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German Pages 222 [224] Year 2001
Michael Herbst / Matthias Schneider
... wir predigen nicht uns selbst Ein Arbeitsbuch für Predigt und Gottesdienst
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Michael Herbst Matthias Schneider
... wir predigen nicht uns selbst Ein Arbeitsbuch für Predigt und Gottesdienst
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„In ecclesia non valet: Hoc ego dico. Hoc tu dicis. Hoc ille dicit. Sed hic valet: Haec dicit Dominus.” AUGUSTINUS1 „Denn wir predigen nicht uns selbst, sondern Jesus Christus, dass er der Herr ist, wir aber eure Knechte um Jesu willen.” PAULUS, 2. KOR. 4,5
... wir predigen nicht uns selbst Ein Arbeitsbuch für Predigt und Gottesdienst Michael Herbst und Matthias Schneider (nach einer Vorlage von MANFRED SEITZ, Erlangen, bearbeitet von FALK BECKER, Espelkamp)
1 „In der Kirche gilt nicht: Das sage ich. Das sagst du. Das sagt jener. Sondern hier gilt: Dies sagt der Herr.“ Das Augustinus-Zitat findet sich bei K. KAMPFMEYER, Predigtamt, 27.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 6. Auflage 2017 © 2001 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.sonnhueter.com, unter Verwendung eines Bildes von © Constantin Beyer - ARTOTHEK DTP: Breklumer Print-Service, Breklum Verwendete Schriften: Times New Roman Gesamtherstellung: Finidr, s.r.o. Printed in Czech Republik ISBN 978-3-7615-6756-2 978-3-7615-5187-5(E-PDF) www.neukirchener-verlage.de
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Vorwort Seit 1996 gibt es in Greifswald das Homiletisch-liturgische Hauptseminar. Es hat viele Vorgänger in Greifswald gehabt, zum Beispiel die Predigtseminare, die HERMANN CREMER Ende des 19. Jahrhunderts in Greifswald hielt.1 Unser Seminar führen wir inzwischen jährlich miteinander durch. Regelmäßig nehmen durchschnittlich zwölf Theologiestudierende daran teil. Dazu kommen noch einmal sechs bis acht Studierende der Kirchenmusik. Das Besondere am Homiletisch-liturgischen Hauptseminar ist nämlich die Kooperation von Studierenden der Kirchenmusik und der Theologie. Uns geht es um eine integrierte Vorbereitung des gesamten Gottesdienstes. Dabei spielt die Predigt eine wichtige Rolle, ohne den Gottesdienst als ganzen in den Hintergrund zu drängen. Die Theologiestudierenden haben neben der wöchentlichen Seminarsitzung an einem Abend der Woche einen öffentlichen Gottesdienst in der Greifswalder Annenkapelle vorzubereiten. Sie geben einige Tage zuvor ihre Seminararbeit ab, die sie während des Semesters geschrieben haben: Diese enthält neben manchen Vorarbeiten einen Gottesdienstentwurf und eine Predigt. Wesentliche Teile des Gottesdienstentwurfs haben sie gemeinsam mit den Studierenden der Kirchenmusik geplant. Ihren Entwurf bekommen die beiden Dozenten, aber auch ein Studierender, der als Kommentator auftritt. Unmittelbar nach dem Gottesdienst findet in der Annenkapelle ein Nachgespräch statt, bei dem sich die Studierenden dem Lob und der Kritik der Gemeinde stellen, im Blick auf Kirchenmusik, Liturgie und Predigt. Der Kommentator hat die Predigt vorher studiert und nimmt aus seiner Sicht dazu Stellung. Einige Tage nach dem Gottesdienst bekommt der Studierende ein schriftliches Gutachten über die Gesamtleistung, das wiederum Grundlage des Dozentengesprächs ist, das mit ihm binnen einer Woche geführt wird. Dieses Modell funktioniert nicht zuletzt wegen der kleinen Studierendenzahlen recht gut und wird von den Studierenden auch überwiegend positiv evaluiert. Arbeitsgrundlage des Seminars ist ein sogenanntes „Homiletisch-liturgische Exerzitium“. Wir haben es in vier Auflagen immer wieder überarbeitet und wagen nun die Veröffentlichung als Arbeitsbuch. Auch das „Exerzitium“ steht in einer bestimmten Tradition: in der Urfassung stammt es von MANFRED SEITZ aus Erlangen. Dort diente es als Grundlage der Homiletischen Seminare, die einen ganz ähnlichen Ablauf hatten Vgl. zur „Greifswalder Vorgeschichte“: K. BORNHÄUSER: „Im homiletischen Seminar bei Prof. Cremer“. In: „August Hermann Cremer – Gedenkblätter“, Gütersloh 1904, 115–124. 1
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wie unsere Homiletisch-liturgischen Seminare in Greifswald. Wer das Erlanger Exerzitium kennen lernen möchte, findet es in dem Aufsatz von MANFRED SEITZ „Zum Problem der sogenannten Predigtmeditation“.2 Er wird die Verwandtschaft sofort erkennen. Wir sagen es gerne: Ohne das Erlanger Vorbild wäre das Greifswalder Modell nicht zu denken. Jenes Erlanger Vorbild hat aber inzwischen weitere „Traditionsstufen“ erlebt: u.a. hat der westfälische Pfarrer FALK BECKER (heute: Isenstedt bei Espelkamp) als Dozent am „Johanneum“ in Wuppertal das SEITZSCHE Konzept vor allem im Blick auf die exegetischen Schritte weiter ausgebaut. Das exegetische Kapitel ist sehr stark von dieser Weiterentwicklung geprägt. FALK BECKER hat im übrigen auch die Exkurse über die „Miniatur“ und über das „modale Hilfsverb in der Predigt“ beigesteuert. Dem Mitautor gilt unser herzlicher Dank. Vor allem aber danken wir denen, die am Homiletisch-liturgischen Seminar beteiligt sind: der Ev. Kirchgemeinde St. Marien in Greifswald, die uns Jahr um Jahr die Annenkapelle zur Verfügung stellt, URSULA VON SUCHODOLETZ und MANFRED BRATNER, die in großer Treue die Küsterdienste getan haben, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der öffentlichen Gottesdienste, die durch ihre Rückmeldungen einen wesentlichen „Ausbildungsbeitrag“ leisteten, den Kantorinnen und Kantoren aus Greifswald, die sich manches Mal an den Organistendiensten beteiligten, vor allem aber den Studierenden der Theologie und der Kirchenmusik, die sich auf dieses „etwas andere“ Seminar eingelassen haben und Schritte auf den Dienst in der Gemeinde zu gewagt haben. Ohne ihr Mittun, ihre Bereitschaft zu sehr viel Arbeit und ihre Rückmeldungen wäre dieses Buch nicht möglich geworden. Ihnen, unseren Studierenden, widmen wir darum auch diese kleine Schrift. Sie ist gedacht als ein Arbeitsbuch. Sie ersetzt nicht eine klassische Homiletik oder Liturgik. Dazu sind die grundsätzlichen Überlegungen viel zu kurz und knapp geraten. Sie ersetzt auch nicht spezialisierte Arbeitsbücher etwa zur Rhetorik oder zur Gesangbuchkunde. Wir können jeweils nur Materialien zum weiteren Studium empfehlen. Dieses Arbeitsbuch soll nur eines leisten: es soll helfen, einen geordneten Weg zur Vorbereitung von Gottesdienst und Predigt zu beschreiten. Es ist ein besonderes Verfahren, das wir in Greifswald den Studierenden zumuten. Dass es aufwendig ist, stört uns nicht und bereitet uns auch kein schlechtes Gewissen, sind wir doch der Überzeugung, dass in der Feier des Gottesdienstes und in der Verkündigung des Evangeliums das Herz des Dienstes eines Pfarrers, Predigers usw. schlägt. Die Kritik an schlecht vorbereiteter, lieblos dargebotener Predigt mit einer Ansammlung von Belanglosigkeiten, die sich hinter ehrwürdigen großen Vokabeln verber2 Zuerst veröffentlicht: MANFRED SEITZ: Praxis des Glaubens, Göttingen 21979, 21–32. Vgl. auch DERS.: Der Weg vom Text zur Predigt – gepredigt, a.a.O., 33–41.
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gen, ist weithin zu hören. Sie korrespondiert mit der Kritik an lustlos abgehaltenen Liturgien. Es gibt so etwas wie einen negativen Regelkreis der schlechten Qualität. Dieser Regelkreis beschleunigt sich selbst: halbherzige Arbeit am Gottesdienst produziert enttäuschte Gemeinden, die wiederum lustlose Prediger hervorbringen. Umgekehrt gibt es ebenso positive, sich selbst verstärkende Regelkreise: eine gute Vorbereitung, ein liebevoll gestalteter Gottesdienst weckt steigende Erwartungen und lockt auf Dauer Menschen in die Kirchen. Sorgfältige Vorbereitung beginnt im Studium. Es ist eigentlich kaum vorstellbar, dass wir unsere Studierenden in der Regel mit dem Ersten Examen aus dem Studium entlassen, nachdem sie gerade einmal – wenn es gut geht – eine Predigt mit einem liturgischen Entwurf geschrieben und sie – wenn wirklich alles gut geht – auch gehalten haben. RUDOLF BOHREN hat schon 1988 diese Ausbildungsmisere illustriert, indem er unsere Lage mit einer fiktiven Medizinausbildung verglich: Stellen Sie sich bitte vor, ein Mediziner könnte sich nach einer Blinddarmoperation als Facharzt für Chirurgie bewerben!3 Bei einer internationalen Tagung Lutherischer Homiletikdozenten aus den USA, Skandinavien und Deutschland, die im September 2000 in Wittenberg stattfand, wurde das Dilemma im internationalen Vergleich überdeutlich. Besonders in den theologischen Ausbildungsstätten der lutherischen Kirchen in den USA (z.B. im Luther Seminary in St.Paul/Minnesota) hat die Homiletik-Ausbildung ein ganz anderes Gewicht als in unseren Breiten. Regelmäßig bereiten Studierende Gottesdienste und Predigten vor, leiten Gottesdienste und halten Predigten. Regelmäßig bekommen sie dafür auch ein Feedback. Wir leisten uns immer noch eine theologische Ausbildung, die nicht in ausreichendem Maß an den zukünftigen Arbeitsplätzen der Pfarrerinnen und Pfarrer ausgerichtet ist. Wir kritisieren nicht Sorgfalt in der theologischen Grundlegung. Dies ist kein Plädoyer: „Mehr Homiletik und Liturgik – Weniger Hebräisch und Kirchengeschichte!“ Aber unsere Kritik entzündet sich daran, dass Hebräisch und Griechisch, Exegese, Systematik und Kirchengeschichte gar nicht zu ihrem Ziel kommen und gleichsam nur verstümmelt in der theologischen Ausbildung Platz haben, wenn sie ihrem eigenen Drang, wieder zur Predigt, zum Gottesdienst und zum Gemeindeaufbau zu leiten, nicht folgen können. Dieses Buch ist auch ein Plädoyer für eine Ausbildung, die den Studierenden regelmäßig die Chance bietet, Gottesdienste und Predigten vorzubereiten, in Gemeinden das Vorbereitete auch präsentieren zu können und dafür ein gemeindliches und ein fachtheologisches Feedback zu bekommen. Sonst ist die Rede von der Kirche, die eine Kreatur des Wortes sei, vom Gottesdienst als Mittelpunkt des gemeindlichen Lebens, aber 3
R. BOHREN, Leichtmatrosen, DAS, 3.1.1988.
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auch von der Theologie als einer eminent praktischen Wissenschaft bloßes Wortgeklingel – mindestens im Blick auf die Ausbildung im Theologiestudium. Wir wissen, dass es viele Wege zur Vorbereitung von Gottesdienst und Predigt gibt. Einen Weg und nicht den Weg stellen wir vor. Unsere Studierenden verpflichten wir darauf, ihm wenigstens dieses eine Mal im Homiletisch-liturgischen Hauptseminar zu folgen. Anschließend mögen sie eigene Wege suchen und finden. Die kann man aber nur suchen und finden, wenn man an einem mal entlanggeführt wurde und ihn selbst gegangen ist. Klammheimlich hoffen wir, dass dieser Weg dem einen und der anderen so einleuchtet, dass sie doch darauf bleiben. Uns gefällt er nämlich, und bewährt hat er sich auch schon vielfach. Wir schlagen vor, die Erarbeitung von Predigt und Gottesdienst in sieben einfache, in ihrer Reihenfolge nicht umkehrbare Schritte aufzuteilen. 1. Einordnung
Sich einfinden am Ort des Gottesdienstes (Kirchenjahr) 2. Persönliche Betrachtung Den Text als erster Hörer meditieren 3. Exegese Den Text diachron und synchron erschließen 4. Homiletische Besinnung Den Text auslegen für die gegenwärtige Gemeindesituation 5. Rhetorische Gestaltung Die Predigt erarbeiten als geordnete Rede 6. Liturgische Gestaltung Die gottesdienstliche Feier als ganze im Team vorbereiten 7. Feier Das Auftreten im Gottesdienst bedenken
Dabei üben wir uns in die „Gottesdienstwoche“ ein. Wir quetschen nicht die lästige Arbeit der Gottesdienstvorbereitung in die späten Samstagabend-Stunden, sondern verteilen die Schritte der Vorbereitung auf die ganze Woche. Unser gesamter Dienst wird damit von der Gottesdienstvorbereitung begleitet, aber unsere Gottesdienstvorbereitung wird auch durch unseren gesamten Dienst befruchtet. Die Alten sagten dazu: mit dem Text und der Predigt „schwanger“ gehen. Wichtig ist jedenfalls: Fangen Sie rechtzeitig an! Nach einer theologischen Einführung zur Frage der Vollmacht in der Verkündigung werden wir diese sieben Schritte der Reihe nach vorstellen. Jedes Kapitel besteht aus einer kurzen Einführung, die den Sinn des jeweiligen Schrittes erörtert, bietet Arbeitshilfen und Arbeitsaufgaben, um schließlich an Hand eines Beispiels vorzustellen, zu welchen Ergebnissen diese Schritte in der Praxis führen können. Das Beispiel ist der konkreten Gottesdienstarbeit der Verfasser entnommen: der Gottesdienst zum 3. Sonntag nach Epiphanias (mit der Predigt über Joh. 4, 5–14, Reihe V) 8
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wurde am 20./21. Januar 2001 in der evangelischen Matthäuskirche in Münster/Westfalen gefeiert. Wir hoffen, dass unser kleines Arbeitsbuch denen hilft, die sich auf Verkündigungsdienste vorbereiten. Wir denken dabei an Theologiestudierende, an Absolventinnen und Absolventen von Bibelschulen, Missionsseminaren und Diakonenanstalten sowie an Vikarinnen und Vikare im zweiten Ausbildungsabschnitt. Wir denken auch an die Pfarrerin oder den Pfarrer, die sich einen frischen Impuls für ihre Gottesdienstvorbereitung wünschen. Ebenso denken wir an all die anderen hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Verkündigungsdienst. Aber: nicht nur für Theologen ist dieses Buch gedacht. Uns standen immer wieder die Christinnen und Christen vor Augen, die sich zu Lektorinnen und Lektoren, Prädikantinnen und Prädikanten, Laienpredigerinnen und Laienpredigern ausbilden lassen und aus dem gottesdienstlichen Leben vieler Gemeinden nicht mehr wegzudenken sind. Wir hoffen, dass auch ihnen die Arbeit mit diesem Buch Nutzen bringt und Freude bereitet. Wir danken HANS-JÜRGEN HOEPPKE für seine Mitwirkung bei der Entstehung des Manuskripts. Weitenhagen und Wackerow, am Neujahrstag 2001 Michael Herbst und Matthias Schneider
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Mit Vollmacht predigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Theologische Grundlegung
1. Vollmacht – ein verlorener Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kleines Biblicum: Vollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eine pastoraltheologische Meditation von Lk. 5,1-11: „Aber auf dein Wort hin ...“ will ich von meiner Verkündigung wieder etwas erwarten! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Theologische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Persönliche Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Homiletische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Kybernetische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Das homiletisch-liturgische Arbeitsbuch
Erstes Kapitel Die Einordnung ins Kirchenjahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 Einige grundsätzliche Vorbemerkungen zur Einordnung der Gottesdienste und zur zeitlichen Planung der Gottesdienstvorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die praktischen Schritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Kapitel Die persönliche Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Der Sinn der persönlichen Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Worum es geht: Ein Brief Dietrich Bonhoeffers (8. 4. 1936) . 2.1.2 Der Sinn der persönlichen Betrachtung in der Predigtvorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Der „Text für mich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Das persönliche geistliche Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Der besondere Zugang zur Bibel in der persönlichen Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die praktischen Schritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Der erste Schritt: Die Vorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. „Stille suchen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b. „Erste Eindrücke“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Der zweite Schritt: „Vorgang“ oder „Filmkamera“ . . . . . . . . 2.2.3 Der dritte Schritt: „Heilsgeschehen“ oder „Anbetung“ . . . . . 2.2.4 Der vierte Schritt: „Betroffenheit“ oder „Identifikation“ . . . . 2.2.5 Der fünfte Schritt: „Vor-Sätze“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drittes Kapitel Die Exegese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 Grundsätzliche Überlegungen zur Exegese biblischer Texte im Rahmen der Gottesdienstvorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Die Bibel als ein weiterer Beleg der Demut Gottes (J. G. Hamann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Mehr und Größeres kann kein Buch schenken . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Exegetische Arbeit in der Predigtvorbereitung als Kunst des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2 Die praktischen Schritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exegetische Arbeit am hebräischen oder griechischen Text . . . . . . 3.2.1 Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Wie lautet mein Text eigentlich? (Textkritik) . . . . . . . . . . . . . . . . – Wie ist mein Text zu übersetzen? (Erste Übersetzung) . . . . . . . . . – Wie ist mein Text abgegrenzt? (Erste Orientierung) . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die Form des Textes: Wie steht mein Text da? (Synchrone Exegese) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Die sprachlich-syntaktische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Die semantische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3 Die pragmatische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.4 Die Analyse der Textsorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Der Ort des Textes: Wo steht mein Text? (Diachrone Exegese) . 3.2.3.1 In welchem Kontext steht mein Text? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.2 Welche schriftlichen Quellen sind in meinem Text verarbeitet worden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.3 Kann eine mündliche Vorgeschichte des Textes erkannt werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.4 Wie hat die Endredaktion des Textes ausgesehen? . . . . . . . 3.2.3.5 Wie ist die Geschichte des Textes danach weitergegangen? 3.2.4 Das Wort: Was bedeutet mein Text? (Einzelexegese) . . . . . . . 3.2.5 Das Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5.1 Die Intention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5.2 Das Kerygma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5.3 Das Idion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Ein vereinfachtes Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
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3.3.1 Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Wie lautet mein Text? – Wie ist mein Text abgegrenzt? (Erste Orientierung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die Form des Textes: – Wie steht mein Text da? . . . . . . . . . . 3.3.2.1 Die sprachlich-syntaktische Analyse – Welche Worte benutzt der Autor („Lexikon“) und wie verknüpft er sie („Grammatik“)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.2 Die semantische Analyse – Welche textsemantischen Erkenntnisse können wir sammeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Welche wortsemantischen Erkenntnisse können wir sammeln? . . – Wie erzählt der biblische Zeuge seine Geschichte? . . . . . . . . . . . 3.3.2.3 Die pragmatische Analyse – Welche Absichten verfolgt der biblische Autor mit seinem Text? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.4 Die Frage nach der Textsorte bzw. dem Sitz im Leben . . . . 3.3.3 Der Ort des Textes: Wo steht mein Text? . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.1 In welchem Kontext steht mein Text? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.2 Welche schriftlichen oder mündlichen Quellen sind in meinem Text verarbeitet worden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Das Wort: Was bedeutet mein Text? (Einzelexegese) . . . . . . . 3.3.5 Das Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5.1 Die Intention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5.2 Das Kerygma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5.3 Das Idion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Viertes Kapitel Die Homiletische Besinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 Der Sinn der Homiletischen Besinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Zwischen exegetischem Referat und freiem Kommentar über Gott und die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Es geht in der Predigt nicht darum, einen biblischen Text einfach zu wiederholen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Ebenso wenig ist eine gelungene Zeitanalyse eine Predigt. Exkurs: Der Prediger und die Predigerin als Anwälte der Hörerinnen und Hörer (ERNST LANGE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Die Predigt als Anrede an die Gemeinde, nicht als Referat über etwas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Es geht also um den „Text für dich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Das bipolare Predigtverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Das bipolare Predigtverständnis entspricht der Tendenz biblischer Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Mit unserem Wissen über die Hörerinnen und Hörer horchen wir auf den Texte und entdecken unsere Hörerinnen und Hörer aufs Neue in der Bibel (J.G. HAMANN) . . . . . . .
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4.1.5 Warnung vor dem Hörer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 Die praktischen Schritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 In welcher Situation predige ich? – Was weiß ich über die Situation der Gemeinde, mit der ich Gottesdienst feiern werde? . . – Was weiß ich über die „homiletische Großwetterlage“? . . . . . . . – Was passiert, wenn „meine Gemeinde“ und der biblische Zeuge miteinander reden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Finde ich den Text noch an ganz anderer Stelle? . . . . . . . . . . . . . – Wie predigen Raum, Zeit und Liturgie den Text? . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Wie gehört dieser Text in das Ganze des Glaubens hinein? . . 4.2.3 Zwei weitere Bezugsgrößen für unsere Predigt: Seelsorge und Gemeindeaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Predigt und Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Predigt und Gemeindeaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Was sollen wir nun sagen? (Die Invention) . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4.1 Das Predigtziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4.2 Der Predigtstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4.3 Die Predigteigenart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3 Die Kunst der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium . . 4.3.1 Gesetz und Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Sieben typische Fehler bei der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Erstens: Wir verzichten auf das Gesetz, weil wir das Gericht Gottes nicht ernstnehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Zweitens: Sprache der Gesetzlichkeit I – Der Konditionalis in der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Exkurs: Die Kirche und die Hilfsverben (CARSTEN ISACHSEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Drittens: Sprache der Gesetzlichkeit II – Die Frage in der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Viertens: Gesetz statt Evangelium I – Die falsche Forderung . . . – Fünftens: Gesetz statt Evangelium II – Menschen handeln, nicht Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Sechstens: Evangelium ohne Konsequenzen – die Predigt, die nicht mehr um Menschen ringt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Siebtens: Gebot ohne Konkretion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Fünftes Kapitel Die rhetorische Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 5.1 Der Sinn der rhetorischen Gestaltung: Verständlichkeit, Relevanz und Genauigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 – Verständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 14
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Kleiner Exkurs: Kunst oder Handwerk? Kunsthandwerk! . . . . . . . – Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Genauigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Ein Beispiel für sprachliche Sorgfalt: ROMAN HERZOGS Rede in Warschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die praktischen Schritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Die antike Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Zwischen CICERO und HAIDER – oder: Vom Schatten der Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Die Schritte rhetorischer Arbeit in der Predigtvorbereitung . . 5.2.2.1 Das genus praedicandi (Modelle des Predigens) . . . . . . . . . 5.2.2.2 Die Partition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Textpredigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Themapredigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.3 Der Predigteinstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.4 Der Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.5 Wider die Kleinverständlichkeit – Die Arbeit an der Verständlichkeit der Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verständlichkeit ist messbar – Erstens: Einfachheit und Kompliziertheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Zweitens: Gliederung und Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Drittens: Kürze und Prägnanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Viertens: Zusätzliche Stimulanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Die sprachliche Miniatur in der Predigt . . . . . . . . . . . . . . .
5.3 Zwölf Pleiten, Pech und Pannen – die Homiletischen Lasterkataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Erstens: Sprache Kanaans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Zweitens: Innere Konsistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Drittens: Spielregeln bestimmter Sprechakte . . . . . . . . . . . . . . . . – Viertens: Konkretion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Fünftens: Konnotationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Sechstens: „Heiße Kartoffeln“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Siebtens: Die Heiligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Achtens: Die Unterstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Neuntens: Pauschalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Zehntens: Wortgötzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Elftens: Schein-Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Zwölftens: Tunnelpredigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sechstes Kapitel Die liturgische Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 6.1 Der Sinn der liturgischen Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 6.2 Gottesdienstordnung: Vorschlag und Erläuterungen . . . . . . . . . – Vorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Eröffnung und Anrufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Eröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anrufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Verkündigung und Bekenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Verkündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Bekenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Abendmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Sendung und Segen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6.3 Zur Liedauswahl für den Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
6.4 Anmerkungen zu den Fürbitten im Gottesdienst . . . . . . . . . . . . 194
6.5 Die Checkliste zur Gottesdienstvorbereitung . . . . . . . . . . . . . . 197 Siebtes Kapitel Die Feier des Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 7.1 Von der liturgischen Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
7.2 Das Predigtmanuskript als Stütze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 7.3 Das Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
7.4 Das Umfeld des Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
Achtes Kapitel Das Gottesdienstnachgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 8.1 Der Sinn des Gottesdienstnachgesprächs . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
8.2 Das Gottesdienstnachgespräch in Greifswald . . . . . . . . . . . . . . 210 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Anhang: Predigt über Joh. 4,5-14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 16
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I. Theologische Grundlegung Mit Vollmacht predigen
Literaturhinweis BOHREN, RUDOLF: Predigtlehre, München 1971, bes. 83–85; SORG, THEO: Berufung und Vollmacht. Von den Grundlagen geistlichen Dienstes. Gießen 1965, 2 1985.
In der Verkündigung des Evangeliums will Gott zu Wort kommen und sich in Jesus Christus durch den Heiligen Geist zu erkennen geben. Wir haben deshalb die Aufgabe, den Menschen mitzuteilen, was sie unbedingt von ihm erfahren sollen. Gegründet auf biblische Texte, in denen er sich der damaligen Gemeinde eröffnete, kündigen wir die Gegenwart des sich selbst treu bleibenden Herrn der heutigen Gemeinde an.1 So findet es sich auch in den meisten zeitgenössischen Predigtlehren. JÜRGEN ZIEMER z.B. schreibt: „Die Predigt ist in der Regel bezogen auf Texte der Heiligen Schrift. In der äußeren Bindung an einen bestimmten Bibelabschnitt findet die innere Bindung an das Wort Gottes ihren Ausdruck.“2 Und HORST HIRSCHLER sagt es so: „Die Predigt soll der Hörergemeinde den biblischen Text als Hilfe zum Leben erschließen.“3 So entspricht es auch dem apostolischen Auftrag, den Paulus wie eine höchste Wertschätzung durch Gott selbst empfindet: „Weil Gott uns für wert geachtet hat, uns das Evangelium anzuvertrauen, darum reden wir, nicht, als wollten wir den Menschen gefallen, sondern Gott, der unsere Herzen prüft“ (1. Thess. 2,4). Wie kann es aber gelingen, dass es zwischen dem Bibelwort und der heutigen Gemeinde wieder funkt, und dass die Predigt der Ort ist, an dem es funkt? Damit stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Vollmacht in der Verkündigung. 1. Vollmacht – ein verlorener Begriff 4
Gehen wir an das Thema „Mit Vollmacht predigen“ so heran, wie es gute Theologen-Sitte ist! Durchforsten wir also unseren homiletischen Bücherschrank, Abteilung: Lehrbücher, Inhaltsverzeichnis und Register. Stichwort: „Vollmacht“. Ergebnis: Fehlanzeige. HORST HIRSCHLER, 1 So formuliert es MANFRED SEITZ in seinem „Homiletischen Exerzitium“, Erlangen Masch. Man., u.a.1979, 1. 2 J. ZIEMER, in: K.-H. BIERITZ U.A., Handbuch, 207–248, hier: 209. 3 H. HIRSCHLER, Biblisch predigen, 15. 4 Dieses Kapitel ist eine überarbeitete Fassung von: M. HERBST, Vollmacht.
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WOLFGANG TRILLHAAS, PETER BUKOWSKI: Fehlanzeige. HANS-WERNER DANNOWSKI, HELGE STADELMANN, Handbuch Predigt: Fehlanzeige. Auch die Alten: LEONHARD FENDT, HELMUTH SCHREINER, JULIUS SCHIEDER: Fehlanzeige. Der Katholik ROLF ZERFAß: Fehlanzeige. Ab ins Ausland, aber: GUSTAV WINGREN (Schweden) und HADDON ROBINSON (USA): Fehlanzeige.5 Einzig RUDOLF BOHREN hat sich in seiner 1971 erschienenen „Predigtlehre“6 mit der Frage der Vollmacht in der Verkündigung beschäftigt. Natürlich ist die Sache bei den meisten irgendwie zu finden: unter der Überschrift „Wort und Geist“ oder „Die Wirkung der Predigt“ oder „Der Prediger“ – da findet sich schon manches, aber der theologische Begriff Vollmacht oder sein griechisches Äquivalent e>qousi/a („exousia“) spielt in den Homiletiken nach dem Zweiten Weltkrieg keine Rolle mehr. Vermutlich ist damit mehr verloren gegangen als nur ein Begriff. CHRISTIAN MÖLLER hat einmal beklagt, dass wir nur noch nach der Kompetenz fragen und Wettbewerbsfähigkeit suchen: Pfarrer und Pfarrerin werden „nicht an der Reinheit ihrer Gesinnung, sondern an der Kunstfertigkeit ihrer professionellen Arbeit und am Erfolg ihres Handelns gemessen“7. Die Forderung nach immer mehr Kompetenz in mehr Bereichen aber steigere den Leistungsdruck des Pfarrers ins Unermessliche8. Dennoch: die erlernbare Kompetenz ist gut. Wir möchten Studierende so ausbilden, dass sie im Blick auf ihre Persönlichkeit, im Blick auf theologische Urteilsfähigkeit und auch im Blick auf das pastorale Handwerk kompetent werden. Aber haben sie darum auch schon Vollmacht? Was hat Vollmacht mit Kompetenz zu tun? Braucht der Vollmächtige noch Kompetenz und der Kompetente noch Vollmacht? Einer der wenigen, die sich intensiv mit der Frage nach der Vollmacht in der Verkündigung beschäftigt haben, ist der frühere Württembergische Bischof THEO SORG mit seiner kleinen Studie „Berufung und Vollmacht“ aus dem Jahr 1965.9 Im Mittelpunkt der Überlegungen SORGS steht Offb. 3,8: „Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, und niemand kann sie zuschließen, denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet.“ Es geht THEO SORG einerseits um eine Beschreibung von Vollmacht: sie ist die Tür, die Gott der Verkündigung und damit 5 Zur angegebenen Literatur: H. HIRSCHLER, Biblisch predigen; W. TRILLHAAS, Einführung; P. BUKOWSKI, Predigt; H.-W. DANNOWSKI, Kompendium; H. STADELMANN, Schriftgemäß predigen; K.-H. BIERITZ, U.A. (HG.), Handbuch; L. FENDT, Homiletik; H. SCHREINER, Verkündigung; J. SCHIEDER, Predigt; R. ZERFAß, Grundkurs; G. WINGREN, Predigt; H.W. ROBINSON, Preaching. 6 R. BOHREN, Predigtlehre, z.B. 83–85 und öfter. 7 C. MÖLLER, Amt, 465. 8 A.a.O., 466. 9 T. SORG, Berufung.
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dem Verkündiger bei den Menschen öffnet. Vollmacht kommt also von Gott, der seine Boten aussendet, befähigt und ihren Dienst bestätigt. Andererseits will SORG aufzeigen, wie das Leben von Menschen aussieht, die von Gott bevollmächtigt werden. Sie haben eine kleine Kraft, d.h. Gott kann auch und gerade den Schwachen in besonderer Weise bevollmächtigen. Sie haben sein Wort behalten, d.h. ihre Verkündigung ist an die Christus-Offenbarung im apostolischen Zeugnis gebunden. Und sie haben seinen Namen nicht verleugnet, d.h. sie sind treu geblieben, wenn es darum ging, den einen Namen zu bekennen, in dem die Menschen Rettung finden sollen. 2. Kleines Biblicum: Vollmacht
Was sagt die Heilige Schrift zum Thema Vollmacht? Ist Vollmacht eine besondere Auszeichnung weniger? Sind es also die religiösen Genies, die Vollmacht haben? Ist Vollmacht überhaupt etwas, was Menschen haben können? Und wenn sie Vollmacht haben, ist das dann dasselbe wie Erfolg? Wer sich in das Internet einschaltet und einer Suchmaschine den Auftrag gibt, den Begriff Vollmacht aufzusuchen, stellt sehr bald fest: das Wort Vollmacht findet sich fast ausschließlich in juristischen Kontexten. Da ist z.B. der §167 BGB: „Die Erteilung der Vollmacht erfolgt durch Erklärung gegenüber dem zu Bevollmächtigenden oder dem Dritten, dem gegenüber die Vertretung stattfinden soll.“ Eine Vollmacht ist demnach eine Handlungsberechtigung, die einer seinem Vertreter für bestimmte Geschäfte oder Verrichtungen erteilt. Vollmacht ist juristisch gesehen stets von einem anderen erteilte, d.h. abgeleitete, an einen Auftrag gebundene und auch revozierbare (§ 168 BGB) Ermächtigung. Dann aber ist sie auch tatsächliche Ermächtigung: Der Bevollmächtigte ist zeichnungsberechtigt und kann im Namen des Bevollmächtigenden handeln, Verträge abschließen, Gelder bewilligen usw. Wir kennen solche Vollmachten in unserem Alltag bis hin zu Handlungsvollmachten für unsere Sterbestunde.10 So ist es auch im jüdischen Botenrecht: Der Gesandte ist wie der Sendende! Ein schönes Beispiel dafür ist Davids Brautwerbung um Abigajil 1.Sam. 25,39b–42. Und so ist es auch sprachlich in den biblischen Texten: Ist dort von Vollmacht die Rede (e>qousi/a „exousia“), so ist sie im Unterschied zur Kraft
10 So z.B. die „Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“ vom 11.9.1998, die (Kapitel 4 und 5) empfehlen, man solle im Blick auf eine u.U. eintretende Einwilligungsunfähigkeit einen Bevollmächtigten benennen, der im Interesse des z.B. komatösen Patienten mit den Ärzten über das weitere Vorgehen spricht und den Willen des Patienten zur Geltung bringt.
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(du/namij11, „dynamis“) die „von einer höheren Instanz oder Norm gegebene Möglichkeit und damit das Recht, die Erlaubnis, etwas zu tun.12“ Nicht innere Qualitäten zählen hier, von denen wir ein „mehr“ oder „weniger“ besitzen könnten, sondern die „von oben“ erteilte Befugnis. Wer „in Vollmacht“ handelt, handelt immer in abgeleiteter Autorität: „im Namen“. Aber „im Namen“ handelt er so wie der, der ihn autorisiert hat. Er hat Prokura, er ist Handlungsbevollmächtigter. Diese ist nicht sein Besitz. Sie kann ihm wieder entzogen werden (vgl. etwa die Geschichte des Königs Saul). Und sie ist keine Generalvollmacht: er kann damit nicht tun, was er will, sondern nur das, was er tun soll. Der „Blick“ der e>qousi/a („exousia“) geht also in zwei Richtungen: sie ist von oben gegeben (woher) und sie ist zu einem festen Zweck überlassen (wozu). Andere als von Gott verliehene Vollmacht kennt die Bibel nicht. Das gilt auch für die Macht des Teufels und seiner Heerscharen (vgl. Hiob 1–3, aber auch Offb. 6,8). Auch deren (reale!) Macht etwa zu Verführung, Lüge und Mord ist nur begrenzte Macht: in ihrer Fülle wie in ihrer zeitlichen Ausdehnung. Die Macht Gottes wird nicht durch eine ebenso große Gegenmacht begrenzt oder auch nur gefährdet: sie umgreift vielmehr heilvoll alle anderen Mächtigkeiten (Lk. 22,53; Apg. 26,19), so gewaltsam und böse sie sich auch darstellen: „Der Fürst dieser Welt, so sau’r er sich stellt, tut er uns doch nicht; das macht, er ist gericht’: ein Wörtlein kann ihn fällen“ (EG 362,3). Nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes ist Jesus der Träger der e>qousi/a („exousia“) schlechthin. Sie ist ihm gegeben durch die Sendung des Vaters (Woher? – Joh. 20,21a: „Wie mich mein Vater gesandt...“). Sie ist ihm gegeben, damit er tut, was der Vater will (Wozu? – Joh. 5,30: „Ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.“), und zwar zum Heil der Menschen. Jesu Vollmacht ist etwas ganz anderes als die Vollmacht des Statthalters Pontius Pilatus (Joh. 19,10f.), der seine (von Jesus sofort als von oben geliehene Macht charakterisierte) e>qousi/a zum Losgeben oder Kreuzigen, also zu Heil oder Unheil gebrauchen kann. Es ist die besondere Erfahrung der Menschen, denen Jesus begegnete, dass der Mann aus Nazareth sprach – und es geschah. Exemplarisch wird diese heilsame Vollmacht Jesu beschrieben in Lk. 4 und 5: in seiner Vollmacht entreißt er Menschen dämonischen Mächten (Lk. 4,36), predigt er das Evangelium vom Reich (4,32), vergibt er Menschen ihre Schuld und heilt ihre Krankheiten (5,17–26). Aufschlussreich ist dabei die Einsicht, dass es Jesus offenbar in seiner Vollmacht stets gelang, das Herz der Menschen zu treffen, die es mit ihm zu tun bekommen. Sein Reden und Tun erzielte also stets Wirkung, aber nicht immer im intendierten Sinne. Die Antrittspredigt in Nazareth etwa 11
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du/namij steht für die dem Subjekt innewohnende Kraft und deren Ausübung. A. NOORDEGRAAF, Vollmacht, 2115–2117.
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(4,14–30) ist ein gutes Beispiel: er kommt „in der Kraft des Geistes“ (4,14), er zieht sofort die Aufmerksamkeit auf sich (4,20), seine Predigt „kommt an“, aber ihr Ergebnis ist allgemeiner Zorn und der (allerdings vergebliche) Versuch, den Prediger zu steinigen (4,28–30). Jesus hat in seiner e>qousi/a („exousia“) also durchaus nicht immer Erfolg, aber es kommt stets zu Wirkungen. Jesu Wirken in Nazareth und in Kapernaum unterscheidet sich nicht durch Vollmacht und Ohnmacht, sondern durch höchst wirksame, aber eben die Hörer in Glaubende und Sich-Verweigernde scheidende Vollmacht. Es gehört zum Geheimnis der Vollmacht Jesu, dass sie Menschen innerlich aufschließt zu einem freien und frohen Ja oder aber Halt macht vor dem dunklen Geheimnis eines sich verschließenden Nein. Es gehört zum Wesen des Evangeliums, dieses Nein nicht gewaltsam zu brechen und den sich Verweigernden nicht zu zwingen. Jesus bleibt nun in seiner e>qousi/a („exousia“) nicht Solist. Vielmehr sendet er die Jünger aus und beteiligt sie damit an seinem Tun. Die Aussendung ist immer zugleich auch Bevollmächtigung und Befähigung. Jünger sind dazu berufen, in Jesu Nähe zu sein, von ihm zu lernen und zugleich in Vollmacht zu predigen und zu handeln: „Und er setzte zwölf ein, die er auch Apostel nannte, dass sie bei ihm sein sollten und dass er sie aussendete zu predigen und dass sie Vollmacht hätten, die bösen Geister auszutreiben“ (Mk. 3,13–15). Und darum kann es auch heißen: „Wer euch hört, der hört mich!“ (Lk. 10,16). Und: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“ (Joh. 20,21). Das Erstaunlichste, was über die Jünger gesagt werden kann, ist diese Ermächtigung: „Nun mag ich und eyn iglicher, der Christus Wort redet, frey sich rhumen, das seyn mund Christus mund sey. Ich bynn yhe gewisz, das meyn wort nitt meyn, sondern Christus Wort sey, szo mus meyn mund auch des seyn, des wort er redet.“ (MARTIN LUTHER).13 Besonders deutlich wird diese Sendung als Bevollmächtigung in Mt. 9f. Nachdem in einem Summarium (9,35) Jesu Tun zusammengefasst wird als Umhergehen, Lehren, Predigen und Heilen, werden die Jünger ausgesandt und ausdrücklich bevollmächtigt, dasselbe zu tun, was sie Jesus tun sahen (10,1; vgl. auch 10,7f.). Ausdrücklich heißt es (10,1): er gab ihnen e>qousi/a („exousia“). Aber diese den Jüngern verliehene e>qousi/a („exousia“) ist kein Besitz: „Sie bleibt nur erhalten, wenn Gott durch die Kraft seines Geistes die Beauftragung beständig erneuert und ihnen das Wort schenkt, das sie zu sagen haben.“14 Im Blick auf die Wirkungen sind die Jünger nicht über ihrem Meister: Wirkung ist ihnen verheißen, nicht aber durchgängiger Erfolg. Auch sie 13 14
M. LUTHER, Ermahnung, WA 8, 638. T. SORG, Berufung, 34.
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erfahren Zustimmung und Ablehnung, Siege in der sichtbaren und unsichtbaren Welt und auch Verfolgung und Anfechtung. Sie erleben, dass Vollmacht für sie nicht das Selbstverständliche ist: die Erfahrungen der Ohnmacht (Mk. 9,14–28) zeigen ihnen, dass sie von der Vollmacht Jesu abhängig bleiben. Zu ihrem Höhepunkt kommt die biblische Rede von der e>qousi/a („exousia“) in Mt. 28,18–20. Der Auferstandene proklamiert in seinem „Regierungsantritt“, ihm sei nun alle e>qousi/a auf Erden übergeben (Mt. 28,18). Im Blick auf die Aussendung der Jünger in alle Welt und zu allen Völkern ist dies eine wesentliche Bestimmung: dem, der sie sendet, gehört nicht nur „ein bisschen e>qousi/a“, während andere Mächte leider noch „sehr viel e>qousi/a“ besitzen. Ihm gehört alle e>qousi/a so dass seine Gesandten nicht als Frontkämpfer losziehen, die mühsam den einen oder anderen Meter für Gott erstreiten. Sie kommen auch nicht als missionarische Kampfsportler, die ihre Gegner im Streit um die Wahrheit niederringen müssen. Sie kommen aber in der gelassenen Gewissheit: Ihm gehört alle e>qousi/a. Sie kommen und bitten die Menschen in allen Völkern darum, diese e>qousi/a doch auch anzuerkennen und ihr nicht länger zum eigenen Schaden zuwider zu leben. Das ist die missionarische Dimension unserer Verkündigung. Das heißt aber auch: Alle Vollmacht bleibt an den Auferstandenen gebunden. Weil und insofern wir an ihn und seine Absichten gebunden sind und bleiben, ist uns Vollmacht zugesagt. Abseits von ihm gibt es nur PseudoVollmacht: menschliche Überredung oder auch unmenschliche Überwältigung. Der Sendung Jesu entspricht darum auch ein bescheidenes und liebevolles Auftreten, nicht ein gewaltsames und machtvolles Gehabe (vgl. zu diesen Problemen 1. Kor. 2,1–5). Es ist auch nach Ostern die e>qousi/a des Gekreuzigten, in der die Jünger in aller Welt unterwegs sind. Die Schwachheit der Gesandten ist darum konsequenterweise kein Hindernis für die e>qousi/a. Paulus macht es am Beispiel seiner eigenen Person deutlich: er beklagt seine Schwachheit und muss hören: „Lass dir an meiner Gnade genügen. Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2. Kor. 12,1–10). Gerade der, der nicht zu „genügen“ scheint, kann für Gottes Vollmacht das richtige Gefäß sein. Ein echtes Hindernis für die e>qousi/a („exousia“) aber ist Sünde. Johanneisch gesprochen: „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh. 15). In diesem Sprachduktus geht es darum, bei Jesus zu bleiben, d.h. sein Wort zu hören und zu tun, in der Liebe zu bleiben und im Gehorsam gegenüber seinen Geboten. Der Ungehorsame blockiert die Vollmacht, er ist nicht mehr durchlässig für das, was der Auferstandene durch ihn tun will.
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3. Eine pastoraltheologische Meditation von Lk. 5,1–11: „Aber auf dein Wort hin...“ will ich von meiner Verkündigung wieder etwas erwarten!
Wir halten fest, dass Vollmacht nicht die Eigenschaft einer besonders genialen, frommen, geistlichen oder gar geistgetauften Persönlichkeit ist, sondern etwas, das der Herr seiner Gemeinde überträgt, eine Handlungserlaubnis, die zugleich die nötige Wirkkraft mitgeliefert bekommt. Dass e>qousi/a („exousia“) auch bei Jesus nicht bedeutete, dass er immerzu Erfolg hatte und ihm überall die Scharen zuflogen, das beweist Nazareth! Dass Vollmacht nicht durch Schwachheit, wohl aber durch Sünde blockiert wird, das macht doch nachdenklich. Vielleicht sagt sich aber der eine oder die andere jetzt: „Schade, ich hatte so gehofft, hier etwas zu finden, das mich ermutigt und mir hilft, mit meinen bitteren Erfahrungen fertig zu werden. Was nützt es mir zu hören, dass die Sendung Jesu immer auch Bevollmächtigung ist, also äußere Berechtigung und innere Befähigung, wenn ich das gerade nicht erlebe, wenn ich müde bin und verzagt, manchmal am liebsten ‚die Klamotten hinschmisse‘, weil im Grunde nichts geschieht!“ THEO SORG hat auf die Strategien hingewiesen15, die sich in Theologenkreisen ausbreiten, wenn es darum geht, die faktische Wirkungslosigkeit vieler Predigten zu erklären. Es sind besondere Strategien: „Der Geist der Zeit ist schuld!“ „Die Vielfalt eingängigerer Heilslehren findet eher das Gehör!“ „Die Medien haben es zu verantworten, dass wir nicht mehr zuhören können!“ Noch theologischer sind andere Erklärungsmuster: „Die Herde ist eben immer klein!“ „Wir sollen nicht auf das sichtbare Ergebnis schauen!“ Oder: „Der normale Erfolg des Wortes Gottes ist der Misserfolg!“ Alles sehr klug und vor allem sehr fromm! Und doch ist es fatal, weil die Kraft Gottes kleingeredet wird. „Die gefährlichste Konsequenz ... ist die, dass sich ein Verkündiger mit der Echolosigkeit seines Dienstes abzufinden beginnt. Er resigniert, weil ihm der Glaube an die Wirkung des Wortes wankend geworden ist, das er in Gottes Auftrag zu sagen hat. Er findet sich damit ab, dass sein Reden ein Säen in der Wüste ist. Möglicherweise weicht er dann auf andere Gebiete aus, in die Politik, in den Bereich des Sozialen, zur Ökologie oder Psychologie. Vielleicht benutzt er auch ein gängiges biblisches Vokabular, das aber abgebraucht und leer ist, Hülsen ohne Inhalt. Liegt nicht gerade hier die tiefste Gefährdung unseres Dienstes: es wird geredet und geredet, aber es wird nichts mehr ausgesagt! ... Worte ohne Wirkung.“16 Diesen Predigerinnen und Predigern sei eine pastorale Meditation über eine bekannte Geschichte aus Lk. 5 („Der Fischfang des Petrus“) gewid15 16
A.a.O., 26f. A.a.O., 27.
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met, die vordergründig nichts mit Vollmacht zu tun hat. Dabei möchten wir einen Leitsatz über diese Meditation stellen: „Ich will wieder etwas von meiner Verkündigung erwarten.“ Das ist jetzt ganz weltlich und überhaupt nicht so fromm formuliert. Natürlich könnte es auch heißen: Ich will wieder ernst nehmen, dass Gottes Wort nicht leer zurückkommt. Wir sagen es aber einfach und schlicht: „Ich will wieder etwas von meiner Verkündigung erwarten.“ Der Fischer Simon war die ganze Nacht draußen und kommt mit leeren Netzen nach Hause zurück. Und dann kommt Jesus und sagt ihm: „Komm, fahr noch einmal hinaus und wirf die Netze aus.“ Da bricht es aus Simon heraus: Herr, die ganze Nacht haben wir es versucht. Wir sind müde. Wir sind kaputt. Und was ist dabei herausgekommen: Nichts. Leere Netze. Das darf er aussprechen. Er darf es Jesus erzählen. Er muss nichts schönreden. Er muss nicht so tun als ob. Vor Jesus darf der ganze Frust raus. Wir haben doch alles probiert, Herr. Damit geht es los, das ist das erste: ich darf es aussprechen, dass das bei mir mit der Vollmacht nicht so weit her ist. Aber dann ist da etwas, das ein klein wenig stärker wird als der Frust. Aber auf dein Wort hin. Auf dein Wort hin. Simon hat Jesus reden hören, und er hat mitbekommen, was Jesu Wort vermochte: wie Kranke aufstanden, Gebundene frei wurden, Arme die gute Nachricht hörten. Auf dein Wort hin. Ein klein wenig stärker ist es als die Enttäuschung. Er wagt es und macht den Fischfang seines Lebens. Das ist das zweite: ich wage es auf sein Wort hin. Ich beschließe noch einmal neu, meine Berufung anzunehmen und überhaupt wieder etwas Gutes zu erwarten, mit viel Skepsis im Herzen und Angst vor Enttäuschung, aber ich wage es. Aber dann geht es noch einmal ganz in die Tiefe. Gerade die Güte Gottes macht dem Simon klar, wer er ist und wer Jesus ist. Keiner in der Mitarbeit Jesu, der nicht irgendwann in diese Tiefe gerät. Und Simon nimmt das Urteil vorweg: Du musst gehen, Herr, denn du und ich, das geht nicht miteinander. Ich bin doch ein Sünder. Wäre es nicht wirklich besser, Herr, wenn du dir einen anderen suchtest? Aber was tut Jesus mit diesem Sünder? Anstatt sich zu distanzieren, zieht er ihn um so näher zu sich. Aus lauter Güte habe ich dich zu mir gezogen. Das ist der dritte Schritt: Sünde in meinem Leben wird ausgesprochen und vergeben. Und jetzt bekommt Simon seinen neuen Auftrag: Menschen soll er fangen. Es klingt ein bisschen nach den Rattenfängern von Hameln. Menschen soll er fangen wie zuvor Fische? Da muss man schon in den Urtext gucken. Das griechische Verb an dieser Stelle bedeutet wörtlich: „lebendig fangen“, aber auch „erneuern“ oder „(wieder)beleben“17. Wenn Fische ins Netz gehen, dann bedeutet das für sie den Tod. Wenn Menschen in das Netz Jesu gehen, werden sie erneuert und belebt. Vor einiger Zeit 17
So F. BOVON, Evangelium, 234 (beachte dort: Anm. 21).
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war etwas Beeindruckendes im Fernsehen zu sehen: Südafrikanische Wildhüter holen Flamingo-Junge, die von ihren Eltern im Stich gelassen wurden, aus einer Trockenzone heraus. Sie fangen sie und verfrachten sie dahin, wo es Wasser gibt und das Überleben möglich wird. Fangen, um aus der Todes- in die Lebenszone zu bringen! Darum geht es Jesus; darum beruft er den Simon und seine Freunde. Dazu sendet er uns. Menschen zu fischen, die ohne Jesus für Zeit und Ewigkeit verloren wären. Das ist nicht modern und schon gar nicht beliebt. Das sei Glaubens-Imperialismus, sagte ein Presbyter zu seinem Pfarrer. Aber wo so geredet wird, ist uns der Kontakt mit dem Wort Gottes verloren gegangen. Letztlich geht es Jesus um nichts anderes als um dieses Menschenfischen, das Menschen in Kontakt bringt mit der Gemeinde und dem Wort Gottes. Es geht nicht darum, dass wir „aus vollen Netzen Profit schlagen“, also nicht darum, dass es mit der Kirche weitergeht. Es geht um das Suchen Gottes, der es nicht erträgt, wenn Menschen verloren gehen mit ihrer Enttäuschung und Müdigkeit, mit ihrer Schuld und Gottlosigkeit, weil sie dem Retter Jesus Christus nicht begegnet sind. Wir können es auch so sagen: Der Prediger will nicht Werke von der Gemeinde erpressen, er will nicht nach einem lustlosen Vorspiel („Zuspruch“) zum Eigentlichen („Anspruch“) vordringen, er will nicht das Evangelium Jesu Christi als bloßes Exemplum anbieten, dem wir nachzueifern hätten. Er will vielmehr dem armen, bösen Menschen das Ja Gottes zurufen. Das Evangelium ist dann nicht ein Exemplum, sondern ein rettendes Sacramentum18. Das ist das vierte: ich nehme mir den Auftrag Jesu wieder zu Herzen. Vollmacht gibt es nur mit und im Blick auf einen Auftrag. Und das Netz, übervoll mit Fischen, wird zum Gleichnis. Die Netze sollen nicht leer bleiben, wenn wir es auf sein Wort hin doch wieder wagen. Es lohnt sich ja, auf sein Wort hin, trotz aller Enttäuschung. Wer weiß, ob nicht doch eines Tages die Netze zu reißen drohen. 4. Konsequenzen
4.1 Theologische Konsequenzen Sie betreffen den Bereich unserer geistlich-theologischen Urteile. Zwei Aspekte will ich herausstellen: Zum einen: Vollmacht ist zugesprochene Handlungsvollmacht. Wir sind als Predigerinnen und Prediger mit der ganzen Gemeinde Jesu zusammen gesandt, und weil wir gesandt sind, sind wir auch beauftragt, und weil wir beauftragt sind, sind wir auch Bevollmächtigte. „Ihr werdet die Kraft des C. MÖLLER, Seelsorglich predigen, 23–29, macht auf LUTHERS Unterscheidung zwischen einer Auslegung des biblischen Textes sacramenti vice oder exempli vice aufmerksam. 18
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Heiligen Geistes empfangen und werdet meine Zeugen sein“, in Cottbus und Rosenheim, in Tübingen und Itzehoe und in Stralsund und Düsseldorf. Da sollen wir nicht zweifeln, sondern es uns neu sagen lassen. Zum anderen: Wir sollen unterscheiden zwischen Wirkung und Erfolg. Wirkung hatte die Verkündigung Jesu, aber nicht immer Erfolg. In Nazareth, heißt es, konnte er fast nichts tun. Er traf das Herz von Menschen und stellte sie in die Entscheidung, aber die fiel keineswegs immer für ihn aus. Wir stehen nicht über unserem Meister. Anders gesagt: Wir müssen uns nicht jeden Misserfolg selbst zurechnen. Das ist das Gefährliche an diesem Thema: „Hättest du nur Vollmacht, dann würde es doch ganz anders aussehen in deiner Gemeinde“. Das gehört zur maßlosen Überbewertung des Pfarramtes, wenn wir so reden. Das ist eine ins Negative gewandte Allmachtsphantasie, die uns so denken lässt. Das berücksichtigt nicht die vielen Faktoren, die in einer Gemeinde einwirken, die Menschen und Geschichten, die Blockaden und Sturheiten, die Verschlossenheiten und auch Verstockungen. Genauso gefährlich ist natürlich das Gegenteil: Das Sich-Einrichten im Misserfolg und die geradezu ideologische Verdächtigung allen zahlenmäßigen Wachstums. Das ist geradezu ein neurotisches Arrangement, um es in der Sprache der Therapie zu sagen: Ich richte mich in dem ein, was krank macht. Ich verhalte mich so, dass sich das Negative immer nur wiederholen kann. Ein solches neurotisches Arrangement hat die Funktion, mich zu schützen vor eventuellen erneuten Enttäuschungen und Verletzungen. Ich mache Ihnen den Vorschlag, mit diesem neurotischen Arrangement zu brechen. Positiv gewendet: wieder etwas von Ihrer Verkündigung zu erwarten.
4.2 Persönliche Konsequenzen Im biblischen Teil haben wir gesagt: Schwachheit ist nicht das Problem, Sünde dagegen ist es. Jetzt wird es schwierig, hier weiterzumachen. Jetzt müsste man, wie es Paulus einmal schreibt, die Unordentlichen zurechtweisen, die Schwachen tragen und die Kleinmütigen trösten (1. Thess. 5,14). Oft ist es ja so, dass genau das Hören falsch herum geschieht: Die Unordentlichen haben sich eine Ölhaut zugelegt, die Kleinmütigen dagegen sind so dünnhäutig, dass sie sich immer für alles selbst die Schuld geben. Die persönliche Konsequenz lautet: Ich ergreife aufs Neue die Zusage und den Anspruch meiner Ordination. In der EKU-Ordinationsagende heißt es: „Du wirst nun ermächtigt zu predigen, zu taufen und das Abendmahl auszuteilen. In Gottesdienst, Unterweisung und Seelsorge sollst du am Aufbau der Gemeinden mitwirken und sie zum Dienst in der Welt ermutigen.“19 Das gilt es, neu zu ergreifen: Du wirst nun ermächtigt. Die gewiesene 19
Agende für die evangelische Kirche der Union, Bd. II/2, 19.
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Blickrichtung geht bei unserem Thema immer zu dem hin, der ermächtigt, und nicht auf uns selbst zurück. Dann aber geht es noch einmal um den Unterschied zwischen Schuld und Schwachheit. Schwachheit ist kein Hindernis für den Geist Gottes. Das haben wir heute noch einmal bei Paulus gelernt. Im Gegenteil: Der Schwache ist, wenn er sich für Gottes Tun öffnet, derjenige, der nicht durch Eigenmächtigkeit, also eigene Mächtigkeit dem Wirken des Geistes im Wege steht. Er weiß, dass er sich Vollmacht nicht nehmen, sondern sie nur erbitten kann.20 Aber Schuld ist ein Hindernis. Exemplarisch wird dies deutlich an Achans Diebstahl in Jos. 7. Achan hatte sich am Besitz Gottes vergriffen und die Folge war, dass es nicht weiter ging mit dem Volk Gottes. Die Landnahme geriet ins Stocken. Es liegt wie ein Bann auf dem Volk Gottes, dass der Segen nicht fließen kann. Ich denke, wir brauchen das auch als Predigerinnen und Prediger, regelmäßig Bilanz zu ziehen und unser Leben an den Maßstäben Gottes zu prüfen, auch im Blick auf die Vollmacht unseres Dienstes. Und die Wiederentdeckung der Beichte täte uns dann sicher auch gut. Die Sache ist präzise formuliert bei JOHANN CHRISTOPH BLUMHARDT, der in den ersten Jahren der Möttlinger Erweckung festhielt: „Alles Evangelium wirkt Buße. ... Was aber aus eigener Buße fließt, wirkt wieder Buße, auch wenn’s lauter Evangelium ist. Was aber nicht aus eigener Buße heraus geredet ist, wirkt wie Seifenblasen gegen Festungsmauern.“21 Positiv gewendet wird diese Seite unseres Themas durch das Stichwort vom Bleiben bei Jesus in Joh. 15. Darum geht es ja. „Ohne mich könnt ihr nichts tun“, sagt Christus (Joh. 15,5). Wenn ihr aber bei mir bleibt, bringt ihr viel Frucht. Und er sagt: dazu seid ihr bestimmt, viel Frucht zu bringen. Bleiben bei Jesus aber meint: an seinem Wort bleiben und an seinen Geboten bleiben, es meint also eine Übung und einen Gehorsam, eine Übung im Horchen auf Jesu Reden, einen Gehorsam gegenüber seinem Gebot. Unser Umgang mit Schrift und Gebet und unsere Umkehr zum Gehorsam, bis in die Fragen unseres Umgangs mit Geld, mit unserer Zeit, mit unserer Familie, mit unserer Geschlechtlichkeit, hat also Einfluss auf unsere Vollmacht. Dann geht es aber darum, Gott darum zu bitten, er möge unser Leben mit ihm erneuern und uns Berufschristen einen ganz neuen und frischen Zugang zum Evangelium schenken. JOHANNES BUSCH schrieb 1957 in seinen „Stillen Gesprächen“: „Je mehr du mit Jesus eins bist, desto mehr stehst du in deiner Arbeit in Kraft. Je mehr dein Leben Ihm gehört, desto vollmächtiger kannst du an anderen arbeiten.“22 20 21 22
K. EICKHOFF, Predigt, 19. Zitiert nach F. ZÜNDEL, Blumhardt, 151. J. BUSCH, Gespräche, 77.
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4.3 Homiletische Konsequenzen „Ich will von meiner Verkündigung wieder etwas erwarten“, so lautete der Leitsatz. „Ich will erwarten, dass Gott das, was ich sage, bestätigt und Wirkungen schenkt.“ Dieser Leitsatz steht im Widerspruch zur viel beklagten „Schüchternheit“23 der Predigerinnen und Prediger, die sich fast dafür entschuldigen, dass sie „noch“ predigen, oder die längst auf ein anderes Pferd setzen, wie jener junge Kollege, der in der Pommerschen Kirchenzeitung unter Berufung auf Jesus meint, es sei wichtiger, Gespräche zu führen, als Predigten zu halten, denn Jesus habe ja auch nicht gepredigt. Hat er nicht? Die Lustlosigkeit und Halbherzigkeit, der Mangel an Begeisterung und Freude am Weitersagen der besten Botschaft, die die Welt (leider nicht) kennt, sind Krankheitssymptome der Predigt. „Einer Gemeinde“ aber, so sagt es CHRISTIAN MÖLLER zu Recht, „bleibt es nicht lange verborgen, wenn ein Prediger von seiner Predigt nichts erwartet.“24 Darum beginnt die Erneuerung der Predigt in Kopf und Herz der Predigerinnen und Prediger, wenn sie sich sagen: „Ich will von meiner Verkündigung wieder etwas erwarten!“ Nun tut der Heilige Geist das ja am liebsten in enger Zusammenarbeit mit uns. Der Heilige Geist ist ein großer Teamarbeiter. Während Jesus die Schwerstarbeit unserer Versöhnung mit Gott allein verrichten musste, will der Heilige Geist uns möglichst intensiv an seiner Arbeit beteiligen.25 Er gleicht ein wenig dem Weinbergbesitzer in Mt. 20, 1–16, der von morgens bis abends über den Markt geht und Mitarbeiter sucht, die ihre Kraft und ihre Zeit und ihre Möglichkeiten in seinen Dienst stellen. Das bedeutet für die homiletischen Konsequenzen: Die vollmächtige Verkündigung fällt nicht nur einfach vom Himmel. Gewiss, ohne das Ja des Geistes ist sie unmöglich. Und darum ist das erste auch die stetige Bitte um das Kommen des Heiligen Geistes. Veni creator spiritus, komm, heiliger Geist! Wenn der Geist aber kommt, dann will er uns daran beteiligen und auch unser Handwerk. Technokraten neigen dazu, allzu sehr auf erlernbare Kompetenzen zu setzen; Charismatiker neigen dazu, den Geist allzu sehr als übernatürliche Superwaffe zu verstehen. Wenn wir also den Heiligen Geist bitten, unsere Verkündigung zu bevollmächtigen, dann wird er uns bitten, an unserem Handwerk zu feilen. Anders gesagt: In der Homiletik geht es darum, dem Geist zuzuarbeiten und nicht dem Geist im Wege zu stehen. Und so bekommt auch Kompetenz in der Frage der Vollmacht ihren sinnvollen Platz zugewiesen. Was heißt das praktisch? Unsere Greifswalder Studenten erlernen den Weg zum Gottesdienst und zur Predigt in sieben Schritten, die einige Hauptfaktoren von Gottesdienst und Predigt repräsentieren: das Kirchen23 24 25
C. MÖLLER, Seelsorglich predigen, 15. A.a.O., 16. Vgl. zu diesen Überlegungen R. BOHREN, Predigtlehre, 73–82.
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jahr als Zeit-Raum, den Prediger als Person, den Text in seiner geschichtlich gewordenen Gestalt, die Gemeinde an ihrem Ort und in ihrer Zeit, die Predigt als gestaltete Rede und den Gottesdienst, zu dem die Predigt etwas beiträgt, sowie die Darbietung und Inszenierung im tatsächlich gefeierten Gottesdienst. Es geht um die Einordnung in das Kirchenjahr, die persönliche Meditation, die exegetische Erklärung, die homiletische Auslegung, die rhetorische Gestaltung, die liturgische Feier und die praktische Darbietung. Diesen sieben Schritten entsprechen die sieben Kapitel im Hauptteil dieses Buches.
4.4 Kybernetische Konsequenzen Wieder etwas erwarten von der Predigt, das bedeutet auch: Konsequenzen für den Gemeindeaufbau ziehen. Wir denken dabei zunächst exemplarisch an die Zeit direkt vor und direkt nach den Gottesdiensten. Es geht um Gemeindeaufbau durch Sakristeiausbau. Vor dem Gottesdienst: Wie steht es um das Gebet für den Gottesdienst und die Verkündigung in ihm? Wollen wir wieder etwas erwarten, so sollen wir es auch konkret erbitten. Die Gemeinde ist die Trägerin der vollmächtigen Verkündigung. Sie wird darum auch für die, die auf verschiedene Weise an der Verkündigung beteiligt sind, bitten. Warum sollten nicht, angefangen mit Ältesten oder Presbytern, Christen zusammenkommen und den Gottesdienst im Gebet vorbereiten? Das Confiteor war ursprünglich das Rüstgebet der Liturgen in der Sakristei. Es ist eine große Rückenstärkung, vom Gebet der Geschwister getragen in den Gottesdienst einzuziehen. Nach dem Gottesdienst: Gewiss haben auch Predigtnachgespräche ihren Sinn, manchmal jedenfalls. Zuweilen aber haben sie die fatale Neigung, die Predigten zu zerreden. Gleichwohl sind sie eine Chance, die Gemeinde am Lauf des Wortes Gottes zu beteiligen und die mündige Gemeinde auch Verkündigung prüfen zu lassen. Ich meine aber, wir müssten auf Dauer auch damit rechnen, dass anderes nötig wird. Ich will wieder erwarten, dass die Predigt Wirkungen hat. Dann werde ich auch Möglichkeiten der Seelsorge anbieten, Gelegenheiten zur Aussprache, zur Beichte, zur persönlichen Segnung. Vielen fällt es schwer, einfach so zu kommen; ein regelmäßiges Angebot senkt die Schwelle. Wiederum brauche ich eine entrümpelte Sakristei. Vielleicht kommt keiner; dann habe ich Zeit, den Gottesdienst und meine Gemeinde im Gebet loszulassen. Vielleicht wird dieses Angebot aber auf Dauer angenommen. Vielleicht müssen sogar weitere in die Seelsorge nach dem Gottesdienst einbezogen werden, weil die Gemeinde dankbar diese Chance annimmt. Besser als Predigtnachgespräche fördern Predigt- und Gottesdienstwerkstätten26 die Beteiligung der Gemeinde. Sie nehmen die Gemeindeglieder 26
K. EICKHOFF, Predigt, 53–56.
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hinein in den Prozess der Predigt- und Gottesdienstvorbereitung. Der Predigttext wird in solchen Gruppen miteinander gelesen und bedacht. Der Austausch über den Text bringt eine Fülle von Fragen und Assoziationen, aber auch von Lebenserfahrung und Glaubenswissen in die Predigtarbeit mit ein. Wer zu predigen hat, hat hier Text und Gemeinde schon beieinander. Der „Predigttisch“, den wir in der „Homiletischen Besinnung“ vorstellen werden, wird hier zur Realität. Nehmen wir die Predigt ernst, dann endet sie nicht mit dem Amen. Das Amen in der Kirche ist sicher, aber wie ist es um das Weitergehen des Textes in der Gemeinde bestellt? Wie viele Bibelworte werden im Laufe einer Woche in einer Gemeinde konsumiert? Wie viele haben dagegen die Chance, mehrfach gehört zu werden, um anzukommen und Wohnung zu nehmen? Zu den kybernetischen Konsequenzen unseres Ansatzes könnte es gehören, das Bibelwort, das der Predigt zu Grunde lag, in der Woche in den Gruppen und Veranstaltungen der Gemeinde, aber auch bei Hausbesuchen erneut zu Gehör zu bringen und im Gespräch mit ihm und miteinander zu bleiben. Die Predigt wäre dann so etwas wie das Anzünden einer Kerze, die durch die folgende Woche getragen würde. Der Verbrauch von Bibeltexten in der Gemeinde würde gesenkt, die Nachhaltigkeit dagegen, mit der Texte in der Gemeinde gehört werden, gesteigert. Wie finden wir zu einer vollmächtigen Verkündigung? Hier werden wir zuletzt in die Abhängigkeit von Gott verwiesen: „Eine Predigt mag noch so korrekt sein, exegetisch verantwortlich erarbeitet, homiletisch ansprechend aufgebaut, systematisch behältlich gegliedert, sie bleibt totes Wort, sie ist ohne bewegenden Impuls und ohne ansteckende Kraft, wenn Gottes heiliger Geist nicht in ihr lebendig wird und den zündenden Funken vom Wort auf den Hörer überspringen lässt. Wo das aber geschieht, ist vollmächtige Verkündigung.“27 Anders gesagt: Da funkt es wieder zwischen dem Bibelwort und der heutigen Gemeinde, und die Predigt erschließt der Hörergemeinde den biblischen Text als Hilfe zum Leben.28
27 28
T. SORG, Berufung, 29. H. HIRSCHLER, Biblisch predigen, 15.
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Missale aus dem 15. Jahrhundert [UB Greifswald, Ms 977] Beginn des Proprium de tempore am Sonntag Judica: D[o]m[ini]ca Quinta (5. Sonntag der Passionszeit) linke Spalte: Iniziale „J“, Introitus-Antiphon „Judica me deus...“, Psalmvers „Emitte lucem tuam …“ rechte Spalte: Schluß des Psalmverses, Rubrik „Sine gloria p[at]ri“ (Passionszeit!), Coll[e]c[t]a”, Epistel „Ad Hebr[a]eos”
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II. Das homiletisch-liturgische Arbeitsbuch Erstes Kapitel Die Einordnung ins Kirchenjahr Literaturhinweis BIERITZ, KARL-HEINRICH: Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart. München 1987 (Beck’sche Reihe 447); VOLP, RAINER: Liturgik. Die Kunst, Gott zu feiern. Bd. 1: Einführung und Geschichte. Gütersloh 1992 (214–225: „Die Zeit“).
Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit“ (Koh. 3, 1+4+7b).
1.1 Einige grundsätzliche Vorbemerkungen zur Einordnung der Gottesdienste und zur zeitlichen Planung der Gottesdienstvorbereitung
Zu jedem Gottesdienst gehört ein zeitlicher und örtlicher Kontext: Zu welcher Zeit im (Kirchen-)Jahr feiern wir Gottesdienst, an welchem Wochentag, zu welcher Uhrzeit, an welchem Ort? Der Kontext bestimmt über die Auswahl von Texten, Liedern und Gebeten, aber auch über weitere liturgische Entscheidungen (z. B.: Von welchem Ort aus wird gelesen, gebetet, gepredigt?). Zyklen der Vorbereitung aller am Gottesdienst Beteiligten grenzen das Mögliche ein: Wie viel Zeit etwa ist nötig, um Musikstücke auszuwählen und einzustudieren, die ich zum Thema des Gottesdienstes oder zu bestimmten Predigtideen gefunden habe? Wann folglich muss das Vorbereitungsgespräch darüber stattfinden, damit jeder sich angemessen in die Gestaltung einbringen kann? In diesem ersten Schritt zur Erarbeitung des Gottesdienstes geht es um diese äußeren Grundlagen des Gottesdienstes: Kirchenjahr – Ordinarium und Proprium – Zyklen der Vorbereitung. Das Kirchenjahr bildet die wichtigsten heilsgeschichtlichen Ereignisse im Leben Jesu nach. Es beginnt am Ersten Advent und lässt sich in eine festreiche Zeit (mit dem Weihnachts- und dem Osterfestkreis) und eine festarme Zeit einteilen (gekennzeichnet durch kleinere Feste, z.B. Johan 33
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nis und Michaelis). Einige Feste spiegeln das Naturjahr (z.B. Sommerund Wintersonnenwende, Lichtsymbolik). Im Kirchenjahr geht es nicht darum, das Leben Jesu chronologisch nachzuerleben, sondern darum, wichtige heilsgeschichtliche Stationen regelmäßig wiederkehrend zu feiern. Liturgische Farben signalisieren die Bedeutung der Kirchenjahreszeiten: n n n n n
weiß = Christusfeste rot = Farbe des Heiligen Geistes, Kirchenfeste violett = Buß- und Vorbereitungszeiten grün = Zeit des Wachsens der Kirche schwarz = Alternative für Karfreitag (sonst: violett) und Totensonntag1 sowie für Trauergottesdienste.
1 Am letzten Sonntag im Kirchenjahr spiegelt die liturgische Farbe eine Entscheidung wider: Wenn der liturgische Akzent auf Ewigkeits- (anstelle von Toten-)sonntag liegt, ist die liturgische Farbe grün.
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Ausgangspunkt für die historische Entwicklung des Kirchenjahres war das Osterfest. Es hat zuerst – wie später das Weihnachtsfest – einen Festkreis herausgebildet. Dieser Festkreis besteht aus einer Vorbereitungszeit (Passion: 40 Tage), dem Osterfest mit einer Festwoche (Oktav), sowie der österlichen Freudenzeit (50 Tage von Ostern bis Pfingsten). Der Weihnachtsfestkreis besteht ebenfalls aus einer Vorbereitungszeit (Adventszeit), auf die das Weihnachtsfest selbst sowie die Epiphaniaszeit folgen. Die Woche lässt sich als Abbild des Kirchenjahres verstehen: Der Sonntag ist der Tag der Auferstehung Jesu. Damit tritt er nicht an die Stelle des Sabbat, sondern symbolisiert den Anbruch einer neuen Zeit. Die Fastentage Mittwoch und Freitag erinnern an den Verrat und die Kreuzigung Jesu. Jeder Sonntag im Kirchenjahr erhält durch sein Proprium de tempore (= das Besondere nach dem Kirchenjahr) sein besonderes Gesicht: Abschnitte aus der Heiligen Schrift, die an ihm gelesen oder gepredigt werden (Perikopen, geordnet zu Lese- und Predigtreihen), oder die gesungen und gebetet werden sollen, oder gar besondere liturgische Stücke, die nur für einige besondere Fest- und Feiertage gelten. Im Mittelalter wurden die jedem Sonntag zugehörigen liturgischen Gesänge in der richtigen Reihenfolge – geordnet nach dem Kirchenjahr – im Graduale oder Missale aufgezeichnet (vgl. das auf S. 31 abgebildete Beispiel). Die liturgischen Stücke liegen fest: Alles, was zu singen ist, steht der Reihenfolge nach hintereinander. Im abgebildeten Beispiel sind nur die besonderen Stücke des Sonntags Judica zu sehen. Die an jedem Sonntag wiederkehrenden Gesänge, also die „gewöhnlichen“ (= Ordinarium), sind hier nicht aufgezeichnet. Da sie sich an jedem Sonntag wiederholten, waren sie bekannt genug, um auswendig gesungen zu werden. Pergament war im Mittelalter knapp: daher beschränken sich die Angaben auf das Nötige. In roter Farbe ist all das geschrieben, was nicht gesungen werden soll: Regieanweisungen oder Gliederungsbuchstaben. Sie heißen daher „Rubriken“. Neben der Überschrift (Dominica Quinta = 5. Sonntag der Passionszeit) bezeichnet im Beispiel das Abkürzungszeichen ps (mit einem waagerechten Strich über den Buchstaben) den Beginn des Psalmverses. Die Angabe Sine gloria patri erinnert daran, dass in der Passionszeit das Gloria patri ausfällt. Collecta ist die Überschrift des Kollektengebets, Ad Hebraeos bezeichnet den Beginn der Epistellesung des Sonntags. Das erste liturgische Stück der Messe ist die Introitus-Antiphon. In der Passionszeit gibt ihr erstes Wort, mit dem der Eintrag des Sonntagspropriums im Missale beginnt, dem Sonntag seinen Namen: Judica. Das erleichterte das Auffinden des Sonntagspropriums: Mit dem Wort „Judica“ beginnen die Gesänge für den 5. Sonntag der Passionszeit. Von den fünf Stücken des Ordinariums (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei) gibt es mehrstimmige Vertonungen von vielen Komponisten 35
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Ordinarium Missae
(„Vormesse“)
KYRIE GLORIA
CREDO
(„Opfermesse“)
SANCTUS (mit Benedictus) (Pater noster) AGNUS DEI
Ite missa est (oder:) Benedicamus Domino
Proprium Missae INTROITUS (=Eingangspsalm) Lesung(en) ALLELUIA (mit Vers) GRADUALE (=Wochenlied) (Predigt) OFFERTORIUM (Präfation) COMMUNIO
– sie sind mit dem Begriff der musikalischen Messe gemeint. Da die Stücke des Ordinariums sonntäglich wiederkehren, konnten solche komponierten Messen, sofern sie nicht den liturgischen Rahmen sprengten (wie etwa BACHS h-Moll-Messe und BEETHOVENS Missa solemnis), an nahezu jedem Sonntag Verwendung finden.
Mit Einführung des Evangelischen Gottesdienstbuches („Erneuerte Agende“) hat sich das Verhältnis von gleichbleibenden (Ordinarium) und wechselnden (Proprium) liturgischen Stücken verändert: die einzelnen Stücke der stabilen Grundstruktur des Gottesdienstes (Kyrie, Gloria usf.) sind nun variabel gestaltbar und können auch durch de-tempore-Stücke gebildet werden (näheres dazu im Kapitel „Liturgische Gestaltung“). Es würde den Rahmen dieses Arbeitsbuches sprengen, hier ausführlich auf den Kirchenraum und seine liturgische Einordnung einzugehen und daraus Konsequenzen für die liturgische Gestaltung zu entwickeln. Jedoch muss das vorgefundene Raumkonzept in die liturgischen Überlegungen einbezogen werden, damit der Gottesdienst nicht „gegen den Raum“ gestaltet wird: Der Hochaltar im lichtdurchfluteten Chor einer gotischen Kathedrale etwa spiegelt völlig andere liturgische Vorstellungen als ein moderner Gottesdienstraum, bei dem die Gemeinde im Halbrund um den Altar gruppiert ist. Die an der Liturgie beteiligten Einzelpersonen und Gruppen müssen also entscheiden, von welchem Platz aus im Got36
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tesdienst gebetet, gelesen, gepredigt und musiziert werden soll und überprüfen, welche Wirkungen sie hervorrufen, wenn sie diesen oder jenen Ort für ihre Aktionen wählen. Durch die grundsätzlich gewachsenen Möglichkeiten, Ordinarium und Proprium der Gottesdienste individuell zu gestalten, haben sich die Zyklen der Vorbereitung aller am Gottesdienst Beteiligten verändert. Während Theologen sich auf den Gottesdienst, auf Predigt und liturgische Gestaltung in der „Gottesdienstwoche“ vorbereiten, die Gegenstand dieses Arbeitsbuches ist, bereiten sich Kirchenmusiker auf ihre Aufgaben im Gottesdienst in anderen Zyklen vor. Häufig erstrecken sich diese Zyklen über einen längeren Zeitraum. Die Chorleiter sind in ihrer Vorbereitung abhängig vom Probenrhythmus ihrer Chöre. Viele Gemeindechöre singen einmal im Monat im Gottesdienst. Nicht selten benötigen sie – je nach ihrer Leistungsfähigkeit – die Zwischenzeit dazu, um das einzustudieren, was sie im Gottesdienst vortragen wollen. Daraus ergibt sich, dass bereits vier Wochen vorher feststehen muss, was im Gottesdienst gesungen werden soll. Wenn auch noch Noten für einen Anlass beschafft werden müssen, kostet das zusätzliche Zeit, die eingeplant werden muss. Die Absprache über die Choreinsätze muss also bereits frühzeitig erfolgen, oder es muss zumindest festgelegt werden, dass der Chor solche Stücke zum Gottesdienst beiträgt, die zum Proprium des jeweiligen Sonntags gehören. Sobald im Gottesdienst Abweichungen von der Perikopenordnung vorgesehen sind (andere Lesungs- oder Predigttexte, ein anderer Psalm, oder aber ein Chorstück, das nicht in den de-tempore-Kontext des Sonntags passt), sind frühzeitige Absprachen notwendig. Die Organisten müssen – ähnlich wie Leistungssportler – regelmäßig trainieren. Mangelnde Vorbereitung führt zu „Organistenzwirn“, d.h. zu unstrukturiertem „Extemporieren“ (nicht zu verwechseln mit „Improvisation“) auf der Orgel. Je besser sich ein Organist auf die Einleitung (Intonation) und Begleitung der Gemeindelieder vorbereiten kann, desto abwechslungsreicher kann er sie gestalten: interessante Vorspiele heraussuchen oder selbst erfinden und erarbeiten, Begleitsätze zusammenstellen und Registrierungen ausprobieren. Auch wenn viele Organisten aus dem Stegreif improvisieren können, sollte ihnen diese Praxis nicht aufgezwungen werden: Wie jeder Prediger sollten auch sie die Möglichkeit haben, sich sorgfältig auf den Gottesdienst vorzubereiten. Je später die Lieder für einen Gottesdienst festgelegt werden, desto weniger Spielraum bleibt für die Gottesdienstvorbereitung des Organisten.
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1.2 Die praktischen Schritte
Aufgabe: Informieren Sie sich über das Proprium für den Gottesdienst, den Sie vorbereiten. Bedenken Sie, welche Konsequenzen sich aus diesem besonderen Proprium für die Gottesdienstgestaltung ergeben. Überlegen Sie auch, ob dieses Proprium bestimmte thematische Schwerpunkte für die Predigt nahe legt oder gar schon so etwas wie eine Predigthilfe bietet. Suchen Sie den Kontakt zum Kirchenmusiker bzw. zur Kirchenmusikerin, um eine erste Absprache über die Gottesdienstgestaltung zu treffen. Auskunft über die liturgische Situation nach dem Proprium de tempore erteilen das Evangelische Gottesdienstbuch, das entsprechende Verzeichnis im Evangelischen Gesangbuch sowie Pfarrkalender. Beispiel: Der Eintrag für den 3. Sonntag nach Epiphanias sieht z. B. im Evangelischen Gesangbuch so aus:
Die mit römischen Zahlen versehenen Texte bilden (neben der Evangelien- und der Epistellesung) sechs Predigtreihen. Die Predigttexte stammen in jedem Jahr aus einer anderen Reihe, so dass jeder Text erst wieder nach sechs Jahren gepredigt wird. Für die Gottesdienstvorbereitung ist also zunächst einmal zu klären, welcher Text als Predigttext an der Reihe ist. Dann können die übrigen Lesungen und das Wochenlied, das sich oft auf einen der Lesungstexte bezieht, ausgewählt werden. Eingangspsalm und Wochenspruch runden das Proprium des Sonntags ab. Erst wenn Klarheit darüber besteht, welches Proprium für den Sonntag gilt, ist es sinnvoll, über eventuelle Entfaltungen, Abweichungen oder Ergänzungen nachzudenken. 38
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Zum Beispiel: Unser Sonntag gehört in die Epiphaniaszeit. Er thematisiert in besonderer Weise die Tatsache, dass das Licht der Welt nun auch bei den Heiden leuchtet. Das Evangelium des Sonntags aus Mt. 8 zeigt es deutlich: der heidnische Hauptmann von Kapernaum erfährt Gottes Zuwendung in großer Not (um die im Wochenpsalm 86 gebeten wird, in Vers 9 für alle Heiden) und wird für Jesus zu einem Zeichen des Glaubens, wie er ihn in Israel nicht fand. Jetzt werden Menschen aus allen Himmelsrichtungen kommen und zum Reich Gottes gehören (so auch der Wochenspruch). Paulus geht einen Schritt weiter: Geht es bei Matthäus noch um einen einzelnen Menschen, der von außen nach innen hinzukommt, so geht Paulus offensiv von innen nach außen. Die Epistellesung aus Röm.1 zeigt einen Apostel, der sich in der Schuld der Menschen sieht. Sie haben ein Recht, das rettende Evangelium zu hören, und das Evangelium ist die Kraft Gottes, die Juden und eben auch Heiden rettet. Das Wochenlied EG 293 ruft darum: „Lobt Gott, den Herrn, ihr Heiden all“. Das Evangelium, das die Grenzen (zu den Völkern) überschreitet und keinen ausschließt, der glaubt, ist also das besondere Thema dieses Sonntags. Im Predigttext wird es zugespitzt auf eine Frau, die nicht nur durch ihre Herkunft aus Samarien, sondern auch durch ihren Lebenswandel Anstoß erregte. Die konkreten liturgischen Entscheidungen werden im 6. Schritt („Liturgische Gestaltung“) erörtert.
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Zweites Kapitel Die persönliche Betrachtung Literaturhinweis BAYER, OSWALD: Theologie. Gütersloh 1994 (Handbuch Systematischer Theologie, Bd.1), 20–126; BOHREN, RUDOLF: Predigtlehre. München 1971, 355–357; GIBBARD, MARK: Gebet und Kontemplation. Göttingen 1983; RUHBACH, GERHARD: Meditation der Heiligen Schrift im Vollzug, in: ThBeitr 10 (1979), 72–83; FOSTER, RICHARD: Nachfolge feiern. Wuppertal 21997, 19–35. Wir empfehlen besonders: DEICHGRÄBER, REINHARD: Was ist Meditation? In: G. RUHBACH U.A. (HG.): Meditation und Gottesdienst. Göttingen 1989, 15–44. „Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören“ (Jes. 50, 4).
2.1 Der Sinn der persönlichen Betrachtung
2.1.1 Worum es geht: Ein Brief Dietrich Bonhoeffers (8.4.1936)1 „... Ich will da zunächst ganz einfach bekennen: ich glaube, dass die Bibel allein die Antwort auf alle unsere Fragen ist, und dass wir nur anhaltend und etwas demütig zu fragen brauchen, um die Antwort von ihr zu bekommen. Die Bibel kann man nicht l e s e n wie andere Bücher. Man muss bereit sein, sie wirklich zu fragen. Nur so erschließt sie sich. Nur wenn wir letzte Antwort von ihr erwarten, gibt sie sie uns. Das liegt eben daran, dass in der Bibel Gott zu uns redet. Und über Gott kann man eben nicht so einfach nachdenken, sondern man muss ihn fragen. Nur wenn wir ihn suchen, antwortet er. Natürlich kann man die Bibel auch lesen wie jedes andere Buch, also unter dem Aspekt der Textkritik etc. Dagegen ist gar nichts zu sagen. Nur dass das nicht der Gebrauch ist, der das Wesen der Bibel erschließt, sondern nur ihre Oberfläche. Wie wir das Wort eines Menschen, den wir lieb haben, nicht erfassen, indem wir es zergliedern, sondern wie ein solches Wort einfach von uns hingenommen wird und wie es dann tagelang in uns nachklingt, einfach als das Wort dieses Menschen, den wir lieben, und wie sich uns in diesem Wort dann immer mehr, je mehr wir es ‚im Herzen bewegen’ wie Maria, derjenige erschließt, der 1
D. BONHOEFFER, Schriften, III, 26–31.
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es uns gesagt hat, so sollen wir mit dem Wort der Bibel umgehen. Nur wenn wir es einmal wagen, uns so auf die Bibel einzulassen, als redete hier wirklich Gott zu uns, der uns liebt und uns mit unseren Fragen nicht allein lassen will, werden wir an der Bibel froh. ... So lese ich nun die Bibel. Ich frage jede Stelle: was sagt Gott hier zu uns? und ich bitte Gott, dass er uns zeigt, was er sagen will. ... Gottes Wort aber fängt damit an, dass er uns das Kreuz Jesu Christi zeigt. ... Ist es Dir nun von dort aus irgendwie verständlich, wenn ich die Bibel als dieses fremde Wort Gottes an keinem Punkt preisgeben will, dass ich vielmehr mit allen Kräften danach frage, was Gott hier zu uns sagen will? Jeder andere Ort außer der Bibel ist mir zu ungewiss geworden. Ich fürchte dort nur auf einen göttlichen Doppelgänger von mir selbst zu stoßen. ... Ich komme auch zu dem Eingeständnis, diese oder jene Stelle der Schrift noch nicht zu verstehen, in der Gewissheit, dass auch sie sich eines Tages als Gottes eigenes Wort offenbaren wird. ... Und ich will Dir auch noch ganz persönlich sagen: seit ich gelernt habe, die Bibel so zu lesen – und das ist noch gar nicht so lange her, wird sie mir täglich wunderbarer. Ich lese morgens und abends darin, oft auch noch über Tag, und jeden Tag nehme ich mir einen Text, den ich für die ganze Woche habe, vor und versuche mich ganz in ihn zu versenken, um ihn wirklich zu hören. Ich weiß, dass ich ohne das nicht mehr richtig leben könnte. Auch erst recht nicht glauben. ... Es bleibt also nichts als die Entscheidung, ob wir dem Wort der Bibel trauen wollen oder nicht, ob wir uns von ihm halten lassen wollen wie von keinem anderen Wort im Leben und im Sterben. Und ich glaube, wir werden erst dann recht froh und ruhig werden können, wenn wir diese Entscheidung getroffen haben.“
2.1.2 Der Sinn der persönlichen Betrachtung in der Predigtvorbereitung BONHOEFFERS Brief an seinen Schwager RÜDIGER SCHLEICHER enthält bereits eine ganze Reihe von Hinweisen für den Prediger und die Predigerin, die den Sinn der persönlichen Betrachtung erschließen können:
n Für BONHOEFFER ist die Bibel ein Lebensbuch, das er nicht nur zum Predigen aufschlägt, sondern das er täglich liest. n Und er liest darin in der Erwartung, dort Gott zu begegnen und Gottes Anrede zu hören (weil „in der Bibel Gott zu uns redet“). Sein Lesen ist geprägt durch ein Fragen nach dem, was Gott sagen möchte, durch eine Bereitschaft, sich von Gott den Weg zeigen zu lassen, durch ein „Bewegen“ des Wortes im Herzen (Lk. 2,19). n Es ist gerade nicht eine meditative Versenkung in das eigene Selbst, sondern eine Begegnung mit dem „fremden Wort“, den „göttlichen Doppelgänger“ seiner selbst dagegen fürchtet er. n Dabei wird ihm die Bibel immer wichtiger und lieber: er liest sie gern (vgl. Ps. 1,2) und nicht aus Pflichtgefühl, und er liest sie nicht wie ei41
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nen „Text“ (nicht „wie jedes andere Buch“), sondern wie den Brief einer Geliebten („das Wort eines Menschen, den wir lieb haben“). Diese Haltung beschreibt recht genau, worum es uns im Blick auf die gesamte Predigtvorbereitung geht: die erwartungsvolle und respektvolle Einstellung, mit der wir der Bibel begegnen. Sie soll ihren Ausdruck in allen Schritten der Gottesdienstwoche finden. Die persönliche Betrachtung aber kommt in der Weise des Zugangs dem am nächsten, was BONHOEFFER in seinem Brief beschrieben hat.
2.1.3 Der „Text für mich“ Wer predigt, ist der erste Hörer bzw. die erste Hörerin des Textes. Es geht um den „Text für mich“. Anders herum gesagt: Die persönliche Betrachtung repräsentiert in der Gottesdienstwoche die Frage nach dem persönlichen, auf das eigene Leben bezogenen Hören des Predigers und der Predigerin auf das biblische Wort. Auslegen, predigen und lehren kann nur, wer zuvor gehört hat. Anderen sagen, was Gott will, darf nur, wer zuvor selbst gehört hat, was Gott mit ihm tun will und durch ihn getan wissen will. THEO SORG drückt diesen Zusammenhang ganz ähnlich aus: „Es gibt kein vollmächtiges Reden und kein Handeln in Geist und Kraft ohne die vorausgehende Zurüstung durch den Auftraggeber. Gottes Boten müssen aus der Stille kommen, wenn ihr Wort ankommen soll ... Deshalb ist die Stille des Hörens auf Gottes Wort, der betende Umgang mit dem Auftraggeber, die Bitte um das Wirken seines Geistes die Brunnenstube für das Reden und Handeln in geistlicher Vollmacht. Ehe ich verkündige, muss ich mir selber sagen lassen.“2
2.1.4 Das persönliche geistliche Leben Sind wir schon bei Bonhoeffer dem Phänomen begegnet, dass das betende Lesen der Bibel nicht auf die Predigtvorbereitung beschränkt war, also nicht funktionalisiert war, so begegnet uns dieselbe Sicht auch bei MARTIN LUTHER. Wir verstehen die persönliche Betrachtung als den Spezialfall des geistlichen Lebens, als eine Weise „ausdrücklicher“ Spiritualität, die nicht isoliert im Leben des Predigers oder der Predigerin steht wie Jesajas berühmte „Nachthütte im Gurkenfeld“ (Jes. 1,8). Spiritualität markiert nicht einen geistlichen Sektor im Leben eines Menschen, dem ein ebenso weltlicher, und das hieße „ungeistlicher Sektor“ gegenüberstünde. Spiritualität oder geistliches Leben ist das vom Geist Gottes bestimmte ganze weltliche Leben (vgl. vor allem Gal. 5,16–26). Das „Wandeln im Geist“ soll jeden Lebensbereich bestimmen, nicht nur einen frommen Sektor. Das Gegenstück zum geistlichen Leben ist darum 2
T. SORG, Berufung, 38f.+41.
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auch nicht das weltliche, sondern das fleischliche Leben, das sich der Prägung durch den Geist entzieht. Geistliches Leben braucht aber eine wahrnehmbare, äußere Gestalt. MARTIN LUTHER hat uns eine solche fünffache Gestalt des geistlichen Lebens hinterlassen: Sie besteht aus Lectio (Lesung), Meditatio (Betrachtung), Oratio (Gebet), Sacramenta (Sakramente) und Caritas (Liebe). Die Lectio ist die tägliche, fortlaufende Bibellesung von einem Kapitel oder mehr. Meditatio meint das Innehalten über einem einzelnen Vers, der aus der Lesung heraustritt und uns anspricht. Die Meditatio ergreift nicht, sondern lässt sich ergreifen. Sie tut nichts, sondern verweilt. Sie bearbeitet das Wort nicht, sondern bewegt es im Herzen. Sie ist ein Stillewerden und Warten, bis das Wort zu reden beginnt. Sie ist „ruminatio“, ein Wiederkäuen im Herzen. Daraus erwächst die Oratio, eine konkrete Bitte, ein Dank, ein Bußgebet oder auch eine Fürbitte. Sacramenta meint in diesem Zusammenhang den eifrigen Gebrauch der Eucharistie und die tägliche Erinnerung an die eigene Taufe. In der Caritas schließlich wird das Empfangene umgewandelt in den tätigen Dienst am Nächsten.3 Dass Leben und Frömmigkeit für die Spiritualität untrennbar sind, wird auch an der Beschreibung des Christen und Theologen deutlich, die LUTHER an anderer Stelle vorträgt: Den Christenmenschen wie den Theologen zeichnen Oratio, Meditatio und Tentatio aus. War durch die Caritas in der ersten Zusammenstellung stärker das aktiv gestaltende Leben im Blick, so gerät nun durch die Tentatio das Leben als Widerfahrnis, vor allem als Erfahrung der Anfechtung in den Vordergrund. Ein Theologe ist also nach LUTHER, wer bereit ist, „mit der Bitte um Erleuchtung und von der Anfechtung getrieben in das Wort der Schrift hineinzugehen und von ihm ausgelegt zu werden [sic!]“.4 Zum Prediger bzw. zur Predigerin wird man dann so: „Ein Theologe ist, wer von der Heiligen Schrift ausgelegt wird, sich von ihr auslegen lässt und sie als von ihr Ausgelegter anderen Angefochtenen auslegt“.5 Damit ist zugleich deutlich, wie man ein Theologiestudent bzw. eine Theologiestudentin wird: n Oratio: Dem Verstand allein erschließt sich die Heilige Schrift nicht, meint LUTHER: „Sondern knie nieder in deinem Kämmerlein und bitte mit rechter Demut und Ernst zu Gott, dass er dir durch seinen lieben Sohn wolle seinen heiligen Geist geben, der doch erleuchte, leite und Verstand gebe.“6 n Meditatio: „Zum andern sollst du meditieren, das ist: Nicht allein im Herzen, sondern auch äußerlich die mündliche Rede und buchstabi3 4 5 6
Berichtet nach M. SEITZ, Erneuerung, 73–75. O. BAYER, Theologie, 35f. A.a.O., 61. M. LUTHER, Vorrede, WA 50, 659.
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sche Wort im Buch immer treiben und reiben, lesen und widerlesen, mit fleissigem Aufmerken und Nachdenken, was der heilige Geist damit meinet. Und hüte dich, dass du nicht überdrüssig werdest und denkest, du habest es ein mal oder zwei gnug gelesen, gehöret, gesagt, und verstehest es alles zu grund. Denn da wird kein sonderlicher Theologus nimmer mehr aus. Und sind wie das unzeitige Obst, das abfället, ehe es halb reif wird.“7 n Tentatio: „Zum dritten ist da Tentatio, Anfechtung. Das ist der Prüfestein, die lehret dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfahren, wie recht, wie wahrhaftig, wie süsse, wie lieblich, wie mächtig, wie tröstlich Gottes Wort sei, Weisheit über alle Weisheit.“8 CHRISTIAN MÖLLER ergänzt: „Wo die Anfechtung auf dem Weg zur Predigt ausbleibt, da ist der biblische Text zum Prediger in keine wirkliche Spannung geraten, aber auch der Prediger sich selbst mitsamt seiner Welt nicht zum Widerspruch geworden.“9 Wer aber durch die Tentatio hindurchgeht, der hört auf, eigenmächtig mit dem biblischen Wort zu verfahren und etwas mit ihm oder aus ihm „zu machen“, es zu benutzen, zu übersetzen oder anzuwenden. Wer durch die Tentatio hindurchgeht, macht Erfahrungen: wie er von Gottes Wort ausgelegt, als Sünder offenbart und um Jesu willen gerechtfertigt wird, wie sein und dann auch der Gemeinde Leben in das Licht Gottes gerückt, offenbar gemacht und erneuert wird. Das Nein zur Sünde und das Ja zum Sünder ist die Erfahrung, die der Prediger mit dem Wort macht. Im ganzen ist dieser meditative Zugang zur Schrift eine notwendige und heilsame Ergänzung (nicht ein Ersatz!) der in exegetischen Seminaren erlernten, auf historisch-kritische Distanz orientierten Methoden, die keinen Alleinvertretungsanspruch erheben können, wenn es um legitime und fruchtbare Zugänge zur Schrift geht. Mit OSWALD BAYER vertreten wir einen Zugang zur Theologie als ganzer, der „monastisch und scholastisch“ zugleich ist, also „andächtig und kritisch“, „fromm und wissenschaftlich“, „bibelgläubig und historisch aufmerksam“.10 Wir bestreiten das Recht einer evangelischen Theologie seit der Aufklärung (vor allem: SEMLER), die hier Frömmigkeit und dort wissenschaftliche Bemühung verortet, so dass der Fromme unkritisch und der Kritische unfromm wird.
2.1.5 Der besondere Zugang zur Bibel in der persönlichen Betrachtung Unter „persönlicher Betrachtung“ verstehen wir eine unmittelbare Begegnung mit dem biblischen Text in der Bereitschaft, sich von ihm er7 8 9
10
A.a.O. A.a.O. 660. C. MÖLLER, Seelsorglich predigen, 41. O. BAYER, Theologie, 18f.
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greifen zu lassen. Sie geschieht nicht logisch-analytisch, sondern meditativ-kreisend anhand des deutschen Textes, zweckfrei, d.h. ohne ausdrückliche Einstellung auf die Verkündigung. Wir verweilen beim Text. Unser Wollen ist gerade, nichts zu wollen. „Ich ging im Walde so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn” (GOETHE).11
REINHARD DEICHGRÄBER zeigt in seinem Aufsatz über die Predigtmeditation sehr schön, worum es geht. Im cartesianischen Denken wird die res cogitans von der res extensa unterschieden, das betrachtende Subjekt vom betrachteten Objekt. Im Normalfall des Denkens erfasst und begreift das betrachtende Subjekt sein Objekt. Im Beispiel: Der Astronom betrachtet und kartographiert die Sterne. Es kann aber passieren, dass das Objekt zum Subjekt wird, und dass es selbst nun den Betrachter erfasst, in den Bann zieht und beeindruckt. Im Beispiel: Den Astronomen berührt die Weite des Universums, er wird erfasst von der Schönheit eines Sternbildes. Kühle Distanz weicht nun freudiger Ergriffenheit. In der persönlichen Betrachtung üben wir eine Haltung ein, die die Bereitschaft in uns wecken, stärken und erhalten soll, uns erfassen zu lassen vom Evangelium Gottes. Zur Durchführung brauchen wir nur unsere Bibel, ein Blatt Papier und einen Stift. Übungen zum Stillwerden und das persönliche Gebet sind sinnvoll: „Öffne mir die Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz“ (Ps. 119,18). Die Haltung, um die es dabei geht, finden wir am deutlichsten in Ps. 1 dargestellt. Der 1. Psalm ist nach RUDOLF KITTEL eine programmatische Vorrede zum ganzen Psalter, man könnte auch sagen, zur gesamten Heiligen Schrift. „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen noch tritt auf den Weg der Sünder noch sitzt, wo die Spötter sitzen, sondern hat Lust am Gesetz des Herrn und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht! Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, das gerät wohl“ (Ps. 1,1–3).
Es ist ein Wort vom Glück: eine Beglückwünschung findet hier statt. Der Meditierende ist ein Glücklicher. Hörendes Gebet und Glück gehören zusammen. Dabei gibt es eine Voraussetzung für das Glück: die Trennung vom Boshaften. Der Weg des Glücklichen führt von der Abwendung zur Zuwendung. Der Glückliche ist der, der sich der Thora zuwendet. Das 11
Zitiert bei R. DEICHGRÄBER, Meditation, 15–44
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Gesetz steht hier nicht für trockene Paragraphen, sondern für die heilsame Weisung Gottes, für das Wort Gottes mit seinem Zuspruch an Liebe und seinem Gebot zu lieben. Beständig ist der Umgang des Glücklichen mit dieser Thora. MARTIN BUBER übersetzt: Er hat „Lust an seiner Weisung und murmelt über seiner Weisung tages und nachts“ Hörend beten, das heißt: über Gottes Wort murmeln, über Gottes Wort nachsinnen. Stellen Sie sich das bitte ganz handfest vor, wie es etwa der Alttestamentler BERNHARD DUHM beschrieben hat: Es ist „das Brummeln, Murmeln eines Mannes, der in seiner unpunktierten Thorahandschrift mühsam Wort um Wort entziffert und mit halblauter Stimme ausspricht, um dann das Gelesene zu repetieren, sich klarzumachen und einzuprägen.“ Dieses „Murmeln“ übersetzt die Vulgata nun mit „meditari“ – mit meditieren.12 HANS-WALTER WOLFF hat darauf hingewiesen, dass das hebräische Verb „hagah“, das der Psalmist hier gebraucht, ursprünglich in zwei ganz andere Kontexte gehört. Zum einen bezeichnet „hagah“ das Gurren der Taube. In Jes. 38 fleht der kranke König Hiskia Gott um Hilfe an, sein Hilferuf wird verglichen mit dem Gurren der Taube (Jes. 38,14). Zum anderen aber bezeichnet „hagah“ das zufriedene Knurren des Löwen, der große Beute gemacht hat, so etwa Jes. 31,4. Übertragen wir das nun, so geht es beim betenden Hören, beim Meditieren um ein hungerndes Verlangen nach einem klärenden, hilfreichen Wort Gottes – das Gurren der Taube. Und es gibt dann auch das zufriedene Genießen – das Knurren des Löwen. Das ist der Spannungsbogen, den es bei der persönlichen Betrachtung auszuhalten gilt. Es umschließt das Haben und das Nicht-Haben des Wortes Gottes. Der Psalmist hat das Wort, er hat die Schrift, und er genießt zufrieden knurrend wie der Löwe, der sich satt essen kann. Aber man kann nie satt bleiben, und dann muss man suchend umhergehen, gurrend wie die Taube. Das Hören ist dann ein Wiederherholen des Wortes13, ein Wiederholen des Wortes. Die einfachste Technik der Meditation ist darum auch die Wiederholung, das stete Lesen und Aufsagen des Wortes, bis es in uns Wohnung nimmt (Kol. 3,16) und uns zu Herzen spricht. Es ist also durchaus mechanischer als wir es uns vorstellen: es ist durchaus nicht ein theologisches Reflektieren, ein Nachdenken, das auf neue Gedanken aus ist, ein emotionales Betroffensein von schönen Aussagen. Es ist zunächst ein schlichtes Wiederholen der äußeren Worte. Erst im Wiederholen des alten Wortes höre ich ein neues Wort. Ich muss es aber wiederholen, weil ich es nie ganz und für immer habe. „Also ist’s um die Schrift getan: wenn man meint, man hab’s ausgelernt, so muss man erst anfangen.“14 12 13 14
B. DUHM, zitiert bei R. BOHREN, Predigtlehre, 349. Zusammengestellt bei R. BOHREN, Predigtlehre, 348–350. M. LUTHER, Predigt über Psalm 1, WA 49, 223.: »Also ists umb die heilige Schrifft gethan: wen man meinet, man habs aufgelernet, so mus man erst anfahen, ...«.
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Es gilt, „nicht allein im hertzen, sondern auch eusserlich die mündliche rede und buchstabische wort in Buch jmer treiben und reiben, lesen und widerlesen, mit vleissigem auffmercken und nachdencken, was der heilige Geist damit meinet. ... Denn Gott will dir seinen Geist nicht geben on das eusserlich wort, da richt dich nach. Denn er hats nicht vergeblich befolhen, eusserlich zu schreiben ...”.15 „Denn meditieren heißt ernst, tief und sorgfältig denken, eigentlich im Herzen wiederkäuen. Meditieren ist ‚in medio agitare‘ d.h. in der Mitte verweilen oder von der Mitte und dem Innersten bewegt werden.”16
Dabei kann und mag es passieren, dass im Lesen und Wiederlesen des Wortes ein anderer sich zu Worte meldet: „Es kommt wohl oft vor, dass ich in einem Stück oder in einer Bitte in so reiche Gedanken komme, dass ich die anderen sechs alle lasse anstehen. Und wenn solche reichen, guten Gedanken kommen, so soll man die andern Gebete fahren lassen und solchen Gedanken Raum geben, ihnen mit Stille zuhören und sie beileibe nicht hindern. Denn da predigt der Heilige Geist selbst, und ein Wort seiner Predigt ist besser als tausend unserer Gebete. Und ich habe so auch oft mehr gelernt in einem Gebet, als ich aus viel Lesen und Denken hätte kriegen können.“17 Wer aber nun das Wort reibt und treibt, der merkt, dass es ihn in sehr unterschiedlicher Weise trifft. Theologie macht Sünder (JULIUS SCHNIEWIND)18. Das Wort erreicht unser Herz als Gesetz und als Evangelium. Es richtet unsere Sünde: Wer das Wort meditiert, mit dem redet Gott auch und gerade über seine Sünde. Er deckt ihm die persönliche Sünde auf, er zeigt ihn sich selbst in einem Spiegel des guten Willens Gottes. Theologie macht Sünder, und hörendes Beten macht nun erst recht Sünder. Es treibt in das Bekenntnis der Sünde, in die Beichte und damit in die Absolution. Sein Ziel ist es ja nicht, mich hinzurichten, sondern mich aufzurichten durch den Zuspruch der Vergebung. Sein Ziel ist es nicht, mich umzubringen, sondern mich zurechtzubringen, damit ich zu dem gesunden Baum werde, von dem der 1. Psalm redet. Ich darf nicht erwarten, dass Gott in der Stille zu mir redet, wenn ich mich diesem Reden entzie15 16 17
18
M. LUTHER, Vorrede, WA 50, 659. M. LUTHER, Dictata, WA 3, 19. M. LUTHER, Weise, WA 38, 363: „Kompt wohl offt, das ich inn einem stuecke oder bitte inn so reiche gedancken spacieren kome, das ich die andern Sechse lasse alle anstehen, Und wenn auch solche reiche gute gedancken komen, so sol man die andern gebet faren lassen und solchen gedancken raum geben und mit stille zuhoeren und bey leibe nicht hindern, Denn da predigt der Heilige geist selber, Und seiner predigt ein wort ist besser denn unser gebet tausent, Und ich hab auch also offt mehr gelernet inn einem gebet, weder ich aus viel lesen und tichten hette kriegen können.“ J. SCHNIEWIND, Erneuerung, vgl. 69f., 74 und 123f.
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he. Das Verharren in der Sünde lässt das Wort verstummen. Diesen Zusammenhang erkannten wir bereits im Nachdenken über die Vollmacht. Zur Freude und zum Glück des Bibellesers und Beters führt der Weg durch Erkenntnis und Bekenntnis der Sünde. Wer also betend hören, sich aber nicht innerlich anrühren und verändern lassen will, der wird nicht erfahren, was der 1. Psalm als Glück des Bibellesers beschreibt. Wir sind in dieser Frage immer wieder LUTHER begegnet, und das hat seinen guten Grund: Evangelische Spiritualität ist vor allem eine Spiritualität der Bibel, der biblischen Meditation. Für LUTHER ist Meditieren der Schrift die Erfüllung des ersten Teils des Doppelgebotes: „Die Liebe lehrt das Meditieren von selbst“. Die Liebe ist nicht wortlos, sie ist vielmehr ein nicht abreißendes Gespräch. Gott lieben mit seinem ganzen Herzen und sein Wort nachsprechen sind eines. Darum wird der Liebende das Wort des Geliebten immer wiederholen, sich wieder vorholen und sich darin versenken wie in den Liebesbrief, den er doch schon fast auswendig kennt. Zum Schluss eine nüchterne Feststellung: Dieser Schritt hat zugegebenermaßen etwas Paradoxes an sich. Er ist Teil eines Exerzitiums, also einer Anleitung zum Üben geordneter Vorgänge. Er ist aber zugleich auf eine Haltung der entspannten Absichtslosigkeit ausgerichtet, des Empfangens und Sich-Lassens, also der Gelassenheit eines Menschen, der sich auf Gott verlässt. Dieses Paradox wird nicht gerade gemildert durch das Faktum, dass dieser Schritt innerhalb einer konkreten Predigtvorbereitung geschieht, also gerade nicht absichtslos ist und angesichts des Arbeitsalltags auch nicht gelassen, sondern häufig unter Anspannung geschieht. Doch ist genau das das Notwendige und Einzuübende: inmitten der Pflichten innezuhalten, im Machen anzuhalten und das Empfangen zu üben. Vielleicht ist es sogar das allein Heilsame zu beten: „Ich stehe unter großem Druck. Aber ich bitte jetzt um eine kleine Unterbrechung meiner Zeit, eine Zeit des Hörens und Empfangens, der Freude und Inspiration, gerade um dann wieder machen und geben zu können.“ 2.2 Die praktischen Schritte
2.2.1 Der erste Schritt: Die Vorbereitung
JOHANNES CASSIAN sagt: „Was ihr vor dem Gebet seid, werdet ihr im Gebet sein.“19
a. „Stille suchen“. Wir suchen eine Tageszeit und einen Ort, die uns helfen, zur Ruhe zu kommen. Wir lassen die Geschäfte des Tages beiseite. Wir bitten Gott um 19
Zitiert bei M. GIBBARD, Gebet, 45.
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ein offenes Ohr und ein offenes Herz. Wir wollen hören, was Gott uns durch das Wort der Bibel zu sagen hat. MARK GIBBARD weist uns darauf hin, dass unser Beten nicht zuerst ein Bitten ist, sondern im Gebet schon ein Empfangen: „Beten bedeutet Staunen über Gottes Liebe, sie empfangen und darauf antworten, eins sein damit und sie in der Welt weitergeben – so dass wir kontemplativ und konstruktiv leben können.“20 MARTIN LUTHER überrascht uns mit einer nüchternen Feststellung: „Wenn ich fühle, dass ich durch fremde Geschäfte oder Gedanken bin kalt und unlustig zu beten geworden, wie denn das Fleisch und der Teufel allwege das Gebet wehren und hindern, nehme ich mein Psälterlein, laufe in die Kammer oder, so es der Tag und Zeit ist, in die Kirche zum Haufen und hebe an, die Zehen Gebot, den Glauben und, darnach ich Zeit habe, etliche Sprüche Christi, Pauli oder Psalmen mündlich bei mir selbs zu sprechen, allerding wie die Kinder tun.“21 LUTHER wusste also aus eigener Erfahrung, dass es schwer sein kann, zur Stille zu finden und aufnahmebereit zu werden für das Wort Gottes. „Kalt und unlustig“ fühlte er sich nicht selten. Ihm half eine Ordnung des Tages, in der das Gebet das erste und das letzte des Tages sein sollte. Und ihm halfen Übungen, etwa das laute Wiederholen von Katechismusstücken. Aufschlussreich für uns ist weniger, wie LUTHER sich vorbereitete, als vielmehr, dass er sich vorbereitete. Für die Vorbereitung von Gottesdiensten wie für unsere eigene Stille vor Gott ist es gut, darüber nachzudenken: Habe ich einen festen Ort, an dem ich bete, und der es mir leichter macht, mich zu sammeln? Habe ich feste Zeiten, so dass ich nicht andauernd die Kraft aufbringen muss, mich aufs Neue für das Hören und Beten zu entscheiden? Für die Gottesdienstvorbereitung brauche ich die fruchtbaren, wachen Stunden und nicht die trägen, in denen mir eigentlich alles schwer fällt. Weiter: Habe ich einen kleinen Ritus, der mir hilft, aus den Geschäften zum Hören zu kommen? Zur kurzfristigen Vorbereitung22 gehört für M. GIBBARD alles, was uns hilft, zur Stille zu finden. Vielleicht ein Gang durch den Garten. Oder eine Tasse Tee kochen. Es ist jedenfalls wichtig, um mich herum Stille zu schaffen, die Tür zu schließen. Und ich versuche mir klarzumachen, dass ich in der Gegenwart Jesu bin. Um ruhig zu werden, atme ich eine Zeit lang regelmäßig tief ein und aus. Vielleicht hilft mir der Blick auf eine Blume, auf ein meditatives Bild oder das Kreuz. Vielleicht hilft mir ein Gebet, mit dem ich Jesus bitte, mir beten zu helfen, so wie es DIETRICH BONHOEFFER betete: „Gott, zu dir rufe ich in der Frühe des Tages. Hilf mir beten und meine Gedanken sammeln zu dir; ich kann es nicht allein.“ Vielleicht höre ich auf ein Musikstück oder singe selbst ein Lied, das 20 21 22
A.a.O., 46. M. LUTHER, Weise, WA 38, 358f. M. GIBBARD, Gebet, 49–54.
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mich sammelt. Übrigens ist das ein tiefes Bild: Ich bin zerstreut und muss gesammelt werden. Dazu dient die Vorbereitung. Alles, was mich aus der Unruhe zur Ruhe, aus der Hektik zum Verweilen, aber auch aus der Selbstbeobachtung zum Aufblick zu Jesus führt, ist hier hilfreich. Bei THERESA VON AVILA findet sich eine weitere Übung23, die geeignet ist, uns auf dem Weg in die Stille zu helfen. Sie appelliert wie viele spirituelle Übungen an unsere Vorstellungskraft. Sie ist ganz kurz und lautet: „Stelle dir vor, Jesus steht vor dir.. Er blickt dich an ... Spüre seinen Blick ...!“ Mehr ist nicht erforderlich. THERESA fasst die Übung in einem kurzen Satz zusammen: „Mira que te mira.“ – Sieh, dass er dich ansieht. Sie fügt dann aber zwei Adverbien hinzu: Sieh, dass er dich liebevoll und dass er dich demütig ansieht. Gib acht, dass du beide Gefühlsregungen im Blick Jesu spürst: Er sieht dich liebevoll an, und er sieht dich demütig an. Das könnte vielen schwer fallen, weil sie sich nur denken können, Jesus schaue sie vorwurfsvoll an oder hart, fordernd oder richtend. Aber der Jesus des Neuen Testaments ist der, der seinen Jüngern die Füße wäscht, und der sich für die Sünde der Welt hinrichten lässt. Spüre seinen Blick, spüre die Liebe in seinem Blick, spüre die Demut. Und so stellt THERESA freudig fest: „Beten ist meiner Meinung nach nichts anderes als ein Verweilen bei einem Freund, mit dem wir oft und gern allein zusammenkommen, um bei ihm zu sein, weil wir wissen, dass er uns liebt.“24 So steht am Anfang, in der Mitte und am Ende unserer Gottesdienstvorbereitung das Gebet. Es ist nicht ein Arbeitsschritt neben anderen, den wir in unserer „to-do-Liste“ abhaken können. Es beschreibt vielmehr die Haltung des predigenden Menschen: „Rede, denn dein Knecht hört.“ (1. Sam. 3,10b) HORST HIRSCHLER begründet das Gebet in der Predigtarbeit noch etwas anders. Er vergleicht den Prediger mit dem Autofahrer, der zu Beginn einer Reise Gott darum bittet, dass er niemanden mit seinem Fahren ins Unglück stürze. Und er folgert: Diese Bitte steht auch dem Prediger gut an.25 Denn: „Bei allem Nachdenken, bei Unternehmungen und Handlungen, zumal schweren, vor allem aber bei heiligen Dingen, ist es sehr nützlich, die göttliche Hilfe zu erflehen, damit diese unser ganzes Unternehmen von vorneherein beseele, im Verfolg dabei helfe und schließlich am Ende segne“ (MATTHIAS FLACIUS ILLYRICUS, 1567).26 Aufgabe: Überlegen Sie, was Ihnen hilft, zur Stille zu kommen. Denken Sie über einen Ort nach, an dem Sie beten können. Tun Sie es! 23 24 25 26
Zitiert bei S. KUNZ, Freunde, 44. THERESA VON JESUS, Werke, 6. Bd., hier: Leben, 8,5. H. HIRSCHLER, Biblisch predigen, 92. Zitiert a.a.O., 91.
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Der Beispieltext aus Joh. 4,5–1427: (5) Da kam er in eine Stadt Samariens, die heißt Sychar, nahe bei dem Feld, das Jakob seinem Sohn Josef gab. (6) Es war aber dort Jakobs Brunnen. Weil nun Jesus müde war von der Reise, setzte er sich am Brunnen nieder; es war um die sechste Stunde. (7) Da kommt eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken! (8) Denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, um Essen zu kaufen. (9) Da spricht die samaritische Frau zu ihm: Wie, du bittest mich um etwas zu trinken, der du ein Jude bist und ich eine samaritische Frau? Denn die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern. – (10) Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, du bätest ihn, und der gäbe dir lebendiges Wasser. (11) Spricht zu ihm die Frau: Herr, hast du doch nichts, womit du schöpfen könntest, und der Brunnen ist tief; woher hast du dann lebendiges Wasser? (12) Bist du mehr als unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat? Und er hat daraus getrunken und seine Kinder und sein Vieh. (13) Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten; (14) wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.
b. „Erste Eindrücke“. Kommissar Wallander „schloss auf und trat ein. Der Gedanke durchzuckte ihn, wie oft er schon derart fremden Boden betreten hatte – die Wohnungen unbekannter Menschen. Er blieb an der Tür stehen und rührte sich nicht. Jede Wohnung hatte ihren eigenen Charakter. Wallander hatte sich im Laufe der Jahre angewöhnt, dem Wesen der Menschen, die dort wohnten, nachzuspüren. Langsam ging er durch die Wohnung. Der erste Schritt war oft der wichtigste. Der erste Eindruck. Zu dem er dann zurückkehren würde“ (HENNING MANKELL: Die fünfte Frau. Wien 1998, 96f.). Die Neugier des Kommissars, die ihn jedes Mal aufs Neue überkommt, wenn er eine unbekannte Wohnung betritt, ist ein gutes Bild für das, worum es in der Betrachtung geht. Wir betreten den „Raum“ dieses Textes nun wie eine solche Wohnung. Und wir kennen die „Bewohner“ dieser Wohnung noch nicht. Sie sind uns fremd. Aber wir möchten den ersten Eindruck festhalten und dem Wesen der Bewohner nachspüren. Was uns jetzt entgeht, nehmen wir nie wieder mit dieser frischen Unmittelbarkeit wahr, die diesem Moment eignet. 27
Bibeltext in der revidierten Fassung der Luther-Bibel von 1984.
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Wir lesen den deutschen Text zum ersten Mal in aller Ruhe (am besten: laut!) und notieren unzensiert, welchen Eindruck die einzelnen Worte und Verse bei uns machen. Wir nehmen das Wort Eindruck wörtlich: es erzählt ja, wie etwas sich „in uns eindrückt“. Wir achten auf Bilder, Gefühle, Assoziationen, Erinnerungen, Einfälle usw. Ein mögliches Verfahren zum Festhalten der ersten Eindrücke ist die „Västeras-Methode“28: Dabei bringen wir einfach beim Lesen am Rand des Textes Zeichen an. An Stellen, die uns unklar sind, wird ein Fragezeichen an den Rand gesetzt. Stellen, die uns wichtig erscheinen, erhalten ein Ausrufezeichen. Wird uns ein Wort, ein Bild oder ein ganzer Satz persönlich wichtig, so setzen wir einen Pfeil an den Rand (oder eine kleine Kerze, weil uns ein Licht aufgegangen ist). Beachte allerdings den weisen Hinweis von HORST HIRSCHLER: „Andererseits darf man sich den Einfällen und ersten Gedanken nicht zu lange hingeben, weil sich mancher Unsinn, den man denkt, sonst zu sehr verfestigt.“29 Aufgabe: Lesen Sie den Bibeltext, den Sie predigen sollen, laut und halten Sie die ersten Eindrücke auf einem Blatt Papier fest.
Beispieltext: Von Anfang an wundert mich die Perikopenabgrenzung. Ich muss erst einmal den ganzen Text (Joh. 4,1–42) lesen, um in die Geschichte hineinzufinden. Jesus überwindet Grenzen. Im Grunde ist das die Fortsetzung der Weihnachtsgeschichte: Es hält ihn nicht in der himmlischen Herrlichkeit, er muss hinunter auf die Erde und weiter hinaus zu den Menschen, hier zu einer Frau, die schon aus religiösen (und – wie man später sehen wird – aus moralischen) Gründen nicht prädestiniert erscheint für eine Begegnung der göttlichen Art. Wer gäbe schon einen Pfifferling für diese Frau? Presbyterin würde so eine nicht in unserer Gemeinde! Wie sie wohl ankäme? Die „korrekten“ Frommen würden die Nase rümpfen, die „Unkonventionellen“ ihren Lebensstil verteidigen. Die „Warmherzigen“ würden sie bedauern. Und die „Sachlichen“ würden kühl ihre Herkunft in Anschlag bringen. Natürlich kenne ich die Geschichte und weiß, wie es nun anständigerweise bei Jesus weitergeht, aber es ist alles andere als natürlich, wie es weitergeht. Nach diesen vorbereitenden Schritten wenden wir uns den einzelnen Versen zu und fragen für jeden einzelnen Vers nach dem „Vorgang“, dem „Heilsgeschehen“ und der „Betroffenheit“.
Aufgabe: Vollziehen Sie die drei Schritte, die wir Ihnen jetzt vorstellen, der Reihe nach und halten Sie fest, was Sie hören und sehen. 28 29
W. ERL UND F. GAISER, Methoden, 109–111. H. HIRSCHLER, Biblisch predigen, 91.
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2.2.2 Der zweite Schritt: „Vorgang“ oder „Filmkamera“ Unter „Vorgang“ versuchen wir, die Verben und Metaphern jedes Verses wahrzunehmen, ihnen nachzuspüren und uns mit ihrer Hilfe eine bildhafte Vorstellung zu machen. Welche Geschichte wird uns da erzählt, welches Bild gemalt? „Filmkamera“ beschreibt dasselbe als Übung: Wenn wir das Geschehen, ein einzelnes Wort, ein Symbol, ein Bild „drehen“ sollten, was würden wir auf dem Film sehen? Sie können das mit ganz alltäglichen Dingen üben: genau hinschauen, das Leben der Dinge (GERHARD SCHÖNE) meditieren. Lassen Sie die Dinge leben und ihre Geschichten erzählen! Was sehen Sie, wenn Sie z.B. eine Pforte sehen? Was filmen Sie, wenn Sie beschreiben sollen, wie jemand einen anderen führt und leitet? Wir haben es ja schon an einem Begriff gezeigt: Auch solch ein schlichtes Wort wie Eindruck erzählt seine kleine Geschichte. Darum kann man diesen Schritt auch nicht nur an offensichtlich bildhaften Worten oder an erzählenden Stücken durchführen. Wenn wir genauer hinsehen, haben auch abstrakte Worte ihre Geschichte. Aber sie ist im Begriff eingefroren und muss im Vollzug der Betrachtung aufgetaut werden. Es ist durchaus anspruchsvoll, sich so tief in einen Text und seine Begriffe zu versenken, dass die Bilder anfangen zu leuchten und die Begriffe anfangen, Geschichten zu erzählen. Ein schönes Beispiel für das Betrachten bietet uns GERHARD SCHÖNE (auf seiner CD „Das Leben der Dinge“ 1998): Was sehen Sie, wenn Sie sich vorstellen, Sie gehen ins Kino und z.B. der Film „Der Soldat James Ryan“ (STEVEN SPIELBERG) wird vom Filmvorführgerät rückwärts abgespult? Meditieren Sie das mal (Sie können auch andere Filme nehmen!). GERHARD SCHÖNE hat es folgendermaßen betrachtet und besungen: „Der Wunsch des Filmprojektors“
Lieber guter Kinomann, bitte schalt mich noch mal an! Ich will jetzt den Kriegsfilm rückwärts projizieren! Nur wir zwei, kein Publikum, die Welt dreht sich verkehrt herum. Ich kann Wunder über Wunder fabrizieren.
In die Friedhofsruhe kommt allmählich Leben. Tote Krieger, die sich aus dem Schlamm erheben. Abgeriss’ne Glieder fügen sich schon wieder heil zusammen, werden Jungs, die heimwärts streben. 53
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Auf dem Bauch sieht man die Kämpfer heimwärts rutschen, sieht Geschosse, die in Panzerrohre flutschen. Da und dort Soldaten fangen Handgranaten, schaun zum Himmel, sehnen sich so sehr nach Muttchen. Du siehst Trümmerhaufen sich im Rauch bewegen, wie sich Brocken, Steine aufeinander legen. Ganze Häuserzeilen wachsen und verheilen. Ein Geschwader saugt ihn auf, den Bombenregen.
Wieder jubeln an den Straßenrändern Leute, doch die Jungs marschieren endlich rückwärts heute. Winken voll Vergnügen aus den Güterzügen, fall’n den Müttern um den Hals und knutschen Bräute. Tauschen Uniformen ein in hübsche Sachen, fahren Rad, natürlich rückwärts, flirten, lachen. Helfen auf den Feldern, streiten mit den Eltern, werden Kinder, die die Hausaufgaben machen.
Tragen Zuckertüten, klettern bald in Wiegen, wo die Schnuller ganz von selbst ins Mäulchen fliegen. Ihre Mütter tragen sie nach ein paar Tagen wieder unterm Herzen, wo sie sicher liegen.
Beispieltext (Joh. 4,6+7): Ich sehe Jesus durch das Bergland von Samarien wandern. Es ist ein weiter Weg für Jesus – in jeder Hinsicht! Es ist ein heißer Tag. Mittagszeit. Nun kommt er, staubig, verschwitzt, müde, mit schweren Beinen auf dem Acker Josefs bei der alten Stadt Sychar an. Er lässt sich am Brunnenrand nieder und wartet. Jesus macht mal Pause. Weiß er, was jetzt passieren wird? Auch das hat mit Weihnachten zu tun: ein müder, durstiger Jesus. Und einer, der bitten kann. Wer bittet noch? Setzt sich damit aus, zeigt Bedürftigkeit und riskiert Ablehnung? Die Bitte würdigt und achtet auch die Gebetene. Bevor er der Frau etwas bietet, bittet er sie um das Nötige. Um Wasser. Kühles, klares Wasser aus dem Brunnen. Dass die Kehle herunterläuft. Wie gut kenne ich das vom Wandern! Es läuft über das Gesicht, es kühlt die Hände. Der Wind trocknet es auf der Haut. Für den müden Wanderer gibt es nichts Besseres, Wohltuenderes als kühles Wasser, das Lebenselixier.
2.2.3 Der dritte Schritt: „Heilsgeschehen“ oder „Anbetung“ Unter „Heilsgeschehen“ fragen wir: Wie stellt sich uns der dreieinige Gott in diesem Text vor? Was tut er zu unserem Heil? Was erwartet er von 54
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uns? Wir möchten Gott ja näher kennen lernen und seine Anrede vernehmen? Aber wer ist er? Und was tut, verheißt, gebietet er? Womit tröstet er? Was kündigt er an? „Anbetung“ übersetzt diesen Schritt in eine Übung: Wir verwandeln den Text in Anrede, in ein Gebet, Satz um Satz.
Beispieltext (Joh. 4,10): „Herr, ich lobe dich, dass du dieser Frau die Hand entgegenstreckst. Du hast sie überrascht, indem du sie gewürdigt hast. Und nun gehst du Schritt um Schritt weiter. Du überrumpelst sie nicht, sondern führst sie behutsam zur Einsicht. Du kommst als der, der Gottes Gabe bringt, nicht Gottes hartes Nein zu ihrem Leben. Du siehst ihren Durst, ihre Bedürftigkeit und Sehnsucht und begegnest ihr als Seelsorger. Noch sagst du es im Bild: lebendiges, frisches Quellwasser soll sie haben. Und du suchst ihre ausgestreckte Hand, die empfängt, was du ihr bietest. Amen.“
Zwischenbemerkung: Jetzt kommen die Ablenkungen! Mir fällt ein „Wir haben keine Milch mehr im Haus“ oder „Ich muss doch noch den Elektriker anrufen!“. Wie gehen wir mit solchen Ablenkungen um? Ich lasse die Ablenkung kommen, schaue sie an und verabschiede sie: Du bist jetzt nicht dran. Notfalls mache ich mir eine Notiz, dann kehre ich zurück zu meinem Wort und lese. Sie können jedenfalls sicher sein, dass es Ablenkungen jeder Art gibt, wenn Sie anfangen, hörend zu beten. REINHARD DEICHGRÄBER empfiehlt schlicht Geduld mit sich selbst. „Man mag angesichts von störenden, unruhigen Gedanken an Teeblätter denken, die wild durcheinanderwirbeln, wenn das Wasser aufgegossen wird. Gebe ich ihnen Zeit, so sinken sie von alleine auf den Boden der Kanne. Versuche ich jedoch, sie durch Umrühren oder andere Maßnahmen zur Ruhe zu bringen, so erreiche ich nur das Gegenteil. Ein anderer Rat, der in dieselbe Richtung geht, vergleicht die störenden Gedanken mit Wolken, die über den Himmel ziehen. Man versucht nicht, sie zu vertreiben, auch wenn sie einem nicht gefallen sollten, sondern lässt sie kommen und gehen. So wird es im allgemeinen gut sein, dass ich, wenn ich feststelle, dass meine Gedanken einmal wieder abgeschweift sind, sie sanft zurückkehren lasse zu meiner Meditation, und dass ich mich auch nicht beirren lasse, wenn ich wieder und wieder meine Gedanken zurückkommen lassen muss.“
2.2.4 Der vierte Schritt: „Betroffenheit“ oder „Identifikation“ Unter „Betroffenheit“ fragen wir danach, inwiefern uns das Geschaute persönlich angeht. Wo komme ich in diesem Text vor? Wir halten auch unsere Widerstände und Einwände gegen dieses Wort, vielleicht auch de30
R. DEICHGRÄBER, Meditation, 36f.
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ren Überwindung fest. MARTIN LUTHER spricht – in einer Gebetsanleitung für seinen Friseur, Meister Peter – von einem vierfachen Kränzchen: „Wenn ich aber Zeit und Raum habe außer dem Vaterunser, mache ich es mit den Zehn Geboten auch so und hole ein Stück nach dem anderen, damit ich ja ganz frei werde (soweit es möglich ist) zum Gebet. Und ich mache aus einem jeglichen Gebot ein vierfaches oder ein vierfach gedrehtes Kränzlein, so nämlich: Ich nehme jedes Gebot zum ersten als eine Lehre an, wie es denn an sich ist, und denke, was unser Herr Gott darin so ernstlich von mir fordert. Zum zweiten mache ich eine Danksagung daraus, zum dritten eine Beichte, zum vierten ein Gebet, nämlich so oder mit dergleichen Gedanken und Worten ...“31 n Was lerne ich? n Wofür kann ich danken? n Wo soll ich umkehren? n Für was und für wen soll ich beten? „Identifikation“ übersetzt diesen Schritt in eine Übung: Wir versetzen uns so plastisch wie möglich in die Rolle einer oder mehrerer Handlungsträger in dem uns vorliegenden Text (z.B. Ich als Frau am Brunnen oder als Krug). Beispieltext (Joh. 4,11): „Ich verstehe es nicht und kann mich nur wundern. Es ging doch um klares Wasser aus dem Brunnen für einen durstigen Wanderer, oder nicht? Wieso bietet er mir nun Wasser an? Er hat nicht einmal etwas dabei zum Schöpfen! Merkwürdig berührt bin ich aber, dass er, der Jude, mit mir spricht, mich sogar um einen Gefallen bittet. Er ist anders als die, die ich bisher kennen lernte. Keine Verachtung, keine Nicht-Beachtung. Er ist freundlich. Und was redet er da von Gottes Gabe? Ich muss nachfragen.“
2.2.5 Der fünfte Schritt: „Vor-Sätze“ Unter der Überschrift „Vor-Sätze“ fassen wir die wichtigsten Ergebnisse der Betrachtung zusammen. Für diese Sätze gilt – wie für alle Zusammenfassungen –, dass sie kurz und anschaulich formuliert werden müssen, wenn sie für die weitere Arbeit fruchtbar werden sollen. Die Zusammenfassungen helfen uns, am Ende unserer Vorbereitung nicht Stapel von Papier und eine unüberschaubare Fülle von Einsichten auf unserem 31
M. LUTHER, Weise, WA 38, 363: „Wenn ich aber zeit und raum habe fur dem Pater noster, so thu ich mit den Zehen geboten auch also und hole ein stueck nach dem andern, damit ich ja gantz ledig werde (So viel es mueglich ist) zum gebet, Und mache aus einem jglichen Gebot ein gevierdes oder ein vierfaches gedrehetes krentzlin, Als: Ich neme ein jglich Gebot an zum ersten als eine lere, wie es denn an jm selber ist, Und dencke, was unser Herr Gott darinn so ernstlich von mir fordert, Zum andern mache ich eine dancksagung draus, Zum dritten eine beicht, Zum vierden ein gebet, nemlich also oder mit der gleichen gedancken und worten...“
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Schreibtisch zu haben, sondern knappe Ergebnisse der einzelnen Vorbereitungsschritte, also die Essenz unserer Arbeit, mit deren Hilfe dann die Predigt entstehen wird. Die Vor-Sätze beschreiben auch unser „Vor-Verständnis“ des Textes, das nun in der Exegese auf den Prüfstand kommt. „Was nun folgen muss, ist die solide handwerkliche Arbeit am Text.“32
Aufgabe: Schauen Sie nun Ihre Notizen durch. Nicht alles können Sie mitnehmen auf dem weiteren Weg. Die Zusammenfassung in den „Vorsätzen“ hilft Ihnen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden.
Beispieltext (Joh. 4,5–14): Die Idee, dass sich hier Weihnachten fortsetzt, nehme ich mit in die weitere Vorbereitung. Jesus macht sich auf weite Wege und überschreitet Grenzen. Jesu Menschlichkeit, und die Tatsache, dass er den Kontakt zu einem fremden Menschen knüpft, indem er bittet, haben mich angesprochen. Wasser als Lebenselixier ist das zentrale Bild des Textes. Der Durst ist das Wesensmerkmal der Seele (Ps. 42,2+3). Jesus erscheint als der, der Gottes Gabe bringt. Das steht wohl im Zentrum: Vers 10 scheint mir der wichtigste Vers zu sein. Er sucht das Verstehen und Bitten dieser Frau, für die diese Begegnung zur „Stunde Gottes“, zum Kairos werden kann. Wer löscht den Lebensdurst? Und wo suche ich das Wasser, das ihn löscht? Konkret muss das werden. Ich darf nicht im Abstrakten bleiben oder das Abstrakte nur durch neue abstrakte Begriffe ersetzen. Geachtet und gewürdigt zu sein, mit den ganzen verkorksten Geschichten, dann einen neuen Anfang machen zu können, die Nähe Gottes als Freude zu erleben, ewiges Leben zugesagt zu bekommen, da wird es schon deutlicher, wie Jesus die Sehnsucht stillt. Fragen müssen beantwortet werden: Was für ein Ort ist Sychar, und wie genau war das mit den Samaritern?
32
H. HIRSCHLER, Biblisch predigen, 91.
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Drittes Kapitel Die Exegese Literaturhinweis EGGER, WILHELM: Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden. Freiburg 1987; BERGER, KLAUS: Exegese des Neuen Testamentes, Heidelberg 1977; DERS.: Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984; WOLFF, HANS-WALTER: Der große Jesreeltag (Hos. 2,1–3), in: DERS.: Gesammelte Studien zum Alten Testament, München 1964, 151–181. „Sie nahmen das Wort bereitwillig auf und forschten täglich in der Schrift, ob sich’s so verhielte“ (Apg. 17,11).
„Und darum danken wir auch Gott ohne Unterlass dafür, dass ihr das Wort der göttlichen Predigt, das ihr von uns empfangen habt, nicht als Menschenwort aufgenommen habt, sondern als das, was es in Wahrheit ist, als Gottes Wort, das in euch wirkt, die ihr glaubt“ (1. Thess. 2,13).
3.1 Grundsätzliche Überlegungen zur Exegese biblischer Texte im Rahmen der Gottesdienstvorbereitung 3.1.1 Die Bibel als ein weiterer Beleg der Demut Gottes (J.G. Hamann) „Gott ein Schriftsteller! – Die Eingebung dieses Buches ist eine eben so große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes, als die Schöpfung des Vaters und die Menschwerdung des Sohnes. Die Demuth des Herzens ist daher die einzige Gemüthsverfassung, die zur Lesung der Bibel gehört, und die unentbehrliche Vorbereitung zur selbigen.“ (JOHANN GEORG HAMANN 1758)1
Der geschichtliche Charakter der Bibel, ihre „Zufälligkeiten“ (etwa in der Kanonbildung) und Gebrochenheiten, ihre tiefe Menschlichkeit usw. sind also nicht eine Schwächung ihrer „Inspirationsqualität“, sondern spiegeln 1
J. G. HAMANN, Auslegung, I, 5f.
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die Art Gottes wider, sich zugleich zu verbergen und zu offenbaren, sich an unsere Verstehensmöglichkeiten anzupassen und sich „im Fleisch“ zu zeigen. Dieser Demut Gottes kann nur die Demut der Auslegenden entsprechen; sonst bleibt uns das Buch der Bücher verschlossen. HAMANN verglich die Schrift mit dem Strick in Jer. 38,1–13: bloß ein Strick aus Lumpen und doch nötig und fähig, Menschen zu retten. „Wir liegen alle in einem sumpfichen Gefängnis, worin sich Jeremias befand. Alte Lumpen dienten zu den Seilen, ihn heraus zu ziehen; diesen sollte er seine Rettung zu danken haben.“2 Das ist das Geheimnis: Dieses Wort ist ein Tatwort und nicht ein Deutelwort (LUTHER). Es hat die Kraft, Leben zu verändern. Um der transformatorischen Kraft des Wortes willen gilt ihm nun alle unsere Anstrengung. „Denn des Herrn Wort ist wahrhaftig, und was er zusagt, das hält er gewiss. [...] Denn wenn er spricht, so geschieht’s; wenn er gebietet, so steht’s da.“ (Ps. 33,4+9)3
3.1.2 Mehr und Größeres kann kein Buch schenken Vollmächtige Predigt ist Predigt, die aus dem Reichtum der Heiligen Schrift schöpft. Das beschreibt PETER STUHLMACHER sehr genau, wenn er sagt: „Die aus Altem und Neuem Testament bestehende Bibel ist das Buch der Bücher, weil sie zu Jesus Christus und durch ihn zu Gott führt. Sie erlaubt, den Weg nach- und mitzugehen, den Gott gegangen ist, um ‚unser Vater’ (vgl. Mt. 6,9) zu sein: Er hat die Welt um des Menschen willen geschaffen, er hat Abraham und in ihm Israel zu seinem Eigentum erwählt. Er hat seinem Volk am Sinai durch Mose seinen Willen offenbart und es durch die Propheten, durch David, Salomo und die Lehrer der Weisheit durch die Geschichte geführt, bis ‚die Zeit erfüllt war’ und ‚Gott seinen Sohn sandte, von einer Frau geboren und unter das Gesetz getan’ (Gal. 4,4). In Jesus von Nazareth, dem verheißenen Gottes- und Menschensohn, hat Gott selbst sein Eigentumsvolk aufgesucht. In ihm, seinem Opfergang ans Kreuz von Golgatha und seiner Auferweckung am Ostermorgen hat Gott allen Juden und Heiden, die Jesus als den Herrn und Messias bekennen, den Zugang zu sich eröffnet, so dass sie nun mit
Zitiert bei H. HEMPELMANN, Gott, 153. „Zwingel halte die wort ym abendmal / gleich wie er will / es seyen heisselwort / odder lasselwort / thettelwort odder leselwort / da ligt mir nichts an / Das frage ich aber / ob die selbigen thettel wort Christi / lu(e)gen wort / odder ware wort sind? Sinds lu(e)gen wort / so verantworte sie Christus selbs / vnd gehen uns nicht an / Sind es aber ware wort/ so antworten wir fro(e)lich /... es sind thetel wort / die Christus auffs erste mal redet vnd leuget nicht / da er spricht / Nemet / esset / das ist mein leib etce(tera). Eben so wol / als son vnd mond da stund / da er sprach Gen(n). 1. Es sey sonn vnd mond / vnd war kein lu(e)gen wort / So ist sein wort freylich nicht ein nachwort / sondern ein machtwort / das da schafet / was es lautet. Psalm. 33. Er spricht / so stehets da / sonderlich weil es hie [sc. gemeint sind die Einsetzungsworte des Abendmahles, MH] am ersten gesprochen wird vnd ein thetel wort sein sol.“ Quelle: M. LUTHER, Abendmahl, WA 26, 282f. 2 3
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dem Vaterunser Gott ebenso anrufen dürfen, wie Jesus selbst es getan und gelehrt hat. Mehr und Größeres kann kein Buch schenken, und eben deshalb ist die Bibel ein einzigartiges, nicht hoch genug zu schätzendes Buch.“4
3.1.3 Exegetische Arbeit in der Predigtvorbereitung als Kunst des Lesens Unter exegetischer Arbeit verstehen wir die durch die Methoden der Bibelwissenschaft vermittelte Begegnung mit dem Text, die ihn durchsichtig und verständlich macht für seine, d.h. für die vergangene Zeit. Sie korrigiert, ergänzt, präzisiert und bereichert durch historisch verstehendes Eindringen die im betrachtenden Umgang mit dem Text gewonnenen Ergebnisse. Strenger, fast überspitzt formuliert: In der Exegese treten wir zurück, damit der Text zur Geltung kommt (Selbst-Distanzierung). Wir überprüfen also kritisch unser erstes Verstehen und rechnen damit, missverstanden zu haben. In der Exegese tritt auch der Hörer (noch!) zurück, damit das Wort nicht vorab von ihm domestiziert wird und so nichts Neues und Befreiendes mehr sagen könnte. Oder wiederum etwas überspitzt formuliert: Es geht um einen Akt zeitweiliger „Ent-Solidarisierung“. Ich trete also in einen gewissen Abstand zu mir selbst, mute mir und meinen Hörern auch das zu, was schmerzt, weil es zu dem, was heilt, hinzugehört.5 Die „Gottesgemütlichkeit“ in unseren Predigten (CHRISTIAN LINK) beruht in unserer Neigung, uns und dem Geschmack unserer Hörer das Wort unterzuordnen, anstatt uns und die Erwartungen unserer Hörer dem Wort unterzuordnen. Das aber raubt uns die Vollmacht. Stattdessen gilt es, wieder zu verkündigen, was der Trost- und Umkehrruf des Evangeliums uns aufträgt. Es ist doch so: Die Gemeinden werden wachsen, in denen Menschen nicht bei dem beruhigt werden, was sie sind und haben, etwa als brave Bürger und gute Kirchenmitglieder, sondern in denen sie zur Umkehr zu Jesus Christus gerufen werden und in denen auch die Kosten der Umkehr nicht verschwiegen werden. Es gilt also – gerade um unserer Hörer willen (und nicht etwa nur ihnen zum Trotz) – wirklich das zu sagen, was aus Gottes Sicht den Schaden heilt. Unsere wissenschaftliche „Empathie“ gilt jetzt allein dem „Text an sich“; wir üben uns in einem historischen Sehakt (ADOLF SCHLATTER). Damit ist in der Tat ein Akt der Selbstverleugnung gemeint, der sich so weit er kann in der Kunst des Lesens zurücknimmt und dem Werk höchster Demut (J.G. HAMANN) größtmögliche Demut entgegenbringt. Die
P. STUHLMACHER, Gotteswort, 327. Einem Studierenden ging im Seminar bei seiner Vorbereitung auf eine Predigt über Jer. 23, 16–29 auf, worum es hier geht. In der Tat ist dieser Text besonders dazu angetan, die Aufgabe des Predigers unter dieser Perspektive zu verdeutlichen: Jeremia ist ebenso kritisch gegenüber prophetischen Träumereien wie gegenüber dem, was sich das Volk von einer Predigt erhofft. Nur so kann das Not-Wendende gesagt werden. 4 5
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Bibel will gelesen werden in der Furcht Gottes, die der Anfang aller Erkenntnis ist (Spr. 1,7). Es ist die Lust an der Thora Gottes, die den Prediger und die Predigerin zu unermüdlichen Bibellesern macht (Ps. 1,2). Die damit verbundene Demut hat es zu tun mit der Wehrlosigkeit, die jedem Autor eignet, der einen Text „entlässt“ und damit die Macht über ihn verliert. J.G. HAMANN sprach von den „scharfsinnigen Kunstrichtern“6, die sich des biblischen Wortes bemächtigen. Wer verstehen will, muss sich dagegen zurücknehmen und – eben Demut üben. Stumme Aufmerksamkeit nennt HAMANN die Demut im Vollzug des Lesens. Stumme Aufmerksamkeit stellt zurück, was ich schon zu wissen meine, was mir nicht behagen will, oder auch was mir schnell verwertbar zu sein scheint. Solche Demut konstruiert nicht aufs Neue eine „hermeneutica sacra“; sie ist vielmehr Grundbedingung jedes Verstehens. Moderner gesagt geht es um Fairness gegenüber dem zu verstehenden Text.7 Respektvoll und erwartungsvoll zu lesen ist Grundbedingung der Exegese. Mit PETER STUHLMACHER sprechen wir von einem Akt des „Vernehmens“8 bzw. der Bemühung, uns der „Eigenbewegung des Wortes ... nicht mit eigenen Bewegungen in den Weg [zu] stellen.“9 Wollen wir predigend etwas sagen, was für das Leben der Gemeinde und ihre einzelnen Glieder relevant ist, dann müssen wir bei der Heiligen Schrift wieder und wieder anklopfen, bis sie zu reden beginnt. Die Methoden des Anklopfens wechseln im Verlauf dieses Arbeitsbuchs, aber stets geht es um ein betendes, suchendes, fragendes, sich offen haltendes Vorgehen, eben um ein Anklopfen in der Erwartung, dass Gott seine Verheißung wahrmacht: „Klopfet an, so wird euch aufgetan“ (aus Mt. 7,7). „Der Buchstabe der Schrift“, so sagt es HANS JOACHIM IWAND, „ist nun einmal die(se) Stelle, wo wir anklopfen dürfen und müssen, und ohne die Mühe um den Buchstaben wird die Gabe des Geistes nicht empfangen.“10 Auch die Exegese ist eine Weise des Anklopfens, darin gewiss nicht von der Betrachtung unterschieden. So kann etwa HANS JOACHIM IWAND den gesamten Prozess auch Meditation nennen, so wird mancher Exeget all das, was wir zu vermitteln versuchen, als Exegese betrachten. „Meditieren heißt, dass wir im Wort die Wahrheit suchen und nicht in uns selbst ... Meditieren heißt ..., im Text das Evangelium suchen, im Geschriebenen die viva vox, im Buchstaben den Geist vernehmen.“11 6 J. G. HAMANN, Auslegung, I, 9: „Gott offenbaret sich – der Schöpfer der Welt ein Schriftsteller – was für ein Schicksal werden seine Bücher erfahren müssen, was für strengen Urtheilen, was für scharfsinnigen Kunstrichtern werden seine Bücher unterworfen seyn.“ 7 Vgl. H. HEMPELMANN, Gott, 136–140. 8 P. STUHLMACHER, Gotteswort, 333. 9 D. BONHOEFFER, GS IV, 241f. 10 H. J. IWAND, Briefe, 494f. 11 A.a.O., 490.
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Ein elementarisiertes Schema exegetischer Arbeit kann uns helfen, die verschiedenen Dimensionen unseres Textes genauer wahrzunehmen und theologisch zu verstehen. Dabei kommen sowohl die Wahrnehmung wichtiger Einzelheiten als auch die Wahrnehmung der Ganzheit des Textes und seiner Gestalt zu ihrem Recht. Die Ausarbeitung folgt dem Schema des „Biblischen Kommentars zum Alten Testament“. Methodisch folgen wir der von WILHELM EGGER12 vorgeschlagenen Kombination diachroner und synchroner Aspekte.
Ein wichtiger Hinweis: Beachten Sie dabei bitte: Nicht vollständiges Abarbeiten der Methodenliste ist gefragt (Verfahren: „Checkliste“), sondern die verantwortliche Entscheidung, welche Arbeitsschritte angemessen, hilfreich und notwendig sind, um diesen Text zu erschließen. „Für jeden Text ist der ihm gemäße Zugang und die textgemäße Methode zu suchen.“13. Am Ende soll das Aufnahme finden, was für das Verstehen des Textes wesentlich ist. Die Predigtarbeit ist nicht eine Grabstätte für historische Einsichten. Unabdingbar aber (und darum auch mit größter Sorgfalt zu formulieren) ist die Zusammenfassung der Exegese mit Intention, Kerygma und Idion. 3.2 Die praktischen Schritte
Vorbemerkung: Für die Leserinnen und Leser kann sich in diesem Kapitel eine Schwierigkeit auftun. Wir können im Rahmen eines homiletisch-liturgischen Arbeitsbuches nicht die vollständige Methodik der Exegese darstellen. Wir haben uns entschlossen, weitgehend die von FALK BECKER bearbeitete Kombination von synchroner und diachroner Exegese nach WILHELM EGGER hier wiederzugeben. Wir setzen also voraus, dass unsere Leserinnen und Leser mit dem exegetischen Handwerkszeug vertraut sind. Im Unterschied zu den anderen in diesem Buch vorgestellten Methoden werden die exegetischen Arbeitsweisen in den entsprechenden Proseminaren und Seminaren im Alten und Neuen Testament ausführlich erörtert und trainiert. Darum beschränken wir uns auf eine knappe Zusammenfassung, die eher den Charakter einer möglichen Arbeitsliste hat. Wer mehr sucht oder braucht, kann z.B. in dem Methodenbuch von WILHELM EGGER die nötigen Hinweise finden. Eine andere Schwierigkeit stellt sich den Leserinnen und Lesern, die nicht mit dem hebräischen oder griechischen Text arbeiten können. Sind sie in einer der verschiedenen Laienpredigerausbildungen geschult, so haben sie an dieser Stelle ebenfalls ein eigenes Instrumentarium zur Erarbeitung des Tex12 13
W. EGGER, Methodenlehre, 21+24f. A.a.O., 22.
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tes kennen lernen können. Ist auch das nicht der Fall, so fahren Sie bitte mit der vereinfachten Methodik fort, die wir unter 3.3 anbieten. Exegetische Arbeit am hebräischen oder griechischen Text 3.2.1 Der Text
Wie lautet mein Text eigentlich? (Textkritik) Wir kollationieren die verschiedenen Lesarten und bewerten sie nach den bekannten inneren und äußeren Kriterien.14 Welche Lesart könnte die ursprüngliche sein? Für die homiletische Arbeit sind nur solche Varianten relevant, die eine sinnverändernde Bedeutung haben. Bitte treffen Sie eine entsprechende Auswahl! Bedenken Sie: Der Apparat ist der erste Kommentar! Beispieltext In Joh. 4,5–14 gibt es keine für die Predigtarbeit relevanten textkritischen Probleme.
Wie ist mein Text zu übersetzen? (Erste Übersetzung) Wir übersetzen mit Hilfe von Lexikon und Grammatik den Text, vergleichen verschiedene Übersetzungen und fragen: Wo gibt es erhebliche Unterschiede? Beim Übersetzen beachten wir die Ausgangs- und die Zielsprache, d.h. wir bemühen uns um text- und autorgetreues, aber auch leser- und hörerorientiertes Übersetzen. Gerade wenn wir mit dem Gedanken spielen, unsere Übersetzung auch der Predigt vor der Gemeinde zugrunde zu legen, kommt es darauf an, beide Seiten zu betrachten: die Treue gegenüber dem Autor, aber auch die Verständlichkeit und Eingängigkeit beim zukünftigen Hörer. Grundsätzlich empfehlen wir, die Gemeinde mit einer Übersetzung vertraut zu machen, die auch in den Gemeindegruppen und für das persönliche Bibellesen empfohlen wird. Die Gemeinde hört sich dann allmählich in eine Bibelübersetzung ein. Wenn dem Prediger bzw. der Predigerin nicht entscheidende Stellen falsch oder missverständlich übersetzt zu sein scheinen, empfiehlt es sich, auf die in der Gemeinde vertraute Übersetzung zurückzugreifen. Hand aufs Herz: Reichen unsere Übersetzungsversuche wirklich heran an die sprachliche Kraft etwa der Lutherübersetzung?15 Wenn wir uns aber für das Verlesen der eigenen Übersetzung entscheiden, müsste am Ende der Exegese ein zweiter Versuch der Übersetzung erfolgen, der all das mit berücksichtigt, was bis dahin erarbeitet wurde. Die Übersetzung ist dann die Krone einer 14 15
W. EGGER, Methodenlehre, 46–55, bes. 52f. A.a.O., 59–73, bes. 63–67.
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gelungenen Exegese, sie ist auch der Test, ob wir den Text inzwischen besser als vorher verstanden haben.
Wie ist mein Text abgegrenzt? (Erste Orientierung) Wir fragen nach der Sinnhaftigkeit der vorgegebenen Abgrenzung: Sind Anfang und Ende des Textes sinnvoll? Welchen Platz nimmt unser Teiltext im Textganzen ein? Welche kleinsten Leseeinheiten (etwa: Sinnzeilen) entdecken wir?16 Bitte beachten Sie: Nicht jede kirchliche Perikope ist sinnvoll gewählt!
Beispieltext Auf eine Wiedergabe der eigenen Übersetzung wird hier aus Platzgründen verzichtet. Wichtig aber ist die Frage der Perikopenabgrenzung. Sie war uns bereits in der persönlichen Betrachtung aufgefallen. Perikope heißt auch „Verstümmelung“ (SIEGFRIED KETTLING).17 Die Perikope beginnt mitten in der Reisebeschreibung, die Johannes der Begegnung zwischen Jesus und der namenlosen Frau am Jakobsbrunnen voranstellt, und endet noch vor dem Ende des ersten Gesprächsgangs (V. 15). Für das Verstehen der Geschichte wird man nicht umhin können, immer wieder den ganzen Text (Joh. 4,1–42) vor Augen zu haben. Für den Gottesdienst wäre es also eine mögliche Variante, auch diesen Text zu lesen, notfalls als Ersatz für die vorgeschlagene Evangelienlesung aus Mt. 8.
3.2.2 Die Form des Textes: Wie steht mein Text da? (Synchrone Exegese)18 In diesem Abschnitt verstehen wir den Text als „Momentaufnahme von Kommunikation“ (FALK BECKER). Wir untersuchen ihn als strukturierte und kohärente Größe, die in einen größeren Kommunikationsvorgang eingebettet ist. Wiederum geht es um einen offenen Umgang mit der Methode, nicht um ein zwanghaftes Abarbeiten. Einfache statistische Verfahren sind jetzt anzuwenden: Unsere Hilfsmittel sind Listen, Zählungen, die Arbeit mit Wörterbuch, Konkordanz und Kommentaren.
3.2.2.1 Die sprachlich-syntaktische Analyse Welche Worte benutzt der Autor („Lexikon“) und wie verknüpft er sie („Grammatik“)? Diese Fragen stellen wir in der sprachlich-syntaktischen Analyse des Textes. Wir beachten darüber hinaus stilistische Eigenarten und Gliederungsansätze. 16 17 18
A.a.O., 55–61. S. KETTLING, CPH 1982, 125. W. EGGER, Methodenlehre, §§2–4 und 8–11.
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n Wortschatz: Gibt es Auffälligkeiten, wie etwa für den Autor typische oder untypische Wörter oder Wiederholungen (vgl. Konkordanz und Wörterbuch)? n Wortarten/Wortformen: Erstellen Sie eine Liste der wichtigsten Wortarten und Wortformen! Dominieren bestimmte Wortformen (z.B. Imperative)? Gibt es auffällige Wortformen, etwa im Tempusgebrauch? n Verknüpfungen: Wie werden die Elemente des Textes verknüpft, z.B. durch Wiederholungen, Pronomen oder Konjunktionen, durch Einleitungsformen, Tempusgebrauch und Satzarten? Ist die Kohärenz (der sprachliche Zusammenhang) stark oder eher locker? n Stilistische Auffälligkeiten: Benutzt der Verfasser auffällige stilistische Mittel zur Darstellung? Machen Sie sich die Listen mit solchen Stilmitteln zu nutze, die in den exegetischen Arbeitsbüchern angeboten werden.19 n Beachten Sie den Aufbau und die Gliederung des Textes: Wie wird gegliedert, z.B. durch Themenwechsel, Orts- und Zeitangaben, Einführung neuer Personen, den Wechsel von Erzählung und direkter Rede, Partikel oder auch Überschriften? Sie können die Ergebnisse in Form einer Textgrafik bündeln. 3.2.2.2 Die semantische Analyse Wie lässt sich die Bedeutung des Textes durch Aufschlüsselung seiner Struktur erklären? Die semantische Analyse erhebt die vielfältigen Beziehungen zwischen den Bedeutungselementen des Textes. Dies geschieht in text- und wortsemantischen Untersuchungen:
Welche textsemantischen Erkenntnisse können wir sammeln?20 Dabei wird ein Inventar der Bedeutungselemente zusammengestellt (nicht vollständig!): Welche Elemente gehören zusammen (Sinnlinien), welche Oppositionen werden beschrieben (Veränderungsabsichten)? Abschließend werden die Sinnlinien und Oppositionen zu übergreifenden Gruppen zusammengefasst.
Welche wortsemantischen Erkenntnisse können wir sammeln?21 Die Bedeutung von Wörtern erschließt sich aus den Kontexten und Wortfeldern, in denen das jeweilige Wort Verwendung findet. Wir arbeiten hier mit der Konkordanz und fragen bei ausgewählten, bedeutsamen Begriffen: An welchen Stellen kommt das Wort vor? In welchen Gattungen findet es sich häufig? Mit welchen anderen Wörtern verbindet es sich 19 20 21
Sie können die Liste a.a.O., 82, dazu benutzen. A.a.O., 93–109. A.a.O., 110–119.
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gern, oder: zu welchen Wörtern steht es in Opposition? Schließlich: beschreiben Sie die Bedeutungsmerkmale des untersuchten Wortes.
Wie erzählt der biblische Zeuge seine Geschichte?22 Nun geht es um die narrative Analyse. Kirche ist die Erzählgemeinschaft, in der die Worte und Taten Jesu und der Apostel und Propheten weitererzählt werden. Hier geht es um die Analyse der Erzählstrukturen, und zwar besonders der Handlungsabläufe und der Handlungsträger. Wir benutzen einfache Verfahren bei Erzähltexten und fragen z.B.: n Wo gibt es in der Erzählung Knotenpunkte (BREMOND), an denen die Handlung auch anders hätte weitergehen können? Diese Knotenpunkte lassen sich als Stammbaum23 darstellen. n Welcher Spannungsbogen wird erzählt? Wo ist der Höhepunkt der Handlung? Wie wird dieser Höhepunkt vorbereitet? n Wie sieht die mikroszenische Gliederung aus? Auf welchen Bildausschnitt wird der Blick des Hörers gelenkt? n Welche handelnden Personen kommen vor, und wie sehen die Interaktionen zwischen diesen Personen aus? n Wo wird dem Hörer ein Identifikationsangebot gemacht?
3.2.2.3 Die pragmatische Analyse24 Welche Absichten verfolgt der biblische Autor mit seinem Text? Sprecher bzw. Autoren wollen etwas erreichen. Sie wollen stets ihre Hörer bzw. Leser beeinflussen und zu einer Reaktion bewegen (vgl. die Sprechakt-Theorie etwa nach F.L. AUSTIN, Zur Theorie der Sprechakte 1972). Es geht in der pragmatischen Analyse um Handlungsanweisungen und Leserlenkung. Wir fragen: warum und wozu wurde ein Text verfasst? Dabei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle: die Kommunikationssituation (Wem genau gilt das Gesagte in welcher Lage?), vorgegebene Autoritäten und Werte (Wie steht der Schreiber zum Leser?), Autoritätsgefälle usw. Welche Strategien setzt der Autor ein, um seine Instruktionen durchzusetzen (wenn er etwa statt eines Befehles sagt: „Es zieht!“)? Wir unterscheiden zwischen der Proposition (Inhalt), der Funktion (Absicht) und der tatsächlichen Wirkung. Mögliche Funktionen sind: Kontakt herstellen, vertiefen oder erneuern, Informationen vermitteln, Appelle, Befehle, Wünsche oder Ratschläge weitergeben, über eigene Gefühle berichten usw.
22 23 24
A.a.O., 119–133. A.a.O., 131. A.a.O., 133–146.
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3.2.2.4 Die Analyse der Textsorten Für bestimmte Lebenssituationen ergeben sich verabredete, nach relativ festen Regeln verlaufende Kommunikationsprozesse: Man weiß in einem Kulturraum, wie man einen Brief schreibt oder eine Hochzeitsanzeige veröffentlicht. Die Textsorten vereinen Texte mit gleichen Textmerkmalen, die für gleiche soziale Kontexte gebraucht wurden und dort bestimmte Interaktionen zu regeln halfen. Anders gesagt: Einer Textsorte oder Gattung entspricht immer ein bestimmter Sitz im Leben (die Textsorte Hymnus z.B. hat ihren Sitz im Leben im Gottesdienst). Wir suchen also mit Hilfe der Angaben zu Parallelstellen ähnliche Texte und vergleichen die syntaktischen, semantischen und pragmatischen Aspekte der Texte – und deren Sitz im Leben. Dabei stellen wir Übereinstimmungen und Abweichungen fest. Mit Hilfe der Listen von alttestamentlichen und neutestamentlichen Textsorten bzw. Gattungen25 finden wir heraus, zu welcher Textsorte ein Text gehört und welcher Sitz im Leben dem entspricht. In der Regel genügt es, diesen Schritt in kritischer Rezeption der exegetischen Literatur zu vollziehen.
Beispieltext Im Blick auf den Wortschatz ergeben sich in unserem Text einige interessante Entdeckungen: n Da ist zunächst die Gruppe der „Wasser“-Wörter, die den Text beherrschen: 23 Wörter in 4,5–14 gehören in diese Kategorie: zwei verschiedene Wörter für den Brunnen (3x phgh´ [„pägä“] und 2x fre´ar [„frear“]26) gehören dazu, weiterhin vor allem Wasser (7x, davon 2x als „lebendiges“ Wasser, also fließendes Quellwasser im Unterschied zum in der Zisterne gesammelten Regenwasser), trinken (6x), dürsten (2x), schöpfen (1) sowie das Schöpfgefäß (der an einem Strick befestigte Eimer, mit dem das Wasser aus dem Brunnen geholt wurde, 1x) und sprudeln (1x). Der Blick in die Konkordanz zeigt, dass diese Wortgruppe für Johannes von besonderer Bedeutung war: In Joh. 2 wird Wasser zu Wein verwandelt. In 3,5 ist Wasser neben dem Geist Mittel zur Wiedergeburt. In 5,4 hat Wasser heilende Kraft. In 7,37–39 wird der Durstige (vgl. auch 6,35) gerufen, zu Jesus zu kommen, um zu trinken. Ja, das Trinken soll zu etwas ganz Neuem führen: Ströme lebendigen Wassers sollen von dem ausgehen, der bei Jesus seinen Durst stillt. 7,39 erklärt dies durch den Hinweis auf den heiligen Geist. In 13,5 reinigt Jesus mit Wasser die Füße der Jünger. Bedeu-
Vgl. z.B. bei K. BERGER, Formgeschichte. phgh´ [„pägä“] ist ein Brunnen, der nicht nur Regen- sondern auch Grundwasser aufnimmt. In 2. Petr. 2,17 ist der gottlose Mensch wie eine Quelle ohne Wasser, in Mk 5,29 dient das Nomen auch zur Bezeichnung des unstillbaren Blutflusses. In Offb. 21,6 ist es die Lebenswasserquelle. fre´ar [„frear“] ist dagegen der künstlich gegrabene Brunnen (Gen. 21,19). 25 26
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tend ist auch der Durst Jesu am Kreuz (19,28) und das Wasser, das nach dem Lanzenstoß der Soldaten aus der Seite Jesu strömt. n Ebenso auffällig ist aber die Gruppe der elf Wörter, in denen es um ein Bitten und Empfangen geht. Interessant ist hier vor allem der Wechsel der Subjekt- und Objektstellung zwischen Jesus und der Frau. 6x ist vom Geben die Rede, dabei 2x als Imperativ, 1x von der Gabe, 2x vom Bitten und 2x vom Haben. n Schließlich fallen als dritte Gruppe die Wörter der Zugehörigkeit auf: Sie markieren jeweils starke Oppositionen. Man gehört entweder zu den Juden (2x) oder zu den Samaritanern (in verschiedenen grammatischen Formen 6x, dazu kommen die für Samaria bedeutenden „Heiligen“ wie Jakob und Josef sowie die Ortsbezeichnung Sychar). Zur Kohärenz: Die Geschichte wird mit einfachen Mitteln erzählt, die Dialoge folgen mit schlichten Anschlüssen („antwortete und sprach“) aufeinander. Auffällig sind die beiden begründenden Einfügungen in V. 8 und am Ende von V. 9, die den Duktus der Erzählung unterbrechen. Auffällig ist auch die gesamte Inszenierung: Nur Jesus und die Frau betreten die Bühne. Diese Konzentration auf das Gespräch mit einem Menschen, bei dem selbst die Jünger nicht vorkommen, gibt es häufiger (z.B. Joh. 3,1ff.). Die wesentlichen Knotenpunkte der Erzählung lassen sich schnell finden:
Jesus bittet die Frau um Wasser
Sie verweigert es Sie fragt nach [...]
Sie gewährt es Jesus kümmert sich nicht um die Frau
Jesus diskutiert über Sam. u. Juden
Jesus gibt dem Gespräch eine andere Richtung (Anknüpfung für ein Glaubensgespräch) Jesus nimmt das Wasser und beläßt es dabei
Schon in der Graphik wird deutlich, dass der Erzählfaden nicht unbedingt dem wahrscheinlichsten Verlauf folgt: Unwahrscheinlich ist schon der Beginn (das macht auch V. 9 deutlich, später auch V. 27), überraschend aber die Fortsetzung in V. 10. V. 10 markiert sicher eine Bruchlinie in die68
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sem Gespräch. Hier dreht sich die Subjekt-Objektstellung Jesu und der Frau um und Jesus setzt als gezielte Redeweise doppeldeutige und doppelbödige Formulierungen ein, die prompt zu dem für Johannes typischen Missverständnis führen: Die Frau denkt an fließendes Quellwasser, Jesus redet von Lebenswasser als Gabe Gottes. Auch wenn es kein solches Ich-bin-Wort gibt, so könnte es doch gut hier stehen: „Ich bin das Wasser des Lebens!“ Die Spannung steigt stetig in dieser Erzählung und erreicht mit V. 14 nur einen zwischenzeitlichen Höhepunkt; die Perikopenordnung verordnet den Abbruch der Erzählung vor Erreichen der Zielgeraden, mindestens in V.26, eher noch in V. 42. Gegen Ende wird Jesus grundsätzlicher: Aus der Anrede an die Frau wird ein allgemeines Angebot, das eine Möglichkeit zur Identifizierung eröffnet: „Wer von dem Wasser trinken wird ...“ (V. 13+14). Das aber scheint nicht die zentrale Pragmatik zu sein. Es ist eher der Tabubruch Jesu und sein zielgerichtetes Gesprächsverhalten, die in dieser Frage unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Jesus überschreitet mehrere Grenzen: Er spricht mit einer Frau (V.27) aus Samarien (V. 9), deren Lebenswandel er mit prophetischer Kenntnis durchschaut (V. 17f.). Er tut das mit der festen Absicht der Umkehrung der Verhältnisse. Er möchte vom Bittenden zum Gebetenen werden. Die beabsichtigte Leserlenkung könnte über die Identifikation angestrebt werden: „Glaube, dass Jesus auch zu dir so steht wie zu dieser Frau“ (Funktion: Glauben wecken). Sie könnte aber auch grundsätzlicher aussehen: „In der Nachfolge Jesu soll die missionarische Kirche Grenzen überschreiten“. Sie soll dabei Menschen ansprechen, die bislang „draußen vor der Tür“ stehen. Schließen wir die synchrone Analyse mit einer Gliederung ab: I. V. 1–5:
DER REISEBERICHT 1. V. 1+2 Der Anlass der Reise 2. V. 3 Die Route 3. V. 4+5 Die unvermeidliche Durchquerung Samariens und der Weg nach Sychar
II. V. 6–26 DAS GESPRÄCH JESU MIT DER FRAU AM JAKOBSBRUNNEN 1. V. 6+7a Anlass, Ort und Zeit, Auftreten der beiden Hauptpersonen: Zwölf Uhr mittags am Jakobsbrunnen. Jesus und die Frau treffen dort zusammen. 2. V. 7b–15 Erster Gesprächsgang: „Wasser“ 2.1 V. 7f. Die Bitte um Wasser und ihr Grund: Durst und Abwesenheit der Jünger. 2.2 V. 9 Der Einwand der Frau: Juden verkehren nicht mit uns! 2.3 V. 10 „Bruchlinie“: Jesus spricht von Gottes Gabe, 69
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dem lebendigen Wasser, um das die Frau bitten soll. 2.4 V. 11f. Missverständnis: Die Frau denkt an Quellwasser und an den Brunnen Jakobs. 2.5 V. 13f. Jesus verallgemeinert: Lebendiges Wasser als Quelle, die in das ewige Leben mündet. 2.6 V. 15 Zweites Missverständnis: Die Frau bittet um lebendiges Wasser zur Verbesserung ihrer Lebensqualität. 3. V. 16–19 Zweiter Gesprächsgang: „Ehemänner“ 4. V. 20–26 Dritter Gesprächsgang: „Anbetungsorte“
3.2.3 Der Ort des Textes: Wo steht mein Text? (Diachrone Exegese) In der diachronen Exegese erforschen wir das Werden des Textes als eines geschichtlichen Dokumentes mit einer eigenen Entstehungs- und Wachstumsgeschichte. Wir mühen uns also um die Rekonstruktion des geschichtlichen Verlaufs, in dem die Texte ihre endgültige Form erreicht haben. Theologisch interessant ist, wie in dieser Geschichte das Wort Gottes in immer neuen Situationen ausgesprochen und weitergegeben werden konnte. Weitgehend werden wir in der homiletischen Arbeit auf die Untersuchungen in Kommentaren zurückgreifen. Die Urteile der historisch-kritischen Exegese sind Wahrscheinlichkeitsurteile und darum selbst kritisch zu sehen. Hierher gehört auch die Frage, welchen historischen Hintergrund die Texte haben, die wir predigen sollen.27 3.2.3.1 In welchem Kontext steht mein Text? Wo steht mein Text in seinem Kontext? Wie ist seine Stellung zum unmittelbaren Kontext, innerhalb der jeweiligen Schrift, und welchen Akzent setzt er innerhalb des ganzen Alten bzw. Neuen Testaments?
3.2.3.2 Welche schriftlichen Quellen sind in meinem Text verarbeitet worden? In der Literarkritik28 geht es um die Suche nach schriftlichen Quellen und deren Herkunft im vorfindlichen Text. Für die Verwendung schriftlicher Quellen (wenn sie nicht benannt werden) gibt es Indizien, z.B. Unstimmigkeiten (Inkohärenzen) im Text, die dem Autor beim Einarbeiten von Quellen unterliefen. Dazu zählen: Unterbrechung und spätere Wiederaufnahme des Zusammenhangs (z.B. Joh. 13,34f.), Doppelungen und Wiederholungen (wichtig im synoptischen Vergleich: Welcher Text lässt sich als Änderung welchen Textes verstehen?), Spannungen und Widersprüche, ungewohnter Vokabelgebrauch, störende Elemente in Textsorten. 27 28
Vgl. W. EGGER, Methodenlehre, 195–203. A.a.O., 162–170.
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3.2.3.3 Kann eine mündliche Vorgeschichte des Textes erkannt werden? In der Traditionskritik fragen wir nach der mündlichen Vorgeschichte des Textes, ausgehend von der Überlegung, dass am Anfang der Überlieferung einfache, kohärente Traditionen stehen, die dann in der Überlieferungsgeschichte allmählich verändert wurden, auf neue Situationen („Sitze im Leben“) bezogen wurden, bis sie in Texte aufgenommen und eingebaut wurden. Die mündlichen Traditionen sind zunächst aus dem Kontext zu isolieren, dann ist die Geschichte ihrer Veränderung und Anpassung nachzuvollziehen: Dabei spielen gattungsmäßige Spannungen oder Differenzen in der pragmatischen Funktion eine herausragende Rolle.29
3.2.3.4 Wie hat die Endredaktion des Textes ausgesehen? In der Redaktionskritik30 fragen wir danach, wie der Redaktor den endgültigen Text erstellte, indem er sein Material sammelte, sichtete, überarbeitete, zusammenstellte und ordnete. Dabei ist er selbst von seiner Gemeinde und seiner Zeit beeinflusst und verfolgt zugleich selbst Ziele im Blick auf seine Gemeinde und seine Zeit. In einem Rückschlussverfahren soll erarbeitet werden, was wir erfahren können über den Redaktor und seine Arbeitsweise, die Adressaten und den Ort sowie die Zeit der Abfassung. Wir fragen nach für den Redaktor typischem Wortschatz und typischen Themen, nach direkten Informationen über den Redaktor. Wir sammeln direkte Hinweise auf die Adressaten und ziehen Rückschlüsse aus der Textpragmatik auf die Gemeindesituation. Aus den Themen des Textes erschließen wir die Zeit seiner Abfassung.
3.2.3.5 Wie ist die Geschichte des Textes danach weitergegangen? Hier geht es um Wirkungsgeschichte und Auslegungsgeschichte. Im weitesten Sinne gehört auch die Wirkungsgeschichte des Textes in die Exegese, da wir die Texte immer nur in einer langen Reihe von Rezeptionen und Interpretationen empfangen und von bestimmten „Wirkungen“, die sie gehabt haben (etwa beim Römerbrief für die Reformation) gar nicht abstrahieren können. Die Wirkungsgeschichte zeigt etwa der Evangelisch-Katholische Kommentar zum Neuen Testament31 in Ausschnitten auf. Uns hilft auch die Predigtgeschichte, um die Interpretation der Texte durch die Jahrhunderte hindurch zu verfolgen. Reichtum und Begrenztheit früherer Bibelleser werden uns dabei hilfreich deutlich. Das Sinnpotenzial eines Textes wird in größerem Ausmaß einsichtig.
A.a.O., 170–183 besonders zu den Beispielen Mk. 14,3–9 und Röm. 1,3f. A.a.O., 183–194. 31 HGG.: J. BLANK U.A. im Benziger Verlag Zürich und Braunschweig und im Neukirchener Verlag Neukirchen-Vluyn. 29 30
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Beispieltext Klassisch ist die Analyse RUDOLF BULTMANNS32, der in diesem Text eine ältere Tradition aus der sogenannten Zeichenquelle sieht (die erzählt von der Begegnung Jesu mit einer samaritanischen Frau: V. 5–9a ohne 8, 16– 19, 28–30+40 sowie ein Kernbestand von 20–26) und eine starke johanneische Überarbeitung erkennt (die das theologische Hauptthema vom Wasser des Lebens einträgt: vor allem V. 10–15, aber auch 1–4). Typisch für die Handschrift des Evangelisten ist nach BULTMANN die doppelsinnige Rede Jesu und das sich daraus ergebende Missverständnis (vgl. auch Joh. 3,1–8). Seinem Interesse verdankt sich auch die Betonung der Mission in V. 31–38 und noch einmal in V. 39+41f. Wir können uns dieser Analyse nicht anschließen. In der Exegese ist die Existenz der von BULTMANN postulierten Quellen umstritten. Wir neigen dazu, eher die Kohärenz des Textes zum Anlass zu nehmen, ihn als Kommunikationsgeschehen eigener Art zu verstehen und von seiner Geschlossenheit auszugehen, ohne die Möglichkeit von mehrfachen Bearbeitungen, etwa durch die auffälligen Einschübe in Vers 8 und am Ende von Vers 9 zu leugnen. Wir sehen auch keinen Anlass, die Erinnerung an eine tatsächliche Begebenheit in den Tagen des irdischen Jesus auszuschließen. Interessant ist aus dem Bereich der diachronen Analyse vor allem die Beachtung des Kontextes. Das ist im engeren Sinne das 4. Kapitel im Johannesevangelium. Unsere Perikope bleibt unverständlich ohne die Fortsetzung des Dialogs. Jesus spricht die Frau auf ihre Ehesituation an. Offenbar muss sie zu ihrer Wirklichkeit stehen, damit sie Zugang zum Wasser des Lebens bekommen kann. Im dritten Gesprächsgang geht es noch einmal um die zwischen Juden und Samaritanern umstrittene Frage der Anbetung Gottes. Hier finden die verschiedenen Themen des Gesprächs endgültig zueinander: Die Trennung zwischen Juden und Samaritanern spielt keine Rolle mehr. Das Heil kommt von den Juden (V. 22), aber er ist der Jude, von dem das Heil kommt (V. 26). Jetzt können in der Bindung an Jesus Juden und Samaritaner Gott „im Geist und in der Wahrheit“ anbeten (V. 23f.). Daraufhin lässt sie ihren Krug stehen und wird zur Zeugin Jesu in ihrem Ort (V. 26–30). Jesus erklärt inzwischen seinen Jüngern, dass nun die Zeit der Ernte da ist (V. 31–38). Die Erzählung schließt mit dem Hinweis, Jesus sei zwei Tage bei den Samaritanern geblieben. Das Zeugnis der Frau gab den Anstoß (besonders die Klärung ihrer Lebensverhältnisse, denn sie wird 2x erwähnt [V. 29+39]), aber es wird durch den „Glauben aus erster Hand“ abgelöst (V. 41f.). Im Laufe der Erzählung werden drei Bekenntnisse zu Jesus ausgesprochen. Eine Steigerung ist dabei nicht zu verkennen: Er ist Prophet (V. 19), Messias/Christus (V. 29) und Heiland der Welt (V. 42). 32
R. BULTMANN, Johannes, 127f.
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Ebenso aufschlussreich ist der biblische und zeitgeschichtliche Kontext. n Zum einen wird durch die Parallelen z.B. in Jes. 55,1 und Offb. 21,17 das Thema „Durst und Wasser des Lebens“ auch in anderen als johanneischen Quellen verortet. n Zum anderen kann der Konflikt zwischen Juden und Samaritanern klarer aufgezeigt werden. „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit ...“ (THOMAS MANN).33 Er wurzelt schon in der Geschichte des Untergangs des Nordreichs und der folgenden Besiedlung durch babylonische Stämme, mit entsprechenden religionsvermischenden Konsequenzen (2. Kön. 17,24–41). Auf dem Garizim bauten die Samaritaner ihr eigenes Heiligtum, einen 128 v. Chr. zerstörten Tempel, und als heilige Schrift galten ihnen nur die 5 Bücher Moses.34 Aus rabbinischen Quellen wissen wir einiges über die andauernden Gehässigkeiten zwischen Juden und Samaritanern. Für den Großteil der Rabbinen waren sie nur „Löwenproselyten“ die sich aus Furcht zum jüdischen Glauben hielten, aber nicht als vollwertige Juden zählen können. Berichtet wird von allerlei Streichen, die man sich gegenseitig spielte, aber auch von Schlägereien mit Pilgern aus Galiläa und von Bösartigkeiten wie der absichtlichen kultischen Verunreinigung des Tempels durch Samaritaner.35 „Wer Brot der Samaritaner isst, ist wie einer, der Hundefleisch isst“, lautet ein rabbinisches Diktum.36 Im Neuen Testament ist noch etwas von diesen Spannungen zu spüren: Mt. 10,5; Lk. 9,51–56 (aber auch: Lk. 10,25–37). Für den Autor der Apostelgeschichte aber ist es offenbar schon unproblematisch, dass die Mission über Jerusalem und Judäa hinaus auch Samaria erreicht (Apg. 1,8; 8).
3.2.4 Das Wort: Was bedeutet mein Text? (Einzelexegese) In diesem Arbeitsschritt bemühen wir uns um eine kurze, zusammenhängende theologische Erklärung, die dem Text in seinem Verlauf folgt und die Ergebnisse der Einzelexegese darbietet, indem der Sinn der Wörter (Welchen Sinn hat dieses Wort bei diesem Autor in diesem Kontext?), Personen (Wer ist das?), Orte und Zeiten (Wo/Wann ist das?), Sachen (Was ist das?), Wortverbindungen, Sätze dargelegt werden. Eine mögliche Darstellungsform ist die Paraphrase. Im Grunde wird jetzt die zweite „Übersetzung“ erstellt. Wir sollen in diesem Schritt der Sache des Textes begegnen, damit die Exegese nicht nur einen Wust von analytischen Details übrig lässt. 33 34 35 36
„Josef und seine Brüder“. Zitiert bei M. JOSUTTIS, GPM 2000, 100. T. JÄNICKE, Herrlichkeit, 60. STRACK-BILLERBECK I, 538. Zitiert bei S. KETTLING, CPH 1982, 126.
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Beispieltext „Da kommt ein Fräulein aus Samaria und will Wasser schöpfen ...“ (M. LUTHER)37 Jesus vermeidet eine weitere Auseinandersetzung (ähnlich: 7,1) und zieht sich nach Galiläa zurück. Er muss dabei durch Samarien reisen (V. 4) und kommt nach Sychar am Fuße des Berges Ebal in der Nähe des Garizim (V. 5). Sychar ist ein kleiner Ort, einige Kilometer von Sichem entfernt (heute: Askar). Der 32 Meter tiefe Jakobsbrunnen wird zwar nicht im Alten Testament erwähnt, scheint jedoch ein für die Samaritaner bedeutsamer Ort in einer geschichtsträchtigen Umgebung gewesen zu sein: Hier lokalisierte man das Grundstück, das Jakob dem Josef vermacht hatte (V. 5; vgl. Gen. 33,19; 48,22; Jos. 24,32), und hier stand auch die Jakobs-Terebinthe.38 Der Brunnen lag 1½ Kilometer von Sychar entfernt. Sich hier um 12 Uhr mittags zu treffen, ist schon etwas ungewöhnlich, zumal andere Brunnen näher am Ort lagen. Die Mittagszeit erklärt den Durst und die Müdigkeit Jesu (V. 6). Als zweite tritt nun auch die Frau ohne Namen auf (V. 7), deren Geschichte erst im Laufe der Erzählung offengelegt wird (V. 16–19). Ob sie wegen ihres schlechten Rufes zur Mittagszeit zum Brunnen geht, ist fraglich, denn sie wird offenbar von den Bewohnern Sychars als Zeugin ernstgenommen (V. 39).39 Jesus erscheint als Bittender (V. 7), und sein Bitten verleiht der Gebetenen Würde:40 Gib mir zu trinken! Er ist nicht nur wahrer, sondern auch wirklicher Mensch mit natürlichen Bedürfnissen. Dass er bittet und sich nicht selbst bedient, liegt daran, dass die Jünger unterwegs zum Markteinkauf sind (V. 8) und er kein Schöpfgefäß hat (V. 11). Allerdings macht ihn die Frau auf das Problem aufmerksam: Man verkehrte nicht miteinander, der Mann nicht mit einer Frau (V. 27) und der Jude nicht mit einer Samaritanerin (V. 9). Der gemeinsame Gebrauch des Trinkgefässes wäre schon nicht denkbar.41 „Jesu Bitte bedeutet die Preisgabe des jüdischen Standpunktes“.42 Dass die Frau zurückweisend und unfreundlich gewesen sein soll, ist in den Text hineingelesen.43 Mit Vers 10 kommt es zu einer Neuorientierung der gesamten Erzählung, wie bereits mehrfach im Verlauf der exegetischen Arbeiten deutlich wurde. Der Bittende möchte zum Gebetenen werden. Natürlich ist im Hintergrund das Problem zwischen Juden und Samaritanern gegenwärtig (das wird schon durch V. 20–26 klar!). Aber: Durch das Kommen Jesu wird dieser Konflikt überholt. Er ist nun da und nichts anderes zählt; er ist der 37 38 39 40 41 42 43
E. MÜLHAUPT (HG.), Evangelien-Auslegung, 178. A. SCHLATTER, Johannes, 67. M. JOSUTTIS, GPM 2000, 100. So auch A. GRÜN, Zugänge, 70. A. SCHLATTER, Johannes, 68. R. BULTMANN, Johannes, 130. A.a.O., Anm. 7.
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Jude, von dem das Heil kommt, auch für die Samaritaner. Übrigens erfahren wir bis zum Ende der Geschichte nicht, ob Jesus nun seinen Trank bekam oder nicht. Stattdessen legt Jesus nun der Frau die Bitte um lebendiges Wasser nahe (V. 10). „Wenn du erkenntest ...“ Was ist zu erkennen? Zum einen das, was Gott gibt und darum dem Menschen nötig ist; zum anderen, wer es bringt, nämlich Jesus selbst. Gegen den Augenschein, es hier nur mit einem müden Wanderer zu tun zu haben, soll die Frau erkennen, wer ihr da begegnet. Ihn bäte sie gewiss nicht vergebens! Später wird sie es erkennen: ein Prophet, der ihren Lebenswandel aufdeckt, ein Messias, der die rechte Gottesanbetung bringt, ja der Heiland der ganzen Welt, zu der nun auch Samaria gehört (V. 19.29.42). Die Gabe Gottes: Das lebendige Wasser meint im wörtlichen Sinn fließendes Quellwasser. Das „war das vorzüglichste unter allen Wassern, die zur Reinigung levitischer Unreinheit dienten. Nur dieses Wasser war brauchbar zum Tauchbad der mit Ausfluss Behafteten, zum Besprengen der Aussätzigen u. zur Herstellung des Entsündigungswassers.“44 Es ist Wasser, das nie versiegt, und das ohne menschliches Zutun von selbst hervorbricht. Jesus redet von lebendigem Wasser aber in einem anderen Sinn: Das Irdische ist zwar gleichnisfähig für das Himmlische, aber es ist nicht mit ihm identisch. Irdisches Wasser kann den Lebensdurst des Menschen nicht wirklich stillen. Dazu braucht es das lebendige Wasser, das dem Menschen in der Begegnung mit Jesus, d.h. in ihm selbst geschenkt wird. Wer zu ihm kommt und an ihn glaubt, der trinkt von diesem Lebenswasser (vgl. Joh. 7,37–39). Worin besteht das Gleichnis des Wassers? Es hat reinigende (13,1ff.) und durststillende Kraft (4,5–15). „Die Offenbarung, die Jesus spendet, schenkt das Leben und stillt so das Verlangen, dem kein irdisches Wasser Genüge zu tun vermag.“45 Die Frau aber versteht ihn erst zweimal falsch, bis sie zum Glauben findet: Zuerst meint sie, Jesus böte ihr Quellwasser an. Sie wundert sich darüber, da Jesus ohne Gefäß nicht einmal aus dem Brunnen schöpfen könnte. Sollte er gar Jakobs Brunnen gering achten? Die Frau kennt ihre Tradition und hält an ihr fest.46 Doch Tradition ist nicht das, was Jesus ihr geben will. Beim zweiten Mal ist sie zugänglicher: Meint sie, Jesus wolle ihr eine Art Wasserleitung für fließend kaltes Wasser schenken? Jedenfalls kalkuliert sie nüchtern, dass es doch praktisch wäre, diese Lebenshilfe anzunehmen. Doch Lebenshilfe ist es nicht, was Jesus ihr geben will. Sie versteht Jesus nicht; dass sie zum Glauben findet, ist nicht ihr Werk.47 44 45 46 47
STRACK-BILLERBECK, II, 436. R. BULTMANN, Johannes, 136. A. SCHLATTER, Johannes, 70. S. KETTLING, CPH 1982, 127.
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Konkret wird das „lebendige Wasser“, das Heil Gottes dennoch: Im Leben der Frau wird es konkret durch die neue Würde, die sie in der Begegnung mit Jesus bekommt: als Frau von Jesus geachtet und gelehrt, als Sünderin zu einem neuen Anfang befreit, als Samaritanerin von der Last der Geschichte entbunden und in den Bund mit Gott neu aufgenommen, als Zeugin zu einem fruchtbaren Leben befreit. Dies alles gilt ihr und jedem, der es hört und annimmt: V. 13f. Wer hier seinen Durst stillt, wird nie wieder an anderer Stelle suchen müssen. Er hat den Ort gefunden, an dem der Lebensdurst so wirksam gestillt wird, dass der Mensch selbst zur Quelle wird und eine Quelle in sich trägt, die in das ewige Leben mündet.48 Dass Jesus hier an den heiligen Geist denkt, ist durch Joh. 7,39 naheliegend. 3.2.5 Das Ziel Hier versuchen wir, aus der Fülle exegetischer Einsichten das für das Verstehen unbedingt Notwendige herauszufiltern und zusammenzufassen. Eine dreifache Fragerichtung gibt dazu Hilfe:
3.2.5.1 Die Intention Was wollte der Text bei seinen damaligen Hörern erreichen? Welche Absicht hatte der erste Verfasser oder der Urheber (bitte so kurz wie möglich!)? Bei mehreren erkennbaren Schichten kann es sein, dass für jede Schicht eine eigene Intention zu benennen ist. Wichtig (ein Lieblingsfehler in den bisher korrigierten Predigten!): hier geht es nicht um eine Inhaltsangabe („Im Text wird die Rechtfertigungsbotschaft angesprochen ...“), sondern um „pfeilförmige“ Aussagen: „Paulus will überzeugen, trösten, aufrichten, motivieren, korrigieren, vergewissern, theologisch klären, zum Widerstand aufrufen ...“ Wozu wurde dieser Text geschrieben? Was soll sich durch ihn ändern? Die Intention entspricht der pfeilförmigen Spitze eines Speers.
Beispieltext Johannes möchte seine Leserinnen und Leser davon überzeugen, dass der ins Fleisch gekommene Gott (1,14) keine Mühe scheut, die Grenzen zu uns Menschen zu überwinden, auch die Grenzen von Geschlecht, Religion und Lebensgeschichte. Er will mit dieser Erzählung ebenso unseren Glauben stärken als auch unseren Willen, nun unsererseits alles zu unternehmen, um die Grenzen zu denen zu überwinden, deren Lebensdurst noch nicht vom „lebendigen Wasser“ Jesu gestillt ist.
48 G. VOIGT, Gerechtigkeit, 103, meint: Dieses Wasser „macht den Menschen selbst zu einer Quelle. Es bewirkt eine Lebendigkeit, die weiterfließt wie ein Bach, der sich ins Meer, ohne Bild: ins ewige Leben ergießt.“
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3.2.5.2 Das Kerygma Der Speer aber kann nur fliegen, wenn er auch „Masse“ hinter der Spitze hat. Fragen wir nach dem Kerygma, so geht es um das Material hinter der Intention: Welches sind die Hauptaussagen, auf die sich die Intention stützt? Wie lauten die theologischen Aussagen des Textes in logischer Abfolge (bitte in mehreren, kurzen Sätzen – pro Aussage nur ein Satz!)? Achten Sie darauf, dass und wie diese Sätze miteinander verknüpft sind! Dieser Aspekt der Zusammenfassung verhindert, was immer schon die Gefahr der alten Skopusmethode war: die Reduzierung eines Textes auf eine allgemeine Wahrheit. Beispieltext Gott selbst hat mit dem Kommen Jesu die Schranken, die ihn und die Menschen trennen, durchbrochen. Die dreifache Grenze des Geschlechts, der Religion und der Sünde ist überschritten. Jesus begibt sich hinein in die Bedürftigkeit des Menschen, um der Menschen Seelsorger zu werden: der für ihre immerzu durstige Seele sorgende Gott (Ps. 42,2+3). Es geht um Jakobswasser und Lebenswasser. Das Jakobswasser ist wohl gleichnisfähig für das Lebenswasser. Auch Lebenswasser stillt den Durst und reinigt. Aber es ist letztlich nicht das Irdische, in dem die Menschen suchen, was ihren Durst nach Leben stillt, sondern der vom Himmel Gekommene. Dabei wird in der Lebensgeschichte der Frau vom Jakobsbrunnen deutlich, dass das Lebenswasser nichts Abstraktes ist: in der Begegnung mit Jesus wird das Leben dieser Frau neu. Die Bekehrte wird sogleich zur Missionarin.
3.2.5.3 Das Idion Das Wort Idion stammt aus dem Griechischen und bezeichnet das Eigene und Unverwechselbare. Worin besteht nach Form (a) und Inhalt (b) die Eigenart dieses Textes? Worin besteht sein Besonderes, das ihn unverwechselbar und einzig macht (zwei Sätze)? Was würde in der Bibel fehlen, gäbe es diesen Text nicht? Die theologische Zusammenfassung bildet neben dem deutschen Text die Grundlage für die Homiletische Besinnung. Dabei ist die Intention für das Predigtziel, das Kerygma für den theologischen Stoff der Predigt und das Idion für die Predigteigenart von Bedeutung.
Beispieltext Was in der Apostelgeschichte für die Zeit nach Himmelfahrt berichtet wird, wird hier aus den Tagen des irdischen Jesus erzählt: die Überschreitung der Grenze hin zu den Samaritanern. Das Besondere an diesem Text ist der Wunsch Jesu, sich bitten zu lassen, um das Heil Gottes verschenken zu dürfen, das so nah bei der ist, die so fern von ihm zu sein schien. 77
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3.3 Ein vereinfachtes Verfahren
3.3.1 Der Text Wie lautet mein Text? Wir lesen den deutschen Text mehrfach gründlich durch. Vielleicht stellen sich uns dabei schon weitere Fragen, die wir beantworten möchten, um den Text besser zu verstehen. Wir ziehen wenigstens eine andere Übersetzung des Textes (z.B. die Elberfelder Bibel oder „Hoffnung für alle“ oder auch eine fremdsprachige Übersetzung) zu Rate und achten auf Unterschiede in der Ausdrucksweise. Sachliche Differenzen müssen wir unter Umständen mit Hilfe eines Kommentars klären.
Wie ist mein Text abgegrenzt? (Erste Orientierung) Wir fragen nach der Sinnhaftigkeit der vorgegebenen Abgrenzung: Sind Anfang und Ende des Textes sinnvoll? Welchen Platz nimmt unser Teiltext im Textganzen ein? Bitte beachten Sie: Nicht jede kirchliche Perikope ist sinnvoll gewählt! 3.3.2 Die Form des Textes: Wie steht mein Text da?
3.3.2.1 Die sprachlich-syntaktische Analyse Welche Worte benutzt der Autor („Lexikon“) und wie verknüpft er sie („Grammatik“)? n Wortschatz: Gibt es Auffälligkeiten? Kommen bestimmte Wörter besonders häufig oder an zentralen Stellen vor? Kennen wir bestimmte Begriffe schon recht gut aus anderen Texten dieses biblischen Zeugen (wenn Paulus z.B. von Gerechtigkeit spricht oder Johannes von Licht)? Vielleicht hilft uns dabei eine Konkordanz. n Dominieren bestimmte Wortarten (z.B. viele oder gar keine Imperative)? Gibt es auffällige Wortformen, etwa im Tempusgebrauch? Inwiefern lernen wir damit etwas über unseren Text? n Stilistische Auffälligkeiten: Benutzt der Verfasser auffällige stilistische Mittel zur Darstellung? n Beachten Sie den Aufbau und die Gliederung des Textes: Wie wird gegliedert, z.B. durch Themenwechsel, Orts- und Zeitangaben, Einführung neuer Personen, den Wechsel von Erzählung und direkter Rede, Partikel oder auch Überschriften? Sie können die Ergebnisse in Form einer Textgrafik bündeln.
3.3.2.2 Die semantische Analyse Welche textsemantischen Erkenntnisse können wir sammeln? Welche Elemente des Textes gehören zusammen (ergeben also miteinander „Sinnlinien“), welche Elemente stehen dagegen in „Opposition“ und beschreiben Veränderungsabsichten? 78
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Welche wortsemantischen Erkenntnisse können wir sammeln? Mit Hilfe von Konkordanz und einem Lexikon zur Bibel versuchen wir, die Bedeutung der tragenden Begriffe des Textes zu erkennen. Vielleicht wird auch schon aus dem Textzusammenhang deutlich, wie ein solcher Begriff hier gebraucht wird.
Wie erzählt der biblische Zeuge seine Geschichte? Hier geht es um die Analyse der Erzählstrukturen, und zwar besonders der Handlungsabläufe und der Handlungsträger. Wir benutzen einfache Verfahren bei Erzähltexten und fragen z.B.: n Wo gibt es in der Erzählung Knotenpunkte (BREMOND), an denen die Handlung auch anders hätte weitergehen können? Diese Knotenpunkte lassen sich als Stammbaum darstellen. n Welcher Spannungsbogen wird erzählt? Wo ist der Höhepunkt der Handlung? Wie wird dieser Höhepunkt vorbereitet? n Auf welchen Ausschnitt der Erzählung wird der Blick des Hörers gelenkt? n Welche handelnden Personen kommen vor, und wie sieht die Interaktion zwischen diesen Personen aus? n Wo wird dem Hörer ein Identifikationsangebot gemacht?
3.3.2.3 Die pragmatische Analyse Welche Absichten verfolgt der biblische Autor mit seinem Text? Sprecher bzw. Autoren wollen etwas erreichen. Sie wollen stets ihre Hörer bzw. Leser beeinflussen und zu einer Reaktion bewegen. Es geht in der pragmatischen Analyse um Handlungsanweisungen und Leserlenkung. Wir fragen: Warum und wozu wurde ein Text verfasst? Dabei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle: die Kommunikationssituation (Wem genau gilt das Gesagte in welcher Lage?), vorgegebene Autoritäten und Werte (Wie steht der Schreiber zum Leser?), Autoritätsgefälle usw. Welche Strategien setzt der Autor ein, um seine Instruktionen durchzusetzen, wenn er etwa statt eines Befehles sagt: „Es zieht!“?
3.3.2.4 Die Frage nach der Textsorte bzw. dem Sitz im Leben Für bestimmte Lebenssituationen ergeben sich verabredete, nach relativ festen Regeln verlaufende Kommunikationsprozesse: Man weiß in einem Kulturraum, wie man einen Brief schreibt oder eine Hochzeitsanzeige veröffentlicht. Textsorten vereinen Texte mit gleichen Textmerkmalen, die für gleiche soziale Kontexte gebraucht wurden und dort bestimmte Interaktionen zu regeln halfen. Anders gesagt: Einer Textsorte oder Gattung entspricht immer ein bestimmter Sitz im Leben (die Textsorte Hymnus z.B. hat ihren Sitz im Leben im Gottesdienst). Können Sie sich denken, bei welcher Gelegenheit und zu welchem Zweck ein Text wie der, an dem Sie gerade arbeiten, gebraucht wurde? Vielleicht helfen Ihnen hier 79
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noch einmal die Kommentare zum Text oder auch Predigthilfen.
3.3.3 Der Ort des Textes: Wo steht mein Text? 3.3.3.1 In welchem Kontext steht mein Text? Wo steht mein Text in seinem Kontext? Wie ist seine Stellung zum unmittelbaren Kontext, innerhalb der jeweiligen Schrift, und welchen Akzent setzt er innerhalb des ganzen Alten bzw. Neuen Testaments?
3.3.3.2 Welche schriftlichen oder mündlichen Quellen sind in meinem Text verarbeitet worden? Nun schauen wir genau hin, ob unser Autor Quellen verarbeitet hat. Für die Verwendung schriftlicher Quellen (wenn sie nicht benannt werden) gibt es Indizien, z.B. Unstimmigkeiten im Text, die dem Autor beim Einarbeiten von Quellen unterliefen. Dazu zählen: Unterbrechung und spätere Wiederaufnahme des Zusammenhangs (z.B. Joh. 13,34f.), Doppelungen und Wiederholungen, Widersprüche, ungewohnter Vokabelgebrauch. Auch hier geben die Kommentare wichtige Hinweise. 3.3.4 Das Wort: Was bedeutet mein Text? (Einzelexegese) In diesem Arbeitsschritt bemühen wir uns um eine kurze, zusammenhängende theologische Erklärung, die dem Text in seinem Verlauf folgt und die Ergebnisse der Einzelexegese darbietet. Dies geschieht, indem der Sinn der Wörter (Welchen Sinn hat dieses Wort bei diesem Autor in diesem Kontext?), die Personen (Wer ist das?), Orte und Zeiten (Wo/wann ist das?), Sachen (Was ist das?), Wortverbindungen und Sätze dargelegt werden. Eine mögliche Darstellungsform ist die Paraphrase. 3.3.5 Das Ziel Hier versuchen wir, aus der Fülle exegetischer Einsichten das für das Verstehen unbedingt Notwendige herauszufiltern und zusammenzufassen. Eine dreifache Fragerichtung gibt dazu Hilfe:
3.3.5.1 Die Intention Was wollte der Text bei seinen damaligen Hörern erreichen? Welche Absicht hatte der erste Verfasser oder der Urheber (bitte so kurz wie möglich!)? Bei mehreren erkennbaren Schichten kann es sein, dass für jede Schicht eine eigene Intention zu benennen ist. Wichtig (ein Lieblingsfehler in den bisher korrigierten Predigten!): Hier geht es nicht um eine Inhaltsangabe („Im Text wird die Rechtfertigungsbotschaft angesprochen ...“), sondern um „pfeilförmige“ Aussagen: „Paulus will überzeugen, trösten, aufrichten, motivieren, korrigieren, vergewissern, theologisch klären, zum Widerstand aufrufen ...“ Wozu wurde dieser Text geschrieben? Was oder wer soll sich durch ihn ändern? Die Intention entspricht der pfeilförmigen Spitze eines Speers. 80
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3.3.5.2 Das Kerygma Der Speer aber kann nur fliegen, wenn er auch „Masse“ hinter der Spitze hat. Fragen wir nach dem Kerygma, so geht es um das Material hinter der Intention: Welches sind die Hauptaussagen, auf die sich die Intention stützt? Wie lauten die theologischen Aussagen des Textes in logischer Abfolge (bitte in mehreren, kurzen Sätzen – pro Aussage nur ein Satz!)? Achten Sie darauf, dass und wie diese Sätze miteinander verknüpft sind! Dieser Aspekt der Zusammenfassung verhindert, was immer schon die Gefahr der alten Skopusmethode war: die Reduzierung eines Textes auf eine allgemeine Wahrheit. Siehe oben: Kann der unbedarfte Leser jetzt schon Hauptaussage und Intention klar genug unterscheiden? 3.3.5.3 Das Idion Das Wort Idion stammt aus dem Griechischen und bezeichnet das Eigene und Unverwechselbare. Worin besteht die Eigenart dieses Textes? Was ist das Besondere an ihm, das ihn unverwechselbar und einzig macht? Was würde in der Bibel fehlen, gäbe es diesen Text nicht? Die theologische Zusammenfassung bildet neben dem deutschen Text die Grundlage für die Homiletische Besinnung. Dabei ist die Intention für das Predigtziel, das Kerygma für den theologischen Stoff der Predigt und das Idion für die Predigteigenart von Bedeutung.
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Viertes Kapitel Die Homiletische Besinnung Literaturhinweis BUKOWSKI, PETER: Predigt wahrnehmen. Neukirchen-Vluyn 1990; EICKHOFF, KLAUS: Die Predigt beurteilen. Gemeinde denkt mit. Wuppertal 1998; LANGE, ERNST: Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgik und Pfarramt, München 1982. Besonders empfehlen wir: HIRSCHLER, HORST: Biblisch predigen. Hannover 1988, 216–236 und 294–348. „Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort“ (Jer 23,28).
4.1 Der Sinn der Homiletischen Besinnung
„Die Predigt muss für die Angeredeten interessant und relevant sein.“1
4.1.1 Zwischen exegetischem Referat und freiem Kommentar über Gott und die Welt Unter einer Homiletischen Besinnung verstehen wir die Reflexion eines biblischen Textes auf Anrede hin. Paulus dachte, als er an die Thessalonicher schrieb, nicht an eine deutsche Kirchengemeinde zu Beginn des 21. Jahrhunderts – er hätte sich wohl nicht im Entferntesten ein 21. Jahrhundert denken können. Wir leben an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit als die biblischen Zeugen, und unsere Erfahrung mit der Wirklichkeit ist eine andere als z.B. die der neutestamentlichen Gemeinden. Darum können wir gar nicht predigen, ohne die konkrete Gemeinde von heute ins Auge zu fassen und die Textaussagen innerhalb der Ereignisse, Anfechtungen und Fragen der vorfindlichen Welt zu bedenken.
a. Es geht in der Predigt nicht darum, einen biblischen Text einfach zu wiederholen. Ein kenntnisreiches Referat der exegetischen Forschungsergebnisse ist darum noch keine Predigt. Es geht vielmehr um ein Neu-Sprechen in der Bindung an den biblischen Text, aber für die hier und jetzt versammelte Gemeinde. Es geht um das Wort Gottes als Zuspruch und Anspruch für heute lebende Menschen. Gerade so wird auch der biblische Text sein Po1
P. BUKOWSKI, Predigt, 61.
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tenzial zeigen: Denn in einem neuen Kontext wird der alte Text neue Facetten der Deutung, innerhalb seines Bedeutungsspektrums auch ganz neue Einsichten freisetzen. Auslegung des Textes ist Hoffnung auf die Zukunft der Texte, deren Auslegungsgeschichte nie endet. Erst im Gang durch die Zeiten entfaltet der Text die Fülle seiner Aussagemöglichkeiten, ohne beliebig zu werden und seine Grundaussagen hinter sich zu lassen. b. Ebenso wenig ist eine gelungene Zeitanalyse eine Predigt. Sie sind auf der Kanzel auch nicht Kommentatoren des Zeitgeistes. Sie sollen Text und Situation zusammenschauen. Erst wenn es zwischen diesen beiden Polen wieder „blitzt“, ist das Ziel der Predigt erreicht. So wie bei der Exegese der Rückgriff auf Kommentare sinnvoll ist, kann hier der Rückgriff auf systematisch-theologische Entwürfe und Predigtmeditationen sinnvoll sein.
Exkurs: Der Prediger und die Predigerin als Anwälte der Hörerinnen und Hörer (ERNST LANGE) ERNST LANGE hat besonders deutlich darauf hingewiesen, dass es in der Predigt um das Gespräch mit Menschen unserer Zeit in ihrer jeweiligen Lebenslage geht – aber aus der Perspektive des biblischen Wortes. Darum möchten wir eine Passage aus LANGES homiletischen Werken hier vollständig zitieren: „Erst wenn den Hörer angeht, was ich sage, geht ihn auch an, dass und inwieweit ich es aufgrund der Heiligen Schrift, im Einklang mit der Überlieferung des Glaubens, im Auftrag meiner Kirche und persönlich überzeugend sage. {...} Der eigentliche Gegenstand christlicher Rede ist eben nicht ein biblischer Text oder ein anderes Dokument aus der Geschichte des Glaubens, sondern nichts anderes als die alltägliche Wirklichkeit des Hörers selbst – im Lichte der Verheißung. [...]
Predigen heißt: Ich rede mit dem Hörer über sein Leben. Ich rede mit ihm über seine Erfahrungen und Anschauungen, seine Hoffnungen und Enttäuschungen, seine Erfolge und sein Versagen, seine Aufgaben und sein Schicksal. [...] Er, der Hörer, ist mein Thema, nichts anderes; freilich: er, der Hörer vor Gott.
Aber das fügt nichts hinzu zur Wirklichkeit seines Lebens, die mein Thema ist, es deckt vielmehr die eigentliche Wahrheit dieser Wirklichkeit auf. [...] Ich rede mit dem Hörer über sein Leben nicht aus dem Fundus meiner Lebenserfahrung, meiner größeren Bildung, meiner tieferen Weisheit, meiner religiösen Inspiration. 83
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Ich rede mit ihm über sein Leben im Licht der Christusverheißung, wie sie in der Heiligen Schrift bezeugt ist. Und d.h. letztlich: Ich rede mit ihm auf Grund von biblischen Texten.
Aber es wird genau zu überlegen sein, was das bedeutet und welche Rolle der biblische Text in meiner Bemühung, mich mit meinem Hörer zu verständigen, tatsächlich spielt. Der Hörer soll verstehen, dass der Gott, für den Jesus spricht, der Herr der Situation, der Herr auch seiner spezifischen Lebenssituation ist.“2
4.1.2 Die Predigt als Anrede an die Gemeinde, nicht als Referat über etwas Wesentliches Ziel dieses Schrittes ist es also, dass die Predigt nicht ein kluges Referat darstelle, sondern eine Anrede an konkrete Menschen: „Vieles in unseren Predigten sieht so aus, als ob wir kranken Menschen Vorlesungen über Medikamente halten würden. Die Vorlesung ist wahr. Die Vorlesung ist interessant. Nein, die Wahrheit der Vorlesung ist bedeutend, und wenn der kranke Mensch die Wahrheit der Vorlesung begreifen würde, dann wäre er ein besserer Patient. Er würde seine Medikamente verantwortlicher einnehmen und seine Diät intelligenter regeln. Aber noch immer bleibt die Tatsache, dass die Vorlesung nicht das Medikament ist. Das Medikament ist zu verabreichen, nicht Vorlesungen zu halten – das ist die Pflicht des Predigers.“3 Das heißt: wir sollen nicht über Trost reden, sondern predigend trösten. Wir sollen nicht über Gottes Liebe ein kluges Referat halten, sondern sie selbst predigend austeilen. Wir sollen auch nicht über das Christsein sprechen, sondern zum Glauben einladen oder im Glauben bestärken. Es soll nicht alles Richtige über Rechtfertigung berichtet werden, es soll vielmehr Rechtfertigung geschehen.4
Beispieltext: Wir können dieses Problem auch an unserem Beispieltext verdeutlichen: Die Frau am Jakobsbrunnen bezieht sich in ihren beiden Antworten auf die Tradition („Bist du mehr als unser Vater Jakob?“) und auf die erhoffte Lebenshilfe („... damit mich nicht dürstet und ich nicht herkommen muss“). Wir können diese Geschichte der Gemeinde im Sinne der Frau am Brunnen auslegen: Dann zeigen wir der Gemeinde ein Stück christlicher Tradition („So war das damals!“) oder versuchen den Text als Lebenshilfe zu deuten („Schauen Sie mal, wie geschickt Jesus als seelsorg2 3 4
E. LANGE, Predigen, 57f. P. WILSON, Practice , 22f. Vgl. auch M. NICOL, Preaching, 295–309. K. EICKHOFF, Predigt, 152.
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licher Gesprächspartner vorgeht!“). Im Sinne Jesu aber wäre es, den Hörern die Leidenschaft seiner Zuwendung zu verlorenen Menschen nahe zu bringen, so dass sie selbst mit Kopf und Herz erfasst werden von dieser Leidenschaft Jesu.. Im Sinne Jesu legen wir die Geschichte erst aus, wenn „die Kanzel ... zum Brunnen“ wird.5 Die Kanzel wird zum Brunnen, wenn Predigende und Hörende erbitten und erwarten, dass „lebendiges Wasser“ fließt. Das ist ein geistliches Geschehen, das ist erbetene Vollmacht der Verkündigung. Nur an die Ränder dieses Geschehens reicht unsere Arbeit heran, die wir in diesem Kapitel tun, um nicht über etwas zu reden, sondern das Wort Gottes selbst der Gemeinde weiterzugeben. Nur an die Ränder! Dass es wirklich geschieht, ist Gnade.
4.1.3 Es geht also um den „Text für dich“ Die Anrede und nicht das Referat – das ist das Anliegen dieses Kapitels. Nachdem wir in der persönlichen Betrachtung als erste Hörerinnen und Hörer nach dem Text für mich gefragt haben und in der Exegese den Text an sich untersucht haben, sollen wir ihn nun im Verhältnis zu unseren Hörerinnen und Hörern erneut wahrnehmen: als Text für dich. Vielleicht kann man es mit einem Satz von ROLF ZERFASS auf den Begriff bringen: „Du musst dich in dieser Phase der Predigtvorbereitung fühlen wie beim Briefschreiben. Je klarer der Adressat, um so treffender das Wort.“6 Sonst kann es so ausgehen, wie es eine Frau nach einem Weihnachtsgottesdienst meinte: „Er hat ja gar nicht zu uns gesprochen, er hat nur über andere geredet.“
4.1.4 Das bipolare Predigtverständnis Wer nun den Text (und nicht irgendetwas neben ihm oder gar gegen ihn) predigen will und zugleich die Gemeinde von heute anreden will, der vertritt ein bipolares Predigtverständnis. Nach den bisherigen Überlegungen könnte nun der Eindruck entstehen, dies ginge zu Lasten der Bibel, und es bedeute einen mühsamen Prozess, den alten Texten noch irgendeine aktuelle Bedeutung abzuringen. Beides entspricht nicht unserer Auffassung:
a. Das bipolare Predigtverständnis entspricht der Tendenz biblischer Texte Gerade um der Liebe zur Bibel willen folgen wir nicht dem Schema „Vom Text zur Predigt“. Vielmehr geht es uns um eine Begegnung zwischen dem biblischen Text und der Gemeinde, zu der wir selbst so sehr gehören wie unsere zukünftigen Hörer. Darum gehören persönliche Betrachtung, Exegese und Homiletische Besinnung so eng zusammen. Es 5 6
M. JOSUTTIS, GPM 2000, 103. R. ZERFASS, Grundkurs, I, 73f.
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soll zu einer Begegnung kommen. Um der Liebe zur Bibel willen? Ja, um der Liebe zur Bibel willen, denn die Bibel kündet von einem Gott, der nicht ohne seine Menschenkinder sein will, und den es in seiner Sehnsucht nach uns aus dem Himmel auf die Erde getrieben hat. Eine Diastase zwischen einer Predigt, die nur biblisch wäre und einer Predigt, die nur situationsgemäß wäre, risse einen Graben auf, der unsachgemäß wäre: Denn es ist doch gerade die Bibel, die den Immanuel („Gott für uns und mit uns“) verkündigt, den Gott, der mit uns ist. Bliebe eine biblische Predigt fern von uns, wäre sie nicht eine angemessene Zeugenrede für den Immanuel. Wäre sie nahe bei uns, ohne den Immanuel anzukündigen, so hätte sie unsere Lage unvollkommen wahrgenommen, denn es gibt auch uns nicht ohne Gott. Es ist die Illusion eines praktischen Atheismus, unsere Lage unter Absehung von Gottes Wort wahrzunehmen, als gäbe es sie so, „etsi deus non daretur“.7 JÜRGEN ZIEMER sagt es treffend: Die Begegnung „gelingt nur, wenn ich beide ernst nehme: den Text und die gegenwärtige Wirklichkeit, der ich zugehöre. Ich nehme den Text nicht ernst, wenn ich ihn zu einer absoluten Autorität hypostasiere – wo doch durch den Text Gott zur jeweiligen Welt kommen will. Ich nehme ihn aber auch nicht ernst, wenn ich ihn zu einem toten Stoff herabwürdige – wo er doch in Wahrheit Gestalt gewordene Erfahrung ist ... Ich nehme die Situation meiner Gegenwart nicht ernst, wenn ich sie bloß als Anwendungsraum zeitloser Lehre verstehe, wenn ich ihr also nicht die ihr eigenen, unbedingten Fragen abgewinne – ihren Schrei nach Gott, nach Gnade und Befreiung, nach Trost und Orientierung. Die Begegnung ist kein Duell, bei dem es Sieger und Besiegte gibt, sie ist ein Werdevorgang im Sinne eines Gesprächs, bei dem es um wechselseitiges Reden und Hören, Fragen und Gefragtwerden geht.“8 b. Mit unserem Wissen über die Hörerinnen und Hörer horchen wir auf den Text und entdecken unsere Hörerinnen und Hörer aufs Neue in der Bibel (J.G. Hamann) Wichtig ist dabei, dass wir uns in dieser gesamten Frage nicht vom biblischen Text entfernen, so als könnten wir, ja müssten wir „den modernen Menschen“ im Jenseits des biblischen Wortes aufsuchen und dann mühevoll eine Brücke über den garstigen Graben zwischen dem Text und „der Gegenwart“ schlagen. Nein, wir bleiben beim Text, mit aller Liebe zum gegenwärtigen Hörer in seiner Situation wandern wir nun ein drittes Mal in den Text hinein – und nicht etwa über ihn hinaus. Wir tun das in der 7 8
„... als ob es Gott nicht gäbe!“ J. ZIEMER, Text, 218f.
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Hoffnung, es möge zuerst uns und dann unserer hörenden Gemeinde so ergehen wie J.G. HAMANN am 31.3.1758 beim Lesen der Bibel: „Ich vergaß alle meine Bücher darüber, ich schämte mich selbige gegen das Buch Gottes jemals verglichen, jemals sie demselben zur Seite gesetzt, ja jemals ein anderes demselben vorgezogen zu haben. ... Ich erkannte meine eigenen Verbrechen in der Geschichte des jüdischen Volks, ich las meinen eigenen Lebenslauf,
und dankte Gott für seine Langmuth mit diesem seinem Volk, weil nichts als ein solches Beyspiel mich zu einer gleichen Hoffnung berechtigen konnte. ... Mit diesen Betrachtungen ... las ich den 31. März des Abends das V. Kapitel des V. Buches Moses [die 10 Gebote], verfiel in ein tiefes Nachdenken, dachte an Abel, von dem Gott sagte: die Erde hat ihren Mund aufgethan, um das Blut deines Bruders zu empfangen – Ich fühlte mein Herz klopfen, ich hörte eine Stimme in der Tiefe desselben seufzen und jammern, als die Stimme des Bluts, als die Stimme eines erschlagenen Bruders ... Ich fühlte auf einmal mein Herz quillen, es ergoss sich in Thränen und ich konnte es nicht länger – ich konnte es nicht länger meinem Gott verheelen, dass ich der Brudermörder, der Brudermörder seines eingeborenen Sohnes war. Der Geist Gottes fuhr fort, ungeachtet meiner großen Schwachheit, ungeachtet des großen Widerstandes, den ich bisher gegen sein Zeugnis, und seine Rührung angewandt hatte, mir das Geheimnis der göttlichen Liebe und die Wohlthat des Glaubens an unsern gnädigen und eintzigen Heiland immer mehr und mehr zu offenbaren. Ich fuhr unter Seufzern, die vor Gott vertreten wurden durch einen Ausleger, der ihm theuer und wert ist, in Lesung des göttlichen Wortes fort und genoss eben des Beystandes, unter dem dasselbe geschrieben worden, als des einzigen Weg den Verstand dieser Schrift zu empfahen.“9 „Ich las meinen eigenen Lebenslauf“, d.h. nicht der Ausleger übersetzt einen Text mühsam aus dem Jahr 70 n.Chr. in die Gegenwart, sondern er selbst wird hineinversetzt in die biblische Geschichte. Er selbst wird ausgelegt und verstanden. Und gerade so kommt er zum Verstehen. Oswald Bayer sagt dazu: Gott „begegnet in Geschichten und legt den diese alten Geschichten Hörenden durch sie so aus, dass dieser verändert, ein neuer Mensch wird.“10
Es bleibt dabei: nicht wir legen die Bibel aus, sondern die Bibel legt uns 9
10
J.G. HAMANN, Auslegung, II, 40, 14–17; 40,25–41,4.7–20. O. BAYER, Gott, 250.
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aus und führt uns zur „Selbsterfahrung“, wer wir vor Gott sind, was wir durch Christus werden, und wie der Geist Gottes unser Leben verändern kann.
4.1.5 Warnung vor dem Hörer Natürlich gibt es den Hörer nicht. Wer sollte das auch sein: der Hörer? Selbst in bescheidenen Gemeindeverhältnissen haben wir eine Reihe sehr verschiedener Menschen vor uns. Selbst angesichts einer gewissen Milieuverengung unter den gegenwärtigen Gottesdienstbesuchern ist es nicht ein homo homileticus uniformis, den wir im Gottesdienst antreffen. Wir haben aber damit eine Reihe von individuellen Lebensgeschichten, Tagesformen, Charakteren, Nähen oder Distanzen zum Prediger, zur Kirche, zum Glauben, Hörgewohnheiten, Zeichenvorräten, Bildungsvoraussetzungen, Lebensaltern und sozialen Milieus vor uns. Wir begegnen nicht dem Hörer, sondern einer mehr oder minder differenzierten Hörerschar. Das ist wohl eine Binsenweisheit, aber es ist dennoch nötig, darauf hinzuweisen, weil es immer noch genug Predigten gibt, die uns den Hörer vorstellen, womöglich noch als sogenannten modernen Menschen. Besonders in der Literaturgattung der Predigtmeditationen gibt es dieses Gespenst immer wieder: Der Hörer stellt nun Bedingungen an die Prediger. Ihm, dem „modernen Menschen“, ist dieses und jenes nicht zuzumuten. Er hat als Zeitgenosse Probleme mit diesem und jenem. Und er möchte für sich dieses und jenes beanspruchen. Bei näherem Hinsehen kann man manchmal den Verdacht haben, dass der Hörer rein zufällig eine gewisse Ähnlichkeit besitzt mit dem jeweiligen Autor solcher literarischer Produkte. Der Hörer ist dann nichts anderes als ein homiletischliterarischer Zwilling, ein alter ego des theologischen, politischen, kirchlichen oder ganz persönlichen Geschmacks eines Theologen. Wir lernen, dass die Rede von dem Hörer vielleicht in das Kapitel der Versuchungen von Predigern und Predigerinnen gehört, sich selbst Doppelgänger zu schaffen, die sie dann Hörer nennen, der aber letztlich keinen anderen Lebenszweck hat, als des Predigers und der Predigerin Interessen zu vertreten. Wie aber können wir dann überhaupt die Hörersituation in die Predigt einbringen? Wir möchten Ihnen einige Wege vorschlagen: n Zeitgenossenschaft: Es ist ein Stück homiletischer Berufsethik, dass Predigerinnen und Prediger mit großer Wachsamkeit und Aufmerksamkeit Zeitgenossinnen und Zeitgenossen sind und als solche wiederum Predigerinnen und Prediger. Das heißt: Sie werden nicht nur als Menschen und Christen ein natürliches und waches Interesse für die Dinge um sich herum haben, für lokale, regionale und globale Politik, für Kultur und Wissenschaft, für das, was die Menschen beschäftigt, für das, was in den Medien traktiert wird; sie werden all das auch immerzu wahrnehmen unter der Maßgabe, Predigerinnen und Predi88
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ger zu sein, also Menschen, die für die Ansage des Evangeliums verantwortlich sind. Diese besondere Wahrnehmung geschieht nicht unter dem Aspekt platter Verwertbarkeit des Zeitgeschehens zur besseren Illustrierung der Predigtaussagen. Vielmehr ist zu fragen, was denn geschieht, wenn das Zeitgeschehen mit dem biblischen Wort zusammenstößt, was die Dinge der Zeit dann erfahren an Bestätigung, Widerspruch, Vertiefung, Reinigung und Klärung. n Auch wenn es den Hörer nicht gibt, so gibt es doch die Hörer, mit denen Sie in einer glücklichen Zufälligkeit gerade zu tun hatten: Sie haben eine Gemeindekirchenratssitzung gehabt und dort mit Menschen gesprochen. Sie haben einige Geburtstagsbesuche gemacht. Sie haben sich mit kritischen Anfragen der Konfirmanden herumgeschlagen. Sie haben mit einem Freund telefoniert, der mit Kirche „nichts am Hut“ hat. Sie haben mit Ihrem Partner den Text für den Sonntag angeschaut. Sie haben ein Traugespräch geführt. All diese Begegnungen können in Ihre Predigtvorbereitung einfließen. Vielleicht haben Sie den Predigttext ja schon montags gelesen und nehmen ihn nun mit durch die Woche, in die Begegnungen und Gespräche hinein. Und an irgendeiner Stelle kann es dann „aufblitzen“ und Ihnen wird ein Bezug zum Text deutlich. Sie haben damit nicht alle Hörer erreicht, aber doch vielleicht einige. Und vielleicht ist das, was Ihnen aus dem kritischen Gespräch mit den Konfirmanden etwa deutlich wurde, ja doch nicht nur das Problem der Konfirmanden. Was wir sagen wollen, ist im Grunde sehr schlicht: Gute Predigerinnen und Prediger werden Sie nicht am Schreibtisch hinter Büchern. Gute Predigerinnen und Prediger werden Sie im Zusammenleben mit den Menschen in Ihrer Gemeinde – und darüber hinaus! Und das ist etwas Wachstümliches: Mit den Jahren wird Ihre Predigt durch das Zusammenleben immer deutlicher und konkreter situationsbezogen sein, insofern Sie in der Gemeinde und im Wort zu Hause sind. n Paulus beschreibt die Gemeinde in 1. Kor. 12 als den Leib Christi. Er kann damit beides ausdrücken: Vielfalt und Einheit in der Gemeinde. Für unsere Frage interessiert jetzt die Einheit. Manchmal ist die Gemeinde wirklich der eine Hörer, weil die Gemeinde als Leib von einer Sache betroffen, erschrocken, fasziniert ist, weil es Themen gibt, die zur Zeit alle bewegen. Dann gewinnt die Predigt eine Nähe zur Kasualansprache; der Kasus eint die Gemeinde in der Predigt und macht aus ihr einen Hörer. Man kann das nach besonders tragischen Ereignissen oder vor wichtigen Entscheidungen in der Gemeinde erleben. n WERNER SCHÜTZ weist auf eine ganz andere Ebene der Kommunikation mit Hörerinnen und Hörern hin, nämlich die Situation. „Unter Situation verstehen wir einen bestimmten, an einen perspektivischen Ausgangspunkt gebundenen, persönlich wahrgenommenen Ausschnitt von Welt und Leben, also das jeweils Bedeutsame und Rele89
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vante unter den verschiedenen Faktoren und Bedingungen einer konkreten Lage, die einen Menschen angehen und etwas für ihn bedeuten. Diese Gesamtsituation ist es, die in der Predigt erhellt, gedeutet, bewältigt und verändert werden soll.“11 Diese Situation ist für den einzelnen sowohl Spielfeld wie auch Grenze. In der Situation kann er seine Freiheit bewähren, kann Entscheidungen treffen und durchsetzen und ist zugleich begrenzt und eingeengt durch Faktoren, die er nicht beeinflussen kann. Die Situation ist zunächst nur das Gegebene. Die Situation verrät uns nicht, was aufgegeben ist. Sie ist blind für Beurteilungen, Wertungen, Werte, ethische Verantwortung. Die Situation mag einen Sinn haben, aber den entlässt sie nicht aus sich selbst heraus. „Erst durch außerhalb von ihr liegende Imperative, Gebote, Normen und Werte erhält die Situation Sinn und Ziel.“12 Die Predigt vermag eine Situation zu erhellen und „aufzuklären“. Die Situation ist ja auf ein Kerygma angewiesen, das nicht in ihr steckt, sondern von außen hinzukommt. Nun sollen nicht die Predigerinnen und Prediger das Kerygma in jede Situation einzeichnen. Das würde sie angesichts der Fülle von Situationen hoffnungslos überfordern. Und es würde die Hörerinnen und Hörer gleichzeitig entmündigen. Nein, das Einzeichnen des Kerygmas in die Situation ist Aufgabe der Hörerinnen und Hörer in ihrer Mitarbeit an der Predigt. n Aus der Perspektive des Glaubens gesehen erwarten wir, dass der heilige Geist in den Hörerinnen und Hörern weiterpredigt und das gehörte Wort in die konkrete Situation einzeichnet. Ähnlich sieht es auch K.-H. BIERITZ: „Das Wirken des Geistes kann nicht nur auf der Seite des Predigers und der von ihm entworfenen und vorgetragenen Predigt festgemacht werden. Der Geist ist in gleicher Weise auch im interpretierenden Handeln des Hörers am Werke, der an der Predigt ,mitschreibt’.“13 So heißt die Aufgabe situationsgerechter Predigt: „Angesichts dieses weitgezogenen Raums eigener Verantwortung des Hörers kann der Prediger nur an Modellen die in Situationen liegende Verantwortung und Herausforderung aufweisen, beispielhaft dieses Angewiesensein auf Gebot und Angebot einsichtig machen, und an einem Exempel die erhellende Kraft des Kerygmas verdeutlichen, während das konkrete Einzeichnen in das eigene und persönliche Leben notwendig Sache des Hörers selbst bleibt. Auf keine Weise kann ihm das erspart und von irgendjemand abgenommen werden.“14 Für die Predigerinnen und Prediger heißt das: Sie müssen bestimmte 11
12 13 14
W. SCHÜTZ, Probleme, 177. A.a.O., 180f. K.-H. BIERITZ, Handbuch, 69. W. SCHÜTZ, Probleme, 183.
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wiederkehrende Grundsituationen des Menschen vor Gott aufsuchen und für ihre Predigt verwenden, sozusagen repräsentative und exemplarische Situationen ansteuern: Des Menschen Schuldigwerden und Neuanfangen, Begabtsein und Gefordertsein, Einsamkeit und Gemeinschaft, Leben und Sterben. In diesen Grundsituationen geht es um die Fragen nach dem Woher, Wozu und Wohin des Lebens. „Der Prediger braucht nicht, was eine Utopie wäre, die augenblickliche, einmalige Situation jedes einzelnen seiner Hörer zu kennen; er kann an einem überzeugenden Modell mögliche, denkbare und einfühlbare, elementare und fundamentale Grundsituationen des menschlichen Lebens exemplarisch erhellen; sie werden dann in den verschiedensten ähnlich gelagerten, vielleicht in vergangenen, vielleicht in heute möglichen oder morgen begegnenden zukünftigen Situationen wiedererkennbar und neu lesbar. Zur unentbehrlichen Eigenaktivität des Hörers gehört es, solche elementaren Grundsituationen in möglichen und wirklichen, vergangenen, gegenwärtigen oder kommenden Situationen des eigenen Lebens wiederzuentdecken.“15 n Einen letzten Aspekt möchten wir noch anfügen: Wir haben zu unterscheiden zwischen der Verkündigung vor einer Gemeinde, die überwiegend aus Christen besteht, und einer Gemeinde, die überwiegend aus Nicht-Christen besteht. KARL-ERNST NIPKOW unterscheidet hier eine Hermeneutik des bereits gegebenen Einverständnisses im Glauben an Jesus Christus von einer Hermeneutik des erst zu suchenden und zu gewinnenden Einverständnisses im Glauben. Darum geht es um eine Unterscheidung zwischen der eher lehrhaften oder seelsorglichen Predigt in der Gemeinde und der evangelistischen Predigt. In der neutestamentlichen Unterscheidung der Begriffe meint „predigen“ mehr die missionarische, zum Glauben rufende Verkündigung, „lehren“ dagegen mehr die im Glauben unterweisende und vergewissernde Verkündigung. In der evangelistischen Predigt bemühen wir uns, dem noch nicht glaubenden Zeitgenossen so zu begegnen, dass er aufmerksam wird. Sie ist eine Suche nach Kontakt. Wir versuchen dann, ihm verständlich zu machen, worum es im Evangelium geht. D.h. evangelistische Predigt ist notwendigerweise elementar, eher das „einfache Evangelium“ als das Kompendium der christlichen Dogmatik. Und sie ist werbende Rede, die um das Einverständnis des Hörers wirbt; sie möchte ihn gewinnen für den Glauben an Jesus Christus. Darum geschieht sie, da der Glaube weder vom Prediger und von der Predigerin zu machen ist noch von Hörer und Hörerin, in besonderer Weise als „Predigt unter Gebet“.
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A.a.O., 185.
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4.2 Die praktischen Schritte
Dieser Teil der Predigtvorbereitung führt in drei Schritten bis zur Disposition der Predigt.16 4.2.1 In welcher Situation predige ich? Was weiß ich über die Situation der Gemeinde, mit der ich Gottesdienst feiern werde?
„Die für die Predigt unerlässliche Wahrnehmung der HörerInnen vollzieht sich nie anders als im gelebten Kontakt mit der Gemeinde.“17
Wir versuchen, soweit das möglich ist, die besondere Situation der sich versammelnden Gemeinde zu ermitteln und stellen uns dabei auch einzelne Vorkommnisse und Personen vor. Was wissen wir über unsere Hörerinnen und Hörer sowie deren Situation? „Wir wandern mit dem Text im Geist durch manches Haus ...“ (M. SEITZ). Damit wird für die Predigt eine Zeitgenossenschaft gefordert, die nicht in Zeitungsgenossenschaft oder Fernsehgenossenschaft aufgeht.18 Echte Zeitgenossenschaft lebt vom gemeinsamen Leben und vom lebendigen Kontakt des Predigers und der Predigerin mit seiner/ihrer Gemeinde. An dieser Stelle der Predigtarbeit kann eine Gattung theologischer Literatur zu Rate gezogen werden, die wir bisher nicht erwähnt haben: die sogenannten Predigtmeditationen. Es gibt sie in unterschiedlicher theologischer Ausrichtung als Mischung von exegetischen Einsichten, Reflexionen der gegenwärtigen Situation, homiletischen Gedanken zum Text und mehr oder weniger gut gelungenen Sammlungen von Zitaten, Geschichten, Bildern und ähnlichem. Einer kleinen Auswahl dieser Meditationen begegnen Leser und Leserin nun auch in den Fußnoten: den „Göttinger Predigtmeditationen“ (GPM) in der Tradition der Predigtmeditationen von H.-J. IWAND, den etwas konservativeren „Calwer Predigthilfen“ aus Württemberg, den Meditationen aus der Feder des ostdeutschen Theologen GOTTFRIED VOIGT, den ökumenischen Predigthilfen der „Meditativen Zugänge zu Gottesdienst und Predigt“ (womit durch die Stichworte Meditation und Gottesdienst eine Nähe zu unserem Vorgehen erkennbar ist) sowie den von E. MÜLHAUPT zusammengetragenen Evangelien-Auslegungen MARTIN LUTHERS. In unseren Seminaren zeigte sich bei den Studierenden eine gewisse Zurückhaltung im Umgang mit den Predigtmeditationen. Kritische Kommentare galten zuweilen der Qualität der exegetischen Arbeit, aber auch dem Unternehmen als ganzem: Manche sahen in den angebotenen Meditationen nur einen homiletischen Wühltisch mit Zitaten und Anekdoten. Es empfiehlt sich, die verschiedenen Angebote kritisch zu sichten und allenfalls ein oder zwei für das eigene Bücherregal anzuschaffen. Keinesfalls können Predigtmeditationen das eigene Nachdenken ersetzen. So hoffen wir, dass es nur ein Gerücht ist, wenn erzählt wird, mancher Pfarrer klebe sich seine Predigt aus Ausschnitten der marktüblichen Predigtmeditationen zusammen. So sollte die Rede von der Predigt als Gesamtkunstwerk jedenfalls nicht verstanden werden. 17 P. BUKOWSKI, Predigt, 60. 18 H. HIRSCHLER, Biblisch predigen, 217. 16
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Eine solche Zeitgenossenschaft wächst mir über Jahren hinweg zu, wenn ich mit der Gemeinde mehr und mehr vertraut werde. Im Hören auf die Menschen in meiner Gemeinde werde ich ihr Zeitgenosse. HORST HIRSCHLER hat einen einfachen Vorschlag gemacht, wie solches Hören für die Predigt fruchtbar werden kann. Er empfiehlt eine (völlig ungeordnete) Liste, in die ich Kontakte, Gesprächsfetzen, Seelsorgliches, Anrufe, Briefe usw. aus jüngster Zeit eintrage. Das meiste werde ich nicht brauchen können, aber manches könnte durch die Begegnung mit dem Text in ein neues Licht gestellt werden und von allgemeinerer Bedeutung werden, so dass es in der Predigt auch behutsam angesprochen werden kann.19 Aufgabe: Schreiben Sie auf, was jetzt über die Gemeinde Wichtiges zu wissen und zu sagen ist. Es geht nicht um ein allgemeines Soziogramm, sondern um eine Momentaufnahme. Stellen Sie sich vor, Sie müssten jetzt auf einer Seite (je nach Geschmack) dem Superintendenten Bericht über den Zustand der Gemeinde geben, einem Freund im Ausland schreiben, der früher einmal in der Gemeinde mitgearbeitet hat, oder einem Berater (Seelsorger) in vertraulichem Gespräch sagen, wie es wirklich aussieht. Sie können sich auch prüfen, was Ihr Gebet für die Gemeinde in letzter Zeit bestimmt hat.
Beispiel: Die Gemeinde, in der der Gottesdienst gefeiert wird, ist eine InnenstadtGemeinde im westfälischen Münster mit knapp 4.000 Gemeindegliedern. Münster bedeutet: Diaspora (die Mehrheit der Münsteraner ist katholisch) und Universität (auch in der gottesdienstlich versammelten Gemeinde gibt es eine relativ stark fluktuierende Zahl von Studierenden). Zugleich gibt es in diesem Wohngebiet am Rand der Innenstadt eine recht dichte Besiedlung: ältere Leute, weniger Familien mit Kindern (die eher an den Stadtrand oder in den „Speckgürtel“ der Stadt ziehen), Studierende. Die Gemeinde hat seit ihrer Gründung in den 1950er Jahren eine starke liturgische Prägung und eine ebenso ausgeprägt missionarische Ausrichtung. Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche ist seit langem für die zahlreichen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein selbstverständliches Programm. Das besondere Profil der Gemeinde mit zweiten Gottesdienstprogrammen, einer großen Jugendarbeit, Freizeiten, unterschiedlichen musikalischen Angeboten, Hauskreisen, Glaubenskursen und Möglichkeiten zur Mitarbeit lockt immer wieder Menschen an, auch über die Grenzen des Gemeindebezirks hinaus. Manchmal hatten die Verantwortlichen in der Gemeinde aber den Eindruck, es komme über dem lebhaften Gemeindeleben die lebendige (ab19
A.a.O., 222–224.
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sichtslose) Gemeinschaft zu kurz. Es wird dann gefragt, ob einzelne Menschen noch im Blick seien. Und wie in jeder lebendigen Gemeinde kam es auch zu Konflikten mit einzelnen und zu schmerzhaften Trennungen. Zur Zeit muss die Gemeinde die Tatsache verkraften, dass ihre zweite Pfarrstelle nicht wieder besetzt werden soll. Was weiß ich über die „homiletische Großwetterlage“? Nun kann auch die Zeitungsgenossenschaft zu ihrem Recht kommen! Über die Gemeinde hinaus fragen wir: Wie sieht die homiletische Großwetterlage aus? Aber: Bitte fassen Sie nicht die „Tagesthemen“, die BILD-Zeitung oder die FAZ zusammen, sondern überlegen Sie, was für die Auslegung dieses Textes relevant ist. Nur das interessiert hier! ROLF ZERFASS empfiehlt: „Bemühe Dich kontinuierlich um ein tieferes Verstehen der gesellschaftlichen Situation, in der Du lebst. Wie ist die Stimmung im Land? Was beschäftigt die Menschen? Für den Vermittlungsprozess, den Du in der Predigt leisten willst, ist die Zeitung so wichtig wie die Bibel. Welches Grundgefühl, welche Bewusstseinslage prägt die Menschen Deiner Umgebung? Wie schlägt sich das in ihrem Alltagsverhalten, in ihren Prioritäten nieder? In welchen Filmen, Fernsehserien, Büchern, Freizeittrends kommt dies zum Ausdruck? Lege Dir Hängemappen oder einen (DIN-A-5) Karteikasten an, in dem Du Kurztexte, Zeitungsausschnitte etc.) sammelst, die dir beiläufig in die Hände fallen und Schlaglichter auf die Gegenwartssituation werfen.“20
Aufgabe: Schreiben Sie auf, wo Sie einen Zusammenhang sehen zwischen Ihrem Text und der „homiletischen Großwetterlage“. Wie für alle Arbeitsschritte gilt auch hier: Sie müssen nichts erzwingen. Manchmal wird Ihnen sofort etwas auffallen, manchmal nach etwas Nachdenken oder Zeitungslesen, manchmal auch gar nicht! Überlassen Sie es einfach Ihrer „Geistesgegenwart“.
Beispieltext: Im Januar 2001 beherrschen BSE-Krise und Nahostkonflikt das Interesse der Medien. Aber wir hätten den Eindruck, diesen Themen oder aber dem Bibeltext Gewalt anzutun, wenn wir sie krampfhaft aufeinander beziehen wollten. Allerdings: Im Nahen Osten wird man das unversöhnliche Nebeneinander von Menschen besser verstehen, die im selben Land wohnen und doch nicht zueinander finden können.
Was passiert, wenn ‚meine Gemeinde’ und der biblische Zeuge miteinander reden? Wir fragen nach dem Textverständnis der Gemeinde und überlegen, 20
R. ZERFASS, Grundkurs, I, 82.
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welche Gedanken, Fragen und Probleme einzelne Gemeindeglieder beim Hören dieses Textes haben könnten. Was z.B. kann mein Hörer nicht verstehen? Wir suchen die Gemeinde im Text (nun endlich: Solidarisierung!) und den Text in der Gemeinde, denn wir gehen davon aus, vom Text ausgelegt zu werden und nicht etwa nur den Text auszulegen! Hier begegnen wir wieder einem Lieblingsfehler in Predigten: Viele Predigerinnen und Prediger fragen zwar, was der Gemeinde am Text geoder missfallen könnte, weniger aber danach, wie der Text in die Gemeinde hinein tröstend und ermahnend sprechen könnte. Die Bewegung bleibt einseitig. Aber: Recht verstanden geht es hier um ein reflektierendes und zugleich betendes Hin- und Herlaufen zwischen Text und Gemeinde. Wir sind Anwalt der Gemeinde vor Gott und Gottes vor der Gemeinde: welches Gespräch entsteht da? Wer hat wem was zu sagen? Wohlgemerkt: Wir fragen immer in beide Richtungen! Es gibt die fragende, zustimmende, ärgerliche, sich beugende, fröhliche Bewegung vom Hörer zum Text, und es gibt die bestärkende, korrigierende, lehrende, ermutigende, zum Glauben und neuen Tun rufende Bewegung des Textes zum Hörer. In diesem Dialog werden wir aber der Schrift letztlich einen Vorsprung an Vertrauenswürdigkeit und Autorität beimessen (sola scriptura). Unser hermeneutisches Kriterium ist ja das des „Einverständnisses“ (P. STUHLMACHER) mit dem biblischen Wort. So wird unser Vorgehen von einem doppelten Respekt getragen: vor dem Text, aber nun auch vor den zukünftigen Hörerinnen und Hörern. Ist es wirklich unnötig zu erinnern? Unsere Hörerinnen und Hörer sind keine Kinder! Sie sind erwachsene Menschen mit Lebens- und oft auch mit Glaubenserfahrung. Ein anderes Bild für denselben Vorgang bietet der „Predigttisch“: Stellen wir uns einen schönen großen Esstisch vor, an dem mehrere Personen sitzen. Stellen wir uns vor, wir sitzen selbst dabei – aber jetzt nur als stille Beobachter, bestenfalls als die, die darauf achten, dass jeder zu Wort kommen kann. Dann setzen wir auf die Stühle, die um diesen Tisch herum stehen, „exemplarische Gemeindeglieder“. Vielleicht ist es eine junge Frau, die wir in dieser Woche besucht haben, ein Konfirmand, der kritische Fragen stellte, ein Ältester, der sich stark einsetzt, der Partner, der sich nicht leicht tut mit „Kirchens“, vielleicht aber auch ein unerwarteter Gottesdienstbesucher, also ein neugierig-suchender Ungläubiger, vielleicht aber auch jemand, von dem wir in dieser Woche gelesen haben, eine literarische Figur, jemand aus der Zeitung oder aus dem Fernsehen. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Es kann, ja sollte jedes Mal eine andere Gesellschaft um den Tisch versammelt sein. Und nun setzen wir auch den biblischen Zeugen mit an diesen Tisch. Wir können ihm ruhig einen Ehrenplatz einräumen. Und nun bringen wir die um den Tisch Versammelten ins Gespräch. Die Richtung des Gesprächs kann wechseln: Unsere Gäste werden sich an den biblischen Zeugen wenden – mit 95
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Fragen, Kritik, Freude, eigenen Erfahrungen, die den Text unterstreichen oder in Frage stellen, mit Ärger, Zustimmung, Äußerungen des Glaubens und des Unglaubens, Situationen aus Gemeinde und Gesellschaft. Der biblische Zeuge kann dann antworten. Vielleicht brauchen wir dann auch noch die Assistenz von MARTIN LUTHER, DIETRICH BONHOEFFER oder anderen. Es kann hin und her gehen. Aber auch der biblische Zeuge wird sich nun konkret zu Wort melden: Er wird vielleicht einen trauernden Menschen trösten, er kann einem Zweifelnden einen Hinweis geben, einem Neugierigen eine Information vermitteln, worum es im Glauben geht. Das ist wichtig – die Richtung kann sich drehen, sollte sich sogar drehen. Auch hier kann es wiederum Rückfragen geben. Je heftiger das Gespräch hin- und hergeht, um so besser! Es wird sich etwas verändern durch diese Meditation zwischen Gemeinde und Text. Wir sagten: Die Predigt lebt vom Kontakt mit den Menschen, vom Leben in der real existierenden Gemeinde. So ist die Predigt ein Kontakt- und Beziehungsgeschehen, bei dem ich als Prediger um Vertrauen werbe: Ich erbitte den Zugang zu dem innersten Bereich menschlichen Lebens, ich bitte um die Erlaubnis, im Auftrag Gottes sehr viel ernster, dann aber auch sehr viel barmherziger mit dem Hörer bzw. der Hörerin zu sprechen, als dies sonst im Alltag üblich ist. Aber jetzt kommt das Neue hinzu: Wir lernen unsere Gemeinde neu kennen, nämlich in der Perspektive dieses Wortes Gottes. Damit sehen wir unsere exemplarischen Hörerinnen und Hörer nicht nur in ihrer Wirklichkeit, sondern tiefer und weiter. Wir sehen sie als von Gott geliebte Menschen. Wir sehen sie nicht mehr nur in ihrer Wirklichkeit gefangen, sondern zugleich in der Perspektive der Möglichkeiten Gottes: erneuert, geheilt, begabt und gesendet. Insofern „erfindet“ die Predigt den Hörer neu. Sie hat eine Vision vom Hörer (RUDOLF BOHREN).21 Sehen wir den Menschen so an, dann sehen wir ihn auch im Blick auf sehr unterschiedliche geistliche Bedürfnisse. Nicht dass wir nun doch in die Herzen schauen und dort Glauben oder Unglauben mit Eindeutigkeit diagnostizieren könnten! Aber aus der Begegnung mit der Gemeinde lernen wir viel über die Glaubensfragen und das unterschiedliche Wachstum im Glauben. Auch im Blick auf glaubende Menschen gibt es Unterschiede, von denen schon Paulus wusste, wenn er etwa „Milch“ und „feste Speise“ unterschied (1. Kor. 3,1–4) für die Anfänger im Glauben und für die im Glauben Herangereiften. Es gibt in unseren Gemeinden wohl beides: Mündige und Unmündige, und der Unterschied geht durchaus nicht immer einher mit mehr oder weniger großer formaler Bildung oder mit höherem oder geringerem Lebensalter. Beachten wir diese Unterschiede nicht, so bleiben die Menschen in unseren Gemeinden unterversorgt, und unsere Predigt geht vielleicht immer wieder über die Köpfe der Hörerin21
R. BOHREN, Predigtlehre, 489.
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nen und Hörer hinweg22. Auch hier ist eine Missachtung der Hörer, eine homiletische Uniformierung zu überwinden. Wenn wir dann in der Predigt ein Stück (eines!) der Wirklichkeit dieser Menschen skizzieren, dann sollten wir es mit der Sorgfalt von Seelsorgern tun. Das was wir darstellen, darf nicht bloß „Requisite“ sein (KONRAD JUTZLER). Das Leben ist uns nicht bloß ein „Anreißer“ (PETER BUKOWSKI) für das, was wir „eigentlich“ sagen wollen.23 Vielmehr sollen die Hörer spüren: Wir haben hingeschaut und zugehört, wir haben uns hineingekniet in einen Teil ihrer Lebenswirklichkeit, und wir haben gefragt, was Gottes Wort in dieses Stück wirklichen Lebens hineinspricht. D.h.: Was wir sagen, stimmt. Es entspricht der Wirklichkeit, und es wird ernst genommen. „Ein Prediger muss sich der Wirklichkeit, die er in seiner Predigt zur Sprache bringt, ebenso liebevoll, verantwortungsvoll und einfühlsam zuwenden wie der Seelsorger seinem Gegenüber, und er muss sie mit der gleichen Sorgfalt exegisieren wie seinen Bibeltext.“24
Aufgabe: Für diesen Schritt brauchen Sie Ruhe, eine Stunde, in der Sie nicht gestört werden. Gehen Sie denkend und betend zwischen Text und Gemeinde hin und her. Oder versuchen Sie einmal einen „Predigttisch“ zusammenzubringen. Und dann schreiben Sie auf, zu welchen Gesprächen es da kommt. Im Sinne einer konkreten Predigt ist es besser, ein oder zwei solcher Gespräche etwas gründlicher zu meditieren als eine Vielzahl allgemeiner Stichwörter zu Papier zu bringen. Gehen Sie an diese Aufgabe heran wie ein Seelsorger (s.o.).
Beispieltext: Aus Platzgründen reduzieren wir den Predigttisch auf drei Personen: neben dem Evangelisten Johannes (J) sitzt eine ca. 60jährige ehrenamtliche Mitarbeiterin (M) der Gemeinde aus der Frauenarbeit, beiden gegenüber ein Medizinstudent (S) im 5. Semester, der seit einigen Wochen die Gottesdienste der Gemeinde besucht. M: „Mich ärgert, dass natürlich wieder die Frau Ärger bekommt wegen ihrer Ehegeschichten. Da haben doch sechs Männer mitgespielt und ihren Spaß gehabt.“ J: „Verstehe ich gut. Aber Jesu Aufmerksamkeit galt nun mal gerade ihr. Mit dem Mann hätte er nicht anders geredet. Und Ärger, nein Ärger soll sie doch nicht bekommen, im Gegenteil, schauen Sie doch mal, wie Jesus sich um diese Frau bemüht.“ Vgl. auch K. EICKHOFF, Predigt, 33+114. K. JUTZLER, Verkündigung, 126f. zitiert bei P. BUKOWSKI, Predigt, 93f. Und P. BUKOWSKI, Predigt, 94. 24 P. BUKOWSKI, Predigt, 93. 22 23
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S: „Das stimmt schon, Johannes, allerdings finde ich es ziemlich schwierig, wie er das macht. Die Gute hatte doch keine Chance, ihn zu verstehen. Er redet von letzten Dingen, aber sie merkt nur ‚Wasserleitung’. Und, ehrlich gesagt, mir ist immer noch nicht klar, was eigentlich ‚lebendiges Wasser’ sein soll, also: an sich, und schon gar: für mich!“ J.: „Ja, das ist eine große Frage. Andererseits ist das doch ein Urbild, das jeder sofort versteht: Es geht um Durst, um Lebensdurst und Sehnsucht. Und es geht um die Erfahrung, dass Durst immer wiederkommt. Ich sehne mich danach, dass dieser Durst einmal wirklich gestillt wird, und ihr? Warum tun Abschiede so weh? Weil wir uns nach Dauer sehnen! Warum müssen manche immer mehr haben, bis sie in irgendeiner Weise süchtig werden? Weil wir uns nach ‚lebendigem Wasser’ sehnen und die Erfahrung machen, dass alles Irdische wirklich gut ist, aber nicht geeignet, den Lebensdurst zu stillen, den nur Gott selbst stillen kann. Der Prophet Jeremia sagt dazu: Ihr verlasst Gott, die lebendige Quelle, und stattdessen sucht ihr euch rissige Zisternen, die kein Wasser geben (Jer. 2,13).“ S.: „Oh, Mann, Johannes, jetzt geht der Prediger mit dir durch. Ich ahne, was du meinst, aber hast du das auch in kleinerer Münze?“ M: „Da kann ich mich gleich anschließen: Das sind große Worte, ganz große Worte, aber ich weiß gar nicht, was das mit meinem Leben zu tun hat oder mit dem der Frauen in unserem Gesprächskreis. Und ich kann die Predigten nicht mehr hören, in denen nur ein frommes Wort durch andere ‚erklärt’ wird. Man geht raus und weiß nicht mehr als vorher!“ J.: „Gut, dann schaut doch mal genauer hin. Die Frau am Brunnen hat’s doch noch begriffen, oder nicht? Jesus führt sie Schritt um Schritt weiter, bis sie begreift: Er ist es! Er ist ‚lebendiges Wasser’. Und das heißt: Meine Sehnsucht, etwas wert zu sein, einfach so, wird gestillt. Ich bin für ihn wertvoll. Und meine schlimme Vergangenheit ist zwar nicht ungeschehen, aber ich darf ehrlich werden ohne Angst vor einer Verurteilung und neu beginnen! Da waren gar nicht viele Worte nötig. Plötzlich war alles klar! Und es ist nicht mehr schlimm, dass ich zu den Außenseitern gehöre. Jesus macht Schluss mit der religiösen Zwei-Klassen-Gesellschaft ... und ... und ...“ S.: „O.k., Johannes, jetzt ist es schon ein bisschen klarer, aber ich weiß noch immer nicht, ob das etwas für mich ist.“ J.: „Die Frage kann ich dir kaum beantworten, kann dir nur sagen, dass Jesus darauf wartet, dass du ihn fragst und bittest, und dann wirst du sehen, was geschieht. Aber, ich hätte da auch etwas, jetzt, wo ihr mich fragen konntet.“ M.: „Nämlich?“ J.: „Ich frage mich, M., ob ihr nicht als Mitarbeiterkreis mal über die Geschichte von der ‚Frau am Jakobsbrunnen’ nachdenken könntet.“ M.: „Oh, ich verstehe schon, wir sollen mehr nach denen fragen, die ‚am Brunnen vor dem Tore’ stehen, aber nicht in die Gemeinde hineinfinden.“ 98
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J.: „Jetzt bist du ein bisschen zu schnell für meinen Geschmack. Typisch für eure Gemeinde, dass ihr sofort an das denkt, was ihr für andere tun müsstet.“ M.: „Ja, ist das denn falsch? Wir wollen doch eine ‚Gemeinde für andere’ sein, so wie es BONHOEFFER immer gefordert hat.“ J.: „Das ist ja auch prima, aber Jesus will euch nicht nur als Arbeitskräfte. Um es mit der Geschichte zu sagen: Er will euch nicht nur um etwas bitten, er möchte, dass ihr auch ihn um etwas bittet.“ M.: „Ja, äh ...“ J.: „Nein, jetzt hör mal zu, mir ist das beim Aufschreiben dieser Geschichte sehr wichtig geworden, wie Jesus die Grenzen überschreitet, wie er im Grunde immerzu aufs Neue das tut, was er an Weihnachten tat. Er begibt sich herab in menschliche Verhältnisse und er scheut nichts! Keine Berührungsängste beim Heiland der Welt! Ich wünsche mir sehr, dass ihr auch so frei und mutig werdet, die Grenzen zu den Leuten zu überwinden, die in eurer Umgebung wohnen. Ihr sollt nicht zufrieden sein mit denen, die irgendwie schon zu euch kommen. Keine Berührungsängste bei der Matthäusgemeinde! Da gäbe es viel nachzudenken, aber ich meine jetzt etwas anderes! Die Frau wurde zur Zeugin, nachdem und weil sie selbst vom ‚lebendigen Wasser’ getrunken hatte.“ M.: „Tun wir das denn nicht?“ J.: „Hör doch nicht gleich einen Vorwurf aus meinen Worten heraus! Ich habe nur die Sorge, dass ihr so sehr mit euren missionarischen Programmen beschäftigt seid, dass ihr euch gar nicht mehr freuen könnt über Gottes Liebe zu euch, jedenfalls nicht ohne dass die Liebe Gottes gleich wieder zu etwas anderem nützlich wäre. Jesus sucht den Kontakt zu einzelnen – nur um ihrer selbst willen. Er ist leidenschaftlich an dir interessiert und du bist ihm unendlich wertvoll, M. (du übrigens auch, S.)! Darum geht es.“ M. (räuspert sich): „Danke, Johannes, das habe ich schon länger nicht mehr so gehört, ich meine, wirklich gehört!“ An dieser Stelle verlassen wir den Predigttisch ...
Finde ich den Text noch an ganz anderer Stelle? Wir suchen exemplarisches Textverständnis: in Presse, Literatur, Kunst, Liturgie, Liedgut und Geschichte.
Aufgabe: Wiederum ohne Zwang: Ist ihnen der Text, ein einzelnes Wort oder ein Bild schon einmal an anderer Stelle begegnet? Haben Sie ein Gedicht oder eine Geschichte gelesen, die Ähnliches behandelte? Fällt Ihnen ein Lied ein, das zum Text passt? Lassen Sie sich hier nicht zu lange aufhalten, aber notieren Sie, wenn Ihnen etwas einfällt oder Sie in Ihrer Kartei etwas finden. 99
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Beispieltext: Im ZDF hat NINA RUGE seit Ende 2000 eine neue Sendung: VIP. Verabschiedete sie früher die Zuschauer mit dem (entfernt an einen Segen erinnernden) Satz „Alles wird gut!“, so ruft sie jetzt ihrem Publikum zu: „Leben Sie!“ Das suggeriert, dass man leben und doch nicht leben kann, und dass noch etwas passieren muss, damit Leben wirklich mit Leben erfüllt ist. So ist ihr Schlusswort ein Beispiel für den Lebensdurst. Den vergeblichen Versuch, den Lebensdurst zu stillen, illustriert der Dr. Faust: „So tauml’ ich von Begierde zu Genuss, und im Genuss verschmacht’ ich nach Begierde.“25 Wie predigen Raum, Zeit und Liturgie den Text? Wir kehren noch einmal zum Anfang der gesamten Arbeit zurück und suchen den zu predigenden Text auf als Teil eines Gottesdienstes an einem bestimmten Ort des Kirchenjahres: Was bedeutet das für die Auslegung des Textes? Predigt vielleicht auch das Kirchengebäude etwas zu diesem Text?
4.2.2 Wie gehört dieser Text in das Ganze des Glaubens hinein? Jetzt geht es um die systematisch-theologische Reflexion des Textes. Zunächst müssen Themen bestimmt werden (Themenfindung). Welches Thema der systematischen Theologie steckt in meinem Text? Die Themen sollen als Stichworte, kurze Aussagesätze oder Fragesätze theologisch formuliert sein. Manchmal helfen mir die Themen der Sonntage im Kirchenjahr weiter: Der 6. Sonntag nach Trinitatis bietet mir das Thema „Taufe“, der 10. dagegen das Thema „Israel“ an. Oft ergeben sich aber die Fragen auch aus der Exegese. Es können aber auch Fragen aus der Gemeindesituation hier noch einmal auftauchen, die dem Verfasser in der Exegese noch gar nicht erschienen waren. Umgekehrt kann es eine sehr heilsame Frage sein, was dieser besondere Text nun für den Gemeindeaufbau bedeutet. Oftmals wird in Seminarpredigten dieses Kapitels „pflichtschuldigst abgearbeitet“, ohne dass den Studierenden der Sinn dieser Übung einleuchtet. Bei näherem Hinsehen müsste aber die systematisch-theologische Frage ihre Bedeutung nahezu von selbst aufweisen. Wir nennen nur zwei Gründe: n Systematische Fragen begegnen uns in unserem Alltag. Da fragt ein von schwerem Leiden geprüfter Mensch nach dem Sinn seines Geschicks. Da überlegen Forscher, ob Menschen zu einem anderen Zweck geboren werden dürfen als zu dem Zweck, schlicht und ergreifend zu sein, ob sie z.B. als Organbank für geschädigte Geschwisterkinder dienen dürfen. Da sorgen sich Landwirte in der Gemeinde, wie 25
J.W.V. GOETHE, Faust I, V, 3249f., zitiert bei S. KETTLING, CPH 1982, 129.
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sie wirtschaftlich überleben können und doch mit der Schöpfung pfleglich umgehen können. Da erregt sich ein Jugendkreis über einen Bibeltext, der vom jüngsten Gericht handelt. Das sind alles systematisch-theologische Fragen, die der gründlichen Bearbeitung bedürfen und deren Fragehorizont in der Regel weit über den uns aufgegebenen Bibeltext hinausragt. Der Alltag führt uns also notgedrungen zu systematisch-theologischen Fragestellungen. Und unsere Aufgabe ist es, die Gegenwart Gottes in dem aufzuzeigen, was den Menschen so zur Frage wird. n Wir sollen schriftgemäß predigen. Das ist unter Umständen noch etwas anderes als eine textgemäße Predigt. Es geht jetzt darum, den einzelnen biblischen Zeugen mit seiner Sicht der Dinge einzuordnen in das Ganze des biblischen Zeugnisses, des kirchlichen Bekenntnisses und der theologischen Reflexion der Gegenwart. Zuweilen wird dann das einzelne Zeugnis bestätigt, auch erweitert, gelegentlich behutsam korrigiert. Es geht um die interne Kritik der Schrift, nicht um ein besserwisserisches Erteilen guter und schlechter Noten. Intern, d.h. vom Fortschreiten der Heilsgeschichte auf Christus zu gesehen, wird manches Einzelne in der Schrift kritisiert, verändert, aufgehoben oder korrigiert. Wir beschränken uns auf die Frage, die uns im Zuge unserer Vorbereitung am wichtigsten erscheint. Diese und nur diese Frage bearbeiten wir mit Hilfe der Biblischen Theologie, der Bekenntnisse der Kirche und der Dogmatik (Themenbearbeitung). Hilfreich ist es, dazu in den Bekenntnisschriften unserer Kirche und auch in ein, zwei Dogmatiken oder Ethiken zu Hause zu sein. Den Ertrag der Reflexion fassen wir mit wenigen und kurzen Sätzen zusammen.
Aufgabe: Bestimmen Sie nun das systematisch-theologische Thema für diese Predigtarbeit. Schreiben Sie so genau wie möglich auf, was Sie daran interessiert und welche Frage Sie klären und beantworten wollen. Bearbeiten Sie diese Frage und halten das Ergebnis in einigen Sätzen fest.
Beispieltext: Themenfindung: Es bieten sich eine Reihe von Themen an: man könnte über die spezifische johanneische Sicht der Christologie oder auch der Pneumatologie26 nachdenken. Uns hat jedoch der besondere Umgang Jesu mit menschlichem Bedürfnis und göttlichem Evangelium beschäftigt. Knüpft das Evangelium an unsere Sehnsüchte an, oder hat es damit gar nichts zu tun, weil Gott der ganz andere ist, der etwas gibt, wonach zu 26 Christologie ist die Lehre von Jesus Christus, Pneumatologie die Lehre vom heiligen Geist.
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fragen uns nicht einmal eingefallen wäre. Kybernetisch gefragt: Hat die Kirche auf dem Markt etwas zu bieten, was die Menschen anlocken könnte, weil sie merken, dass ihnen genau das fehlt?
Themenbearbeitung: Wir sehen drei verschiedene Haltungen, mit dieser Frage umzugehen.27 Die erste Haltung wählt den Weg von unten. Was erwartet der Zeitgenosse vom Dienstleister Kirche? Was er erwartet, das sollen wir ihm auch liefern! Suchst du Traditionen, die dir Sicherheit bieten? Wir liefern! Suchst du Lebenshilfe? Kein Problem, auch da sind wir zuständig. Was die Kirche tut, passt zu uns wie der Deckel zum Topf. Das Evangelium ist zu vermarkten nach dem Bedürfnis-Erfüllungs-Modell. Aber das Kreuz Jesu ist einfach marketingmäßig schlecht zu vermitteln! Es erweist sich als schwieriges Produkt. Gott im Dreck, das ist wirklich kein appetitlich anzuschauendes Produkt auf einem Markt, bei dem das Design das Bewusstsein bestimmt. Es zeigt sich sehr schnell, dass im Bedürfnis-Erfüllungs-Modell alle Dinge verändert werden: Die Taufe etwa kann nicht länger verkauft werden als Tod des sündigen, alten Menschen und Beginn des neuen Lebens im Glauben28; sie wird zum Neugeborenen-Segens-Ritus. Beide Beispiele zeigen: Bei diesem Modell „von unten“ werden Jesus und sein Evangelium auf ein Prokrustesbett geschnallt. Religion ist gut: aber es muss eine Religion sein, bei der der Mensch Ostern erlebt, ohne sterben zu müssen. Das Modell macht den Kunden zum König. Die entgegengesetzte Haltung wählt den Weg von oben nach unten. Hier wird nicht gefragt, was der Mensch will. Seit wann stellt der Patient die Diagnose, wenn er den Arzt aufsucht? Nur die biblische Offenbarung weiß, was der Mensch braucht, nicht was er zu brauchen meint, sondern was er wirklich braucht, jenseits seiner vermeintlichen Bedürfnisse. Er braucht Erkenntnis der Sünden, er braucht Buße, Bekehrung, Vergebung und ewiges Leben. Seine Bedürfnisse sind Torheiten. Hier wird der Kunde auf dem religiösen Markt zum Bettler. Ist das ein besseres Modell? Fühlt sich der Mensch hier nicht arg von oben herab behandelt und so gar nicht ernst genommen? „Ihr hört mir gar nicht zu und versteht nicht, was mir Angst macht!“ Und noch tiefer gefragt: Hat nicht Jesus die Nöte und Fragen seiner Zeitgenossen ganz ernst genommen? Hat er sich nicht liebend den Bedürfnissen der Menschen zugewandt: der Blindheit des Bartimäus (Mk. 10,46–52), der Einsamkeit des Gelähmten am Teich Bethesda (Joh. 5,1–18), der Bitte der Mütter um den Segen für ihre Kinder (Mk. 10,13–16)? Ist das Evangelium so marktuntauglich, wie es dieses Modell nahe legt? 27 28
Die Bearbeitung folgt gedanklich S. KETTLING, Typisch evangelisch, 168–178. Vgl. Röm. 6, 1–23.
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Hier wird ein alter christologischer Streit neu aufgeführt. Auf der einen Seite steht die Christologie von unten: Sie rückt Jesus den Menschen ganz nahe und droht dabei an der Göttlichkeit Jesu vorbeizugehen. Sie verkommt zur Jesulogie.29 Auf der anderen Seite steht die Christologie von oben: Sie sieht in Jesus den „ganz anderen“. Hier droht der Kontaktverlust mit der Welt. Muss man die Gottheit Jesu zugunsten seiner Menschlichkeit verraten oder die Menschlichkeit zugunsten seiner Gottheit preisgeben? Die dritte Haltung leuchtet uns am meisten ein, weil sie beides meidet: Sie beschreibt die Rezeption und Transformation30 menschlicher Sehnsucht in der Begegnung mit dem Evangelium. In der Bibel begegnet uns der Immanuel, der Gott mit uns. In Joh. 4 sehen wir es: Gott überwindet eine Grenze nach der anderen, um bei uns zu sein. Der „von oben“ kommt „ins unten“. Mitten in der Not und in den Bedürfnissen der Menschen bleibt Jesus aber der ganz andere. Von seiner armseligen Geburt bis zu seinem Tod lebt er ein ganz und gar menschliches Leben – aber doch als der, der in einzigartiger Weise Gott selbst ist. Und es ist nun ganz eigentümlich, wie er mit unseren Wünschen, Bedürfnissen und Nöten umgeht. Wir können das nur in einem Dreierschritt ausdrücken: Die menschlichen Sehnsuchtsworte werden von Jesus positiv aufgenommen, in ihrer Entfremdung aufgedeckt und dann von ihm „erlöst“. Das lässt sich durchspielen für alle möglichen Sehnsuchtsworte. Sie alle werden weder einfach übernommen (von unten) noch verachtet (von oben). Sie werden geachtet und so verwandelt, dass sie die Sehnsucht des Menschen in größerer Tiefe erfüllen, als er selbst es erahnt. Das zeigen die Ich-bin-Worte wie auch die „Wasser“-Rede in Joh. 4. Zentrale menschliche Sehnsuchtsworte wie Brot, Licht, Wasser, Leben werden hier von Jesus aufgenommen, als wollte er sagen: „Ja, das sucht ihr mit Recht bei mir. Aber ich bin es, den ihr braucht. Und wenn ihr mich habt, dann habt ihr das alles, was ihr ersehnt und wonach ihr eigentlich hungert.31
4.2.3 Zwei weitere Bezugsgrößen für unsere Predigt: Seelsorge und Gemeindeaufbau Nicht immer sind es systematisch-theologische Fragen, die zu grundsätzlicheren Überlegungen zwingen. Es können im Zuge des Dialogs zwischen Text und Gemeinde auch seelsorgliche oder kybernetische Fragen auftauchen, die wir gründlicher bedenken sollten:
29 Eine Auffassung, die in Jesus nur den Menschen sieht. Wir sollen wie er glauben, aber nicht an ihn glauben. 30 Aufnahme und Verwandlung. 31 Joh. 6, 35; 8, 12; 10, 9; 10,11; 11, 25f.; 14,6.
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a. Predigt und Seelsorge Einige Male deutete es sich schon an: Die Predigt ist nicht von der Seelsorge zu lösen. CHRISTIAN MÖLLER ruft nach der „seelsorglichen Predigt“ und er meint damit die ermutigende, tröstende und aufrichtende Predigt im Unterschied zur bedrückenden Predigt, die stets nur Forderungen weiterreicht.32 An dieser Stelle geht es darum, dass uns die Predigtvorbereitung zum gründlichen Durchdenken seelsorglicher Fragen führen kann. Am offenkundigsten ist dies natürlich bei der Vorbereitung von Kasualreden. Die Aufgabe, zum Beispiel ein Kind zu beerdigen, zwingt uns zu fragen, wie angesichts dieses Leides von der Liebe Gottes gesprochen werden kann, ohne dass es den Trauernden wie blanker Hohn vorkommen muss. Wie kann also die Verkündigung trösten und in der Trauer begleiten? Wie kann Gottes Gegenwart in dieser Lebenslage zugesagt werden? In der Verkündigung wird z.B. die dunkle Seite Gottes nicht verschwiegen werden dürfen, seine Verborgenheit und sein Geheimnis. Predigt kann dann geradezu Anleitung zum Klagen sein. Und sie wird erst dadurch das Recht erwerben, nun auch von der einen Stelle zu sprechen, an der Gott sein Herz zeigt: vom Kreuz Jesu Christi, an dem deutlich wird, dass Gott sich das Leiden seiner Menschenkinder zueigen macht und wir darum in keinem Leid von ihm verlassen sind. Auch im Leiden sind wir nicht von Gott verworfen und verlassen, weil er selbst diesen Ort gewählt hat. Erst dann leuchtet auch Ostern auf als der endliche Sieg Gottes über das, was er nicht will: die Mächte des Todes und der Sünde. Eine seelsorgliche Verkündigung muss dies zugleich so aussagen, dass es dem Trauerweg der betroffenen Eltern gemäß ist und sie nicht aufs Neue überfordert oder über sie hinweg redet. Darum muss in der Predigt die Geschichte erzählt werden, die Geschichte dieses Menschenkindes, ihre schönen und schrecklichen Seiten. Und es muss deutlich werden, dass der Prediger bzw. die Predigerin mit Respekt und Mitgefühl diese Geschichte anschauen und nacherzählen und sie nicht nur als dunkle Folie für ihre Botschaft benutzen, sondern darum ringen, wie diese Geschichte und jene andere Geschichte vom leidenden Gott zusammenkommen.
Aufgabe: Gibt es eine seelsorgliche Frage, die im Zusammenklang von Text und Gemeinde zu bedenken ist?
Beispieltext: Es kann hier nur angedeutet werden, dass seelsorgliche Fragen in der Auslegung von Joh. 4 bedeutsam sein können. In der hebräischen Sprache ist die Seele mit „näphäsch“ wiedergegeben: Das ist die Kehle des Menschen, das „Organ des Durstes“, der nie endgültig gestillt wird. Der Mensch wird in dieser Perspektive als der schlechthin Bedürftige ver32
C. MÖLLER, Predigt, 9–67.
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standen. Jesu Durstschrei am Kreuz zeigt das Maß der Selbsterniedrigung Jesu ins Menschliche. Der Mensch dürstet zuerst und zuletzt nach Gott (Ps. 42,1+2). Jesus erweist sich als der Seelsorger, indem er verspricht, den Durst der Seele endgültig zu stillen (Joh. 4,13f.). Überlegen Sie einmal selbst, wie hier Fragen der Selbstachtung von Frauen z.B. angesprochen werden können, gerade da, wo die äußeren Lebensverhältnisse unerfreulich und beschwerlich sind und wohl auch bleiben, wie bei der Frau am Brunnen. Oder: Das Stichwort „Durst“ wurde von einer Studierenden sofort mit den Suchterfahrungen zusammengebracht, die sie in ihrem Leben gemacht hatte. b. Predigt und Gemeindeaufbau Predigt baut Gemeinde. So lernen wir es von der reformatorischen Theologie, die uns sagt, dass die Gemeinde eine „creatura verbi“, eine Schöpfung des Wortes Gottes sei. Darum braucht der Gemeindeaufbau die Predigt, und darum gewinnt die Predigt eine kybernetische Dimension. Aufgabe: Inwiefern kann auf Grund unseres Textes etwas zum Aufbau der Gemeinde gesagt werden?
In der Evangelischen Kirche von Westfalen versuchen wir seit einigen Jahren Pfarrerinnen und Pfarrer im „Spirituellen Gemeindemanagement“ weiterzubilden.33 In einem zweijährigen Weiterbildungsprozess werden dabei Fragen des Kirchenmarketings verknüpft mit einer Theorie des missionarischen Gemeindeaufbaus, der Einübung in geistliches Leben und supervisorischer Begleitung. Für den Bereich des Marketings hat KLAUS-MARTIN STRUNK ein Schema entwickelt, das den Weg spirituellen Gemeindemanagements in der konkreten Gemeindearbeit beschreibt. Die Stationen dieses Weges können zugleich Fragestellungen bei der Predigtvorbereitung werden, wenn es uns um die möglichen Auswirkungen der Verkündigung für den Gemeindeaufbau geht. n Vision: Spirituelles Gemeindemanagement beginnt nicht mit den Defiziten der Gemeindearbeit, sondern mit einem Hoffnungsbild. Inspiriert durch biblische Texte fragen wir nach unserer gemeinsamen Vision für unsere Gemeinde. Für die Predigt, an der wir arbeiten, kann die Frage lauten: Inspiriert mich dieser Text zu einer neuen Schau der 33 Verantwortlich sind für dieses Projekt am Institut für Aus-, Fort- und Weiterbildung der Evangelischen Kirche von Westfalen in Villigst: Pfr. Dr. HANS-JÜRGEN ABROMEIT und Pfr. Dr. PETER BÖHLEMANN. Zum Team gehören: Dr. KRISTIN BUTZER-STROTHMANN, Pfr. HANSJÜRGEN DUSZA, Prof. Dr. MICHAEL HERBST, Dipl.-Kaufm. KLAUS-MARTIN STRUNK und als Supervisorin BURGUNDE MATERLA. Eine Veröffentlichung des Konzeptes ist für Herbst 2001 geplant.
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Gemeinde? Lassen mich diese Worte Gottes von der Zukunft unserer Gemeinde träumen? Analyse: Erst jetzt geht das spirituelle Gemeindemanagement „back to earth“ und untersucht mit einfachen Wahrnehmungsübungen den Ist-Zustand der Gemeinde. Es wird zum Beispiel gefragt, wer wirklich (und nicht nur in unserer Phantasie) am Gottesdienst teilnimmt und wer gar nicht zu sehen ist. Es wird auch gefragt, wie aus der Sicht Gottes unsere Gemeinde beurteilt würde (wie es z.B. in den Sendschreiben in Offb. 2f. geschieht). Für die Predigt, an der wir arbeiten, kann die Frage lauten: Enthüllt unser Text den Zustand unserer Gemeinde im Blick auf eine bestimmte Fragestellung? Ziele: Im spirituellen Gemeindemanagement werden dann Ziele formuliert, und zwar so präzise wie möglich. Ziele sind etwas anderes als Wünsche. Wer Ziele formulieren will, muss sagen können, was sich in der Gemeinde in welchem Zeitraum und bezogen auf welchen Ausschnitt des Gemeindelebens in welchem Ausmaß verändern soll. Ziele sind dann durchaus Gebetsanliegen, aber auch die Grundlage für unser zukünftiges Arbeiten auf dem Weg vom Ist zum Soll. Für die Predigt, an der wir arbeiten, kann die Frage lauten: Hilft uns dieser Text bei der Formulierung von Zielen, die dem Willen Gottes entsprechen? Strategie: Die Ziele sind noch recht allgemein gehalten. Sie müssen nun durch Strategien unterstützt werden. Strategien beschreiben das Wie auf dem Weg vom Ist zum Soll. Sie sind die Brücke zwischen diesen beiden Pfeilern in der Gemeindearbeit. Wollen wir zum Beispiel (Zielebene) den Anteil kirchendistanzierter Menschen im Gemeindeleben in den nächsten drei Jahren um die Hälfte erhöhen, so könnte es sein, dass wir (Strategie-Ebene) die Arbeit mit Grundkursen des Glaubens wählen. Der Strategie folgen dann die Strukturen, die wir benötigen (und nicht umgekehrt!). Müssen wir z.B. einen Raum für die Grundkurse seminarmäßig ausstatten? Die Strategie wiederum wird durch eine Gemeindekultur gestützt, durch ein Ensemble von Werten, die uns in unserer Arbeit wichtig sind. Wir könnten z.B. zu der Überzeugung gelangen, dass wir in allen unseren Bemühungen Gastlichkeit hochschätzen wollen. Für die Predigt, an der wir arbeiten, kann die Frage lauten: Legt unser Text uns bestimmte Strategien nahe? Oder empfiehlt er uns Werte, die für den weiteren Aufbau der Gemeinde wichtig werden könnten? Marketing-Mix: Nun muss es noch konkreter werden. Das MarketingMix klärt die letzten strategischen Fragen des spirituellen Gemeindemanagements: Mit welchem Grundkurs (um im Beispiel zu bleiben) wollen wir arbeiten (Produkt)? Wie wollen wir den Grundkurs bekannt machen (Kommunikation)? Wann und wo soll er stattfinden (Distribution)? Was erwarten wir von unseren potenziellen Gästen (Gegenleistung, Preis)? Und wer soll mitwirken (Personal)? Die Qua-
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lität des Marketing-Mix entscheidet sich am schwächsten seiner Glieder, das darum die größte Aufmerksamkeit beanspruchen muss. Für die Predigt, an der wir arbeiten, kann z.B. im Blick auf das PersonalMix deutlich werden, dass wir die Gaben (Charismen) in der Gemeinde besser wahrnehmen und pflegen sollen. n Danach geht es weiter mit dem operativen Management, also mit Fragen der Organisation, der Begleitung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und der Auswertung. Überlegen Sie auch hier, ob nicht z.B. in der Art und Weise, wie Paulus seine Gemeinden durch Briefe begleitet, ermutigt, auch korrigiert und auf das große Ziel des Glaubens hinweist, etwas für den Gemeindeaufbau zu lernen wäre, der in der Predigt angesprochen wird.
Beispieltext: Hat sie begriffen, was Johannes ihr gesagt hat, dann kann auch die Frage der Mitarbeiterin M. aus Münster ihr Recht bekommen. Eine Gemeinde auf der Suche nach einer Vision kann inspiriert werden durch das Bild Jesu, seiner grenzüberschreitenden, behutsamen und suchenden Liebe. Es kann das Modell einer Gemeinde sein, die sich nicht länger die Absicherung ihres Bestandes vornimmt, sondern auf den Weg macht, damit möglichst viele Menschen vom Wasser des Lebens trinken können. Das wären spannende Fragen für ein Wochenende des Presbyteriums oder des Mitarbeiterkreises: Wen erreichen wir eigentlich wirklich mit unserer Verkündigung und unserem Dienst? Und wen erreichen wir nicht? Und dann kommt der entscheidende Perspektivenwechsel: Erreichen wir die Menschen nicht, weil wir so sind, wie wir sind, und nicht den Mut haben, uns aufzumachen zum „Brunnen vor dem Tore“? Müssten wir lernen, Menschen um den Einsatz ihrer Stärken („Krüge“) zu bitten, anstatt immerzu zu betreuen? Müssten wir genauer wissen, wonach sich die Menschen in unserer Umgebung sehnen („Durst auf lebendiges Wasser“), was sie hoffen und fürchten, um über Rezeption und Transformation ihrer Bedürfnisse das Evangelium ins Gespräch zu bringen? Einen kybernetischen Aspekt von Joh. 4 kann man jedenfalls nahezu überall erleben, wo Gemeinden sich zu mehr Sucherfreundlichkeit und Serviceorientierung hin verändern: Die Kirchenfernen, die zum Glauben an Jesus Christus finden, sind die natürlichsten und im besten Sinne hemmungslosesten Missionare in ihrer Umgebung (vgl. Joh. 4,28f.). 4.2.4 Was sollen wir nun sagen? (Die Invention)
„Wat jestrichen is, kann nich mehr durchfall’n“ (OTTO BRAHM, Theaterkritiker).34
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Zitiert bei R. HEUE UND R. LINDNER, Predigen, 45.
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Nun geht es an die „Erfindung“ der Predigt: Was will Gott in der Bindung an diesen Text bei der Gemeinde von heute erreichen? Dies ist einer der schwierigsten Schritte in der Predigtvorbereitung: die Fülle des Materials liegt vor uns, und der Tag der Predigt (oder gar die Stunde) rückt näher. Es müssen Entscheidungen fallen, d.h. wir haben ja und nein zu sagen. Das Entscheiden ist schwer: n handwerklich, weil so wenig nach all der Arbeit nun tatsächlich in den ca. 20 Minuten Rede Platz findet, n und geistlich, weil jetzt verantwortet werden muss, was zu sagen ist. Es ist sinnvoll, hier eine kreative Pause zu machen. So treten wir in einen zwischenzeitlichen Abstand zu unserer Arbeit; oft geht es danach wieder leichter. 4.2.4.1 Das Predigtziel
„Man kann einen Prediger kaum in größere Verlegenheit bringen, als wenn man ihn fragt, was er mit seinen drei letzten Predigten eigentlich erreichen wollte. Er wird sich nicht einmal daran erinnern, falls er etwas wollte. So verkommt die Predigt zur ‚institutionalisierten Belanglosigkeit’ (GERHARD EBELING).“35
Nota bene: Ohne ein Ziel gibt es keine klare Rede! Ein Ziel muss genau definiert werden. Ich muss sagen können, was ich mit dieser Predigt bei meinen Hörern und Hörerinnen erreichen möchte. „Ich will z.B. trösten, ermahnen, belehren, informieren, aufrütteln, motivieren ...“ bzw. auch anders herum: „Meine Hörerinnen und Hörer sollen auf Grund dieser Predigt wissen, umkehren, einen neuen Anfang im Glauben wagen, mit ihrem Geld anders umgehen. Ich könnte mir dabei folgende konkreten Veränderungen im Leben der Hörerinnen und Hörer bzw. der Gemeinde vorstellen.“ Bei den Peanuts wird einmal beschrieben, wie Charlie Brown das Bogenschießen übt. Er schießt einen Pfeil auf den Bretterzaun, auf dem sich aber keine Zielscheibe befindet. Wo der Pfeil sich in den Zaun bohrt, malt Charlie anschließend eine Zielscheibe um den Pfeil herum. Lucy fragt: „Warum machst du das?“ Und Charlie antwortet entwaffnend ehrlich: „Auf diese Weise schieße ich nie daneben!“ – Wem predigen wir? Und was wollen wir erreichen?
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Zitiert bei R. ZERFASS, Grundkurs, I, 90.
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Hier entscheidet sich, ob es dem Prediger bzw. der Predigerin gelingt, die großen Scheine der biblische Texte in kleinere Münzen umzuwechseln. Natürlich soll die Predigt keine Befehle erteilen, aber es soll für die Gemeinde doch erkennbar werden, wie sich dieser Text in ihrem alltäglichen Leben auswirken könnte, im Sinne der von WERNER SCHÜTZ beschriebenen exemplarischen Situationen. Vielleicht hilft hier wieder die Methode „Filmkamera“ aus der persönlichen Betrachtung: Was sehe ich vor meinem inneren Auge, wenn ich frage, wie dieser Text mit den Menschen in meiner Gemeinde durch die nächsten Tage und Wochen geht? Worüber möchte ich mit Gemeindegliedern auch über den Kanzelauftritt hinaus ins Gespräch kommen. Anders herum gefragt: Wo erhoffe und erwarte ich auch Rückfragen aus der Gemeinde? Es ist ein kritisches Zeichen für die Verkündigung, wenn wir niemals solche Rückfragen gestellt bekommen. Dann sollten wir uns vom Lob der Gemeinde für die „schöne“ Predigt nicht täuschen lassen. Dies alles ist nicht nur rhetorisch oder kommunikationspsychologisch wichtig, sondern erst recht geistlich und theologisch bedeutsam: es geht um Gottes „Dynamik“, der Menschen dem Tod entreißen und zum Leben bringen, ihr Leben erneuern und gestalten will. Jetzt ist die Zeit des Heils (2. Kor. 6,2), aber es kommt die Nacht, da niemand mehr wirken kann (Joh. 9,4).36 Für die Klarheit unserer Ziele gibt es eine Weichenstellung. Über unser Buch haben wir AUGUSTINUS’ Predigtansatz gestellt: Haec dixit Dominus, so soll es heißen. Es soll nicht mehr heißen: „Der Text sagt uns ...“ Es ist u.E. eines der homiletischen Krankheitssymptome, wenn uns auf der Kanzel immer noch einfällt zu sagen: „Der Text will ...“ RUDOLF BOHREN sprach einmal von der kirchlichen Eiszeit, in der so von der Kanzel herab geredet wird: „Das Evangelium gefriert in historische Belehrung. Da heißt es: ‚Der Text sagt ...’; aber man weiß nicht, auf gut deutsch wiederzugeben, was Gott sagt. Gerade da, wo von Gott geredet wird, kommen häufig unaufgelöste dogmatische Formeln, theologische Versatzstücke, religiöse Klischees.“37 Ziele für einzelne Predigten dürfen eine (vom Text her verantwortete) Einseitigkeit haben. Zuweilen werden Kanzelreden durch den Zwang zur Ausgewogenheit nichtssagend und langweilig. Da redet einer über die missionarische Verantwortung der Gemeinde, will aber die nicht verprellen, die das Diakonische wichtiger finden (es kann auch umgekehrt sein!). Seine Rede gerät zum ausgewogenen „sowohl – als auch“: „Wir sollten missionieren und zugleich immerzu diakonisch und politisch aktiv bleiben.“ Eine solche Predigt soll Interessen bedienen und niemandem wehtun. Sie wird auch niemandem wehtun, aber sie wird auch nichts ver36 37
So auch a.a.O., Grundkurs, I, 90. RUDOLF BOHREN, Leichtmatrosen, DAS, Nr. 1, 3.1.1988.
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ändern und nicht einmal ein Nachdenken und notwendiges Streiten provozieren. Ziele zwingen zu einer „geheiligten Einseitigkeit“: Heute geht es nur um ... Jesus konnte höchst einseitig der Martha sagen, was jetzt not tat (Lk. 10,38–42). Und ebenso (und ganz anders!) einseitig konnte er Partei ergreifen, als es um den unter die Räuber Geratenen ging (Lk. 10,25–37). Die Zusammenstellung zweier so einseitiger Jesus-Geschichten ist wiederum eine redaktionelle Meisterleistung des Lukas. Im ganzen etwa eines Kirchenjahres können sich also solche „geheiligten Einseitigkeiten“ austarieren. In der einzelnen Predigt lähmt der Zwang zur Ausgewogenheit.
Aufgabe: Nehmen Sie sich eine Pause! Schauen Sie dann Ihre Zusammenfassungen noch einmal durch. Überlegen Sie und fragen Sie betend, was das Ziel Ihrer Predigt sein soll. Schreiben Sie es in einem Satz auf! Bedenken Sie: Dieser Satz muss „pfeilförmig“ sein wie die Intention in der exegetischen Zusammenfassung. Und: Ihr Ziel sollte sich aus den bisherigen Vorarbeiten ableiten lassen. Beispieltext: Ich möchte das Weihnachtsevangelium in der Epiphaniaszeit mit der Geschichte von Jesus „am Brunnen vor dem Tore“ weitererzählen und den Christinnen und Christen zusprechen, dass Jesus Christus ihre Nähe sucht und dafür Schritt um Schritt alle hemmenden Grenzen überwindet, nur um in ihrer Nähe zu sein und ihnen zu geben, was ihre Sehnsucht stillt. Anders gesagt: Nicht das Vorbildliche soll im Zentrum stehen (der kybernetische Aspekt), sondern die Freude an der Liebe Gottes (der seelsorgliche Aspekt). Noch einmal anders gewendet: Die Christinnen und Christen sollen die Rolle der Frau übernehmen und voller Freude merken, dass ihnen Jesus Christus so begegnet wie der Frau.
4.2.4.2 Der Predigtstoff Unter dem Stichwort Predigtstoff (Invention im engeren Sinne) fassen wir zusammen, was im Rückblick auf die vorhergegangenen Schritte nun wirklich gesagt werden soll. Was aus der Fülle des angesammelten Stoffes ist nun nötig, um das erstrebte Ziel zu erreichen? Oft gilt: Weniger ist mehr! Wir gliedern den Predigtstoff, so dass der Zusammenhang der Aussagen erkennbar ist. Dies ist die Stoffgliederung oder Disposition. Sie wird in der Nähe der in der Exegese erarbeiteten Kerygma-Sätze stehen. Wir können auch „probeweise“ mögliche Predigtdispositionen durchspielen und dann das eine oder andere verwerfen oder aber auch „verschieben“ – wir predigen ja schließlich nicht nur einmal im Leben über diesen Text. Es ist gut, das Material aufzuheben! 110
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Aufgabe: Schreiben Sie die Disposition so auf, dass der logische Zusammenhang der Predigtgedanken zu erkennen ist.
Beispieltext: (1) Die Fortsetzung der Weihnachtsgeschichte ist der logische Beginn der Geschichte: Wie Jesus in der Menschwerdung einen weiten Weg hinter sich brachte, so tut er es wieder und wieder in der Bemühung um einzelne Menschen. (2) Diese Bemühung wird exemplarisch verdeutlicht an der Frau am Brunnen. Die Umstände müssen der Gemeinde erzählend erläutert werden, damit sie die Inszenierung verstehen. (3) Jesus geht einen weiten Weg und überwindet eine Grenze, indem er (a) mit einer Frau, (b) aus Samarien (mit zeitgeschichtlichen Beispielen erläutern!) und (c) mit einer solchen verkorksten Lebensgeschichte spricht und sie um Wasser bittet. (4) Bitten (und nicht Kleinmachen) ist die Art und Weise der Kontaktaufnahme Jesu. (5) Dann muss der Umschwung in der Geschichte genau berichtet werden: aus dem Bittenden wird ein Bietender. Nur eine Bitte ist die Frau vom Heil Gottes entfernt! (6) Nun beginnt das Wassergespräch. (7) Das Missverständnis muss aufgeklärt werden: Jakobswasser und Lebenswasser. (8) In zwei Anläufen soll das Wasserthema erläutert werden: (a) Wasser und die Sehnsucht nach dem endgültig gestillten Durst (Beispiele: das Festhaltenwollen und das Süchtigwerden) und (b) Wasser und das gründlich erneuerte Leben der Frau, Samaritanerin und Sünderin. (9) Erst im Schlussteil geht es um das Weitersagen. Nun könnte die Geschichte von vorne beginnen: jetzt lässt die Frau den Krug stehen, überwindet ihrerseits Grenzen und läuft in das Dorf. Sie wird zur Botin des Heils, das von diesem Juden kam. Auch das gehört zu ihrem erneuerten Leben.
4.2.4.3 Die Predigteigenart Was soll der besondere Akzent dieser Predigt sein, das eine, das diese Predigt heraushebt aus dem wöchentlichen Predigen? Was würde der Gemeinde fehlen, wenn diese Predigt nicht gehalten würde?
Aufgabe: Machen Sie sich Gedanken zur Predigteigenart. Vielleicht kommen Sie sich dabei auf die Schliche, dass Sie gerne bestimmte Lieblingsgedanken wiederholen. Das muss nicht immer falsch sein (Phil. 3,1). Es kann aber auch bedeuten, dass wir wie beim Brettspiel einige Felder rückwärts ziehen und einige Gedanken noch einmal durchdenken sollten.
Beispieltext: Das Predigtidion besteht in der zur Identifikation reizenden Erzählung dieser Begegnung unter der Überschrift: So gilt das auch dir. Glaubst du es, so hast du es!
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4.3 Die Kunst der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium
In diesem Kapitel möchten wir auch die systematisch-theologische Überprüfung unserer Predigt ansprechen. Wir können dies nur exemplarisch tun. Darum tun wir es am Beispiel einer reformatorischen Grundunterscheidung: der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Diese Unterscheidung ist so etwas wie der Lackmustest für den Charakter einer Predigt: Ist es eine evangelische Predigt oder nicht?
4.3.1 Gesetz und Evangelium Gottes Wort begegnet uns als Gesetz und Evangelium.38 Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist wie ein Schlüssel zu mancher verriegelten Tür. Warum sind manche biblischen Worte so hart und schroff, andere wieder so tröstlich und weitherzig? Warum kann uns das Wort Gottes einmal der Liebe Gottes tief vergewissern, ein anderes mal wieder aufwühlen und beunruhigen? Der Grund liegt darin, dass Gott auf zweierlei Weise mit uns redet: durch Gesetz und Evangelium. Das Gesetz wiederum hat zwei Funktionen: Es ist Riegel gegen das Böse und Spiegel für uns als Sünder. Das Gesetz, das uns in jeder uns zur Liebe herausfordernden Wirklichkeit entgegentritt, sagt, was in einer Welt der Sünde nötig ist zum Leben und Überleben. Das ist der usus politicus legis.39 Dann aber hat das Gesetz einen usus secundus oder theologicus: Das Gesetz arbeitet dem Evangelium zu, indem es uns in die Arme Christi treibt. Es zeigt uns, dass wir nicht zu tun vermögen, was von uns gefordert ist. Das Gesetz offenbart uns vor uns selbst als Sünder; das Evangelium spricht uns zu, dass wir gerade als diese Sünder durch Christus gerechtfertigt sind. Das Evangelium ist nicht Motivation zum Tun des Guten, es ist nicht die Kraftquelle für ein ethisch anständiges Leben. Es betreibt nicht den Aufstand der Anständigen. Es ist vielmehr die Kraft, das abgrundtiefe Versagen gegenüber dem Gesetz Gottes zuzugeben und dennoch von Gott angenommen und gerechtfertigt zu sein, und das allein um Jesu Opfer am Kreuz willen. Ohne das Gesetz verkümmert das Evangelium zur Allerweltsbotschaft vom „lieben Gott“. Ohne das Evangelium verkommt das Gesetz zur „moralischen Keule“. Aus dem Evangelium erwächst dann freilich auch die Freiheit, nüchtern, im Wissen um Halbherziges, Kompromisshaftes und Fragmentarisches zu tun, was zu tun ist. Nun, da mein Tun mich nicht mehr rechtfertigt, tue ich, was Gottes Willen entspricht. SIEGFRIED KETTLING erzählt eine treffende Geschichte, um die Rolle des „Gesetzes“ zu verdeutlichen: 38 39
K. EICKHOFF, Predigt, 117–130. Vgl. H. HIRSCHLER, Biblisch predigen, 314f.
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„Ich las von einem Jungen, der alles, was er fand, in seine Hosentasche steckte, so auch eines Tages einen merkwürdigen weißen Steinbrocken, den er auf einer Baustelle entdeckte. Anschließend watet er mit seinen Freunden in den nahen Dorfteich. Plötzlich beginnt er mörderisch zu schreien: ‚Es brennt, es brennt! Mein Bein brennt!’ Die Kameraden halten ihn für verrückt. Wie kann es mitten im kühlen Wasser brennen? Doch der Kleine setzt sein verzweifeltes Geschrei fort: ‚Hilfe, mein Bein brennt!’ Tatsächlich zeigt sich dann am Oberschenkel eine so tiefe Brandwunde, dass sofort ärztliche Hilfe nötig ist.
Bei dem seltsamen Steinbrocken handelte es sich um gebrannten, ungelöschten Kalk. Wir wissen: Wenn solcher ungelöschter Kalk mit Wasser in Berührung kommt, setzt ein intensiver chemischer Prozess ein, der von Zischen und Sieden und mächtiger Wärmeentwicklung begleitet ist. Das mag ein schwaches Bild sein für das, was geschieht, wenn Gottes Gesetz mit dem gefallenen, Gott entfremdeten Menschen in Kontakt kommt, wenn ‚Geist’ auf ‚Fleisch’ stößt.“40 Das Gesetz ist nicht zuerst ein pädagogisches Instrument zur Hebung der Moral. Dieser „usus politicus“ des Gesetzes ist wichtig für das gesellschaftliche Zusammenleben. Der eigentliche „usus theologicus“ aber ist es, den Sünder zu überführen, nicht um ihn „hinzurichten“, sondern aufzurichten, um ihn in die Arme Jesu Christi zu treiben. MARTIN LUTHER bringt dies in seiner Freiheitsschrift von 1520 treffend zum Ausdruck: „Man darf nicht bloß einerlei predigen, sondern muss alle beide Worte Gottes predigen. Die Gebote soll man predigen, um die Sünder zu erschrecken und ihre Sünde zu offenbaren, damit sie Reue bekommen und sich bekehren. Aber dabei soll es nicht bleiben; man muss auch das andere Wort, die Zusage der Gnade predigen, um den Glauben zu lehren, ohne welchen die Predigt der Gebote, die Reue und alles andere vergebens geschieht.“41 Wenn wir also so erschrocken sind durch den Blick in den Spiegel, den das Gesetz bewirkt, dann, so MARTIN LUTHER, „stellt er dir seinen lieben Sohn Jesus Christus vor dich hin und lässt dir durch sein lebendiges, tröstliches Wort sagen, du sollest dich ihm mit festem Glauben ergeben und frisch auf ihn vertrauen; dann sollen dir um dieses Glaubens willen alle deine Sünden vergeben, all dein verderbtes Wesen überwunden sein, und du sollst gerecht, wahrhaftig, befriedet und rechtschaffen sein; alle Gebote sollen erfüllt und du von allen Dingen frei sein.“42 40 41 42
S. KETTLING, Typisch evangelisch, 8. M. LUTHER: Freiheit, WA 7, 34. A.a.O. WA 7, 22f.
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Das ist die „Hauptsache“ unserer Verkündigung: das Evangelium von Jesus Christus, im Glauben angenommen. Er ist unsere Gerechtigkeit, nicht die Gerechtigkeit, die Gott von uns fordert, sondern die Gerechtigkeit, die er uns schenkt. Dazu ist Christus für uns zur Sünde gemacht worden (2. Kor. 5,21). So kann LUTHER zugespitzt sagen (und bei dieser Auslegung schläft kein Hörer ein!): »Schon die Propheten haben vorhergesehen, dass Christus der größte Räuber, Mörder, Ehebrecher, Dieb, Tempelschänder, Lästerer und was sonst noch sein würde, der durch keinen Verbrecher in der Welt je übertroffen wird.“43 Für sich genommen ist Christus der Gerechte schlechthin, nur für sich will er ja nicht mehr genommen werden (Phil.2,5–11). Er will „für uns“ sein, eben der Immanuel („Gott für uns und mit uns“). Nicht als Vorbild, sondern als der, der unsere Sünde trägt und unsere Gerechtigkeit bringt, will er gepredigt und geglaubt werden: „Was immer ich und du und alle an Sünden begangen haben und in Zukunft noch begehen werden, gehört so eigentlich zu Christus, als wenn er selbst diese Sünden begangen hätte. Alles in allem, es muss unsere Sünde Christi eigene Sünde werden, oder wir sind in Ewigkeit verloren. ... Das ist unser höchster Trost, Christus ... so einhüllen zu dürfen in meine, deine und der ganzen Welt Sünden, dass wir ihn sehen dürfen als den, der unser aller Sünde trägt.“44 LUTHER verdeutlicht dieses Geschehen auch mit einem „fröhlichen Wechsel“: das, was Christus zueigen ist, wird unser, nämlich seine Gerechtigkeit, und das, was uns zueigen ist, wird Christi, nämlich unsere Sünde. Zu predigen und zu glauben ist darum die „iustitia externa“, die nicht in uns, auch nicht in unseren guten Werken oder unserer Frömmigkeit gegründet ist, sondern in Christus. Das erst macht das Heil gewiss, dass es so ganz außerhalb unserer selbst verankert ist, so sehr es ganz unser wird, indem wir ergreifen, was uns zugesprochen wird. Wie der Bundestagsabgeordnete Immunität besitzt, so besitzt fortan der Christ Immunität gegen die Anklagen des Gesetzes. Freiheit vom Gesetz aber wird sich in bestimmten Konsequenzen auswirken: Frei bin ich nun nicht zum Sündigen, sondern frei bin ich zum Gehorsam. Der Christ lebt im Glauben an Gott und das hat zur Folge, dass er in der Liebe zu Gott und zum Nächsten lebt. Er wird fortan gegen die M. LUTHER, Galaterkommentar 1531, WA 40/1, 433: »Et hoc viderunt omnes Prophetae, quod Christus futurus esset omnium maximus latro, homicida, adulter, fur, sacrilegus, blasphemus etc., quo nullus maior unquam in mundo fuerit.« 44 M. LUTHER, a.a.O., 435f.: »Quaecunque peccata Ego, Tu et nos omnes fecimus et in futurum facimus, tam propria sunt Christi, quam si ea ipse fecisset. In Summa, Oportet peccatum nostrum fieri Christi proprium peccatum, aut in aeternum peribimus… Et haec consolatio nostra summa est, sic Christum induere et involvere meis, tuis et totius mundi peccatis et inspicere eum portantem omnia peccata nostra.« 43
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Sünde kämpfen und um Gehorsam gegen die Gebote Gottes ringen. Dies alles aber tut er nicht mehr, um Gottes Ja zu seinem Leben zu erwerben (konditionales Tun), sondern aus Dankbarkeit für das längst ergangene und ewig gültige Ja Gottes zu seinem Leben (konsequentes Tun). „Sieh, so fließt aus dem Glauben die Liebe und Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, dass ich dem Nächsten umsonst diene.“45 Was dieser Exkurs in die lutherische Rechtfertigungslehre für die Predigerinnen und Prediger bedeutet, wird erst deutlich, wenn wir uns klar machen, dass genau an dieser Stelle die zweite Ursache für die großen „Unfälle“ in der Predigtarbeit zu suchen ist. Die erste haben wir entdeckt, als es darum ging, die Gemeinde und ihre Gegenwart nicht zu verfehlen. Nun geht es darum, die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu wahren. 4.3.2 Sieben typische Fehler bei der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium Erstens: Wir verzichten auf das Gesetz, weil wir das Gericht Gottes nicht ernstnehmen.
„Wird das Gesetz harmlos, wird das Evangelium machtlos.“ (KLAUS EICKHOFF).46
Das harmlose Gesetz ist das Gesetz als moralische Richtlinie, das Gesetz, das nicht mehr den Menschen vor das Gericht Gottes stellt. Eschatologische, also auf das Ende der Zeiten ausgerichtete Bibeltexte stellen viele vor große Verlegenheiten. Die Lehre von den letzten Dingen ist und bleibt ein Stiefkind protestantischer Predigtkultur. „Das jüngste Gericht findet seit längerer Zeit nicht mehr statt.“47 Und mit der Rede von Christus als dem kommenden Richter tun sich viele Predigerinnen und Prediger extrem schwer, obwohl die Aussicht auf das Gericht im Neuen Testament nahezu durchgängig bezeugt wird (vgl. nur Mt. 25,31–46; Apg. 17,30f. oder 1. Thess. 1,9f.). Die Heiligkeit Gottes wird nicht mit dem nötigen Ernst bezeugt. Damit aber macht sich die protestantische Predigt 45 M. LUTHER, Freiheit, WA 7, 35f.: „,Wolan meyn gott hat mir unwirdigen vordampten menschen on alle vordienst, lauterlich umbsonst und auß eytel barmhertzickeit gebenn, durch und ynn Christo, vollen reychthumb aller frumkeit und selickeit, das ich hynfurt nichts mehr bedarff, denn glauben, es sey also. Ey so will ich ... widerumb frey, froehlich und umbsonst thun was yhm wolgefellet, Unnd gegen meynem nehsten auch werden ein Christen, wie Christus mir worden ist,... Sih also fleusset auß dem glauben die lieb und lust zu gott, und auß der lieb ein frey, willig, frolich lebenn dem nehsten zu dienen umbsonst. 46 K. EICKHOFF, Predigt, 120. 47 So H. HIRSCHLER, Biblisch predigen, 309.
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einer gefährlichen Harmlosigkeit ihrer Verkündigung schuldig. Redet sie nicht mehr vom Gericht und von der Verlorenheit des Menschen ohne Gott, dann wird auch nicht mehr plausibel, woraus eigentlich der Mensch gerettet werden muss, kann und soll. „Ich bin o.k. – du bist o.k.“ Diese ins Populäre gewendete Auffassung der Transaktionsanalyse (ERIC BERNE) ist wie ein hochverdünntes Substrat der Rechtfertigungsbotschaft in vielen Predigten noch zu erkennen. Das Aufregende am Evangelium wird so aber verschwiegen: dass wir in Gottes Augen keineswegs o.k. sind, und dass es Gott einen unendlich hohen Preis gekostet hat, uns, seine Feinde, die alles andere als o.k. sind, mit sich zu versöhnen (Röm. 5,1–11; 2. Kor. 5,17–21). Davon ist wenig zu hören. Die Konsequenz ist ein reduziertes Gesetz, das mit etwas gutem Willen ja erfüllt werden kann, und ein ebenso reduziertes Evangelium, dessen Funktion es ist, in den Fällen, in denen es leider nicht geklappt hat, für Ausgleich zu sorgen und im übrigen die Kraft zum Tun des Guten zu geben. „Der Mensch ist nicht tot, sondern krank, und Christus ist nicht Retter, sondern der Helfer, dessen Gebot und Vorbild uns zum wahren, gesunden Menschsein führen kann. So liegt der Ansatz für die gesetzliche Predigt im Verständnis des Gesetzes; dem Menschen, dessen Verlorenheit in Versäumnissen und einzelnen Defekten besteht, kann ohne Bedenken der Ruf zum unbeschwerten Gehorsam zugemutet werden.“48 Und wenn es dann immer noch nicht so ganz klappt, dann wird Gott beide Augen zudrücken, denn „pardonner, c’est son métier“ (VOLTAIRE). „Die Predigt des Gesetzes nimmt den Menschen darin ernst, dass sie ihn auf das unauflösliche Dunkel seines Lebens anspricht. Sie nimmt ihn aber darin ernster, als er sich selbst nimmt, dass sie jenes Dunkel als Folge und Symptom seiner schuldhaften Trennung von Gott aufdeckt, aus der sich der Mensch nicht selbst befreien kann: Das ‚Gesetz’ verurteilt. Eben diese bis ins Letzte reichende Radikalität unterscheidet die Gesetzespredigt von der moralischen ‚Standpauke’.“49
Zweitens: Sprache der Gesetzlichkeit I – Der Konditionalis in der Predigt Der Konditionalis in der Predigt gibt sich freundlich. Er verbirgt sein wahres Gesicht hinter einem Schein-Evangelium. So pflegt er demonstrativ mit großen Verheißungen zu beginnen. Die Liebe Gottes wird ausgerufen. Der Reichtum seiner Verheißungen wird ausgebreitet. Es wird keine Mühe gescheut, den Hörerinnen und Hörern den Mund wässrig zu machen mit dem, was Gott alles ist, tut, anbietet. Gelegentlich schleicht sich ein – zunächst nicht besonders verdächtigtes – Hilfsverb ein, z.B. in den Satz: „Der Herr will dich segnen!“ Er will es (nur?), aber tut er es 48 49
M. JOSUTTIS, Gesetzlichkeit, 44. P. BUKOWSKI, Predigt, 131.
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auch? An dieser Stelle offenbart die gesetzliche Predigt ihr wahres Gesicht: „Ja, sieh nur, was Gott alles für dich sein und tun könnte, ja wollte, auch würde, wenn...“ Da ist es raus: „Wenn du dich“, und nun geht es weiter je nach theologischer Vorliebe des gesetzlichen Predigers, „nur mehr für Gerechtigkeit einsetzen“ oder „dem heiligen Geist öffnen“ oder „der Welt verschließen“ oder „mehr für Stille und Gebet zur Verfügung halten könntest“. Aus dem unbedingten Zuspruch wird eine bedingte Zusage. Die Bedingung muss erfüllen, wer den Zuspruch genießen will. Das aber ist die Sprache der Gesetzlichkeit, die einen schweren, dunklen Schatten auf das schöne Evangelium wirft. KLAUS EICKHOFF macht es an einer Alltagsgeschichte deutlich. Da sagt ein Freund zum anderen: „Ich schenke dir meine Kamera.“ Ginge es gut, müsste der Freund nur noch „Danke“ sagen. Es geht aber nicht gut, denn der erste fährt fort: „..., wenn du mir dein Fahrrad gibst!“. Bei solchen Geschenken kann man nur schnell davon radeln.50 Das Evangelium setzt Konsequenzen frei: Es ermutigt zu dankbarem, fröhlichem Dienst für Gott und den Nächsten. Die Gesetzlichkeit erhebt diese Folgerungen zu Bedingungen. Nun hängt wirklich alles davon ab, dass ich die Bedingung erfülle, sonst ist es vorbei mit der Verheißung Gottes.
Nachtrag: Ein heimlicher Kollege des Konditionalis sei noch erwähnt. Es ist das harmlos scheinende Hilfsverb „dürfen“. Christen dürfen vorzugsweise. Wir dürfen gehorsam sein. Wir dürfen dienen. Wir dürfen opfern. Es ist die Frage, ob der Sprechakt der Erlaubnis (vgl. in Kapitel 5) hier angemessen gebraucht wird. In diesem Zusammenhang interessiert uns das „Dürfen“ der Christen mehr aus theologischer Perspektive. Wer vom „Dürfen“ redet, möchte die Freiwilligkeit herausstellen, das gerade nicht Zwanghafte christlichen Tuns. Nur hat der unbedarfte Hörer gelegentlich den Eindruck, dass es so ganz nicht stimmt, und dass man es lieber nicht ausprobieren sollte, das Gedurfte nicht zu wollen. Wir dürfen also, aber wehe uns, wenn wir nicht entsprechend wollen. Der klare Imperativ ist hier ein ehrlicherer, wenn auch unbequemerer Genosse. Er sagt es frei heraus, und dann muss ich mich entscheiden, ob ich ihm folge oder nicht. Das „dürfen“ schiebt mir den Befehl so unter, als wäre es ein Genuss, ihm zu folgen. Dabei ist es das doch durchaus nicht immer, oder? CARSTEN ISACHSEN sagt es noch etwas weitreichender im Blick auf die modalen Hilfsverben insgesamt: Exkurs: Die Kirche und die Hilfsverben (CARSTEN ISACHSEN )51 Der Mund des Pfarrers proklamiert:
K. EICKHOFF, Predigt, 131. Gemeindepfarrer und Publizist in Geilo/Norwegen. Den Text verdanken wir der Zusammenarbeit mit FALK BECKER. Eine Quelle konnte nicht ausgemacht werden. Der Text kursierte als hektographiertes Blatt. 50 51
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Jesus kann dir helfen. Du darfst glauben. Du musst dich ändern. Du sollst leben wie ein Kind Gottes. Du wirst ein ewiges Leben bekommen. Und Stimmen in mir sagen dazu:
Jesus könnte dir helfen. Ich dürfte glauben. Ich müsste mich ändern. Ich sollte leben wir ein Kind Gottes. Ich würde ewiges Leben bekommen.
Diese verflixten modalen Hilfsverben! Sie sind es, die das Evangelium zur allgemeinen Moral reduzieren. In frommer Unbedachtsamkeit schütten wir sie Sonntag für Sonntag über die Menschen aus. Das Evangelium ist nach seinem Inhalt ein einziges, großes, starkes unabhängiges Verb: Er lebt! Starke Verben sind immer unregelmäßig. Der Zweifel, die Moral, die Unmoral, die Amoral, der Aberglaube, die Selbstsucht und der Teufel leisten einander Gesellschaft in der Behauptung, dass dieser Satz nicht allein stehen kann. Er muss von irgendeinem modalen Hilfsverb unterstützt werden: „Er hätte leben sollen!” „Er muss leben!” „Er würde leben!” „Er könnte gelebt haben!” „Er soll gelebt haben!” „Er hätte und müsste leben können!” Unser christliches Glaubensbekenntnis enthält nicht ein einziges modales Hilfsverb. Die christliche Botschaft ist durch solche Abgrenzungen nicht eingeengt. Der Sühnetod Jesu war total. Seine Auferstehung war vollständig. Die Vergebung der Sünden ist bedingungslos. Die christliche Freiheit ist ganz und ungeteilt. Wenn diese listigen Dinger des Teufels sich in unsere besten Predigten hineinschleichen, begehen wir in missverstandener Frömmigkeit mindestens zwei Irrtümer: Wir nehmen als Ausgangspunkt a) wie der Zuhörer leben müsste – mit sich selbst, mit seinem Nächsten, mit seinem Gott; b) wie die Kinder der Welt hätten funktionieren sollen. Gott freut sich kaum über eine Frömmigkeit, die den Boden der Wirklichkeit verlässt. Ein Hoch der volltönenden Jubelbotschaft von Ostern: Jesus lebt! Jesus hat gesiegt, und ich habe gesiegt. „Ich sehe den Himmel offen.” Jetzt ist unsere Schuld gesühnt. „Der Tod ist verschlungen in den Sieg.” 118
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Die modalen Hilfsverben wurden nicht zugezogen, als Gott den Gekreuzigten vom Tode auferweckte. Diese Zinnsoldaten des Teufels waren an der Siegesstunde des Herrn nicht beteiligt. Lasst uns sie mit Stöcken hinausjagen! Hinaus aus unseren Predigten, hinaus aus unserer Selbstverurteilung! Hinaus aus unseren Sorgen und Depressionen. Und auch hinaus aus unserer Freude und unserem Lebensmut! Wenn sie dableiben, halbieren sie alles, was sie in die Hände bekommen. Die modalen Hilfsverben werden so definiert, dass sie nicht alleine stehen können. Aber mit dem Evangelium können sie gar nicht zusammenstehen. Denn das Evangelium steht allein! Allein – jede Unterstützung verringert das Erlösungswerk Jesu und vernebelt die tiefste Gewissheit der Kirche: Er lebt!
Drittens: Sprache der Gesetzlichkeit II: Die Frage in der Predigt Die Frage in der Predigt ist ein äußerst geselliges Wesen. Selten nur sieht man sie allein auftauchen, meistens erscheint sie gleich im Rudel. Auch dieser Typ der gesetzlichen Predigt kann zunächst geradezu im Evangelium schwelgen. Da wird die Schönheit der Liebe Gottes in leuchtenden Farben vor Augen gemalt. Aber dann geht es los: Das Rudel der Fragen stellt sich zwischen das Evangelium und die Gemeinde: „Und wie steht es mit uns?“ Die Kameraden dieser häufig von den anderen vorausgeschickten Frage wechseln wiederum je nach theologischer Vorliebe. Nehmen wir nur als Beispiel den Prediger, dessen Herz eher kontemplativ schlägt. Bei ihm stellen sich hinter der Anführerin folgende Frageschwestern an: „Wie viel Unruhe hast du in deinem Leben? Wie wenig Zeit nimmst du dir für die Stille und das Gebet? Wie oft verlierst du dich im Gerede, anstatt zu schweigen? Wie sehr wird dein Alltag vom Lärm bestimmt? Und wie selten findest du die Kraft, den Fernseher einfach einmal abzuschalten?“ Die Frageketten verraten etwas über den Prediger: Er ist nicht zufrieden mit seiner Gemeinde. Er muss die Nöte aussprechen, die er sieht. Und er will, dass sie sie entdeckt und eingesteht: „Ja, so steht es um uns!“ Doch gewichtiger und schlimmer ist die Wirkung auf die Hörerinnen und Hörer. Dieser Typ von Frage (nicht jeder, aber dieser, und dieser vor allem in der Häufung von Fragen) lenkt den Blick der Hörerinnen und Hörer auf sich selbst. Nun müssen sie sich betrachten, und was sie da sehen, kann sie nicht fröhlich stimmen, ja, soll sie nicht fröhlich stimmen. Was in der Beichtvorbereitung Sinn machen kann, hat in der Predigt, die vorgibt, Evangelium zu verschenken, fatale Folgen: Hörer und Hörerin werden verführt zur Selbstbespiegelung.52 Salopper gesagt: zur geistlichen Nabelschau. Die aber kann nur in die Traurigkeit, schlimmstenfalls in die Verzweiflung führen. Sie provoziert das Gegen52
So schon M. JOSUTTIS, Gesetzlichkeit, 20f.
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teil des Glaubensaktes. Übt sich der Glaube wieder und wieder darin, den Blick von mir weg auf Christus zu richten, so verführt die gesetzliche Predigt dazu, mit meinem Blick immerzu bei mir selbst zu bleiben. Das ist wie beim Apostel Petrus, der auf dem Meer wandelt und laufen kann, solange er auf Jesus schaut. In dem Moment aber, in dem er auf den Wind und die Wellen starrt, sinkt er (Mt. 14,28–31). Genau das macht die gesetzliche Predigt mit dem Hörer und der Hörerin. Das Gottesbild hinter dieser Variante der Gesetzlichkeit ist inquisitorisch: Gott erscheint als Kriminalbeamter, der bohrend und entlarvend fragt.
Viertens: Gesetz statt Evangelium I – Die falsche Forderung Die falsche Forderung macht nicht darum einen Fehler, weil sie etwas fordert. Wir kennen viele biblische Texte, die Forderungen zum Gegenstand haben, klare Imperative, zu denen sich der Geforderte in Zustimmung oder Ablehnung (wie der reiche Jüngling) verhalten kann, die Gehorsam oder Ungehorsam folgen lassen. Die falsche Forderung zeichnet sich dadurch aus, dass sie etwas fordert, was die Gemeinde nicht erfüllen kann, und dass das Geforderte ein menschliches Gesetz darstellt, aber nicht den Willen Gottes widerspiegelt. Ein Beispiel dafür ist mir (M.H.) als Krankenhausseelsorger wichtig geworden. Beim Besuch einer alten Dame kurz vor einer Operation hielt ich eine kurze Andacht über Joh. 16,33: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Ich sagte der Patientin, dass ihre Angst vor der Operation nichts Schlimmes sei (denn schlimm ist die Angst vor der Angst, und oft schwindet die Angst, wenn ich mich nicht krampfhaft gegen sie wehre!). Die alte Dame war sehr erstaunt und meinte dann, als Christin dürfe (!) sie doch „im Grunde“ (!) keine Angst haben, sondern müsse gefasst und zuversichtlich sein. Welche Verkündigung und Seelsorge hatten diese Meinung in ihr reifen lassen! Biblisch ist das nicht. Nicht einmal Jesus war frei von Angst, wie die Gethsemane-Geschichte (Mt. 26,26–46) aufs Deutlichste zeigt. Du darfst als guter, echter, lebendiger, wahrer Christ keine Angst haben! Das ist ein Beispiel für eine unbiblische und unbarmherzige Verkündigung. Und es ist schlicht unmöglich, dieser falschen Forderung nachzukommen. Das Evangelium dagegen sagt: Auch mitten in der Angst bin ich bei dir! „In Ängsten, ... und siehe: wir leben!“ (2. Kor. 6,6+9).
Fünftens: Gesetz statt Evangelium II – Menschen handeln, nicht Gott! Dieser Fehler in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist mir in zahlreichen Seminar- und Examenspredigten ebenso begegnet wie bei routinierten Kanzelrednern im Amt. Im Austausch mit den Studierenden trat es aber ehrlicher und offener zu Tage: Es fiel den Studierenden schwer, über das zu sprechen, was Gott tut, während es viel leichter erschien, über das zu sprechen, was Menschen tun sollen. RUDOLF BOHREN 120
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hat einmal vorgeschlagen,53 in den Predigtmanuskripten rot zu markieren, wo wir von Gottes Handeln reden und grau, wo es um des Menschen Handeln geht. Die Optik unserer Predigten würde wohl grau in grau aussehen. Es gibt mehrere Varianten dieser Verkehrung von Gesetz und Evangelium, sehen wir von der dreistesten einmal ab, die offen zugibt, dass von Gott lieber nichts zu erwarten sei, weil der arme Gott keine anderen Hände als die unseren besäße. n Bei einer Variante kommen uns zwei ungleiche Geschwister entgegen. Da ist eine blasse, schmächtige Theologie, begleitet von einer drallen und prallen Ethik. Man redet wohl über Gottes Lieben, Schaffen und Vollenden, aber es bleibt so seltsam blass, blutarm und theoretisch. Ganz anders geht es zu, wenn dann endlich von uns die Rede sein kann. Da gibt es klare Vorstellungen, deutliche Worte, zahlreiche Beispiele. Eine Predigt über Joh. 15,1–8 gipfelte in der Aussage: „Die Bibel ist voll von solchen Handlungsanweisungen.“ Handlungsanweisungen? Redet Christus nicht zuerst von sich und von der reichen Frucht, die die Rebe ganz selbstverständlich bringen wird, von der Reinigung und Pflege durch den Weingärtner, um dann nur eines zu fordern: das Bleiben bei dem, der all diese gesunden Lebensbedingungen schafft? n Eine andere Variante ist etwas plumper. Da wird sogleich das Tun Gottes zum Exempel erhoben. Es ist nun nicht mehr Verheißung, dass Gott, was er damals tat, auch für uns tun wird. Es ist Vorbild: wie es da beschrieben wird, sollen wir es auch tun. Wie alle Verirrungen, die wir hier zusammentragen, hat auch diese ein Körnchen Wahrheit zu bieten: Natürlich gibt es biblische Weisungen, die uns Gottes Tun zum Vorbild setzen. Denken wir nur an die Fußwaschung (Joh.13,15). Die Jünger sollen sich Jesu Dienst als Beispiel nehmen. Fatal aber wird es, wenn wir gar nicht mehr anders von Gott reden können als so. Da ist uns Gott in Wahrheit abhanden gekommen zugunsten einer Idee des Wahren, Schönen und Guten, der wir nacheifern. Da ist Gott nicht mehr der, dessen Tun wir erhoffen und herbeirufen, dessen Eingreifen im Großen wie im Kleinen uns verheißen ist. n Eine dritte Variante bleibt im Vergangenen: damals hat Gott gehandelt, aber ob er heute handelt, ist höchst ungewiss. Eine Subvariante liebt übrigens das Wörtchen „noch“: er handelt wohl noch, und noch immer gilt uns seine Zusage. Hier ist das Problem ein wenig verschoben, doch ist die Untergangsstimmung mit Händen zu greifen: Heute ist es wohl noch so, aber ob es morgen so ist, ist ungewiss. „Gott ist gegenwärtig. Selten haben Predigten über sein gegenwärtiges Handeln etwas zu vermelden. Sie erwecken den Eindruck, Gott sei eingeschlafen, verreist oder verloren gegangen wie ein seniler Greis, der 53
Zitiert bei K. EICKHOFF, Predigt, 68.
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den Heimweg nicht mehr gefunden hat. Prediger, die Gottes heutiges Handeln nicht verkündigen, scheinen mit Blindheit geschlagen.“54 Solche Predigten atmen einen Geist der Unzufriedenheit und Nörgelei. Wenn alles von menschlichem Tun abhängt, kann man auch nur unzufrieden sein, denn wir werden über diese hohe Latte wohl niemals springen können. PETER BUKOWSKI hat es sehr schön auf den Begriff gebracht: „Dem im Finstern wandelnden Volk kann und darf aber nicht zugemutet werden, das ewige Licht der Verheißung selbst anzünden zu müssen!“55 Das Evangelium ist dann bestenfalls noch ein „moralischer Druckverstärker“.56 Wie könnte es besser gehen? Das Abenteuer der Predigt, ihr Risiko auch, heben damit an, von Gott in der Gegenwart zu reden. Das bedingt eine betende Haltung, die nicht eigenmächtig ein Tun Gottes ansagt, wo es nicht verheißen ist, sondern das betend an Gottes vergangenem Handeln sein Tun für heute abliest und es prophetisch ansagt. Hier beginnt das Abenteuer nicht nur der Predigt, sondern der gesamten Gemeindearbeit, weil Gott in der Kraft des heiligen Geistes Menschen verändern und erneuern kann und will und wird. Weil nicht alles so bleibt wie es ist. Weil Ehen neu werden können, Kranke gesund, Traurige getröstet werden. Weil Menschen die Last ihrer Vergangenheit spürbar von der Schulter gehoben wird. Weil Menschen begabt werden. Weil Traurigkeit der Freude weichen muss. Warum? Weil Gott spricht und es geschieht (Ps. 33,9).
Sechstens: Evangelium ohne Konsequenzen – die Predigt, die nicht mehr um Menschen ringt Mehr Leidenschaft und weniger Kühle und Distanz wünschten wir den Predigern. Nicht eine geschauspielerte Leidenschaft, nicht eine lautstarke, sich hemdsärmelig gebende Leidenschaft, nicht eine Leidenschaft, die Seelen durchknetet. Aber eine spürbare Bewegtheit, die um den Hörer und die Hörerin ringt. Geht es noch um etwas Wichtiges, wenn eine Predigt gehalten wird? Oder ist es doch nicht so wichtig und könnte darum eigentlich auch unterbleiben? Es ist der Zwang, unter dem Paulus stand (1. Kor. 9,16), die Furcht Gottes, die ihn wie die Liebe Jesu dazu trieb, Menschen gewinnen zu wollen (2. Kor. 5,11+14). Darum wurde er allen alles, um einige zu gewinnen (1. Kor. 9,19). Leidenschaft in der Predigt drückt sich aus im Ringen, im werbenden und freundlichen, aber dringlichen Ringen um den Hörer und die Hörerin. Es geht doch um viel, es geht um alles: Leben oder Tod. Es geht um Versetzung: nun nicht von einer Schulklasse in die nächsthöhere, sondern vom „Reich der Finsternis“ in das „Reich seines lieben Sohnes“ (Kol. 1,13f.). Am eindrucksvollsten ist es in 2. Kor. 5,20 ausgedrückt. Die Predigt nimmt hier die Gestalt ei54 55 56
A.a.O., Predigt, 67. P. BUKOWSKI, Predigt, 133. H. HIRSCHLER, Biblisch predigen, 301.
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ner Bitte an: „Bitte“, sagt Paulus, „bitte lasst euch versöhnen mit Gott.“ Wo ist in unseren Predigten noch diese Bitte zu hören? Die Bitte drängelt und bedrückt nicht, sie hat etwas Zurückhaltendes. Aber die Bitte ist alles andere als neutral. Bitte ich einen anderen Menschen, so liegt mir viel daran, dass er dieser Bitte auch folgt, aber ich habe es nicht in der Hand, und bittend verzichte ich auf alle Mittel der Gewalt. Doch zu dieser Seite fällt heutzutage kaum mehr ein Prediger vom Pferd herunter. Wohl aber zu der anderen: da ist nichts Dringliches, da wird nicht gebeten, sondern freundlich und ein wenig distanziert referiert. Folgt jemand, ist es gut, folgt niemand, dann gehen wir eben zum Mittagessen. Der Prediger, der bittet, wird gespannt sein, wer ihn nach dem Gottesdienst anspricht, wer noch etwas zu klären hat: mit Gott, seinem Mitmenschen oder auch beiden. Das Evangelium ohne diese Konsequenz ist wie ein Salz, das seine Kraft verloren hat. Wie ringt Jesus in den Evangelien um einzelne Menschen, um Zachäus, den er vom Baum herabbittet, weil er bei ihm einkehren muss (Lk.19,1–10), um die Frau am Jakobsbrunnen, deren verpfuschte Existenz neu werden soll (Joh. 4,5–14), ja auch um den reichen jungen Mann, der sein Leben an den Mammon zu verlieren droht (Lk. 18,18–27)! Wie ringt Paulus um seine Gemeinden, dass sie ja nicht auf diesen oder jenen Abweg kommen!
Siebtens: Gebot ohne Konkretion Der Mangel an Konkretheit ist nicht nur im Blick auf das Tun Gottes zu vermerken, auch wenn es dann um die Konsequenzen des Glaubens, um die Heiligung im Alltag geht, ist eine gewisse Allgemeinheit der Rede nicht zu übersehen. In studentischen Predigten ist dies sicher großzügig zu tolerieren, nicht aber in gemeindlichen Predigten. Das griechische „parakalein“ in seiner schillernden Bedeutung von „ermahnen“ bis „trösten“ (vgl. z.B. Röm. 12,1–3 und 1. Thess. 5,12–15) wird höchst konkret gefüllt (etwa in Röm.12,9–21): Was entspricht denn nun dem neuen Leben in Christus, und was widerspräche ihm? Vor diesem wird mahnend gewarnt, zu jenem wird ermutigt. „Parakalein“ hat etwas Prophetisches: Wie wird das aussehen, wenn dein Leben unter der Herrschaft Christi verwandelt und neu gestaltet wird? Damit wird eine parakletische Predigt auch nicht in der Gefahr stehen, den Hörer zu überfordern. Die parakletische Predigt fordert nur in dem Maße, in dem Gott zuvor gegeben hat. Nicht als simple Handlungsanweisung, aber doch konkret muss es werden, wie sich das Leben ändert unter der Führung Christi. Wiederum ist es ein doppelter Akt, der dazu nötig ist: Es bedarf der intensiven Beziehung zur Gemeinde, um zu wissen, an welchen Stellen Gott durch das biblische Wort Veränderung initiieren will. Und es bedarf des Gebetes, das vor allem um die Gabe der Unterscheidung bittet: zwischen dem, was „ich immer schon einmal der Gemeinde sagen wollte“ und dem, was Gott ihr sagen möchte. 123
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Die Konkretion hat etwas damit zu tun, dass nicht von Gott erwartet werden soll, was wir zu tun haben. Die Verwechslungen gehen an dieser Stelle hin und her. Manche Gebete im Gottesdienst lassen die Gemeinde mit dem seltsamen Gefühl zurück, dass hier nicht wirklich Gott um Eingreifen und Helfen gebeten wurde, dass ihm eigentlich nichts zugetraut wurde, sondern dass die Gemeinde zum Tun ermahnt wurde, im Medium des Gebetes, das in diesem Fall die Fortsetzung der Predigt mit anderen Mitteln darstellte. Solche Gebete beginnen vorzugsweise mit „Lass uns ...“. Dieselben Worte können aber auch das Gegenteil signalisieren: dass nun von Gott erwartet wird, was unsere Sache wäre.57 Die Bitte „lass uns nun gehorsam sein“ kann Gott ja eigentlich nur schulterklopfend zurückgeben: „O.k., dann mach mal!“. Hier hilft die Unterscheidung: Was ist von Gott zu erwarten, und was sollen und müssen wir tun? Das aber soll so konkret wie möglich zum Ausdruck kommen, am besten in Beispielen und konkreten Umschreibungen. Soll die Gemeinde auf die Verkündigung antworten, dann muss die Verkündigung auch exemplarisch zeigen, wie dieses Antworten aussehen kann. Dies entspricht auch den heutigen Rezeptionsgewohnheiten. Hat man früher eher gesagt: „Es ist wahr, dann wird es auch funktionieren.“ Heute heißt es eher: „Es funktioniert, also ist es wohl auch wahr.“ Wie es funktioniert, muss ansatzweise in der Predigt gesagt werden. Da jede Predigt zweimal geschrieben wird, nämlich zum einen auf der Kanzel, und zum zweiten in Ohr, Hirn und Herz des Hörers, werden Hörer und Hörerinnen die letzte Übersetzung in ihr Leben selbst vollbringen, bzw. der Heilige Geist wird in ihren Herzen das Nötige klären. Es geht um das alte Gebet: „Hilf aus den Gedanken ins Leben hinein, ganz ohne Wanken dein eigen zu sein.“ Wie aber kann ethische Predigt aussehen, die den Menschen nicht hoffnungslos überfordert, indem sie ihm doch wieder das Ganze des Erdenballs auf die Schultern legt? Wichtig ist es, dass ethische Probleme präzise angesprochen werden, also auch wieder genau exegesiert werden. Ich brauche Sachverstand, und ich muss wissen, was zum Thema in der Gemeinde gedacht wird, und warum dieses Thema in der Gemeinde wichtig ist. Der Präzision dient z.B. das genau vorgestellte Fallbeispiel. Dabei muss deutlich werden, dass es sich nur um einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit handelt und nicht um das Ganze. „Rundumschläge“ sind homiletische Sündenfälle. Das Fallbeispiel soll nicht dazu dienen, ein schlechtes Gewissen zu machen. Am besten ist es, wenn der Prediger bzw. die Predigerin und nach ihnen die Gemeindeglieder in der Predigt konkrete Menschen vor Augen haben. Alle Handlungsanweisungen sind weiterhin zu überprüfen, ob sie realistisch sind oder die Gemeinde grenzenlos fordern und somit hoffnungslos überfordern. Die Forderung ohne Grenzen erzeugt im übrigen das Gegenteil des Erwünschen: Sie leitet 57
Vgl. die ähnlichen Überlegungen bei K. EICKHOFF, Predigt, 167–177.
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nicht zum Tun an, sondern zum resignierten Fallenlassen der Hände. Weil nicht das Fragment, das ich tun könnte, gezeigt wurde, sondern das Totale, das ich niemals tun kann (und auch nicht tun soll), darum tue ich am Ende weniger als ich könnte.58 Weiterhin muss der Prediger unterscheiden, inwiefern er von Gottes Willen sprechen darf. Ist etwa die 35-Stunden-Woche Gottes Wille? Oder ist es nur Gottes Wille, dass Menschen einen gesunden Rhythmus von Arbeit und Ruhe finden, während die 35Stunden-Woche eine politische Option ist, die auf der Kanzel nicht zu erörtern ist, sondern im fachlichen Gespräch der Experten und in der Aushandlung zwischen den Tarifparteien?59 Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium hat uns beschäftigt, um uns Kriterien an die Hand zu geben zu einer systematisch-theologischen Selbstkontrolle im Blick auf unsere Verkündigung.
58 59
Vgl. H. HIRSCHLER, Biblisch predigen, 329–331. Vgl. a.a.O., 341.
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Fünftes Kapitel Die rhetorische Gestaltung Literaturhinweis BIERITZ, KARL-HEINRICH: Predigt und rhetorische Kommunikation. In: DERS. U.A. (HG.): Handbuch der Predigt. Berlin 1990, 63–98; BOHREN, RUDOLF: Predigtlehre, Gütersloh 1971, 402–422; BUKOWSKI, PETER: Predigt wahrnehmen. Neukirchen-Vluyn 1990; EICKHOFF, KLAUS: Die Predigt beurteilen, Wuppertal 1998; JOSUTTIS, MANFRED: Über den Predigtanfang, in: DERS.: Rhetorik und Theologie in der Predigtarbeit – Homiletische Studien, München 1985, 166–186; DERS.: Über den Predigtaufbau, in: a.a.O., 187–200; DERS.: Über den Predigtschluss, in: a.a.O., 201–215; SCHNEIDER, WOLF: Wörter machen Leute. Magie und Macht der Sprache. München und Zürich 92000; SCHULZ VON THUN, FRIEDEMANN: Miteinander reden, Bd.1, Reinbek bei Hamburg 1981; ZERFASS, ROLF: Grundkurs Predigt 1+2, Düsseldorf 1992. Besonders empfehlen wir: WAGNER, EBERHARD: Rhetorik in der christlichen Gemeinde. Stuttgart 1992.
5.1 Der Sinn der rhetorischen Gestaltung: Verständlichkeit, Relevanz und Genauigkeit
„Wenn also die ganze Gemeinde sich versammelt und alle in Zungen reden, und es kommen Ungläubige oder Unkundige hinzu, werden sie nicht sagen: Ihr seid verrückt?“ (1. Kor. 14,23).
Verständlichkeit Heute reden nicht mehr alle, sondern nur einer, der aber häufig in besonderen Zungen. Auch die Ungläubigen lassen sich nicht mehr so oft sehen. Für Paulus ist Verständlichkeit in der missionarischen Verantwortung des Gottesdienstes sehr wichtig. Die Predigt ist eine menschliche Rede. Sie unterliegt darum den Gesetzen der menschlichen Rede. Sie sollte verständlich sein und nicht eine moderne Variante der „Zungenrede“. Unverständliches Reden ist nicht Ausdruck des Vertrauens auf den Geist Gottes (der durch jede Rede hindurch sein Werk der Übersetzung leisten kann und muss), sondern ein Akt der Lieblosigkeit gegenüber den Hörerinnen und Hörern. Unverständlichkeit mag zum Ritual selbstverliebter Sprachzirkel gehören, in der Predigt ist sie jedenfalls ein Übel. Wer nicht auf die Verständlichkeit seiner Worte achtet, handelt im günstigsten Fall unüberlegt und unaufmerksam, im ungünstigeren gleichgültig gegenüber seinen Hörern und im schlimmsten 126
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Fall ist er darauf bedacht, mit seinen Worten Eindruck zu machen und Distanz aufzubauen: „Seht her, wie viel mehr ich weiß als ihr!“ MANFRED JOSUTTIS ist darum zuzustimmen, wenn er (bereits 1968) forderte, dass die Rhetorik ein „notwendiger Bestandteil der Homiletik“ sein müsse, weil der Prediger „über die Gesetze der Sprache im Akt öffentlicher Rede unterrichtet“ sein müsse.1 Kritisch äußert sich WOLF SCHNEIDER über die Fähigkeit von Institutionen zur verständlichen Information: „Dem Quantum Unklarheit, das in der Sprache unvermeidbar ist, fügen sie vermeidbaren Wirrwarr hinzu; das Handwerk des Informierens beherrschen sie nicht.“2
Damit ist das Ziel dieses Kapitels benannt: das vermeidbare Wirrwarr tatsächlich vermeiden, das Handwerk des Predigens beherrschen lernen.
Kleiner Exkurs: Kunst oder Handwerk? Kunsthandwerk! Moderne Homiletiken haben im Gefolge der Semiotik und Rezeptionsästhetik das Ideal des Predigers als Künstler aufgebaut. Ein Ausdruck der neuen Sichtweise war die Rede vom Gottesdienst als „offenem Kunstwerk“.3 GERHARD MARCEL MARTIN sprach aber schon 1984 von der „Predigt als offenem Kunstwerk“. Nun soll also auch der Prediger künstlerische Qualitäten aufbringen. So eindrucksvoll diese jüngste homiletische Theorie daherkommt, so schmerzhaft stößt sie sich an der homiletischen Wirklichkeit. Reist man durch die Lande und horcht auf Predigerinnen und Prediger, so möchte man seufzen: Künstlern begegnet man selten. Und sofort möchte man hinzufügen: Sie werden es auch nicht mehr werden! Ach, wenn sie doch nur mit mehr Lust zu Werke gingen und dabei gute Handwerker würden. Wir wären ja mehr als zufrieden. Und dann gibt es ja noch die Handwerker, denen der edle Gegenstand, mit dem sie arbeiten, mehr entlockt als dem gewöhnlichen Handwerker, sei es der Tischler, der aus wertvollem Holz besondere Möbelstücke schafft, sei es der Goldschmied, den das Edelmetall zu besonderen Schmuckkreationen befähigt. Kunsthandwerker nennen wir sie.4 Weniger im Blick auf den Handwerker als im Blick auf das edelste „Material“, mit dem sie es in ihrem Handwerk zu tun haben, möchte man von den Predigerinnen und Predigern als Kunsthandwerkern reden. Der Wunsch, der M. JOSUTTIS, Rhetorik, 21 W. SCHNEIDER, Wörter, 13f. 3 Die Entwicklung fasst sehr gut zusammen: K. RASCHZOK, Methode, 110–127. 4 Die Präzisierung, vom Kunsthandwerk zu reden, verdanke ich einem Hinweis von Pfarrer Dr. PETER BÖHLEMANN. 1 2
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sich damit verknüpft, ist schlicht der, dass sie dem Wort Gottes angemessen gute Kunsthandwerker werden. So dachte es der Theologe! Der Musiker aber hatte einen Einwand: Der Kunsthandwerker ist nicht nur der Handwerker, der mit edlem Material schöne Dinge schafft. Der Kunsthandwerker ist auch der, der reproduzierbare Massenware herstellt und nicht individuelle Einzelstücke, Massenware, die nur nicht industriell gefertigt ist. Für den Musiker ist darum die Predigt doch ein Kunstwerk, das nicht nur individuell gefertigt ist, sondern auch eine absolut individuelle Aussage trifft, die keine andere Predigt an einem anderen Ort genauso treffen kann. Zum Kunstwerk gehört wiederum die souveräne Beherrschung des Handwerks, auch wenn die handwerklichen Techniken im einzelnen Kunstwerk möglicherweise überwunden werden (die Kritik an manchen Werken von JOSEPH BEUYS und KARLHEINZ STOCKHAUSEN bestand ja darin, dass in ihnen das Handwerk nicht mehr erkennbar sei, nach dem Motto: „Das kann ja jeder!“). So sieht es der Musiker! Der Theologe hat immer noch (in großer Sympathie!) die Kolleginnen und Kollegen im Pfarramt vor sich und vermag sie nicht als Künstler zu sehen. Ihm leuchtet ein, was der Musiker sagt, aber er hängt an seinem Goldschmied, der nicht Massenware produziert, sondern wenige gute Werkstücke, am Uhrmacher oder auch am Töpfermeister (vgl. immerhin Jes. 64,7!). Wir lassen es so stehen, in der Hoffnung, dass es unsere Leserinnen und Leser zum Nachdenken anregt, nicht zuletzt über den eigenen Anspruch an die Qualität dessen, was sie Woche für Woche tun sollen. In der Willow Creek Community Church in Chicago ist es einer der Grundwerte der Gemeinde, alle Dinge mit „excellence“ zu tun. Das bedeutet nicht, einem Perfektionismus zu huldigen, dem man nie gerecht wird, und der immerzu voran treibt und unzufrieden macht. Aber es bedeutet, aus Liebe zu Gott und den Menschen sein jeweils Bestmögliches zu geben. Und an diesem Punkt treffen sich Theologe und Musiker wieder.
Relevanz Neben der Verständlichkeit ist es die Relevanz des Gesagten, die für Predigtprobleme sorgt, kurzum das Phänomen „gepflegter Langeweile“ in der Predigt. Einer der provokativsten Sätze von RICK WARREN steht in diesem Kontext: Er wundere sich darüber, wie es Predigern gelinge, „das interessanteste Buch der Welt zu nehmen und damit Menschen zu Tode zu langweilen. Ich glaube, dass es Sünde ist, Menschen mit der Bibel zu langweilen. Wenn Gottes Wort uninteressant vermittelt wird, dann denken die Menschen nicht einfach, dass der Pastor langweilig ist, sondern sie denken, Gott sei langweilig. Wir bringen Gottes Charakter in Verruf, wenn wir in einem geistlosen Stil oder ermüdenden Tonfall predigen.“5 5
R. WARREN, Kirche 219.
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Die Langeweile bestätigt dem Ungläubigen, dass er doch vollkommen im Recht ist und an dieser Stelle nun wirklich nichts Wichtiges zu erwarten hat.6 KLAUS EICKHOFF spricht von der „Gottesabschreckung“. Und er zitiert HEINRICH HEINE: „Sie haben keine Idee von der Hölle, Madame. Wir erlangen von dorther wenig offizielle Nachrichten. Dass die armen Seelen da drunten den ganzen Tag all die schlechten Predigten lesen müssen, die hier oben abgedruckt werden – das ist eine Verleumdung. So schlimm ist es nicht in der Hölle, so raffinierte Qualen wird Satan niemals ersinnen.“7 Genauigkeit Und schließlich dient die Rhetorik der dem Evangelium zustehenden Genauigkeit der Sprache. Es kann nicht angehen, dass wir zwar für die Inbetriebnahme unserer Computer genaueste Informationen in einer verständlichen und präzisen Sprache einklagen, auf der anderen Seite aber sprachliche Ungenauigkeiten dulden, wenn es um die letzten Dinge geht, um unsere Existenz vor Gott. Dann soll es nicht so darauf ankommen, ob wir es präzise sagen können? Damit blieben wir hinter dem Ernst eines Apostels PAULUS, eines AUGUSTINUS oder LUTHER weit zurück, die an den Begriffen feilten, bis sie sagten, was sie sagen mussten, damit Menschen hören können, wie ihr Leben sub specie aeternitatis aussieht.8 Unsere Predigten dagegen verraten zuweilen sprachlichen Schlendrian, als käme es nicht so darauf an. Da sagt Gott „bedingungslos Ja zu uns“, „nimmt uns an, wie wir sind“, so als ob es damit getan wäre, und so als ob dieses Annehmen geradezu leicht und billig zu haben gewesen wäre.
Exkurs: Ein Beispiel für sprachliche Sorgfalt: ROMAN HERZOGS Rede in Warschau Als der damalige Bundespräsident ROMAN HERZOG am 1. August 1994 in Warschau an den Warschauer Aufstand erinnerte, wurde an einer fünfminütigen Rede einen Monat lang gearbeitet, bis sie unmissverständlich zum Ausdruck brachte, was ein deutsches Staatsoberhaupt aus diesem Anlass zu sagen hat. Am Anfang stand nur die Idee, auf einen Satz der polnischen Bischöfe aus dem Jahr 1965 einzugehen: „Wir ... gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“ Ein erster Entwurf sah vor, dass HERZOG auf Polnisch die Vergebungsbitte wiederholen solle. Doch HERZOG wollte beide Hälften des Satzes vortragen und außerdem nicht das Risiko eingehen, Entscheidendes in der fremden Sprache vielleicht falsch auszusprechen. Der zweite Entwurf sah vor, dass HERZOG den Satz der 6 7 8
K. EICKHOFF, Predigt, 27. A.a.O. D.h. aus der Perspektive der Ewigkeit.
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polnischen Bischöfe umdrehen und gewichten sollte: „Wir bitten um Vergebung, so wie auch wir vergeben. [...] Denn ich weiß und bekunde es mit Nachdruck: Wir Deutschen haben für unendlich mehr um Vergebung zu bitten, als wir selbst zu vergeben haben..“ HERZOGS Berater rieten von dieser Formulierung ab; sie könne den Eindruck einer Saldierung der Schuld erwecken, so als sei Schuld gegen Schuld aufzuwiegen und stünde nicht je für sich selbst. HERZOG sah ein, dass er sich nicht am Jahrestag des Warschauer Aufstands hinstellen und von Vergebung für Polen reden könnte, womöglich unter der Bedingung, dass diese zuerst den Deutschen vergeben müssten. Auch wenn der Bundespräsident das so niemals meinte, so rechnete er doch mit diesem möglichen Missverständnis. Am Ende bezog sich Herzog ohne Zitierung der polnischen Bischöfe auf beider Völker Geschichte, der sich jedes offen zu stellen habe und auf die Hoffnung einer gemeinsamen Zukunft. Er schloss mit dem Satz: „Ich bitte um Vergebung für das, was Ihnen von Deutschen angetan wurde.“9 Solche Präzision, die das Wichtige unbedingt auch klar und unmissverständlich sagen möchte, brauchen mindestens die tragenden Sätze unserer Verkündigung. Dabei hilft uns das rhetorische Handwerkszeug. 5.2 Die praktischen Schritte
5.2.1 Die antike Rhetorik In der antiken Rhetorik kannte man bestimmte Schritte der Erarbeitung einer Rede, die unserem Exerzitium recht nahe stehen:10 n Zunächst die inventio, die Findungslehre. Wie finde ich den Stoff meiner Rede, mein Thema und meine Absicht? Diese Fragen kommen gebündelt am Ende von Kapitel 4 zur Sprache, auch dort unter der Überschrift „Invention“. Die Kapitel 1–4 dienten insgesamt der Findung von Thema, Absicht und Stoff der Predigtrede. n Dann die dispositio, das ist die Kunst der übersichtlichen Gliederung. Damit sind wir wieder beim Thema „Verständlichkeit“. Eine klassische dispositio beginnt mit einem exordium, einer Einleitung, führt dann zur narratio, zum Darlegen des Sachverhalts, weiter zur argumentatio, dem Erörtern von Beweisen und Widerlegungen und schließlich zur conclusio, dem Schluss, der die Ergebnisse bündelt und die Konsequenzen benennt. Der dispositio widmen wir uns ausführlich in diesem Kapitel. n Der nächste Schritt ist dann die elocutio, das heißt: jetzt wird an der sprachlichen Gestalt gefeilt. Man achtete dabei auf perspicuitas (inAlle Zitate aus: M. JOCHUM, Vergebung, 14. Die Übersicht über das Vorgehen antiker Rhetoriker verdanken wir K.-H. BIERITZ, Handbuch, 71–74. 9
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tellektuelle Verständlichkeit), latinitas (grammatische Korrektheit), ornatus (sprachlichen Schmuck) und das aptum, die Angemessenheit der Rede im Blick auf den Gegenstand. Dabei unterschied man das innere aptum (das rechte Verhältnis von Sache und Worten) vom äußeren aptum, dem angemessenen Bezug auf die Situation der Hörerschaft. Auch die elocutio wird Gegenstand des 5. Kapitels sein. n Dieser elocutio folgte die memoria, das Einprägen der Rede, die natürlich frei gehalten werden soll, n und die actio, der eigentliche Vortrag, bei dem man auch auf Artikulation, Gestik und Mimik achtete. Um memoria und actio geht es im 7. Kapitel. „Die Rede soll materiell erschöpfend (inventio), übersichtlich gegliedert (dispositio), sprachlich gestaltet sein (elocutio), sowie frei vorgetragen (memoria) und wirkungsvoll artikuliert werden (actio).“11 Dieses Verständnis von Rhetorik folgt einer freiheitlichen Tradition, im Dienst eines demokratischen Gemeinwesens, in dem sich der einzelne kraft seiner Argumente und nicht kraft seiner Gewaltmittel durchsetzen soll. Diese Einsicht des katholischen Homiletikers ROLF ZERFASS ist insofern wichtig, als dass die Rhetorik in Misskredit geraten ist.12 Sie wird z.B. als „Kunst der Überredung“ verstanden und als solche etwa von IMMANUEL KANT bekämpft. Und sie hat in der Tat einen „Schatten“.
Exkurs: Zwischen CICERO und HAIDER – oder: Vom Schatten der Rhetorik Schauen wir uns13 die Regeln der Rhetorik etwa bei einem ihrer größten Meister an, nämlich bei CICERO, so merken wir schnell, dass die Rhetorik eine gefährdete Kunst ist, wir sehen Licht und Schatten. CICEROS Werk „De oratore“ empfiehlt die Beachtung von neun rhetorischen Regeln: 1. Die Sprache sei volkstümlich und simpel. 2. Der Redner stelle wenige Grundbehauptungen auf. 3. Man wähle geeignete Schlag- und Reizwörter. 4. Diese Grundbehauptungen und Reizwörter sind unermüdlich zu wiederholen. 5. Der Redner übertreibe. 6. Er verwische die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge. 7. Er verneble überhaupt, indem er zum Beispiel den blanken Nutzen im Gewand der sittlichen Würde auftreten lasse. 8. Er ringe den Gegnern mit allen Mitteln nieder, auch mit Verleumdung. 11 Vgl. zu diesem ganzen Abschnitt: K.-H. BIERITZ, Handbuch, 71–74. Zitat S. 74 von J. KOPPERSCHMIDT. 12 Weitere kritische Stimmen zur Rhetorik trägt K.-H. BIERITZ zusammen, Handbuch, 69– 71. 13 Wir folgen dabei den Darlegungen WOLF SCHNEIDERS, Wörter, 112–119.
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9. Er ziele vor allem auf das Gefühl der Hörer. Ja, Rhetorik sei die Kunst, „die Gemüter der Menschen zu gewinnen, ihre Neigungen zu leiten, wohin man will, und sie abzulenken, wohin man will ...“. Das funktioniert bis heute: eine Untersuchung von WALTER ÖTSCH über den Redestil des Österreichischen Politikers JÖRG HAIDER zeigt das Muster demagogischer Rede auf. (1) HAIDER predigt etwas Einfaches, auch wo er über komplizierte Dinge redet. Immer erweckt er den Anschein, klare Lösungen für komplexe Probleme anbieten zu können (wie etwa die anhaltende Arbeitslosigkeit). (2) Dabei teilt er die Welt in die „Wir“ und die „Anderen“ ein, wobei die „Wir“ die Guten sind, die von den „Anderen“ bedroht werden (z.B. „die ehrlichen, arbeitsamen, kleinen Leute“ von den „Sozialschnorrern“ wie von den „Politbonzen“). (3) Er hat keine Fehler zuzugeben, benennt dafür aber stets Sündenböcke (z.B. die Ausländer, die den Inländern die Arbeitsplätze rauben) für das, was schief gelaufen ist. Wo er selbst in Verdacht gerät, waren es die „Anderen“, die ihn schädigen wollen. (4) Diesen „Anderen“ ist darum zu drohen: „Wir werden in erster Linie einmal ausmisten in dem Land.“ (5) Seine Sprache ist darauf aus, Gefühle zu wecken. „Demagogisches Reden verlangt ...: kurze, prägnante Sätze mit viel Gefühl.“ HAIDERS Sprache zeichnet sich durch ein hohes Maß an Verständlichkeit aus. Dazu tragen zwei Merkmale besonders bei: (6) HAIDER erzählt Geschichten. (7) Und HAIDER übt sich im Wiederholen, Wiederholen, Wiederholen. Die Macht des wiederholten Wortes ist nicht zu unterschätzen: was wieder und wieder gesagt wird, wird schließlich als wahr akzeptiert.14 Ist damit die Rhetorik entlarvt und ihr Beitrag zu einer seriösen Predigtvorbereitung erledigt? Der Meinung sind wir durchaus nicht. Die Prinzipien der Rhetorik gelten für jede Rede; leider lassen sie sich von Demokraten ebenso in Dienst nehmen wie von Diktatoren, Demagogen, Rechtspopulisten und anderen. Es ist und bleibt Merkmal einer überzeugenden Rede, Sachverhalte durch Geschichten zu illustrieren. Auch die Wiederholung zeichnet nicht nur HAIDERS Reden aus, sondern jede Art von Vorträgen, bei denen sich jemand Gedanken darüber macht, welche Botschaft eigentlich haften bleiben soll. Wir werden uns nicht von der Rhetorik verabschieden, aber um ihren Schatten wissen. Wir werden aber die Aspekte der Rhetorik meiden, die offenkundig sprachlicher Gewalt dienen, und sei sie noch so sublim. Die Sprache sei verständlich, und sie ermögliche Verständigung! Ob es auch zum Einverständnis zwischen Redner und Hörer kommt, steht auf einem anderen Blatt. Aber unser rhetorisch geschultes Sprechen gebe dem Hörer die Freiheit (und raube sie ihm um keinen Preis!), sich seine eigenen Gedanken zu machen, ob er mit dem Verstandenen auch einverstanden ist oder nicht. Entsprechend 14
Referiert von M. EIDLHUBER, Einfach, 7.
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lassen sich auch CICEROS Empfehlungen sortieren, so dass dieses verworfen und jenes übernommen werden kann. Hier müssen wir noch etwas präziser werden. Wir geben damit nicht den Wunsch auf, andere Menschen überzeugen zu wollen. Das Evangelium will überzeugen, und seine Predigerinnen und Prediger werben um das Einverständnis der Hörerinnen und Hörer. KARL-HEINRICH BIERITZ hat auf den Rhetoriker JOSEF KOPPERSCHMIDT hingewiesen15 und dessen Modell der Persuasiven Kommunikation. Nicht dass ich etwas will und andere davon überzeugen möchte, ist das Problem. Aber dies soll nicht manipulativ geschehen; es soll nicht die Freiheit des anderen gefährden. Auf überzeugte Zustimmung kommt es an. KOPPERSCHMIDT definiert: „Die Persuasive Kommunikation ist eine mittelbare, nämlich sprachlich vermittelte und argumentativ bestimmte Form der Zielrealisation.“16
n Mittelbar meint: Das Ziel wird nicht (nur) von mir selbst realisiert, vielmehr versuche ich, (auch) andere für dieses Ziel zu gewinnen. n Sprachlich vermittelt wird dieser Versuch, und nicht etwa durch Gewaltmittel durchgesetzt. n Es wird argumentativ vorgegangen, d.h. unter Verzicht auf nicht-argumentative sprachliche Mittel wie den Befehl oder die Drohung.
Es gibt Spielregeln für diese Form der Kommunikation, die auch für die Predigt von Bedeutung sind: n Ich muss erstens bereit und fähig sein, die anderen als gleichberechtigte Kommunikationspartner ernst zu nehmen. n Ich muss zweitens an einer Verständigung, also an einem Konsens mit meinen Kommunikationspartnern interessiert sein. „Diese Regel setzt voraus, dass der Sprecher von der Richtigkeit der Argumente, die er vorbringt, selber überzeugt ist und sich aufrichtig und ernsthaft um eine argumentative Verständigung mit dem Angesprochenen bemüht.“17 n Schließlich muss ich bereit sein, die Entscheidung der Angesprochenen in jedem Fall zu respektieren und nicht „persuasionsfremde Mittel“ (Repressalien) einzusetzen, um mich doch noch durchzusetzen. Kommunikation in diesem Sinne kann gelungen und/oder erfolgreich sein. Sie ist gelungen, wenn Verständnis für das, was ich sagen wollte, 15 16 17
K.-H. BIERITZ, Handbuch, 75–82. J. KOPPERSCHMIDT, bei: K.-H. BIERITZ, a.a.O. A.a.O., 79.
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hergestellt ist. Sie ist erfolgreich, wenn mit meinen Hörern auch Einverständnis über das Gesagte erzielt werden konnte. Übrigens gilt das alles auch umgekehrt für die Angesprochenen: sie müssen bereit sein, sich mit Argumenten auseinanderzusetzen, sich gegebenenfalls überzeugen zu lassen und dementsprechend ihr zukünftiges Handeln einzurichten.18 5.2.2 Die Schritte rhetorischer Arbeit in der Predigtvorbereitung
„Predigt als Rede ist ein Geschehen in der Zeit. Worte, Sätze, Gedankengänge folgen einander, bedürfen der logischen Verknüpfung miteinander. Der Zeitablauf der Rede muss durch Ordnung und Aufbau gestaltet werden“ (MANFRED JOSUTTIS).19
Die Predigt vollzieht sich im Gegensatz zur gedanklichen Abhandlung in bildhaft-erzählender Weise durch das persönlich gedeckte Wort des Predigers. Dabei steht es in der Verantwortung des Predigers, im Sinne einer handwerklich sauberen Arbeitsweise verständlich und behältlich zu predigen und im Sinne einer kritischen Rhetorik seine eigene Rede zu kontrollieren. Es gilt, einen Weg zu finden, auf dem ich den Hörer zum Ziel der Predigt führen möchte. Dabei sollen dem Hörer möglichst keine Brüche und Sprünge und auch keine Ausflüge auf Nebengleise zugemutet werden. Es gilt die Regel jedes vernünftigen Naturschutzgebietes: „Das Verlassen der markierten Wanderwege ist verboten!“ Das gilt auch für den Einsatz von sekundären Texten: Diesen Text habe ich auszulegen! Die Flucht in andere, mir zugänglicher erscheinende Texte soll ich mir verbieten. Bei allen Entscheidungen muss ich mir klarmachen, dass ich in 20 Minuten nicht alles sagen kann und auch nicht alles sagen muss (oder: Was will ich der Gemeinde denn nächste Woche noch erzählen?). Im rhetorischen Arbeitsgang bedenken wir: das unserer Predigtintention entsprechende genus praedicandi, den Redeaufbau, die motivierende Einleitung und den bündelnden Schluss, zusätzlich stimulierende Elemente wie Bilder, Geschichten und Beispiele. Haben wir uns in den bisherigen Arbeitsschritten um die Sachlichkeit der Predigt bemüht, so geht es jetzt um deren Verständlichkeit. Ziel dieses Arbeitsganges ist eine Partition, mit deren Hilfe wir dann eine Predigtniederschrift verfassen können oder – im ungünstigsten Fall – auch predigen könnten. 18 19
Zu diesen Regeln vgl. a.a.O., 80–82. M. JOSUTTIS, Rhetorik, 187.
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5.2.2.1 Das genus praedicandi (Modelle des Predigens) In der antiken Rhetorik gab es drei grundlegende Modelle der Rede: n Das genus iudicale hat als Modellfall die Gerichtsrede. Angesichts des zur Verhandlung stehenden Falls will die Rede dem Richter zu einer angemessenen Beurteilung verhelfen. Ihre vorherrschende Intention ist die Information bzw. Belehrung (der modus des docere, der Redestil ist subtile). Sie wendet sich also hauptsächlich an den Verstand der Angeredeten, und dementsprechend hat der Redner seine Mittel zu wählen: einen nüchternen Stil, eine präzise Argumentation usw. n Das genus deliberativum hat als Modellfall die Rede auf der Volksversammlung. Diese Rede zielt auf Beeinflussung der Angeredeten, die eine politische Entscheidung zu treffen haben. Die vorherrschende Intention solcher Rede ist deshalb der Appell (der modus des flectere oder movere; der Redestil ist grave). Sie wendet sich primär an den Willen. Auch hier wird der Redner sich entsprechender Mittel zu bedienen haben: Er darf Eindeutigkeit ebenso wenig scheuen wie Eindringlichkeit, er wird in scharfen Kontrasten reden usw. n Das genus demonstrativum schließlich hat als Modellfall die Festrede, in der eine anwesende Person geehrt werden soll. Ihre vorherrschende Intention ist die Vergewisserung der Versammelten hinsichtlich der Qualitäten des zu Ehrenden (der modus des delectare; der Redestil ist medium oder temperamentum). Angesprochen wird hier vor allem der Gefühlsbereich, dem entspricht ein persönlicher und ein bildhaft-poetischer Stil.20 Wir fragen zuerst: Was ist die Hauptintention der Predigten, die wir hören? Was soll unsere Intention sein, wenn wir predigen? Intentionsfreie, willenlose Predigt gibt es nicht, und gäbe es sie, so wäre sie überflüssig! Ist unsere Predigt eher Lehrpredigt (docere), paränetische Rede (flectere) oder Lobrede (delectare). Oder ist sie eher eine evangelistische, zum Glauben rufende Rede oder eine parakletische, also seelsorgliche Ansprache? Was entspricht der Intention von Text und Predigt?
Aufgabe: Bestimmen Sie das genus Ihrer Rede, und begründen Sie, warum Sie sich so und nicht anders entschieden haben. Bitte weichen Sie nicht in Zwischenformen aus, wie es häufig in Seminarpredigten zu lesen war: „Meine Predigt soll vorwiegend eine lehrhafte Ansprache sein, bei der aber seelsorgliche und evangelistische Anteile nicht fehlen.“ Dahinter könnte sich innere Unentschiedenheit oder auch sachliche Unklarheit verbergen!
20
P. BUKOWSKI, Predigt, 47.
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Beispieltext aus Joh. 4: Das Predigtziel kann jetzt noch einmal in rhetorischen Kategorien beschrieben werden. Es geht um das genus demonstrativum im modus des (erhofften!) delectare. Erfreuen soll diese Predigt durch die Demonstration der Liebe Gottes. 5.2.2.2 Die Partition
„Auch aus der Sicht der Hörer/innen ist der Aufbauaspekt von grundlegender Wichtigkeit. Nur eine klar gegliederte Rede ermöglicht es der Gemeinde mitzukommen und nachher das Gehörte zu behalten. Nicht umsonst bezieht sich eine häufig geäußerte Predigtkritik auf Aufbauprobleme: ‚Da war heute kein roter Faden drin – ich bin nicht mitgekommen’“ (PETER BUKOWSKI).21
Wir können hier nur eine kleine Auswahl von Gliederungsmodellen vorstellen. Wir unterscheiden grundsätzlich zwischen Text- und Themapredigten.
a. Textpredigten 1. Die Homilie ist eine versweise Auslegung nach dem Schema „explicatio–applicatio“. Zunächst wird ein Vers oder kleiner Abschnitt erklärt, danach wird er auf die Situation der Gemeinde übertragen und in seiner aktuellen Bedeutung erläutert. Die Homilie ist die älteste Form christlicher Predigt. Sie zeichnet sich besonders durch eine große Nähe zum Text aus. Diese Stärke (Textnähe) korrespondiert aber auch einer Schwäche, nämlich einer relativ schwachen Kohärenz der Gedanken (es sei denn, der Text selbst hat ein hohes Maß an Kohärenz). Außerdem wirkt die Homilie oft ein wenig steif: sie legt historisch aus und wendet (im Sinne der Moral von der Geschicht’) gegenwartsbezogen an, was das alles denn nun für uns heute („noch“?) bedeute. Man sollte dieses Verfahren auf die Auslegung von Texten beschränken, bei denen sich der Spannungsbogen durch den Fortgang der Erzählung oder des Gedankens wie von selbst ergibt. Ein Text wie z.B. Spr. 16,1–9 (Neujahr, Reihe 5), eignet sich zum Beispiel nicht für eine Homilie, die Epistel zum Neujahrstag aus Jak. 4,13–15 (Reihe 2) dagegen sehr. Auch bei unserem Beispieltext aus Joh. 4 könnte man eine Homilie in Erwägung ziehen. 2. Die Narratio: Die Erzählung ist eine besonders ansprechende, aber auch eine besonders anspruchsvolle Form der Predigt.22 Die Grundregel lautet: Die Predigt beginnt und endet mit der Erzählung, an die keine erklärenden Sätze angehängt werden. Was gesagt werden soll, wird also im 21 22
A.a.O., 6. Gute Impulse zur narrativen Predigt finden sich bei E. WAGNER, Rhetorik, 43–45.
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Rahmen der Erzählung gesagt. Dazu muss ich mir vor allem klar machen, warum und mit welchem Ziel ich etwas erzähle. Was ich dann erzähle, muss Dynamik und Dramatik haben: Die Geschichte muss nach vorwärts drängen, auf einen Höhepunkt zu, ohne sich in allerlei weitschweifigen Erklärungen oder in der Erörterung von Nebenschauplätzen zu erschöpfen. Am günstigsten wird im Präsens erzählt. Machen Sie sich hier besonders den Einstieg, den Spannungsbogen und den Schluss bewusst. Wichtig ist auch die Entscheidung, von welcher Position aus, als welche Person ich erzähle. Erzähle ich vom Anfang ausgehend oder vom Schluss ausgehend? Erzähle ich in der ersten Person Singular? Dann vermag die Narratio die Hörer und Hörerinnen besonders anzusprechen, ist sie doch lebensnah und lädt unmittelbar zur Identifikation ein. Die Gefahr der Erzählung ist die Verselbständigung einer starken Geschichte, die so sehr auf die Hörer einwirkt, dass der biblische Text und auch unsere Aussage dahinter verschwinden.
Beispieltext aus Joh. 4, 5–14 Wie man diesen Text als Narratio gestalten kann, hat 1982 SIEGFRIED KETTLING vorgeführt. Sein Beispiel könnte auch den Versuch der Identifikation mit einem Gegenstand in der persönlichen Betrachtung beleuchten. KETTLING erzählt aus der Perspektive des Kruges, der am Brunnenrand zurückgelassen wurde. Wir zitieren eine Passage aus der Mitte der Erzählung:23 „Von Wasser sprachen die beiden, von totem Zisternenwasser und lebendigem Quellwasser. Natürlich war ich jetzt hellwach. Wasser ist ja fast mein einziger Lebensinhalt. Komisch, von einem sogar mir, dem Experten, völlig unbekannten Wunderwasser sprach der Fremde: Einmal trinken, aller Durst für immer gelöscht! Mir unsympathisch, wär’ ja gleich arbeitslos; meiner Herrin schien’s durchaus verlockend. Vor lauter Reden vergaß sie ganz das Schöpfen, hielt mich aber immerhin noch in der Hand. Irgendwie wollte der Fremde meiner Herrin klarmachen, sie sei eine Verdurstende (was natürlich Unfug ist, hat sie doch mich). Von ihren Männern war die Rede. Die kannte ich selbstverständlich alle: Mich liebten sie besonders, wenn ich ausnahmsweise was Besseres als Wasser enthielt. Aber was haben Männer mit dem Verdursten zu tun? Die Rede wurde so verworren, dass ich fast eingeschlafen wäre. Aber plötzlich rief der Fremde: ‚Ich bin es!’ Da ließ meine Herrin mich ruckartig los. Hart stieß ich auf die Brunnenkante, wo ich jetzt immer noch stehe. Sie lief nämlich einfach weg. Ob sie etwa das Zauberwasser bekommen hatte ...“
b. Themapredigten Homilie und Narratio sind also Muster der Textpredigt. Ihnen stehen ver23
S. KETTLING, CPH 1982, 132.
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schiedene Modelle der Themapredigt gegenüber. Themenpredigten haben den Vorteil, dass die rhetorische Kohärenz (durch das Thema) sehr hoch ist, während die Textnähe darunter etwas zu leiden hat, da ja der Text einem Thema untergeordnet wird. Manche Themaprediger missbrauchen dann auch den Text als ein bloßes „Sprungbrett“ für das, was sie sowieso immer schon, notfalls auch ohne den Text hätten sagen wollen.
1. Das Lernpsychologische Modell: Bei diesem Modell hat der Predigtprozess fünf Phasen: n Motivation: „Lernen setzt Motivation voraus.“ In der Motivationsphase suchen wir darum die Aufmerksamkeit des Hörers zu gewinnen. Wir sprechen noch nicht über ein Problem, sondern wenden uns z.B. einer Lebenssituation von Hörern zu und bereiten so die Vorstellung des Problems vor. Ein Beispiel, ein Bild, die Beschreibung einer Situation können uns dabei helfen. n Problemeingrenzung: In der zweiten Phase wird das Problem definiert. Worum geht es heute? Die in der ersten Phase erzählten Beispiele werden jetzt gebündelt und zu einer möglichst klaren Fragestellung zusammengeführt. n Lösungsversuche mit Versuch und Irrtum: Die dritte Phase dient der eigentlichen Problembearbeitung. Dabei können mehrere Lösungsmöglichkeiten durchgespielt werden. Diese Möglichkeiten müssen ernsthafte Lösungsansätze darstellen und nicht nur eine dunkle Folie für die um so heller aufstrahlende „richtige“ Lösung des Problems darstellen. Das gilt auch für den Fall, das der Prediger bzw. die Predigerin eine Lösung für eine ausgesprochene Sackgasse hält. n Lösungsangebot: Erst in der vierten Phase zeigt der Prediger bzw. die Predigerin, was er bzw. sie vorschlagen möchte. Hier soll vor allem der biblische Text mit seinem Lösungspotenzial zu Wort kommen. Jetzt kann die Perspektive des Glaubens zur Geltung gebracht werden. n Lösungsverstärkung: Die Lösungsverstärkung ist schließlich der Ort, an dem Beispiele erzählt werden, wie das Leben mit diesem Lösungsvorschlag aussehen könnte. Damit wird die Predigt davor bewahrt, nur allgemeine Weisheiten zu vermitteln, deren Lebens- und Alltagstauglichkeit nicht auf die Probe gestellt werden kann.24
2. Das Fünf-Satz-Modell: In der einfachen Form hat das Fünf-Satz-Modell eine Einleitung (mit Überleitung zum Hauptteil), im Hauptteil drei Hauptgedanken, gefolgt von (Überleitung und) Schluss. n Zur Einleitung kann nach E. WAGNER folgendes gehören: ein Abholsatz, eine Anrede, ein Leitsatz (das Herz der Einleitung!), die Vorstellung der Gliederung und der Übergang zum Hauptteil. 24
Vgl. R. HEUE UND R. LINDNER, Predigen, 35–39, P. BUKOWSKI, Predigt, 26–35.
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n Zum Hauptteil gehören: die Darstellung des Themas, Belege, Zitate, Illustrationen, notfalls die Widerlegung anderer Standpunkte, die Fixierung und Bearbeitung des Redeziels und u.U. auch ein Appell. n Zum Schluss gehören: Zusammenfassung und Konkretion, meist mit einer Wiederholung des Appells.25
Einige Hinweise zur Rede „mit drei Teilen“: Die Rede sollte ein Thema haben, und die Hörer sollten auch erfahren, zu welchem Thema sie heute etwas hören werden.
Zum Beispiel Joh. 4: Das Thema kann aus einem (oder mehreren) zentralen Begriff(en) des Textes bestehen (Wasser des Lebens), aber auch aus Gegenüberstellungen (Durst und Wasser), aus Fragen (Wie geht Jesus mit unserer Sehnsucht um?), Positionen (Zwischen Lebensdurst und Erfüllung), Ausrufen (Er kümmert sich um unseren Lebensdurst!) oder Aussagen (Bei Jesus findest du, wonach du dich sehnst!).26 Die Rede sollte auch so etwas wie einen Leitsatz haben. Verraten Sie doch der Gemeinde, wohin die Reise gehen soll. Ein ehrlicher Reiseleiter wird seine Reisegesellschaft darüber nie im Unklaren lassen. Abgesehen davon hilft der Leitsatz Ihnen selbst, geistige Disziplin zu wahren und nicht von einem Thema zum anderen zu springen. Der Leitsatz ist mit dem Thema eng verwandt, aber nicht unbedingt identisch. Er ist wiederum eher „pfeilförmig“. Seine Gefahr ist es, zu früh das „Ergebnis“ der Predigt zu nennen.
Zum Beispiel Joh. 4: „Ich möchte heute zeigen, wie sehr sich Jesus um unsere Sehnsucht nach Leben kümmert.“ Das wäre eine klare Zielaussage, die aber nicht allzu viel vorwegnimmt. Sie ermöglicht aber die kritische Überprüfung, ob ich denn auch halte, was ich zu Beginn verspreche.27 Achten Sie darauf, dass der Leitsatz „Appetit macht“ und zum aufmerksamen Mitdenken anregt. Die Rede braucht eine Gliederung, auch wenn ich sie nicht in jedem Fall erwähne. Es ist kein homiletisches Gesetz, dass eine Predigt drei Teile haben muss. Aber es ist ein sehr gut begründetes, von zahlreichen Predigern bewährtes Modell der Gliederung. Es ist psychologisch geschickt, denn drei Teile sind weder zu viel noch zu wenig.28 Es ist durch zahlreiche Triaden gut begründet: wir haben es mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu tun. Wir glauben an Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Wir wollen kognitive, affektive und pragmatische LernE. WAGNER, Rhetorik, 39. A.a.O., 46–48. 27 Ähnlich: A.a.O., 52f. 28 Als eine Predigerin vor kurzem sieben Teile ihrer Predigt ankündigte, reichte schon das aus, um unsere Töchter (13 und 14 Jahre) zum inneren Abschalten zu bringen. 25 26
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ziele erreichen. Als konkretes Modell einer dreigeteilten Rede eignet sich die Unterscheidung von Exposition (Wie es ist), Opposition (Wie es sein sollte) und Proposition (Wie es anders werden kann).29 Die Gliederung muss logisch sein. H.-G. PÖHLMANN30 erwähnt fünf Regeln für eine logische Gliederung: (1) Sie darf nur nach einem einzigen Gesichtspunkt vorgenommen werden. Man kann also nicht die Menschen in Europäer, Handwerker und Jugendliche einteilen. (2) Sie muss erschöpfend sein. Das Ganze und die Teile müssen sich also decken. (3) Die einzelnen Gliederungspunkte müssen sich gegenseitig ausschließen. Es darf also im zweiten Punkt nichts vorkommen, was auch im ersten hätte stehen können. (4) Die verschiedenen Einteilungsgrade dürfen nicht vermengt werden. Man kann die Menschen also auch nicht in Europäer, Italiener und Kölner einteilen. (5) Die Gliederung muss übersichtlich sein. Dem dienen Stilmittel, die einen Gleichklang der Überschriften fördern (z.B. durch Alliterationen, durch drei Fragen oder ähnliches). Wir würden noch ergänzen, dass die Teile einer Gliederung nach inhaltlichem Gewicht, aber auch Länge in etwa gleichwertig sein sollten. Es ist für die Hörer eher belastend, wenn sie einem ersten Hauptteil zuhören, der schon 15 Minuten dauert. Sie fürchten (mit Recht?) das Folgen zweier ähnlich langer Hauptteile. Außerdem soll die Gliederung auch die Merkbarkeit der Predigt fördern: Darum ist kurzen Überschriften der Vorzug vor langen und komplexen Titeln zu geben. Manchmal helfen beim Umgang mit den Gliederungsteilen auch weitere Aufbauschemata für den Hauptteil. So kann entweder in Teil 1 eine Frage ausführlich vorgestellt werden, auf die die Teile 2 und 3 zwei verschiedene Antworten geben. Auch das Gegenstück ist möglich: Auf zwei Fragen in Teil 1 und 2 wird in Teil 3 eine Antwort angeboten. Es kann aber auch sein, dass jeder Teil sich erst aus dem vorhergehenden ergibt, also Teil 2 logisch aus Teil 1 folgt wie Teil 3 aus Teil 2. Auch wenn es etwas steif und wenig originell erscheint: Die gegliederte Rede ist eine der sichersten Predigtformen.
Eine einfache Regel von E. WAGNER lautet:
„In der Einleitung sagen Sie, was Sie sagen wollen. Im Hauptteil sagen Sie es. Im Schluss sagen Sie, was Sie gesagt haben.“31
Beispieltext aus Joh. 4, 5–14 Ein besonderer Freund der Gliederung in drei Hauptsätzen ist GOTTFRIED VOIGT. Unermüdlich sucht er leicht nachvollziehbare Dreierschemata. Zu 29 30 31
Vgl. E. WAGNER, Rhetorik, 55. Referiert a.a.O., 56f. A.a.O., 39.
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unserem Text ergab das diese Gliederung: „Christus kommt auch zu den anderen: (1) Er durchbricht das Tabu; (2) Er spendet das Leben; (3) Er ist es selbst.“32 Wir wählen auch den Dreisatz, bilden ihn aber etwas anders: „Jesus und die Frau am Brunnen (1) Weihnachten – Jesus geht weite Wege (2) Wasser – Jesus stillt den Lebensdurst (3) Weitersagen – Jesus schickt auf neue Wege“
3. Das Dialektische Modell: Hat der Prediger bzw. die Predigerin das Thema der Predigt im Einstieg benannt, so wird nun zunächst eine These A formuliert. Es kann sich dabei um eine Aussage des biblischen Zeugen handeln. Dieser These wird dann eine Gegenthese B gegenübergestellt. Diese kann einen möglichen Hörereinwand aufgreifen, aber auch aus dem Streit, der im biblischen Text thematisiert wurde, herausgegriffen werden. Der Prediger oder die Predigerin kann dann eine Synthese C bilden oder aber sich auf die Seite von A oder B schlagen.33 Eine Predigt über Gal. 2,11–21 oder Apg. 15, 36–41 ließe sich auf diese Weise spannend gestalten.
Aufgabe: Entscheiden Sie sich für eine Partition. Überlegen Sie, warum Sie gerade diese Partition wählen: weil sie z.B. dem Stil des Textes nahe kommt, wie etwa eine narrative Predigt bei einem erzählenden Text oder eine Homilie bei einem argumentativen Text. Wenn Sie sich für eine Partition entschieden haben, schreiben Sie sie auf einen großen Bogen und ordnen Sie den Predigtstoff den Gliederungspunkten logisch zu. Bei einer Fünf-Satz-Rede könnte das (z.B. auf einem Blatt Zeichenpapier) so aussehen (und noch durch verschiedene Farben, durch Unterstreichungen oder andere Symbole transparenter gemacht werden): Einstieg Punkt 1
Punkt 2
Punkt 3
Schluss Für spontane Predigtautorinnen und –autoren, denen erst einmal die Rede so aus der Feder fließt (oder in den Computer strömt), bis sie etwas er32 33
G. VOIGT, Gerechtigkeit, 104. Vgl. R. HEUE UND R. LINDNER, Predigen, 34
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schöpft und erstaunt sehen, was da fertig vor ihnen liegt, die also eine Predigt nicht wie ein Architekt sein Haus erst skizzieren und dann bauen, empfiehlt sich nach einer Idee von PETER BUKOWSKI wenigstens eine nachträgliche Aufbau-Analyse, um die eventuell eingeschlichenen Fehler noch zu beheben. Dabei helfen eine Reihe von Fragen: Kann ich meine Predigt nachträglich gliedern? Gibt es einen „roten Faden“? Wo liegen die Schwierigkeiten? Gibt es logische Brüche oder fehlende Zwischenglieder? Muss ich etwas umgruppieren, damit der Gedanke klarer zum Ausdruck kommt (Methode: Schere und Klebstoff. Moderner: Markieren, Ausschneiden, Einfügen)? Ist meine Predigt vielleicht zu komplex? Oder ist sie im Gegenteil zu diffus und ziellos? Ist mein inhaltlicher Schwerpunkt auch in der Rede dominant? Halte ich, was ich versprochen habe? Welche theologischen Grundentscheidungen spiegelt meine Gliederung wider (z.B. „Gesetz und Evangelium“, Frage und Antwort, Zuspruch und Anspruch)?34
5.2.2.3 Der Predigteinstieg
„Die ersten Sätze eines Textes haben immer etwas von einem Schöpfungsbericht an sich: Sie eröffnen mit wenigen Strichen den Horizont, entwerfen die Bühne, auf der sich alles weitere abspielt“ (ROLF ZERFASS)35
Der Einstieg soll neugierig machen und zum Hören motivieren; er soll zum Thema der Predigt hinführen, selbst aber nicht so „stark“ sein, dass der Hörer beim Einstieg hängen bleibt – er hat dienende Funktion. Ich kann textbezogen beginnen (z.B. durch Nacherzählung eines Textteils), gottesdienstbezogen (z.B. durch den Bezug zum Kirchenjahr), auch gemeindebezogen (etwa mit dem Hinweis auf eine aktuelle Frage in der Gemeinde) oder durch eine Anekdote (wenn sie passt!), eine kleine Geschichte o.ä. Wie wichtig der Einstieg ist, wird daran deutlich, dass sich die Aufmerksamkeit meiner Hörer in den ersten Minuten entscheidet. Gewinne ich sie hier, so lassen sie sich eine ganze Weile mit auf die rhetorische Reise nehmen. Verliere ich sie hier, wird es sehr schwer, ihr Ohr zu gewinnen. Einige Hinweise zum Einstieg: n Der Einstieg sei kurz und präzise. Vergeuden Sie nicht die Zeit höchster Aufmerksamkeit mit zu ausführlichen Anekdoten etc. am An-fang. n Er sei auch thematisch offen, so dass er zum Mitdenken einlädt. n Es soll nicht mehr als einen Einstieg geben (manche Prediger setzen dreimal an!). 34 35
Vgl. P. BUKOWSKI, Predigt, 23. R. ZERFASS, Grundkurs, I, 133.
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n Der Einstieg ist die Einleitung zur ganzen Rede und nicht nur zum ersten Hauptteil (ebenso wie der Schluss das Ende der gesamten Rede darstellt und nicht nur zum letzten Hauptteil gehört).36 n Hüten Sie sich davor, den Text zu problematisieren – von der Spur kriegen Sie den Hörer nicht mehr weg. Eine Problematisierung kann auch so aussehen, dass ich der Gemeinde ankündige, dass sie nichts Neues zu hören bekommen wird: „Diese Geschichte kennen wir alle seit unserer Kindheit ...“ n Versprechen Sie mit dem Einstieg nicht mehr, als Sie mit der weiteren Predigt halten können. Sonst ist es, als ob Sie nach einer edlen Vorspeise nur Erbsensuppe reichen. Fragen, die Sie jetzt stellen, müssen Sie auch beantworten. n Der Einstieg führe auch nicht in die Irre: Man soll nicht links blinken und dann rechts abbiegen (so R. ZERFASS)37 n Über (fast) alles dürfen Sie hier reden, nur nicht über die Predigtwerkstatt: „Als ich gestern Abend (!) anfing, mir Gedanken über diesen schwierigen Text zu machen ...“ Das ist etwa so spannend, als wenn der Zeitungsverkäufer uns über seine Rückenschmerzen aufklärt, die ihm das Schleppen der Zeitungsbündel bereitet hat. Diese Selbstthematisierung ist an dieser Stelle sicher nicht sinnvoll. Zum Einstieg gehört die Aufklärung, was ich als Prediger in den nächsten 15 bis 20 Minuten vorhabe: Ich benenne das Thema, um das es gehen wird, vielleicht auch (s.o.) meine Absicht.
Aufgabe: Bitte entscheiden Sie sich nun für einen Einstieg und formulieren Sie ihn wörtlich aus. Beachten Sie bitte, dass auch die Benennung des Themas oder eines Zieles zu diesem Schritt gehört. Warum haben Sie sich gerade für diesen Einstieg entschieden? 5.2.2.4 Der Schluss
„Es sollte keinen Schluss ohne Ende und kein Ende ohne Schluss geben.“ (WERNER SCHÜTZ).
„Es gibt viele Möglichkeiten, eine Predigt zu schließen: Rückbezug auf die Einleitung, Bündelung der wichtigsten Gedanken, Verstärkung der Hauptaussage, Paränese, Gebet, Lobpreis.“38
36 37
Vgl. ausführlicher bei E. WAGNER, Rhetorik, 40f. R. ZERFASS, Grundkurs, I, 136.
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Wichtig ist nur eines: dass Sie wirklich zum Schluss kommen, besonders wenn Sie ihn angekündigt haben – und dann nicht noch seiten- bzw. minutenlang weitermachen! Der Schluss sollte nichts Neues mehr bringen, sondern das Gesagte bündeln, zuspitzen und zusammenfassen. Der Schluss kann durchaus paränetisch sein. Jesus schließt so das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ab: „So gehe hin und tue desgleichen“ (Lk. 10, 37). Der Schluss kann ein Lobpreis sein. Der Schluss kann auch den Einstieg wieder aufnehmen und so die Predigt abrunden.
Zweierlei sollte man meiden: n Erstens einen Schluss, der das nachliefert, wozu es nicht mehr ganz gereicht hat: vor allem einen sogenannten christologischen Schwanz. Entweder es gelingt Ihnen zu zeigen, warum in diesem alttestamentlichen Text von Christus zu predigen ist – oder Sie lassen es ganz. n Zweitens einen Schluss, der die Aussage der bisherigen Predigt nivelliert, einebnet, theologisch korrekt zurückschneidet. Da haben Sie vielleicht einmal Buße gepredigt – dann ebnen Sie das bitte nicht wieder ein durch ein paar freundliche Sätze darüber, dass wir ja alle zuletzt doch angenommen werden. Oder Sie haben einmal nur getröstet. Lassen Sie es stehen und meinen Sie nicht, Sie müssten jetzt auch noch ein paar Ermahnungen loswerden. Anders gesagt: Bleiben Sie Ihrem Ziel treu! Wagen Sie auch Einseitigkeit, sonst werden Sie nicht wahrgenommen. Eine biblische Ausgewogenheit wird die Kette Ihrer Predigten bieten, nicht die einzelne Predigt, in der Sie meinen, alles sagen zu müssen und darum letztlich nichts mehr sagen werden.39 Der Schluss ist nicht das Ende der Predigt: es geht weiter, im Lied der Gemeinde, in der seelsorglichen Aussprache, im Gespräch beim Kaffee, im Alltag der Gemeindeglieder. Ein offenes Ende der Predigt ist darum möglich, ja manchmal eine notwendige Provokation.
Aufgabe: Bitte entscheiden Sie sich jetzt für einen Predigtschluss und begründen Sie kurz Ihre Wahl. Formulieren Sie den Schluss aus. Zur Probe: Wie verhält sich der Schluss zum Einstieg? Und: Haben Sie eingelöst, was Sie im Einstieg versprochen haben? 5.2.2.5 Wider die Kleinverständlichkeit – Die Arbeit an der Verständlichkeit der Rede Wer fürchtet nicht das Kleingedruckte in Verträgen, die Fallen, die sich in engzeilig und kleinbuchstabig Geschriebenem verbergen? Ebensolch ein Grund zum Fürchten ist aber auch das „Kleinverständliche“ in der Kan38 39
P. BUKOWSKI, Predigt, 21. So auch a.a.O. 22.
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zelsprache, das eine mangelhafte Fähigkeit oder Willigkeit zum klaren Ausdruck durch Prediger bzw. Predigerin verrät. Darum geht es in diesem Abschnitt. Um es gleich vorweg zu sagen: Was nun folgt, hilft am besten in der kritischen Durchsicht der eigenen Texte, nachdem sie verfasst und bevor sie auf der Kanzel gesprochen wurden. Eher in der Kontrolle und zum Zweck der Korrektur als im Vollzug der Konstruktion vermag das Folgende dem Prediger bzw. der Predigerin zu helfen. Verständlichkeit ist ein Dienst an der Gemeinde, ein diakonischer Akt der Prediger und Predigerinnen. WOLF SCHNEIDER schimpft über die „schlechten Handwerker, die großen Komplizierer, die eitlen Schwätzer, die Satzschachtelkonstrukteure, die Sünder wider die Verständlichkeit“ und er fordert nur eines, eine „Service-Gesinnung“.40 Wenn es schon so sei, dass beim Übermitteln von Nachrichten einer sich plage müsse, nämlich der Schreiber oder der Leser, dann möge doch der Schreiber sich plagen. Das lässt sich trefflich auch auf Predigende und Gemeinde übersetzen: entweder plagt sich der Prediger oder die Gemeinde. Ist es dann nicht besser, wenn der Prediger es tut? Arroganz, Gleichgültigkeit gegenüber der Gemeinde oder schlichte Trägheit wären die einzigen Gründe, die ihn davon abhalten könnten.
Schlechtes Deutsch „Kleinverständlichkeit“ beginnt mit schlechtem Deutsch. Grammatische Fehler und eine ungeschickte Wortwahl sind in Predigten leider recht häufig anzutreffen. Da wird z.B. „scheinbar“ mit „anscheinend“ verwechselt. Beim Scheinbaren trügt eben der Schein, während das Anscheinende noch offen ist. Gottesdienste finden in manchen Orten vierzehntäglich statt, hoffentlich aber nicht vierzehntägig, denn ein vierzehn Tage dauernder Gottesdienst wäre doch eine arge Überforderung. Gebeten wird in zahllosen Fürbittengebeten „für Regen oder mehr Gerechtigkeit“, obwohl ich höchstens „um Regen und um mehr Gerechtigkeit für die Völker der Dritten Welt“ bitten kann. Ein vernunftbetonter Mensch ist rational, aber nicht rationell; die Verminderung des Aufwandes dagegen wäre rationelles Arbeiten. Der Prediger erzählt ein Beispiel, aber er „bringt“ es nicht. Auch im Alltagsdialog geschieht es oft, dass sich jemand entschuldigt; dabei kann ich mich nicht selbst entschuldigen, sondern nur um Entschuldigung bitten. Gute Werke werden auch nicht „gemacht“, sondern getan. „Wir lesen uns“ auch nicht ein Kapitel, sondern lesen aus einem Kapitel (vor). Wir sollten Menschen ansprechen, aber nicht Fragen – die werden gestellt oder angeschnitten. Immer häufiger fällt auch der Gebrauch der Fälle schwer, und das nicht nur beim leidgeprüften Genitiv (wegen des Wetters ...), sondern auch in anderen Fällen: „Ich habe heute mit Herr Meyer Kunst gehabt“, ist eine nahezu unaus40
W. SCHNEIDER, Wörter, 251–254.
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rottbare Formel geworden. Dass der Plural von Lexikon Lexika heißt, ist noch eher bekannt als die Tatsache, dass das Virus im Plural zu den Viren wird. Auch Steigerungen bieten zahlreiche Probleme: beliebt ist der Versuch zu steigern, was eigentlich nicht mehr zu steigern ist. Dann wird Noah mit den Seinen etwa zu den „einzigsten“ Geretteten der Sintflut. Auch „optimalste“ Lösungen werden uns dann vorgeschlagen.41 Verständlichkeit ist messbar! Sie ist nach F. SCHULZ VON THUN42 an vier klare Kriterien gebunden: Erstens: Einfachheit und Kompliziertheit
„Je einfacher denken, ist oft eine wertvolle Gabe Gottes“ (KONRAD ADENAUER).43
Mein Name: Einfachheit: „Bei mir kann man alles gut verstehen. Ich mache kurze Sätze und verwende bekannte Wörter. Fachwörter werden erklärt. Und ich bringe die Sachen anschaulich, so dass sich jeder was darunter vorstellen kann. Ich rede wie ein normaler Mensch, nicht wie ein Gelehrter.“ contra
Mein Name: Kompliziertheit: „Mein Name, welcher sich als kontradiktorischer Gegensatz zu dem soeben dargestellten Gegenpol gibt, subsummiert all jene stilistischen Charakteristika, die die Rezeption auf der Wort- und Satzebene behindern, wobei extrem verschachtelte Satzkonstruktionen ebenso wie die multiple Verwendung von Fremd-, Fach- und sonst wie esoterischen Wörtern zu einem (nicht selten auch Prestigezwecken dienenden) hoch-elaborierten Sprachmuster auf meist hohem Abstraktionsniveau beitragen.“44
41 42 43 44
Eine schöne Sammlung solcher Fehler bietet E. WAGNER, Rhetorik, 124–137. F. SCHULZ VON THUN, Miteinander reden, I, 140–155. Zitiert bei W. SCHNEIDER, Wörter, 263. F. SCHULZ VON THUN, Miteinander reden, I, 143.
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Erläuterungen zur Einfachheit der Sprache: Einfachheit ist der deutschen Sprache nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Sie bildet zahlreiche Umklammerungen, etwa in dem Satz: „Hans hat seine Grete ...“ – gefunden oder verloren, geliebt oder gehasst, getroffen oder verpasst, geküsst oder geohrfeigt? Erst das Ende klärt den Leser auf, denn Grete wird von Hilfsverb und Verb umarmt: „Hans hat seine Grete umarmt.“ Wie groß war gerade die Begeisterung, als ich beim Abendessen den Kindern mitteilte: „Wir haben beim Preisausschreiben zur Wahl des Sportlers des Jahres ...“ Und wie groß war die Enttäuschung, weil es endete: „... leider nichts gewonnen.“ Wir brauchen also transparente Sätze, die Hörerinnen und Hörer nicht in die Irre führen. Diese Problematik gibt es weder im Englischen noch im Französischen. Sie ist im Deutschen nahezu unvermeidlich, wird aber hier noch gesteigert, wenn wir den Schachtelsatz bilden: die „aus Nebensätzen, Partizipien und Appositionen kunstvoll getürmte, durch ein System von Abhängigkeiten und Unterabhängigkeiten versteifte Schachtel-in-der-Schachtel-Konstruktion.“45 Beim Schachtelsatz wird die Mühe der Verständigung wiederum verschoben: vom Autor, Redner, Prediger zum Leser, Hörer, Gemeindeglied. Anders gesagt: „Findet hier nicht ein aufwendiger Unfug statt? Da sitzt ein Schreiber und knobelt, wie er ein Dutzend ganzer oder halber Gedanken in einem einzigen Satzgebilde unterbringen kann; und dann sollen tausend Leser dasitzen und aus der Schachtel das wieder herausknobeln, was der Autor in sie hineingeknobelt hat.“46 Ob nicht so mancher Prediger des „Gedankens Blässe“ hinter monströsen Satzkonstruktionen zu verbergen sucht? WOLF SCHNEIDER rät, wie wir es besser machen und Einfachheit fördern können – im Dienst der Verständlichkeit. Er empfiehlt Sätze wie Pfeile: in denen aufeinander folgt, was nacheinander gehört. Nicht nur räumlich, sondern auch logisch, chronologisch, psychologisch folgt eins aus dem anderen.47 Dabei ist uns auch der Nebensatz willkommen. Die Forderung lautet durchaus nicht: Predigt nur noch in Hauptsätzen! Nur sollte der Nebensatz kein Zwischensatz sein, sondern ein Vor- oder Nachsatz. „Der Nebensatz ist der Freund und Helfer der Verständlichkeit, sobald er hinten steht und sich auf ein Substantiv bezieht, das ihm möglichst eng benachbart sein sollte.“48 Zum Beispiel Joh. 4: Sagen Sie nicht: „Jesus ging, weil er den Kontakt zu ihr suchte, auf die Frau am Brunnen zu.“ Sondern: „Jesus ging auf die Frau am Brunnen zu, weil er Kontakt zu ihr suchte.“ 45 46 47 48
A.a.O., 266. A.a.O., 268. A.a.O., 271. A.a.O., 271f.
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Gelegentlich kann man auch beobachten, dass Hauptsachen in Nebensätze verbannt werden bzw. Nebensächliches in Hauptsätzen residiert. Auch hier ist die Regel einfach: die Hauptsache soll im Hauptsatz wohnen und dort auch schnell als Hauptsache zu erkennen sein. WOLF SCHNEIDER hat Konkretionen angeboten zur SCHULZ VON THUNSCHEN Regel der Einfachheit:49 n Kurze Wörter sind im Durchschnitt leichter, mindestens rascher verständlich als lange Wörter. n Geläufige Wörter sind leichter verständlich als seltene Wörter. n Konkrete und bildhafte Wörter sind leichter verständlich als abstrakte Wörter. n Keine Polyseme: Polyseme sind Wörter mit mehreren Bedeutungen wie z.B. Ball. n Keine Synonyme: wenn ich einen Sachverhalt klar benannt habe, sollte ich nicht versuchen, um der sprachlichen Eleganz willen Synonyme dafür zu suchen, die u.U. eher verwirren als erschließen. n Verben sind besser als Substantive – und Verben im Aktiv sind besser als Verben im Passiv. Es ist sicher dynamischer zu sagen: „Gott hat Sie lieb“ als von der Liebe Gottes zu reden. Ein besonderes unerquickliches Beispiel für die mangelnde Einfachheit der Predigt ist der folgende passive Imperativ, der sich in einer Predigt fand: „Lasst es [das Hindernis, von dem zuvor die Rede war] beseitigt werden!“ Dahinter verbirgt sich neben dem sprachlichen ein sachliches Problem: Die Predigerin traute sich nicht, Ross und Reiter zu nennen und den Hörern unter Umständen zu nahe zu treten. Hätte sie gesagt: „Beseitigt doch dieses Hindernis!“ und hätte sie beschrieben, wie die Hörer das tun könnten, so wäre dies nicht nur sprachlich besser gewesen, sondern auch konkreter, allerdings auch angriffiger und angreifbarer. n Keine imaginären Substantive: „Der Zufall wollte es so, dass ...“ Wer ist der Zufall? Das Unwetter forderte sieben Tote. Wer ist das Unwetter, dass es fordern könnte? n Möglichst wenige Verneinungen – und schon gar keine doppelten Verneinungen. „Er sah mich nicht ohne Missfallen.“ Was denn nun? n Und schließlich: Damit ein Text verständlich ist, muss er abwechslungsreich geschrieben sein, Spannung und Dynamik haben.
Der wichtigste Hinweis zu diesem Thema hat etwas mit der Art zu tun, wie wir Texte, auch Predigten produzieren. Sie entstehen zumeist am Schreibtisch, auf dem Papier oder im PC als „Schreibe“. Rede aber ist nicht „Schreibe“. Gerade schreibgewohnte Redner müssen hier umler49
Die folgenden Regeln finden sich a.a.O., 286–289.
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nen: es ist darum wichtig, entweder Texte im „Sprechdenken“ (R. ZERFASS) zu entwickeln oder aber geschriebene Texte laut zu lesen und dann in Richtung auf eine verbesserte Sprechbarkeit zu überarbeiten.50 Ein kleiner Test kann uns die Einfachheit oder Kompliziertheit unserer Sprache aufdecken: Kann ich jeden meiner Sätze nach kurzem Vergegenwärtigen mühelos und frei sprechen?
Zur Einfachheit gehört auch die in der Rede gegenüber der Schreibe nötige Konturierung, auch wenn sie auf Kosten der Kürze gehen kann. Man muss beim Sprechen sprachliche Marker setzen, die unterstreichen, was ich betonen möchte, vorbereiten, verknüpfen, betonen usw. Beispiele: „Ich sage das deshalb, weil wir ...“, „Ich habe keinen Zweifel daran, dass ...“, „Dann müssen wir uns entscheiden, ob wir das wollen, oder ob wir das nicht wollen.“ Schreibe ist dieser Satz: „Von Gottes Sendung her zu denken, bedeutet, von Evangelisation, Weltmission, Diakonie und Gemeindeaufbau her zu denken.“ Rede dagegen wäre: „Wer von Gottes Sendung her denkt, wird erstens an Evangelisation denken ... Wer von Gottes Sendung her denkt, wird zweitens an Weltmission denken ...“ usw. Für uns Theologen ist der Fachjargon der beste Freund der Kompliziertheit. Er hat ja sein Recht: Er erlaubt das Gespräch unter Fachleuten. Der Gebrauch von theologischem Vokabular erleichtert das Gespräch, weil komplexe Zusammenhänge in knappe Formeln gegossen werden können. So kann man sich eben zurufen: „In Barmen III ist die Ekklesiologie der Bekennenden Kirche zu erkennen.“ Will ich das aber einer Gemeinde mitteilen, so vereitelt der Fachjargon diese gute Absicht. Er richtet einen verbalen Zaun auf, denn der Konfirmand wird Ekklesiologie für eine Infektionskrankheit halten, und der Handlungsreisende wird nachdenken, ob Wuppertal-Barmen wirklich drei Bahnhöfe habe. Das Resultat wird sein, dass der Theologe aus Greifswald sich mit dem Theologen aus Chicago besser verstehen wird als mit dem Gemeindeglied aus Greifswald. Stellen Sie sich vor, Ihr Zahnarzt müsste Sie verstehen! „Das Vergnügen, sich dem Zirkel der Eingeweihten zuzuzählen, verbindet sich sinnreich mit der Lust an der Einschüchterung derer, die nicht dazugehören – ein Imponiergehabe, das sich der entlegendsten und pompösesten Wörter lustvoll bedient.“51
50 51
Vgl. dazu ausführlich E. WAGNER, Rhetorik, 118–124. W. SCHNEIDER, Wörter, 279.
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Zweitens: Gliederung und Ordnung
Mein Name: Gliederung, Ordnung: „Ich tue alles, damit der Leser sich zurechtfindet und die Übersicht behält. Wie erreiche ich das? Indem ich sowohl für äußere Übersichtlichkeit als auch für innere Folgerichtigkeit sorge: a. Äußere Übersichtlichkeit („Gliederung“) Dazu gehört die Ankündigung, wie der Text aufgebaut ist; dazu gehören Absätze, Überschriften, strukturierende Bemerkungen und die Hervorhebung wichtiger Stellen. b. Innere Folgerichtigkeit („Ordnung“): Dazu gehört, dass alles logisch aufeinander aufbaut, dass alles schön der Reihe nach kommt. Auf gedankliche Beziehungen und Querverbindungen wird deutlich hingewiesen.“ contra
Mein Name: Unübersichtlichkeit, Zusammenhanglosigkeit: „Bei mir kommt alles hintereinanderweg, so wie es gerade kommt. Wichtige Wörter oder Sätze werden nicht hervorgehoben, und vieles geht durcheinander. Ich mache kaum Absätze, und der Leser weiß nicht, wohin die Reise geht. Ich heiße auch noch so, weil die Übersichtlichkeit nicht gegeben ist, aber am Anfang lege ich gleich los, ohne zu sagen, worauf ich eingehen will. Der Leser weiß nicht, wie alles zusammengehört. Manche Sätze stehen beziehungslos nebeneinander.“52
„Der Weg, den ich mit dem Hörer zusammen gehen will, muss ihm einleuchten, wenn er mitgehen soll. Es sollen ihm möglichst wenig ‚Brüche’ und ‚Sprünge’ zugemutet werden, sonst verliert er die Lust und hängt seinen eigenen Gedanken nach.“53 Ein typisches Problem an dieser Stelle entsteht schon am Schreibtisch: Wir möchten so viel sagen! Und dann sagen wir zwei Dinge in einem Gedanken. Die Kontrollfrage könnte lauten: Wie bauen sich die Gedanken aufeinander auf? Notfalls müssen wir die Gedankengänge entzerren. In einer Predigt über Joh. 7,37–39 fand sich der folgende Satz: „Und 52 53
F. SCHULZ VON THUN, Miteinander reden, I, 144. R. ZERFASS, Grundkurs, I, 94.
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doch hat die Versöhnung mit Gott, das Inbeziehungstehen mit ihm Auswirkungen auf dein ganzes Leben und Sterben.“ Abgesehen von anderen sprachlichen Schwächen will die Predigerin mit diesem Satz zu viel auf einmal sehen: von der Versöhnung springt sie schnell über zur Beziehung, im Nebensatz erfasst sie das ganze Leben und Sterben. Es ist hilfreich, die Disposition (4. Kapitel) ernst zu nehmen, also die Gedanken, die in der Predigt vorkommen sollen, in logischer Folge hintereinander aufschreiben. In der alten Homiletik warnte man gerne mit C.H. SPURGEON vor den sogenannten Hasenpredigten: „Wenn ein Jäger einem Hirsch nachjagt, kommt es vor, dass ein Hase aus dem Gebüsch aufspringt. Ein schlechter Jäger lässt den Hirsch und läuft erst einmal dem Hasen hinterher. Will sagen: Beim Nachdenken über den Hauptgedanken der Predigt tauchen Nebengedanken auf wie kleine Hasen. Manche gehen ihnen nach wie der schlechte Jäger dem aufgescheuchten Langohr und entfernen sich vom Hauptgedanken. Da fällt es schwer, wieder zum Eigentlichen zurückzufinden, wenn es überhaupt gelingt.“54 Also: Konsequent beim Verkündigungsziel bleiben! Drittens: Kürze und Prägnanz
Mein Name: Kürze, Prägnanz: „Viel Information mit wenig Worten, kurz und bündig, aufs Wesentliche beschränkt. Manchmal zu gedrängt.“ contra
„Gestatten, dass ich mich Ihnen vorstelle: Mein Name ist Weitschweifigkeit: Mit meinem Namen sind meine Eigenschaften, also diejenigen Merkmale, an denen man mich erkennen kann, schon angedeutet: Ich liebe es, viele Worte zu machen, oder anders ausgedrückt: Ich hasse es, mich kurz zu fassen und mich auf das Allerwichtigste zu beschränken. Oft hole ich weit aus und erkläre die Sache überaus ausführlich und umständlich. Obwohl man mit wenigen Sätzen alles Wichtige hätte sagen können. Manchmal schweife ich auch vom Thema ab oder berühre viele Nebensäch54
Berichtet bei K. EICKHOFF, Predigt, 111f.
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lichkeiten. Wenn ich einmal richtig in Fahrt komme, dann gerate ich vom Hundertsten ins Tausendste. Ich benutze also zwei Möglichkeiten, weitschweifig zu sein: Einmal die sprachliche Weitschweifigkeit (ein und dasselbe mit verschiedenen Worten wiederholen und „breittreten“), und zum anderen die inhaltliche Weitschweifigkeit (auf Nebensächliches kommen, weit ausholen und alles sehr ausführlich bringen). Während ein bisschen Weitschweifigkeit dem Leser durchaus hilft, tue ich des Guten zuviel.“55
Zwischen Telegramm und Abhandlung: Ist die Prägnanz zu hoch, so entstehen vor allem beim Hören „Lücken“, die der Hörer selbständig ausfüllen muss, um der Rede folgen zu können. Diese Lücken entstehen z.B. auch durch Fachbegriffe, die nicht erläutert bzw. „aufgetaut“ werden. In einer Predigt über 1. Kor. 12 etwa ging eine Studentin selbstverständlich davon aus, dass die Hörer um die Probleme in Korinth Bescheid wussten, sie ihnen also den Streit um die spektakulären Gnadengaben nicht eigens erklären müsste. Das Stichwort müsste reichen – das aber tat es nicht. Prägnanzlücken haben oft damit zu tun, dass wir bei den Hörern zu viel voraussetzen. Zu hohe Prägnanz entsteht auch, wenn in der Predigt die Zahl der Bilder zu hoch und ihre Folge zu schnell gerät. Es folgt Bild auf Bild, ohne dass eines dieser Bilder noch angeschaut werden könnte. Der Predigthörer gleicht einem Galeriebesucher, der vom eifrigen Galeristen von Bild zu Bild getrieben wird, dem kein Atemholen, Verweilen und Betrachten gegönnt wird. In einer Predigt über Joh. 7,37–39 etwa fand sich folgende Sequenz: „Durch sein Wort will Gott dich stärken, wenn du kraft- und mutlos bist. Wie ein ernstgemeintes Lob oder eine Hand, die dir hilft, wie Tau auf dürrem Land, wirkt dann das lebendige Gotteswort. Vielleicht entdeckst du auch in den Kleinigkeiten des Lebens – einem Gänseblümchen, dem Lächeln der Bäckereiverkäuferin oder dem Freudengesang eines Vogels – die Boten Gottes. Hört man eine Verliebte sprechen, so kann man die Ströme lebendigen Wassers spüren: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über! Wer viel hat, kann viel geben. Wie eine Brunnenschale ...“ Ich zähle 8 Bilder in wenigen Sätzen. Natürlich könnte man auch von zuviel zusätzlicher Stimulanz sprechen, doch interessiert uns hier die zu große Verdichtung der Sprache, die der Gemeinde keine Chance lässt auszuruhen und hinzuschauen. Anders gesagt, es geht in diesem Abschnitt um das rechte Maß an Redundanz. Redundanz ist das, was über die nackte Information hinausgeht und theoretisch auch weggelassen werden könnte. Im schlimmsten Fall ist Redundanz Weitschweifigkeit, ein nervtötender Wortschwall.56 Im 55 56
F. SCHULZ VON THUN, Miteinander reden, I, 145. W. SCHNEIDER, Wörter, 255.
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günstigsten Fall unterstützt Redundanz das Verstehen der Nachricht. Wie viel Länge über die reine Information hinaus nötig ist, hängt von sehr verschiedenen Faktoren ab. In unseren Breiten sinkt der Bedarf an Redundanz gegen Null, wenn jemand laut ruft: „Tooor!“ Wollte man dagegen einen home-run beim Baseball dem staunenden deutschen Publikum vermitteln, so reichte der Schrei „Home-run!!!“ sicher nicht aus. Der Redundanzbedarf hängt also vom Erfahrungshorizont und Vorwissen der Hörerinnen und Hörer ab. Dies ist für die Predigt von größter Bedeutung: Wie viel wissen unsere Hörerinnen und Hörer tatsächlich? Kann ich bedenkenlos im Nebensatz von Timotheus sprechen und die im Begriff „Heiligung“ eingefrorene Theologie sorglos als bekannt voraussetzen? Oder habe ich es (etwa bei einer Trauung) mit Menschen zu tun, bei denen schon der Hinweis, es gehe um „den Gekreuzigten“ einige Probleme auslöst? Jedenfalls muss ich mir klarmachen, wie viel Redundanz meine Hörerschaft braucht, um eine Chance des Verstehens zu haben. Darüber hinaus genießt jede Hörerschaft ein bestimmtes Maß an Redundanz: Kleine Phasen der Unaufmerksamkeit, die es selbst beim Predigthörer geben soll, werden so überbrückt. Dem Hörer wird eine Verschnaufpause gegönnt, ein Moment der Entspannung durch eine Zusammenfassung, ein Beispiel oder eine Anekdote. Er bekommt etwas zum Betrachten. Er bekommt hoffentlich auch etwas zum Lachen – und schon hebt sich seine Bereitschaft, dem Fluss der Gedanken wieder mit ganzer Aufmerksamkeit zu folgen. Natürlich ist vor übermäßigem Gebrauch zu warnen, vor dem „Zungen-Marathon“ (WOLF SCHNEIDER).57 Zu Beginn des 19. Jh. schrieb der Erweckungsprediger LUDWIG HOFACKER an einen Prediger: „Deine Predigten sind zu voll! Es ist zu viel drin. Die Sprache ist zu biblisch-schön. ... Du überstürmst deine Zuhörer mit biblischer Wahrheit. Du musst wahrhaftig etwas unbiblischer werden. Missverstehe mich nicht! Du musst deinen Text und seine Hauptwahrheiten mehr in Tagesworten erklären ... Die armen Menschen sind doch in der Erkenntnis der göttlichen Wahrheit viel weiter zurück, als wir denken. Wir müssen ihnen das Allereinfachste sagen, was zu ihrem Heil dient. Stelle dich doch einfach in einen Missionar hinein. Könntest du deine Predigt nach Inhalt und Form vor Heiden halten, vor denen man zum ersten Mal predigt? Ach nein! Man müsste ihnen viel, viel einfacher sagen, dass sie einen Heiland haben ... Man kann nicht populär genug reden, nicht einfach genug.“58
57 58
A.a.O., 259. In: R. SCHEFFBUCH, Hofacker, 41.
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Viertens: Zusätzliche Stimulanz
„Gestatten: Zusätzliche Stimulanz, aber Sie können ruhig Anregung zu mir sagen (da freut sich mein Kollege Einfachheit). Ich tue alles, damit ein bisschen Leben in die Bude kommt. Ich bin sozusagen das Salz in der Informationssuppe. Ohne mich hätte sie denselben Nährwert, aber mit mir ist sie schmackhafter. Und das fördert ja bekanntlich die Verdauung. Ich höre förmlich, wie Sie als Leser sagen: Anregung, du bist mir zwar ganz sympathisch, aber zuviel von dir würde die Suppe versalzen! Ich sage: Gut, aber vergessen Sie mich nicht ganz, wenn Sie selber mal kochen.“ contra
„Mein Name: Keine zusätzliche Stimulanz: Ich verzichte auf alles, was einen Text durch die Art der Darstellung interessant oder anregend machen könnte, wie z.B. direkte Anrede des Lesers, lebensnahe oder heitere Beispiele oder Vergleiche, Verwendung von wörtlicher Rede, Fragesätze usw. Ich vertraue darauf, dass der Inhalt von sich aus anregend wirkt und nehme es in Kauf, langweilig und unpersönlich zu wirken.“59 Zusätzliche Stimulanz bieten Geschichten, Beispiele, Zeugnisse von Menschen, kleine Heilige (wie zum Beispiel ADRIAN PLASS). SCHULZ VON THUN nennt einige Möglichkeiten60, der Rede bzw. auch Texten zusätzliche Stimulanz zu verleihen: n „Ich suche für jeden wichtigen Sachverhalt nach Beispielen aus meiner und der (vermuteten) Lebenswelt der Leser.“ n „Ich benutze häufig sprachliche Bilder, die Analogien zu elementaren Grunderfahrungen aufweisen.“ n „Ich spreche gelegentlich von mir selbst und bringe die Sachinformationen mit meiner Person in Verbindung.“ 59 60
F. SCHULZ VON THUN, Miteinander reden, I, 147. Zitiert nach F. SCHULZ VON THUN, a.a.O., 146–150.
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n „Manchmal personifiziere ich abstrakte Begriffe und lasse sie in wörtlicher Rede auftreten.“61
Zusätzliche Stimulanz kann auch durch Stilmittel erreicht werden, durch das Spiel mit sprachlichen Formen („ornatus“), die, behutsam eingesetzt, Wirkungen verstärken können. EBERHARD WAGNER nennt beispielsweise als „Wiederholungsformen“:62 n Tautologie. Das ist die Verstärkung durch Wiederholung mit gleichbedeutenden Worten: „Gott wird uns führen und leiten“ n Doppelung: „nein und nochmals nein“, „sehr, sehr viele.“ Die Poesie arbeitet mit diesem Stilmittel: „Singet leise, leise, leise, singt ein flüsternd Wiegenlied“, dichtet etwa BRENTANO in seinem Wiegenlied.63 n Anapher. Das ist die Wiederholung des Satzanfangs: „Es kommt darauf an, dass wir heute wieder anfangen ... Es kommt darauf an, dass wir nicht länger warten ... Es kommt darauf an, dass wir endlich die Konsequenzen ziehen ...“ n Refrain. Dabei wird das Satzende wiederholt. „Gott segnet seine Gemeinde. Sie aber bleibt stur. Gott redet deutlich mit seiner Gemeinde. Sie aber bleibt stur. Gott bittet. Sie aber bleibt stur. Gott mahnt. Sie aber bleibt immer noch stur.“ n Kette: Anders als beim wenig eleganten Kettensatz knüpft der jeweils folgende Satz an seinen Vorgänger an: „Wer glauben will, muss zuerst hören. Wer hören will, muss sich dort einfinden, wo es etwas zu hören gibt. Wer sich dort einfinden will, muss ...“ n Alliteration. Die Wörter einer Gruppe fangen mit demselben Buchstaben an: „Petrus starrte auf den Wind und die Wellen.“, „Bei der Heilsarmee geht es um Suppe, Seife und Seelenheil.“ Diese Stilmittel sollten aber nicht zur „Stilfigur des gnadenlosen Hämmerns“64 verkommen.
Exkurs: Die sprachliche Miniatur in der Predigt 65 Hier geht es um kleinste Sprachgebilde, die einen kleinen Vorgang beschreiben oder eine kurze Begegnung erzählen. Miniaturen können einen Gegenstand betrachten oder etwas Abstraktes erklären. Wir nennen sie Miniaturen, weil sie in der Verkleinerung die Wirklichkeit möglichst genau abbilden, und dem Hörer eine Vorstellung, ein Wissen, ein Gefühl oder ein Bild vermitteln. Ihre sprachliche Gestaltung erfordert Sorgfalt, gerade weil sie so klein sind: Sie gehören zur „Kleinkunst”. Sie setzen
61 Das muss bewusst geschehen, um nicht in die Falle zu tappen, die wir oben als „imaginäre Substantive“ kritisiert haben. 62 E. WAGNER, Rhetorik, 205–208. 63 Als Beispiel gefunden bei W. SCHNEIDER, Wörter, 67. 64 A.a.O., 69. 65 Gekürzte Fassung eines Textes von FALK BECKER, Isenstedt.
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aufmerksames Beobachten und Wahrnehmen voraus. Sie haben an sich noch keinen Wert, sondern tun ihren Dienst erst im Kontext, als zusätzliche Stimulanz. Dennoch sind sie für die Hörer von großem Wert: sie geben ihm die Chance, seine Sinne zu gebrauchen und zu verweilen. Die Hörer können eine Anschauung mit nach Hause nehmen und mit ihrer Hilfe die anderen, gewichtigen, gehaltvollen und anspruchsvollen Teile der Predigt erinnern.
Biblische Beispiele: n Ps. 124,7: „Unsre Seele ist entronnen wie ein Vogel dem Netze des Vogelfängers; das Netz ist zerrissen, und wir sind frei.“ n Ps. 130,6: „Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen; mehr als die Wächter auf den Morgen.“ n Mk. 1,16–18: „Als er aber am Galiläischen Meer entlangging, sah er Simon und Andreas, Simons Bruder, wie sie ihre Netze ins Meer warfen; denn sie waren Fischer. Und Jesus sprach zu ihnen: Folgt mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen! Sogleich verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach.“ n Mk. 6,46: „Und als er sie fortgeschickt hatte, ging er hin auf einen Berg, um zu beten.“ n Röm. 5,7–8: „Nun stirbt kaum jemand um eines Gerechten willen; um des Guten willen wagt er vielleicht sein Leben. Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.“ Beispiele aus Predigten: n „Und Martha arbeitet in der Küche – bis sie platzt. All das Viele, was sie da macht, um den Gast gut zu bewirten, zerrt an ihr. Ich sehe sie mit umgebundener Schürze aus der Küche laufen und vor die Beiden treten. Und höre, wie sie ihrem Ärger Luft macht. Richtig aufgebracht ist sie und in Wut. Keine graue Maus, die depressiv ihren Frust in sich rein frisst, beleidigt schmollt und dann mit Märtyrermiene die Suppe bei Tisch serviert. Nein – Martha platzt vorher und lautstark. Sie sorgt für sich.”66 n Abia, ein Geschichtenerzähler: „Es gibt Leute, die behaupten, Abia habe für alles und für jeden eine Geschichte. Ragma hat einmal gesagt: Kopf und Herz bei Abia seien voll von Geschichten. Als Abia ihn das letzte Mal besuchte, sagte er beim Abschied: Ich lebe mit diesen Geschichten und ich sterbe mit diesen Geschichten. Keiner kann leben, wenn er keine Geschichten hat.”67 66 HANS THEODOR GOEBEL in einer Göttinger Predigt über Lukas 10, 38–42 vom 14. Februar 1999. Unveröffentlicht. 67 FRITZ GAISER in einer narrativen Predigt zu Gen. 15. Unveröffentlicht.
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n „Tretet also euer Amt mit einem blinden Auge und einem tauben Ohr an: Das blinde Auge und das taube Ohr wird euch recht gut bekommen, wenn ihr’s mit den Klatschbasen eures Wohnortes zu tun habt. Jede Gemeinde und jedes Dorf ist mit gewissen Klatschbasen behaftet, die Tee trinken und Scheidewasser reden. Sie können keinen Augenblick schweigen, sondern summen fortwährend – zum großen Ärger der Frommen und Fleißigen. Mit besonderem Vergnügen probieren sie ihr Messer an dem Pfarrer, der Pfarrfrau, den Pfarrerskindern, dem Hut der Pfarrfrau, dem Kleid des Pfarrtöchterleins und so fort ins Unendliche.“68
Stimulanz kann auch zur Dominanz werden, durch zu starke Beispiele, die alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen und vom Text und der Predigtintention ablenken. So kann auch der Verzicht auf zusätzliche Stimulanz sinnvoll sein: Durchaus sinnvoll ist z.B. der Verzicht auf einen beliebten Fluchtversuch mancher Predigerinnen und Prediger in andere biblische Texte. Es ist natürlich unbenommen: Die Bibel legt sich durch sich selbst aus, und es ist legitim, in der Predigt den Bezug zu anderen biblischen Aussagen herzustellen oder Sachverhalte durch andere Texte zu erläutern, vielleicht auch ein abstraktes Thema durch eine biblische Erzählung zu illustrieren. Zwei Dinge sollte man aber beachten: Zum einen sollte der auszulegende Text das Schwergewicht behalten, und zum anderen sollten wir uns selbst prüfen, ob wir uns nicht bequem von unserer Aufgabe, an diesem Sonntag eben diesen Text auszulegen, verabschieden und uns stattdessen im Repertoire unserer 10–15 Lieblingstexte bedienen. Wir schlagen folgendes Ideal eines Verständlichkeitsfensters vor: Einfachheit
++
+
O
–
--
GliederungOrdnung
++ ++
+
O
–
--
Zusätzliche Stimulanz
++
+
O
–
--
KürzePrägnanz
+
O
–
--
Kompliziertheit
Unübersichtlichkeit; Zusammenhanglosigkeit Weitschweifigkeit
Keine zusätzliche Stimulanz
Die Ergebnisse tragen wir dann im Sinne eines Warentests in ein Verständlichkeitsfenster ein, das etwa so aussehen könnte: 68
H.THIELICKE, Reden, 181.
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Einfachheit
Gliederung – Ordnung
Kürze – Prägnanz
Zusätzliche Stimulanz
+ o
–
++
Wenn ich dieses Fenster nun in eine rhetorische Predigtkritik zurückübersetze, dann könnte da etwa folgendes stehen: „Der Prediger hat in seiner Predigt eine einfache Sprache gefunden (wenn auch nicht extrem einfach). Er könnte die Frage nach der Rechtfertigung noch etwas einfacher erklären. Leider hat er (im Unterschied zu seinem Text in Röm. 3) seiner Predigt keine Ordnung zu verleihen vermocht. Der Gedankengang ist noch leidlich logisch, aber als Redner bietet der Prediger dem Hörer keine Hilfen, dem Gedankengang zu folgen. Die Predigt ist weder zu kurz noch zu lang. Auffällig sind die zahlreichen Beispiele aus dem Gerichtswesen, dem Bankwesen und dem Bereich persönlicher Beziehungen, mit denen der Prediger versucht, die Rechtfertigung als Freispruch, als Entschuldung und als Angebot eines Neuanfangs in einer Beziehung zu umschreiben. Leider trägt die Fülle dieser Beispiele zum ungeordneten Gesamteindruck bei.“
Aufgabe: Formulieren Sie nun die gesamte Predigt aus. Bevor Sie das tun, überlegen Sie noch einmal, wie Sie den vier Aspekten der Verständlichkeit gerecht werden können. Und wenn Sie es getan haben, überprüfen Sie Ihre Rede noch einmal, indem Sie z.B. fragen: Habe ich angemessen kurze Sätze gewählt? Ist mein Vokabular verständlich? Kann man einen roten Faden in meiner Rede erkennen? Habe ich die Form der von mir gewählten Partition gewahrt? Gewähre ich dem Hörer Pausen und helfe ihm mit gezielten Unterstreichungen und Wiederholungen? Oder hetze ich durch die Predigt hindurch und rede so knapp, dass man kaum mitkommt? Oder aber langweile ich den Hörer durch Weitschweifigkeit und allzu viele Wiederholungen (zu große Redundanz)? Biete ich zuviel, zu wenig oder gerade ausreichend zusätzliche Stimulanz?
Ein Alptraum?
Eine schlichte Übung zur Verständlichkeit lässt sich im Bild des folgenden Traums darstellen: „Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf der Kanzel und halten Ihre wohl vorbereitete Predigt. Plötzlich meldet sich ein Mann in der vierten Reihe. Sie unterbrechen und fragen, was
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los ist. Er sagt: Ach, Bruder Pfarrer, komm doch mal runter von der Kanzel. Komm und setz dich mal neben mich in die Bank. Und dann schau mir in die Augen, und erzähle mir mal so von Angesicht, was Dir wichtig ist in Deiner Predigt, und was Du mir eigentlich mitteilen möchtest. Vielleicht verstehe ich es dann.“ Sollen wir diesen Traum nicht einmal in eine konkrete Übung umsetzen? 5.3 Zwölf Pleiten, Pech und Pannen – die Homiletischen Lasterkataloge
Hilfreich ist die Beschäftigung mit misslungenen Predigten und homiletischen Lasterkatalogen.69 Aus der langen Liste möglicher Katastrophen ein paar Beispiele, die uns helfen sollen, noch „unterwegs“ das Schlimmste zu vermeiden:
Erstens: Sprache Kanaans:70 Spreche ich so, dass es auch mein Nachbar verstünde, mein Hausarzt oder der Schaffner im Bus? Oder rede ich im frommen Jargon? EBERHARD WAGNER fordert, dass unsere Sprache zeitgemäß, profan und trotzdem seriös sein soll. Sie soll heute (zeitgemäß) von allen (profan) verstanden werden, zugleich aber dem „kostbaren“ Evangelium (seriös) angemessen sein.71 Dagegen ist in manchen, unterschiedlichen kirchlichen Milieus ein Jargon üblich, der für Außenstehende nicht nur schwer verständlich bis unverständlich ist, sondern obendrein abstoßend. Da wird z.B. in der Sprache der alten Lutherbibel geredet: „vor dem Angesicht des Herrn“ treten wir zusammen, befreit aus „der Knechtschaft Ägyptens“, und wir tun es, weil „Gott Gnade dazu gegeben hat“. Da werden die sonst aus der Sprache längst ausgewanderten grammatischen Endungen munter weiter gebraucht: „Christe, du Lamm Gottes“, „Jesu Blut“, „Christi Mahl“. Wir haben auch keine Bitten, sondern „Anliegen“. Wir lassen uns von Bruder Meyer „im Gebet leiten“, nachdem wir ein „Wort bekommen/empfangen“ hatten. Wir „finden ein volles Ja“ zu unserem „Dienst“, was wiederum unsere „Freudigkeit“ steigert. Natürlich wissen wir auch alle, wer der „reiche Jüngling“ und die „blutflüssige Frau“ waren. Die „Epheser“ sind uns so vertraut wie der FC Bayern. Wir danken Gott nicht, sondern bitten ihn: „Hab Dank ...“, und unser Vertrautsein mit ihm zeigt sich, wenn wir beten: „Herr, du kennst ...“ Am Ende wünschen wir ein „behütetes Nachhausekommen“. Die Reihe ließe sich nahezu 69 70 71
Etwa bei R. BOHREN, Predigtlehre, 402–422, oder bei K. EICKHOFF, Predigt. Vgl. E. WAGNER, Rhetorik, 148–160. A.a.O., 147f.
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grenzenlos fortsetzen. Abgesehen von der Unverständlichkeit für nicht Eingeweihte ist die Gefahr des frommen Jargons die uneingestandene gedankliche Unklarheit: Ich benutze unter Umständen Begriffe, die Klarheit suggerieren („Heil“, „Sünde“, „Barmherzigkeit“, „Gerechtigkeit“), bei näherem Hinschauen aber alles andere als klar sind.
Zweitens: Innere Konsistenz Hier geht es um das Problem mangelnder Stimmigkeit, z.B. bei Metaphern. Ist eine Metapher eine Spur daneben geraten, dann hat sie eine eigentümliche Wirkung: Der Hörer wird abgelenkt, weil er spürt, dass etwas nicht stimmt, aber nicht genau weiß, was nicht stimmt, und nun der Metapher hinterher denkt anstatt weiter dem Fluss der Predigt zu folgen. Ein Beispiel: In einer Andacht sagte ein pensionierter Missionar: „Der junge Inder, dem ich das Evangelium bezeugte, wollte mich adoptieren ...“ Nach der Andacht zeigte sich, worüber die Hörer nachgedacht hatten: nicht so sehr über den Inhalt der Andacht (den habe ich übrigens auch vergessen!), sondern darüber, ob das mit der Adoption nicht anders herum funktioniert! Andererseits kann Spannung in einer Metapher auch beabsichtigt sein. In der Schweiz sah ich ein Plakat einer Kinderhilfsorganisation: „Kinder brauchen Wurzeln und Flügel“. In einer Bildfolge schließen sich Wurzeln und Flügel aus. Wurzeln und Äste, Nest und Flügel – das passt. Aber die Werbetexter haben sich etwas überlegt und diese Spannung mit Absicht kreiert. In einer Predigt über Jer. 23,16–29 fand sich die Bezeichnung „selbsterdachte Träume“. Der Prediger wollte das Eigenmächtige der falschen Propheten absetzen von der Bindung Jeremias an den Willen Gottes. So weit, so gut! Aber passt das Bild? Sind Träume erdacht? Zum Umgang mit Metaphern: Man sollte sie sparsam verwenden, und wenn man sie verwendet, sollten sie stimmig sein. Außerdem sollte man sie ausloten und ihre mögliche Aussagefülle nicht verspielen. Eine besonders schwierige und verstörende Weise, innere Konsistenz zu verfehlen, ist der emotionale double-bind, der in einem Satz Widersprüchliches zum Ausdruck bringt. Klassischer Ort des double-bind ist die Erziehung, in der etwa einer Strafe sofort das In-den-Arm-Nehmen folgt. Double-binds sind mindestens verwirrend, sie lassen mich im Unklaren darüber, wie es der andere nur wirklich mit mir meint. In Predigten verraten double-binds oft innere Unklarheiten bei dem Prediger oder der Predigerin. Ein schönes Beispiel fand sich in einer Predigt über Joh. 5, 39–47. Dieser Satz ist obendrein ein Musterbeispiel für Verschachtelungen: „Als dieser, der den Menschen mit sich selber, in der Begegnung mit ihm es eröffnen will und kann, Gott so zu lieben, wie es ihn ehrt, worin sie selber das ewige Leben erlangen sollen, steht Jesus vor den Juden und ruft ihnen verzweifelt und in göttlichem Zorn die heilbringenden Worte 160
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von der Gottesliebe zu.“ Es geht wohl nur eins zu einer Zeit: göttlicher Zorn und heilbringende Gottesliebe.
Drittens: Spielregeln bestimmter Sprechakte72 Sprechakte haben ihre eigenen Regeln. Ein Sprechakt der Erlaubnis z.B. setzt einen Handelnden voraus, der einem anderen etwas genehmigen kann, wonach dieser verlangt. Die Erlaubnis enthält aber auch die Möglichkeit, sich dankend zu verweigern. Nehmen wir die Formulierung „Wir werden zur Umkehr eingeladen“. Denken Sie mal über den Sprechakt „Einladung“ nach! Da wird die Verbindlichkeit des Rufes Jesu unterschlagen, ebenso die „Kosten der Nachfolge“, die mit der Umkehr verbunden sind. Vergleichen Sie das mal mit einem Arzt, der zu einer dringenden Operation „einlädt“. In einer Predigt über 2. Kor. 13,11–13 legt die Predigerin den Segenszuspruch aus, indem sie von guten Wünschen spricht. Ist aber der Sprechakt des Wunsches unter Menschen wirklich dasselbe wie der Sprechakt des Segens? Oder ist nicht der Wunsch eine gleichsam ihrer religiösen Wurzeln nicht mehr bewusste Form zwischenmenschlicher Freundlichkeit, aus den Tagen, als das Wünschen noch helfen konnte? Dem gegenüber ist das Segnen das Bezeichnen eines Menschen mit dem Namen Gottes und d.h. der Zuspruch seiner Nähe und Hilfe. Zwei sehr verschiedene Sprechakte! Sinnvoll wäre es gewesen, in der Predigt vom Wünschen auszugehen und die kräftigere Sprache des Segens dem bloßen Wünschen gegenüberzustellen. Dieselbe Problematik zeigte sich auch in einer Predigt über Num. 6, 22–27, wobei der Prediger offenbar noch wusste, dass Segen etwas mit Zuspruch zu tun hat, denn er bildete die (im Blick auf die Spielregeln des Wunsches recht sinnlose) Formulierung: „... damit wir auch bereit sind unserem Nächsten diese Wünsche zuzusprechen.“
Viertens: Konkretion Ist meine Rede konkret? Wachsen Text und Lebenswirklichkeit in ihr zusammen? Oder ist meine Rede blutleer und lebensfern?73 Hierher gehört nach PETER BUKOWSKI die beliebte Predigtfigur der Reihungen (meist mit in den Plural gesetzten Begriffen): „Nöte, Ängste, Sorgen und Probleme haben wir alle“. Was haben wir denn? Sprachhülsen versuchen Konkretheit vorzuspielen und einen Mangel an Lebensnähe zu verbergen: Gott ist uns dann nicht nur nah, sondern „ganz nah“ – aber wie ist er das? Wie erlebt man das? Schauen Sie noch einmal in die persönliche Betrachtung: Wie könnte man das filmen?
72 Die Sprechakttheorie versteht Sprache als eine Weise des Handelns, die bestimmten Regeln folgt. Vgl. auch zum Begriff des Sprechakts aus der Sprechakttheorie P. BUKOWSKI, Predigt wahrnehmen, 38–46. 73 A.a.O., 77ff.
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Fünftens: Konnotationen Beachten Sie Konnotationen: das sind die neben den Denotationen (allgemein gültigen Begriffsdefinitionen) gegebenen, individuell oder milieuspezifisch differenten „Nebendefinitionen“, die einem Wort unter Umständen eine ganz andere Färbung geben, als wir beabsichtigten. Wir möchten z.B. die Rechtfertigung herausstellen und betonen, dass Leistung vor Gott keine Rolle spiele. Bei den Kaufleuten in der Hörerschaft ist aber das Wort „Leistung“ ganz anders, nämlich sehr positiv konnotiert. Beim harmlosen Wort „Mutter“ etwa schwingt neben der logischen Komponente (der leiblichen Mutter eines Menschenkindes) eine sphärische Komponente mit (Pflegemutter und Hundemutter, Schwiegermutter und Stiefmutter, Mutter Courage und Mutter Erde), mehr noch aber eine emotionale, ein Gefühlswert, der von der je eigenen Mutterbeziehung abhängt: War die eigene Mutter gütig oder streng, leidend oder glücklich, verkniffen oder humorvoll, früh verwitwet, verstorben oder ein altes Mütterchen geworden, eine warmherzige Seele oder eine Rabenmutter?74 In der Predigt wird dieses Phänomen am anderen Elternteil besonders häufig beobachtet: Wenn nämlich von Gott als unserem Vater gesprochen wird, dann spielt gerade diese emotionale Komponente die Hauptrolle, so dass dem einen bei dieser Vorstellung warm ums Herz wird, während sich bei dem anderen die Hand zur Faust ballt. Predigerin und Prediger sollten solche Konnotationen beachten: Es könnte z.B. nötig sein, das ganz andere Vatersein Gottes etwa in Lk 15 aufzuweisen und von da aus auch die emotional belastenden Konnotationen direkt anzusprechen und zu bearbeiten. Ein anderes Beispiel entdeckte eine Studentin, die in ihrer Predigt über Joh. 7,37–39 in der Homiletischen Besinnung schon bemerkte, dass für bestimmte Hörerinnen, die sie vor sich haben würde, das im Text positiv konnotierte Verbum „trinken“ in ihrer Lebenswirklichkeit mit bitteren Suchterfahrungen verknüpft ist.
Sechstens: „Heiße Kartoffeln“ Das sind kurz angetippte, rasch wieder verlassene „Seitenthemen“. Oft wollten wir gerne dieses und jenes sagen, was aber den Umfang der Predigt gesprengt hätte. Aber ganz lassen können wir es nicht: also wenigstens ein Halbsatz! Damit werden wir aber dem Gewicht dieser Themen nicht gerecht, leisten uns unter Umständen verletzende oder irritierende Verkürzungen und tragen so zur Ablenkung der Höreraufmerksamkeit bei. „Heiße Kartoffeln“ finden sich in vielen Predigten: Sie verraten eine UnSo FRIEDRICH KAINZ, Psychologie der Sprache, berichtet von W. SCHNEIDER, Wörter, 201.
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klarheit in der Vorbereitung. Sie verraten z.B., dass der Prediger sich nicht wirklich auf ein Thema konzentriert. Das Thema der Predigt ist unklar, darum spricht er viele Themen an. Das kann interessant wirken, ist aber letztlich unbefriedigend, weil keinem Thema genug Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die Hörer gehen hungrig nach Hause, weil ihnen die Speisen nur kurz gezeigt, aber keine wirklich aufgetragen wurde. „Heiße Kartoffeln“ finden sich besonders in ethischen Predigten, die dem Hörer wie eine Auflistung der fetten Überschriften aus der Tageszeitung vorkommen müssen. Das gesamte Elend der Welt wird dem Hörer „um die Ohren geschlagen“. Der sich ereifernde Prediger nimmt dabei weder die Gemeinde noch die Probleme ernst: Die Probleme verkürzen sich auf Schlagwörter, ohne dass ihre Tragik und ihr Gewicht, ihre Kompliziertheit und mögliche Lösungsansätze zu Wort kommen dürften, und die Gemeinde wird erschlagen mit einer zugemuteten Allzuständigkeit, die wiederum nicht einmal ernsthaft ist, denn nicht einmal der Prediger selbst mutet sich zu, was er der Gemeinde vorhält. So ist das „kurze Antippen von Wirklichkeitsbereichen“75 eine veritable Predigtsünde. Diese Wirklichkeitsbereiche führen ja kein Eigenleben, sondern werden zu „Kulissen, die Wirklichkeit und Bedeutung nur vortäuschen.“76 In einer Predigtanalyse hat es WOLFGANG ARMBRÜSTER so auf den Punkt gebracht: „Die Texte geben vor, sich ans Heute zu richten, aber das Heute ist immer, überall und jeder. Sie behaupten mit ihrer Sprache, Wirkliches zur Sprache zu bringen, aber sie schrecken vor der Berührung mit der Wirklichkeit zurück.“77 Ein Beispiel aus einer textlosen Weihnachtsansprache in einer Christvesper: Der Prediger überraschte die Gemeinde mit der Feststellung, es sei doch beachtlich, dass Maria das Kind empfangen und ausgetragen, aber nicht abgetrieben habe, wie es heute so oft geschehe. Nun mag man zweifeln, ob sich die Frage der Abtreibung für eine Christvesper mit Krippenspiel eignet, aber diese Sorge nahm der Prediger der Gemeinde sofort wieder. Er verließ das Thema und wies stattdessen darauf hin, dass es Gottes Art sei, von oben nach unten zu kommen, während wir doch immerzu von unten nach oben wollten. Einige kritische Sätze zum Karrierestreben folgten. Im Anschluss daran waren die an der Reihe, die in ihrem Leben nur rote Zahlen geschrieben hätten. Aber auch bei ihnen hielt sich der Prediger nicht lange auf. So ging es zu: jeder bekam „sein Fett weg“, ohne allzu großer Aufmerksamkeit gewürdigt zu werden. Das bedeutet, nun ins Positive gewendet: Wenn wir uns einem aktuellen Thema, einem Problem oder einer Person widmen, dann geschehe es sorgfältig, mit der nötigen Zeit, gut informiert und so, dass das Besonde75 76 77
H. HIRSCHLER, Biblisch predigen, 217. A.a.O., 218. W. ARMBRÜSTER, Doppelpass der Verkündigung, zitiert bei H. HIRSCHLER, a.a.O.
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re unserer Beleuchtung des Themas (eben im Licht von Gesetz und Evangelium) hervortritt und wir nicht bloß wiederholen, was andere vor uns schon sattsam (und meistens besser) gesagt haben.78
Siebtens: Die Heiligen Vorsicht vor den Heiligen! Evangelische Predigten pflegen immer dieselben Heiligen auf die Kanzel zu zerren: die Hitparade umfasst gerade einmal SCHWEITZER, BONHOEFFER, GANDHI, NIEMÖLLER, LUTHER und – als einzige Frau – MUTTER TERESA. Von diesen Heiligen wird immer dasselbe erzählt; sie werden auf Klischees reduziert. Die vielen kleinen Leute in der „Wolke der Zeugen“ (Hebr. 12) kommen nicht vor. Die Heiligen hatten auch keine Schattenseiten. Sie hatten keinen Alltag. Sie hatten keine Mitstreiter. Vorsicht vor den Heiligen! Schauen Sie mal, wer dagegen alles in den Gleichnissen Jesu zu Worte kommt!79
Achtens: Die Unterstellung Besonders warnen möchten wir vor der Unterstellung. Sie weiß genau, was die Gemeinde gerade denkt, immer tut und im Innersten fühlt. Die Unterstellung beginnt gerne mit Sätzen wie „Damit schlagen wir uns jeden Tag herum“. Überhaupt liebt die Unterstellung die alles umschließende Redeweise: „Wir alle“ tun „immer wieder“ etwas, was uns „ganz und gar“ betroffen macht. Die Unterstellung ist vereinnahmend und ärgert den Hörer. RUDOLF BOHREN nennt das „falsche Prophetie“, wenn den Hörern Fragen, Gefühle und Haltungen unterstellt werden, die in der Gemeinde so gar nicht existieren. Am Beispiel einer Predigt über Mk. 5 macht er das Problem mehr als deutlich: „Liebe Gemeinde, stellen wir uns die Szene vor: Sicher haben wir doch alle Mitleid mit dieser jahrelang von der Krankheit geplagten Frau. Herzzerreißend klagt sie jedem, der an ihr vorbeikommt, ihr Leid. Wer von uns kann da schon hartherzig vorübergehen?“80 Noch schöner sein zweites Beispiel: „Wir gehen in jeden Gottesdienst mit zwei Fragen, die uns innerlich bewegen ... Die erste: Was wird das Wort der Heiligen Schrift heute in mir persönlich bewirken? Die zweite: Was wird mein Beten und Flehen für Antwort erhalten?“81 Stellen Sie sich vor, der Prediger oder die Predigerin ereifert sich auf der Kanzel: Wir haben doch nie Zeit für andere Menschen, für das Gebet, für den leidenden Nächsten. Was bei vielen wohl ein Problem sein mag, wird unter der Hand zur Not aller. Alle Bemühungen von Menschen, es im Alltag anders zu machen, kommen nicht mehr zur Geltung. Das Genus der 78 79 80 81
Vgl. a.a.O., 219. Diesen Gedanken verdanken wir P. BUKOWSKI, Predigt. R. BOHREN, Prediglehre, 408. A.a.O.
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Behauptung und die Unterstellung sind nahe beieinander: „Sind wir nicht alle immer wieder selbstsüchtig?“ Diese scheinbare Frage (das ist weniger angreifbar als die direkte Behauptung) antwortet ohne gefragt worden zu sein. Andere Unterstellungen haben nicht diesen imperativen Charakter, sind darum aber nicht weniger gefährlich. In einer Seminarpredigt über Apg. 16,23–34 sagte ein Prediger: „Jeder Mensch möchte am liebsten durch ein Wunder zum Glauben finden.“ Tatsächlich?
Neuntens: Pauschalisierung Ebenso ärgerlich (und mit der Unterstellung eng verwandt) ist die Pauschalisierung. In einer Seminarpredigt, die sich mit falschen Propheten beschäftigte, tauchte als interessante Trias auf: Staubsaugervertreter, Fernsehmoderatoren und Zeugen Jehovas. Zunächst wundern einen diese Nachbarschaften: ob die so gerne beieinander gesehen würden? Aber es ist natürlich ein starkes Stück, allen Fernsehmoderatoren und allen Staubsaugervertretern (und abgesehen von der theologischen Einschätzung: allen Zeugen Jehovas) zu unterstellen, sie seien per se unredliche Menschen. Pauschale Urteile müssen sich den Test auf ihre Stimmigkeit gefallen lassen. In einer Predigt über 2. Kor. 13,11–13 behauptete die Predigerin, dass Zeichen wie der brüderliche Kuss immer eindeutiger seien als bloße Worte. Das klingt gut! Die Predigerin wollte die Bedeutung von leiblichen Zeichen herausstreichen. Gegenüber der steifen Bürgerlichkeit unserer Versammlungen ist das sicher bedenkenswert. Aber sind diese Zeichen immer eindeutiger als Worte? Wie steht es mit dem Küssen im Neuen Testament? Gibt es da nicht neben dem paulinischen Bruderkuss auch den des Judas, mit dem er den Herrn verriet? Sind also Zeichen nicht ebenso potenzielle Verräter wie Worte? Also: Hüten wir uns vor pauschalen Urteilen aus der Begeisterung heraus, mit der uns ein einzelner Vers infiziert hat. Pauschalitäten gibt es auch im Sinne von Übertreibungen: „Für immer und ewig ist damit alle Not aus unserem Leben vertrieben!“ Wirklich?
Zehntens: Wortgötzen WOLF SCHNEIDER hat beschrieben82, wie die Sprache die Welt ordnete, indem sie die Götter benannte, die hinter den Dingen stehen und die Prozesse des Lebens in Gang halten. Die ersten Substantive der Sprache waren Eigennamen der Götter: von der Sonne etwa konnte man gar nicht anders reden als im Benennen der Gottheit Helios. Ein anderes Wort stand nicht zur Verfügung. Auch wir Aufgeklärten und Entzauberten benutzen oftmals eine Sprache, die den Dingen personhafte Züge verleihen. Der Winter etwa kehrt zurück, bevor wir endlich singen: Der Mai ist gekom82
Nachzulesen bei W. SCHNEIDER, Wörter, 159–171, bes. 166.
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men. Wir sagen wider besseres Wissen, dass die Sonne aufgehe. Wir sprechen auch vom Vater Staat, auf dessen Fürsorge wir Anspruch zu haben meinen. Ist das alles noch harmlos, so wird es – gerade in Predigten – weniger harmlos, wenn große Worte zu personifizierten Größen aufsteigen, die götzenartige Bedeutung annehmen. Wer das jeweils ist, hängt von der Neigung und Weltsicht, von Theologie und Frömmigkeit des Predigers ab: die Freiheit oder der moderne Mensch oder das Denken unserer Zeit oder Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Es sind Wortidole oder (so bei FRIEDRICH NIETZSCHE) Begriffsgötter. Sie gehören auf den Prüfstand: Wer spricht da eigentlich? Und wird zurecht postuliert? Wen und wessen Interessen verschleiert hier solches Reden? „Es wäre so unsäglich ungewohnt, zu prüfen, ob ein Wort irreführend, überholt, selbstherrlich, hohl und entbehrlich sein könnte.“83
Lesetipp: Über die Wortgötzen lässt sich „Das Wörterbuch des Gutmenschen“ aus, mit seiner „Kritik der moralisch korrekten Schaumsprache“, wenn es etwa Begriffe wie den „Denkanstoss“, „Anliegen“, „Ellenbogenmentalität“, „Schwerter zu Pflugscharen“, aber auch „Vordenker“, „Versöhnung“ und noch besser „ein Stück Versöhnung“ aufs Korn nimmt. Ein Musterbeispiel für die moralisch korrekte Schaumsprache auch auf der Kanzel ist dabei die „Betroffenheit“: „Am Ende des Jahres [1973] fuhr der deutschsprachige Schriftsteller PETER HANDKE mit dem Zug von Frankfurt nach München und erblickte in der Dämmerung einen hoppelnden Feldhasen, dessen Anblick ihn berührte und ihm bedeutsamer erschien als das ergebnislose Politisieren.“ Dem Protagonisten der Betroffenheit folgten die Politiker: „Ab Mitte der 70er Jahre wird das Wort Betroffenheit vermehrt von Politikern im Mund geführt. Es eignet sich ideal für Presseerklärungen aller Art: Eine Beteuerung von der Stange, die sich in jedes Statement, in jede Rede einfügen lässt. Universal kompatible Standardformel, mit der Sprecher und Ghostwriter aller Parteien gleichermaßen Hochwasserkatastrophen, Terroranschläge oder Nazizeit-Mahndaten kommentieren können. Mit der Formel Wir sind betroffen kann kein Fehler gemacht werden. Die Benutzung des Wortes durch die Politik geschah selbstverständlich unbewusst, und es dauerte einige Zeit, bis der Öffentlichkeit der hohle Klang des Worts auffiel,“ spottet zu Recht JOSEPH VON WESTFALEN. Solche Betroffenheit ist nur noch zu toppen durch „radikale Betroffenheit“, wobei allerdings nur das allgemeine Elend des Adjektivs zu Tage tritt, dessen Beitrag zum Bedeutungszuwachs einer Floskel nicht wirklich klar ist. Das Merkmal der Sprachverwirrung aber ist der Abschied der Wörter von ihrem Sinn: Betroffenheit etwa hat sich weit entfernt von seiner Bedeutung, dass mich etwas betrifft, etwa die 83
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Reform der Beamtenbesoldung oder der Beinbruch meiner Tochter beim Fußballspielen, und ich darum von etwas betroffen bin.84
Elftens: Schein-Objektivität In einer gewissen Naivität gehen wir davon aus, dass Wörter die Realität treulich abbilden, mithin der Darstellung von Wirklichkeit dienen. Glükklicherweise ist das oft genug der Fall. Wer wollte sonst noch einer Wegbeschreibung oder Gebrauchsanweisung vertrauen (Obwohl gerade diese Beispiele zeigen, wie begrenzt die Vertrauenswürdigkeit ist!)? Oft genug aber bilden Wörter nicht die Wirklichkeit ab, sondern transportieren Vorurteile über die Wirklichkeit, deuten und unterschieben uns ihre Meinungen. Sie „gängeln“ uns gleichsam, und oft merken wir es nicht einmal. „Wörter ... sind gespeicherte Vorurteile.“85 Der Prediger und die Predigerin sollten wissen, dass es „parteiliche Wörter“ gibt.86 Ein harmloses Beispiel ist der Nicht-Raucher. Ein positives Wort für den Verzicht auf Nikotin hat unsere Sprache nicht. Der „NichtRaucher“ wird so zu jemandem, der sprachlich eine Regelwidrigkeit begeht. In der theologischen Sprache gibt es ähnliche Probleme. Versuchen Sie einmal, den Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin zu kennzeichnen, die nicht als Pastor oder Pastorin in der Gemeinde arbeiten. Laien? – da ruft die Konnotation laut: „Aha, die es nicht richtig können, die Amateure!“. Nicht-Theologen? Siehe oben unter „Nicht-Raucher“! Freiwillige (im Sinne der englischen „volunteers“)? Dann tun es die anderen unter Zwang? Ehrenamtliche? Ein höchst unklarer Begriff: ist das Tun dieser Leute für sie eine Ehre? Werden sie also auf Grund ihres Amtes geehrt? Oder ist das Amt selbst ihre Ehre?
Zwölftens: Tunnelpredigten Bei der Tunnelpredigt (WALTER JENS) gräbt sich der Prediger bzw. die Predigerin immer tiefer ins Erdreich hinein. Wie ein Maulwurf. Warum tut er das? Nun, so kann er die Verderbtheit der Welt beschwören. Je nach theologischem Programm macht er sie fest an Gottlosigkeit und/oder Verletzung der Menschenrechte, an Zerstörung von Frieden, Gerechtigkeit und Schöpfung oder Bibelvergessenheit, an Abtreibung oder Ausländerhass, an weltlicher Lust und Ich-Bezogenheit. „Und dann, auf einmal, die jähe Wende, der Umschlag vom Schatten zum Licht ... Der Pastor hat den Tiefpunkt des Tunnels erreicht, steigt wieder bergauf, die Helligkeit wächst, das Rede-Ende ist absehbar, und die Schläfer in der Gemeinde, erfahrene Kenner der Tunnelpredigt, beginnen plötzlich putzmunter zu Vgl. K. BITTERMANN UND G. HENSCHEL (HGG.), Wörterbuch. Zitate von JOSEPH WESTFALEN, a.a.O., 28–31. 85 W. SCHNEIDER, Wörter, 213. 86 A.a.O., 187. 84
VON
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werden; das große „Und dennoch“ oder „Gerade deshalb“ hat sie erweckt.“87 Die Tunnelpredigt ist die Schwundform der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium; sie verwechselt Gesetz und Evangelium mit schwarz und weiß. Und darum kann die Welt nur schwarz sein, damit die Botschaft um so heller leuchten kann. Das hat der Prediger des Evangeliums jedoch nicht nötig. Er kann die Dinge gelassen so wahrnehmen, wie sie sind, und sie sind selten einfach schwarz oder weiß. Aber verlassen wir die Lasterkataloge und wenden uns Besserem zu:
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W. JENS, Tunnelprediger, 5.
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Sechstes Kapitel Die liturgische Gestaltung Literaturhinweis ALBRECHT, CHRISTOPH: Einführung in die Liturgik. Göttingen 51995; BIERITZ, KARL-HEIN RICH UND SCHMIDT-LAUBER, HANS-CHRISTOPH (HGG.): Handbuch der Liturgik. Leipzig und Göttingen 1995; HERBST, WOLFGANG (HG.): Evangelischer Gottesdienst. Quellen zu seiner Geschichte. Göttingen 21992; SCHMIDT-LAUBER, HANS-CHRISTOPH UND SEITZ, MANFRED (HGG.): Der Gottesdienst. Grundlagen und Predigthilfen zu den liturgischen Stücken. Stuttgart 1992; VOLP, RAINER: Liturgik. Die Kunst, Gott zu feiern. 2 Bde. Gütersloh 1992 und 1994; Agende für die Evangelische Kirche der Union, I. Band: Die Gemeindegottesdienste. Bielefeld 31981; Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende für die Evangelische Kirche der Union und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands. Berlin 1999. – Evangelisches Gesangbuch, Ausgabe für die ... Pommersche Evangelische Kirche. Berlin und Leipzig 1993.
Die Gliederung des vorliegenden Kapitels weicht von den übrigen ab: Zunächst werden grundsätzliche Überlegungen zum Sinn der liturgischen Gestaltung angestellt. Erst danach gehen wir in praktischen Schritten im Abschnitt 6.2 an der Gottesdienstordnung entlang und erläutern die einzelnen liturgischen Stücke. Weitere Abschnitte geben Anregungen zur Liedauswahl und zur Gestaltung der Fürbitten. Eine Checkliste am Schluss ermöglicht die Bündelung der Vorbereitung sowie die Kontrolle, ob niemand bei der Vorbereitung vergessen wurde. 6.1 Der Sinn der liturgischen Gestaltung
Wir verstehen die Predigt als ein gewichtiges Element des Gottesdienstes – das ist eine notwendige Platzanweisung. Mit gleicher Sorgfalt und im Team mit anderen (etwa Kirchenmusikern, Lektoren, Küstern, FürbitteGruppen usw.) bereiten wir auch die Liturgie vor. Da wir nicht Gottesdienste halten, sondern gemeinsam feiern, bereiten wir auch gemeinsam vor: mindestens mit dem Kantor/der Kantorin zusammen, aber möglichst auch mit anderen Beteiligten, etwa der Lektorin bzw. dem Lektor oder auch den Beterinnen und Betern bei den Fürbitten usw. These 1: „Die Predigt ist ein Teil des Gottesdienstes, den nicht der Pfarrer hält, sondern die Gemeinde feiert.“
So entspricht es auch dem ersten von sieben Kriterien des Evangelischen
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Gottesdienstbuches: „Der Gottesdienst wird unter der Verantwortung und Beteiligung der ganzen Gemeinde gefeiert.“1 These 2: „Der Gottesdienst ist nicht der mehr oder weniger notwendige Rahmen der Predigt, sondern die Predigt ist ein notwendiges und wichtiges Stück des Gottesdienstes.“
Den Normalfall zeigen die üblichen Ankündigungen von Gottesdiensten in der örtlichen Presse: Außer Ort und Zeit wird nur noch angegeben, wer die Predigt hält. Daran wird sowohl die These von der Liturgie als bloßem Rahmen deutlich als auch die isolierte und herausgehobene Stellung des Pfarrers bzw. der Pfarrerin. These 3: „Der Gottesdienst wird in enger Arbeitsgemeinschaft von Theologen und Musikern gemeinsam verantwortet: Der Pfarrer gibt also nicht dem Kantor am Samstagabend die Lieder.“
Wir vermeiden es, dem Kantor kurz vor Beginn des Gottesdienstes so etwas zu übergeben:
Lieder f. Sonntag: 158; 178,9; 244,1-5; 71,1.5+6; 70,1.3-5+7; 170 Mit freundlichen Grüßen, in Eile, Pastor Oder wie fänden wir es, wenn der folgende (Alp-) Traum wahr würde:
Pastor A zog die blaue Baskenmütze etwas tiefer ins Gesicht und wechselte die Straßenseite. Weit hatte er es ja nicht zur St.B.-Kirche, aber am 22. Sonntag nach Trinitatis pfiff der Wind ihm doch empfindlich kalt ins Gesicht. Seit Jahrzehnten schon war ihm dieser sonntägliche Spaziergang eine liebgewonnene Routine geworden. Pünktlich um 6.50 Uhr trat er vor die Haustüre und um 7.00 Uhr öffnete er
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Evangelisches Gottesdienstbuch, 15.
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das Westportal seiner St.B.-Kirche. Er verharrte stets einige Minuten in der letzten Bankreihe und genoss den Raum, die Stille, die Dunkelheit und die Wärme. Fast widerwillig löste er sich aus seiner Meditation, ging schwerfällig durch den Mittelgang und erklomm die Stufen zur Kanzel. Auf der halben Strecke, an der bekannten Stelle fand er ihn, den Zettel, seit einiger Zeit mit dem Computer ausgedruckt. Gottesdienstablauf, 22. S. n. Tr., so stand dort geschrieben. Pastor A überflog den Ablauf, der seit dem letzten Disput im Kirchenvorstand nicht mehr mit herzlichen Grüßen, sondern nur noch mit X, Kantorin unterzeichnet war. Nun, normaler Ablauf Agende I, leider mal wieder nicht nach der vorgesehenen Orgelreihe. Kantorin X hatte ein meditatives Orgelstück zu einem Diapositiv in die Mitte des Gottesdienstes gestellt. Die Leinwand im Altarraum war auch nicht zu übersehen gewesen. Die Spruchmotette und die Lesung zum Beschluss des Gottesdienstes passten leider gar nicht zu dem düsteren Bild, das ihm Kantorin X dankenswerter Weise auf die Rückseite des Ablaufs kopiert hatte. Auch um das Weglassen der Wochenlesung hätte er gerne früher gewusst, er hatte sich so gut darauf vorbereitet. Die letzten Stufen zur Kanzel bestieg er mit dem nun fast schon wöchentlichen Frust. Er packte seine Bibeln, das Lektionar und die Bücher mit den freien Lesungen aus, ließ das Licht aber noch ausgeschaltet. Seine Stimmübungen machte er, wie gewohnt, im Dunkeln. Auch wenn es ihn ärgerte, dass die Spruchmotette, an der er seit über zwei Wochen gefeilt hatte, nun doch nicht in das gottesdienstliche Geschehen zu passen schien, er beschloss auch die Geschichte zum Beschluss des Gottesdienstes, für die er sich extra jemand zum Umblättern bestellt hatte, doch an diesem Sonntag vorzutragen. Seine Geschichten wurden ja von vielen als zu fromm angesehen, gerade als Schlusspunkt des Gottesdienstes. Aber er hatte sich noch beständig und wie er meinte mit gutem Grund geweigert, Goethe, Fontane oder Kafka zu interpretieren. Langsam obsiegte seine positive Grundstimmung, fast wie an jedem Sonntag. Er hatte immer noch Freude am Modulieren mit der Stimme, probierte diesen und jenen Übergang, versuchte es mit Spannung und halber Stimme, verwarf einzelne Betonungen, probierte einige Phrasen fast zu oft. Er liebte die Akustik seiner Kirche und bereitete auch diesen Gottesdienst gewissenhaft vor. Mit der Lesung während der Sammlung des Dankopfers war er sehr zufrieden. Sie sollte ja immer „etwas lauter und länger sein“, wie Kantorin X sich auszudrücken pflegte, er fand einen schönen Abschnitt aus dem Thessalonicherbrief, passend zum Dia. Und wenn an der geeigneten Stelle die 171
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Frau aus seinem Bibelkreis, die ihm beim Schlussstück auch umblättern wollte, noch das Mikrophon anstellte, so verfehlte das sicher nicht die Wirkung. Pastor A begann den Gottesdienst pünktlich nach dem Glockengeläut. Kantorin X war wieder so spät in der Kirche erschienen, dass sie nicht mehr zur Kanzel gekommen war. Der Orgelspieltisch wurde vor einigen Jahren seitlich der Altarstufen verlegt, damit Kantorin X ihrer Gemeindenähe mehr Ausdruck verleihen könne. Ein übriggebliebener Stolz verbot es Pastor A zur Orgel hinabzusteigen und Kantorin X zu begrüßen. Um so erstaunter war Pastor A über die Mitwirkung mehrerer Jugendlicher im Gottesdienst. Davon hatte auf seinem computerausgedruckten Gottesdienstablaufzettel nichts gestanden. Zwar war an ihn auch schon des öfteren die Bitte herangetragen worden, seine Lesungen doch „etwas interessanter“, „na fetziger eben“ zu gestalten, aber er war nun mal ein Mann der alten Bibeltexte und sein sich im Aufblühen befindlicher Jugendbibellesekreis fiel vor 2 Jahren der 21,3% Stellenreduzierung zum Opfer, die seinerzeit stark von Kantorin X forciert wurde. Die von den Jugendlichen mit einer Verstärkeranlage vorgetragene, mit ständig wechselnden synkopischen Rhythmen versehene und kokett madrigalistisch verformte Psalmparaphrase verfehlte ihre Wirkung nicht; jedoch, war das nicht eigentlich sein Ressort, das Aufgabengebiet eines Pastors in der Gemeinde? Der Gottesdienst lief sonst ganz glatt durch. Während des Abendmahles gab es einige Abstimmungsschwierigkeiten, da Kantorin X die meditativen Teile sehr ausweitete und Pastor A für seine gelesenen Anschlüsse die überleitenden Akkorde fehlten, dafür gelang ihm eine geistliche Gedichtrezitation während der Austeilung als verba sacramenti ganz hervorragend. So schaffte er es schneller, seinen Ärger zu überwinden, als Kantorin X nach ihrem Segensorgeln gleich von der Orgelbank aufsprang und an der Kirchentür alle Gottesdienstbesucher verabschiedete. Seine Geschichte zum Beschluss des Gottesdienstes degradierte zum Unterhaltungsgemurmel. An der eindrucksvollsten Stelle, die er wirklich lange geübt, ja deshalb extra die Frau zum Umblättern gebeten hatte, unterhielt sich Kantorin X schon lautstark mit dem Küster über das Podest für das Konzert der Kantorei am ersten Advent. Pastor A´s Schlussworte verhallten ungehört. Er bedankte sich bei der Frau für das Umblättern und packte langsam seine Sachen zusammen. Als er die Kanzel hinabstieg, war die Kirche schon völlig leer. Pastor A trat vor die Kirchentüre und zog sich seine blaue Baskenmütze etwas tiefer ins Gesicht. Zwar kam der Wind nun von hin172
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ten, aber es fröstelte ihn doch. Nun freute er sich auf das sonntägliche Mittagessen mit seiner Frau. Auf ihre allwöchentliche Nachfrage würde er antworten: „Wie immer Liebling, wie immer.“2 6.2 Gottesdienstordnung: Vorschlag und Erläuterungen
Die Ordnung des Gottesdienstes ist in 2000 Jahren christlicher Kirchengeschichte gewachsen. Neben dieser christlichen Tradition finden sich im Gottesdienst ältere Elemente jüdischer Synagogen-Gottesdienste. Größere historische Zäsuren in der Gottesdienstgeschichte stellen die Reformen GREGORS DES GROSSEN (Papst 590–604) und KARLS DES GROSSEN (768–814) dar, später – für den evangelischen Gottesdienst – die Reformation Luthers und die preußischen Agendenreformen im 19. Jahrhundert, sowie – für die katholische Messe – das Tridentinische und das Zweite Vatikanische Konzil. Gemeinsam ist allen Ordnungen eine Grundstruktur, die aus einem feststehenden Anteil (Ordinarium = das Gewöhnliche) und einem je nach Kirchenjahreszeit (de tempore) veränderlichen Anteil (Proprium = das Besondere, Eigentümliche) besteht. Seit Einführung des Evangelischen Gottesdienstbuches (EGB, „Erneuerte Agende“) besteht die Möglichkeit, den Gottesdienst bei einer stabilen Grundstruktur variabel auszugestalten. Kyrie und Gloria, die ersten Stücke des Ordinariums, können in unterschiedlicher Gestalt gesungen und sogar durch Lieder ersetzt werden, die einen Bezug zur Kirchenjahreszeit haben (vgl. dazu die Vorschläge und Anregungen unten in Kapitel 6.3). Das Gottesdienstbuch schreibt nicht mehr die Abfolge der Stücke vor (agenda = das, was zu tun ist), sondern bietet eine Fülle von Möglichkeiten der Auswahl, Schwerpunktsetzung und Entfaltung. Bei seiner Konzeption haben eine Reihe von Kriterien eine Rolle gespielt, die auch für die Gottesdienstgestaltung Bedeutung haben. Dabei kreuzen sich verschiedene Ebenen:3 n Die stabile Grundstruktur der Liturgie bietet der Gemeinde eine Orientierungshilfe und schafft Einheit zwischen Gemeinden an verschiedenen Orten. n Die wechselnden Stücke des Propriums stellen den Gottesdienst in den Zusammenhang des Kirchenjahres. Die Lese- und Predigtperikopen führen regelmäßig zu zentralen Texten des christlichen Glaubens und vermeiden eine Engführung auf einige wenige Bibelstellen („Lieblingsthemen“). 2 3
In: Forum Kirchenmusik 49/6 (1998), 248f. Evangelisches Gottesdienstbuch, 15–17.
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n Die variable Ausformung der Liturgie (in Ordinarium und Proprium) bietet nicht nur Abwechslung, sondern erlaubt die Akzentuierung und Entfaltung unterschiedlicher Stücke des Gottesdienstes. n Die Predigt verbindet den biblischen Text (Exegese) mit der Gemeinde in ihrer konkreten Situation (Homiletische Besinnung) [→ Kapitel 2 bis 4]. Im EGB wird der Gottesdienst in vier Schritte gegliedert: A B C D
Eröffnung und Anrufung Verkündigung und Bekenntnis Abendmahl Sendung und Segen
In der folgenden Tabelle dienen die rot gedruckten Teile in der linken Spalte („Rubriken“) der Orientierung und werden in keinem Fall gelesen bzw. gesungen. Die schwarz gedruckten Texte werden gesprochen bzw. gesungen (Gemeinde: fett eingerückt). Die Texte in der rechten Spalte dienen der Erläuterung.4
Vorbereitung In der Sakristei
Glockengeläut
n Wir müssen uns daran gewöhnen, dass für uns die Gottesdienste früher anfangen; es ist gut, 20–30 Minuten früher da zu sein n Rechtzeitig eintreffen, kurz überprüfen, ob alles in Ordnung ist (etwa Liedanschlag, Heizung usw.) n Kleidung anlegen, Bücher bereitlegen n Letzte Absprachen n Gebet mit den Beteiligten Die Glocken sammeln zum Gottesdienst
4 Wie die Predigt haben wir auch die Liturgie vollständig niedergeschrieben und beides in einen schwarzen, äußerlich ansprechenden Ordner (z.B. A5) eingeheftet.
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Der Liturg/die Liturgin zieht in die Kirche ein, spricht an seinem/ihrem Platz in der ersten Reihe stehend noch ein persönliches Gebet und nimmt Platz.
A. ERÖFFNUNG UND ANRUFUNG Eröffnung
Musik zum Eingang Organist/Organistin:
In der Eröffnung beginnt das Treffen der Gemeinde. Sie vergewissert sich, dass sie nun im Namen des dreieinigen Gottes feiern wird.
Votum und Gruß
Der Liturg/die Liturgin geht langsam zum Altar, wendet sich zur Gemeinde (alle Drehungen: „cor ad altare“ = Herz zum Altar), nimmt ruhig seine/ihre Agende mit und spricht laut, ruhig und freundlich: [Liturg/Liturgin: Wochenspruch (fakultativ)]
Liturg/Liturgin: Wir sind hier versammelt im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Gemeinde: Amen
Liturg/Liturgin: Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, Gemeinde: der Himmel und Erde gemacht hat.
Wir grüßen die Gemeinde zum Beginn mit dem Wochenspruch (siehe Agende oder Losungen).
Das Votum identifiziert den Gottesdienst als christlichen Gottesdienst im Namen des dreieinigen Gottes (2. Kor. 13,13; Mt. 18,20) und erinnert an die Taufe.
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Liturg/Liturgin: Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Gemeinde: und mit deinem Geist.
Liturg/Liturgin: freie Begrüßung und notwendige Ansagen.
Eingangslied
Der Liturg/die Liturgin nimmt Platz und erhebt sich erst wieder bei der letzten Liedstrophe.
Anrufung Eingangspsalm 176
Im Wechselgruß (Salutatio) grüßt der Liturg/die Liturgin die Gemeinde, und die Gemeinde grüßt ihrerseits den Liturgen/die Liturgin. Jeder neu auftretende Liturg kann die Gemeinde so begrüßen; der Gruß kann auch am Beginn eines neuen liturgischen Abschnitts stehen (z.B. zu Beginn der Abendmahlsliturgie). Es geht um den Ablauf des Gottesdienstes (Besonderheiten, Abweichungen, Musik) und um die beteiligten Personen sowie die Kollekte. Als letztes sagen wir das Eingangslied an. Dies ist nicht der Beginn des Gottesdienstes! Dem Charakter nach ein Lied n zum Kirchenjahr oder n zum Gottesdienstanfang oder n zur Tageszeit. Es steht an der Stelle des altkirchlichen Introitus (→Eingangspsalm) und kann mit diesem Psalm verbunden werden (z.B. als Psalmlied).
In der Anrufung lobt die versammelte Gemeinde Gott auf verschiedene Weise. Der Psalm gehört zur Anrufung Gottes und repräsentiert
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Beim Psalmgebet steht der Liturg/die Liturgin am Altar. Da es sich um ein Gebet handelt, schaut er mit der Gemeinde zum Altar.
Liturg/ Liturgin: Wir beten im Wechsel den Wochenpsalm unter Nummer . Ich bitte Sie, die eingerückten Zeilen zu lesen. Liturg/Liturgin: ............... Gemeinde: ............
Gloria patri („Ehr’ sei dem Vater“)
Gemeinde: Ehr’ sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Der Liturg/die Liturgin bleibt am Altar (mit der Gemeinde zum Altar gewandt).
[Confiteor]
Kyrie („Herr erbarme dich“)
Der Liturg/die Liturgin bleibt immer noch mit der Gemeinde zum Altar gewandt.
das Alte Testament in unserem Gottesdienst. Der Psalter als Gebetbuch Jesu bringt Lob, Klage, Buße, Dank und Bitte vor Gott. Das Beten im Wechsel stärkt die Rolle der feiernden Gemeinde. Dabei kann im Wechsel zwischen Liturg/Liturgin und Gemeinde gebetet werden oder aber im Wechsel zwischen zwei Gemeindeteilen. Die Angabe des Wochenpsalms steht im Proprium des EGB, im Losungsheft oder im Gesangbuch. Wenn vorhanden, kann er unter seiner Nummer zusammen mit den Liedern angeschlagen werden.
Das Gloria Patri (kleines Gloria) stellt den Psalm in einen trinitarischen Zusammenhang. Es wird von der Gemeinde gesungen.
Wenn der Psalm von einer Antiphon eingeleitet und abgeschlossen wird, wird das Gloria Patri wie die Psalmverse im Wechsel mit der Gemeinde gesprochen (vgl. die Psalmen in den Tagzeitengebeten, EG Nr. 783ff.) Hier kann ein Sündenbekenntnis mit Absolution oder Bitte um Vergebung eingefügt werden.
Das Kyrie ist sowohl Lob als auch Bitte: im Ursprung waren die Kyrie-Rufe Teil des Fürbittengebetes. Die 177
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Liturg/Liturgin: Kyrie eleison
Gemeinde: Herr, erbarme dich!
Liturg/Liturgin: Christe eleison
Gemeinde: Christe, erbarme dich!
Liturg/Liturgin: Kyrie eleison
Gemeinde: Herr, erbarm dich über uns!
Gloria [in excelsis] („Ehre sei Gott“)
Wie beim Kyrie schaut der Liturg/die Liturgin mit der Gemeinde in Richtung Altar. Liturg/Liturgin: Ehre sei Gott in der Höhe Gemeinde: und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen.
Allein Gott in der Höh‘ sei Ehr..... [EG 179.1]
Kollekte (Tagesgebet)
Das Kollektengebet wird vom Liturgen/ von der Liturgin zum Altar hin gesprochen.
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Gemeinde ruft ihren Kyrios an und verweigert sich allen anderen Herren. Das Kyrie ist keine Bitte um Sündenvergebung.
Unser „normales“ Kyrie findet sich EG 178.2. Unter EG 178 finden sich weitere Kyrie-Gesänge, die eingesetzt werden können. Falls das Kyrie abweicht, muss es angeschlagen und evtl. auch vor Beginn eingeübt werden. Das Singen sollte mit dem Kirchenmusiker/der Kirchenmusikerin geübt werden.
Das Gloria ist das ausgeprägteste Gotteslob im Gottesdienst, eines der ältesten Elemente überhaupt. Es vereint die irdische mit der vollendeten Gemeinde im Himmel. Auch hier könnte ein Ausbau angesagt sein. Es entfällt in der Fastenzeit (Advents- und Passionszeit). Das „reguläre“ Gloria verdoppelt den vorhergehenden Wechselgesang; man kann sinnvollerweise aus EG 179 und 180 auch andere Texte wählen und anschlagen oder als Gloria ein dem Kirchenjahr gemäßes Loblied singen lassen.
Das Kollektengebet hat nichts mit der Kollekte zu tun, bei der Geld eingesammelt wird, sondern fasst den Anrufungsteil zusam-
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Liturg/ Liturgin: ........, der du mit dem Vater (Sohn) und dem heiligen Geist lebst und regierst von Ewigkeit zu Ewigkeit. Gemeinde (singt): Amen
Nach dem „Amen“ dreht sich der Liturg/die Liturgin zur Gemeinde und schreitet auf seinen/ ihren Platz.
men und bereitet auf den Verkündigungsteil vor. Es ist ein Modellgebet mit immer gleichem Aufbau: n Anrede und Prädikation n eine Gebetsbitte n gleichbleibende trinitarische Schlussformel. Kollektengebete finden sich im Proprium des EGB und in Sammlungen. Oder: man schreibt selbst eines.
B. VERKÜNDIGUNG UND BEKENNTNIS Verkündigung
Dieser Teil stellt das „Gespräch“ in der gottesdienstlichen Begegnung dar. Es ist ein steter Wechsel von Wort und Antwort.
Die Texte finden wir in der Agende oder im Gesangbuch unter EG 954.
Die Lesungen kehren alle Jahre wieder: die Epistel findet sich unter dem jeweiligen Sonntag unter II., das Evangelium unter I. Die Predigtreihen kehren alle sechs Jahre wieder. Nach Reihe I und II werden die Reihen III bis VI gepredigt; es handelt sich um Episteloder Evangelienreihen mit jeweils 25% alttestamentlichen Texten. An der Re179
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form der „Perikopen“ wird regelmäßig gearbeitet. Schriftlesung
Wenn der Liturg/die Liturgin sich setzt, kommt der Lektor/die Lektorin nach vorne, stellt sich an das Lesepult und kündigt die Schriftlesung an, um diese dann laut, langsam und deutlich vorzutragen. Lektor/Lektorin: Die Schriftlesung für diesen Gottesdienst steht bei....
Für die Lesungen sollten Sie Lektoren/Lektorinnen gewinnen (und schulen). Die Lesungen werden vom Kirchenjahr geprägt. Sie sind Verkündigung wie auch die Predigt.
Sie können statt der Epistel die alttestamentliche Lesung wählen.
Lektor/Lektorin: Halleluja
Lektor/Lektorin: Halleluja. Halleluja.
Gemeinde (singt): Halleluja. Halleluja. Halleluja.
Der Lektor/die Lektorin bleibt stehen, bis die Gemeinde ihren Gesang abgeschlossen hat. Dann nimmt er/sie Platz.
Graduallied
(auch „Hauptlied“ oder „Wochenlied“)
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Das Halleluja war ursprünglich ein selbständiges liturgisches Stück, nämlich ein Psalmengesang. Jetzt ist es nur noch ein „Amen“ der Gemeinde auf die Lesung. Es entfällt in Fastenzeiten (Passionszeit).
Halleluja-Verse finden sich in den Lektionaren, Halleluja-Gesänge im EG: 181 und 182. An ihrer Stelle kann auch ein Lied mit einer Halleluja-Strophe gesungen werden. Das Graduallied war ursprünglich ein Sologesang an den Stufen des Ambo; seit der Reformation ist es ein Gemeindelied, das Wochenlied, das feststeht.
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Sie finden das Wochenlied im EGB, im Gesangbuch oder in den Losungen.
Evangelium
Lektor/Lektorin: Das Evangelium für diesen Gottesdienst steht bei ... Gemeinde (steht auf und singt): Ehr sei dir, o Herre.
Lektor/Lektorin:
Lektor/Lektorin: Evangelium unseres Herrn Jesus Christus.
Es lässt sich sehr gut im Wechsel zwischen Chor (falls vorhanden) und Gemeinde singen.
Das Evangelium ist der Leittext für den gesamten Gottesdienst und bestimmt dessen liturgischen Charakter im Kirchenjahr. Es ist die Lesung, die nie ausfallen sollte. Die Ordnung der Evangelien geht bis in die Zeit der Alten Kirche zurück.
Gemeinde (singt): Lob sei dir, o Christe.
Der Lektor/die Lektorin setzt sich erst nach dem „Lob sei ...“, wenn er/sie nicht noch das Credo ansagt. Dann bleiben er/ sie und die Gemeinde noch zum Credo stehen. [Credo (falls nicht nach der Predigt!)] Lied vor der Predigt
Dieses dritte Gemeindelied bereitet auf das Hören der Predigt vor; es reicht eine Strophe. Beispiele: Kirchenjahreslieder mit Wortbezug oder EG 155f., 193–199 181
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Predigt
Beim Lied vor der Predigt geht der Prediger/die Predigerin langsam zur Kanzel, legt sein/ihr Manuskript (und evtl. die Uhr) bereit, konzentriert sich noch einmal und spricht dann laut, deutlich und langsam ... Prediger/Predigerin: Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Gemeinde: Amen.
Prediger/Predigerin: Das Predigtwort steht bei ...
Prediger/Predigerin: [Gebet,]
Prediger/Predigerin: Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Gemeinde: Amen.
Predigtlied
Abkündigungen
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Der Predigtauftritt ist ein in sich selbständiger „kleiner“ Gottesdienst (er stammt aus der Zeit, in der die Predigt aus der Messe auswanderte) und hat sich mit der Zeit durch immer weitere Elemente angereichert. Grundelemente sind n der Gruß n die Verlesung des Predigttextes n evtl. ein Gebet n die Predigt selbst sowie n der Kanzelsegen.
Man sollte damit „defensiv“ umgehen und den Predigtauftritt nicht unnötig umfangreich ausgestalten. Nur das Predigtlied ist ausdrücklich auf den Inhalt der Predigt bezogen und wird darum vom Prediger ausgesucht. Arbeitshilfen: GesangbuchKonkordanzen, Predigthilfen/ Predigtmeditationen.
An dieser Stelle kann auf besondere Gemeindeveranstaltungen oder Ereignisse, die die Gemeinde betreffen, hingewiesen werden. Die Abkündigungen sollten möglichst knapp, aber informativ gehalten sein.
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Bekenntnis
Credo
Liturg/Liturgin: Lasst uns Gott loben mit dem Bekenntnis unseres Glaubens. Ich glaube an Gott, den Vater, Gemeinde: den Allmächtigen ... Amen.
Fürbitten und Vaterunser
Die Einladung zum Gebet wird vom Altar zur Gemeinde gesprochen. Dann dreht sich der Liturg/die Liturgin zum Altar und spricht Fürbitten und Vaterunser in einer Richtung mit der Gemeinde.
Liturg/ Liturgin: Lasst uns beten
Das Credo ist Antwort der Gemeinde auf das Wort. Ursprünglich folgte es der Predigt. Mit ihrem Ausfall im Mittelalter rückte es „nach oben“ und blieb auch nach ihrer Rückkehr dort stehen. Im EGB wird vorgeschlagen, das Credo wieder an seinen alten Platz zu stellen.
Sie sind frei in ihrer Entscheidung. Wenn Sie das Credo nicht hierher stellen, sollte es der Lektor/die Lektorin nach dem Evangelium ansagen. Man kann das Apostolicum wählen (eigentlich Taufbekenntnis), das (ökumenische) Nicänum (EG 805), Luthers Erklärungen zum Credo (EG 806.2) oder Glaubenslieder unter EG 183 und 184. Wenn Sie das Credo singen, fällt das Predigtlied aus. Die Gemeinde sollte beim Glaubenslied ebenso wie beim gebeteten Credo stehen. Dass dieser Ort zum Einsammeln der Kollekte ungeeignet ist, versteht sich von selbst.
Die Fürbitten (ursprünglich am Ende der missa catechumenorum) sollten nach einer Anrede die Anliegen der Gemeinde/Kirche, die der Welt/Gesellschaft/Politik und die einzelner Menschen in besonderen Situationen ansprechen. 183
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Gemeinde erhebt sich.
Liturg/Liturgin:
Vater unser im Himmel ...
Gemeinde: geheiligt werde dein Name ...... Amen.
C. ABENDMAHL Gabenbereitung
An dieser Stelle kann die Banksammlung (Kollekte) eingesammelt und von Helferinnen und Helfern zum Altar gebracht werden. Dort betet der Liturg/die Liturgin mit den Sammlerinnen und Sammlern. Nun können auch die Abendmahlsgaben zum Altar getragen werden, wenn sie nicht dort schon zu Beginn des Gottesdienstes aufgestellt wurden.
5
A.a.O., 76.
184
Eine Überleitung führt dann zum Vaterunser. Beim Vaterunser (wie beim Credo) gehört der erste Satz ganz dem Liturgen – die Gemeinde beginnt nicht mit „... unser im Himmel“, sondern mit „geheiligt werde dein Name ...“. Das Vaterunser entfällt hier, wenn Abendmahl gefeiert wird.
Der evangelische Gottesdienst kennt kein Opfer (Hebr. 9) außer dem Lobopfer und dem Dankopfer. Das drückt sich auch in den vorgeschlagenen Gebetstexten aus: n Zur Kollekte: „Gepriesen bist du, Herr, unser Gott, Schöpfer der Welt. Dein ist alles, was wir sind und haben. Nimm diese Zeichen unseres Dankes an zu deiner Ehre und segne sie zum Dienst der Liebe. Dir sei Ehre in Ewigkeit. Amen.“5 n Zur Gabenbereitung: „Himmlischer Vater, heilige dieses Brot und diesen Wein, damit sie uns Zeichen des neuen Lebens werden in Christus. Wie aus vielen Körnern
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Großes Lobgebet
Lobgebet
Zur Gemeinde gewandt singt der Liturg/die Liturgin im Wechsel mit der Gemeinde: Liturg/Liturgin: Der Herr sei mit euch Gemeinde: und mit deinem Geist.
Liturg/Liturgin: Erhebet eure Herzen.
Gemeinde: Wir erheben sie zum Herrn.
Liturg/Liturgin: Lasset uns danken dem Herrn, unserm Gott. Gemeinde: Das ist würdig und recht.
6
A.a.O., 78.
das Mehl gemahlen und ein Brot daraus gebacken wird, und wie aus vielen Beeren gekeltert Wein und Trank fließt, so lass uns alle in diesem Mahl ein Leib werden in Jesus Christus, in dem wir uns einander schenken und hingeben.“6
Vom Präfationsdialog bis zum Vaterunser spannt sich ein großer Gebetsbogen auf, der von Gott erbittet, was er zu geben verheißt: die heilsame Gegenwart Christi in, mit und unter den Gaben der Schöpfung, Brot und Wein. Im Präfationsdialog wird die Präfation vorbereitet.
Der Gruß (Salutatio) markiert den liturgischen Einschnitt. Wieder grüßen sich Liturg/Liturgin und Gemeinde. Im Sursum Corda geht es um die Hinwendung zu Gott, der im Mahl zur Gemeinde kommt. Die Danksagung (Gratias) verweist auf den Charakter der gesamten Mahlfeier von der Seite der Gemeinde her: Sie ist Danksagung für Gottes große Taten.
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Präfation
Der Liturg/die Liturgin dreht sich zum Altar und spricht die Präfation. Liturg/Liturgin:
Die Präfation ist eines der ältesten Stücke der Liturgie. Sie verdeutlicht, dass sich jetzt die irdische und die himmlische Gemeinde zum Lob vereint. Die Präfation ist wie das Kollektengebet ein Modellgebet mit weitgehend identischem Anfang und Ende und einem de tempore gestalteten Mittelteil, z.B.: „Wahrhaft würdig ist es und recht, dass wir dich, ewiger Gott, immer und überall loben und dir danken, durch unsern Herrn Jesus Christus. Ihn hast du der Welt zum Heil gesandt, durch seinen Tod haben wir Vergebung der Sünde und durch sein Auferstehen das ewige Leben.
Dreimalheilig (Sanctus)
Die Gemeinde singt das Sanctus nach EG 185.1–5
Gemeinde: Heilig, heilig, heilig ist Gott ...
7
A.a.O., 79.
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Darum loben die Engel deine Herrlichkeit, beten dich an die Mächte und fürchten dich alle Gewalten. Dich preisen die Kräfte des Himmels mit einhelligem Jubel; mit ihnen vereinen auch wir unsere Stimmen und bekennen ohne Ende:“7 Sanctus und Benedictus (heute: Dreimalheilig) zeigen, wie der heilige Gott (Jes. 6,3) in Niedrigkeit (in Jesus, jetzt in, mit und unter Brot und Wein) zu seiner Gemeinde kommt (Mt.21,9).
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[Abendmahlsgebet I]
Der Liturg/die Liturgin kann das große Lobgebet mit einem weiteren Gebetsteil fortführen und damit zu den Einsetzungsworten überleiten. Liturg/Liturgin: Einsetzungsworte
Der Liturg/die Liturgin spricht die Einsetzungsworte. Er/Sie erhebt dabei jeweils das Brot bzw. den Kelch und zeichnet das Kreuzeszeichen an der vorgesehenen Stelle über den Elementen.
Liturg/Liturgin: Unser Herr Jesus Christus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und gab’s seinen Jüngern und sprach: Nehmet hin und esset. Das ist † mein Leib, der für euch gegeben wird. Solches tut zu meinem Gedächtnis.
Die Epiklese (Bitte um den heiligen Geist für die mahlfeiernde Gemeinde) und Anamnese (preisende Erinnerung an die Heilstaten Gottes) verteilen sich nach EGB in unterschiedlich gestalteter Weise auf die Abendmahlsgebete I und II. Werden die Einsetzungsworte als Teile des eucharistischen Gebets verstanden, so werden sie zum Altar hin gesprochen; werden sie als Verkündigung der verba testamenti verstanden, so werden sie zur Gemeinde hin gesprochen.
Desgleichen nahm er den Kelch nach dem Abendmahl, dankte und gab ihnen den und sprach: Nehmet hin und trinket alle daraus, dieser Kelch ist der neue Bund (das neue Testament) in † meinem Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Solches tut, sooft ihr’s trinket, zu meinem Gedächtnis. [Christuslob]
Liturg/Liturgin oder Kantor/Kantorin: Groß ist das Geheimnis des Glaubens. Gemeinde: Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir bis du kommst in Herrlichkeit.
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[Abendmahlsgebet II]
Der Liturg/die Liturgin kann das große Lobgebet mit einem weiteren Gebetsteil fortführen, den die Gemeinde mit Amen beantwortet.
Vgl. Abendmahlsgebet I.
Liturg/Liturgin:
Vaterunser
Liturg/Liturgin: Vater unser im Himmel ...
Gemeinde: geheiligt werde dein Name ...... Amen.
Friedensgruß
Liturg/Liturgin: Der Friede des Herrn sei mit euch allen. Gemeinde: Friede sei mit dir.
[Liturg/Liturgin: Gebt einander ein Zeichen des Friedens und der Gemeinschaft. Gemeinde: Friedensgruß]
Lamm Gottes (Agnus Dei)
Die Gemeinde singt das Agnus Dei nach EG 190.1–4 oder eine entsprechende Liedstrophe.
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Zum Vaterunser siehe oben. Beim Abendmahl hat das Vaterunser den Charakter des Tischgebets der Gemeinde. Besonders die vierte und fünfte Bitte sind dabei akzentuiert.
Paulus macht in 1. Kor. 11, 17–34 den Zusammenhang zwischen dem Leib Christi als Gemeinde und dem Leib Christi im Herrenmahl deutlich. Der Friedensgruß ist Ausdruck dafür, dass wir durch Christus in seinem Mahl Schwestern und Brüder sind, die in Frieden miteinander leben wollen und sollen. Das Agnus Dei ist ein sehr altes Stück der Abendmahlsliturgie (etwa 7. Jh.). Sein biblischer Bezug ist Joh. 1,29: „Siehe, das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt.“ LUTHER sah in diesem Gesang die Verwirklichung von 1. Kor. 11,26: „Ihr verkündigt des Herren Tod, bis er kommt.“ Das Agnus Dei kann durch entsprechende Liedstrophen ersetzt werden:
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Austeilung
[Liturg/Liturgin: Kommt, es ist alles bereit. Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist.] Austeilung
Spendewort, z.B.: Christi Leib, für dich gegeben.
Kommunikant/Kommunikantin: Amen.
Spendewort, z.B.: Christi Blut, für dich vergossen.
Kommunikant/Kommunikantin: Amen.
[Musik sub communione – Stille – Abendmahlslied(er)] [Danklied]
EG 1,5; 23,7; 36,4; 70,4; 87,3; 99; 102,1; 133,2 – immer de tempore! Bei der Austeilung können Älteste und geschulte Gemeindeglieder beteiligt werden. Achten Sie auf gehbehinderte und kranke Gemeindeglieder, die nicht nach vorne kommen können. Kinder sollten gesegnet werden, wenn nicht die getauften Kinder etwa ab der 3. Schulklasse nach Vorbereitung zum Mahl zugelassen werden. Beim Empfang kann man knien oder stehen. Der Gebrauch von Wein oder Traubensaft ist möglich. Es sollte aber angesagt werden, was gereicht wird. Achten Sie beim Gemeinschaftskelch auf wiederholtes, sorgfältiges Reinigen. Hier und dort ist es Sitte, die Gruppen von Kommunikanten mit Bibelwort und Segen zu entlassen. Die Musik sub communione sollte genügend Raum zur Meditation lassen. Sie muss keineswegs die gesamte Zeit der Austeilung füllen. Zum Abschluss der Austeilung kann ein Danklied gesungen werden.
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Dankgebet
Liturg/Liturgin: Danket dem Herrn, denn er ist freundlich. [Halleluja.]
Das Halleluja entfällt in den Fastenzeiten.
Gemeinde: Und seine Güte währet ewig. [Halleluja.]
Liturg/Liturgin: Lasst uns beten:
D. SENDUNG UND SEGEN Sendung
Der Liturg/ die Liturgin dreht sich wieder zur Gemeinde und singt den ersten Teil dieses Wechselgesangs zur Gemeinde hin. Der Organist kann einen Ton angeben. Der Liturg/ die Liturgin breitet die Armen halbhoch zum Wechselgesang aus und faltet die Hände, wenn die Gemeinde antwortet. Liturg/Liturgin (singt): Gehet hin im Frieden des Herrn! Gemeinde (singt stehend): Gott sei ewiglich Dank.
Segen
Der Liturg/die Liturgin steht am Altar und breitet die Arme hoch aus und spricht den Segen auswendig zu. Beim letzten Teil („Frieden“) schlägt (nicht: wedelt) er/sie mit Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand ein
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Dieser Teil beendet das Treffen und entlässt die Gemeinde unter dem Segen wieder, indem die Gemeinde in die Welt gesendet wird.
Verabreden Sie am besten mit dem Organisten/der Organistin, ob Sie hierfür einen Ton angegeben haben möchten. Man kann die Versikel auch unbegleitet – ohne festgelegte Tonhöhe – singen. Der aaronitische Segen wird der Gemeinde zugesprochen. Die ausgebreiteten Hände symbolisieren die Handauflegung auf viele.
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Kreuz: von oben nach unten, von links nach rechts.
Liturg/ Liturgin: Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und † gebe dir Frieden. Gemeinde (singt): Amen. Amen. Amen.
Nach dem „Amen“ der Gemeinde nimmt er/sie wieder Platz. Musik zum Ausgang
Organist/Organistin: spiel>