft seit 1870, Tu¨bingen 1966. Der bekannte nkonom verfasste mit diesem Band eine Wirtschaftsgeschichte bis in die 1930er-Jahre, welche spa¨ter durch Karl Ha¨user und Knut Borchardt bis in die Nachkriegszeit fortgesetzt wurde. • Richard Tilly: Vom Zollverein zum Industriestaat. Die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands 1834 bis 1914, Mu¨nchen 1990. Komplexe Darstellung der Entwicklung der Wirtschaft in Deutschland in der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts. • Dieter Ziegler: Die Industrielle Revolution, Darmstadt 2005. Didaktisch gut aufbereitete Darstellung der Entwicklung der deutschen Wirtschaft wa¨hrend der Industriellen Revolution. 237
Industrielle Revolution
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International vergleichende Darstellungen
• Toni Pierenkemper: Umstrittene Revolutionen. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1996. Stellt die unterschiedlichen Industrialisierungsprozesse der wichtigsten europa¨ischen Staaten vor. • Sidney Pollard: Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe 1760–1970, Oxford 1981. Analysiert diesen Prozess ausgehend von den englischen Verha¨ltnissen. • Mark Spoerer und Jochen Streb: Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Mu¨nchen 2013.
Handbjcher
Internationale Standardwerke
In Handbu¨chern werden wichtige Themen des Faches vertiefend oder u¨berblicksartig dargestellt. • The Cambridge Economic History of Europe, hg. von John H. Clapham und Michael M. Postan, 8 Bde., Cambridge 1966–89. Erstes wirtschaftswissenschaftliches Handbuch, in dem auch zahlreiche Artikel u¨ber die deutsche Wirtschaft erschienen sind. • Fontana Economic History of Europe, hg. von Carlo M. Cipolla, Hassocks 1973. Identisch mit • Europa¨ische Wirtschaftsgeschichte (5 Ba¨nde), hg. von Carlo M. Cipolla und Knut Borchardt, Stuttgart 1976–80. In den Ba¨nden 4 und 5 findet sich jeweils auch ein Artikel u¨ber Deutschland.
Deutsche Wirtschaftsgeschichte
• Hermann Aubin / Wolfgang Zorn (Hg.): Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte (2 Ba¨nde), Stuttgart 1971 / 76. Mit zahlreichen, z. T. sehr spezifischen Beitra¨gen zahlreicher Autoren. • Friedrich-Wilhelm Henning: Handbuch der deutschen Wirtschaftsund Sozialgeschichte Deutschlands, Paderborn 1991ff. Henning versieht hierin seine dreiba¨ndigen Lehrtexte, welche in vielen Auflagen weite Verbreitung gefunden haben, mit Anmerkungen und baut sie zu einem volumino¨sen Handbuch aus. Bislang sind drei Ba¨nde erschienen und ein weiterer ist posthum noch zu erwarten.
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16 Anhang 16.1 Zitierte Literatur Abel 1966 Wilhelm Abel: Der Pauperismus in Deutschland am Vorabend der industriellen Revolution (Vortragsreihe der Gesellschaft fu¨r Westfa¨lische Wirtschaftsgeschichte e. V. Dortmund 14), Dortmund 1966.
Wilhelm Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis, Hamburg u. a. 1974. Abel 1974
Wilhelm Abel (Hg.): Handwerksgeschichte aus neuer Sicht (Go¨ttinger Beitra¨ge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1), Go¨ttingen 1978. Abel 1978 Abel 1981
Wilhelm Abel: Stufen der Erna¨hrung. Eine historische Skizze, Go¨ttingen 1981.
Wilhelm Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland. Versuch einer Synopsis, 3. Auflage, Go¨ttingen 1986. Abel 1986
Werner Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Frankfurt a. M. 1983.
Abelshauser 1983 Abelshauser 2004
Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Mu¨nchen 2004.
Werner Abelshauser: Ist es schon so schlimm wie im Jahr 1929? Die Lehren aus dem Crash, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 45 vom 9. November 2008, S. 40. Abelshauser 2008
Hermann Josef Abs: Entscheidungen 1949–1953. Die Entstehung des Londoner Schuldenabkommens, Mainz 1991. Abs 1991
Acemoglu / Robinson 2013 Daron Acemoglu / James A. Robinson: Warum Nationen scheitern. Die Urspru¨nge von Macht, Wohlstand und Armut, Frankfurt a. M. 2013. Aly 2005
M. 2005.
Go¨tz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.
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16.2 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Die Geschichte der Weltwirtschaft in einem Bild, nach: Gregory Clark, A farewell to alms: a brief economic history of the world, Oxfordshire: Princeton University Press 2007, S. 2. Abbildung 2: Bevo¨lkerung in Mitteleuropa und Bauarbeiterlo¨hne im su¨dlichen England von 13. bis zum 20. Jahrhundert, aus: Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, 3. Auflage, Go¨ttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986, S. 17. Abbildung 3: Kaufkraftschwankungen der Bauarbeiterlo¨hne in Leipzig (1781 / 1800–50), aus: Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis, Hamburg: Verlag Paul Parey 1974, S. 350. Abbildung 4: Chinesischer Lampion (Boule chinoise). AcheDeZoo. Abbildung 5: Sozialprodukt je Einwohner in Deutschland bzw. Westdeutschland 1850–1990 in konstanten Preisen von 1913, nach: Christoph Buchheim, Einfu¨hrung in die Wirtschaftsgeschichte, Mu¨nchen: C. H. Beck 1997, S. 87. Abbildung 6: Krupp-Werke, Deutschland; Lokomotiv- und Wagenra¨derbau in der Gussstahlfabrik von Friedrich Krupp in Essen (1900). ullstein bild, Berlin. Abbildung 7: Bu¨roangestellte in der Schokoladenfabrik Cadbury, England (Ende 19. Jh.). Abbildung 8: Bescha¨ftigung in Deutschland um 1800 nach Wirtschaftssektoren, aus: Christof Dipper, Deutsche Geschichte 1648–1789, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 98. Abbildung 9: Lo¨hne in Deutschland (gleitende Dreijahresmittel, 1900–13 ¼ 100), aus: Diedrich Saalfeld, Lebensverha¨ltnisse der Unterschichten Deutschlands im Neunzehnten Jahrhundert, in: International Review of Social History XXIX (1984), Internat. Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam, S. 231. Abbildung 10: Erlass des preußischen Ko¨nigs Friedrich I. (1708). Abbildung 11: Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen }konomie. Erster Band, Titelblatt der Erstausgabe. Hamburg: Verlag von Otto Meissner, 1867. Abbildung 12: Investitionsquoten 1850 / 70–1994, Deutschland, aus: Ludger Lindlar, Das mißverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropa¨ische Nachkriegsprosperita¨t (Schriften zur angewandten Wirtschaftsforschung 77), Tu¨bingen: Mohr Siebeck 1997, S. 149. Abbildung 13: Die Waterframe. Mit Wasserkraft arbeitende Spinnmaschine von Richard Arkwright (1769). Holzstich, 19. Jhdt. akg.images. Abbildung 14: Ereignisha¨ufigkeit der Innovationsdaten, nach Gerhard Mensch, J. J. van Duijn und Ronald Baker, nach: Rainer Metz, Wirtschaftliches Wachstum, technischer Fortschritt und Innovationen in Deutschland. Eine Sa¨kularbetrachtung, in: Dietrich Ebeling u. a. (Hg.), Landesgeschichte als multidisziplina¨re Wissenschaft. Festgabe fu¨r Franz Irsigler zum 60. Geburtstag, Trier: Porta Alba Verlag 2001, S. 679–709, hier: S. 706. Abbildung 15: Reichsbanknote u¨ber 10 Millionen Mark zu Zeiten der Hyperinflation (1923). Abbildung 16: Entwicklung der Geldbesta¨nde 1870–1913, aus: Deutsche Bundesbank (Hg.), Wa¨hrung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975, Frankfurt a. M.: Fritz Knapp GmbH 1976, S. 27. Abbildung 17: Robert Dudley Baxter: Stilisierte Einkommensverteilung der englischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert (Mitte 19. Jhdt.), aus: Adolph Wagner, Theoretische Sozialo¨konomik oder allgemeine und theoretische Volkswirtschaftslehre, Leipzig: Winter Verlag 1907,
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S. 466 (hier nach: Toni Pierenkemper, Einkommens- und Vermo¨gensverteilung, in: Gerold Ambrosius / Dietmar Petzina / Werner Plumpe (Hg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einfu¨hrung fu¨r Historiker und }konomen, Mu¨nchen: Oldenbourg Verlag 1996, S. 265–288, hier: S. 280). Abbildung 18: Personale Einkommensverteilung in Deutschland, aus: Silvia Deckl, Indikatoren der Einkommensverteilung in Deutschland 2003. Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, in: Statistisches Bundesamt (Hg.), Wirtschaft und Statistik, Nr. 11 / 2006, S. 1178–1186, hier: S. 1182. Abbildung 19: Traditionelle Feldarbeit (1930er-Jahre). Privatbesitz Martin Regenbrecht, Berlin. Abbildung 20: Anteil der in den einzelnen Wirtschaftssektoren Bescha¨ftigten an der Gesamtzahl. Eigene Darstellung, angelehnt an: Friedrich-Wilhelm Henning, Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 2, Paderborn: Verlag Ferdinand Scho¨ningh 1973, S. 20. Abbildung 21: Anteil der Aufwendungen fu¨r Dienstleistungen am gesamten privaten Verbrauch, nach: Boris Loheide, Wer bedient hier wen?: Service oder Selfservice – Die Bundesrepublik Deutschland als Dienstleistungsgesellschaft, Saarbru¨cken: VDM Verlag Dr. Mu¨ller 2008, S. 90. Abbildung 22: Karte der Gussstahlfabrik Friedrich Krupp (1889). Historisches Krupp-Archiv. Abbildung 23: Verteilung der Bilanzsumme verschiedener Branchen bezogen auf den Gesamtumsatz der jeweils 25 gro¨ßten Industrieunternehmen. Eigene Erhebung. Abbildung 24: Semper Augustus, die scho¨nste aller holla¨ndischen Tulpen (um 1640). Abbildung 25: Getreidepreise in Mitteleuropa vom 13. bis zum 20. Jahrhundert, aus: Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Erna¨hrungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, 3. Auflage , Hamburg / Berlin: Verlag Paul Parey 1978, S. 13. Abbildung 26: Fu¨nf-Phasen-Zyklus der Konjunktur, aus: Arthur Spiethoff, Krisen, in: Ludwig Elster u. a. (Hg.), Handwo¨rterbuch der Staatswissenschaften. Sechster Band. 4. ga¨nzlich u¨berarbeitete Auflage, Jena: Verlag Gustav Fischer 1925, S. 8–91, hier: S. 38. Abbildung 27: Unterschiedliche Vorstellungen von wirtschaftlichen Zyklen, aus: Joseph A. Schumpeter, Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses, [Business Cycles : a Theoretical, Historical and Statistical Analysis of the Capitalist Process, 1939], Go¨ttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1961, S. 223. Abbildung 28: Scha¨tzung von Wachstumszyklen aus Konjunkturindikatoren, aus: Reinhard Spree, Die Wachstumszyklen der deutschen Wirtschaft von 1840 bis 1880. Mit einem konjunkturstatistischen Anhang, Berlin: Duncker & Humblot 1977, S. 90. Abbildung 29: Willem van de Velde: The Capture of the Royal Prince, 13 June 1666 (Niederla¨ndische Galeonen). }lgema¨lde (1666 oder spa¨ter). Abbildung 30: Unterschiedliche Konzepte der Globalisierung im 19. und 20. Jahrhundert, aus: Richard H. Tilly, Globalisierung aus historischer Sicht und das Lernen aus der Geschichte (Ko¨lner Vortra¨ge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 41), Ko¨ln: Forschungsinstitut fu¨r Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universita¨t zu Ko¨ln 1999, S. 8. Abbildung 31: Deutsche Zahlungsbilanz 1833–1913 (in Millionen Mark, laufende Preise), aus: Cornelius Torp, Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914, Go¨ttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 72. Abbildung 32: Abraham Bosse: Leviathan, Frontispiz von: Thomas Hobbes, Leviathan (1651).
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Abbildung 33: Zusammensetzung der Staatsausgaben in Preußen 1826–66 (in % aller Ausgaben), aus: Richard H. Tilly, Die politische }konomie der Finanzpolitik und die Industrialisierung Preußens, in: ders., Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung. Gesammelte Aufsa¨tze, Go¨ttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980, S. 55–64, hier: S. 61. Abbildung 34: Preußische Staatsschulden, 1820–65 (in Millionen Thaler), aus: Richard H. Tilly, Die politische }konomie der Finanzpolitik und die Industrialisierung Preußens, in: ders., Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung. Gesammelte Aufsa¨tze, Go¨ttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980, S. 55–64, hier: S. 63. Abbildung 35: Schwarzer Freitag an der Wall Street (1929). AP Associated Press. Abbildung 36: Amerikanischer Aktienmarkt in der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre, aus: Hartmut Kiehling, Kursstu¨rze am Aktienmarkt. Crashs in der Vergangenheit und was wir daraus lernen ko¨nnen, 2. Auflage, Mu¨nchen: dtv 2000, S. 120. Abbildung 37: Preisentwicklung der US-Immobilien (Case-Shiller-Index), aus: Hans-Werner Sinn: Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist, Berlin: Econ 2009, S. 48.
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SACHRE GIS TE R
16.3 Sachregister Ablo¨sungszahlungen 80, 203 Afrika 7, 185, 189 Agrarkrise 17, 167–171 Akkumulation 59, 61, 63, 65f., 74, 76f., 79, 84, 219 Aktienbank 81f., 157f. Aktienblasen 169f., 220 Aktienkurse 169, 218, 220–223 Alimentierung 58 Allokation 40f., 43–46, 47, 49, 54, 160f. Amerika 7f., 44, 69, 83, 106, 116, 160, 169, 174, 185–193, 218–228 Antike 9, 24 Arbeit 10–17, 35–37, 40–54, 58f., 59–64, 67, 73, 89f., 94f., 122–124, 126f., 129–134, 138, 143, 145, 153, 155, 157, 167, 185, 187, 189f., 192, 194, 197, 203, 205, 209–213, 224, 226 Arbeiteraristokratie 53 Arbeiterbewegung 204 Arbietsdienst 49 Arbeitskraft 12f., 40, 42f., 46, 58, 89, 133, 185 Arbeitslosenquote 49 Arbeitslosigkeit 48–51, 53, 130, 143, 210, 213, 224, 226 Arbeitsmarkt 42–54 Arbeitsteilung 59, 62, 64, 190, 192, 194 Armut 7–21, 24, 26f., 44, 75, 80, 89, 126, 130–132 Asien 184–187, 189, 192 Bank 30, 74, 77f., 80–84, 104–117, 141, 155, 157f., 168f., 171f., 192f., 208, 212f., 219, 221, 223–229 Bankenkrise 192, 224 Basisinnovation 91f. Bergakademien 65 Bergbau 65 Bildung 32f., 37, 58–63, 65–70, 106, 113, 124, 133, 204, 208 Bildungso¨konomie 59, 69 Bildungsreform 65 Boden 9, 12, 27, 37, 62f., 76, 122f., 138f., 201, 203 Bo¨rse 78, 82f., 110f., 115, 153, 157, 161, 218–223 Bretton-Woods-System 117, 192f. Bruttoinlandprodukt 26, 195 Bubble Act 77, 169 Bundesrepublik Deutschland 18–20, 33, 49, 52, 69, 83, 117, 130–134, 147f., 179, 213
CHE (Centrum fu¨r Hochschulentwicklung) 67 Cobden-Chevalier-Vertrag 191 Colm-Dodge-Goldsmith-Plan 116 Dampfmaschine 79, 88, 93, 96–99 Dawes-Plan 114 Deflation 171f. Depositenbank 78 Depositengescha¨ft 82, 106f., 111 Depression 178, 219, 221–224 Desintegrationstendenz 192 Deutsches Reich 30, 33, 104, 108–115, 126, 156, 196, 206, 208–210 Deutschland AG 83 Devisenbewirtschaftung 114, 211 Dienstleistung 42–44, 61f., 84, 140–149, 167, 196, 205 Dienstleistungsgesellschaft 35, 63, 138, 142f., 145–149 Dienstleistungssektor 42f., 141–146 Diffusion 91, 93f., 177 Dirigismus 114, 203 Diskonthaus 78, 82 Dividendenrendite 160 Doha-Runde 193 Dreißigjahriger Krieg 13, 201 East India Company 184 Effizienz 37, 40, 53, 58, 60, 90, 132 Effizienzlohn 53 Einkommen 7f., 10–12, 16–21, 25, 28–34, 40, 44, 46–52, 67, 77, 80, 96, 115, 121–134, 142–148, 167f., 194, 223f. Einsatzfaktoren 37, 139 Eisenbahn 76, 79–81, 92, 100, 111, 152–158, 207f. Emissionsgescha¨ft 82 Engelsches Gesetz 142 England 7, 9, 11–13, 15, 24–26, 35, 60, 65, 67, 75f., 78–80, 87f., 92–101, 105, 126, 169, 171, 174, 186–191, 195, 202 Energie 62 Erfindung 26, 36, 60, 68, 88, 91–97 Erster Weltkrieg 28, 47, 82, 112, 172, 187, 196, 209f., 224 Ertragsgesetz 60 Ertragswert 59 Europa 8–14, 18, 20, 24–26, 29, 34, 68f., 88, 97, 104–107, 117, 129, 131f., 138, 143, 145, 153, 161, 184–197, 200f., 212, 218, 222 Europa¨ische Zahlungsunion (EZU) 193
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Evolutiona¨re }konomik 91 Export 70, 78, 80, 96, 113, 186–188, 194–197, 204 Extensivita¨t 27 Feudalgesellschaft 122 Feudalismus 201 Finanzma¨rkte 220 Fixkapital 153 Fluktuationsraten 53 Folgeinnovation 91 Frankreich 9, 34f., 65, 80, 93, 169, 171, 186, 191 Freihandel 191, 200 GATT 192f. Geldbla¨he 112 Gesamtfaktorproduktivita¨t 37, 89 Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate 219 Gewinnquote 123–126 Gini-Koeffizient 124f., 131 Globalisierung 50, 74, 183–197 Goldbindung 193 Golddeckung 108 Goldstandard 189, 192 Grain invasion 191 Großbritannien 34, 74–78 92, 130, 145f., 152, 172, 187f., 191 Große Depression 178, 221, 223 Gru¨nderboom 156, 178 Gru¨nderkrach 156 Grundkapital 155f., 158 Handelskapital 76, 187 Haushalt 16–19, 25, 32, 42, 51–53, 70, 131–134, 142, 146–148, 168 Heckscher-Ohlin-Theorem 194 Heuerling 42 Hintersassen 201–203 Hochschule 66, 70, 234 Hoover-Moratorium 114 Human Development Index (HDI) 33 Humankapital 36, 58f., 61, 68f., 74f., 89, 133 Hunger 9–12, 17f., 44, 47, 115, 130, 166–168, 171, 201 Hyperinflation 28, 104, 113, 129, 211, 224 Hypothek 153, 219, 226–228 Hypothekarische Belastung 113 IAB-Datenbank 92 Imagination 62 Imperialismus 187 Industrialisierung 14, 26, 34f., 40f., 44, 51–53, 62, 65, 67f, 76f., 79f., 84, 92, 96, 126–129, 138, 142, 155, 167, 177, 187, 196, 204, 208
260
Industrialismus 206, 209 Industriegesellschaft 18, 20, 35, 41, 63, 89, 133, 138, 140, 142, 144–146, 166, 209 Industrielle Reservearmee 15, 44 Industrielle Revolution 24, 26, 67f., 88, 92–94, 126, 202 Inflation 34f., 48, 82, 112–117, 210f., 229 Inflationsrate 28, 211, 229 Innovation 24, 36, 61f., 67, 87–100, 105, 111, 139, 143, 153, 174f., 220 Innovationszyklen 92, 174f. Institutionalisierung des Wirtschaftswachstums 34 Institutionelle Innovation 91 Intervention 157, 208f., 212 Invention 91, 93 Investmentbanking 83 Jugendarbeitslosigkeit 52 Kapital 27, 36f., 62–64, 74–84, 89, 123, 126, 128f., 138, 153–158, 160f., 169 Kapitalbindung 153 Kapitalintensita¨t 27, 36 Kapitalismus 27, 74, 76, 122, 169, 219, 229f. Kapitalistische Marktgesellschaft 31 Kapitalkoeffizient 84 Kapitalrentabilita¨t 160 Kapitalstock 36f., 74–77, 79, 82–84, 219 Kartell 157 Kataster 29 Koalitionsrecht 46 Koalitionsverbot 46 Kolonialsystem 185 Kommodifizierung 40 Konjunktur 51, 134, 156, 158, 166, 168, 171–180, 219, 223–225, 229f. Konjunkturelle Rhythmik 166, 179 Konjunkturprogramm 229f. Konsum 49 Kredit 77f., 81, 106f., 110f., 114, 117, 153, 170, 176, 207, 209f, 209f., 212, 218, 221, 223f., 226–228 Krieg 9, 12f., 28, 33–36, 47–51, 68, 82f., 108f., 112f., 115f., 134, 161, 172, 179, 186f., 192f., 196, 200f., 206, 209–212, 224f. Kriegsrohstoffgesellschaften 201 Krise 10, 17, 28, 33–36, 47–49, 51, 80, 82f., 109, 114, 126, 129, 134, 154, 159, 166–180, 192, 202, 211, 213, 218–230 Krisenpropheten 219 Ku¨hlkette 188 Lagerzyklen 174f. Landwirtschaft 9f., 34, 41–44, 52f., 77, 138–144, 173, 187, 191, 194, 203, 197, 200
SACHRE GIS TE R
Langes 19. Jahrhundert 44 Leibeigenschaft 9, 201, 203 Lohn 13f., 16f., 25, 40–51, 115, 134, 158, 194, 203 Lohnniveau 13 Lohnquote 123–130 Lohnstopp 49 Londoner Schuldenabkommen 116 Machtergreifung 114, 225 Malthusianisches Gesetz 89 Manufaktur 35, 43, 204 Marktkapitalisierung 152 McDonaldisierung 149 MEFO-Wechsel 114 Merkantilismus 204, 206 Merkantilsystem 189 Mississippi-Schwindel 169 Mittelalter 9–13, 24f., 67, 105, 107, 138, 152, 167 Monopol 110, 204 Monroe-Doktrin 191 National Bureau of Economic Research (NBER) 30, 174, 177 Nationalo¨konomie 103, 234 Nationalsozialismus 82, 114, 211f., 225 Naturwissenschaft 65 Neoklassische Produktionstheorie 35f. Neoklassische Wachstumstheorie 61 Neolithische Revolution 24 Nettokapitalbildung 76, 79 Nettoproduktion 35 Neuzeit 12, 14, 17, 68, 75, 104–107, 112, 169, 171, 200f. New Deal 223f. New Economy 225 Norddeutscher Bund 46, 197 Normalarbeitsverha¨ltnis 47, 50 }konomischer Input 27 Organisation fu¨r wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 26, 193, 212 Pareto-Alpha 124, 127, 129. Partialobligation 111 Patrizier 202 Patronatsherr 202 Pauperismus 14f., 44, 80, 126 Pest 9, 13, 25 Physiokratie 62, 139f. Ponzi-System 221 Preisstopp 49, 114f., 212 Preußen 17, 29, 53, 57f., 79, 98, 106–109, 111, 126, 154–156, 169, 191, 195, 202–210
Preußische Fabriktabellen 29 Produktinnovation 91 Produktionsfaktor 12, 27, 35, 37, 58–60, 62–64, 85f., 122, 123, 187, 194 Produktivita¨t 9–12, 59, 68, 89, 95f., 189, 203 Pro-Kopf-Einkommen 8, 17f., 25, 28, 32–34, 127f., 142 Protektionismus 191f., 194, 200 Prozessinnovation 91 Public property 76 Puddelverfahren 99–101 Rating-Agenturen 228 Rationalisierung 36, 48, 50, 143, 224 Reallohnverfall 14, 25 Realwirtschaft 220f., 228 Reparationen 113f., 202, 224 Reproduktion 40 Ressourcen 62 Rohstoffbewirtschaftung 114 Ro¨misches Imperium 9 Sachkapital 60, 74f. Schlesien 79, 98–100, 187 Schlichtungswesen 48 Schwarzer Freitag 217f., 222 Security Exchange Act 223 Segregation 52 Sektortheorie 63, 138, 142–149 Siliqua 105 Skalenertra¨ge 194 Skill-ratio 124, 127, 129, 131 Sklavenhandel 185 Solidus 105 Soziale Frage 46 Sozialprodukt 27–31, 34f., 37, 76, 79, 112, 114, 125, 177, 212, 224 Spekulation 166, 169–171, 180, 218, 220–222, 229f. Spekulationsblase 169f., 220 Staatshaushalt 115, 155, 211, 224 Staatsverfassung 205 Stille Reserve 50 Strukturwandel 64, 138–145, 159f. Subprimes 226 Subsistenz 11f., 14, 17, 40, 106, 131 Tarifvertrag 47 Tulpenmanie 166, 169 Universita¨t 57 Unternehmer 46f., 75, 79f., 84, 90, 97f., 100, 134, 145, 160, 212 Unternehmerische Dispositionsfreiheit 134
261
AN HA N G
USA 19, 30, 34, 69f., 76, 130, 145, 149, 152f., 161, 174, 177, 188, 190–193, 218, 221f., 224f., 228–230, 234 Versailler Vertrag 113 Versicherung 46–48, 78, 107, 133, 141, 157, 209 Volkseinkommen 25, 30f., 115, 124, 126f. Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) 28, 31f. Vollbescha¨ftigung 49, 50, 113 Wachstum 13, 23–30, 32–38, 44f., 58–70, 70–79, 81, 84, 88–91, 117, 126–129, 134, 139, 146, 152, 155–161, 174–180, 192, 208, 218–220., 229f. Wachstumskomponenten 35, 37 Wachstumsrate 26f., 34, 61, 68, 176 Wachstumstheorie 61 Wa¨hrung 229 Wall Street 217f Wasserhaltung 97f. Wechseldiskont 208 Wechselverkehr 208 Wehrhoheit 202 Weimarer Republik 48, 112, 114, 210f., 224f.
262
Weltwirtschaftskrise 34, 114, 179, 211, 218, 221–223 Wertscho¨pfung 34f., 70, 84, 138–142, 146f., 162, 197, 212 Wettbewerb 36, 49, 101, 157, 190f., 219 Wirtschaftswachstum 24–28, 33–37, 45, 61f, 67f., 74f., 79, 84, 88–91, 101, 128f., 179f., 218f., 229f. Wirtschaftswunder 34, 37, 49, 179, 204 Wissensgesellschaft 60–63, 122, 146 Wohlfahrt 8, 12, 19, 24f., 27–33, 35, 60, 68f., 124f., 147, 161, 190, 213 Wohlfahrtsrelevante Lebensbereiche 32 Wohlstand 7–9, 11f., 18, 23f., 28–37, 59, 80, 128, 143, 145, 157, 179, 194, 213, 225, 229 Wohlstandsgesellschaft 12, 18, 33, 143 WTO 193 Zahlungsbilanz 117, 192f., 196f. Zentralverwaltungswirtschaft 31 Zettelbank 109, 199 Zoll 30, 108, 145, 191–193, 195, 209 Zunftzwang 204 Zweiter Weltkrieg 28, 33, 35, 69, 83, 115, 192f., 196, 224, 262
GL OSSA R
16.4 Glossar Tiefpunkt in der landwirtschaftlichen Entwicklung aufgrund von Missernten, wirtschaft-
Agrarkrise
liche Not.
Akkumulation Baisse
Anha¨ufung, Konzentration, Ansammlung (von Kapital).
(von mittellateinisch allocare – platzieren, zuteilen) Verteilung (von knappen Gu¨tern).
Allokation
Phase anhaltender starker Kursru¨ckga¨nge an der Bo¨rse. Das Gegenteil ist eine > Hausse.
Internationales Wa¨hrungssystem von festen Wechselkursen nach dem Zweiten Weltkrieg. Leitwa¨hrung war der auf einem > Goldstandard beruhende US-Dollar. 1973 wurde das Bretton-Woods-System außer Kraft gesetzt, in den meisten La¨ndern wurden die Wechselkurse freigegeben. Bretton-Woods-System
Gesamtwert aller Gu¨ter (Waren und Dienstleistungen), die innerhalb eines Jahres in einer Volkswirtschaft (in einem Land) produziert werden.
Bruttoinlandprodukt (BIP)
Neuregelung der > Reparationsverpflichtungen Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg im Jahre 1924. In ihm wurde u. a. die Ho¨he der Forderungen begrenzt und man bemu¨hte sich, wirtschaftliche Faktoren gegenu¨ber politischen mehr in den Vordergrund zu ru¨cken. Ziel war es, die Reparationsforderungen der tatsa¨chlichen Leistungsfa¨higkeit der Weimarer Republik anzupassen.
Dawes-Plan
Allgemeiner und signifikanter Ru¨ckgang des Preisniveaus.
Deflation
Staatliche Eingriffe in den Zahlungsverkehr mit dem Ausland, die die Umtauschbarkeit der inla¨ndischen Wa¨hrung in ausla¨ndische Wa¨hrungen einschra¨nken. Die wichtigsten Gru¨nde sind ein Mangel an Devisen (Forderungen und Guthaben in fremder Wa¨hrung) und das Bestreben, einen nicht marktgerechten Wechselkurs aufrechtzuerhalten bzw. durchzusetzen. Devisenbewirtschaftung
Feudalismus Vorherrschende Gesellschaftsform im europa¨ischen Mittelalter; der u¨berwiegende Teil der Bevo¨lkerung bewirtschaftet als Lehnsma¨nner das Land der jeweiligen Lehnsherrn. Lehnsmann und -herr sind einander zu gegenseitiger Treue verpflichtet.
Internationaler Handel, der durch keine staatlichen Interventionen und Bestimmungen (z. B. Zo¨lle) gehemmt und beeinflusst wird.
Freihandel
Faktorproduktivitot
toren.
Verha¨ltnis zwischen erzeugten Gu¨tern und Einsatzmenge der > Produktionsfak-
GATT Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade); interna-
tionale Vereinbarung u¨ber den Welthandel. Das Abkommen trat 1948 in Kraft, bis 1994 wurde von den bis dahin 123 beteiligten Staaten in acht Verhandlungsrunden eine weitgehende Liberalisierung des internationalen Handels (> Freihandel) vereinbart. Das Abkommen gilt als Grundlage der > WTO, in die es heute eingegliedert ist. Wa¨hrungssystem, in dem der Wert des Geldes eines Landes durch Gold gedeckt ist; eine bestimmte Wa¨hrungseinheit kann also gegen eine bestimmte Menge an Gold eingetauscht werden.
Goldbindung / Goldstandard
Große Depression
(Englisch: Great Depression) Schwere Wirtschaftskrise in den USA, die mit dem
> Schwarzen Donnerstag am 24. Oktober 1929 begann und die amerikanische Wirtschaft in den
1930er-Jahren dominierte. Die wirtschaftliche Entwicklung in den USA war dabei Ursache und Bestandteil der Weltwirtschaftskrise jener Zeit. (> KAPITEL 14.2) Hausse
Phase stark ansteigender Kurse an der Bo¨rse. Das Gegenteil ist eine > Baisse.
Hintersassen
Vom Grundherrn abha¨ngige Bauern im Mittelalter.
Bildung, Wissen und Ko¨nnen von Individuen, sofern dies als > Produktionsfaktor eingesetzt werden kann. (> KAPITEL 4) Humankapital
263
AN HA N G
Rascher und gigantischer Anstieg des Preisniveaus (mehr als 50-prozentige > Inflationsrate im Monat) infolge der Erho¨hung der kursierenden Geldmenge durch Staat oder Zentralbank. Ein Beispiel ist die Hyperinflation in der Weimarer Republik in den Jahren 1922 und 1923.
Hyperinflation
(> KAPITEL 7)
Auf Karl Marx zuru¨ckgehende Bezeichnung der Masse arbeitsloser Arbeiter, die durch den technischen Fortschritt ihre Arbeit verlieren. Nach Marx brauchen die Kapitalisten die Arbeitslosen, um die arbeitende Bevo¨lkerung unter Druck zu setzen.
Industrielle Reservearmee
Inflation
ses.
Geldentwertung gemessen durch einen Anstieg des Preisniveaus und / oder des Wechselkur-
Erneuerung im betrieblichen oder volkswirtschaftlichen Produktionsprozess von technischer, organisatorischer, institutioneller oder sozialer Art. (> KAPITEL 6) Innovation
Produktionsmittel und -gu¨ter, wie z. B. Werkzeuge, Maschinen, Anlagen etc., die zur Produktion verwendet werden; auch: Finanzkapital (Kapital in Form von Geld).
Kapital / Kapitalstock
Wirtschaftsordnung, die durch das Privateigentum an Produktionsmitteln und eine Steuerung u¨ber den freien Markt bestimmt ist. Kapitalismus
Sich wiederholende Phasen von Auf- und Abschwung der Wirtschaftsta¨tigkeit in einer Volkswirtschaft.
Konjunktur Liquiditot
Verfu¨gbarkeit von Zahlungsmitteln.
Vorherrschende Wirtschaftsform vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in Europa, die durch das Streben nach Reichtum durch |berschu¨sse im Außenhandel gekennzeichnet war (hoher Export, geringer Import). Merkantilismus
Marktsituation, in der ein bestimmtes Gut nur von einem Anbieter angeboten wird. Daraus folgt, dass der Monopolist Preise und Mengen ohne Beru¨cksichtigung von Konkurrenten selber festlegen kann. Monopol
Wirtschaftswissenschaftliches Theoriegeba¨ude, welches die klassischen Theorien ab der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts ablo¨ste und bis heute die Wirtschaftswissenschaften dominiert. Die neoklassische Theorie stellt die Wirtschaft vor allem als System von Ma¨rkten dar, auf denen Angebot und Nachfrage durch die Gu¨terpreise ins Gleichgewicht gebracht werden. Die Verbraucher haben dabei bestimmte Bedu¨rfnisse und wollen durch den Konsum von Gu¨tern gro¨ßtmo¨glichen perso¨nlichen Nutzen erreichen. Neoklassik
Paket von Wirtschafts- und Sozialreformen in den USA in den 1930er-Jahren. Initiator war der damalige US-Pra¨sident Franklin Roosevelt. Durch staatliche Investitionen sollten die Folgen der > Großen Depression, im Wesentlichen die aufkommende Massenarbeitslosigkeit, aufgefangen werden.
New Deal
Unbefristetes Arbeitsverha¨ltnis mit geregeltem Lohn, bei dem der Arbeitnehmer in eine Unternehmensstruktur eingebettet ist und der Weisungsgewalt des Arbeitgebers unterliegt. (> KAPITEL 3.2) Normalarbeitsverholtnis
Organisation fu¨r wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Cooperation and Development); Zusammenschluss von 30 Industriestaaten mit dem Ziel, wirtschaftliches Wachstum und Welthandel zu fo¨rdern. Die OECD ist keine u¨berstaatliche Organisation, sondern hat eher den Charakter einer permanent tagenden Konferenz. OECD
Pauperismus Katastrophale Massenarmut (vor allem im la¨ndlichen Bereich) zu Beginn des 19. Jahrhunderts, welche durch ein schnelles Wachstum der Bevo¨lkerung und eine damit einhergehende Verknappung der Ressourcen ausgelo¨st wurde.
Wirtschaftslehre aus der Zeit der Aufkla¨rung, welche den landwirtschaftlichen Sektor als einzig wertscho¨pfenden begreift. Hauptvertreter war der franzo¨sische }konom Franc¸ois Quesnay.
Physiokratie
264
GL OSSA R
Alle materiellen und immateriellen Mittel, die zur Produktion von Gu¨tern beitragen. Klassischer Weise sind dies Arbeit, Boden und > Kapital.
Produktionsfaktor Produktivitot
Verha¨ltnis zwischen produzierten Gu¨tern und eingesetzten > Produktionsfaktoren.
Einkommen, das ein Einwohner eines Landes ja¨hrlich im Durchschnitt verdient. Zur Berechnung teilt man das > Volkseinkommen durch die Bevo¨lkerungszahl des jeweiligen Landes. Pro-Kopf-Einkommen
Reparationen
Kriegsentscha¨digungen.
Reproduktion
Vermehrung, Vervielfa¨ltigung.
Schwarzer Donnerstag 24. Oktober 1929, der Tag an dem an der New Yorker Bo¨rse die Aktienblase platze. Der Schwarze Donnerstag gilt als Beginn der > Großen Depression und der Weltwirtschaftskrise. In Europa wird er aufgrund der Zeitverschiebung auch „Schwarzer Freitag“ genannt. (> KAPITEL 14.2)
Sektortheorie Auf den franzo¨sischen }konomen Jean Fourastie´ zuru¨ckgehende volkswirtschaftliche Theorie, welche eine Volkswirtschaft in drei Sektoren (prima¨rer Sektor: Landwirtschaft; sekunda¨rer Sektor: Industrie; tertia¨rer Sektor: Dienstleistungen) unterteilt. Fourastie´ beobachtete in vielen Volkswirtschaften einen Strukturwandel, in dessen Rahmen zuna¨chst der sekunda¨re und spa¨ter vor allem der tertia¨re Sektor zunehmend Bedeutung erlangten. (> KAPITEL 9) Skalenertroge (economies of scale) Rate der Erho¨hung der Produktionsmenge bei proportionaler Erho¨hung der > Produktionsfaktoren. Bei Massenproduktion wird in der Regel von steigenden Skalenertra¨gen aufgrund von Arbeitsteilung, gro¨ßeren Produktionsmitteln u. a¨. ausgegangen. Soziale Frage Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Misssta¨nden, die mit dem Aufkommen der Industriellen Revolution einhergingen. War zuna¨chst der > Pauperismus Kernproblem der Sozialen Frage, betraf diese im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts vor allem die Industriearbeiter. Diese waren zunehmend von schlechten Arbeits- und Wohnbedingungen betroffen. Sozialprodukt Summe aller von Inla¨ndern im Laufe eines Jahres aus dem In- und Ausland bezogenen Erwerbs- und Vermo¨genseinkommen, wie Lo¨hne, Geha¨lter, Mieten, Zinsen, Pachten und Vertriebsgewinne. Volkseinkommen
> Sozialprodukt
Statistisches Erfassung makroo¨konomischer Daten mit dem Schwerpunkt Entstehung, Verteilung und Verwendung des > Bruttoinlandsprodukts. In Deutschland wird die VGR vom statistischen Bundesamt aufgestellt. Volkswirtschaftliche Gesamtrechung (VGR)
Wachstumsrate
Durchschnittliche relative Zunahme einer Gro¨ße pro Zeiteinheit.
~nderung des > Bruttoinlandproduktes von einer Periode zur na¨chsten. Wirtschaftswachstum gilt heute als eines der Hauptziele staatlicher Wirtschaftspolitik.
Wirtschaftswachstum Wohlfahrt
Sicherung der menschlichen Grundbedu¨rfnisse und eines gewissen Lebensstandards.
Welthandelsorganisation (World Trade Organization); Organisation, die sich mit der Regelung von internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen bescha¨ftigt. Die WTO wurde 1994 gegru¨ndet und hat derzeit 153 Mitglieder. Im Rahmen der WTO abgeschlossene Abkommen haben Bedeutung fu¨r nationales Recht, da die Mitgliedsstaaten sich verpflichtet haben, ihre nationalen Gesetze entsprechend anzupassen.
WTO
Zahlungsbilanz Erfasst alle o¨konomischen Transaktionen zwischen Inla¨ndern und Ausla¨ndern und gibt so Auskunft u¨ber die Verflechtung einer Volkswirtschaft mit dem Ausland.
Als Aktiengesellschaften organisierte private Notenbanken in den deutschen La¨ndern vor der Gru¨ndung des Deutschen Reichs 1874. Zettelbanken
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