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German Pages [240] Year 1989
HALS DIE DEUTSCHEN ZWISCHEN STUNDE NULL UND WIRTSCHAFTS WUNDER
BvCHERGILDE GUTENBERG
Bemt Engelmann Wir hab’n ja den Kopf noch fest auf dem Hals
Büchergilde Gutenberg Frankfurt am Main
BERNT ENGELMANN WIR HAB'N JA DEN KOPF HOCH FEff AUF PEM HALF HE DEUTSCHEM ZWISCHEN STUNDE NULL UND WIRTSCHAFTSWUNDER
Lizenzausgabe für die Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main, mit freundlicher Genehmigung des Verlages Kiepenheuer & Witsch, Köln
©1987 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Umschlag Wolfgang Rudelius, Bubenheim Satz Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung Franz Spiegel Buch GmbH, Ulm ISBN 3 7632 3J051
Inhalt »Geschichte ist, während sie geschieht, ganz und gar privat...« Anstelle einer Einleitung 7 Zur Hölle mit Hitler! 15 Wir wagten es nicht zu glauben 21 Wie ich aus Hakenkreuzen Bratkartoffeln machte 31 Wir werden weitermarschieren 37 Besser zuviel als zuwenig 49 Mein eigener Achter Mai 65 ... viel nicht mehr, aber den Kopf noch fest auf dem Hals 71 Meine Kusine Gudrun 79 Pommerland ist abgebrannt... 91 Kommissar Richters Tochter 101 Wer hat denn die Karre aus dem Dreck gezogen ...? in Ein Aktionär kommt zu Besuch 121 Von einem, der viel Glück gehabt hat 131 Und immer noch: Die Juden sind unser Unglück ... 139 Das Geschehen am Rande 149 Es ist doch wohl noch nicht zu spät? 159 Brief aus einem Flüchtlingslager: »Es geht mit uns jetzt steil aufwärts!« 167 Briefe einer aus dem Exil Heimgekehrten: »Hier fühle ich mich so fremd und verloren« 171 Das rettende Tief dringt nicht durch ... 181 Jeder Zoll ein Knorr 189 Das Ende vieler Hoffnungen 201 Was wir alles nicht wussten 207 Von Hühnerfutter, Butterkremtorte und Kopfgeld 217 Begegnung im >Rosinenbomber< 231
»Geschichte ist, während sie geschieht, ganz und gar privat...« Anstelle einer Einleitung Wir saßen zu dntt beim Mittagessen in der kleinen Kneipe nahe dem Pressehaus an der Brandstwiete - drei Redakteure des schon seit einigenJahren von Hannover nach Hamburg übergesiedelten Nach richtenmagazins Der Spiegel. Es war im Mai 1957, im achten Regierungsjahr des autokratischen Bundeskanzlers Konrad Adenauer und nur ein Dutzend Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation der Hider-Diktatur am 8. Mai 1945, als noch niemand sich hatte vorstellen können, wie bald auf diesen vollständigen Zusammenbruch Deutschlands, auf Chaos, Hunger und Elend, das »Wirtschaftswunder* folgen würde, über das wir längst aufgehört hatten, uns noch zu wundem. Nicht nur ein notdürftiges Dach über dem Kopf, sondern ein komfortables Zu hause zu haben, ordentlich, ja durchaus korrekt angezogen zu sein, immer gut und ausreichend zu essen zu haben - das waren bereits Selbstverständlichkeiten geworden. Im Mittelpunkt des Interesses stand Anfang Mai 1957 gerade die Frage der atomaren Bewaffnung der Bundeswehr. Konrad Adenau er hatte kurz zuvor auf einer Pressekonferenz die Meinung vertre ten, Atomwaffen wären doch nur »eine Weiterentwicklung der Artillerie«, niemand könnte doch etwas dagegen haben, wenn auch die Streitkräfte der Bundesrepublik mit diesen derzeit modernsten Waffen ausgerüstet würden, und auch sein junger, dynamischer Verteidigungsminister Strauß hatte im Hessischen Rundfunk er klärt, Atomwaffen seien für die Bundeswehr unverzichtbar und ein Zeichen für ihre Gleichberechtigung im Bündnis. Demgegenüber hatten im Göttinger Manifest achtzehn führende Kernphysiker der Bundesrepublik, unter ihnen Max Bom, Otto 7
Hahn, Werner Heisenberg, Max von Laue und Carl Friedrich von Weizsäcker, dringend vor solchen Abenteuern und vor der Ver harmlosung der sogenannten »taktischen Atomwaffen« gewarnt, von denen jede die Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe besäße. Ihr Appell hatte die volle Zustimmung der großen Mehrheit der Bundesbürger gefunden, aber Adenauer und Strauß zeigten sich davon unbeeindruckt. Was sie beunruhigte, war die gerade an die sem 8. Mai 1957 bekanntgewordene Einwilligung des amerikani schen Präsidenten Dwight D. Eisenhower in den Vorschlag des sowjetischen Parteichefs Nikita Chruschtschow, in Mitteleuropa eine entmilitarisierte Zone zu schaffen, deren Kem ein blockfreies Deutschland bilden sollte. Adenauer sollte bereits gegen solchen »Unfug« energischen Protest erhoben haben ... »Kaum zu glauben«, sagte ich, »daß jemand in Deutschland nur zwölf Jahre nach der Katastrophe von 1945 schon den nächsten Krieg ins Auge faßt und sich mit Händen und Füßen gegen alles sträubt, was zur Abrüstung und Entspannung führen könnte. Jeder, der den 8. Mai, den Tag der Kapitulation, miterlebt hat, müßte sich doch noch daran erinnern, was wir uns damals gelobt haben ...« »Ehrlich gesagt«, bemerkte einer meiner damaligen Redaktionskol legen, »an den 8. Mai 194J, den Tag, als der vorerst letzte Krieg in Europa amtlich zu Ende ging, an diesen Tag erinnere ich mich nicht...« Bei späteren Arbeiten an diesem Buch stieß ich in einer Sammlung von Erinnerungen an den 8. Mai 1945 auf einen Text von Gün ter Gaus, der das ausdrückt, was mein damaliger Kollege mit seiner für uns überraschenden Äußerung sicherlich gemeint hatte: »Der 8. Mai 1945 ist als historisches Datum damals nicht in mein Be wußtsein gedrungen.« Das hat einen banalen Grund, über den freilich im jeweiligen historischen Abstand wenig nachgedacht wird. Gewaltige, umstürzende Vorgänge wie zum Beispiel der damalige Krieg und seine Beendigung sind - bevor sie zu Geschichtsdaten gerinnen, solange sie unmittelbar berührende Gegenwart sind - das genaue Gegenteil von dem, was uns als Geschichte gewöhnlich präsentiert wird: Je mächtiger der Vorgang, um so stärker zersplit tert er in unzählige Einzelteile; jedes Teilchen ein Mensch mit seinem Geschick. Was im gehörigen Abstand dann Historie ist, die ihre Merkdaten hat, ist ganz und gar privat, während es geschieht. 8
Die Menschen erleben, erleiden ihre privaten Geschichten, deren Summe später als Geschichte in einen Singular verwandelt wird, der die Vielzahl der Einzelteile verdrängt. Das Wort 'Verdrängung soll hier durchaus, auf die Geschichte und ihre übliche Lesart hin gese hen, jenen psychischen Mechanismus bezeichnen, der die Keime schwerer seelischer Erkrankungen in sich trägt. Nur die Verdrän gung der Geschichten macht die Geschichte harmlos (wortwört lich), ermöglicht ihren Mißbrauch als Stimulans und hilft beträcht lich bei der Wiederholung alter - historisch verblaßter - Fehler. Seinerzeit, vor mehr als vierzig Jahren, gab es faktisch und im Bewußtsein nur Geschichten. Weil Geschichte, während sie stattfin det, mit uns umspringt, wir ihr Rohmaterial sind - privat ist, hat es im Frühjahr 1945 [und natürlich auch danach] viele, ungezählte Male einen achten Mai gegeben ... »Mein achter Mai 1945« - so Günter Gaus - »liegt Mitte April desselben Jahres. Um den zwölften April herum - genauer erinnere ich mich nicht mehr - ist es gewesen: mein privates Geschichtsdatum vom Kriegsende. Von ihm weiß ich, anders als vom historischen achten Mai, alles Wichtige ganz genau; nichts davon ist über die Jahre verlorengegangen. Zwei Wochen vorher war ich mit einigen aus meiner Schulklasse in den sogenannten Volkssturm eingereiht worden. Was wir in dessen Reihen erlebten, war weit weniger gefährlich, als was wir im Jahr vorher im Bombenkrieg mitgemacht hatten. Wir lagen in einer Schule herum, übten mit Panzerfäusten und Pistolen und aßen Schokolade aus Fliegerverpflegung, was uns mehr imponierte, als daß das bittere Zeug gut geschmeckt hätte ... Das Wetter übrigens war an allen diesen Tagen in Deutschland so herzerhebend schön, wie man es sich nur wünschen kann. Es waren ein Frühling und ein Sommer von größter natürlicher Pracht. Unter Führung von drei Erwachsenen, die jedenfalls über zwanzig Jahre alt waren - ein Offizier, zwei Unteroffiziere, einer von ihnen nach meiner Erinnerung ein Österreicher -, zogen wir Halbwüchsi gen schließlich aus meiner Heimatstadt Braunschweig in Richtung Elm [das kleine Mittelgebirge, das viele aus Kreuzworträtseln ken nen], um den weiteren Vormarsch der Amerikaner nach Osten, auf Berlin zu, stoppen zu helfen. Ein Kindertraum. Im November 1929 geboren, war ich damals, im April 1945, fünfzehn Jahre alt. In einem Dorf richteten wir die Barrikaden wieder auf, die von den Bauern
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schon abgeräumt worden waren. Wir waren nicht behebt, obwohl wir Kinder waren. Die Leute atmeten auf, als wir weiterzogen. Wir trafen Männer von der SS, die uns in ihren Krieg mitnehmen wollten. Wir atmeten auf, als sie uns dann doch zurückließen. Nach ein paar Tagen hatten die Erwachsenen so viel Vertrauen zueinander gefaßt, daß sie sich zumuteten, unsere Truppe aufzulösen und uns nach Hause zu schicken. In zwei Nächten - über die Felder mar schiert; die Dörfer waren schon von den Amerikanern besetzt; tagsüber waren Fremdarbeiter unterwegs - gelangten mein Schul freund und ich nach Braunschweig zurück, wo inzwischen die Amis eingezogen waren. Jetzt kommt er, mein achter Mai - mitten im April. Ich war wieder zu Hause bei meinen Eltern: Über den nächtlichen Marsch dahin, über die Ängste auf dem Weg, über das Ankommen wäre viel zu sagen. Ich begnüge mich mit dem Wichtigsten. Am ersten Abend zu Hause, als ich ins Bett ging, legte ich ab, was Oberbekleidung genannt wird. Die Wäsche darunter behielt ich gewohnheitsmäßig an; solche begründete Vorsicht sicherte seit langer Zeit beim all nächtlichen Fliegeralarm einen nützlichen, notwendigen Zeitgewinn, mit dessen Hilfe man früh genug in den Bunker gelangen konnte. Meine Mutter kam ins Zimmer. Nein, sagte sie, du kannst alles ausziehen. Du kannst die Nacht durchschlafen. Wir haben Frieden. So einfach, so bedeutsam, so privat, so konkret war das. Die Mutter sagte nicht, der Krieg sei zu Ende. Sie ging einen Schritt weiter: Wir haben Frieden, sagte sie. Du kannst alles ausziehen. Ich tat es. Diesen Blitz einer unmittelbaren Erkenntnis habe ich nicht vergessen. Ich weiß konkret und als Privatmann, was Frieden bedeutet. Noch einen Eindruck von vielen, die mir damals zuwuchsen: Einige Zeit nach dem 8. Mai 1945, dem historischen Tag der bedingungslo sen Kapitulation, las ich in einer Zeitung der Besatzungsmacht den letzten Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht, herausgege ben unter dem Datum des neunten Mai. In diesem OKW-Bericht wird auf pathetische Weise der Krieg bilanziert, quittiert - und dann steht in ihm der Satz: »Jeder Soldat kann deshalb die Waffen aufrecht und stolz aus der Hand legen und ... tapfer und zuversichtlich an die Arbeit gehen .. .Feind< gewesen war, zu bedeuten hatte: Der ganze Spuk war vorüber. Aus Bomben nächten mit Luftminen und Phosphorregen, Artillerieüberfällen und Tieffliegerangriffen war ich noch einmal heil davongekommen. Ich hatte mein Leben gerettet und konnte es jetzt, siebzehn Jahre und sechs Tage alt, noch einmal beginnen. »Was hat der britische Offizier gesagt?« wollte der Unterarzt wissen. 19
»Der Befehl lautet: Ab in die Kriegsgefangenschaft nach Bad Oldes loe - und zur Hölle mit Hitler!« Er sah mich etwas verdutzt an, sagte aber nur: »In Ordnung! Dann also weiter nach Bad Oldesloe ...«
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Wir wagten es nicht zu glauben NatürEch erinnere ich mich noch an Gerda S., die Tochter unserer Nachbarn in Zehlendorf, sagte Frau H. Sie war so alt wie Stefan, mein Jüngster, und sie brachte es fertig, ausgerechnet mich, die nach Nazigesetzen >Volljüdin< war, mit »Heil Hitler« zu grüßen. Das erste Mal hat sie mich damit sehr erschreckt, obwohl sie es sehr freundEch sagte und sogar, mit zum Nazigruß ausgestrecktem rechten Arm, einen Knicks vor mir machte, was sehr komisch aussah. Aber mir war damals nicht zum Lachen zumute, denn ich hatte mich an der BushaltesteUe verbotenerweise auf eine Bank in den Schatten ge setzt, weil es so heiß war und mir die Füße schmerzten. Mein Mann lebte damals noch, und da er »arisch« war, galt ich als »privilegiert«, was bedeutete, daß ich keinen Judenstern sichtbar aufgenäht zu tragen brauchte. Deshalb hatte ich es gewagt, mich für einen Mo ment auf der Bank auszuruhen, und mir gedacht: Hier kennt dich keiner... Nun, sie war nicht bösartig, die Kleine, sie hat mich nicht angezeigt. Vielleicht glaubte sie auch, »Privilegierte« dürften sich auf eine Bank setzen... Indessen galten die meisten Schikanen auch für mich, die ich getauft, evangeEsch erzogen und mit einem »Arier« verheiratet war, der 1914-1918 als Offizier an der Front gestanden hatte. Ich durfte zum Beispiel kein Theater, kein Konzert, auch kein Kino besuchen, kein öffendiches Hallen- oder Freibad benutzn, kein Lokal betreten, wo - wie es häufig an der Tür zu lesen stand »Hunde und Juden« draußen zu bleiben hatten. Trotzdem ging es mir bis zum Winter 1943/44 den Umständen entsprechend noch ganz gut: Ich hatte meine FamiEe, mein schönes Zuhause, meinen Garten. Vor aUem brauchte ich nicht zu befürch ten - wie inzwischen viele andere BerEner Juden -, abgeholt, in Güterwaggons gepfercht und nach Polen deportiert zu werden, wo die »Umsiedler«, wie man inzwischen wußte, zu unmenschEch harter Zwangsarbeit eingesetzt oder sofort ermordet wurden. 21
Aber dann, Ende Februar 1944, starb mein Mann nach kurzer, sehr schwerer Krankheit, und nun mußte ich damit rechnen, in Kürze abgeholt und deportiert zu werden, womöglich mit meinen beiden Jungen, Klaus und Stefan, der eine sechzehn, der andere vierzehn einhalb Jahre alt. Sie galten als »Mischlinge 1. Grades», hatten das Gymnasium verlassen müssen, wo »Halbjuden« nicht geduldet wur den, aber brauchten nicht zu fürchten, als Flakhelfer eingezogen zu werden. Klaus hatte eine Schlosserlehre beendet und war bei Sie mens dienstverpflichtet, Stefan war bei einem Elektriker in der Lehre und bekam von unserem Pfarrer nebenher noch Privatunter richt. Am Mittwoch, dem 1. März 1944 - tags zuvor war mein Mann beerdigt worden - faßte ich den Entschluß, nicht erst abzuwarten, was geschehen würde, sondern so rasch wie möglich aus Berlin zu verschwinden. Meine beste und älteste Freundin, Marlis v. B., lebte auf einem Gutshof im Rheinland. Ich rief sie an und sagte: »Können wir für einige Wochen bei euch unterkommen?« Sie begriff sofort und antwortete ohne zu zögern: »Kommt sofort. Laßt alles stehen und liegen. Ruft mich an, wenn ihr in Duisburg seid, dann hole ich euch ab ...« Zum Glück hatte ich einen größeren Bargeldbetrag im Haus. Die Bank hatte ihn mir - wegen der Beerdigung und allem, was damit zusammenhing - anstandslos gegeben, obwohl ich eigentlich selbst gar nichts vom Konto abheben durfte. Nun beglich ich alle Rech nungen durch Überweisungen und behielt das Bargeld. Das Wenige, was wir mitnehmen wollten, war schnell gepackt - für jeden einen kleinen Luftschutzkoffer und eine Tasche -, und als die Jungen von der Arbeit heimkamen, schickte ich den Kleinen zur Apotheke. Klaus, der Altere, bekam dann von mir einen Kopfverband; seinen linken Arm schienten wir und legten ihn in eine Schlinge, und dazu bekam er noch einen Stock, auf den er sich stützen sollte. Ich rief bei Siemens an und ließ seinem Meister ausrichten, Klaus hätte einen Unfall gehabt, sich den Arm gebrochen und käme vorerst nicht zur Arbeit. Das ärztliche Attest würde ich mit der Post schicken. Das gab ihm ein paar Tage Vorsprung, ehe sie ihn der Polizei melden würden. Auch den Pfarrer rief ich an und sagte ihm, Stefan würde bis auf weiteres nicht mehr zum Unterricht kommen, und er stellte keine
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Fragen. Die einzige, die ich ins Vertrauen zog, war das Dienstmäd chen unserer Nachbarn, die Grete. Ich gab ihr unsere Hausschlüssel und bat sie, solange es ihr möglich sei, ein wenig nach dem Rechten zu sehen. »Ich will nicht wissen, wo Sie untertauchen«, sagte sie zu mir. »Dann kann ich auch nichts verraten. Aber rufen Sie mich ab und zu mal an. Dann kann ich Ihnen sagen, ob ... ob jemand hier war ..., und ich möchte ja auch wissen, daß Sie und die Jungen wohlauf sind ...« Wir nahmen von Wannsee aus den Nachtzug über Hannover und Dortmund bis Duisburg. Zweimal kam eine Streife durch den Zug, interessierte sich aber nur für Klaus, der jedesmal seinen SiemensWerksausweis vorzeigte und erklärte, er hätte zwei Tage Urlaub wegen eines Trauerfalls, und es gab keine Schwierigkeiten, weil er tatsächlich einen Brief der Personalabteilung vorweisen konnte, worin es hieß, ihm sei zur Beerdigung des Vaters, deren Datum noch nicht feststehe, Urlaub zu gewähren. Marlis, die ich schon von Dortmund aus angerufen hatte, holte uns in Duisburg vom Zug ab. Auf ihrem Gutshof in der Nähe von Velbert waren die Gästezimmer schon für uns vorbereitet. Wir galten als >ausgebombte< Freunde, und da die Gutsbewohner »Selbst versorger« waren, brauchten wir keine Lebensmittelmarken, und niemand stellte uns neugierige Fragen. Als ich am Abend unseres Ankunftstages bei Grete in Berlin anrief, erfuhr ich, daß wir am Morgen nach unserer Abreise bereits »Be such« bekommen hätten. »Sie haben dann auch bei mir gefragt«, berichtete Grete. »Ich sagte ihnen, Ihr Gatte sei kürzlich verstorben. Vielleicht seien Sie zu Verwandten nach Ostpreußen, ich wüßte nichts Genaueres. Da sind sie wieder abgezogen ...« Nun war uns klar, daß wir nicht mehr nach Berlin zurück konnten, solange die Nazis an der Macht waren. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Marlis zu mir. »Hier bist du sicher. Kein Hahn kräht danach, wer bei uns zu Besuch ist und wie lange ...« Und tatsächlich ging das Frühjahr und den Sommer über alles gut. Wir hielten uns nur auf dem Gut auf und vermieden alles, was uns hätte auffällig machen können, auch jeden Kontakt zu Fremden. Nicht mal der Briefträger bekam uns zu Gesicht, schon gar nicht der Landgendarm, der alle acht bis zehn Tage routinemäßig mal nach dem Rechten sah, einen Schnaps spendiert bekam und wieder davonradelte.
Ab und zu kam der Mann meiner Freundin, Major im Generalstab, aus Berlin auf Urlaub nach Hause. Er freute sich, daß Marlis Gesell schaft hatte und machte uns Mut: Der Krieg, sagte er, sei für Deutschland verloren und werde bestimmt bald zu Ende sein. Wenn Hitler nicht begreife, daß ein Sieg ausgeschlossen sei, müßte wohl bald die Wehrmacht die Initiative ergreifen ... Nach dem gescheiterten Attentat auf Hider am 20. Juli 1944 begrif fen wir, was er damit gemeint hatte. Zum Glück war er nicht direkt in die Verschwörung verwickelt, so daß wir zunächst weder seinetnoch unsertwegen Angst zu haben brauchten. Aber das änderte sich mit einem Schlage, nachdem am 12. August Carl Goerdeler, der von den Verschwörern zum Nachfolger Hiders als Reichskanzler vorge sehene frühere Oberbürgermeister von Leipzig, der Gestapo in die Hände gefallen war und am 19. August der Generalfeldmarschall v. Kluge sich durch Selbstmord der Verhaftung entzogen hatte. Am 20. August 1944 rief Marlis’ Mann abends an: Wir müßten damit rechnen, daß die Gestapo uns einen Besuch abstatten würde. Also durfte ich Marlis nicht auch noch durch meine Anwesenheit gefährden. Bei Morgengrauen verschwanden wir, meine beiden Jungen und ich, von Marks wohlversehen mit allem, was sie meinte, daß wir brauchen würden. Weil wir der vielen Kontrollen wegen es nicht mehr wagen konnten, Eisenbahnzüge zu benutzen, gingen wir zunächst zu Fuß die knapp sieben Kilometer bis Mülheim/Ruhr, fuhren von dort mit der Stra ßenbahn bis Duisburg und weiter über Moers und DüsseldorfOberkassel bis Neuss. Klaus, der ja nun schon im militärpflichtigen Alter war, entging auf diese Weise den strengen Blicken der Militär polizei, die an allen Bahnhöfen die Papiere der jüngeren Männer kontrollierte. Außerdem hatte ich ihm wieder mit geschientem Arm und verbundenem Kopf sowie mit Rußflecken im Gesicht das Aussehen eines Opfers der zahlreichen Luftangriffe gegeben. So wirkten wir wie eine ausgebombte Familie, die Zuflucht bei Ver wandten sucht, und fielen den zur Frühschicht fahrenden Arbeitern nicht weiter auf. Ab und zu wurden wir gefragt, wo es denn letzte Nacht >hingehauen< hätte und ob es sehr schlimm gewesen wäre. Ich sagte dann, uns hätte es die Wohnung gekostet, das sei schlimm genug, und >bei uns in Dorsten* habe es mächtig >hingehauenunser< Garten grenzte, begann ein Pionierbataillon eilig mit dem Bau von Panzersperren und Schützengräben, und die Feldküche stand neben der zerstörten Villa unter dem alten Nußbaum - direkt vor unserer Nase! Der Koch gab uns bereitwillig von allem, was übrigblieb - sogar Bohnenkaffee und Schokolade. Nur durfte Klaus, mein Ältester, sich nicht mehr blicken lassen. Ein fast Achtzehnjähriger ohne Uniform mußte sofort Mißtrauen erregen, zumal jetzt, wie ich vom Koch erfuhr, immer mehr deutsche Soldaten Reißaus nahmen, die Militärpolizei ständig auf der Suche nach Deserteuren war und mit allen, die sie aufgriff, kurzen Prozeß machte. Klaus mußte als Tag und Nacht im Gartenhäuschen bleiben - auch noch am 17. September, als wir plötzlich unter Artilleriebeschuß kamen und die Pioniere samt ihrer Feldküche eilig Stellungswechsel machten. »Kommen Sie mit«, riet mir der Koch, »der Feind kann hier jeden AugenbEck durchbrechen, und die Amis sind dabei, uns den Rück zug abzuschneiden!« Ich lehnte natürEch ab, und zu meuter Überraschung erklärte auch die Nachbarin, daß sie und ihre FamiEe nicht flüchten würden. »Wenn die Amerikaner Aachen erobern, ist der Krieg für uns zu Ende«, sagte sie zu mir, und ich nickte nur. Ich hoffte nichts
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sehnlicher als das sofortige Erscheinen der Amerikaner. Aber konn te ich ihr das sagen? Die nächsten Wochen waren einerseits wie ein schier endloser Alptraum, denn wir befanden uns nun zwischen den Fronten, immer wieder unter Beschuß durch Artillerie, Tiefflieger und vor rückende Panzer, in ständiger Angst, daß es uns nach all den schreck lichen Jahren so kurz vor dem Ende doch noch erwischen könnte. Andererseits erfuhren wir in diesen Tagen und Nächten bis zum 21. Oktober auch, daß die Größe und Nähe der Gefahr wahre Wunder bewirken und bei den Menschen ungeahnte Qualitäten zum Vor schein bringen können. In der Nacht zum 2. Oktober, als die amerikanische Artillerie das Trommelfeuer auf die deutschen Stellungen in und um Aachen eröffnete, kam unsere bis dahin eher abweisende Nachbarin zwi schen zwei nahen Einschlägen zu uns ins Gartenhäuschen gelaufen und forderte uns auf, in ihren Keller zu kommen. »Da sind Sie und die Jungen weit besser geschützt«, sagte sie, noch ganz außer Atem. »Unser Luftschutzkeller ist besonders tief, gut abgestützt und hat eine doppelte Betondecke. Wenn es nicht gerade ein Volltreffer von großem Kaliber ist, kann uns da nichts pas sieren ...« Wir nahmen ihr Angebot dankbar an, und kaum waren wir mit unseren wenigen Habseligkeiten am Nachbarhaus angelangt, wurde unser Gartenhäuschen von einer Granate getroffen; der Luftdruck der Explosion warf uns zu Boden, und die Holzteile flogen bis in unsere Nähe. »Sehen Sie«, rief uns die Nachbarin zu, »das wäre Ihnen nicht gut bekommen!« In ihrem Luftschutzkeller erwarteten uns einige Überraschungen. Wir hatten zwar nicht angenommen, daß sie allein wäre, doch sie hatte elf Personen dort aufgenommen: ihren alten Vater, der ein doppelläufiges Jagdgewehr im Anschlag hielt und eine Pistole im Hosenbund stecken hatte; drei junge Soldaten, zwei davon ebenfalls bewaffnet und kampfbereit, während der dritte, offenbar verwun det, auf einer Matratze lag; zwei französische Kriegsgefangene in zerschlissenen olivfarbenen Uniformen, der eine mit einem Karabi ner, der wohl dem verletzten Soldaten gehörte, der andere mit schußbereitem Trommelrevolver; zwei junge Frauen, die uns ängst-
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lieh anstarrten, an ihren Kitteln das rechteckige SklavenarbeiterZeichen mit der Aufschrift >OST 'Welcame US soldiersAllües are waiting for you hereb Indessen dauerte es sehr viel länger, als wir gedacht hatten. Vierzehn Tage und Nächte lang hörte das Schießen draußen nicht auf, und wir wagten uns nicht aus dem Keller. Dann gingen die Lebensmittelvorräte zur Neige, und Klaus und ich benutzten eine kurze Feuerpause, die Reste der von Tante Mariette zurückgelassenen Graupen, Bouil lonwürfel, Apfelmus-Gläser und Zwieback-Dosen in einer Blitzak tion von nebenan herüberzuholen. Als wir auf dem Rückweg wa
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ren, setzte wieder Artillerie- und Maschinengewehrfeuer ein, und wir konnten erkennen, daß die Amerikaner noch mindestens zwei bis drei Kilometer von uns entfernt standen, während von deutscher Abwehr in unserem Abschnitt nichts zu bemerken war. Zum Glück blieben wir während dieser zwei Wochen völlig unbe helligt. Keine einzige Streife kam vorbei, und nur einmal begann Asta wütend zu bellen, und wir verschwanden eilig in das Versteck. Doch der Hund beruhigte sich rasch wieder, niemand kam ins Haus, und wir vermuteten, daß sich deutsche Deserteure genähert hatten, durch das Hundegebell aber vertrieben worden waren. Als ich am Morgen des 18. Oktober erwachte, hörte ich von den anderen, daß Asta, die Schäferhündin, verschwunden sei. Wir über legten noch, was das wohl bedeuten könnte und wie wir uns nun verhalten sollten, als wir rasch näherkommende, freudig klingendes Hundegebell hörten. Dann kam Asta die Kellertreppe herunterge schossen, und ihr folgten sehr behutsam, die Gewehre im Anschlag, zwei amerikanische Soldaten in Kampfanzügen, ein Weißer und ein Schwarzer. * What the hell.. .*, hörten wir den einen rufen. Dann sah er wohl das Plakat, das ihm von der Nachbarin entgegen gehalte wurde, lachte und ließ sich von Stefan, der sich auf diesen Augenblick seit Tagen vorbereitet hatte, erklären, wer wir seien. »You’ve forgotten to mention the dog«, sagte der schwarze Gl, und wir erfuhren dann, daß die hungrige Asta die amerikanische Feldkü che gefunden, sich dort beliebt gemacht und gesättigt, dann aber nicht geruht hatte, bis ihre neuen Freunde ihr zum Haus gefolgt waren. Plötzlich setze wieder Artilleriefeuer ein. Eine Granate explodierte im Garten. »Warum greift ihr nicht endlich an und befreit uns hier?« schrie die junge Frau mit dem Baby auf Holländisch. Sie zitterte vor Angst. Die Amerikaner verstanden sie nicht. Als sie nach einigem Hin und Her endlich begriffen hatten, lachten sie und versicherten uns, wir seien längst in Sicherheit. Nur noch um den Lousberg und um ein paar Häuserblocks in der Innenstadt würde gekämpft, weil sich dort einige wenige versprengte Wehrmachtstrupps verschanzt und noch nicht ergeben hätten. Die Hauptkampflinie verlaufe schon seit Ta gen rund zehn Kilometer weiter ösdich.
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Wir wagten es nicht zu glauben, daß wir schon befreit waren. Tatsächlich dauerte es noch drei Tage, bis der letzte deutsche Wider stand in und um Aachen erloschen war und wir dann wirklich nichts mehr zu befürchten hatten. Doch noch am selben Vormittag, als wir, dank Asta, erste Bekanntschaft mit den Amerikanern ge macht hatten - die sogar noch einmal wiederkamen und uns Ver pflegung und Kaffee brachten! -, hörten wir zu unserer Überra schung von der Straße her eine Lautsprecherdurchsage auf deutsch: »Achtung! Achtung! Hier spricht die neue, von unseren amerikani schen Befreiern eingesetzte Stadtverwaltung!« Es folgten Bekanntmachungen über die Ablieferung von Waffen, die Ausgabe von Lebensmitteln, die in Kürze wiederhergestellte Stromund Wasserversorgung, die Aufforderung, sich registrieren zu las sen, und schließlich die Mitteilung: »Die frühere Polizei, Gestapo, SS, Feldjäger und Nazi-Parteifunk tionäre haben keine Macht mehr über uns. Niemand hat mehr etwas von ihnen zu befürchten! Der gesetzliche Zustand von vor 1933 ist wiederhergestellt!« Es klang uns wie Musik in den Ohren.
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Wie ich aus Hakenkreuzen Bratkartoffeln machte »Würdelos«, so nannte unser Klassenlehrer Dr. Brettschneider das Verhalten der Aachener, die sich vom Feind, von den Amerikanern, hatten »überrollen« und erobern lassen, ohne sich bis zum letzten zu wehren, ohne ihre Straße, ihr Haus, ihre Wohnung bis zum äußer sten zu verteidigen, »notfalls mit der Mistgabel!« Es war zu Beginn des sechsten Kriegsjahrs, ich war damals, im Oktober 1944, elfeinhalb Jahre alt und dachte an meine Tante Jose pha in Aachen-Burtscheid, die bestimmt keine Mistgabel hatte und nun würdelos sein sollte, weil sie sich hatte »überrollen« lassen und amerikanische Gefangene war. Tante Josepha, die wir zuletzt im Sommer besucht hatten, geisterte damals oft durch meine Träume - wegen der knusprigen, goldgel ben, an den Rändern braunen Bratkartoffeln, die sie mir vorgesetzt hatte und die so herrlich geschmeckt hatten, daß ich sie nicht vergessen konnte. Bei uns zu Hause in Köln-Lindenthal bekam ich schon seit langem keine Bratkartoffeln mehr. Mutter sagte, sie habe kein Fett dafür, und Vater sei Beamter, Parteigenosse und Luft schutzwart, da müsse sie sich vorbildlich verhalten und dürfe nichts »schwarz« kaufen. So aßen wir Roggensuppe, Frikadellen aus soge nannter Bratlingsmasse, die nach Lebertran schmeckte, und dazu Brennesselgemüse. Ich dacht oft voll Neid an meinen älteren Bruder, der Marinefunker in Norwegen war und bestimmt Schnitzel mit Erbsen und Möhren und womöglich sogar Bratkartoffeln bekam. Wäre ich damals vier Jahre und einen Monat älter gewesen, dann hätte ich mich, wie der ganze Jahrgang 1928 an unserer Schule, freiwillig zum Fronteinsatz gemeldet, denn viel schlimmer als in Köln, wo Tag und Nacht Spreng-, Brand- und Phosphorbomben fielen, Flaksplitter auf Dä cher und Straßen prasselten und neuerdings auch Tiefflieger mit MGs die Brücken und Bahnhöfe beschossen, konnte es an der Front 31
auch nicht sein. Aber dafür bekamen die Soldaten viel bessere Verpflegung als wir, brauchten nicht Vokabeln zu lernen und sich auch nicht die Sprüche anzuhören, die Dr. Brettschneider oder mein Vater uns dauernd erzählten: Daß jetzt bald die »Wunderwaffen« des »Führers« alle Feinde zerschmettern und uns den »Endsieg« bringen würden, daß wir uns unseres großen »Führers« würdig erweisen und freudig alle Opfer auf uns nehmen müßten ... Dabei war ich durchaus kein Gegner der »Bewegung«, der »Idee« oder wie immer man es nannte, was seit dem 30. Januar 1933, meinem Geburtstag, ganz Deutschland beherrschte. Weder kannte ich eine Alternative zu dem herrschenden Regime noch hätte ich mir etwas anderes vorstellen können - abgesehen vom Sattessen, ab und zu sogar Bratkartoffeln und richtige Frikadellen sowie ein Ende der Bombenangriffe auf Köln oder wenigstens eine längere Pause. In der vagen Hoffnung auf solche Belohnungen sammelte ich eifrig alte Zeitungen, Knochen, Lumpen und Buntmetalle für die »Alt stoffsammlung«, half meinem Vater beim Kontrollgang über die Speicher und beim Zählen der vorhandenen Feuerpatschen und Sandeimer, erzielte Rekordergebnisse beim Verkauf von Winter hilfsabzeichen und war Dr. Brettschneider behilflich, wenn er in brauner Amtswalteruniform Plakate verteilte und deren korrekte Anbringung überwachte. »Pst! Feind hört mit!« stand darauf oder »Harte Zeiten! Harte Pflichten! Harte Herzen!« Mitte November hörte ich von Klassenkameraden, daß am Bahn damm in Köln-Ehrenfeld dreizehn Jugendliche von der Gestapo aufgehängt worden waren - sogenannte »Edelweißpiraten«, über die es die widersprüchlichsten Gerüchte gab. Die einen sagten, es han dele sich um Plünderer, die anderen behaupteten, es seien Partisa nen, verstärkt durch geflüchtete Kriegsgefangene und Ostarbeiter, die eine Eisenbahnbrücke hätten sprengen wollen. Dr. Brettschneider hielt es für seine Pflicht, uns Elfjährigen die Fotos zu zeigen, die er von der Hinrichtung der »Edelweißpiraten« selbst gemacht hatte. Einigen von uns wurde schlecht, als wir die Bilder sahen. Ich fand, daß der Jüngste, den ein bulliger SS-Mann an einer Teppichstange aufgehängt hatte, wie mein Freund Ulli aussah, der seit zwei Mona ten vermißt wurde, behielt diese Vermutung aber für mich. Etwa von Mitte Dezember an hieß es, an der Westfront habe sich das 32
Blatt gewendet. Jetzt griffe die Wehnnacht an und sei im stürmi schen Vormarsch. Die >Amis< müßten überall zurück. »Haben sie Aachen schon geräumt?« erkundigte ich mich und dachte dabei an Tante Josepha und ihre leckeren Bratkartoffeln. Aber Aachen, so hörte ich, war weiterhin in der Hand des Feindes, und bald ver stummten auch die - wohl etwas voreiligen - Siegesmeldungen von der Eifelfront. Als mein Vater am Abend von der Gauleitung heimkehrte, berichte te er, die >Ardennen-Offensive< sei sehr erfolgreich gewesen und habe dem Feind die ganze Härte unserer Abwehrschläge vor Augen geführt. Aber nun seien unsere Truppen wieder in ihre Ausgangs stellungen zurückgekehrt, weil am >Westwall« mehr feindliche Kräf te gebunden werden könnten als irgendwo sonst. In Bälde würden gegen sie die »Wunderwaffen« eingesetzt, die der Führer bislang zurückbehalten habe, weil man sich den höchsten Trumpf ja immer bis zuletzt aufhebt. Auch müßten die Rationen der Bevölkerung um zwanzig Prozent gekürzt werden - was meine Mutter, die nur mit halbem Ohr zugehört hatte, entsetzt aufhorchen ließ - und das müsse den Leuten klargemacht werden als das letzte große Opfer, das sie für den Endsieg zu erbringen hätten ... Dann gab es wieder Fliegeralarm, und als gegen ein Uhr früh »Entwarnung« kam, war Vater zu müde, um uns noch mehr zu erzählen. Aber Anfang Februar, als wir das Geschützfeuer der von drei Seiten auf Köln vorrückenden Amerikaner schon hören konn ten, wurde Vater abermals zur Gauleitung befohlen. Als er abends nach Hause kam, erklärte er uns, der »Brückenkopf« Köln werde »unter allen Umständen« gehalten und bis zum letzten Atemzug verteidigt. Ganz Deutschland schaue jetzt auf uns, »die Wacht am Rhein«. Ehirch vorbildliche Pflichterfüllung und Gegenwehr bis zum letzten müßten wir uns dieser Tatsache würdig erweisen. »Wie Kolberg?« erkundigte ich mich. Dr. Brettschneider hatte uns mit der heldenhaften Verteidigung dieses Ostseehafens gegen die Franzosen im Jahre 1806 vertraut gemacht, uns von Nettelbeck erzählt und uns versprochen, den gerade fertiggestellten Film mit uns anzusehen, sobald er in Köln gezeigt werden könnte. Ich hatte den Eindruck, meine Mutter wäre viel lieber, wie Tante Josepha in Aachen, »unwürdig« überrollte worden, anstatt mit Mann und Sohn den »Brückenkopf« zu halten. Aber glücklicherweise 33
wurde uns allen die Entscheidung abgenommen, denn plötzlich, Anfang März 1945, war Köln von Amerikanern kampflos besetzt worden. Auf dem Lindenthalgürtel rollten ihre Panzer, und überall, wo noch unzerstörte Häuser waren, hingen weiße Tücher aus den Fenstern und von den Baikonen - auch aus dem Schlafzimmer meiner Eltern, das zur Straße ging. »Darf ich raus?« fragte ich, denn natürlich wolle ich mir die feindli chen Panzer aus der Nähe ansehen, aber Mutter wehrte entsetzt ab. »Um Himmels willen! Es wird bestimmt noch geschossen!« »Wo ist Vater?« fragte ich. »Im Heizungskeller. Ich glaube, er verbrennt seine Uniform ...« Ich war fassungslos. So hatte ich mir die »Wacht am Rhein« nicht vorgestellt, auch nicht im Fall einer, wie es immer hieß, »ehrenvollen Niederlage«. Ich hatte gedacht, Vater würde seinen Bezirk, für den er als Blockwart zustän dig war, dem amerikanischen Befehlshaber »übergeben« - mit militä rischen Ehren und Händedruck -, dann die Hakenkreuzfahne ein holen und in sichere Verwahrung nehmen, für bessere Zeiten. Dann sah ich vom Fenster aus Ingo, meinen Freund, der mit mir im selben »Jungvolk «-Fähnlein war. Er kam vom Lindenthalgürtel her, direkt auf unser Haus zu. Ich lief ihm entgegen. »Mensch, Dietmar! Die tauschen!« rief er mir zu, als er mich sah. »Schokolade und Kaugummi und ganz weißes Brot und ...« »Wofür geben sie das her?« fragte ich rasch dazwischen. Daß es sich um »Feinde«, um Amerikaner, handelte, die zum Tausch bereit waren, stand für mich außer Frage. Wer sonst sollte Schokolade, Kaugummi und ganz weißes Brot haben? »Sie wollen Abzeichen und Ehrendolche und alles, was mit Haken kreuzen geschmückt ist. Ganz verrückt sind sie danach!« Ich rannte so rasch ich konnte, zurück ins Haus. Von dem, was die Amis haben wollten, gab es bei uns genug - vorausgesetzt, mein Vater hatte nicht schon alles in den Ofen geworfen. Zum Glück war er bisher nur mit dem Verbrennen seiner brauen Uniform beschäfigt gewesen. Mit drei Partei-, zwei »Hoheits«- und zwei »Jungvolk«Abzeichen, drei Armbinden und zwei hakenkreuzverzierten Fahrtenmessem machte ich mich auf den Weg.
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Am Stadtwald stand ein riesiger Panzer. Ich erschrak, als ich das Ungetüm aus Stahl vor mir sah. So riesig hatte ich mir diese Panzer nicht vorgestellt. Mir schauderte bei dem Gedanken, ich hätte die Aufgabe, so einen Koloß mit einer Panzer faust zu »knacken«. Und dabei hatten wir noch vor ein paar Tagen ganz selbstverständlich davon gesprochen; Dr. Brettschneider hatte uns genau erklärt, wie auch zwölfjährige Jungen wie wir feindliche Panzer »erledigen« könnten ... »Hallo!« Der Soldat, der oben vor der Luke saß, hörte mich gar nicht Erst beim dritten »Hallo« wandte er mir den Kopf zu, lächelte mir freundlich zu, sagte aber nichts. »Hier!« rief ich und hielt ihm eines der beiden Fahrtenmesser entgegen. »Nazi junk?« erkundigte er sich, sehr interessiert wie es schien, und er kam nun auch heruntergeklettert, ließ sich das Messer mit dem HJ-Abzeichen am Griff von mir aushändigen und nahm es in näheren Augenschein. » What do you want for it? Chocolate? Chewing gum?« »No», sagte ich, holte noch ein Parteiabzeichen aus meiner Tasche und den Zettel, auf dem ich mir vorsichtshalber aus unserem Englisch-Lehrbuch herausgeschrieben hatte, was ich wollte: »Iwant butter andfat andpotatoes...« Er war sehr erstaunt. Er musterte mich kritisch, fand mich wohl etwas blaß und ziemlich dünn, aber nicht so unterernährt, daß es erklärlich gewesen wäre, warum ich lieber Kartoffeln als Kaugummi, lieber Bratfett oder Butter als Schokolade haben wollte. Ich wußte nicht, wie man Bratkartoffeln auf amerikanisch nennt, aber ich bekam, was ich wollte. Erst als ich so viel davon zusammen hatte, daß mehrere Bratkartoffel-Orgien gesichert waren, tauschte ich den Rest meiner Schätze gegen Süßigkeiten sowie ein Päckchen Zigaretten für meinen Vater. »Thank you, Sir«, verabschiedete ich mich von dem Soldaten und trat hochbeladen den Heimweg an. Hoffentlich, dachte ich, setzt der Führer jetzt nicht seine Wunder waffen ein! Denn ich fand, es könnte nun so bleiben, wie es war: kein Fliegeralarm mehr, keine bangen Stunden im Luftschutzkeller,
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die Aussicht, mich an meinem Leibgericht satt zu essen und außer dem noch massenhaft Süßigkeiten zu haben ... Dr. Brettschneider mochte es »würdelos« finden, daß ich mich nicht nur widerstandslos hatte »überrollen« lassen, sondern auch noch zu den Siegern tauschen gegangen war. Mir war das egal. Ich staunte selbst ein bißchen, daß es mir gar nichts mehr ausmachte, was Dr. Brettschneider zu meinem Verhalten sagen würde. »Harte Zeiten, harte Pflichten, harte Herzen« - das war nun vorbei, endgül tig vorüber, und ich fühlte mich sehr erleichtert bei dem Gedanken, daß von jetzt an niemand mehr an einer Teppichstange aufgehängt werden würde.
Wir werden weitermarschieren Ich habe es später nachgelesen, als die Kriegstagebücher des Ober kommandos der Wehrmacht veröffentlicht wurden, erzählte Gun ter W. Da steht im Lagebuch mit Datum vom 19. März 1945: >... Heeresgruppe Weichsel: Nachts 50 Flugzeuge gegen Stettin. Im Brückenkopf ging im Süden ein Ort verloren. Kolberg wurde ge räumt. Weggefuhrt wurden 68000 Zivilisten, 1223 Verwundete und 5213 Mann. Der Kommandant verließ auf einem Zerstörer das Kampfgebiet. Eine Untersuchung läufr.. .< Zu den »weggeführten* Zivilisten gehörten meine Tante Gertrud und meine Kusine Gerlinde. Von den 5213 Mann waren höchstens ein paar hundert Waffen-SS- und Heeresangehörige, der Rest ältere Volkssturmmänner, Feuerwehrleute, Männer von der »Organisa tion Todt* und ein paar Hitlerjungen, einer davon ich, Jahrgang 1930, aber noch keine fünfzehn Jahre alt. Daß der Kommandant von Kolberg - ausgerechnet von Kolberg, das in unserer damaligen Propaganda das Symbol unbeirrbaren, zähesten und tapfersten Widerstandes gegen feindliche Übermacht war! -, daß sich dieser unrühmliche Nachfolger Nettelbecks und Gneisenaus feige verdrückt hatte, war das letzte, was wir noch erfuhren, als am 18. März die Russen in die Stadt eindrangen. Es waren Garderegimenter, und ich höre noch ihr >UrraHorch< selbst zu einer Villa, etwas außerhalb der Stadt. »Für zwei, drei Tage wird’s gehen«, sagte er. »Damit Sie sich etwas erholen ... Lange werden wir wohl auch nicht verschont bleiben, obwohl der >Iwan< den Hauptstoß jetzt gegen Berlin zu richten scheint...« Vier Tage blieben wir in der kleinen Villa bei Stralsund, wo sich etwa dreißig Flüchtlinge sechs Wohn- und Schlafzimmer teilten, ihre Wäsche wuschen, Kleider flickten, vor allem aber von früh bis spät miteinander berieten, wie man rasch weiter nach Westen kommen könnte - weg von den vorrückenden Russen und hin zu den Briten und Amerikanern. Die meisten waren Frauen und Kinder von hohen SS-Führem, Gau- und Kreisleitem, nur wenige Männer darunter, einer davon ein verwundeter General der Waffen-SS, der das Ritterkreuz trug. Am Nachmittag des vierten Tages kam Tante Gertrud vom Bahnhof zurück, wo sie sich erkundigt hatte. »Rasch, Gerlinde und Gunter, wir können mit einem Güterzug nach Rostock mitfahren - das sind fast achtzig Kilometer weiter nach Westen! Beeilt euch, der Zug wartet nicht!« Also schleppten wir unser Gepäck zum Güterbahnhof und trafen dort zwei Eisenbahner, die mit uns Kolberg auf dem Fischkutter verlassen hatten. Der eine hatte ein Sturmgewehr auf den Rücken geschnallt - höchstwahrscheinlich mein Gewehr, denn als er mich sah, stutzte er und lachte etwas verlegen. Ich sagte nichts, nahm mir aber vor, es ihm bei nächster Gelegenheit wieder abzunehmen. Wir kletterten dann in einen leeren Viehwag gon und richteten uns dort ein, so gut es ging, in der Annahme, wir blieben allein. Doch es kamen noch Scharen von Evakuierten und Flüchtlingen aus Pommern mit schreienden Kindern und Bergen von Gepäck, die alle weiter nach Westen wollten. Schließlich wurde es noch enger als auf dem Kutter, und erst lange nach Mitternacht setzte sich der Güterzug in Bewegung. Er fuhr sehr langsam, blieb häufig stehen, ohne daß ein Grund dafür erkennbar gewesen wäre, und als der Morgen anbrach, waren wir noch immer nicht in Rostock, sondern hielten irgendwo auf freiem Feld. Einer der Eisen40
bahner öffnete unsere Waggontür und forderte uns auf, auszustei gen. »Es kann noch eine ganze Weile dauern«, sagte er, »bis die Lok wieder flott ist. Nehmen Sie besser dort im Gebüsch Deckung jeden Moment können Tiefflieger kommen!« Wir ließen das schwere Gepäck im Waggon, nahmen aber vorsichts halber unsere Köfferchen und Rucksäcke mit, und kaum war ich im Schutz einer Hecke eingedöst, brach die Hölle los: Drei Flugzeuge donnerten im Tiefflug heran, schossen mit ihren Bordkanonen und MGs auf alle, die nicht in Deckung gegangen waren, warfen Sprengund Brandbomben auf den Zug und drehten wieder ab, Tote und Verletzte zurücklassend. Einige Waggons, darunter unserer, standen in Flammen. Die Lokomotive hatte einen Volltreffer erhalten und war nur noch ein rotglühendes, qualmendes Wrack. »Weg hier«, rief Tante Gertrud, »dort ist die Chaussee - unter den Bäumen sind wir sicherer. Wir gehen zu Fuß - es kann ja nicht mehr weit sein bis Rostock!« Also zogen wir im Gänsemarsch, dicht am Straßenrand und im Schatten der Chausseebäume, über die Landstraße, die nach Westen und, wie wir annahmen, nach Rostock führte, ich voraus, und weil ich auf der Adolf-Hitler-Schule gelernt hatte, daß beim Marschieren nichts besser gegen gedrückte Stimmung und Müdigkeit hilft als ein zackiges Lied, stimmte ich an, was mir gerade in den Kopf kam. Erst beim Refrain - >Wir werden weiter marschieren / bis alles in Scher ben fällt, / denn heute gehört uns Deutschland / und morgen die ganze Welt!< - merkte ich, wie unpassend dieser Text war. Gerlinde, die mitgesungen hatte, bemerkte bitter »Nicht mal mehr Kolberg gehört uns noch ... Wie hat es nur so weit kommen können!« Tante Gertrud erklärte uns, sie sei ganz sicher, daß nur die alten Generale der Wehnnacht daran schuld seien. Schon seit Stalingrad hätten sie alle Befehle des Führers sabotiert und ihm sogar nach dem Leben getrachtet. Gerlinde meinte, auch unter den Beratern des Führers gebe es totale Versager - vor allem Robert Ley, dieser verkommene Säufer, hätte längst abgesetzt werden müssen, aber auch Hermann Göring, der in Kannhall rauschende Feste feiere und sich eine Privatarmee halte, wo an der Front jeder Soldat so dringend gebraucht werde... Und
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Martin Bormann, der allmächtige Chef der Parteikanzlei, sei ein ganz mieser Intrigant, auf den der Führer besser nicht hörte ... Es war das erste Mal, daß jemand in meinem Beisein so über führende Männer der Bewegung herzog, und daß es gerade meine nächste Angehörigen sein mußten, die so redeten, schmerzte mich besonders. Aber ich sagte nichts, zumal mir langsam klar wurde, daß Gerlinde und sogar Tante Gertrud offenbar an den Endsieg nicht mehr glaubten, schon so taten, als sei der Krieg für uns verloren, und nun nach Schuldigen suchten. Aus der Feme hörten wir erneutes Granat- und MG-Feuer, auch Bombeneinschläge. Die feindlichen Flugzeuge griffen wohl wieder einen Eisenbahnzug an. »Es ist entsetzlich«, seufzte Tante Gertrud, »und man ist so machtlos dagegen ... Ich bin sicher, unser Führer weiß nichts davon, daß der Russe bereits in Pommern steht und der Brite vor Osnabrück ... Sonst hätte er doch schon längst unsere Wunderwaffen zum Einsatz freigegeben. Es sind Todesstrahlen«, raunte sie uns zu, obwohl weit und breit niemand zu sehen war. »Sie durchdringen alles, auch Panzerstahl und Betonbunker! Im Hand umdrehen sind die feindlichen Armeen damit besiegt!« Das machte mir wieder etwas Mut, und wir marschierten weiter, mußten dann allerdings feststellen, daß die Straße gar nicht nach Rostock, sondern nach Bad Doberan führte. Tante Gertrud meinte, das sei um so besser, denn Doberan liege noch weiter westlich, und dort kenne sie Dr. Holzapfel, auf den schon in der Kampfzeit stets Verlaß gewesen sei. Der werde uns bestimmt behilflich sein. Aber es waren noch zwölf Kilometer bis Bad Doberan, und zweimal brausten Tiefflieger so dicht über unsere Köpfe hinweg, daß wir uns in den schlammigen Straßengraben warfen und warteten, bis sie nicht mehr zu hören waren. Erst nach mehreren Stunden kamen wir müde, hungrig und sehr schmutzig in Bad Doberan an. Dr. Holzapfel, ein sehr korpulenter Mittfünfziger mit goldenen Tressen an der braunen Amtswalteruniform, war gerade beim Mit tagessen, als wir eintrafen. Ein ukrainisches Mädchen führte uns ins Wohnzimmer, und dem Hausherrn schien es etwas peinlich zu sein, daß wir durch die offene Schiebetür zum Eßzimmertisch sehen konnten, wie üppig er speiste: Ein Braten, so groß wie die monatli che Fleischration für eine kinderreiche Familie, stand auf dem Tisch, der für ihn allein gedeckt war!
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Nachdem er Tante Gertrud erkannt hatte, hieß er uns willkommen. Sie und Gerlinde bekamen ein Gästezimmer, ich eine Kammer. Die Ukrainerin mußte uns heißes Wasser, Seife und Handtücher brin gen, später auch die Risse in unseren Kleidern flicken. Es wurde uns auch reichlich zu essen aufgetischt, und Dr. Holzapfel ließ sich von Tante Gertrud über die Verteidigung Kolbergs und die Einnahme der Stadt durch die Sowjets berichten. »Es sieht nicht gut aus«, sagte er. »Aber ich bin fest davon überzeugt, daß bald die Wende kommt ... Die Hauptsache ist, daß wir die Bolschewisten so lange aufhalten, bis die Westmächte begriffen ha ben, daß wir sie gemeinsam schlagen müssen!« Wir erfuhren dann, daß er seine Familie schon nach Bad Tölz geschickt hatte und sich ebenfalls dorthin >absetzen< wollte, wenn der sowjetische Vormarsch nicht zum Stehen käme. »Aber Sie können selbstverständlich so lange hierbleiben, wie Sie wollen«, fügte er hinzu. Abends hörten wir die Rundfunkmeldungen - nichts als Hiobsbot schaften, bis auf eine, die mich geradezu elektrisierte und mir neue Hoffnung gab: In Aachen hatte eine Werwolf-Gruppe der Hitlerju gend den von den Amerikanern eingesetzten Bürgermeister Franz Oppenhoff erschossen und damit, wie es in der Meldung hieß, »ihren unbeugsamen Willen zum Widerstand und unwandelbare Treue zum Führer bewiesen. Feige Verräter und würdelose Oppor tunisten verfallen der Feme... daß unser Führer Adolf Hitler in seinem Befehlsstand in der Reichs kanzlei, bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämp fend, für Deutschland gefallen« sei, brach die Welt für mich zusam men. Es war der 1. Mai, 22 Uhr, und ich wußte damals ja noch nicht, daß er mit Eva Braun Selbstmord begangen hatte. Ich war tief ergriffen von dem vermeintlichen Opfergang des Führers und schämte mich sehr, daß ich seit Wochen in Bad Doberan gefaulenzt hatte, anstatt zu kämpfen. Ich fühlte mich mitschuldig an Adolf Hiders Heldentod. Tante Gertrud und Gerlinde aber packten schon unsere Rucksäcke und Koffer. »Nun aber nichts wie weg«, rief mir Gerlinde zu, und ich, noch ganz benommen von der Schreckensnachricht, begriff überhaupt nicht, was sie meinte. Sie klärte mich auf, während sie eilig weiterpackte: »Wir müssen hier weg, ehe die Bolschewisten uns hier finden - im Haus des obersten Nazis von Doberan!« »Und wohin?« 44
»Keine Ahnung - so weit weg wie möglich! Oder glaubst du, Mutter und ich wollen in die Hände der roten Bestien fallen?« Rostock, so hatte Tante Gertrud gehört, sollte schon unter russi schem Artilleriefeuer liegen. Auch hatte sie in Doberan Frauen aus den Flüchtlingstrecks gesprochen, die erzählten, wie viele Vergewal tigungen sie hatten erdulden müssen - von Soldaten, aber auch von befreiten Zwangsarbeitem und Kriegsgefangenen. An Schlaf war nicht zu denken in dieser Nacht, aber im Dunkeln wagten wir nicht loszuziehen. Bei Morgengrauen brachen wir auf, nahmen aber nicht die Reichsstraße 105, die völlig verstopft war von endlosen Zügen nach Westen flüchtender Menschen, die ihre restli che Habe auf Fahrrädern, Kinderwagen, pferde- und ochsenbe spannten Fuhrwerken transportierten oder schwere Koffer schlepp ten. Wir marschierten an der Küste entlang, über Heiligendamm und Kühlungsborn, und stießen erst in Neubukow wieder auf die Reichsstraße. In einer Scheune übernachteten wir, erschöpft von dem langen Marsch und durchnäßt von heftigen Schauem, die gegen Abend eingesetzt hatten. Als wir am Morgen aufbrachen und in Richtung Wismar weiterzogen, sahen wir, wie die Menschen vor uns plötzlich auseinanderspritzten, links und rechts am Straßenrand die Hände erhoben und weiße Tücher schwenkten. Ein Panzer kam uns entgegen! Ganz automatisch folgten wir dem Beispiel der anderen, und erst als der feindliche Panzer an uns vorbeirollte, ohne daß uns der britische Soldat, der in der offenen Luke stand, auch nur eines Blickes gewürdigt hätte, wurde mir plötzlich bewußt, daß ich, ein AdolfHitler-Schüler, mich unaufgefordert und kampflos dem Feind erge ben hatte! War ich jetzt ehrlos} Ich warf einen scheuen Blick auf Tante Gertrud und Gerlinde, die auch die Arme gerade erst wieder sinken ließen, die Situation aber offenbar ganz anders empfanden als ich. Sie wirkten sehr erleichtert, daß die erste >Feindberührung< so glimpflich verlaufen war, lachten sogar und gingen weiter, als sei nichts geschehen. Ich schloß mich ihnen an und grübelte, ob meine bloße Reflexbewe gung, mein vom Engländer gar nicht beachtetes Heben der Hände, mir tatsächlich die Ehre genommen haben könnte, ob ich mich damit wirklich disqualifiziert hätte für die Aufnahme in die Partei, 45
die SS, die Ordensburg und für künftige Führungsaufgaben. Ich überlegte auch, ob ich denn jetzt Kriegsgefangener sei und mich in Wismar den Engländern stellen müßte. Aber es kam ganz anders. Als wir abends hundemüde noch etwa zwei Kilometer von Wismar entfernt waren, kam uns ein Jeep entgegen. Er hielt neben uns, und ein baumlanger Sergeant der Militärpolizei hielt Tante Gertrud einen gedruckten Handzettel vor die Nase. »Für die deutsche Bevölkerung ist ab sofort täglich von 19 Uhr bis 6 Uhr früh Ausgangssperre. Zuwiderhandlungen werden mit Ge fängnis bestraft! Der Ortskommandant.« Ich fand es empörend, daß man uns in unserem eigenen Land als Menschen minderen Rechts behandelte, und war wütend auf Tante Gertrud und Gerlinde, die den Sergeanten geradezu anhimmelten und ihn mit freundlichstem Lächeln baten, uns weiterziehen zu lassen - wir hätten doch kein Quartier! Die englischen Brocken, die sie daherstammelten, schienen den Sergeanten zu amüsieren, denn er grinste und sagte ganz gnädig »Hop in!« und machte eine Kopfbewegung zum Jeep hin. Wir zwängten uns zu dritt mit unserem Gepäck auf die Rücksitze und ließen uns zu einem ländlichen Gasthaus am Stadtrand fahren, dessen großer Tanzsaal mit Stroh aufgeschüttet und in ein Massen quartier für Flüchtlinge umgewandelt worden war. Er sorgte sogar dafür, daß wir dort noch Platz bekamen, obwohl das Lager schon überfüllt war, und zeigte uns die britische Feldküche auf dem Hof, wo wir Suppe und Brot in Empfang nehmen konnten. Sein Interesse schien zwar vornehmlich meiner achtzehnjährigen Kusine zu gelten, und Gerlinde war offenkundig entzückt davon, aber so nebenbei sah er auch mich an und erkundigte sich augen zwinkernd: * You ’re not a werwolf, are you?« »Oh no, Sir, no!« versicherte ich ihm eilig, und er lachte. Tante Gertrud sagte: »Thank you, thank you very much, and good bye!« nahm mich am Arm und ging mit mir in den überfüllten Tanzsaal, während Gerlinde weiter mit dem Sergeanten schwatzte. An diesem Abend des 3. Mai 1945, während anderswo noch heftig gekämpft wurde, waren Krieg und Drittes Reich für mich vorbei, ein abgeschlossenes Kapitel. Ein neues hatte, das spürte ich deutlich, bereits angefangen, ganz anders und viel besser, als ich es mir vorgestellt hatte.
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Gerlinde muß es wohl ähnlich empfunden haben. Erst sehr spät in der Nacht kam sie von draußen herein und schlich sich neben uns aufs Lager. Sie brachte den Hauch eines mir damals noch unbekann ten Geruchs mit, nämlich den des Virginia-Tabaks, der in den folgenden drei ersten Nachkriegsjahren zur neuen Währung West deutschlands, ja für uns, für die es die bis dahin geltenden Werte nicht mehr gab, zum neuen Wertmaßstab werden sollte.
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Besser zuviel als zuwenig Wir haben es nicht gewußt, daß schon alles vorbei war und wir längst nichts mehr zu befürchten hatten, erzählte mir Albrecht K., ein hochgewachsener, sportlicher Endfünfziger, heute Direktor ei nes Zoologischen Gartens. Und schuld daran war meine Unge schicklichkeit ... Am Silvesterabend 1944 war ich zu meinem Großvater nach Fisch bachau gefahren - nicht vom Holzkirchener Flügelbahnhof aus mit dem Zug, denn dort wie am ganzen Münchner Hauptbahnhof wimmelte es von Polizei- und Wehrmachtskontrollen, sondern mit dem auf Holzgas umgestellten Lieferwagen unseres Kohlenhändlers bis Holzkirchen, wo er mich absetzte, und von dort mit der Bim melbahn bis Schliersee. Dort erwartete mich mein Großvater an einer vorher verabredeten Stelle mit seinem Pferdeschlitten. Nie mand konnte sehen, daß ich zu ihm einstieg und wohin wir fuhren. Diese Vorsichtsmaßnahmen hingen damit zusammen, daß ich am 5. Januar 1945 siebzehn Jahre alt wurde und mit meiner sofortigen Einberufung zur Wehrmacht rechnen mußte. Viele Jungen aus meiner Schulklasse, die von München ins »Protektorat« nach Klato vy, evakuiert worden waren, hatten bereits ihre Gestellungsbefehle. »Du bleibst hier«, hatte meine Mutter entschieden. »Das fehlte noch, daß du für diese Halunken deine Haut zu Markte trägst! Der Krieg ist ohnehin längst verloren ...« Also telegrafierte sie der Schulbehörde: »Albrecht K. infektiös er krankt und in Quarantäne. Attest folgt.« Dieses und ein weiteres stellte mein Großvater aus, der Hals-Nasen-Ohrenarzt war, seine Münchner Praxis aber einem Vertreter überlassen hatte und aufs Land gezogen war. »Mindestens acht Wochen strengste Quarantäne«, bestätigte er mir, und in seinem oberbayerischen Landhaus bekam ich ein »Kranken zimmer« eingerichtet, wohin ich sofort zu verschwinden hatte, 49
wenn jemand auftauchte, der nicht zum Haus gehörte. An der Tür hing ein Schild: >Zutritt verboten. Erhöhte Infektionsgefahr.« Nur nach Einbruch der Dunkelheit durfte ich hinterm Haus etwas frische Luft schnappen, und damit ich genügend körperhche Bewe gung hatte, ließ mich Großvater täglich eine Stunde lang im Schup pen Holz hacken. Von der zweiten Märzwoche an wurde es kritisch. Meine Mutter, die ab und zu aus München zu Besuch kam, berichtete, ich sei bereits zur Musterung bestellt, und sie habe daher schon das zweite Attest - »Albrecht K. muß nach schwerer Infektionskrankheit noch für 2-3 Wochen zur Beobachtung in die Universitätsklinik« - an das Wehrbezirkskommando abgeschickt. »Dann müssen wir den Jungen bald endgültig verschwinden las sen«, meinte mein Großvater, und ich fragte ihn entsetzt: »Willst du mir etwa einen Totenschein ausstellen?« Er lachte, schüttelte aber dann den Kopf. »Ich habe zwar auch daran schon gedacht«, sagte er, »aber es ist ungewöhnlich, daß HalsNasen-Ohrenärzte Totenscheine ausstellen, und wir müssen jeden Verdacht so lange wie irgend möglich vermeiden. Die Briten und Amerikaner sind schon über den Rhein vorgestoßen, die Russen stehen bereits an der Oder - da kann es ja nicht mehr lange dauern. Wir brauchen jetzt vor allem Zeitgewinn, und den verschaffen wir uns, indem wir Verwirrung stiften. Wir werden der Schulbehörde telegrafieren, daß du nicht mehr nach Klatovy zurückkehrst, weil du deinen Gestellungsbefehl erhalten hast, und dem Wehrbezirkskom mando teilen wir mit, daß du in Klatovy in Quarantäne liegst und wir dich dort leider nicht erreichen können. Sie werden mindestens vierzehn Tage brauchen, bis sie merken, daß etwas nicht stimmt, und dann werden sie erst einmal bei deiner Mutter in München nachfragen...« Aber das war ein Irrtum. Ende März - die Amerikaner waren schon im Raum Würzburg, die Engländer hatten das ganze Ruhrgebiet eingekesselt, und die Rote Armee bereitete sich bereits zum Sturm auf Wien und Berlin vor kam ein Polizeibeamter in Zivil aus der Kreisstadt Miesbach und wollte den Herrn Doktor sprechen. Resl, Großvaters langjährige Haushälterin, ließ ihn erst mal vor der Tür stehen, damit ich auf mein »Krankenzimmer« im ersten Stock 50
verschwinden konnte, ließ ihn dann ein, und Großvater hörte sich an, was er zu sagen hatte. »Wir haben eine Anfrage aus München wegen eines Ihrer Patienten, Herr Doktor. Albrecht K. - erinnern Sie sich?« Es ging noch einmal glimpflich aus, weil die Behörden nicht wußten, daß der Patient sein Enkel war. Großvater erzählte dem Beamten lang und breit von dem »sehr interessanten und seltenen Fall< eines Verdachts auf Schwarze Pocken; daß er den Patienten nach abge schlossener Quarantäne und offenbarer Genesung noch zur Beob achtung in die Universitätsklinik eingewiesen und seither nichts mehr davon gehört habe. »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er dann besorgt. »Ach, nichts Besonderes«, meinte der Kripo-Mann. »Ich soll nur feststellen, ob das Attest, das für diesen Albrecht K. eingereicht wurde, tatsächlich von Ihnen ausgestellt worden ist.« »Ja, natürlich. Mein Vertreter in München hat mich extra wegen dieses Falles gebeten, mir den Patienten selbst anzuschauen. Es schien sich zwar nur um eine Tonsillitis, begleitet von hohem Fieber, zu handeln, aber da war auch ein Initialexanthem, neuerdings Rash genannt, im Gesicht nur schwach ausgeprägt, aber deutlich an den unteren Extremitäten, dazu einige, wenn auch noch zweifelhafte Hinweise auf Variola nigra oder foudmyans, die im positiven Fall sofortige Meldung ans Gesundheitsamt erfordert hätten. Ein wis senschaftlich hoch interessanter Fall - aber ich langweile Sie, Herr Oberinspektor...« Der Beamte bekam dann noch einen Enzian eingeschenkt und schied mit einem »Heil Hitler* und »Vergelt’s Gott!Keine Gefahr!« bedeutete, und atmeten auf, beschlossen aber dann, vorsichtshalber abzuwarten, bis mein Großvater uns auffordem würde, herauszukommen. Ein paar Minuten später hörten wir, wie jemand die Tür zur Hütte zu öffnen versuchte. Dann kamen Schritte ums Haus und hielten am Belüftungsrohr unseres Verstecks: »Ihr könnt rauskommen«, sagte Großvater. »Es stehen noch zwei Leute vor der Tür, die ich mitgebracht habe. Erschreckt aber nicht - es sind zwei Soldaten. Sie haben noch ihre MPis, aber keine Sorge: Ich habe die Schlösser herausgenommen und eingesteckt.« Die beiden Neuen waren Siebzehnjährige, erst vor zwei Monaten von der Schulbank zur Waffen-SS einberufene Düsseldorfer, die in der Gegend von Garmisch-Partenkirchen tags zuvor gegen starke, von Füssen her vorrückende amerikanische Verbände hatten kämp fen sollen. Mit einem Motorrad waren sie, wie sie uns erzählten, »nachts abgehauen - über Mittenwald und dann eine Forststraße entlang zum Sylvensteinspeicher und weiter bis zum Achenpaß. Dort hätten sie uns feist geschnappt...« Sie waren den Feldjägern - den »Kettenhunden«, wie sie sie nann ten - gerade noch entwischt, aber dann war ihnen der Sprit ausge gangen. Kurz vor Kreuth hatten sie das Motorrad in einem Gebüsch zurückgelassen und waren zu Fuß ostwärts geflüchtet. »Ich fand sie, völlig erschöpft, nicht weit von unserer Bodensta tion«, erzählte Großvater. »Sie waren froh, als ich ihnen ein sicheres Versteck anbot, und ich denke mir, sie schlafen sich erst einmal aus, und morgen sehen wir weiter ...« Nun war die Hütte wirklich überfüllt, und Klaus, der auf dem Hochsitz Wache gehalten und von Großvaters Rückkehr in Beglei tung der Soldaten nichts gemerkt hatte, saunte nicht schlecht, als er zurückkam und die schlafenden SS-Soldaten sah. 58
»Jetzt können wir ein Schild an die Tür hängen«, sagte er, »>Wegen Überfüllung geschlossen«.« Wir lachten, aber Großvater meinte: »Ganz im Gegenteil! Wir müssen damit rechnen, daß bald noch mehr Flüchtlinge auftauchen. Sollen wir sie etwa abweisen?« Dann erzählte er uns, was vor zwei Tagen in Penzberg passiert war: In diesem Bergarbeiterstädtchen, etwa vierzig Kilometer nord östlich von uns gelegen, hatten ein paar beherzte Männer unter Führung des früheren sozialdemokratischen Bürgermeisters Hans Rümmer die vorbereitete Sprengung der Loisach-Brücken, des Was serwerkes und der die Existenzgrundlage der Stadt bildenden Koh lenzeche ebenso verhindert wie die Ermordung mehrerer hundert französischer und sowjetischer Kriegsgefangener, die unter Tage arbeiteten. Sie hatten auch den Nazi-Bürgermeister, der das Zerstö rungswerk durchführen wollte, für abgesetzt erklärt und verkündet, die Stadt werde kampflos an die Amerikaner übergeben, sobald sie auftauchten. Doch statt der Amerikaner war noch am selben Tag ein SS-Kommando nach Penzberg gekommen, hatte Rümmer und seine Helfer erschossen, weitere Bürger öffentlich aufgehängt und gedroht, eher die ganze Stadt in die Luft zu sprengen als eine >feige Kapitulation« zu dulden. »Unten in Hausham, das ja auch eine Bergarbeiterstadt ist, herrscht große Aufregung. Sie haben Angst, daß ihre Zeche ebenfalls zerstört werden soll. In Miesbach und im Tegemseer Tal gibt es auch schon heftige Auseinandersetzungen zwischen Besonnenen, die das sinn lose Sprengen von Brücken, Kraft- und Wasserwerken verhindern möchten, und den blinden Fanatikern, die bis zum letzten kämp fen wollen. Zum Glück ist, soweit ich weiß, noch kein Blut geflos sen ...« Er berichtete uns von der Bewaffnung der Hiderjugend und des Volkssturms, auch daß er dem Kreisleiter begegnet sei, der ihn zum Stabsarzt ernennen wollte. »Ich habe ihm erklärt«, erzählte er uns schmunzelnd, »ich hätte bereits die Gebirgsschützen zu betreuen und nur ein paar Stunden Urlaub, um Verbandszeug und Medikamente zu besorgen. Zum Glück traf mich der Kreisleiter vor der Apotheke, so daß meine Ausrede an Glaubwürdigkeit gewann ...« Die Amerikaner, so erfuhren wir dann von ihm, ständen schon in
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der Nähe von München, zwischen Freising und Dachau, was Klaus und Stanek wie elektrisiert auffahren ließ. Aber Großvater konnte ihnen nicht sagen, ob das Konzentrationslager bereits befreit sei. »Es ist alles nur noch eine Frage von Tagen«, erklärte er uns. »Aber gerade jetzt, wo alles drunter und drüber geht, müssen wir einen kühlen Kopf bewahren und mächtig aufpassen. Ich kann es auch nicht mehr riskieren, mich im Tal zu zeigen und womöglich Ver dacht zu erregen. Ich bleibe jetzt hier oben, und wir müssen überle gen, ob wir ein zweites Versteck bauen, in das wir verschwinden können, wenn Gefahr droht...« Die nächsten drei Tage waren wir vollauf damit beschäftigt, etwa hundert Schritt von der Hütte entfernt, am Rande einer Lichtung eine tiefe Grube auszuheben, sie mit starken Asten und Zweigen gut abzudecken, die ausgehobene Erde im Wald zu verteilen, einen Teil unserer Lebensmittelvorräte in das neue Versteck zu schaffen, auch eine Zeltplane, Decken, eine Taschenlampe und ein paar Gefäße mit Wasser. Jupp und Peter, die beiden Waffen-SS-Deserteure, waren uns dabei eine große Hilfe, nicht nur, weil sie kräftig mit anpackten, sondern auch, weil sie einiges an Einfällen beisteuem konnten, was sich als sehr nützlich erwies. So bauten wir, auf Peters Vorschlag hin, noch einen >NotausgangFremde Heere Ost< gegen Kriegsende ein >Ausweichquartier< auf der Elendalm gesucht, später mit den Amerikanern arrangiert und dann deren »Organisation Gehlem gebildet hatte, so benannt nach ihrem alten Chef, dem Spezialisten für antisowjetische Spionage, Generalmajor Reinhard Gehlen, der 1956 erster Präsident des Bun desnachrichtendienstes (BND) wurde. Das dritte, uns unmittelbar betreffende Vorkommnis war am Sonn tag, dem 6. Mai, als wir zu sechst in der Hütte saßen - Klaus und Wolfgang waren draußen auf Wache - und beratschlagten, was wir unternehmen könnten, denn unsere Lebensmittel waren, trotz spar samster Einteilung, nun fast erschöpft. Wir hatten ständig Hunger, 61
litten aber mindestens ebenso sehr darunter, daß wir keine Ahnung hatten, was in den Dörfern und Städten der näheren Umgebung vor sich ging, und daß wir zu völliger Untätigkeit verurteilt waren. »Wir müssen noch ein paar Tage Geduld haben«, sagte Großvater, der selber am ungeduldigsten war und wie ein Tiger im Käfig in der engen Hütte auf und ab ging. »Es gibt ja nur zwei Möglichkeiten: Entweder tauchen endlich die Amerikaner auf, dann ist der Krieg aus, wir brauchen uns nicht länger zu verstecken und können zu mir nach Fischbachau hinunter, wo Resl uns eine gute Suppe und womöglich einen Braten auftischt. Oder es kommen SS-Leute oder andere Fanatiker, die uns gefährlich werden können. Dann gibt es wieder zwei Möglichkeiten: Wenn es nur zwei oder drei sind, können wir sie vielleicht überwältigen und entwaffnen. Wenn es aber ein ganzer Trupp sein sollte, müßt ihr ins Versteck verschwin den, und ich muß versuchen, sie möglichst schnell wieder loszuwerden, indem ich sie auf eine andere Fährte locke, vielleicht zur Elendalm ...« Da klopfte es leise an der Tür, wir erstarrten vor Schreck, und da es zu spät war, in die Grube zu kriechen, die ohnehin nicht groß genug für fünf gewesen wäre, ergriff Großvater sein Jagdgewehr, öffnete einen Spalt breit und sah nach, wer da war. Ein kleines Mädchen stand draußen, etwa acht oder neun Jahre alt und im sonntäglichen Dirndl, einen kleinen Strauß Frühlingsblu men in der Hand. Es machte artig einen Knicks und sagte: »Grüß Gott, sind Sie der Herr Doktor?« Großvater erwiderte sehr erleichtert: »Gewiß bin ich der Doktor! Und wer bist du?« Er ließ rasch das Gewehr verschwinden, ging hinaus und setzte sich mit dem Mädchen auf die Bank vor der Hütte. »Ich heiße Anni«, hörten wir die Kleine sagen. »Die Resl hat mir aufgetragen, Ihnen dies zu bringen ... Sie hat mich mit dem alten Franz in der Kutsche zur Waitzinger Alm mitfahren lassen und hier heraufgeschickt. Es ist ihr zu beschwerlich, selbst zu kommen ...« Die Nachricht, die Großvaters alte Haushälterin ihm hatte zukom men lassen, lautete: »Lieber Herr Doktor! Der Hitler ist tot, in Berlin sind die Russen. Bei uns kann es noch eine Woche oder länger dauern, und wir müssen sehr vorsichtig sein. Ich habe Käse, Speck
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und drei Laib Brot mitgebracht, auch einen Napfkuchen und zehn Flaschen Rotwein aus dem Keller, einen Korb Äpfel und einiges mehr. Es ist zu schwer für Anni, aber wenn Sie es nicht selbst von der Alm holen können, sobald es dunkel ist, wird es Anni nach und nach hinaufbringen. Gott schütze Sie beide! Resl.< »Wie bist du denn hier heraufgekommen? Hat dich keiner gese hen?« erkundigte sich Großvater bei der Kleinen, wobei er wohl wissen wollte, was uns drinnen auch am meisten beschäftigte: Wie war es Anni gelungen, unbemerkt am Posten vorbeizukommen, der den Pfad beobachtete? »Die Resl hat gesagt, ich sollte ja gut aufpassen, daß mich niemand sieht. Also bin ich neben dem Pfad durch den Wald geschlichen und vorbei an dem Mann, der da vom am Felsen sitzt...« Großvater lachte. Dann begleitete er das Mädchen noch bis zum Fuß des Felsens. Abends holten wir die dringend benötigten Lebensmittel von der Alm, die Großvater allein bis zum Pfad schaffte. »Mittwoch kommt Anni uns wieder besuchen«, teilte er uns mit. »Ich bin gespannt, ob sie sich wieder unbemerkt bis zur Hütte schleicht.« Aber der für Mittwoch angekündigte Besuch fiel aus. Wir warteten bis zum Abend vergeblich auf das Mädchen, fragten uns, was passiert sein mochte, und hofften, daß sie vielleicht am nächsten Tag kommen würde. Doch die Woche ging zu Ende, ohne daß wir etwas hörten oder sahen. Am Samstagabend erklärte Großvater, er werde am nächsten Morgen zur Waitzinger Alm aufbrechen, ich sollte ihn bis in die Nähe der Straße begleiten, denn wir brauchten dringend Proviant. Es war ein herrlicher Sonntagmorgen mit Föhn und strahlend blauem Himmel, als wir aufbrachen. Auf halbem Weg zur Alm begegneten wir Anni. »Hallo«, rief sie uns zu und winkte mit einem Zettel. »Man sagt jetzt >Hallo< statt »Grüß GottHallo< sagt.« Da wußten wir, ohne Resls Nachricht gelesen zu haben, daß wir den Krieg glücklich überstanden und nichts mehr zu befürchten hatten. 63
»Wie lange sind denn die Amerikaner schon im Tal?« hörte ich Großvater fragen, und Anni teilte ihm eifrig mit: »Schon seit Mittwoch. Deshalb konnte ich ja nicht kommen. Erst mußten wir überall weiße Tücher aufhängen, und dann gab’s Panzer und Tschieps zu sehen und Schokolade und Tschugamm, und seit gestern wird auch nicht mehr verdunkelt, und die Resl läßt grüßen und ausrichten, daß wir endlich kapiert haben ...« »Kapiert?« »Nein«, verbesserte sie sich, »ka-pi-tu-liert - ist es so richtig?« Ich sah, daß Großvater sich die Augen wischte. Dann schneuzte er sich und sagte leise: »Ich hoffe, sie haben beides kapituliert und endlich auch kapiert. Wir hätten uns vier Tage des Versteckens sparen können. Aber, was soll’s? Wie die Resl so richtig sagt: Besser zuviel als zuwenig ...«
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Mein eigener achter Mai Als Albrecht K. mir davon erzählte, wie er in der einsamen Jagdhüt te seines Großvaters, zusammen mit zwei entflohenen KZ-Gefangenen aus Dachau, zwei Deserteuren der Waffen-SS und einem jungen Paar aus dem studentischen Widerstand, von der bedin gungslosen Kapitulation des Großdeutschen Reichs erst mit zweitä giger Verspätung erfahren hatte, mußte ich an meine eigene Lage in jenen Maitagen des Jahres 1945 denken. >Lage< - das war genau das richtige Wort, denn nach meiner Befrei ung aus dem KZ Dachau durch die Amerikaner war ich so schwach, daß ich weder gehen noch stehen, sondern nur noch liegen konnte. Vor meiner Einlieferung ins KZ Flossenbürg in der Oberpfalz, nach wochenlangem Hin- und Hertransport von einem Gefängnis zum andern zwischen Trier und Leipzig, Hannover und Würzburg, war ich ein kräftiger junger Mann von 23 Jahren gewesen, mit dichten blonden Haaren, zwar hager und blaß nach langen Monaten in Gestapohaft, aber noch kerngesund. Seit dem Winter 1944/45, den ich im Außenlager Hersbruck bei Nürnberg verbracht hatte, konnte von alledem keine Rede mehr sein, und unsere Evakuierung ins überfüllte Lager von Dachau und die damit verbundenen Strapazen, die endlosen Tage und Nächte verzweifelten Wartens auf Befreiung, in ständiger Angst, von der SS am Ende doch noch massakriert zu werden oder, schlimmer noch, in vorletzter Minute an Entkräftung zu sterben, hatten mir den Rest gegeben. Seit dem 1. Mai, dem zweiten Tag nach dem Eintreffen der so sehnsüchtig erwarteten Sieger in dem von der SS fluchtartig verlas senen Dachauer KZ, lag ich, noch 36,5 Kilo schwer, mit ausgefalle nen Haaren, grauer, schrumpeliger Haut und völlig kraftlos, im Klosterkrankenhaus von Fürstenfeldbruck allein in einer kleinen Stube, die - wie ich später erfuhr - von den Nonnen >das Sterbezim mer« genannt wurde. 65
Eine Woche war seit meiner Einlieferung vergangen, aber mein Zustand hatte sich kaum gebessert. An jenem Morgen des 8. Mai war ich schon wach, als über den schwarzen Kiefern jenseits der Amper die Sonne aufging. Wo der Himmel sich rötete, lag München - oder was der Krieg davon übriggelassen hatte -, zwanzig, höchstens dreißig Kilometer ent fernt. Ich grübelte, wie immer, wenn ich nicht schlief. Mein Problem lag etwas weiter nördlich, zweiunddreißig Kilometer weit von mei nem Bett, dessen Weichheit, Sauberkeit und Frische mir auch nach acht Tagen noch fremd war. Am fremdesten empfand ich die wun derbar flauschige weiße Wolldecke aus I7S-Annj-Beständen, die über mich gebreitet war und nach den mir unbekannten, vom Medical Corps benutzten Desinfektions- und Waschmitteln roch. »Mindestens zwei Jahre«, hatte der amerikanische Arzt gemeint, der meine Einlieferung ins Klosterkrankenhaus angeordnet hatte. So lange sollte ich hierbleiben. Er hatte nur gelacht, als ich ihm erklärte, ich wollte bald aufstehen und zu gehen versuchen, um dann ... »Take it easy«, beschied er mich und verordnete weitere Büchsen mit Blutplasma für den Tropf, an dem ich hing und der mich bereits mit Traubenzucker und anderen Stärkungsmitteln versorgte - alles aus Konserven wie sämtliche Hilfs-, Nahrungs- und Genußmittel der 7. US Anny. Bestimmt hatten sie auch Bibeln in Büchsen, sterilisiert und vakuumverpackt... Ich war verzweifelt an diesem Morgen. Gewiß, erstmals seit langer Zeit fehlte es mir an beinahe nichts: Ich wurde aufs beste gefüttert, getränkt, umsorgt und hatte nichts mehr zu befürchten. Nur die Bewegungsfreiheit hatte man mir genom men, und gerade danach sehnte ich mich am allermeisten, denn ich wollte nach Hause. »Natürlich«, versuchte ich mich zu trösten, »wirst du bald aufste hen, egal, was Arzt und Schwestern dazu sagen! Du wirst Gehen üben - erst zwei, dann drei, fünf, zehn Schrine, dann den ganzen langen Gang entlang, dann auch die breite Wendeltreppe ... Und wenn du die geschafft hst, wirst du ihnen davonlaufen!« Leider hatte ich nicht nur noch keine Kraft, sondern auch gar nichts anzuziehen, nichts außer dem knöchellangen Nachthemd. Alles hatten sie mir vor der dreimaligen Desinfektion abgenommen, auf den großen Haufen schon eingesammelter KZ-Klamotten gewor 66
fen, mit Benzin übergossen und verbrannt: Zebrajacke, -hose, -mütze, die Holzpantinen - alles! Nur im Hemd würde ich, auch wenn ich wieder gehen könnte, nicht weit kommen ... Ich wandte den Blick vom Fenster und starrte in dumpfer Verzweiflung auf meine flauschige Decke. Da sah ich sie, und trotz meiner Schwäche richtete ich mich nun auf, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Tatsächlich! Sie lebte, sie bewegte sich! Alles hatte sie überstanden: Bäder, Duschen, drei DDT-Angriffe, an denen ich selbst fast erstickt war, Lysol und Kaliumpermanganat! Und nun zeigte sie mir, der ich sie fasziniert betrachtete, daß Schwie rigkeiten nur dazu da sind, überwunden zu werden: ein Prachtex emplar aus der Familie der Pediculidae, genauer: P. vestimenti D.-D für Dachau, ihre angestammte Heimat, aus der sie von General Pattons Gis vertrieben worden war, als sie mich nackt und bloß, dreifach gereinigt und desinfiziert, hier eingeliefert hatten - zu zwei jähriger Liegehaft nach Hungertyphus, Fleckfieber, Phlegmone an beiden Beinen, Verdacht auf Lungen-Tbc ... Gerührt und mit fast väterlichem Stolz betrachtete ich diese vorbild lich tapfere und zähe Laus, wie sie da über meine makellos weiße Flauschdecke kroch. Noch ehe ich ihr mit leisem Bedauern den Garaus machte, stand mein Entschluß fest: Ich würde mich nicht dem ärztlichen Diktat beugen, sondern noch heute damit beginnen, das Sitzen, Stehen, Gehen zu üben, und wenn es Wochen dauern sollte, bis ich es tatsächlich schaffte! Wie überzeugt man eine in der Krankenpflege tätige Nonne davon, daß es seltene Ausnahmefälle gibt, wo auch den strengsten Anord nungen des behandelnden Arztes zuwidergehandelt werden muß? Meine Überlegungen führten mich rasch zum Ziel, und die pausbäkkige Schwester Kreszentia wurde dann auch - der Himmel möge es ihr gelohnt haben! - noch am selben Tag zu meiner Komplizin, nachdem ich ihr erklärt hatte, am kommenden Sonntag, dem 13. Mai, wollte, nein müßte ich unbedingt zur heiligen Messe, denn mir sei im Traum ein Engel erschienen, der mir ein solches Gelöbnis abverlangt habe. Schwester Kreszentia wollte erst einmal wissen, wie der Engel ausgesehen habe. Ich gab ihr eine genaue Beschreibung, was mir nicht schwerfiel, da mir Abbildungen solcher Gestalten noch gut in 67
Erinnerung waren. Vielleicht ließ ich meiner Phantasie allzu freien Lauf, denn Schwester Kreszentia behauptete, nachdem sie sich mit immer größer werdenden Augen alles angehört hatte, es müßte sich sogar um einen Erzengel handeln, wogegen ich nichts einzuwenden hatte. Jedenfalls einigten wir uns darauf, daß sie mir bei ersten Gehver suchen helfen würde, am besten ganz früh morgens, wenn die amerikanischen Ärzte noch schliefen, vielleicht auch am späten Abend, je nach den Fortschritten. Sie erbot sich auch, mir später Kleidung zu besorgen, weil ich ja nicht im Nachthemd die heilige Messe besuchen könnte, außerdem einen Stock, auf den ich mich stützen sollte. Zum Frühstück brachte sie mir eine große Tasse echter Milchscho kolade, dazu zwei Eier im Glas und ein paar Stücke Weißbrot mit Butter und Honig - es war wie Weihnachten und Geburtstag und alle Feiertage auf einmal. Eine Stunde später bekam ich eine kräftige Hühnerbouillon extra, und so ging es weiter. Als sie mir am Nach mittag zum zweiten Mal eine kleine Stärkung und ein paar Süßigkei ten brachte, hatte sie auch eine - mich nicht weiter erregende Neuigkeit mitzuteilen: Die Wehrmacht habe bedingungslos kapitu liert, der Krieg sei nun vorbei. Für mich war er es noch nicht, aber am nächsten Morgen begannen wir mit den sehr vorsichtigen ersten Steh- und Gehübungen. Bis zum Sonntag schaffte ich tatsächlich die einhundertundfünf Schritte bis zur nahen Kapelle und, nachdem ich mich dort während der Messe eine halbe Stunde lang ausgeruht hatte, auch den Weg zurück in mein >SterbezimmerTante Änne« mit einer schüchternen, verhärmten Frau von Anfang sechzig bekannt: »Das ist Frau W.«, sagte sie, »die Gattin des Herrn Rechtsanwalts ...« Ich war sehr überrascht, denn ich hatte Dr. W. für einen eingefleisch ten Junggesellen gehalten. »Wir leben getrennt«, erklärte mir Frau W., »schon sehr lange... Er will sich aber nicht scheiden lassen, und vielleicht ist es ja auch bes ser so. Erst war es wegen der Kammer und überhaupt, und jetzt ist es wegen der Kirche. Christlich ist ja neuerdings wieder sehr ge fragt ...« Sie warf >Tante Änne< einen entschuldigenden Blick zu, aber der wäre gar nicht nötig gewesen. »Tante Ánne< wußte, was Frau W. meinte. »Früher, unter Hitler«, sagte sie, »sind alle aus der Kirche ausgetre ten und nannten sich »gottgläubig«, und jetzt rennen sie zweimal täglich in die Kirche und können gar nicht fromm genug tun ...« Und dann erfuhr ich, teils von Frau W., teils von »Tante Änne«, die aus eigener Kenntnis einiges beizusteuem hatte, wie es dazu gekom men war, daß von meinem Stromzähler ein Kabel ins Wohnzimmer der Parterrewohnung des Dr. W. führte: 143
Frau W. war die Tochter eines 1938 im KZ umgekommenen, früher sehr wohlhabenden jüdischen Rechtsanwalts, des Justizrats Dr. B., hatte in der Nazi-Diktatur als >Halbjüdin< gegolten und war die einzige Erbin ihres Vaters. Ihr Mann, mein Nachbar Dr. W., hatte vor über dreißigjahren als junger Anwaltsassessor in der Kanzlei des Justizrats gearbeitet und war erst, nachdem er dessen einzige Toch ter geheiratet hatte, als Juniorpartner in die Sozietät aufgenommen worden, deren Senior sein Schwiegervater war. »Er war arm wie eine Kirchenmaus, als er bei uns anfing, hatte mit kirchlicher Hilfe studiert und besaß damals nur den einen Anzug, den er ständig trug«, erzählte Frau W. mit leiser Stimme, und kaum noch hörbar fugte sie hinzu: »Heute ist mir natürlich klar, daß er mich nur des Geldes wegen geheiratet hat, aber damals ...« Zu Beginn der Nazizeit hatte Dr. W. darauf bestanden, einen »Alten Kämpfer« und NSDAP-Landtagsabgeordneten in die Anwaltsso zietät aufzunehmen und seinem Schwiegervater, der schon Anfang April 1933 als Jude aus der Anwaltskammer ausgeschlossen worden war, dringend geraten, vorsichtshalber sein Vermögen seiner Toch ter zu übertragen. Aber derJustizrat hatte lange gezögert, diesen Rat zu befolgen - mit gutem Grund, wie sich zeigen sollte. Erst 1935 hatte er mit einem von ihm selbst ausgearbeiteten Vertrag die vom Schwiegersohn so sehnsüchtig erwartete Schenkung vorge nommen. Aber als Dr. W. dann die Klauseln las, die der alte Justizrat zum Schutz seiner Tochter ausgetüftelt hatte, war er, wie sich Frau W. noch deutlich erinnerte, so wütend geworden wie nie zuvor. Er hatte getobt, eine Vase zerschmettert und auf die »typisch jüdische« Spitzfindigkeit ihres Vaters geschimpft, der ihm offenbar mißtraue. Dann hatte er stundenlang in seinem Arbeitszimmer über den Kommentaren zum Bürgerlichen Gesetzbuch gebrütet, war nicht zum Essen erschienen und hatte ärgerlich erklärt: »Dein Vater hat mir gründlich den Appetit verdorben! Aber es wird sich noch zeigen, wer von uns der schlauere Jurist ist! Ich werde schon noch einen Weg finden ...!« Gleich nach dem Tode ihres Vaters, der in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, der sogenannten »Reichskristallnacht«, von den Nazis als »Geisel« verschleppt und wahrscheinlich bereits auf dem Weg ins Konzentrationslager erschlagen worden war - ihre
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Mutter erlebte dies glücklicherweise nicht mehr; sie war schon 1934 verstorben hatte Dr. W. seiner Frau erklärt, sie müßten sich nun trennen, es ginge nicht anders, denn er hätte sonst größte Schwierig keiten, sowohl mit seinem Sozius als auch mit der Anwaltskammer. Ganz freundlich hatte er ihr das auseinandergesetzt, ihr auch ver sichert, daß er natürlich weiter für ihren Unterhalt aufkommen würde. Das war, wie selbst die schüchterne Frau W. gefunden hatte, eine sehr kühne Behauptung, denn er verwaltete Frau W.s gesamtes Vermögen, das etwa zwölftausend Reichsmark an jährlichen Zinsen erbrachte, zahlte ihr aber nur hundertzwanzig Reichsmark monat lich, wovon sie ihren Unterhalt zu bestreiten hatte - einschließlich der dreißig Mark für ein sehr bescheidenes möbliertes Zimmer, das er ihr besorgt hatte. »Du mußt hier ausziehen«, hatte er ihr erklärt, »sonst glaubt nie mand, daß wir uns getrennt haben, und außerdem brauche ich Platz für unsere Praxis. Die verlege ich in die Wohnung ...« Frau W. hatte ihrem Mann daraufhin angeboten, sich von ihm scheiden zu lassen und das väterliche Vermögen mit ihm zu teilen. Doch diesen Vorschlag hatter brüsk abgelehnt. »Wir sind katholisch getraut, und die Kirche gestattet keine Schei dung«, hatte er ihr erklärt. »Außerdem bist du geschützt, solange du amtlich als meine Ehefrau giltst...« Frau W. war zunächst ganz gerührt, doch später wurde ihr klar, daß ihr Mann nur deshalb keine Scheidung wollte, weil ihm aufgrund der Bestimmungen des Schenkungsvertrages dann die Verwaltung des schwiegerväterlichen Erbes entzogen worden wäre. So konnte er damit ganz nach Belieben verfahren, denn sie hatte ihm eine Generalvollmacht erteilen müssen, und von den Erträgen ließ er ihr kaum mehr als ein Zehntel zukommen und behielt den Rest für sich. Als sie dagegen aufbegehrt hatte, war er sehr wütend geworden. »Mach bloß keine Dummheiten, Regina«, hatte er ihr gedroht, »denn wenn mein Sozius, der Gauamtsleiter, etwas davon erfährt, schickt er dir die Gestapo auf den Hals! Vergiß nicht, du bist Halbjüdin und hast überhaupt keine Rechte! Allein durch die Ehe mit mir bist du geschützt - du solltest mir dankbar sein!« Erst im Frühjahr 1945, kurz bevor die Amerikaner Düsseldorf besetzten, hatte Dr. W. wieder Kontakt zu seiner Frau aufgenommen.
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»Ich fahre morgen nach Gummersbach und warte in meiner Jagd hütte das Kriegsende ab - es kann ja nicht mehr lange dauern. Wenn du willst, kannst du mitkommen, Regina. Aber du hast ja von den Amerikanern nichts zu befürchten! Ich habe dir eine Bescheinigung ausgestellt, aus der hervorgeht, daß du von den Nazis verfolgt worden bist...« Dann hatte er sich von ihr eine Erklärung unterschreiben lassen, die besagte, er, der »arische« Rechtsanwalt Dr. W., habe sich standhaft geweigert, in die von den Nazi-Behörden geforderte Scheidung von ihr, seiner halbjüdischen Ehefrau, einzuwilligen, und ihr in den Jahren der Verfolgung Schutz, Obdach und Unterhalt gewährt Als Schwiegersohn des von den Nazis ermordeten Justizrats Dr. B. und als aktives Mitglied der katholischen Widerstandsbewegung sei er damit ein besonders hohes Risiko eingegangen ... »So, damit und mit der Bescheinigung vom Pfarrer, die deine Erklärung bestätigt«, hatte er ihr zum Abschied gesagt, »werde ich mit den Amerikanern keine Schwierigkeiten bekommen - im Ge genteil. Sie werden wissen, daß sie mir volles Vertrauen schenken können. Außerdem habe ich ja auch noch die eidesstattliche Erklä rung von Herrn Lazarus - ich nehme an, du erinnerst dich daran, wie sehr ich dem armen Mann damals behilflich war?« Frau W. konnte sich noch sehr gut daran erinnern: Herr Lazarus, ein jüdischer Futtermittelhändler aus einer Kleinstadt am Nieder rhein, war Ende 1938 zu ihrem Mann gekommen und hatte ihn gebeten, ihn anwaltlich zu vertreten gegenüber den Finanz- und sonstigen Behörden. Es war darum gegangen, daß Herr Lazarus und dessen Familie schnellstens Deutschland verlassen mußten. Der etwa fünfzigjährige, große und breitschultrige Mann schien körper lich und seelisch völlig gebrochen. Er war aus dem Konzentrations lager »zur sofortigen Auswanderung beurlaubt« worden und zitterte bei dem Gedanken, dorthin zurückkehren zu müssen, falls es bei seiner Emigration Verzögerungen geben würde. »Egal wohin - nur schnellstens hier raus«, hatte er geflüstert, »koste es, was es wolle ...« Dr. W. hatte sich sofort des Falles angenommen, im Handumdre hen das Geschäft, das Haus und alles andere, was Herrn Lazarus noch gehörte, weit unter Preis verkauft, von dem Erlös alle Forde rungen der Finanzbehörden einschließlich der sogenannten Reichs
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fluchtsteuer und der sonstigen Sonderabgaben beglichen, die vorge schriebenen Unbedenklichkeitsbescheinigungen eingeholt und für seinen Mandanten bei fünfzehn ausländischen Konsulaten Visa be antragt, die Familie Lazarus auch provisorisch untergebracht. Es hatte viele Wochen gedauert, bis endlich auch die letzten Stempel beschafft, Schiffsplätze gebucht, Eisenbahnfahrkarten und Transitvi sa besorgt waren, und das Vermögen der Familie Lazarus hatte sich dabei drastisch vermindert. Nur wenige Hundertmarkscheine wa ren den Auswanderern am Ende verblieben, und davon hatten sie noch etliche kleine Auslagen des Dr. W. sowie Miete und Strom bezahlen müssen. Mit genau zehn Reichsmark für jedes erwachsene Familienmitglied waren sie dann im Frühjahr 1939 nach Genua abgereist, um die Schiffspassage nach dem Femen Osten anzutreten. »Ich glaube, sie hofften, in China oder Japan Zuflucht zu finden«, schloß Frau W. ihren Bericht. »Die armen Menschen! Am Abend vor ihrer Abreise war ich noch bei ihnen. Ich lebte schon von meinem Mann getrennt, aber er hatte mich an diesem Tag kommen lassen und mich nach oben, in die provisorische Wohnung der Familie Lazarus geschickt. Ich sollte sie um eine Bescheinigung bitten, daß mein Mann ihnen sehr geholfen und ihnen das Leben gerettet habe. Herr Lazarus zitterte so stark, daß er kaum seine Unterschrift daruntersetzen konnte ... Er hatte sich zuletzt über jede Kleinigkeit furchtbar aufgeregt, am meisten über die hohe Stromrechnung, die ihn sein letztes Geld kostete ...» »Sagen Sie, liebe Frau W.«, kam »Tante Anne< meiner Frage zuvor, »Sie sagten eben, sie gingen »nach oben< - war denn die Familie Lazarus in dem Haus untergebracht, wo auch ihr Herr Gemahl seine Wohnung und Praxis hat?« Frau W. bestätigte es. Ihr Ehemann hatte den Lazarus’ die Wohnung seines kurz zuvor ermordeten Schwiegervaters vermietet, und des halb hatte sie Herrn Lazarus damit beruhigen können, daß auch ihr Vater, der Justizrat schon über den enormen Stromverbrauch ge klagt hätte. »Tante Änne< bedeutete mir mit einem Blick, nicht auszusprechen, was mir auf der Zunge lag. Später, als wir allein waren, sagte sie zu mir: »Nun weißt du also, was du von Dr. W. zu halten hast und daß er nicht erst neuerdings seinen Stromverbrauch von anderen bezahlen
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läßt... Und dieser Mann ist bereits entnazifiziert und bewirbt sich um einen hohen Posten bei der Restitutionsbehörde, bei der die noch rechtzeitig geflüchteten Juden ihre Ansprüche anmelden sol len ...« »Woher weißt du denn das, >Tante Änne