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German Pages 312 Year 2017
Gerald Schröder, Christina Threuter (Hrsg.) Wilde Dinge in Kunst und Design
Image | Band 99
Gerald Schröder, Christina Threuter (Hrsg.)
Wilde Dinge in Kunst und Design Aspekte der Alterität seit 1800
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Inhaltsverzeichnis
S. 8 Wilde Dinge in Kunst und Design Aspekte der Alterität seit 1800 Gerald Schröder und Christina Threuter
S. 60
S. 30 Das Interieur als Bühne Dufours tapezier tes Südsee-Arkadien und die Verinnerlichung naturalisier ter »Geschlechtscharaktere« im Wohnen Astrid Silvia Schönhagen
Wohnhöhlen und Beduinenzelte Die Metapher des »Wilden« im Display der Ateliers von Ernst Ludwig Kirchner vor dem Ersten Weltkrieg Christiane Keim
S. 98 Wilde Mode
S. 80 Bodies of Subversion? Die inkorporier te Wildheit der Tätowierung Sabine Kampmann
Exotismus und Tropikalismus Alexandra Karentzos
S. 136 Wilde Assemblagen Reflexionen der Differenz im Werk von Isa Genzken Gerald Schröder
S. 118 Wilde Muster Yinka Shonibare und der period room Änne Söll
S. 174 Samuel Fosso Das Wilde in der fotografischen Autobiografie Heidi Helmhold
S. 190 Federköpfe
S. 206
Wilde Dinge der Mode Christina Threuter
Vicious Rick Owens Re-bir thing des Cool Elke Gaugele
S. 222 Kreativität und Terrorismus
S. 244
Anmerkungen zum Design in Zeiten der Gewalt Friedrich Weltzien
Schönhässlich Über das Wilde in der Mode Annette Geiger
S. 262 Vergesichtung des Grauens
S. 282
Wie das Monster seinen Körper bekommt Florian Kornrumpf
Walk on the wild side Begegnungen mit Tieren in der Gegenwar tskunst Jessica Ullrich
S. 304 Die Autorinnen und Autoren
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Wilde Dinge in Kunst und Design | Aspekte der Alterität
Wilde Dinge in Kunst und Design | Gerald Schröder und Christina Threuter
Wilde Dinge in Kunst und Design Aspekte der Alterität seit 1800 Gerald Schröder und Christina Threuter
»Sauvage«: Diors Herrenparfum Ein Werbefilm zeigt den berühmten Hollywood-Schauspieler Johnny Depp, wie er – schwarz gekleidet und mit dunkler Sonnenbrille – mitten in der Nacht zu den Klängen seiner E-Gitarre wild »abrockt«, um dann – einem starken und dunklen Bedürfnis folgend – mit dem Auto den dichten »Dschungel« einer Großstadt in Richtung Wüste zu verlassen.¹ Auf dem Weg dorthin wird es hell und es begegnen ihm einsame wilde Tiere: ein Büffel, ein Adler und schließlich ein Kojote, die als Spiegelbilder des männlichen Protagonisten in Szene gesetzt werden. Angekommen in der weiten Landschaft der Wüste, die nicht von ungefähr das Image des Wilden Westens heraufbeschwört, holt er einen Spaten aus seinem Kofferraum und gräbt unter dem gleißenden Licht der Sonne ein Loch in den Wüstensand. Dorthinein legt er seine zahlreichen Hals- und Armbänder, während aus dem Off ein innerer Monolog zu diesem fremdartig anmutenden Ritual zu hören ist: »Wonach suche ich«, fragt er sich. Und gibt sich dann selbst die Antwort: »Nach etwas was ich nicht sehen kann. Ich spüre es. Es ist magisch.« Schließlich erscheint am Ende des Films als Antwort auf seine Fragen plötzlich wie eine Vision ein schwarzer Flacon mit der Aufschrift Sauvage geheimnisvoll im Abendlicht vor einer Felsformation, die ein wenig an Ayers Rock, den heiligen Berg der Aborigines in Aus tralien, erinnert.
1 | Den Directorscut des Werbefilms siehe unter: www.youtube.com/ watch?v=LnoumTpLMfk
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Sauvage – zu Deutsch »wild« – ist der Name eines Herrenparfums, das das Modehaus Christian Dior 2016 neu auf den Markt gebracht hat und auf seiner Homepage folgendermaßen bewirbt: »Dior hat einen neuen Herrenduft kreiert. Eine Komposition von radikaler Frische, der Name wie ein Manifest. Francois Demachy, Parfumeur-Créateur bei Dior, wollte ein Parfum, das roh und elegant zugleich ist.« (http://www.dior.com/beauty/de_de/parfums-undkosmetik/dufte/herrendufte/sauvage) Die Werbung für das Parfum Sauvage eignet sich insofern als Einstieg in das Leitthema des vorliegenden Buches, als sie das Produkt gleichsam als »wildes Ding« in Szene setzt und zu diesem Zweck eine ganze Fülle weiterer Dinge nutzt, die Aspekte von Wildheit verkörpern oder zumindest Assoziationen des Wilden hervorrufen. Dabei stellen sich grundsätzliche Fragen: Wodurch werden Dinge zu »wilden Dingen«? Wie werden Dinge in den Bereichen Design und Kunst gestaltet, damit sie »wild« erscheinen? Und warum werden sie überhaupt in dieser Weise gestaltet? Worin besteht also die Faszination des Wilden, die beispielsweise ein Unternehmen wie Christian Dior als Image für sein Produkt erreichen möchte? Zu den »wilden Dingen« im Werbefilm gehören die Landschaft des Wilden Westens mit ihrer besonderen Fauna und Flora sowie ihrer spezifischen Geologie. Doch es sind eben nicht nur die vom Menschen unberührten Dinge, die hier zum Image des Wilden beitragen, sondern ebenso die vom Menschen gestalteten Dinge der materiellen Kultur. In diesen verbinden sich die Aspekte und Konnotationen des Wilden mit denen der Kultur und Zivilisation. Wie in der Produktbeschreibung des Parfums angedeutet, soll das Rohe der wilden Natur in die elegante Gestaltung von Kultur und Zivilisation mit einfließen. Allgemein zeichnen sich so die in Kunst und im Design gestalteten »wilden Dinge« gerade durch eine gewisse Ambivalenz aus. Als Produkte der Kultur und Zivilisation verkörpern sie das Wilde lediglich durch bestimmte Aspekte, die entweder deutlich und explizit oder auch nur unterschwellig und assoziativ aufgerufen werden. Im Werbefilm erscheint die moderne Architektur der Großstadt mit ihrer engen Bebauung dementsprechend nicht von ungefähr wie ein dichter wilder Dschungel. Auch dem Schmuck von Johnny Depp und vor allem seinen Tattoos haftet der Ruch des Wilden an. Und doch ist das als ursprünglich »wild« Konnotierte an ihnen längst gebändigt und sie gehören mittlerweile fest zu den Accessoires westlich geprägter Mode und Körperkultur. Eine solche Verbindung von roher Wildheit und kultivierter Eleganz suggeriert schließlich auch die Gestaltung des Parfumflacons als »wildes Ding«, das mit seiner schwarzen Färbung das ganze Bedeutungsspektrum von blackness assoziativ aufruft, angefangen bei der Nacht und Dunkelheit über das Geheimnisvolle und Fremde bis hin zum ethnisch Anderen, für das im rassistischen Diskurs die dunkle Hautfarbe steht. Kombiniert wird die dunkle Farbe des Flacons schließlich mit einer einfachen und strengen
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Form sowie einer Typographie, die mit der klassischen Antiqua zugleich auf die Zivilisation der westlich geprägten Kulturen anspielt. Zur ambivalenten Verschränkung von Wildheit und Kultiviertheit passt auch, dass die Schlusssequenz des Werbefilms an den Anfang von Stanley Kubricks berühmten Filmklassiker 2001 Odyssee im Weltraum (1968) erinnert, wo plötzlich ein schwarzer Monolith als Sinnbild einer hochentwickelten außerirdischen Kultur inmitten der Wüste und einer wilden »Urhorde« menschenähnlicher Affen erscheint.
Zur Genealogie einer Ästhetik des Wilden und »wilden Ästhetik« Etymologisch ist das deutsche Wort »wild« mit dem Wort »Wald« verwandt, ebenso wie sich das französische sauvage von selva, dem lateinischen Wort für Wald, ableitet. Die Wildnis bezeichnet somit ursprünglich einen vom Menschen unberührten Raum der Natur, der vom Raum des Menschen mit seinen Siedlungen und Städten sowie der landwirtschaftlichen Kultivierung der Natur abgegrenzt ist. Seit der Antike war der Raum der Wildnis daher ein Gebiet, in dem keine menschliche Kultur und Zivilisation anzutreffen ist; ein Gebiet, das anders ist als der vertraute Lebensbereich; ein Gebiet, das unbekannt und fremd ist, in dem Gefahren wie beispielsweise wilde furchterregende Tiere lauern können. Dadurch bot der Raum der Wildnis auch stets eine Projektionsfläche für angstbesetzte Fantasien. Er wurde zum Ort, wo vermeintlich Barbaren ihr Unwesen treiben, wo »wilde Männer« und »wilde Frauen« hausen, oder – schlimmer noch – wo man Monstern begegnen konnte, gefährlichen Mischwesen aus Tier und Mensch (vgl. Großmann 2015: 204–221). Spätestens mit dem Ende des Mittelalters und mit Beginn der Frühen Neuzeit weckten die aus europäischer Sicht unbekannten und wilden Landstriche jedoch auch zunehmend die Neugier der Menschen. Angefangen mit den christlichen Missionaren und Händlern begann die lange Zeit europäischer Entdeckungs- und Forschungsreisen. Sie hatten nicht nur den Zweck, neue Erkenntnisse über die bislang fremde Welt zu gewinnen, sondern dienten auch dazu, sie für die europäischen Mächte in Besitz zu nehmen, zu kolonialisieren, um ihre Bewohner und natürlichen Ressourcen auszubeuten (vgl. Kohl 1986). Auf kategorialer Ebene ist der Begriff des Wilden also dialektisch mit den Begriffen Kultur und Zivilisation verbunden (vgl. Robert/Günther 2012: V). Und historisch betrachtet, hat der Begriff des Wilden seine bis heute fortwirkende Prägung im Zeitalter des europäischen Kolonialismus erfahren. Mit
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der begrifflichen Dichotomie von »wild« und »zivilisiert« ging auch eine wertende Hierarchisierung einher. Das Wilde war zugleich minderwertig und galt als das, was nicht der europäischen Kultur und dem Stand ihrer Zivilisation entsprach. Wenn ganze Territorien mitsamt den dort anzutreffenden Menschen von den Europäern seit dem 16. Jahrhundert als »wild« charakterisiert wurden, dann galt ihnen dies zugleich als Legitimation dafür, auch mit Macht und Gewalt das vermeintlich Wilde zu bändigen, zu unterdrücken und auszubeuten, kurzum – aus ihrem imperialen Blick betrachtet – zu zivilisieren und mit der europäischen Kultur zu »beglücken«. Doch nicht nur der Begriff des Wilden wurde via negationis durch die Begriffe Kultur und Zivilisation erklärt. Denn auch das europäische Selbstverständnis der beiden zuletzt genannten Begriffe entwickelte sich vor allem im 18. Jahrhundert – dem Zeitalter der Aufklärung – stark in Abgrenzung gegenüber den als wild charakterisierten, fremden außereuropäischen Kulturen, mit denen die Europäer durch die fortschreitende Kolonialisierung immer stärker in Kontakt kamen (vgl. Robert 2012: 3–39). Als zivilisiert und wertvoll galt somit das, was sich vom vermeintlich wilden Fremden unterschied. Wenn im Zuge der Aufklärung im 18. Jahrhundert nun zunehmend Schriften entstanden sind, in denen das Wilde positiv bewertet und der einst barbarische Wilde zum »edlen Wilden« aufgewertet wird, dann widerspricht dies nur scheinbar dem festgeschriebenen Werteschema. Denn was beim Wilden nun als edel hervorgehoben und gewürdigt wird – wie beispielsweise seine Empfindsamkeit –, sind letztlich Eigenschaften des zivilisierten Menschen, die von den aufklärerischen Autoren im Hinblick auf ihr europäisches Publikum kritisch eingefordert werden, frei nach dem Motto: Wenn selbst ein Wilder über eigentlich zivilisierte Eigenschaften verfügen und sein Verhalten danach ausrichten kann, dann sollte dies den Europäern als Vertretern der Zivilisation doch erst recht möglich sein (vgl. Kohl 1986). Die Wertschätzung des Wilden, die im kolonialistisch fundierten Diskurs der Aufklärung zu finden ist, entpuppt sich also letztlich als Projektion des Eigenen im Fremden. Damit erweisen sich schließlich beide Kategorien – das Wilde und das Zivilisierte –als eurozentrische Konstruktionen, die sich gegenseitig bedingen. Dies zeigt sich auch im ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts. So kann die Entwicklung der klassizistischen Ästhetik nach 1750 auch als Reaktion auf die Begegnung mit »wilden« außereuropäischen Artefakten verstanden werden. Diese konnten als hässlich, ekelerregend und pathetisch abgewertet werden, weil sie im Kontrast standen zum Selbstverständnis des europäischen Klassizismus, dass die Kunst die wilden Aspekte der Natur kultiviere und veredele im Hinblick auf ein Ideal, das in der Antike vorgeprägt und während der Renaissance weiterverfolgt worden sei. Jörg Robert bringt diesen Sachverhalt aus literaturwissenschaftlicher Sicht treffend auf den Punkt:
Wilde Dinge in Kunst und Design | Gerald Schröder und Christina Threuter
»Die neue Ästhetik [des Klassizismus] verdankt sich dem Impuls des Wilden. Sie ist der Versuch, die Irritation des Archaischen, der rohen und exzessiven Natur, durch die zivilisierenden Kräfte der Form und der Norm (des Normalisierens) zu bändigen. In dem Maße, wie das Wilde der europäischen Zivilisation näher rückt, fällt es der Ästhetik und der Kunst zu, dieses Fremde durch Operationen der kompensierenden Verdrängung […] zu neutralisieren.« (Robert 2012: 25) Wenn also in der klassizistischen Ästhetik das Schöne noch einmal wie in der Antike und der Renaissance mit dem Wahren und Guten verschwistert wird, dann fungiert das Kunstwerk sozusagen als Bollwerk gegen die näher rückenden außereuropäischen Artefakte, die dementsprechend als Fetisch bezeichnet und abgewertet werden. Fest verankert in einer solchen hierarchisierten Dichotomie, erscheinen die Fetische als »wilde Dinge«, die nicht nur aufgrund ihrer Form und der verwendeten Materialien als hässlich und widerwärtig gelten, sondern darüber hinaus auch als falsch und böse, weil sie vortäuschen, über magischen Kräfte zu verfügen und die Menschen in ihrem Aberglauben bestärken (vgl. Böhme 2006: 155–372, Genge 2014: 29–56). Doch kommt es zeitgleich mit der klassizistischen Ästhetik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch zu einer neuen Wertschätzung der wilden Aspekte der Natur. Dies demonstrieren die ästhetischen Kategorien des Pittoresken und Erhabenen, die in dieser Zeit aufkommen und ihren künstlerischen Ausdruck beispielsweise in der Gestaltung des Englischen Landschaftsgartens oder in der Vorliebe für bestimmte Motive in der Malerei finden wie beispielsweise das Hochgebirge oder der Vulkanausbruch. Beim Sublimen bzw. Erhabenen gilt nicht mehr die schöne Kulturlandschaft, in der die Natur dem menschlichen Maß angepasst wurde, als Vorbild für die Kunst, sondern die gefährlichen und Furcht einflößenden Aspekte einer wilden und vom Menschen unberührten Natur wie ihre schier unendliche Größe und zerstörerische Gewalt (vgl. Heininger 2001: 275–310). In einer abgeschwächten Form – nämlich als Rauheit und Unregelmäßigkeit – werden die wilden Aspekte der Natur ebenfalls durch die Brille des Pittoresken ästhetisch aufgewertet (vgl. Wolfzettel 2001: 760–790). Doch schließlich basieren auch die »wilden Dinge«, die im Sinne des Pittoresken und Erhabenen gestaltet wurden, auf hoch kultivierten Voreinstellungen. Setzt doch die ästhetische Freude an der rauen pittoresken Natur eine Kenntnis entsprechender Landschaftsgemälde voraus und die ästhetische Lust am Sublimen ein zivilisiertes Subjekt, das in Anbetracht des ästhetisch Erhabenen seiner Vernunftbegabung und moralischen Freiheit bewusst werden soll. Dies zumindest gemäß der philosophischen Konzeptualisierung des Erhabenen bei Immanuel Kant und in dessen Nachfolge bei Friedrich Schiller.
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Für die weitere moderne Begriffsgeschichte des Wilden ist nun ganz entscheidend, dass es um 1800 zu einer Verzeitlichung der Kategorie kommt.² War das Wilde zuvor maßgeblich räumlich konzipiert und als wildes Gebiet in Distanz zum vermeintlich eigenen zivilisierten Raum gerückt, so geschieht diese Distanzierung nun ebenso durch eine historische Entfernung. Aus dem fernen Wilden wird um 1800 zusätzlich das frühe Wilde, d.h. das ursprüngliche und primitive Wilde der Urzeit. Und aus dem nahen und vertrauten Raum des Kultivierten und Zivilisierten wird darüber hinaus die fortgeschrittene und weiter fortschreitende Kultur und Zivilisation der Gegenwart. Mit anderen Worten, die eigene Zivilisation wird auch zunehmend verzeitlicht und als Zivilisationsprozess beschrieben, an dessen Anfang und Ursprung nun aber das Wilde steht. Zeitlich sind das Wilde und das Zivilisierte zwar weit voneinander entfernt, jedoch wird durch die Temporalisierung der beiden Kategorien das Wilde erstmals zum Bestandteil der eigenen europäischen Kulturgeschichte und des eigenen Zivilisationsprozesses. Norbert Elias hat den europäischen Prozess der Zivilisation aus soziologischer Perspektive Mitte des 20. Jahrhunderts ausführlich beschrieben und dabei die entscheidenden Aspekte benannt, die auch schon bei früheren Autoren auftauchen (Elias: 1992 [1939]). Demnach zeichnet sich die historische Entwicklung der europäischen Zivilisation auf der Ebene der Sozialstruktur durch Prozesse des technischen Fortschritts sowie der Differenzierung und Zentralisierung der Gesellschaft aus. Auf der Ebene der Persönlichkeitsstruktur sei es die zunehmende Individualisierung, die durch den Prozess der Zivilisation erfolgt, verbunden mit einer Förderung des zweckrationalen Handelns sowie der Beherrschung der Affekte, die sowohl sexuelle Triebe wie auch gewalttätige Impulse stärker kontrolliert oder sogar unterdrückt. Schließlich diene zusätzlich die Verfeinerung der Manieren dazu, die zunehmende gegenseitige Abhängigkeit der Individuen zu regulieren. Aus der Perspektive einer solchen Selbstbeschreibung der europäischen Zivilisation konnte das im 19. und frühen 20. Jahrhundert als ursprünglich und primitiv charakterisierte Wilde nun wiederum via negationis mit dem Irrationalen und Technikfernen, dem Undifferenzierten und Kollektiven sowie mit ungezügelten Affekten, Sexualität und Gewalt in Verbindung gebracht werden. In den kolonialistisch fundierten Diskursen und Praktiken der neuen Humanwissenschaften, die sich seit dem 19. Jahrhundert in Europa entwickelt haben, wie speziell der Anthropologie und Ethnologie, wurden die außereuropäischen Kulturen vor diesem Hintergrund weiterhin ab-
2 | Zur geschichtstheoretischen Debatte um den Begriff der Verzeitlichung siehe zusammenfassend Jung 2010/2011: 172–184.
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gewertet. Dies betraf vor allem die damals so genannten Naturvölker, die mit diesem Begriff von den Kulturvölkern abgegrenzt wurden. Sie galten als Inbegriff des Wilden im Sinne von ursprünglich und primitiv und waren damit regelrecht aus der Zeit gefallen (vgl. Leeb 2015: 86–91). Wie ein anachronistisches Relikt waren sie sozusagen ohne weitere kulturelle Entwicklung hin zu einer fortschrittlichen Zivilisation am Ursprung der menschlichen Kulturgeschichte steckengeblieben. Dies machte sie für die Europäer aber gerade besonders interessant, weil sie auf diese »Völker« ihren eigenen wilden Ursprung projizieren und sich zugleich ihres eigenen zivilisatorischen Fortschritts und ihrer kulturellen Überlegenheit versichern konnten. So wurden die Artefakte der sogenannten Naturvölker gewissermaßen als »wilde Dinge« domestiziert, indem man sie einerseits innerhalb wissenschaftlicher Ordnungen klassifizierte und andererseits in den neuen Kolonialmuseen wie Trophäen einer siegreichen Kultur präsentierte (vgl. Iselin 2012). Dies galt bekanntlich auch für die Menschen dieser indigenen Volksgruppen, die zum einen wissenschaftlich vermessen und erforscht, und zum anderen – mehr oder weniger wie wilde Tiere im Zoo – auf den großen europäischen Kolonialausstellungen und in Völkerschauen zur Schau gestellt wurden (vgl. Dreesbach 2005). War das Wilde im Sinne von ursprünglich und primitiv in den Humanwissenschaften bis ins 20. Jahrhundert also eher negativ besetzt, so wurde es im ästhetischen Diskurs wie auch in der Praxis der bildenden Künste und des Designs zunehmend zur positiven Größe und wichtigen Referenz, weil damit der eigene Anspruch des Neuen und Originellen bekräftigt werden konnte. Mit welchen konkreten Inhalten die Kategorie des Wilden dabei gefüllt wurde, änderte sich im Laufe der frühen Moderne. Konstant blieb jedoch die generelle Stoßrichtung, die sich gegen eine vom Klassizismus geprägte akademische Kunst wandte. In seinen (nicht unumstrittenen) Ausführungen zum Primitivismus in der Moderne hat William Rubin³ dies aus kunsthistorischer Sicht deutlich herausgestellt: »Je mehr die bürgerliche Gesellschaft Virtuosität und Finesse der Stile des Salons hochhielt, um so mehr fingen bestimmte Maler an, das Einfache und Naive wertzuschätzen, sogar das Rauhe und Grobe – bis zu dem Punkt, an dem einige primitivistische Künstler schließlich am Ende des 19. Jahrhunderts jene außereuropäische Kunst, die sie ›wild‹ nannten, verehrten. Voller Bewunderung für diesen Begriff, verwendeten sie ihn zur Beschreibung praktisch jeder Kunst, die von der griechisch-römischen Linie des westlichen Realismus und seiner Neufassung und Systematisierung in der Renaissance abwich.« (Rubin 1996 [1984]: 10)
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So lassen sich die ersten positiven Urteile über das primitive Wilde bzw. wilde Primitive bereits in der Ästhetik des Sturm und Drang und daran anschließend in der Romantik finden, die bereits in der Zeit um 1800 eine Kritik am klassizistischen Ideal formulierten und dabei ganz gezielt auf vergangene und aus der Sicht des Klassizismus als ästhetisch überwunden geltende Stile zurückgriffen. In der Literatur waren es die Schriften von William Shakespeare, die wiederentdeckt wurden, sowie die angeblich aus keltischer Zeit stammenden Epen von Ossian, den Johann Gottfried Herder als »wilden Apollo« (Herder 1999 [1773]: 13) feierte. Vor allem Objekte der Gotik konnten in diesem Zusammenhang als »wilde Dinge« erscheinen, wie beispielsweise die Fassade des Straßburger Münsters, deren Gestaltung Johann Wolfgang von Goethe als aus »rauher Wildheit« (Goethe 1985 [1772]: 14) geboren würdigte. Die neue Wertschätzung der als wild und primitiv charakterisierten Gotik strahlte aus über die Schauerromantik des in England so genannten Gothic Revival bis hin zum Künstlerkreis der Präraffaeliten und zum Arts-&-Crafts-Movement als der ersten modernen Designströmung, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts in London formierte. Im Anschluss an die Gotik war es sogar die Antike selbst, die zunehmend »verwildert« erschien. Eine erste starke Erschütterung erfuhr das zivilisatorische Bollwerk des Klassizismus bekanntlich durch die archäologische Erkenntnis, dass die Bauten und Skulpturen der Antike nicht marmorsichtig und weiß, sondern farbig gefasst waren. Immer deutlicher trat die scheinbar dunkle irrationale Seite der antiken Kultur zutage, die nicht nur die klar abgegrenzte geistige Form, sondern ebenso die ekstatische Verschmelzung im sinnlichen Rausch von Lust und Gewalt suchte. Friedrich Nietzsche hat
3 | William Rubin hatte mit der 1984 im
dass die Avantgarden diese Kulturen um ihre
Museum of Modern Art in New York gezeigten
künstlerischen Entwicklungen enteigneten,
Ausstellung und dem damit einhergehenden
um die Befreiung von Akademismus und Kon-
umfangreichen Katalog zum »Primitivismus in
ventionen als ihre »ur«eigenen Innovationen
der Kunst des 20. Jahrhunderts« (Rubin 1996
auszugeben und um nicht zuletzt den hege-
[1984]) das Ziel, das bis dahin marginalisierte
monialen Universalismus aufrechtzuerhalten.
Themengebiet der Auseinandersetzungen
Dementsprechend verweisen die kunsthisto-
moderner Künstler mit Artefakten außereu-
rischen Bezeichnungen Primitivismus, Exotis-
ropäischer Kulturen umfassend zu erörtern.
mus und Orientalismus auf den europäischen
Rubin und seine Mitautoren stießen mit
kolonialkulturellen künstlerischen Zu- bzw.
ihren Beiträgen auf heftige Kritik. Es wurde
Übergriff auf außereuropäische Kulturen als
angemahnt, dass hier kolonialkulturelles
Herrschaftssicherung. Vgl. zur Kritik an Rubin
Denken fortgeführt werde: Die mythische
und zum Eurozentrismus in dieser Rezeption
Konstruktion westlich patriarchaler Subjekt-
des Primitivismus v.a.: Clifford 1988 und
bzw. Künstlergeniebildung und universalis-
Schmidt-Linsenhoff 2002: 7–16.
tischer Eurozentrismus lassen außer Acht,
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diesen Aspekt der wilden Antike mit der Kategorie des Dionysischen zu fassen versucht (vgl Cancik/Cancik-Lindemaier 1999). Neben der Gotik und der Antike war es der Orient, der im 19. Jahrhundert aus europäischer Sicht zur vorrangigen Projektionsfläche des Wilden wurde (vgl. Said 2012 [1978]). Zwar galten die islamisch geprägten Völker Nordafrikas und Kleinasiens in der Nomenklatur der Zeit durchaus als Kulturvölker und waren damit nicht so extrem von den als zivilisiert geltenden Nationen Europas distanziert wie die so genannten Naturvölker. Und doch wurde ihnen letztlich die für Europa vorbehaltene kulturelle und zivilisatorische Fortschrittlichkeit abgesprochen. Im ästhetischen Orientalismus zeigte sich dies darin, dass in den Kunstwerken und Objekten des Kunstgewerbes Erotik und Sexualität sowie Rausch und Gewalt zu den beliebtesten Motiven gehörten. Damit wurde der Orient zur Projektionsfläche europäischer Wunsch- und Angstfantasien gleichermaßen. Doch nicht nur auf Motivebene war die Lockerung der zivilisatorischen Affektkontrolle ein Thema, sondern – zumindest bei einigen Orientalisten wie beispielsweise Eugène Delacroix – kam diese auch in der Malweise selbst zum Ausdruck: in der Sinnlichkeit der Farbgebung ebenso wie im groben Pinselduktus, die beide gegen den hohen Stellenwert von Form und Zeichnung in der akademischen Malerei gerichtet waren (vgl. Krüger 2007). Auch das sinnlich aufgeladene Ornament, das zugleich den Ursprung menschlicher Gestaltung markieren sollte, wurde in diesem Zusammenhang gegen die rhetorisch – und damit in der Kultur der Antike und Renaissance – fundierte Komposition ausgespielt (vgl. Leeb 2015: 103–151). Nicht von ungefähr wurden Künstler wie Henri Matisse und André Derain, die die Tradition eines malerischen, expressiven und ornamentalen Orientalismus im frühen 20. Jahrhundert fortführten, von der zeitgenössischen Kunstkritik abschätzig als »Fauves«, d.h. als wilde Tiere bezeichnet. In der Zeit um 1900 wurde der Orient als ästhetische Projektionsfläche des Wilden zunehmend abgelöst durch die damals so genannten Naturvölker Afrikas und Ozeaniens. Vorbereitet war diese Wendung durch die Begeisterung Paul Gauguins für die Kulturen der Südsee. Künstler wie Pablo Picasso oder Emil Nolde und Max Pechstein als Vertreter des deutschen Expressionismus sowie vor allem die französischen Surrealisten traten in seine Fußstapfen und begründeten eine Strömung, die von der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts dann als Primitivismus im engeren Sinne definiert wurde (Goldwater 1986 [1938]). Wie schon beim Orientalismus geschehen, ging es auch in der Ästhetik des Primitivismus nicht so sehr um bestimmte Motive des Wilden wie beispielsweise Masken oder Riten und Tänze, sondern ganz entscheidend um eine »Verwilderung« der künstlerischen Formgebung. Diese richtete sich nach wie vor gegen die »zivilisierte«, d.h. vom Klassizismus geprägte Kunst, wie sie an den Akademien auch in der Zeit um 1900 noch unterrichtet wurde. Vor diesem Hintergrund versprach eine künstlerische
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Orientierung an den Artefakten aus Afrika und Ozeanien, die in den Kolonialmuseen und späteren Völkerkundemuseen studiert werden konnten, eine bislang in der europäischen Kunst vermeintlich nicht erreichte Authentizität und Intensität des Ausdrucks. Dabei sollten die im Expressionismus und vor allem im Surrealismus entstandenen »wilden Dinge« nicht nur als Befreiung von einer immer stärker als Einengung empfundenen dominierenden und institutionell verankerten Ästhetik verstanden werden, sondern zugleich als Befreiung von einer modernen zivilisierten Lebensweise, deren Zwänge ebenfalls immer deutlicher zutage traten. Ganz im Sinne eines künstlerischen Selbstverständnisses als Avantgarde, sollte die »verwilderte« europäische Kunst somit auch das moderne zivilisierte Leben verändern: Die wild gewordene Kunst wurde zunehmend als Zivilisationskritik verstanden. Dies schien deswegen notwendig geworden zu sein, weil verstärkt die Defizite des europäischen Zivilisationsprozesses deutlich geworden waren, die vor dem Hintergrund der Indus trialisierung und des beschleunigten technischen Fortschritts seit dem 19. Jahrhundert vor allem als Entfremdung des Menschen beschrieben wurden. Damit war die Entfremdung von der äußeren Natur ebenso gemeint wie die Entfremdung von der inneren Natur des Menschen, d.h. seinem Körper sowie seinen Gefühlen und Bedürfnissen. Es ging den Avantgardekünstlern nicht nur darum »wilde Dinge« in Kunst und im Design zu schaffen, sondern in gewisser Weise auch darum selber antibürgerlich, sprich »wild« zu leben, was wiederum für die gewünschte Authentizität des Ausdrucks bürgen sollte. Paul Gauguin behauptete beispielsweise im Reisebericht über seinen Aufenthalt auf Tahiti, dass der »Wilde in [ihm] […] von Tag zu Tag stärker [wurde]« (Gauguin 1993 [1893]: 18). Und der Kunstkritiker Gustav Schiefler berichtete über die expressionistische Künstlergruppe Die Brücke, dass sie »ein Leben in der Art eines wilden Volksstammes« (zit. nach Klaus von Beyme 2008: 140) führten. André Breton, Promotor der französischen Surrealisten, erhob das Wilde sogar zum Prinzip und Ziel unserer Wahrnehmung, wenn er seine Überlegungen zur surrealistischen Malerei mit dem Satz begann: »L’oiel existe à l’état sauvage« (Breton 1925: 26). Im Laufe des 20. Jahrhunderts lassen sich vor allem bei denjenigen Künstlerinnen und Künstlern »wilde Dinge« finden, die in der Tradition expressionistischer sowie surrealistischer Kunst stehen.⁴ Und oft wird damit weiterhin eine zivilisationskritische Stoßrichtung verbunden. Dabei kommt es zu einem regen Austausch zwischen künstlerisch-avantgardistischen Praktiken, die auf ein antibürgerliches Leben zielen, und den gegenkulturellen Prakti-
4 | Dazu gehören beispielsweise die Künst-
Fluxus sowie die neoexpressionistische
lergruppe COBRA, die Strömung des Art Brut,
Malerei der sogenannten Neuen Wilden.
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ken der vielfältigen westlichen Jugendkulturen im 20. Jahrhundert, die sich ebenfalls im Namen des Wilden Freiräume verschaffen möchten, um den zunehmend spürbaren Disziplinierungen des fortgeschrittenen Zivilisationsprozesses zu entkommen. Dass diese als wild charakterisierten rebellischen Lebensweisen oft sehr schnell von der Mainstreamkultur für kommerzielle Zwecke entdeckt und genutzt wurden, unterstreicht einmal mehr die eigentümliche Dialektik von Wildem und Zivilisiertem. Kommerziell erfolgreiche Filme wie The Wild One (1953) oder Easy Rider (1969) mit dem Soundtrack Born to be wild sind dafür ebenso Beispiele wie der von den Hippies inspirierte Ethno- und speziell »Indianer«-Look in der Mode der späten 1960er und 1970er Jahre (vgl. Bolton 2004). Gleiches gilt für den Lebensstil der Punks mit ihrer zerrissenen und zerschlissenen Kleidung sowie ihren Piercings und Tattoos, die bis heute zum Warenangebot der Modeindustrie gehören. Im Bereich der bildenden Kunst sieht es freilich nicht anders aus. Vieles von dem, was einst als wilde rebellische Avantgarde angetreten war, hat heute längst seine zivilisationskritische Spitze verloren. Expressionistische und surrealistische Werke finden sich als gut verkäufliche Motive auf Postkarten und Kalenderblättern wieder. Dass das Wilde in den ästhetischen Praktiken des 20. Jahrhunderts seine räumliche und zeitliche Distanzierung verliert und stattdessen in der räumlichen und zeitlichen Nähe der eigenen zeitgenössischen Kultur auftaucht, wird unterstützt durch eine neue Konzeption des Wilden in den Humanwissenschaften in der Zeit um 1900. Neben dem traditionellen Konzept der Verräumlichung und dem frühmodernen Konzept der Verzeitlichung kommt es nun zusätzlich zu einer stärkeren Verinnerlichung des Wilden (vgl. Leeb 2015: 153–182). Diese Internalisierung wird vor allem durch die Psychoanalyse befördert, die die vermeintlich ursprüngliche Wildheit der eigenen Kultur in der ursprünglichen Wildheit des Individuums wiederentdeckt. Mit anderen Worten: In der Psychoanalyse wird auch das Kind zum Wilden und gesellt sich damit an die Seite des räumlich entfernten, ethnisch unterschiedenen Wilden und des zeitlich entrückten Wilden der Urzeit (vgl. Freud 2000 [1912/1913]). Sigmund Freud hat darauf gedrängt, dass sich der Prozess der Zivilisation in gewisser Weise beim Sozialisierungsprozess des Individuums stets aufs Neue wiederholen müsse. Denn gelinge dies nicht, so könnten bestimmte Aspekte der wilden Kindheit – wie Verschmelzungs-, Lust- und Gewaltfantasien – im Erwachsenenalter wiederkehren und dadurch zu seelischen Erkrankungen führen. Auf diese Weise würden ebenfalls – damals so genannte – Verrückte und Geisteskranke zu Sprachrohren des Wilden, weil bei ihnen der individuelle Zivilisationsprozess sozusagen nicht geglückt sei (vgl. Fink-Eitel 1994: 201–298). Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass gerade in den expressionistischen und surrealistischen Tendenzen moderner Kunst »wilde Dinge« zur Inspiration dienten, die von Kindern oder
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eben »Geisteskranken« bzw. Outsidern der Gesellschaft produziert worden sind. Und schließlich konnten solche »wilden Dinge«, die eigentlich außerhalb des modernen Kunstsystems entstanden waren, auch selbst zur Kunst erklärt werden (vgl. Carrier/Pissarro 2013). Zielten die Spielarten einer »wilden Ästhetik« im Bereich der bildenden Kunst der Moderne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – wie schon gesagt – zunächst auf eine kritische Auseinandersetzung mit der akademischen Kunst in der Nachfolge des Klassizismus, so richteten sich diese Spielarten im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts maßgeblich gegen eine Ästhetik, die vom Rationalismus des technischen Fortschritts und speziell der Maschine geprägt war. Dies gilt vor allem für die wilden Aspekte im modernen Design, die oft als Kritik an der funktionalistischen Moderne gemeint waren. In gewisser Weise hat letztere nämlich das Erbe des Klassizismus angetreten, insofern die Vertreterinnen und Vertreter des modernen Funktionalismus noch einmal das Wahre, Gute und Schöne zusammenbringen wollten. In der Traditionslinie, die vom Deutschen Werkbund über das Staatliche Bauhaus bis hin zur Ulmer Hochschule für Gestaltung reicht, sollte im Hinblick auf die praktische Funktion der Gebrauchsgegenstände ihr wahres Wesen erfasst werden, das zugleich als die schöne und vor allem »gute Form« auch moralisch besetzt war. Adolf Loos, der von den Vertretern einer streng rationalen, funktionalistischen Moderne immer wieder als Gewährsmann herangezogen wurde, hatte bereits 1908 in seinem Aufsatz Ornament und Verbrechen dafür plädiert, alle möglichen Aspekte des Wilden – wie sie seiner Meinung nach beim Kind, bei der Frau, bei sogenannten Naturvölkern und bei gesellschaftlichen Außenseitern, dem Verbrecher, zu finden seien – aus der Gestaltung zu verbannen. Dies sei deswegen notwendig, weil das Wilde den Fortschritt der Kultur angeblich gefährde und den Prozess der Zivilisation im Sinne einer Degeneration umkehre: »Das kind ist amoralisch. Der papua ist es für uns auch. [… ] Aber der mensch unserer zeit, der aus innerem drange die wände mit erotischen symbolen beschmiert, ist ein verbrecher oder ein degenerierter. […] Ich habe folgende erkenntnis gefunden und der welt geschenkt: evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornaments aus einem gebrauchsgegenstande.« (Loos 1999 [1908]: 114–115) Vor diesem Hintergrund erscheinen gerade jene Designströmungen im 20. Jahrhundert als »wild«, die sich entweder gegenläufig zur funktionalistischen Moderne entwickelt haben, wie das Art Déco der 1920er und 1930er Jahre, oder sich historisch von ihr abgesetzt haben wie das Radical Design und die Postmoderne der 1960er–1980er Jahre. Hier tauchen all die wilden Aspekte wieder auf, die die Vertreter der funktionalistischen Moderne ver-
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bannen wollten: das kindlich Spielerische, das sinnlich bzw. weiblich Erotische, das mit dem Ornamentalen gleichgesetzt wurde, sowie das Befremdliche und chaotisch Irrationale. Dabei kommt es zu einem Austausch mit den expressionistischen und surrealistischen Tendenzen der bildenden Künste sowie mit den rebellischen Lebensformen der Jugendkulturen. Wie schon die Avantgardebewegungen der bildenden Kunst im frühen 20. Jahrhundert zielten auch die Designströmungen, die sich im Fahrwasser der gesellschaftlichen Umbrüche der späten 1960er Jahre entwickelt haben, auf eine Zivilisationskritik, die die Zwänge und Defizite einer von Zweckrationalität und Technokratie dominierten Gesellschaft im Blick hat. Ganz im Sinne einer dialektischen Verschränkung des Wilden und Zivilisierten wird einerseits das gewalttätige barbarische Moment des Wilden als Ergebnis eines zunehmend totalitär agierenden Zivilisationsprozesses erkannt. Und andererseits wird das kultivierende und zivilisatorische Potential des Wilden erkannt, das in seinen befreienden und lustvollen Momenten besteht, die der Humanität förderlich sind. Mit anderen Worten: das Wilde und das Zivilisatorische regulieren sich gegenseitig und sind in ihren Extremen für den Menschen nicht zu ertragen (vgl. Horkheimer/Adorno 1987 [1947]). Vielleicht können »wilde Dinge« in Kunst und im Design bestenfalls in diesem humanen Sinne agieren, insofern sie durch die Kulturleistung der Gestaltung Aspekte des Wilden und der Zivilisation in ein differenziertes Verhältnis zueinander bringen und damit auch unser Handeln entsprechend lenken (vgl. Latour 2008).
Wilde Dinge in postkolonialistischer Perspektive Die Beiträge in diesem Sammelband untersuchen die facettenreichen Aspekte des Wilden am Beispiel ganz unterschiedlicher »Dinge« aus den Bereichen von Kunst und Design. Dazu gehören Bildtapeten, Logos, Plattencover, Möbel, Innenraumgestaltungen und Mode ebenso wie Gemälde, Fotografien, Filme, Assemblagen und Installationskunst. Gerade wenn es um die Zuschreibung des Wilden im Hinblick auf das ethnisch Andere geht, argumentieren unsere Autorinnen und Autoren aus einer dezidiert postkolonialistischen Perspektive. D.h. sie setzen sich kritisch mit der Geschichte und den andauernden Folgen des Kolonialismus auseinander, dekonstruieren den eurozentrischen Blick auf das Andere und legen dadurch verborgene Machtstrukturen wie Rassismen und Stereotypisierungen offen. Dieser spezielle Ansatz intendiert Fremdheit als Ordnungsprinzip der eigenen westlichen Kultur im Bild des Wilden in Kunst und Design. Das heißt der Blick richtet sich schließlich vor allem auf das »Fremde im Vertrauten«, auf soziale und
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kulturelle Erscheinungsformen der eigenen Kultur, wie es beispielsweise in der Ethnologie als notwendiger Perspektivenwechsel bzw. anthropologische Wende von Karl Heinz Kohl formuliert wurde (Kohl 1993: 95). Diese Perspektive berührt zwangsläufig auch das Thema der Fremdartigkeit, des Fremden selbst. Stephen Greenblatt hat die Wendung von der Erfindung des Fremden in Bezug auf die Geschichte der Kolonisierung, d.h. die vermeintliche Entdeckung außereuropäischer Kulturen gebraucht (Greenblatt 1994). Aus dieser Sicht wird das Fremde bzw. der Fremde zu einer Projektionsfläche der eigenen Wünsche und Vorstellungen sowohl als Positiv- als auch als Negativbild der modernen Subjektbildung bzw. der eigenen gesellschaftlichen Ordnung. Der Begriff des Wilden ist hierbei Zeichen eines interkulturellen Denkens, das – wie schon gesagt - von Dichotomien gekennzeichnet ist und in seiner Aktualität vor allem auf kolonialkulturelle Diskurse zurückzuführen ist. Sowohl das eine wie das andere Denken instrumentalisieren das Fremde. Nach Waldenfels handelt es sich um die »Einverleibung der Andersheit«, das zur gewaltsamen Integration des Fremden führte und führt (Waldenfels 1990 und 2006). Der vorliegende Sammelband möchte über die repetitive Darlegung stereo typer Bilder bzw. Repräsentationen des Wilden, des Fremden und des Anderen hinausgehen: Er möchte dazu anregen, sich weiter mit der tiefen Verankerung dieses kolonialkulturellen dichotomen Denken in unserer visuellen und materiellen Kultur auseinanderzusetzen, um noch einmal mehr die Konjunktur des Fremden im Eigenen und ihre kolonialrassistische Verankerung kritisch zu hinterfragen. Den Auftakt bilden die Aufsätze von Astrid Schönhagen und Christiane Keim, die mit den Epochenschwellen der Zeit um 1800 und den Jahren um 1900 zentrale Etappen der oben skizzierten Geschichte einer Ästhetik des Wilden in den Blick nehmen. Bei beiden Autorinnen steht die Gestaltung des Innenraums im Fokus. Astrid Schönhagen untersucht Aspekte des Wilden am Beispiel einer Bildtapete mit Szenen aus der Südsee, die den Salon einer großbürgerlichen deutschen Familie im frühen 19. Jahrhundert schmückte. Auffallend ist die antikisierende Bildsprache, durch die das räumlich distanzierte Wilde einem vom Klassizismus geprägten europäischen Publikum näher gebracht werden sollte, so dass der Bildtapete auch eine pädagogische Funktion zukam, indem sie vorbildliche Exempla sittlichen Verhaltens vor Augen stellte. Christiane Keim zeigt am Beispiel fotografisch festgehaltener Szenen von den Atelierräumen des expressionistischen Künstlers Ernst Ludwig Kirchners, wie das vermeintlich Wilde des ethnisch Anderen zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Sinne des Primitivismus ästhetisch aufgewertet und in die Lebenspraxis der Künstlerbohème überführt werden sollte. Erklärtes Ziel war dabei die zivilisationskritische Veränderung des modernen Lebens. Sabine Kampmann geht in ihrem Beitrag der Frage nach, ob es sich heute auf-
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grund der allgemeinen Verbreitung der Körperpraktik des Tätowierens überhaupt noch um eine gegenkulturelle Praktik handeln kann. Während sie die Zuschreibungen von Tätowierungen als wild, fremd oder exotisch in den Blick nimmt, streift sie die europäisch kolonialistische Geschichte der Tätowierung mit einem besonderen Fokus auf den kulturell und geschlechtlich konstruierten Körper. Ausgehend von der Arbeitshypothese einer inkorporierten Wildheit der Tätowierung fragt sie vor allem nach den Überlagerungen von Wildheit und Weiblichkeit. Auch Alexandra Karentzos fragt nach den Möglichkeiten emanzipatorischer gegenkultureller Praktiken am Beispiel der Tropicália-Bewegung, die sich in den 1960er und 1970er Jahren als kritische Reaktion auf den Tropikalismus in der Kunst und in der Mode in Brasilien formierte. Wie sich die Künstlerinnen und Künstler der Tropicália-Bewegung mit den Klischeevorstellungen der wilden Tropen, zu denen traditionell auch der Kannibalismus gehört, auf eine ironische und kritische Art und Weise auseinandersetzen und dabei die Hybridität kultureller Formationen in den Blick rücken, wird von Alexandra Karentzos dargelegt. Die folgenden Beiträge behandeln Positionen aus der zeitgenössischen Kunst und dem aktuelleren Design seit den 1970er Jahren. Änne Söll und Gerald Schröder untersuchen künstlerische Rauminstallationen. Am Beispiel der Interventionen, die der britisch-nigerianische Künstler Yinka Shonibare in Sammlungsräumen US-amerikanischer Museen vorgenommen hat, beleuchtet Änne Söll den transkulturellen Hintergrund der dabei verwendeten Stoffmuster im Kontext der Kolonialgeschichte der USA. Ganz allgemein führt die Verwendung der Muster zu einer »Verwilderung« vorgefundener Ordnungen in den sogenannten period rooms. Und in einem spezifischeren Sinn werden dabei kolonialistisch geprägte Vorstellungen vom wilden Afrika aufgerufen und aus einer postkolonialistischen Perspektive kritisch hinterfragt und konterkariert. Auch in der Rauminstallation der deutschen Künstlerin Isa Genzken wird, wie Gerald Schröder zeigen kann, aus einer postkolonialistischen Perspektive argumentiert. Dabei werden die eurozentrischen Voraussetzungen offen gelegt, die den Blick auf das Andere und die Anderen bestimmen. Damit einher geht eine Fetischisierung des Anderen, die aber letztlich auch die Prämissen der eigenen künstlerischen Arbeit von Isa Genzken betrifft. Heidi Helmhold und Christina Threuter analysieren Aspekte des Wilden am Beispiel von Fotografien. Die vielfältigen Konnotationen des Wilden arbeitet Heidi Helmhold an den künstlerischen Fotografien des nigerianischkamerunischen Künstlers Samuel Fosso heraus. Neben der vordergründigen Reflexion von Klischees und Stereotypen, die die europäischen wie auch die afrikanischen Kulturen gleichermaßen betreffen, spielen in diesem Zusammenhang auch biografische Hintergründe des Künstlers eine wichtige Rolle, die unterschwellig von den rebellischen und vor allem gewalttätigen
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Aspekten des Wilden berichten. In gewisser Weise fungieren die Fotografien von Samuel Fosso insofern wie eine Art Schirm, der die traumatischen Erfahrungen von Gewalt abwehren soll. Christina Threuter befragt eine Modefotografie des US-amerikanischen Fotografen Irving Penn im Hinblick auf das Wilde und hat dabei den vorgeführten Federhut aus dem Modehaus Chanel als »wildes Ding« im Blick. In ihrer Analyse und Interpretation kann sie darlegen, wie sich im fotografischen Bild weibliche, erotische und primitivistische Aspekte des Wilden überlagern und den postkolonialen Diskurs zum begrifflichen Verständnis von Mode befördern. Die folgenden drei Beiträge beschäftigen sich ebenfalls mit dem Wilden in der Mode und rücken dabei ganz unterschiedliche Aspekte in den Fokus ihrer Betrachtung. Elke Gaugele untersucht eine Modenschau des US-amerikanischen Modedesigners Rick Owens, die unter dem Titel Vicious für Furore sorgte: Schien sie doch auf den ersten Blick rassistische Klischeevorstellungen von wilden Afrikanerinnen affirmativ zu bedienen. Auf den zweiten Blick erweist sich Owens’ Inszenierung jedoch als weitaus komplexer, wie Elke Gaugele zeigt. Denn er reagiert mit seiner Modenschau bereits auf einen Rassismusvorwurf und kehrt dabei zugleich die diskriminierende Normierung von Körpermaßen als dessen blinden Fleck hervor. Einen ganz anderen Blick auf die Mode wirft Friedrich Weltzien, wenn er in seinem Aufsatz die »wilden Dinge« des europäischen Linksterrorismus der 1970er Jahre untersucht. Ganz im Sinne der neomarxistischen Ausrichtung der Jugendbewegungen der späten 1960er Jahre galten den Terroristen gerade das Modesystem und die Modeindustrie als Inbegriff der kapitalistischen Konsumgesellschaft, die es ihrer Meinung nach zu bekämpfen galt. Wie dabei die Anwendung von Gewalt in eine Sackgasse geführt hat, kann Friedrich Weltzien ebenso überzeugend zeigen, wie die Freisetzung von Kreativität – sozusagen als alternativer Weg zum Terrorismus – emanzipatorische Wirkung entfalten konnte. Annette Geiger erkennt im »Schönhässlichen« der modernen Mode einen zentralen Aspekt des Wilden, der maßgeblich von populärkulturellen Vorstellungen geprägt ist, deren vielfältigen Quellen sie in ihrem Aufsatz nachgeht. Dabei komme dem als wild konnotierten Moment des Hässlichen in der Mode durchaus eine positive Funktion zu, wie Annette Geiger betont, weil es vom Diktat einer biologistisch fundierten Schönheitsnorm befreie. Die beiden letzten Beiträge in unserem Sammelband thematisieren den animalischen Aspekt des Wilden. Mit dem Monster nimmt Florian Kornrumpf das Mischwesen aus Mensch und Tier in den Blick, das seit der Antike zu den zentralen Angstfantasien gehört, die mit dem Bereich des Wilden in Verbindung gebracht werden. Welche Erkenntnisse der Psychologie für die mediale Gestaltung von Monstern im Sinne des Creature Design genutzt und fruchtbar gemacht werden können, damit die gewünschte affektive Wirkung beim Publikum erzielt wird, ist eine der zentralen Fragen, denen Florian Korn-
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rumpf in seinem Aufsatz nachgeht. Jessica Ullrich fragt hingegen nach der Faszination, die wilde Tiere auf zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler ausüben. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass dabei letztlich immer noch die Konnotationen des Rebellischen und Ursprünglichen eine Rolle spielen, die auch schon von Avantgardekünstler/innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Ausdruck kreativer Freiheit in Anspruch genommen worden sind. Fast alle Aufsätze in diesem Buch basieren auf Vorträgen, die im Rahmen der von uns organisierten Tagung Wilde Dinge in Kunst und Design im Herbst 2015 stattfanden. Die Tagung war Teil der Design- und Kulturtage in Trier und wurde großzügig von der Hochschule Trier und dem Fachbereich Gestaltung finanziert. An dieser Stelle möchten wir uns auch für die Unterstützung bei der Finanzierung der Drucklegung dieses Buches beim Dekanat des Fachbereichs Gestaltung und den Fachrichtungen Kommunikations- und Modedesign bedanken. Unser Dank gilt ebenfalls den Studierenden des Fachbereichs Gestaltung, die mit ihrem Interesse und ihren kritischen Nachfragen zum inhaltlichen Feinschliff der Aufsätze beigetragen haben. Insbesondere möchten wir uns bei Florian Kornrumpf bedanken, der als »frisch gebackener« Masterabsolvent Redner auf unserer Tagung war und einen Beitrag zu diesem Buch geliefert hat. Unser Dank gilt Sonja Gärtner, die als Masterstudentin im Fach Kommunikationsdesign das Layout dieses Buches gestaltet hat und immer wieder mit den Grenzen des Möglichen kämpfen musste, die durch den engen Kostenrahmen gesetzt waren. Bedanken möchten wir uns auch bei Daniela Schurig (BA-Kommunikationsdesign) für die Gestaltung der Grafik, die den visuellen Einstieg für unsere Einleitung bildet und last but not least bei Evelyn Fischer Löhn (MA-Modedesign) für die Überlassung der Fotografie aus ihrer Fotoserie Exotica (2015), die dem Cover des Buches zugrunde liegt.
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Abb. 1: Louis-Léopold Boilly, The Geography Lesson (Portrait of Monsieur Gaudry and His Daughter), 1812
Das Interieur als Bühne | Astrid Silvia Schönhagen
Das Interieur als Bühne Dufours tapeziertes Südsee-Arkadien und die Verinnerlichung naturalisierter »Geschlechtscharaktere« im Wohnen Astrid Silvia Schönhagen »Euch ist, so wie ein Garten eine verkleinerte Landschaft ist, eure Stube eine verkleinerte Welt.« (Jean Paul, Titan, 1802) Im Jahr 1812 präsentierte Louis-Léopold Boilly (1761–1845), der vor allem für seine Genreszenen der französischen Hauptstadt bekannt ist, im Pariser Salon ein Gemälde mit dem Titel La leçon de géographie. Dieses zeigt »M. Gaudry«, einen Zahlmeister Napoleons, in Hausmantel und Pantoffeln an einem Tisch sitzend, wie er seiner jugendlichen Tochter Geografieunterricht erteilt (Abb. 1). Die vor ihnen ausgebreiteten Bücher, Karten und der Globus mit der Darstellung Europas und Afrikas legen die Vermutung nahe, dass er ihr die territoriale Ausdehnung beziehungsweise die politischen Großmachtambitionen des Napoleonischen Kaiserreichs erörtert. Hierauf verweist insbesondere jener präsent ins Bild gesetzte Ausschnitt einer Karte, von der nur die Kartusche mit der Inskription »Cai[ro]« sowie Darstellungen einer Sphinx und eines Obelisken sichtbar sind – deutliche Referenzen auf Napoleons Ägyptenfeldzug (1798–1801), der militärisch zwar scheiterte, im Nachhinein medial jedoch zu einem »Siegeszug« der wissenschaftlichen Erforschung Ägyptens umgedeutet wurde. Boilly variiert damit das in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts beliebte Sujet des »Geografen oder Gelehrten in seinem Studierzimmer«, indem er anstelle des Geografen den innig seiner Tochter zugewandten Vater in der Rolle des (Haus-)Lehrers porträtiert (Siegfried 1995: 115). Er geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er das Interieur als Ausdruck imperialer, durch den Vater vermittelter Bild-Rhetorik inszeniert. Wohnen wird also als Ort nationaler Wissensvermittlung imaginiert.
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Zu Geografiestunden anderer Art, glaubt man zumindest den Werbebroschüren der Hersteller, luden tapezierte Bildtapetenräume, vor allem solche mit Darstellungen exotisch-figürlicher Szenerien, ein. Eine der frühesten Bildoder Panoramatapeten einer französischen Manufaktur, Les Sauvages de la mer Pacifique (1805), wurde etwa wie folgt beworben: »Nous avons pensé qu’on nous saurait gré d’avoir rassemblé, d’une manière commode et apparente, cette multitude de peuples que l’immensité des mers tient séparés de nous, de manière que sans sortir de son appartement, et portant la vue autour de lui, un homme studieux, en lisant l’histoire générale des voyages ou les relations des voyageurs qui en ont fourni la matière, se croira en présence des personnages, comparera le texte avec la peinture, s’attachera aux différences des formes, à celles des costumes […]. Une mère de famille donnera […] des leçons d’histoire et de géographie à une petite fille, vive, spirituelle et questionneuse […].« (Dufour 1804/05: 11f.) Der Werbetext der Manufaktur Dufour lädt alle Wissbegierigen (»l’homme studieux«) ein, sich qua Imagination sowie durch vergleichendes Lesen und Betrachten von Reisedruckwerken auf eine Zimmerreise durch exotische Gefilde in den eigenen vier Wänden (»sans sortir de son apparte ment«) zu begeben. Auf diese Weise sollen Kenntnisse über fremde Erdteile und deren Bewohnerinnen und Bewohner, in diesem Fall der Südsee¹, vermittelt werden. Anders als in Boillys Geografiestunde wird dabei jedoch nicht dem Vater, sondern der Hausherrin und Mutter die Rolle der Wissens vermittlerin zugewiesen. Dufours Werbetext ist damit, zumindest auf den ersten Blick, bereits Ausdruck einer sich im frühen 19. Jahrhundert zunehmend gesellschaftlich verfestigenden, vor allem in der Erziehungsliteratur propagierten bürgerlichen Haltung, wonach die (häusliche) Erziehung des Nachwuchses ausschließlich Frauensache sei (Gestrich 2005: 128f.). Doch welche Bilder und Vorstellungen werden in einem mit der Bildtapete Les Sauvages de la mer Pacifique (kurz: Sauvages) tapezierten Raum konkret im Wohnen vermittelt? Welche ethnischen und geschlechtlichen Stereotype der Südsee-Bewohnerinnen und -Bewohner, die dem Sprachduktus der Epoche gemäß als »Wilde« bezeichnet werden, spiegeln sich hierin? Wie lassen sich diese in Bezug setzen zu Fragen nach der geschlechtlichen Kodierung des Interieurs um 1800? Diesen und ähnlichen Aspekten soll sich
1 | Der Begriff »Südsee« wird im Folgenden
1760er Jahren die Rezeption des Südpazifiks
als Synonym für die Vielzahl exotisierender,
und seiner Bewohnerinnen und Bewohner
europäischer (sowohl textueller als auch bild-
bestimmen.
licher) Imaginationen verwendet, die seit den
Das Interieur als Bühne | Astrid Silvia Schönhagen
im Folgenden anhand eines der wenigen in situ erhaltenen Raumensembles, des Tapetensaals auf Burg Kommern im Kreis Euskirchen, genähert werden.² Dabei wird es – insbesondere in Auseinandersetzung mit der bisher zu den Sauvages publizierten Literatur – um eine Neubewertung dieses exotisierenden Wanddekors im Kontext einer diskurstheoretisch orientierten, geschlechterkritischen Kulturgeschichte des Wohnens gehen. Zunächst seien jedoch einige Bemerkungen zur Erforschung des Südpazifiks sowie der damit einhergehenden europäischen Südsee-Begeisterung in der Epoche der Spätaufklärung gestattet.
Die Südsee-Begeisterung um 1800 und ihr Widerhall in den Angewandten Künsten Mit demselben Eifer, mit dem Napoleon die in Boillys Geografiestunde angedeutete wissenschaftliche Erforschung Ägyptens nach seinem gescheiterten Afrikafeldzug vorantrieb, erforschten Vertreter der späteren Kolonialmacht Frankreich – im steten Wettstreit mit Großbritannien – auch den Südpazifik. Ein wichtiger Protagonist war der französische Seefahrer Louis Antoine de Bougainville (1729–1811), der 1768 als einer der ersten Europäer auf Tahiti landete, das erst kurz zuvor von dem Briten Samuel Wallis (1728–95) während einer Weltumsegelung »entdeckt« worden war. De Bougainville war es allerdings, der diesem Eiland – in Anlehnung an die griechische Insel Kythera, auf der die Liebesgöttin Aphrodite geboren sein soll – den Namen Île de la Nouvelle Cythère gab und damit den bis heute wirkmächtigen Mythos Tahitis als Liebesinsel, als locus amoenus, begründete. Einen ebenso nachhaltigen Einfluss auf die europäische Südsee-Imagination hatten die reich illustrierten Reiseberichte des Engländers James Cook (1728–79), dessen insgesamt drei Forschungsreisen im Südpazifik (1768–71, 1772–75 und 1776–79) von einem ansehnlichen Tross von Botanikern, Zoologen, Geografen und naturkundlichen Zeichnern nicht nur begleitet, sondern auch dokumentiert wurden. In der Folge überschwemmte eine wahre Flut literarischer Bearbeitungen und visueller Bildfindungen zur Südsee-Thematik
2 | Neben Kommern sind bisher nur fünf an
(Frankreich); Privatanwesen, Authon,
Originalorten erhaltene Bildtapeten bekannt:
Loir-et-Cher (Frankreich); L. M. Engströms
Privatanwesen, Dinant, Namur (Belgien);
Gymnasium, Göteborg (Schweden); Oak Lawn,
Château de Champlitte (heute: Musée d’Arts
Huntersville, Mecklenburg County, North
et Traditions Populaires), Haute-Saône
Carolina (USA) (Hall 2000: 44–47).
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den europäischen Markt, die auch im Bereich der Angewandten Künste – in Form von Einrichtungsobjekten, Spielzeugen, Theaterstücken und -kostümen oder ephemeren »otahitischen« Hütten und Badehäusern im Landschaftsgarten – ihren Widerhall fand (Smith 1988: 114–119; Werner 1992). Die Cook’schen Reisekompendien waren also wichtige Quellen und Multiplikatoren der europäischen Südsee-Begeisterung. Nicht selten dienten sie sogar als Anreiz für weitere Forschungsreisen: Vom französischen König Ludwig XVI. ist beispielsweise überliefert, dass er eine Prachtausgabe von Cooks A Voyage to the Pacific Ocean (1784) besaß. Diese nutze nicht nur sein Sohn, der Dauphin, als Unterrichtsmaterial, sondern sie inspirierte den Monarchen offenbar auch dazu, Jean-François de Galaup de La Pérouse (1741–88) im Jahr 1785 auf eine erste französische Südsee-Expedition zu schicken (Mamiya 2007: 103); weitere sollten bis zur Jahrhundertwende folgen. Die von Jean-Gabriel Charvet (1750–1827) für Dufour entworfene und 1805 erstmals auf den Markt gebrachte Bildtapete der Sauvages ist somit Symptom und visueller Ausdruck der Südsee-Begeisterung um 1800. Gleichzeitig ist sie aber auch das Resultat eines allgemeinen »Wissenshungers« beziehungsweise imperialen Forschungsdrangs, der ganz Europa im Zuge der wissenschaftlichen Erforschung dieser Weltgegend seit den 1770er Jahren erfasste und der auch vor der Konsumption des Exotischen im Interieur nicht haltmachte. Marie-Louise Pratt hat in diesem Zusammenhang den Begriff des »Zweiten Entdeckungszeitalters« als einer Epoche der wissenschaftlichen Erforschung, Vermessung und Systematisierung außereuropäischer Welten durch europäische Forschungsreisende in Schrift und Bild geprägt. Diese sei, so ihre Argumentation, vielfach der territorialen Inbesitznahme und ökonomischen Ausbeutung der erforschten Länder und Kontinente durch die späteren Kolonialmächte vorausgegangen (Pratt 1992: 111– 132).³ Ob und inwiefern daran auch das Interieur als Ort der Wissensvermittlung und familialen (Wert-)Erziehung, wie es Dufour in seiner Werbebroschüre zu den Sauvages entworfen hat, teilgehabt haben könnte, ist eine weitere spannende Frage, der im Folgenden anhand des Tapetenensembles auf Burg Kommern nachzugehen sein wird.
3 | Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sollte
Archipel, die Marquesas und die Gambier
Frankreich im südlichen Pazifik die Gesell-
inseln kontrollieren.
schafts- und Australinseln, das Tuamotu-
Das Interieur als Bühne | Astrid Silvia Schönhagen
Zur Verhäuslichung von Sitten und Gebräuchen der Südsee in den Tapetenwelten auf Burg Kommern Die Anbringung der Sauvages auf Burg Kommern, dem einstigen Sitz der bürgerlichen Familie der Abels, ist ein äußerst rares Beispiel für die Wirkmächtigkeit des Südsee-Diskurses im Medium der Raumkunst im deutschsprachigen Raum. Auch wenn die Fürstentümer und Kleinstaaten auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands nicht aktiv wie England oder Frankreich an der wissenschaftlichen Erforschung des Pazifiks beteiligt waren, so partizipierten ihre Untertanen – vermittelt über die Mode und die Kunst – doch an der allgemeinen Südsee-Begeisterung der Epoche, wie dieser Raumdekor belegt.⁴ Aller Wahrscheinlichkeit nach erwarb Franz Alexander Abels (1752–1814), der ehemalige Amtmann der arenbergischen Herzöge in Kommern, die handgedruckte Bildtapete 1807 in Paris. In diesem Jahr weilte er in der französischen Hauptstadt, um die Burg seiner einstigen Landesherren von der Napoleonischen Regierung, deren Herrschaftsgebiet sich damals auch auf den Kreis Euskirchen erstreckte, zu kaufen. Zeitgleich sicherte er sich das Recht, den Bleierzbergbau und -handel der Herzöge fortzusetzen, wodurch die Abels von Verwaltungsbeamten (mit Gerichtsbarkeit) zu wohlhabenden Bergwerksbesitzern wurden (Herzog 1989: 337–342). Im Zuge der sich unmittelbar anschließenden Umbauarbeiten der Burg in ein repräsentatives Wohn- und Verwaltungsgebäude wurde die Tapete um 1810 in der ersten Etage im sogenannten »großen Saal« (7,68 Meter Länge x 5,5 Meter Breite) angebracht.⁵ Sie bildet damit das ästhetische Gegenstück zu der mit barocken Holztäfelungen ausgestatteten Amtsstube, von der sie nur durch ein schmales Durchgangszimmer getrennt ist. Der besondere Reiz des tapezierten Zimmers liegt in seiner Verknüpfung einer als naturbelassen imaginierten, arkadischen Landschaft mit einer Fülle von Darstellungen exotisierter Ethnien und Völker. Von schmalen Eierstab-Bordüren gerahmte Wandfelder unterschiedlicher Größe geben den Blick frei auf figurenreiche Szenerien, welche die Bewohnerinnen und Bewohner des Südpazifiks beim Verrichten »charakteristischer«, zumeist
4 | Verwiesen sei hier auf die um 1800 schier
Otaheitische Kabinett im Schloss auf der
unübersichtliche Fülle deutschsprachiger
Pfaueninsel (Werner 1992).
Belletristik mit Südsee-Bezug (Küchler
5 | In Kommern fanden alle 20 Bahnen dieser
Williams 2004: 165–213) oder die Beliebtheit
im Handdruckverfahren, mit einer Auflage von
»otahitischer« Hütten und Kabinette im Ein-
vermutlich 100–150 Exemplaren gefertigten
flussbereich Preußens, darunter das
Bildtapete Verwendung.
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Wilde Dinge in Kunst und Design | Aspekte der Alterität
aus der Reiseliteratur bekannter Tätigkeiten zeigen. Ergänzt wird die ses Arrangement durch Supraporten unbekannter Prove nienz, die zerklüftete europäische Küstenlandschaften (mit Anglern und Burgruinen) im Stil Claude Joseph Vernets (1714–89) zeigen und damit motivische Kontrapunkte zu den exotischen Szenerien in den Hauptfeldern setzen. Den Auftakt des ikonografischen Programms bildet die dem Abb. 2: Blick in den Bildtapetensaal auf Burg Kommern, 2015 Eingangsbereich gegenüberlie gende Ostwand, die durch den Kamin in zwei Raumkompartimente geteilt wird (Abb. 2). Im rechten sind Indigene unterschiedlicher Hautfarben beim Fischen und Früchtesammeln dargestellt; Gewänder und Kostüme der Abgebildeten sowie die Figuren konstellationen sind (ebenso wie fast alle zentralen Szenerien der folgenden Tableaus auch) direkte Übernahmen von Druckgrafiken aus Jacques Grasset de Saint-Sauveurs mehrbändiger Encyclopédie des voyages […] (1795–96), einem Kompendium unterschiedlicher Reiseberichte, das auch Schilderungen der Expeditionen von Cook und La Pérouse enthält.⁶ Das linke Raumkompartiment hingegen zeigt eine Szene, die als Exotisierung des Bildtypus der »Toilette der Venus« bezeichnet werden könnte (Abb. 3): Ins Bild gesetzt sind zwei dunkelhäutige Frauen im Gespräch mit einem Mann, von denen die mittlere (anstelle des Spiegels der Liebesgöttin) eine Art Federfächer in der Hand hält. Lässt man den Blick entgegen des Uhrzeigersinns weiter durch den Raum wandern, wird die Aufmerksamkeit auf die Darstellung eines Boxkampfes gelenkt, der bereits den visuellen Einstieg in das wandfüllende Prospekt an der Längswand bildet. Anhand der Dufour’schen Werbebroschüre kann diese Szene, die in ihrer Ästhetik an griechische Faustkämpfe erinnert, als Verweis auf die in zeitgenössischen Reiseberichten vielfach beschriebenen Schaukämpfe der Tonga (um 1800 auch bekannt
6 | Eine illustrierte Ausgabe von Saint-Sau-
7 | Auf solche Boxkämpfe wird in The Journals
veurs Encyclopédie des voyages […] (1795–96)
of Captain James Cook on his Voyages of Dis
ist online zugänglich unter http://gallica.
covery, Bd. III: The Voyage of the Resolution
bnf.fr.
and Discovery, 1776–80 verwiesen (hierzu Guest 2007: 108).
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als Bewohner der »Freundschaftsinseln«) gedeutet werden.⁷ Die zahlreichen, im Halbkreis um die Kämpfenden versammelten Zuschauerinnen und Zuschauer verleihen dem (an sich gewaltsamen) Moment des Wettstreits dabei das Flair eines gesellschaftlichen Events mit idyllisch-pastoralem Ambiente. Noch deutlicher tritt der Charakter des Idyllischen in den sich weiter links anschließenden Schilderungen zutage: Zu sehen sind etwa ein spazierendes Schäferpaar mit Ziege sowie ein Mann und eine Frau beim BananenPflücken. Während Ersteres ein klassisches, der Hirtenidylle entlehntes Sujet ist, wie man es bereits in barocken Landschaftszimmern mit Fêtes champêtres-Darstellungen findet, gehen Letztere indirekt auf eine Formulierung in Sydney Parkinsons Journal of a Voyage to the South Seas […] (1773) zurück. Um auf den vegetabilen Reichtum der Südsee und die vermeintlich daraus resultierende Sorglosigkeit Abb. 3: Manufaktur Dufour, Jean-Gabriel ihrer Bewohnerinnen und Bewohner zu verCharvet (del.), Toilette der Venus (Detail der Sauvages de la mer Pacifique), weisen, hatte der Begleiter von Cooks erster um 1805 Forschungsreise die Metapher vom Schlaraf fenland geprägt, wo einem die Früchte förmlich in den Mund fallen und Brot (in Form der Brotfrucht) auf Bäumen wächst.⁸ Die Vorstellung vom sorglosen Leben der Südsee-Insulanerinnen und -Insulaner, die sich unentwegt dem Müßiggang hingeben können, wird auch gestützt durch die Tanzszene – das letzte Tableau des wandfüllenden Prospekts (Abb. 4). Drei, in durchscheinende Empiregewänder gekleidete Tänzerinnen rekurrieren hier auf den Topos der hellhäutigen verführerischen polynesischen Schönheit, die bis heute zu den am häufigsten zitierten und ins Bild gesetzten Sujets europäischer Südsee-Imagination gehört. Wirkungsvoll in Szene gesetzt werden sie durch eine Schar von Musizierenden sowie Zuschauerinnen und Zuschauern, die sich halbkreisförmig in der Nähe der Tanzenden versammelt haben. Besonders hinzuweisen ist auf den Mann mit dem gewaltigen, federnen Kopfschmuck, der (ebenso wie die
8 | Parkinson schreibt zum Beispiel im Zusam-
which drops, as it were, into their mouths […]«
menhang mit Tahiti: »[The island] abounds with
(zit. n. Küchler Williams 2004: 86).
cocoa, breadfruit, and appletress; the fruit of
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neben ihm stehende Frau) ein direktes Bildzitat aus Saint-Sauveurs Encyclopédie des voyages, genauer des Roi de Taïti, ist. Aufgrund dessen kann die gesamte Szenerie zweifelsfrei Tahiti, um 1800 auch bekannt als eine der »Gesellschaftsinseln«, zugeordnet werden. Den Abschluss des ikonografischen Raumprogramms bildet ein Tableau an der Westwand, das metaphorisch gesprochen etwas »aus dem Rahmen fällt«. Links neben der Eingangstür angebracht, zeigt es Indigene beim Trocknen von Fischen auf hölzernen Stockgestellen. Im Gegensatz zu allen bisher beschriebenen Völkern und Ethnien, die durchweg in antikisie render Gewandung dargestellt sind, tragen diese Männer und Frauen gestreifte Ponchos, Röcke und Bommelmützen. Insbesondere Abb. 4: Manufaktur Dufour, Jean-Gabriel Letztere haben einen realen Bezug Charvet (del.), Tahitianischer Tanz (Detail der im sogenannten »Formlinien-Stil« Sauvages de la mer Pacifique), um 1805 der Nootka, der Ureinwohnerinnen und Ureinwohner Vancouver Islands an der heutigen Nordwestküste Kanadas (Feest 2009: 109).⁹ Die Nootka sind damit die einzige auf den Sauvages repräsentierte Ethnie, die nicht im Südpazifik beheimatet war/ist. Dennoch lagen auch sie, was eine wenig bekannte Tatsache ist, 1778 auf Cooks Reiseroute während seiner letzten Forschungsexpedition. Im Tapetensaal auf Burg Kommern entfaltet sich, eingebettet in eine üppige Vegetation, also ein Panorama der geografisch teils weit voneinander entfernten Ethnien und Völker im Pazifik, die räumlich zu einem gemeinsamen Inselarkadien zusammengefasst werden.¹⁰ Die Frage, ob es sich hierbei um
9 | Kopfbedeckungen im »Formlinien-Stil«
zwei- und dreibindiger Zwirnbindung oder aus
sind konisch geformte, breitkrempige gefloch-
der wechselweisen Bemalung mit roter und
tene (Regen-)Hüte, deren parallel verlaufende
schwarzer Farbe ergibt.
Streifenmusterung sich aus dem Wechsel
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»korrekte« oder »verfälschte« ethnografische Darstellungen handelt (wie dies zuletzt Astrid Arnold und Céline Borello untersucht haben), ist dabei für die weitere Argumentation sekundär (Arnold 2014: 112–118, Borello 2010: 165–169). Letztlich sind alle Bildfindungen stereotype Repräsentationen, die auf europäische Reisedruckgrafiken oder -berichte zurückgehen, in denen sich Beobachtungen von Forschungsreisenden und Bildtopoi des Fremden/Exotischen sowie des Imaginären durchdringen. Produktiver hinsichtlich einer diskursgeschichtlichen Interpretation der Tapete ist vielmehr die Frage, welche ethnisch und geschlechtlich kodierten Rollenbilder mittels der ins Interieur gebrachten Sitten und Gebräuche hier im bürgerlichen Wohnen repräsentiert beziehungsweise »verhäuslicht« werden.
Hautfarbenexotismus im Gewand der Antike Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang die Antikisierung der auf der Bildtapete Dargestellten. Diese ist nicht nur in den druckgrafischen Vorlagen aus Saint-Sauveurs Encyclopédie des voyages bereits angelegt, sondern sie ist auch ein wichtiges Charakteristikum französisch- und englischsprachiger Reiseliteratur, insbesondere bei Louis Antoine de Bougain ville (1729–1811) und Georg Forster (1754–94) (Küchler Williams 2004: 95–100).¹¹ Damit wird das zeitgenössische, um 1800 vorherrschende klassizistische Schönheits- und Körperideal auf die Repräsentation indigener Völker in der Südsee übertragen. Während die Antikisierung in anderen eurozentristischen Diskursen über das Exotische allerdings ein universalistisches, wenig nuanciertes (Stil-)Mittel der »Veredelung« außereuropäischer Ethnien (wie der Native Americans in den USA oder der Inkas) ist, dient sie hier der Veranschaulichung kultureller Unterschiede. Das heißt, unterschiedliche Grade der Antikisierung korrelieren mit der Zuschreibung kultureller und gesellschaftlicher Differenzen zwischen Völkern und Ethnien (Guest 2007: 49–67, 91–123). So schreibt etwa James King in seinen Journals of Captain James Cook on his Voyages of Discovery (1776–80): »[...] if we want’d a Model for an Apollo or a Bachus we must look for it in Otaheite, & shall find it to
10 | Für eine detaillierte Auflistung aller auf
Bernard Smith herausgearbeitet hat, in den
der Bildtapete dargestellten Ethnien und
1770er Jahren mit der Veröffentlichung der
Kulturen siehe Hall 2000: 41.
Cook’schen Reiseberichte, in denen sich eine
11 | In der visuellen Bildproduktion über
Vielzahl textueller und visueller Bezüge zur
die Südsee setzt die Antikisierung, wie
Antike finden, ein (Smith 1992: 213–224).
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perfection, but if for a Hercules or an Ajax at the friendly Isles« (zit.n. Guest 2007: 103). Die Bewohner der sogenannten »Freundschaftsinseln« werden also als mannhaft und herkulisch imaginiert, während die Bewohner der »Gesellschaftsinseln« als gesellig/weinseelig, den Musen und den Künsten zugeneigt und damit – im Vergleich mit Ersteren – als »verweichlicht«, aber auch »vergesellschafteter« vorgestellt werden. Auf den Sauvages wird auf solche ethnisch-kulturellen Differenzierungen durch unterschiedliche Grade der Antikisierung oder Typen von Gewandung, gekoppelt an ein chromatisches Spiel der Hautfarben, Bezug genommen. So tragen etwa die dunkelhäutigen, von der »Toilette der Venus« bereits bekannten Repräsentantinnen der Marquesasinseln (im heutigen Französisch-Poly nesien) als einzigen Körperschmuck schlichte, federbesetzte Tuniken und Mützen. Im Vergleich mit dem hellhäutigen Paar neben ihnen, das knielange, gemusterte Tuniken mit farblich abgesetzten Überwürfen trägt, die an den römischen Feldherrenmantel (das Paludamentum) erinnern, wirken sie so »wilder« oder weniger »zivilisiert«. Dennoch korreliert Dunkelhäutigkeit oder eine »dunklere« Hautfarbe auf den Sauvages nicht zwangsläufig mit einem geringeren Grad an Antikisierung oder »Zivilisiertheit«. Dies zeigt sich besonders deutlich in dem bisher noch nicht betrachteten Tableau an der Längswand, das im Hintergrund en miniature den (in der Epoche vielfach ins Bild gesetzten) gewaltsamen Tod Cooks auf Hawaii im Jahr 1779 zeigt (Abb. 5). Hier wird im gescheiterten Eindringen der Europäer ins Inselparadies nicht nur ein für Darstellungen Arkadiens typisches Vanitasmotiv ins Bild gesetzt, sondern es werden auch konkret kulturelle Unterschiede zwischen einzelnen Südsee-Völkern im Sinne von »Ethnocharakteren« versinnbildlicht. Die in der Reiseliteratur als kriegerisch und den Europäern wenig freundlich gesonnenen ni-Vanuatu, zur Zeit Cooks auch bekannt als Bewohnerinnen und Bewohner der Neuen Hebriden, tragen beispielsweise als einzige Kleidung federne Röcke und Beinkleider; einer der Männer ist sogar im klassischen Kontrapost als eine Art »Südsee-Herkules« mit Keule dargestellt. Entsprechend eindrucksvoll ist der Kontrast zu dem neben ihm sitzenden »König von Tahiti« aus dem Tanz-Tableau, dessen minimal gebräuntes, fast weißes Inkarnat sich nur geringfügig von dem des »Südsee-Herkules« unterscheidet. Der imposante Kopfschmuck wie auch die an römische Senatoren erinnernde lange Gewandung, die ihn aus der Gruppe der übrigen Tahitianerinnen und Tahitianer hervorheben, sind dabei visuelle Indizien einer kulturell »anderen«, vermeintlich gesellschaftlich stärker differenzierten Gemeinschaft als der auf den Neuen Hebriden. Kleidung kann hier also als Verweis auf eine hierarisch strukturierte Gesellschaftsordnung gelesen werden, wie sie im Hinblick auf die »Gesellschaftsinseln« durchgehend in den Reiseberichten konstatiert wird. De facto hatte diese, wie Christin M. Mamiya dargelegt hat, jedoch nur wenig mit der polynesischen Realität des späten 18. Jahrhunderts gemein (Mamiya 2007: 112).
Das Interieur als Bühne | Astrid Silvia Schönhagen
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Die Tanz-Szene ist allerdings noch aus einem weiteren Grund von Interesse. Hier werden nämlich nicht nur Zuschauerinnen und Zuschauer sowie Musizierende mit heller Hautfarbe abgebildet, sondern auch solche mit extrem dunklem Inkarnat (darunter eine Familie mit Kind), womit einerseits auf die Bildformel der Ur- oder Kernfamilie, andererseits auf diejenige des/ der »Schwarzen« beziehungsweise der »Oceanic Negros« (Douglas 2008: 109) abgehoben wird. Céline Abb. 5: Manufaktur Dufour, Jean-Gabriel Charvet Borello sieht in dieser friedlichen (del.), Bewohnerinnen und Bewohner der Neuen Koexistenz von Menschen unter Hebriden (ni-Vanuatu) sowie Hawaiis (Detail der schiedlicher Hautfarben eine Schil Sauvages de la mer Pacifique), um 1805 derung de Bougainvilles versinn bildlicht, wonach auf Tahiti »deux races d’hommes très differents« leben (Borello 2010: 170).¹² Die Bildtapete visualisiere folglich die im 18. Jahrhundert durch die vorherrschende Klimatheorie unerklärliche Tatsache, dass im Südpazifik in einer Klimazone unterschiedliche Hautfarben anzutreffen seien. Entsprechend seien die Sauvages eine Vorwegnahme der heute noch gültigen Einteilung Ozeaniens in Melanesien und Polynesien, wie sie erstmals 1832 von dem französischen Wissenschaftler Jules-Sébastian-César Dumont d’Urville (1790–1842) in den Diskurs eingebracht wurde (ebd.). Borello übersieht jedoch, dass die unterschiedlichen Hautfarben im Südpazifik schon in der Spätaufklärung ein vieldiskutiertes Thema in der euro päischen Wissenschaftslandschaft waren, ihre Erforschung sogar einen erheblichen Einfluss auf die Herausbildung der »Rassentheorien« des 19. Jahrhunderts hatte.
12 | In de Bougainvilles Voyage autour du
d’hommes mieux faits ni mieux proportionnés
monde, par la frégate du Roi La Boudeuse et la
[…]. Rien ne distingue leurs traits de ceux des
flûte L’Etoile (1772) ist zu lesen: »Le peuple de
Européens; et s’ils étaient vêtus, s’ils vivaient
Tahiti est composé de deux races d’hommes
moins à l’air et au grand soleil, ils seraient
très différents, qui cependant ont la même
aussi blancs que nous. […] La seconde race
langue, les mêmes mœurs et qui paraissent se
est d’une taille médiocre, a les cheveux
mêler ensemble sans distinction. La première,
crépus et durs comme un crin; sa couleur et
et la plus nombreuse, produit des hommes
ses traits différent peu de ceux des mulâtres.«
de grande taille […]. Je n’ai jamais rencontré
(zit.n. Borello 2010: 170)
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Die ersten, die sich um eine systematische Klassifizierung der Hautfarben bemühten, waren die Engländer Johann Reinhold Forster (1729–98) und sein Sohn Georg (1754–94), die Cook auf seiner zweiten Forschungsreise begleiteten. Im Rekurs auf den Buffon’schen »Varietäten«-Begriff unterschieden sie »two great varieties of people«, eine helle und eine dunklere, die sich – obwohl sie in derselben Klimazone lebten – grundsätzlich in Sprache und Sitten unterschieden (Douglas 2008: 102–106). Französische Wissenschaftler wie François Péron (1775–1810), Conrad Malte-Brun (1775–1826) oder Edme Mentell (1730–1815) versuchten hingegen, die Bewohnerinnen und Bewohner des Pazifiks stärker nach taxonomischen, weniger nach kulturellen Gesichtspunkten wie die Forsters verschiedenen »Rassen« (manchmal zwei, manchmal drei) zuzuordnen und mannigfaltige Thesen zur Besiedelung der Inselwelten durch diese aufzustellen (ebd., 115f.). Die Forschungsergebnisse und Kategorisierungsversuche der Südsee-Reisenden hatten also einen wichtigen Anteil daran, die jahrhundertealte biblische Vorstellung eines gemeinsamen Ursprungs der Menschheit (versinnbildlicht in der Figur des »Edlen Wilden«) durch das Konzept der Polygenese, der Abstammung von verschiedenen »Rassen«, zu ersetzen. Dies erklärt auch, warum in Reiseberichten der Epochenwende taxonomisches Gedankengut, rassistische Zuschreibungen (insbesondere im Hinblick auf Dunkelhäutige) und die Antikisierung der Südsee-Bewohnerinnen und -Bewohner koexistierten. Ungeachtet dessen sind die Sauvages in ihrem Polychromatismus der Hautfarben noch eindeutig dem idealisierenden, allerdings nicht weniger eurozentristischen Bildtypus des »veredelten Wilden«¹³ im Gewand der Antike verhaftet, wie ihn Joseph-François Lafitau (1681–1746) als Trope des Kulturvergleichs knapp ein Jahrhundert zuvor in den europäischen Diskurs eingebracht hatte.
13 | Im Gegensatz zur literarischen Genre
hier in Anlehnung an Helke Kammerer-Grot
figur des »Edlen Wilden«, der im Sinne einer
haus bewusst der Begriff »veredelte Wilde«
Zivilisationskritik an der europäischen
verwendet, um den visuellen und textuellen
Gesellschaftsordnung vor allem die
Variantenreichtum der Antikisierung im Kon-
moralische Überlegenheit und die »edlen«
text der Südsee-Rezeption zu unterstreichen
Eigenschaften der Indigenen betont, wird
(Kammerer-Grothaus 1998/99).
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Vom Kulturvergleich zum Universalismus von »Geschlechtscharakteren« im Wohnen In seinen Mœurs des sauvages amériquains, comparées aux mœurs des premiers temps (1724) entwickelte Lafitau eine äußerst »fantasievolle Migrations- und Verwandtschaftstheorie der Völker [dieser Erde, A.S.S.]« (Bitterli 2004: 274). Durch Vergleiche von Sitten, Gebräuchen und religiösen Vorstellungen der »Amerikaner« und der »alten Griechen« suchte er seine These eines gemeinsamen Ursprungs der Menschheit zu belegen und gleichzeitig Wanderungsbewegungen zwischen den Kontinenten sowie die Verteilung von Hautfarben zu erklären. Für Lafitau war der Kulturvergleich also das adäquate Mittel einer universalistischen (Kultur-)Anthropologie, bei der fehlendes historisches Quellenmaterial (etwa zu den Wanderungsbewegungen zwischen den Erdteilen) durch allgemein-kulturgeschichtliche Mutmaßungen (conjectures) substituiert werden konnte. Während der Aufklärung sollte dieser Ansatz in Richtung einer stärker differenztheoretischen Anthropologie weiterentwickelt werden, um schließlich zur Grundlage der »modernen« vergleichenden Kulturanthropologie zu werden (Gisi 2007: 131–149). Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurden Kulturvergleiche aber auch verstärkt zur Analyse und anthropologischen Begründung europäischer Geschlechterbilder herangezogen. Die Fest- und Fortschreibung ethnischer und geschlechtlicher Alterität(en) waren folglich, wie etwa Londa Schiebinger dargelegt hat, auf der diskursiven Ebene eng miteinander verknüpft (Schiebinger 1993). Besondere Blüten trieb der differenztheoretische Kulturvergleich im heutigen Deutschland, wo Carl Friedrich Pockels (1757–1814) und Christoph Meiners (1747–1810) sogenannte »Kulturgeschichten« beiderlei Geschlechts verfassten und vermeintliche Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zwischen »zivilisierten« und »unzivilisierten« Gesellschaften anhand der umfangreichen, ihnen zur Verfügung stehenden Reiseliteratur herauszuarbeiten suchten (Yuge 2002). Auch auf den Sauvages werden aus Reiseberichten entlehnte Narrative und Bildtopoi genutzt, um geschlechtlich kodierte Rollenbilder zu repräsentieren und diese den Zuhausegebliebenen vergleichend, »en présence des personnages [exotiques, A.S.S.]« (um die eingangs bereits zitierten Zeilen aus Dufours Werbebroschüre erneut zu bemühen), im Wohnraum vor Augen zu stellen. Besonders hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Tatsache, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der Südsee zumeist paarweise, wie noch heute in Trachten- oder Kostümbüchern üblich, nach dem »Arche-
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Noah-Prinzip« abgebildet sind. Diese Präsentationsweise, bei der sich der Tapetenentwerfer Charvet direkt an den grafischen Vorlagen in Saint-Sauveurs Encyclopédie des voyages orientiert hat, korrespondiert mit der Darstellung heteronormativer Rollenbilder – ein Aspekt, der (mit Ausnahme Christin J. Mamiyas) in der bisherigen Forschung zu den Sauvages komplett ausgeblendet wurde (Mamiya 2007). Während die Männer als wehrhafte Krieger, virile Kämpfer oder Jäger und Fischer (also Abb. 6: Manufaktur Dufour, Jean-Gabriel Charvet (del.), Pastorale Szenerie (Detail der als Verteidiger und Ernährer) darSauvages de la mer Pacifique), um 1805 gestellt sind, werden die Frauen vor allem als Mütter und Begleiterinnen des Mannes sowie als das sinnlich-schöne Geschlecht imaginiert (Abb. 6). Besonders fallen die über den gesamten Dekor verstreuten Muttermit-Kind-Darstellungen ins Auge – ein in der kolonialen Bildsprache und vor allem in der Reiseliteratur seit jeher äußerst beliebtes Sujet, mit dem auf die »Urfamilie« verwiesen wird (Christadler 2005: 22–29). Mamiya sieht hierin Visualisierungen des bürgerlichen Konzepts der Klein- oder Kernfamilie verkörpert (Mamiya 2007: 112f.); nicht von ungefähr erinnern die Darstellungen an das Genre des »Familienidylls«, eine Porträtgattung, mit der sich vor allem bürgerliche Familien in der freien Natur inszenierten (Koschorke 2010: 16–28). Es werden also europäische Vorstellungen heterosexueller Geschlechterrollen sowie damit einhergehender idealisierter Paar- oder Familienbeziehungen unreflektiert im Sinne kolonialer Bildrhetorik auf die Bewohnerinnen und Bewohner des Pazifiks übertragen. Dass solche Analogiebildungen bereits im 18. Jahrhundert nicht ganz unproblematisch waren, belegen nicht nur Lee Wallaces Forschungen zur gesellschaftlich akzeptierten, männlichen Homosexualität unter den Indigenen auf Hawaii (Wallace 2003: 38–56), sondern auch die Tatsache, dass die auf der Bildtapete geschilderten Boxkämpfe der Tonga in der Realität auch von Frauen bestritten wurden (Guest 2007: 108). Die auf der Bildtapete Repräsentierten sind folglich exotische Spie-
14 | 1804, im Jahr des Relaunchs der
napoleonisch besetzten Gebieten im heutigen
Sauvages, wurden diese durch die Einfüh-
Deutschland sogar durch die Rechtsprechung
rung des Code Civil in Frankreich sowie den
bestätigt.
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gelbilder sogenannter (bürgerlicher) »Geschlechtscharaktere«, wie sie in ganz Europa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in medizinischen Traktaten, moralisierenden Schriften sowie der pädagogischen Hausväterliteratur »festgezurrt« wurden (Deinhardt/Frindte 2005: 253–263).¹⁴ Durch ihre Einbettung in die »unberührte« Natur sowie die Tatsache, dass sie von Menschen jeglicher couleur oder Hautfarbe verkörpert werden, werden sie als natürlich und unveränderlich sowie universalgültig imaginiert. Die Antikisierung der Indigenen beziehungsweise der Rekurs auf das zeitgenössische klassizistische Körperideal Europas erleichtert es dabei den Betrachterinnen und Betrachtern eines solchen Tapetenensembles, sich mit den vor Augen gestellten Rollenbildern beiderlei Geschlechts zu identifizieren. In diese Richtung argumentiert auch Mamiya, allerdings mit dem Unterschied, dass sie in ihrer explizit feministischen, den Hautfarbenexotismus leider komplett aussparenden Lesart der Sauvages hierin ausschließlich patriarchale europäische Gesellschaftstrukturen versinnbildlicht sieht, die letztlich der Bestätigung und Weitertradierung der Rolle der Frau als Gattin und Mutter sowie ihrer Zuordnung zum Bereich des Häuslichen dienen (Mamiya 2007: 110–112).¹⁵
Das Phantasma der sinnlich-erotischen Schönheit der Südsee-Insulanerin Ein Aspekt, den Mamiya in ihrer sehr anregenden Analyse ebenfalls vollständig ausblendet und der auch sonst nur von Borello sehr kursorisch angerissen wird, ist die Darstellung weiblicher Nacktheit und Erotik auf den Sauvages (Borello 2010: 172f.) sowie deren Koppelung an Wohn- und Geschlechterdiskurse um 1800. Dies ist umso erstaunlicher, da Erotik in der europäischen Reiseliteratur und Belletristik über die Südsee eine wichtige Rolle spielte, während sie in der bürgerlichen Gesellschaft der Epoche – insbesondere in Ehediskursen – zumindest offiziell nahezu komplett ausgeblendet wurde (Koschorke u.a. 2010: 105–116). Bis heute gilt die halbentblößte, leicht gebräunte, als »hellhäutig« imaginierte Tahitianerin, wie sie John Webber in seinem Porträt der Poedua (1777) festgehalten hat, als der Inbegriff einer (polynesischen) Südsee-Schönheit, die mit
15 | Mamiya macht diese patriarchale
Darstellung männlicher Häuptlinge wie der
Ordnung, die sich indirekt auch in den
des Roi de Taïti fest (Mamiya 2007: 111).
Familienstrukturen fortsetzt, vor allem an der
45
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erotischen Gesten und Tänzen den europäischen Reisenden zum Liebesakt und zu sinnlichen Freuden verführt. Schilderungen solcherart finden sich zuhauf bei Philibert Commerson, de Bougainville, John Hawkesworth, Kapitän Cook oder den beiden Forsters. Selbst in die Geschlechtergeschichten finden diese Topoi Eingang, wenn zum Beispiel Pockels in Der Mann. Ein anthropologisches Charaktergemählde seines Geschlechts (1805–08) schreibt: »Die weiblichen und unzüchtigen Tänze der Wildinnen [gemeint sind unter anderem die Tahitianerinnen, A.S.S.] zeigen […], daß sie […] Bedeckungen für nichts achten, und daß es ihnen einerley ist, – ob sie sich ganz entblößt zeigen oder nicht. So badeten sich die Schönen der Südsee=Inseln ohne alle Bekleidung vor den Augen der Engländer und schämten sich nicht, – sich in allen Stellungen von ihnen beschauen zu lassen.« (Pockels 1808: 43) Die beschriebene »Schamlosigkeit« und vermeintlich damit einhergehende sexuelle Freizügigkeit der Frauen werden dabei hier wie andernorts mit der Behauptung zu erklären versucht, die Bewohnerinnen und Bewohner Tahitis besäßen »von Natur aus« kein Schamgefühl (ebd., 42). Im Rekurs auf Jean-Jacques Rousseaus homme naturel ist es vor allem Denis Diderot, der in seinem Supplément au voyage de Bougainville (1796) die Vorstellung von dieser Insel als einem utopischen Ort befeuert, wo jede/r dort Lebende – befreit von jeglichen moralisch-normativen Zwängen – sich den »natürlichen Trieben« hingeben könne. Allerdings ist der Diskurs um die imaginierte Schamlosigkeit der Südsee-Insulaner, insbesondere der weiblichen, ein zweischneidiges Schwert: Einerseits dient sie als Negativfolie für die gesellschaftlich eingeforderte, anerzogene Keuschheit und Schamhaftigkeit der »ehrbaren«, »züchtigen« Europäerinnen zu Hause (Yuge 2002: 221). Anderer seits bedient sie erotische, teils ins Pornografische abgleitende männliche Verfügbarkeitsfantasien. Besonders auffallend ist in diesem Kontext die Koppelung solcher Diskurse an eine antikisierende Liebesmetaphorik, die letztlich auf de Bougainvilles Vergleich Tahitis mit Kythera, dem Geburtsort der Liebesgöttin Venus/Aphrodite, zurückgeht (Küchler Williams 2006: 312f.). Selbst in der Werbebroschüre zu den Sauvages wird auf diese Bezug genommen, wenn die Liebe(n)swürdigkeit der Frauen von »Otahiti« mit folgenden Worten gepriesen wird: »…[leur] aimables jeux rappèlent ceux de Paphos et de Cithère, au temps de la Grèce libre« (Dufour 1804/05: 22). Die dunklen Seiten des Kulturkontakts zwischen Europäern und Tahitiannerinnen – Vergewaltigung und Zwangsprostitution – werden auf diese Weise in den Diskursen um 1800 negiert und in den Bereich der Fantasie der freien Liebe verbannt (Jolly 2009: 99f.; Küchler Williams 2006: 315–318; Borello 2010: 172f.). Gleichzeitig werden die Tahitianerinnen zu rein sinnlich-erotischen, um nicht zu sagen sexualisierten Wesen reduziert.
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Auf den Sauvages wird auf solche »Kopfgeburten« in Form barbusiger, halbnackter Schönheiten rekurriert. Dabei wird die Imagination der schönen Polynesierin sogar auf den gesamten Pazifikraum ausgedehnt, indem auch dunkelhäutige Frauen am erotischen Spiel mit den Betrachtern teilhaben und nicht, wie etwa in den Reiseberichten Cooks, durch eurozentristische rassistische Zuschreibungen als »hässlich« oder »affenähnlich« verunglimpft werden (Jolly 1992: 331).¹⁶ Die sich hierin spiegelnde Diskrepanz zwischen literarischem Diskurs und visueller Darstellung zeigt sich insbesondere in der bereits erwähnten »Toilette der Venus«-Szene, in der im Rekurs auf den Bildtypus der »schönen Mulattin« auch dunkelhäutige Frauen als begehrenswerte Wesen imaginiert werden.¹⁷ Die Sauvages fügen sich damit ein in eine lange Reihe von Visualisierungen »neu«- beziehungsweise wiederentdeckter Länder und Kontinente, bei denen der weibliche Körper (gleich welcher Hautfarbe) zur Einfallsschneise für deren Eroberung und spätere koloniale Inbesitznahme durch die Europäer wurde. In diesem Sinne ist Mamiya zuzustimmen, wenn sie schreibt: »Dufor produced a spectacle that engaged French women [and men, A.S.S.] in colonial discourse [at home, A.S.S.]« (Mamiya 2007: 117).
»Neu-Kythera« und die Suche nach dem Liebesidyll in der (bürgerlichen) Ehe Bleibt letztlich die Frage, warum in einem mit den Sauvages tapezierten Interieur überhaupt Nacktheit in derart exzessiver Weise dargestellt werden konnte. Widerspricht dies nicht den Regeln des Anstands, der bienséance? Nimmt man den vielfach bemühten Vergleich Tahitis mit Kythera auch auf der bildlichen Ebene ernst, eröffnet sich allerdings eine andere, weitaus differenziertere Lesart, die die Sauvages stärker an europäische Diskurse um das Konzept der Liebe (in der Ehe) anschlussfähig macht. De Bougainvilles Charakterisierung Tahitis als Nouvelle Cythère ist nämlich eine deutliche Re-
16 | Cook bezeichnet die ni-Vanuatu, die
und zivilisatorischen Entwicklungsstufe und
dunkelhäutigen, im Westpazifik beheimateten
bedürften zur Weiterentwicklung daher wie
Bewohnerinnen und Bewohner der Neuen He-
Kinder der »ambitionierten Anleitung« durch
briden, als an »Apish nation«, »the most ugly
Andere (hierzu Guest 2007: 118).
and illproportioned people [he, A.S.S.] ever
17 | Zum Bildtypus der »schönen Mulattin« im
saw« (zit. n. Jolly 1992: 331). Sie befänden
europäischen Kolonialdiskurs siehe Ulz 2007.
sich außerdem auf einer niederen kulturellen
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ferenz an Antoine Watteaus Gemälde Embarquement pour Cythère (1718/19), in dem unterschiedliche Stadien des Liebeswerbens durch eine Schar von »Liebespilgern« visualisiert werden. Ähnlich werden auch auf der Bildtapete unterschiedliche Arten des Liebesreigens vor Augen gestellt, repräsentiert in drei paradigmatischen Szenen: der »Toilette der Venus«, einer Szene mit Panflöte sowie dem Tanz der Drei Grazien. Die erste Darstellung, die (in ihrer Dreieckskomposition sowie dem federnen Fächer der mittleren Frau) deutliche Anleihen an den Bildtypus der »Toilette der Venus« nimmt, steht in diesem Reigen für die weibliche Anziehungskraft und Schönheit (bellezza), wie sie Venus bei der Toilette verkörpert. Der von Tizian in die Malerei eingebrachte Bildtypus wird allerdings dahingehend modifiziert, dass an die Stelle Amors ein erwachsener adonisgleicher Pygmalion mit Meißel tritt (Abb. 3) – so als sei die in Stein gehauene Schönheit, in die sich der Bildhauer einst verliebte, in der Südsee bereits verlebendigt. Die zweite Szene schildert das »erotische Spiel der Geschlechter«, versinnbildlicht in der Panflöte oder Syrinx, welche die junge Frau dem »Südsee-Herkules« im Tableau mit der Ermordung Cooks entgegenstreckt, während sie gleichzeitig mit einem anderen Mann schäkert (Abb. 5). In Ovids Metamorphosen wird geschildert, wie sich die Nymphe Syrinx auf der Flucht vor den Nachstellungen des lüsternen Hirtengottes Pan von den Wassernymphen in Schilf verwandeln ließ. Der Verschmähte band daraufhin mehrere Rohre zu einer Flöte (Syrinx), um sich auch fortan mit seiner Angebeteten unterhalten zu können (Metamorphosen: 1,689ff.). Dieser antiken Verwandlungsgeschichte folgend ist die Panflöte also nicht nur ein Attribut, das auf Daphnis (den Begründer der bukolischen Dichtung) verweist, sondern sie steht auch für das Liebeswerben eines Mannes. In Umkehrung dessen ist es auf den Sauvages jedoch die Frau, die dem Mann die Flöte darbietet und ihn damit (metaphorisch gesprochen) zum erotischen Spiel mit oder auf ihr einlädt. Einmal mehr wird hier das Bild der Frau als Verführerin aufgerufen – wenn auch in eine neue Bildformel gekleidet. Noch verschlüsselter gestaltet sich das Ausloten sinnlich-erotischer Geschlechterbeziehungen in der dritten und letzten Szene. In ihren hauchdünnen, fast durchsichtigen Empirekleidern sind auch die Tänzerinnen dieses Tableaus zweifelsohne eingebunden in ein subtiles Spiel des Zeigens und
18 | Unweigerlich fühlt man sich an die
mit Schleier könnte sogar als Referenz auf
Chemisenkleider modischer Pariserinnen er-
Madame Recamier (1777–1849) gedeutet wer-
innert, in denen die Trägerinnen mehr Körper
den, die (gewandet in solch körperbetonte,
zeigten als verdeckten und daher von einigen
hauchdünne habits) auf ihren legendären
Zeitgenossen auch als »nackt« empfunden
Soirées durch Schaltänze von sich reden
wurden (Ribeiro 1995: 91–94). Die Tänzerin
machte (ebd., 118).
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Verhüllens körperlicher Reize (Abb. 4).¹⁸ Gleichzeitig verweisen ihre grazilen, anmutigen Gesten und Bewegungen aber auch auf ein europäisch-bürgerliches Frauen- und Körperideal um 1800, das man (in Abgrenzung zur gekünstelten Körpersprache der höfisch-aristokratischen Gesellschaft des Rokoko) in der »Natürlichkeit« und »Anmut» des weiblichen Geschlechts verkörpert sah (Spickernagel 1983). Die von Arnold und Webb vorgeschlagene Deutung der Tänzerinnen als die Drei Grazien (Arnold 2014: 116, Webb 2000: 11) gewinnt vor diesem Hintergrund an Überzeugungskraft, denn es waren gerade Darstellungen der drei Begleiterinnen der Venus/Aphrodite, anhand derer seit Mitte des 18. JahrAbb. 7: Angelika Kauffmann, Die Schönheit, versucht von der Liebe, geleitet von der hunderts die Schönheit und »Anmut« des Klugheit, vor 1782 weiblichen Körpers beziehungsweise Geschlechts verhandelt wurden (Spicker nagel 1983: 309f.). Die dadurch eingeleitete Renaissance des Bildmotivs ging sogar mit der Erfindung eines neuen Bildtypus, des »Amor mit den Drei Grazien«, einher (Mertens 1994: 5). Den Tanzenden auf den Sauvages kommt dabei Angelika Kaufmanns Gemälde Die tanzenden Grazien mit Lyra spielendem Amor (1778) am nächsten¹⁹ – wobei an die Stelle Amors, auf der Tapete repräsentiert in der Gestalt des Roi de Taïti, auch der Betrachter im Wohnraum treten könnte. Kaufmann, deren Bilder europaweit in druckgrafischen Reproduktionen Verbreitung fanden, nutzte das Sujet der Drei Grazien aber auch, um in einer Reihe von Gemälden die Dialektik der Liebe im Widerstreit von sinnlichem Verlangen/Wollust, Keuschheit und Schönheit darzustellen. In Die Schönheit, versucht von der Liebe, geleitet von der Klugheit (vor 1782) modifizierte sie beispielsweise das antike Motiv des »Herkules am Scheideweg«, indem sie eine Personifikation der Schönheit im Zwiespalt zwischen Amor/sinnlicher Liebe und Prudentia/ Klugheit (identifizierbar am Zaumzeug) zeigt (Abb. 7). Damit schafft sie eine Tugendallegorie, die auf Mäßigung und den Ausgleich zwischen Vernunft und Begehren zielt (Geiseler 2004: 131f.) – ein Zustand, der nach Auffassung des 18. und 19. Jahrhunderts nur in der (bürgerlichen) Liebes- oder Freundschaftsehe realisiert werden konnte.
19 | Abgebildet in Spickernagel 1983: 309.
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Auch wenn in der Tanz-Szene auf den Sauvages auf die Mäßigung des Begehrens nicht direkt Bezug genommen wird, wird sie doch indirekt an anderer Stelle in den zahlreichen Darstellungen von Paaren wirksam ins Bild gesetzt. Durch die Auflösung der verspielten, die Betrachterinnen und Betrachter miteinbeziehenden Dreierkomposition wird so die heterosexuelle Paarbeziehung als die einzig »logische« und »natürliche« Konsequenz des Liebeswerbens der Geschlechter vorgestellt. Nicht von ungefähr erinnern die innig einander zugewandten Paare an Daniel Chodowieckis (1726–1801) Darstellung der Natur in den Natürlichen und affectierten Handlungen des Lebens (1780), wo ein adamsgleicher, fast nackter Mann und eine barbusige Eva in sittsamer Nacktheit vor der Kulisse »unberührter« Natur das »ungekünstelte«, »natürliche« Miteinander der Geschlechter verbildlichen. Nacktheit und »Natürlichkeit« im Umgang miteinander stehen hier wie dort folglich paradigmatisch für natürliche Sittsamkeit. In diesem Zusammenhang verkörpern die Mutter-Kind-Darstellungen auf den Sauvages die »Kanalisierung« des »Geschlechtstriebs« in der Mutterschaft, wie dieser den moralischen Kodizes der Epoche zufolge nur in der (Liebes-)Ehe in korrekte Bahnen gelenkt werden konnte. Auf der Bildtapete wird also – bezugnehmend auf die Mär von der sinnlicherotischen Südsee-Schönheit sowie die Watteau’schen Liebespilger – ein locus amoenus, ein den gesamten Pazifik umspannendes Neu-Kythera, entworfen, bei dem Liebe, Nacktheit/Erotik und Paarbeziehungen gemäß bürgerlichen Ehe- und Moralvorstellungen letztlich im Dienste der Reproduktion der menschlichen Gattung stehen. Vor diesem Hintergrund ist das Vor-AugenStellen von Nacktheit und sinnlich-verspielter Erotik, die auf den ersten Blick nicht in diese biedere Epoche passen mag, auch in einem bürgerlichen Interieur wie dem der Abels legitim, denn sie dient einem höheren Zweck: der Versinnbildlichung biopolitischen Denkens in der heterosexuellen Partnerschaft. Gleichzeitig sind die Bezugnahmen auf die Liebesthematik sowie die Darstellungen von innig einander zugewandten Paaren oder Müttern mit ihren Kindern aber auch bildgewordener Ausdruck einer Wende hin zu einem »sentimentale[n] Familiendiskurs» um 1800, bei dem das Verhältnis der Ehepartner sowie Eltern-Kind-Beziehungen zusehends durch Diskurse um Mutter-, Vater- oder Gattenliebe affektiv aufgeladen wurden (Koschorke et al. 2010: 117). Die Sauvages stehen damit in einer Reihe mit späteren Dufour’schen Bildtapeten, etwa den Liebesreisen Telemachs in der Paysage de Télémaque dans l’île de Calypso (um 1818) oder der Amor-und-Psyche-Tapete
20 | Zum Wandel der (monetär begründe-
Ehepaar- und Moralvorstellungen um 1800
ten) Zweckehe hin zu einer lebenslangen
siehe Trepp 2000.
Liebesgemeinschaft im Kontext bürgerlicher
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Psyché (1815), in denen zeitgenössische Liebes- und Paarvorstellungen sowie der Wandel der (bürgerlichen) Ehe hin zu einem lebenslangen Liebesbund zweier Menschen ihren Ausdruck finden²⁰ – nur dass diese Diskurse auf den Sauvages weniger offenkundig zutage treten, da sie von der Exotik der Szenerie und wirkmächtigen Südsee-Klischees überlagert werden.
Das Interieur als Bühne Damit sind wir am Ausgangspunkt dieses Aufsatzes angelangt, nämlich der Frage nach dem mittels dieser exotischen Bildtapete im Interieur vermittelten (Wohn-)Wissen. Die eingangs zitierten Zeilen aus Dufours Werbebroschüre legten es nahe, dass anhand der aus der Reiseliteratur entlehnten Darstellungen von Sitten und Gebräuchen in der Südsee vor allem geografische und völkerkundliche Kenntnisse über diese »neu«-entdeckten Inselwelten als einer den Zuhausegebliebenen fremden Weltgegend vermittelt werden sollten. Wie die vorausgegangen Ausführungen gezeigt haben, greift diese Vorstellung einer Geografiestunde in den eigenen vier Wänden, in der sich zweifelsfrei eine Popularisierung naturwissenschaftlichen und ethnologischen Wissens widerspiegelt, jedoch nur bedingt. Bei genauer Betrachtung offenbart sich vielmehr, dass die Sauvages Anteil hatten an einer noch viel wirkmächtigeren Form der Wissensproduktion und -vermittlung: der von (bürgerlichen) Geschlechterdiskursen und deren Naturalisierung im Wohnen um 1800. Mehr noch: Die Sauvages können als eine Form bürgerlicher Selbstthematisierung gelesen werden, bei der zeitgenössische »Geschlechtscharaktere« sowie damit einhergehende Konzepte von Liebe, Ehe und Familie im Gewand antikisierender Exotik und Metaphorik bildräumlich verhandelt wurden. Dass die vor Augen gestellten Rollenbilder hierbei im Interieur präsentiert wurden, verleiht dem Ganzen besondere Brisanz. Parallel zur ideologischen Verfestigung der »Geschlechtscharaktere« seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bildete sich in dieser Epoche auch das Konzept der öffentlichen und der privaten Sphäre heraus (Klinger 2004; Mamiya 2007: 113f.). Das Interieur wurde infolgedessen zum Ort des Privaten, der dem öffentlichen Bereich der Erwerbstätigkeit des Mannes sowie der Politik beziehungsweise der Staatsgeschäfte diametral entgegenstand. Gleichzeitig war die private Sphäre und damit die Familie, wie Richard Sennett in seiner Schrift The Fall of Public Man gezeigt hat, aber auch der Ort des »natürlichen Ausdrucks«, das heißt des ungekünstelten Umgangs miteinander (Sennett 1991: 128–134). Dies zeigt sich in den zahlreichen Familienporträts der Epoche, in denen die Familienmitglieder in teils inniger Umarmung im Interieur
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abgebildet sind. Es offenbart sich aber auch in Boillys eingangs erwähnter Geografiestunde, wo die Innigkeit und Natürlichkeit der Vater-TochterBeziehung nicht nur in der legeren Hauskleidung der beiden, sondern auch in den einander zugewandten Gesten und Blicken ihren Ausdruck finden. Angesichts dieser diskursiven Aufladung des Innenraums werden die im Tapetensaal auf Burg Kommern vor Augen gestellten, als universalgültig imaginierten Geschlechterbilder auf zweifache Weise naturalisiert: einerseits durch ihre Einbettung in die »unberührte« Natur des Bildtapetenraums, andererseits durch ihre Einbindung ins Interieur als dem gesellschaftlich definierten Ort des »natürlichen Ausdrucks« und Umgangs.²¹ Sie werden sozusagen im Interieur als dem Ort des Privaten in der Weltzugewandtheit des Exotischen »verinnerlicht«. Gleichzeitig war das Interieur um 1800 aber auch, wie der Verweis auf den Bildtypus der »Geografiestunde« belegt, ein Ort des Lernens und der Wissensvermittlung – insbesondere in Zeiten, wo das öffentliche Schulwesen noch nicht so ausgebaut war wie heute und gerade Mädchen zu Hause unterrichtet wurden. Angesichts dessen verwundert es nicht, dass sich Dufour in den zu Beginn dieses Aufsatzes zitierten Zeilen explizit an die (Haus-)Frau in ihrer »natürlichen« Funktion als Mutter und Erzieherin wendet. Gemäß zeitgenössischen Erziehungsidealen kam dem Mann in seiner Zuordnung zum öffentlichen Leben nämlich die Vermittlung politisch relevanten Wissens zu (Gestrich 2005: 128f.) – so zu sehen in Boillys Geografiestunde, wo der Vater seiner Tochter die politischen Großmachtambitionen Frankreichs erörtert. Im Gegensatz dazu war es die Aufgabe der Mutter, alltagspraktisches, geschlechterspezifisches Wissen sowie moralisch-sittliches Verhalten zu vermitteln, wie es auf den Sauvages – eingebettet in Schilderungen exotisierter Sitten und Gebräuche – räumlich vorgeführt wird. Im Sinne Jean-Jacques Rousseaus (1712–78) konnte die lernende Familie also zur »Keimzelle des Staates« werden, indem im Wohnen gesellschaftsrelevantes, geschlechterspezifisches Wissen bildlich vermittelt und im vergleichenden Betrachten eingeübt wurde (hierzu auch Mamiya 2007: 110). Dass dies auch ein Anliegen der Erfinder der Bildtapete gewesen sein muss, belegt einmal mehr ein Zitat aus Dufours Werbeprospekt:
21 | Zur Naturalisierung von Geschlechterordnungen im Wohnen siehe exemplarisch Terlinden 2010.
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»[Par cette décoration, A.S.S.] les femmes s’assureront de nouveau que l’art de subjuguer la puissance et de dompter la force par la faiblesse, appartient généralement à tout le beau sexe; dans les cités comme dans les deserts [sic], sous les zones brûlées par le soleil comme sur les neiges perpétuelles des pôles; dans quelque forme qu’elle soit enveloppée, la femme répand son influence et sait se faire aimer.« (Dufour 1804/05: 6) Angesichts der Tapete sollte sich also die Frau – und man müsste ergänzen auch der Mann – im Wohnen immer wieder aufs Neue und unabhängig von der eigenen kulturellen Verortung der ihr/ihm gesellschaftlich zugewiesenen Rolle »versichern« (ils/elles »s’assureront de nouveau«). Nun diente der Tapetensaal auf Burg Kommern allerdings nicht nur in seiner Funktion als Wohnzimmer der Zusammenkunft und belehrenden Unter haltung der Familienmitglieder der bürgerlichen Abels, sondern es ist nahe liegend, dass hier auch Empfänge oder Gesellschaften stattfanden. Dafür spricht einerseits die unmittelbare Nähe zur barocken Amtsstube, der offiziellen Arbeitsstatt Franz Alexander Abels als Amtmann und späterem Bergwerksbesitzer, andererseits seine Lage im repräsentativen Teil des Gebäudes, abseits der Privatgemächer der Familie.²² Vor einem solchen Hintergrund kommt der Anbringung der Sauvages auch eine repräsentative, auf ein gesellschaftliches »Außen« gerichtete Funktion zu, mit der die Abels ihren durch den Bergbau gewonnenen Wohlstand, ihre Begeisterung für exotische Gefilde, eventuell sogar ihre bürgerliche Gesinnung (versinnbildlicht in den vor Augen gestellten Rollenbildern) zur Schau stellen konnten. Das Wohnen in beziehungsweise das Sich-Einrichten mit Exotik wurde damit zu einem Akt des Repräsentierens, des »Sich-Darbietens«, wie es auch für andere gesellschaftliche Bereiche, in denen Menschen miteinander Umgang pflegen, konstitutiv ist (Eck 2014: 45). So schreibt Christian Garve bereits im Jahr 1792 in seinen Versuchen über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben: »[…] der Mensch [hat, A.S.S.] mit Menschen zu thun: er soll auf sie wirken, indem er sich zugleich ihnen gleichsam darbiethet, um gewisse Eindrücke von ihnen zu empfangen, und ihrer Thätigkeit hinwiederum zum Gegenstande und zum Gehülfen zu dienen […]« (Garve 1792: 314). In einer Zeit, in der das gesellschaftliche Miteinander und das Sich-»Darbiethen« – insbesondere in der Öffentlichkeit, wie Günther Heeg und Richard Sennett gezeigt haben – stärker noch als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch kulturelle Settings und Kodes und damit durch eine gewisse Theatralität des Alltags bestimmt waren,
22 | Ein Grundriss von Burg Kommern findet sich in Herzog 1989: 340.
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wurde das Interieur mit allem darin Dargestellten und den darin Anwesenden also zu einer Art Bühne der Gesellschaft (Eck 2017: 166–168).²³ In Anlehnung an Katharina Eck könnte man auch von einem theatrum domus et socialitatis (einem Theater des Hauses und der Geselligkeit) sprechen (ebd., 167), wo die auf den Sauvages dargestellten Rollen- und Geschlechterbilder permanent – mit jeder neuen Besucherin und jedem neuen Besucher, aber auch auf Seiten der Bewohnerinnen und Bewohner – neu verhandelt werden konnten. Das Äquivalent dieses »häuslich-privaten Theaters« war zweifelsohne die von Franz Alexander Abels angelegte ausgedehnte öffentliche Parkanlage in Kommern, die Alexanders Freude (1802/03–14/18), wo die auf der Tapete vorgestellten Rollenbilder in der freien Natur sozusagen in aller Öffentlichkeit spazierend zur Schau gestellt werden konnten.²⁴ Hier wie dort kommt somit – Jean Pauls Metapher von der Stube als verkleinerter Welt beziehungsweise des Gartens als verkleinerter Landschaft aufgreifend – das »große« Spiel der Geschlechter »im Kleinen« zur Anschauung.
23 | Ähnlich argumentiert Beate Söntgen,
als »Resonanzraum des Subjektes« charak
wenn sie unter Bezugnahme auf Denis
terisiert (Söntgen 2010: 53).
Diderots (1713–84) Überlegungen zur
24 | Zur Parkanlage siehe Leduc (1985).
dramatischen Dichtkunst, insbesondere seine Unterredungen mit Dorval (1757), das Interieur
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Louis-Léopold Boilly, The Geography Lesson (Portrait of Monsieur Gaudry and His Daughter), 1812, Öl auf Leinwand, 73,6 cm x 59 cm, Kimbell Art Museum, © Kimbell Art Museum, Fort Worth, Texas Abb. 2: Blick in den Bildtapetensaal auf Burg Kommern, 2015, Privatbesitz, © Foto: Astrid Silvia Schönhagen Abb. 3: Manufaktur Dufour, Jean-Gabriel Charvet (del.), Toilette der Venus (Detail der Sauvages de la mer Pacifique), um 1805, handgedruckte Papiertapete, Burg Kommern, © Foto: Astrid Silvia Schönhagen Abb. 4: Manufaktur Dufour, Jean-Gabriel Charvet (del.), Tahitianischer Tanz (Detail der Sauvages de la mer Pacifique), um 1805, handgedruckte Papiertapete, Art Gallery of New South Wales, erworben 1989 mit Mitteln der Art Gallery Society of New South Wales, © Foto: AGNSW Abb. 5: Manufaktur Dufour, Jean-Gabriel Charvet (del.), Bewohnerinnen und Bewohner der Neuen Hebriden (ni-Vanuatu) sowie Hawaiis (Detail der Sauvages de la mer Pacifique), um 1805, handgedruckte Papiertapete, Burg Kommern, © Foto: Astrid Silvia Schönhagen Abb. 6: Manufaktur Dufour, Jean-Gabriel Charvet (del.), Pastorale Szenerie (Detail der Sauvages de la mer Pacifique), um 1805, handgedruckte Papiertapete, Burg Kommern, © Foto: Astrid Silvia Schönhagen Abb. 7: Angelika Kauffmann, Die Schönheit, versucht von der Liebe, geleitet von der Klugheit, vor 1782, Öl auf Kupfer, 29,5 cm (Tondo), Privatsammlung Schweiz, abgebildet in: Natter, Tobias G. (2007): Angelika Kauffmann. Ein Weib von ungeheurem Talent, Ostfildern: Hatje Cantz, S. 147
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Abb. 1: Ernst Ludwig Kirchner, Sam und Milly im Atelier Berliner Straße 80 in Dresden, um 1911
Wohnhöhlen und Beduinenzelte | Christiane Keim
Wohnhöhlen und Beduinenzelte Die Metapher des »Wilden« im Display der Ateliers von Ernst Ludwig Kirchner vor dem Ersten Weltkrieg Christiane Keim Seit der Renaissance gilt Wildheit als eines der signifikanten Merkmale, die Künstlerschaft auszeichnen. »Ein Etwas von Wahnsinn und Wildheit« erkennt der Autor der ersten umfassenden Sammlung von Künstlerbiografien, Giorgio Vasari, Mitte des 16. Jahrhunderts als Eigenschaft des Künstlers, die diesen zu einem »absonderlichen« und »ausschweifenden Menschen« mache (Vasari 1910: 196). Damit war Wildheit als Ausweis des Künstler-Seins konzediert, wenn auch noch nicht positiv besetzt. Das änderte sich mit der Geniekonstruktion des 18. Jahrhunderts, die von einer gesteigerten Subjektivität als Grundlage kreativer Tätigkeit ausging. Die Vorstellung einer aus dem eigenen Empfinden erwachsenden Schöpferkraft enthob den Künstler der Verpflichtung sowohl gegenüber akademischen Regeln wie bürgerlichen Konventionen (Krieger 2007: 36–37, 47ff.). In die Position eines gesellschaftlichen Außenseiters versetzt, war »Wildheit« für den Geniekünstler nun nicht allein Charakterzug, sondern vielmehr Kriterium der Identitätsbildung. Für Künstlergruppen, die dem etablierten Kunstbetrieb um 1900 programmatisch den Rücken kehrten, darunter diejenigen, die von der Kunst geschichtsschreibung zur Stilrichtung des Expressionismus gezählt werden, die Fauves in Frankreich, Der Blaue Reiter oder Die Brücke in Deutschland, sollte der Begriff des »Wilden« schließlich zu einer Kernbestimmung von Kunst und künstlerischem Selbstverständnis werden. Adjektive wie »wild« oder »primitiv« standen für eine »angenommene Ursprünglichkeit«, die »weniger entwickelt(en)« außereuropäischen Kulturen zugeschrieben wurde und die zur Grundlage der eigenen Lebenshaltung und Kunstproduktion avancierte (Lange 2006: 204). Das »Wilde« (in) der Kunst war nach diesem Verständnis eine ästhetische Strategie, die sich gegen ein von den Akademien vertretenes Kunstideal richtete; die »Wildheit« des Künstlers stand
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für den Ausdruck unverfälschter, naturhaft-intuitiver Kreativität, die ungehemmt freigesetzt werden konnte und sollte. Wenn der Brücke-Künstler Max Pechstein in seinen Erinnerungen also berichtete, er habe »wild« gearbeitet (Pechstein 1993: 46)¹, dann sprach er damit mehrere, miteinander verbundene Aspekte an: die vitalistische Energie, die ihn antrieb, sowie den durch seine antiperspektivische Flächigkeit charakterisierten Bildaufbau und die koloristische Malweise, die er verwendete. Darüber hinaus verweist die Bezeichnung »wild« hier aber auch auf die Auseinandersetzung mit den Lebenswelten des außereuropäischen »Primitiven«, Vor-Zivilisatorischen, die zur Projektionsfläche des künstlerischen Lebens und Handelns wurden. Im Almanach Blauer Reiter stellt Franz Marc in militaristischer Rhetorik die Angriffslinie der Neuerer – die Künstlerkollegen der Brücke-Gruppe, mit denen er seit 1912 in Austausch stand, mit einbeziehend – schließlich unter den Leitgedanken des »Wilden«: »In unserer Epoche des großen Kampfes um die neue Kunst streiten wir als ›Wilde‹, nicht Organisierte gegen eine alte, organisierte Macht […]« (Marc 1912: 5). Die Neubestimmung des Künstlerisch-Schöpferischen als Gegenentwurf bourgeoiser »Unkultur« in der wilhelminischen Gesellschaft stand um 1900 im Zusammenhang umfassender Zivilisations- und Gesellschaftskritik (Lange 2006: 205). Bei der Verwirklichung weitreichender sozial- und kultur politischer Reformen war der Kunst und den modernen Künstlern, nicht zuletzt nach deren eigener Auffassung, eine Schlüsselrolle zugewiesen. Das gegen den traditionellen Kunstbetrieb gerichtete Schlagwort von der Ver einigung von Kunst und Leben zielte auf das Mitwirken des Künstlers am gesellschaftlichen Fortschritt. »Sie begriffen Kunst beziehungsweise Kreativität als soziale Energie, mit der in die Gesellschaft hineinzuwirken war [...]. Sie sahen Kunst nicht länger als symbolisches Mittel zur Bildung und Erziehung der Öffentlichkeit, sondern als Medium des Lebens mit sozialisierender Funktion.« (Hoffmann 2011: 67) Im Zeichen des Primitivismus leitete sich das kreative Potenzial westlicher Künstler aus dem Transfer der vorgeblich genuinen Schöpferkraft nicht-westlicher Kulturen ab. Für die Brücke-Künstler sollte die propagierte Vereinigung von Kunstproduktion und Leben sowohl in ihren Arbeiten wie in den Räumen, in denen diese entstanden, den Künstler-Ateliers, Ausdruck finden. Das Atelier, so Paolo Bianchi im Vorwort des gleichlautenden Themenheftes der Zeitschrift
1 | »In der Durlacher Straße 14, wo ich neben
tete ich wild und übertäubte den Hunger mit
Scheibe und Marcks mein Atelier hatte, arbei-
Kaffeetrinken und Tabakrauchen.«
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Kunstforum international, sei nicht nur Produktionsstätte, sondern ein Ort der »Sichtbarmachung einer künstlerischen Haltung, Programmatik und Richtung. […] Das Atelier ist ein gebautes und gestaltetes, ein räumlich und sinnlich erfahrbares Manifest« (Bianchi 2011: 32–33). Der Kunstkritiker Brian O’Doherty verortet Künstler, Kunst und Atelier innerhalb einer komplexen Verweisstruktur: »Das Atelier steht für die Kunst, die Utensilien des Künstlers für den Künstler, der Künstler für den Schaffensprozess, das Produkt für den Künstler, der Künstler für das Atelier« (O’Doherty 2012: 9). In der Literatur wird meist nur am Rande die Nutzung des Ateliers als Wohnraum erwähnt, die oft schon aus wirtschaftlichen Gründen geboten war. Die Brücke-Künstler unterhielten mehrere Ateliers, die sie, vor allem in den Dresdener Jahren bis 1911 kollektiv nutzten. Auch noch nach dem Umzug in die Reichshauptstadt Berlin wurde der, letztlich vergebliche, Versuch gemacht, den Zusammenhalt der Gruppenmitglieder durch eine gemeinsame Ateliernutzung oder zumindest durch unmittelbare Nachbarschaft der Räume zu stützen (Hoffmann 2005: 54–71). Ernst Ludwig Kirchner unterhielt zwischen 1905 und 1938 in Dresden und Berlin sowie später im schweizerischen Davos insgesamt acht Ateliers, in denen sich »Kunst und Leben, Leben und Arbeit durchmischten« (Strzoda 2006: 9).² Auf Besucherinnen und Besucher übten offenbar gerade Kirchners Atelierwohnungen große Faszination aus. Mit ihren Räumen, die angefüllt waren mit einer Vielzahl selbstgeschnitzter Möbel, bemalter oder bestickter Textilien und Gebrauchsgegenstände verschiedenster Provenienz, öffnete sich, so schildern es Berichte, der Zugang zu einer terra incognita. »Kirchner wohnte in einem Atelier, das er aus einer Mansarden-Wohnung zusammengebaut hatte«, erinnert sich etwa der Dichter-Philosoph Theodor Bluth an eine Visite im Atelier in der Berliner Körnerstraße. »Jedes Möbel, jeder Teppich war von ihm eigenhändig entworfen. Wenn man in seinen Raum trat, fühlte man sich auf einem anderen Stern oder in einem weltfremden Jahrhundert« (Strzoda 2006: 26). Anders als für den Zeitgenossen Bluth ist der Eindruck der mittlerweile verlorenen Ateliers heute allein aus den zahlreichen bildlichen Darstellungen zu erhalten, die größten Teils von Kirchner selbst angefertigt wurden. Die Bild repräsentationen überlagern bzw. ergänzen sich dabei in besonderer Weise: Kirchner hat die Ausgestaltungen der Räume in Gemälden und Grafiken dargestellt, diese dann in die Ateliers integriert und die derart erweiterten Räume wiederum fotografiert oder erneut gemalt. »Skizze, Zeichnung, Fotografie, Skulptur und Malerei sind künstlerische Medien, die sich im Werk von Ernst Ludwig Kirchner wechselseitig durchdringen und befruchten«
2 | »Kirchner besaß nie einen eigentlichen Werkraum, sondern malte in seinen Wohnräumen
›direkt aus dem Leben‹« (Strzoda 2006: 10).
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(Sadowsky 2016: 22). Gestützt auf dieses intermediale Bilderrepertoire rekon struiert Hanna Strzoda in ihrer breit angelegten Untersuchung zu Kirchners Ateliers minutiös die Raumausstattungen und ordnet sie in den kunst- und kultursoziologischen Kontext ein (Strzoda 2006). Im Folgenden greife ich einige Beispiele aus diesem Bildervorrat, genauer drei Fotografien des Dresdener und der beiden Berliner Ateliers aus den Jahren zwischen 1911 und 1915 heraus. Obwohl Kirchner die Aufnahmen nur innerhalb von Künstlerkreisen zirkulieren ließ, ohne eine weitere Verbreitung anzustreben, kommt ihnen, neuesten Veröffentlichungen zufolge, weitreichende Bedeutung für künstlerische Leitziele und Eigenbild des Künstlers zu. »Kirchner fotografiert sein Werk und bildet zugleich eine Beziehungskonstellation zwischen Kunst und Leben ab, sodass die Fotografie zum Medium der Berührung beider Sphären wird. […] Deshalb kann Kirchners Fotografie auch als Meta-Medium der Ästhetisierung seiner Lebensumgebung bezeichnet werden« (Sadowsky 2016: 16). Darüber hinaus arbeitete Kirchner mit Hilfe der Fotografie am eigenen Nachruhm und an »der Inszenierung seines Lebens als avantgardistischer Bohemien-Künstler« (Sadowsky 2016: 18). Von diesen Prämissen ausgehend interessiere ich mich, anders als Strzoda, weniger dafür, wie die Räume einmal ausgesehen haben mögen. Vielmehr frage ich danach, was die ausgewählten Aufnahmen der Ateliers oder genauer: die in ihnen fixierten Ateliersituationen über die Bedeutung von »Wildheit« oder des »Wilden« für das Selbstverständnis Kirchners als Brücke-Künstler und seine Autorschaft aussagen könnten. Methodische Orientierung bietet mir ein Ansatz der neueren auch das Künstler-Wohnen als spezifischen Teilbereich einbeziehende Wohnforschung, die von einem strukturellen Verhältnis zwischen Bild, Raum und Subjekt ausgeht. Indem dieses Gefüge in seiner (historischen) Variabilität durch visuelle Medien zu sehen gegeben wird, entstehen Bedeutungen, die sich wiederum zu sozialen und kulturellen Wahrnehmungsmodellen verdichten. Der aus dem Ausstellungskontext übernommene Begriff des Displays markiert dabei die Schnittstelle, an der Betrachter- bzw. Bewohnersubjekte mit dem Raum und den Dingen in Verbindung treten und Wahrnehmungsprozesse in Gang gesetzt werden. Display meint hier ein komplexes Setting aus sozial vermittelten Zuschreibungen, Objektbeziehungen und Subjektpositionen, die ein Background-Wissen bilden, das situativ, im vorliegenden Zusammenhang in den jeweiligen Ateliersituationen, fassbar wird (Nierhaus 2006: 55-73). Darüber hinaus profitieren meine Ausführungen in vielen Punkten von den Positionsbestimmungen und Erkenntnissen der Post-Kolonialismusforschung wie sie vor allem auf Initiative von Viktoria Schmidt-Linsenhoff in Trier eta bliert und ausgebaut wurde.
Wohnhöhlen und Beduinenzelte | Christiane Keim
Der Körper des Anderen: Die Artisten Milly und Sam in Kirchners Atelier, Dresden, Berliner Straße 80, um 1910/11 Die Fotografie (Abb. 1) lenkt den Blick in einen Raum des Wohnateliers in Dresden, das Kirchner ab 1909 angemietet hatte. Im Zimmer sind, wie wahllos verteilt, künstlerische Objekte und Gegenstände zu sehen: Skizzenblätter sind auf die Wände aufgeklebt, Bilderrahmen stehen auf dem Boden, ein Spiegel wird von zwei Holzpflöcken eingefasst; auf einer dieser grob behauenen Pfähle befindet sich eine Aktskulptur. Im Hintergrund ist ein Durchgang zu einem Nebenraum auszumachen. Auf der Türschwelle steht eine nackte männliche Person mit dunkler Hautfarbe, beidseitig wird sie von einem bestickten, von der Decke herabfallenden Vorhang gerahmt. In frontaler Ausrichtung wiedergegeben stemmt der Mann eine Hand in die Hüfte, die andere ruht auf einem auf dem Boden liegenden Paravent. Seine Füße werden von den Streben eines hölzernen Liegemöbels überschnitten und dadurch optisch vom Körper abgetrennt. Im linken Bildvordergrund, in der Bewegung aufgenommen und daher nur verwischt wiedergegeben, ist eine weibliche Person zu sehen, wie der Mann im Türrahmen ist sie dunkelhäutig. Es läge nahe, das Ausstellen der schwarzen Körper hier als Repräsentation von Wildheit im Sinne einer naturhaften, »für einen befreiten Eros« (Strzoda 2006: 78) stehenden Sexualität zu deuten, die als Gegenbild zur bürgerlichen Sexualmoral in Szene gesetzt wird. Dieses Argument würde durch die Medaillons des gebatikten Türvorhangs gestützt, die in Anlehnung an javanesische Schattenspielfiguren Liebespaare beim sexuellen Akt zeigen (Strzoda 2006: 120). Auch der umgestürzte Paravent, auf dem der Arm des Mannes aufliegt, lässt eine entsprechende Lesart zu. Als Raumteiler waren die auf japanische Einrichtungsmodelle zurückgehenden Stellschirme zu einem beliebten Einrichtungsstück geworden, mit denen größere Wohnräume in funktionelle Kompartimente unterteilt werden konnten. Im Künstler-Wohnen fungiert der Paravant als flexibler Umkleideraum für die Modelle. In Japan diente der Paravant seit dem 16. Jahrhundert auch als Bildträger, auf den erotische Darstellungen aufgebracht werden konnten (Strzoda 2006: 86). Das Ausstellen des nackten »Wilden« als Alterität, insbesondere die Sexualisierung von schwarzer Männlichkeit, gehörte zu den visuellen Strategien, mit denen innerhalb des kolonialen Diskurses Differenz hergestellt wurde. So markiert der schwarze Akt als Kennzeichnung des besiegten Gegners in Schlachtenbildern um 1800 den Gegenentwurf zur heroisch-siegreichen weißen Männlichkeit (Ulz 2004: 185–197). In der Folgezeit konnte schwarze Männlichkeit jedoch ebenso als Signifikant des Widerstandes eingesetzt
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werden wie in der abolitionistischen Bildrhetorik von Künstlern wie Johann Heinrich Füssli und Théodore Géricault (Schmidt-Linsenhoff 1997: 104ff.). Damit wurde der Unterdrückte zur idealisierten Identifikationsfigur einer romantischen Revolution (Ulz 2004: 194; Schmidt-Linsenhoff 2000: 97). Um 1900 erfuhr der Bildervorrat im Zug der Verwissenschaftlichung von Körperdiskursen und des Einsatzes der Fotografie als Bildmedium mit dem sogenannten ethnografischen Akt eine Erweiterung. Auf anthropologischen Forschungsreisen wurden Repräsentantinnen und Repräsentanten afrikanischer oder asiatischer Ethnien mithilfe des »unbestechliche(n) Beweismittels der Fotografie« porträtiert, um die Aufnahmen dann in Sammlungen zu archivieren und damit in das westliche Wissen über »fremde« Kulturen einzuspeichern (Steiger/Taureg 1985: 118ff.). Im »inventarisierenden Blick«, der die fotografierten Personen als Typen mit distinktiven ethnischen Merkmalen klassifizierte, mischten sich Idealisierung und erotische Phantasien mit der ethnozentristischen Vorstellung eines essentiellen Unterschiedes der Rassen (Steiger/Taureg 1985: 124). Ernst Ludwig Kirchner war mit derartigen Vorstellungen gut vertraut. Nicht nur suchte er regelmäßig die Schausammlungen der Völkerkundemuseen in Dresden und später in Berlin auf und nahm deren Exponate, insbesondere diejenigen, die in den Abteilungen der sogenannten Südseevölker präsentiert wurden, genau in Augenschein (Strzoda 2006: 32ff.). Der Künstler verfügte außerdem über eine größere Sammlung ethnografischer Literatur, aus deren Lektüre er Kenntnisse über die Gegenstände erwarb (Strzoda 2006: 34). Dazu rezipierte er die im Kontext kolonialistischer Expansion steigende Zahl von Artikeln in deutschen Zeitungen, Fachzeitschriften oder Büchern über außereuropäische Kulturen (Strzoda 2006: 34ff.). Auf der Fotografie des Dresdner Ateliers sind Milly und Sam allerdings weder Kameraobjekt weißer Forschungsreisender noch treten sie als Darstellende der um 1900 populären Völkerschauen auf. Diese Schauen präsentierten »wilde« Menschen, die in einem vermeintlich authentischen Habitat »ihre Lebensweise nachspielen sollten« (Laukötter 2010: 111). Das »Habitat« von Milly und Sam dagegen war Kirchners Atelier, in dem beide als professionelle Künstlermodelle arbeiteten. Aktmodelle aus dem afrikanischen Raum waren Anfang des 20. Jahrhunderts begehrt (Berger 2010). Das Interesse ging hier wie bei der wissenschaftlichen Fotografie von der »anthropologischen Normalperspektive« aus und richtete sich auf Abweichungen von der europäischen Norm. Von Interesse waren allerdings weniger Gesichtszüge oder Körperbau als vielmehr »typisch« afrikanische Haltungen und Bewegungen (Berger 2010: 87ff; Steiger/Taureg 1985: 118/119). Auf den Bildern der Brücke-Maler wie in den Atelierfotografien von Kirchner treten afrikanische Modelle nach Berger mehrfach auf (Berger 2010: 91).³ Ob deren Bilder allerdings tatsächlich als Zeichen eines »befreiten
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Eros« (Strzoda 2006: 78) aufzufassen sind, zieht die Autorin in Zweifel. So werde Milly in der hier thematisierten Aufnahme keineswegs erotisierend dargestellt, sondern vielmehr »von der Kamera überrascht« und wie »gegen ihren Willen vorgeführt« (Berger 2010: 93). Tatsächlich weicht die Fotografie gerade in diesem Punkt von einem gleichzeitigen Ölgemälde Kirchners mit dem Titel Schlafende Milly (Liegendes Negermädchen) deutlich ab. Auf dem Tafelbild ist das Modell als nahezu bildfüllender Liegeakt vor einem verzierten Paravent wiedergegeben; die Betonung von Brüsten und Gesäß hebt die erotisierenden Merkmale des »wilden« Körper exemplarisch hervor. Die zentrale Figur auf der Fotografie ist ohnehin nicht Milly, sondern vielmehr der als Ganzfigur ins Bild gesetzte Sam. In selbstbewusster statuarischer Haltung markiert er nicht nur die Mittelachse des Bildes, durch seine Einbindung in die horizontalen und vertikalen Elemente der Bildkomposition bildet er das strukturelle Hauptelement der Mise en Scène. Als das Bild organisierende Ordnungsfigur, so meine These, signifiziert Sam Differenz weniger Andersheit im Sinne eines »exotischen«, damit gleichzeitig aber auch devianten Körpertypus. Vielmehr repräsentiert die Figur, den Projektionen eines idealisierten Anderen folgend, ein widerständiges Kunstund Künstlerideal, das sich gegen einen konventionellen Kunstbegriff wie gegen bürgerliche Moralvorstellungen richtet.
Paar-Konstellationen und ideale Weiblichkeit – Erna und Ernst Ludwig Kirchner im Atelier Durlacher Straße 14 in Berlin, um 1912 Im Jahr 1911 zog Kirchner von Dresden nach Berlin und bezog in der Durlacher Straße im Berliner Stadtteil Wilmersdorf Quartier. Sein Kollege Max Pechstein hatte im selben Gebäude bereits fünf Jahre zuvor ein Atelier eingerichtet; zusammen sollten die beiden hier die private MUIM-Akademie betreiben (Strzoda 2006: 173). Kirchner hielt dieses neue »Lokal« für »etwas mehr den Konventionen angepasst als das Dresdener« (Strzoda 2006: 172). Die Fotografie zeigt eine kleine, neben dem Hauptraum gelegene Stube. (Abb. 2) In der Raumecke ist, auf Polstern und Kissen gelagert, ein einander zugewandtes Paar zu erkennen: Ernst Ludwig Kirchner und seine Lebensgefährtin Erna Schilling. Die Ausgestaltung um die beiden Figuren herum scheint tatsächlich
3 | Zur Identität und den Namen der betreffenden Personen siehe genauer Berger 2010: 91ff.
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insofern konventioneller als sie dem Prinzip eines all over gehorcht, wie es auch für historistische Interieurs in bürgerlichen Wohnungen mit ihrer Überfülle an Dinge und Stoffen kennzeichnend war. In seiner exotistischen Gestaltungsweise macht der Raum allerdings kaum Konzessionen an den zeitgenössischen bürgerlichen Geschmack. Die Wände sind mit textilen Behängen versehen, die großflächige florale Muster aufweisen. Darauf oder darüber sind provisorisch einige weniAbb. 2: Ernst Ludwig Kirchner, Erna und Ernst ge Bildwerke angebracht: Hinter Ludwig Kirchner im Atelier Durlacher Straße 14 in Berlin, u m 1912 Schillings Kopf hängt eine indische Buddhafigur, an der linken Wand eine Tonkachel, an der rechten ein ostasiatischer Druck. Die Decke überspannen zwei Japanschirme (Strzoda 2006: 177f.). Bis auf einen großen Tisch fehlen jegliche Sitzmöbel, aber auch dieser Gegenstand wird durch die mit Paarmotiven bestickte Decke und durch eine holzgeschnitzte doppelstöckige Obstschale in Anlehnung an Plastiken der Yoruba (Strzoda 2006: 193ff.) exotisiert. Wie ein Pendant zu Tisch und Schale angeordnet, nimmt eine Holzfigur den linken Bildrand ein (Strzoda 2006: 200). Bildkompositorisch sind Tisch und Skulptur wie Repoussoirs eingesetzt, die ins Bild hinein- und perspektivisch auf die Personen in der Raumnische zuführen. Obstschale und Aktfigur hat Kirchner nach afrikanischen und ozeanischen Vorbildern entworfen und ausgeführt; Erna Schilling, die Kirchner 1912 kennengelernt hatte, nähte und bestickte »Vorhänge, Wandbehänge und Decken« für die Berliner Wohnungen in der Plattstichtechnik koptischer Artefakte (Röske 2003: 15). Mit Erna Schilling, stellte Kirchner fest, habe er endlich den »ersehnten Kameraden« bekommen, der ihm geistig ebenbürtig sei (Röske 2003: 14f.; Sykora 1996: 22). An gleicher Stelle zog er noch eine andere Verbindungslinie, die auf die Zuordnung der Holzskulptur zu Schilling, wie sie auf der Fotografie zu sehen ist, verweist: »Die Gestaltung der Menschen wurde durch meine 3te Frau, eine Berlinerin […] und deren Schwester stark beeinflusst. Die schönen, architektonisch aufgebauten Körper dieser beiden Mädchen lösten die weichen sächsischen Körper ab« (Strzoda 2006: 192). Deutlicher noch wird die Verbindung zwischen exotistischer Figur und moderner Frau auf Kirchners Ölgemälde Sitzende Frau mit Holzplastik von 1912 gezogen, indem hier der »afrikanische« Akt sehr viel deutli-
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chere Kennzeichen des Weiblichen aufweist und unmittelbar an die Darstellung der Künstlerin Schilling heranrückt. Die Primitivität der Holzskulptur, so deutet Hannah Strzoda die Darstellung, setze in ihrem unmittelbaren Aufeinandertreffen »einen Kontrast zu der die ›Modernität‹ der Großstadt verkörpernden […] Freundin Kirchners […]« (Strzoda:. 203). Hervorgehoben werden hier aber keineswegs nur das Trennende, sondern ebenso die Ähnlichkeiten, wie sie vor allem in den Gesichtszügen zum Ausdruck kommen. In einem Essay zu Kirchners Berliner Straßenszenen hat Katharina Sykora auf die Wechselbeziehungen zwischen den Bildgruppen der Großstadtdarstellungen einerseits und den Akten im Freien, die während den Aufenthalten in Moritzburg oder auf Fehmarn entstanden sind, andererseits aufmerksam gemacht (Sykora 1996: 21). Anstatt eines antagonistischen Verhältnisses der beiden Bereiche sei von verbindenden Elementen auszugehen, die durch die weiblichen Modelle gestiftet werden. »Erst die Verbindung der für die Zeit des Kaiserreichs revolutionären Darstellung des weiblichen Akts im Freien mit dem modernen städtischen Körpertypus von Gerda und Erna Schilling führte also zu einer neuen Formfindung, die in Kirchners Augen für eine moderne Lebenspraxis und für künstlerische Avantgarde standen.« (Sykora 1996: 24/25) Das Zusammenstellen und Zuordnen von Objekten, das Vergleiche heraus forderte und damit Wissensproduktion betrieb, gehörte zu den institutionellen Praktiken der von Kirchner frequentierten völkerkundlichen Museen (Laukötter 2010: 120ff). Hier war es der Unterschied zwischen dem »Eigenen« und dem »Fremden«, dessen Erkennen über eine »spezifische Art des Sehens« trainiert werden sollte (Laukötter 2010: 123). Die Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal nennt dieses Herstellen von Zusammenhängen in einer Analyse der Schauanordnungen des New Yorker Museum of Natural History eine »Unterscheidungsideologie« (Bal 2006: 80). Das »Wir«-Verständnis, das nach Bal im Museum durch die positionierende Konfrontation von »fremden« und »eigenen« Welten ausgelöst werden solle, sei aber mit Blick auf das Geschlecht noch einmal genauer zu bedenken. Denn Darstellungen des Weiblichen nähmen in diesem Zusammenhang eine Mittlerrolle ein. Bal verweist hier auf die Figur einer asiatischen Frau, die beim Geburtsvorgang gezeigt wird. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine »gewöhnliche«, sondern um eine mythische Geburt aus der Körperseite (Bal 2006: 85ff). Diese Figur wirke auf die Betrachterinnen und Betrachter gleichermaßen vertraut wie fremd: Vertraut, weil sie die auch im Westen verbreitete »meta phorische Gleichsetzung von ›Frau‹ und ›Natur‹« vermittle, fremd, weil es sich bei der Darstellung um eine »unnatürliche Fiktion« handele, die wiederum Andersheit bestätige (Bal 2006: 88).
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Auch für die naturwissenschaftliche Literatur und Fotografie der Jahrhundertwende, die vorzugsweise den weiblichen Körper vermaß, um die Kriterien eines weißen Schönheitsideals festzulegen, ist die vergleichende Gegenüberstellung von westlichen und »fremden« Körpern relevant. »Mit der Festlegung der Norm«, so Annegret Friedrich in einem Beitrag zum Schönheitsbegriff in den Naturwissenschaften, sei gleichzeitig »das Hässliche und Abweichende diskursiv entstanden« (Friedrich 1997: 174/175). Dieses Hässliche oder Deviante wurde insbesondere aus der Konfrontation des westlichen mit dem nicht-westlichen »Rassekörper« bzw. durch deren Bilder konstruiert. Unter dem Aspekt einer imaginierten Ursprünglichkeit des »Primitiven« konnte der sich einstellende Effekt den Intentionen aber zuwiderlaufen. Wenn der schwarze Frauenkörper der »Natur des Weibes« eher entsprach als das in den Schriften immer wieder als degeneriert gekennzeichnete Erscheinungsbild der zeitgenössischen Europäerin, dreht sich das Verhältnis um: Das eigentlich »Fremde« wird zur erstrebten Norm, demgegenüber das »Eigene« als deviant erscheint (Friedrich 1997: 177). Die Fotografie von Kirchner und Schilling im Atelier, so meine These zum zweiten Bild, zeigt diese Ambivalenz in der Bewertung des schwarzen Frauenkörpers ebenso wie ein Paar-Verhältnis, im dem sich Verschiebungen im Geschlechterdiskurs abzeichnen. Über das Zeigen der von ihnen geschaffenen Objekte im Zeichen des »Wilden« oder »Primitiven« werden Kirchner und Schilling als einander ebenbürtige Partner in der Kunstproduktion und, den übergeordneten Zielen der Avantgarde gehorchend, auch im Leben bzw. in der programmatischen Vereinigung von Kunst und Leben ausgewiesen. Das damit im Widerspruch liegende Prinzip der Bildhaftigkeit des Weiblichen bleibt in der Zuordnung von Schilling zur Aktfigur zwar weiterhin bewahrt, durch das Abrücken und die eher androgyne Ausformung der Skulptur wird es aber zurückgenommen.
Künstlerimages und Männlichkeitsrepräsen tationen – Ernst Ludwig Kirchner: Das »Zelt« im Atelier Körnerstraße 45 in Berlin, um 1914/15 Im Jahr 1914, nach der Auflösung der Brücke-Gruppe, wechselte Ernst Ludwig Kirchner sein Quartier in Berlin und richtete an der neuen Adresse Körnerstr. 45 ein weiteres Atelier ein. Im Hauptraum des Studios fotografierte er »Freunde und Bekannte«, die sich hier regelmäßig einfanden (Strzoda 2006: 208). Neben dem Hauptraum verfügte die Wohnung über zwei Mansard-
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Zimmer. Die Fotografie Das Zelt (Abb. 3) zeigt einen dieser Anräume und kennzeichnet ihn durch den Titel in seiner Gestaltungsform. Eine Supraporte aus besticktem Leinenstoff umzieht die Dachschrägen und das sie verbindende Deckenstück, auf diese Weise die Umrisse eines Zeltes beschreibend. Zu beiden Seiten des engen Raumes sind Diwane mit bestickten Überwürfen aufgestellt, ein schmaler Tisch mit Tischdecke ist in die Mitte gerückt. Im Vordergrund ist, halb angeschnitten, die Skulptur einer Schalenträgerin zu erkennen; komplettiert wird die Einrichtung durch einen sogenannten Leoparden-Hocker und einen Kamerun-Stuhl mit geschnitzter Armlehne. Neben den Dingen ist es hier der Raum als Ganzes, das Zelt als »primitives« Haus und Zu-Hause, das den Charakter des »Wilden« trägt. Der Architekturtypus des Zeltes hat in der europäischen Kunst- und Architekturgeschichte eine lange Tradition. Als sogenannte Folies, Lusthäuser oder Grabmäler wurden Zeltbauten in Gartenplanungen von Residenzanlagen integriert (Bußmann 2009: 38/39). Im 19. Jahrhundert begründete Gottfried Semper mit seinem Prinzip der Bekleidung in der Baukunst einen Zweig der Architektur theorie, der den Ursprung der Architektur vom Textilen ableitete (Semper 2008 [1860]: 217ff. und 227 ff.). Die »reich geschmückte Zeltarchitektur der Nomaden«, die Semper in seinem Hauptwerk Der Stil als eine Urform der Behausung benennt, gehörte auch zum visuellen und erzählerischen Repertoire von Reiseberichten, die Imaginationen der »Fremde«, dabei zunehmend vom sogenannten Orient entwarfen. Das Album d’Afrique du Nord des Malers Eugène Delacroix, der 1832 als Begleiter des Grafen de Mornay in diplomatischer Mission Algerien und Marokko bereiste, enthält Zeichnungen und Aquarelle, die Zeltlager oder zeltförmig gestaltete Interieurs vorstellen (Strzoda 2006: 239). Nach der Rückkehr der Delegation sollten diese Aufzeichnungen auf die Planung der Wohnräume des Grafen übertragen werden (Strzoda 2006: 241). Bereits zwei Jahrzehnte zuvor hatte Karl Friedrich Schinkel bei seinen Entwürfen für die Schlafzimmer der preußischen Königin Luise im königlichen Palais sowie im Schloss Charlottenburg in den Wandbespannungen und Draperien auf die Zeltform zurückgegriffen (Börsch-Supan 2011: 101ff.). Neben der Anschauung, die diese architektonisch-künstlerischen Vorbilder boten, ließen sich Formen des Zeltes auch anhand vielfältiger literarischer und wissenschaftlicher Quellen (Strzoda 2006: 229) und der Ausstellung importierter Originale studieren: Auf der Dresdener Hygieneausstellung von 1911 etwa wurden zwei »originale« Beduinenzelte gezeigt (Strzoda 2006: 239). An ein solches Beduinenzelt als Behausung von Wüsten-Nomaden mit seinen gewebten Anteilen aus Wolle, Baumwolle und Kamel- oder Ziegenhaar (Lexikon der Bautypen 2006: 574) fühlt sich Erika Billeter bei der Ausstattung des Mansard-Zimmers in Kirchners Atelier erinnert (Billeter 1979: 16). Gerade an die Wüste als einem außerhalb der Zivilisation gelegenen primordialen Raum hefteten sich Aus-
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Abb. 3: Ernst Ludwig Kirchner, Das »Zelt« im Atelier Körnerstraße 45 in Berlin, um 1914/15
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bruchs- und Selbsterfahrungsphantasien moderner Künstler. Für das europäische Künstler-Subjekt, so Birgit Haehnel, werden seit dem 19. Jahrhundert die weiten und »leeren« Landschaften Arabiens zum immateriellen Denk-und Vorstellungsraum, der im Westen bereits verstellte Existenzerfahrungen erlaube. »Es (das Künstler-Subjekt) zieht nicht mehr als Eroberer im Kampf mit einer weiblich imaginierten Natur hinaus in die Welt, sondern als Abenteurer, Weltenbummler und schließlich als nomadisierender Künstler, der das Absolute in der Wüste erfahren möchte«. (Haehnel 2004: 67) Das Zelt als mobile Unterkunft und Witterungsschutz war für die Brücke-Künstler bei ihren Arbeitsaufenthalten am Strand von Dangast oder Fehmarn ein funktionales Utensil, das gelegentlich auch Eingang in die Bilder fand (Strzoda 2006: 233ff.). Im Ölbild Das Zelt und in der Fotografie gleichen Titels wandert das nomadische Zuhause ins Interieur und wird zum Zeichen eines Künstler-Wohnens, das aus dem Imaginationsvorrat der Orientphantasien schöpft. Das Ölbild bindet die Darstellung des Zeltes in die bekannte Konstellation von Künstler und Modell ein, welche das Atelier zum geschlechtlich codierten Raum werden lässt (O’Doherty 2012: 66). Die Fotografie dagegen führt das Zelt als zum Wohnen bereiteten Innenraum ohne Bewohnerinnen und Bewohner vor. Auf einer weiteren Aufnahme des Anraumes, die einen nicht näher identifizierten Mann vorstellt, sind durch die extreme Naheinstellung auf die Person nur noch Details der Ausstattung zu erkennen, so dass allein ein Vergleich mit der Gesamtdarstellung die Zuordnung zum Zelt erlaubt. Sich selbst zeigt Ernst Ludwig Kirchner dort nicht. Stattdessen tritt er auf einem Selbstporträt auf, das im Hauptraum der Wohnung aufgenommen wurde. Dort, wo auf anderen Bildern das fröhlich-ausgelassene Treiben des Bohème-Zirkels vorgeführt wird, posiert Kirchner 1915 in der Uniform des Artillerieregimentes, zu dem er sich bei Kriegsbeginn gemeldet hatte (Strzoda 2006: 209; Sadowsky 2015: 20). Diese Selbstinszenierung, die wie ein Einbruch disziplinierender Ordnungsmacht in das programmatisch disziplinlose Künstlerleben anmutet, scheint die beschriebenen Bildfindungen, die im Kontext eines avantgardistischen Primitivismus-Konzeptes stehen, auf irritierende Weise zu konterkarieren. Tatsächlich standen die Erwartungen einer Reinigung und Erneuerung, die eine Vielzahl von zum Kriegsdienst antretender Männer an das Soldatentum richteten, aber keineswegs in einem grundsätzlichen Widerspruch zu den Hoffnungen auf das Unverfälschte, die Avantgarde-Künstler mit Mythen der Andersheit im Zeichen des »Wilden« verknüpften. Bilder soldatischer Männlichkeit gehörten vielmehr zum visuellen Repertoire, aus dem sich die Avantgarde zur Behauptung von Autorschaft bediente. In ihrer Untersuchung zu den Heldenkonstruktionen Wassily Kandinskys zeichnet Kathrin Heinz die
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Romantisierung der Ritterfigur in der Kunst des 19. Jahrhunderts nach, die im Zuge des wilhelminischen Imperialismus zur Identifikationsfigur heroischer Virilität stilisiert wurde (Heinz 2015: 183ff.). »Die Künstler der Avantgarde«, so Heinz am Beispiel des Blauen Reiters, »(gingen) mit den virilen Konstruk tionen des Heroischen der Zeit durchaus konform [...], indem auch sie sich der dominanten heldischen Narrative bedienten, sie transformierten und fortschrieben« (Heinz 2015: 233). Der von den Künstlern proklamierte Neu anfang in der Kunst brauchte die Figur des männlichen Kämpfers, um dieses Ziel verwirklichen zu können. In der zu Beginn zitierten Schrift Franz Marcs Die Wilden Deutschlands verbindet dieser konsequent das antizivilisa torische »Wilde« mit dem militärisch Kämpferischen. Wenn Kirchner sich also im »Soldatenkostüm« präsentiert, wechselt er nicht die Seiten, indem er sich in den Dienst einer reaktionär-imperialistischen Staatsideologie stellt, sondern übernimmt vielmehr die Rolle im Repertoire der Imagekonstruktionen, die für die Protogonisten des »Neuen« in der Kunst zur Verfügung standen. Auch wenn der heroische Auftritt im Selbstporträt als Soldat durch die unscharfe Wiedergabe des Gesichtes gemildert und damit eine Distanzierung von Person und Habitus vorgenommen wird (Gockel 2011: 59/60), rückt Kirchner sich, mit Jacques Lacan gesprochen, durch die Pose »in eine Funktion ein«, die vom kulturellen Bilderrepertoire vorgegeben ist und zeigt sich so, wie es zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich und wünschenswert war (Silverman 1997: 49).
Fazit Wie im ersten Teil dieses Textes festgestellt, sind die Fotografien der Atelierräume Ernst Ludwig Kirchners keine Nebenprodukte seiner Arbeit, sondern können als aussagekräftiger Teil des Gesamtwerkes betrachtet werden. Bettina Gockel misst in gegebenem Zusammenhang gerade dem Medium Fotografie aufgrund seiner Indexeffekte eine spezifische Bedeutung für Narrative der Künstlerexistenz und deren Wahrheitsanspruch bei: »Die seit der Erfindung der Fotografie mit diesem Medium einhergehende Erwartungshaltung, es könne Realität abbilden, verführte dazu, Selbstbilder, ja auch Wunschbilder der künstlerischen Existenz ins Bild zu setzen und diesem Bild eine unmittelbare Evidenz zu verleihen. Fotografie ist so neben der erzählten und konstruierten Anekdote des Künstlerlebens und zusätzlich zur Künstlerlegende eines der nachhaltigsten Mittel geworden, mit
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denen Künstler Topoi ihres Lebens und Werks an Zeitgenossen und Nachwelt vermittelten.« (Gockel 2011: 51) Zu diesen über die Fotografie vermittelten Topoi müssen auch Wohn- und Arbeitsräume gezählt werden. Die Aufnahmen von Kirchners Ateliers zeigen, wie gerade Inszenierungen von Raum, Ding- und Subjektkonstellationen, die in ein als »Zeigekomplex« (Nierhaus 2016: 15) organisiertes Wohnen ein gebunden sind, spezifische Künstlerimages – hier im Bezug auf die Phantasmen des »Wilden« – (mit-)begründen helfen.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1 : Ernst Ludwig Kirchner, Sam und Milly im Atelier Berliner Straße 80 in Dresden, aus: Strzoda (2006), S.79. Fotografie: Fotoarchiv Kirchner Museum Davos. Abb. 2: Ernst Ludwig Kirchner, Erna und Ernst Ludwig Kirchner im Atelier Durlacher Straße 14 in Berlin, aus: Strzoda (2006), S.172. Fotografie: Fotoarchiv Kirchner Museum Davos. Abb. 3: Ernst Ludwig Kirchner, Das »Zelt« im Atelier Körnerstraße 45 in Berlin, aus: Strzoda (2006), S.225. Fotografie: Fotoarchiv Kirchner Museum Davos.
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Abb. 1: Joshua Reynolds, Omai, 1776, 236 × 145,5 cm, Öl auf Leinwand, National Gallery of Ireland, Edinburgh
Bodies of Subversion? | Sabine Kampmann
Bodies of Subversion? Die inkorporierte Wildheit der Tätowierung Sabine Kampmann Die Tätowierung am weiblichen Körper kann als Ausdruck einer alternativen und subversiven Körperästhetik begriffen werden, so Christine Braunberger in ihrem Essay »Revolting Bodies: The Monster Beauty of Tattooed Women« (Braunberger 2000). Braunberger rekurriert auf Margot Mifflins erstmals 1997 erschienenes Buch Bodies of Subversion, in dem diese eine Geschichte tätowierter (und tätowierender) Frauen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts schreibt und dabei das Interesse von Frauen an Tattoos mit den verschiedenen Wellen feministischer Bewegungen parallel liest (Mifflin 2013: 7). Auch für heutige Frauen, so Mifflin, sei die Tätowierung Ausdruck von Selbstermächtigung und körperlicher Selbstbestimmung angesichts aktueller Diskurse über sexuelle Belästigung, Vergewaltigung oder Abtreibung (Mifflin 2013: 4). Braunberger entwickelt diese Gedanken Mifflins zu ihrer These von Tattoos als »revolutionary aesthetics for women« weiter, indem sie das Konzept der monster beauty (Joanna Frueh) auf das Tattoo bezieht (Braunberger 2000: 3). Das Aufgreifen der gegenkulturellen Körperpraktik des Tätowierens wende sich dezidiert gegen traditionelle kulturelle Einschreibungen in den weiblichen Körper. Statt als »rein«, würden tätowierte Frauen als unheimlich, furchterregend, hypersexualisiert, freaky und monströs wahrgenommen (Braunberger 2000: 18). Auch wenn man daran glauben möchte, dass der Tätowierung eine revolutionäre Ästhetik innewohnt, ist es doch fast zwanzig Jahre nach Erscheinen der genannten Texte an der Zeit, diese These zu überprüfen. Denn wir befinden
1 | 30% der Frauen zwischen 16 und 29 Jahren
Kurzbericht vom 8. Juli 2014, http://www.
waren (im Gegensatz zu lediglich 18% der
ifd-allensbach.de/uploads/tx_reportsndocs/
Männer) im Jahr 2014 tätowiert. Institut
PD_2014_12.pdf (Stand: 16.11.2016).
für Demoskopie Allensbach: Allensbacher
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uns in Europa in einer Phase des Tattoo-Booms, der in den 1980er Jahren einsetzte und seitdem, seit etwa vierzig Jahren, weiter im Aufwärtstrend begriffen ist. Heute sind etwa 13% der Gesamtbevölkerung in Deutschland tätowiert und der prozentuale Anteil tätowierter Frauen nimmt weiterhin stetig zu.¹ Kann man angesichts dieser rasanten Verbreitung der Tätowierung überhaupt noch von einer alternativen oder gegenkulturellen Praktik sprechen? Zur Klärung dieser grundlegenden Frage sollen die Zusammenhänge von tätowierten Körpern und Geschlecht ebenso wie die Zuschreibungen von Tätowierungen als wild, fremd oder exotisch in den Blick genommen werden. Inwieweit spielten und spielen kolonialistische Diskursmuster der Abgrenzung des Eigenen vom Fremden in Bezug auf das Tattoo eine Rolle? Welche Interferenzen zwischen Wildheit und Weiblichkeit ergeben sich? Die Formulierung einer inkorporierten Wildheit der Tätowierung stellt dabei meine Arbeitshypothese dar und ist inspiriert von der spezifischen Körper praxis des Tätowierens. Denn die Tattooentstehung ist mit Verletzung, Schmerzen und Blut untrennbar verbunden und schreibt das Bild, das Muster oder die Schrift unmittelbar in den Körper ein. Alfred Gell hat beschrieben, dass in Hinblick auf die Durchführung der Tätowierung drei Phasen wichtig sind: die Trennungsphase, in der die Verwundung, das Teilen der Haut stattfindet, die Schwellenphase, in der die Haut wieder heilt und die Integra tionsphase, in der die Tätowierung zu einem unauslöschlichen Zeichen auf beziehungsweise unter der Haut geworden ist (zit. n. Schüttpelz 2006: 47 ). Der Akt einer solchen Bildentstehung kann durchaus als wild oder archaisch empfunden werden. Darüber hinaus verstehe ich die inkorporierte Wildheit der Tätowierung auch als eine Einschreibung kulturgeschichtlicher Konnotationen bis in die Gegenwart. Deshalb möchte ich im Folgenden die umfangreiche und weitverzweigte kulturhistorische Tradition der Tätowierung in einigen ausgewählten Aspek ten entfalten und auf textuelle und visuelle Diskursmuster untersuchen. Dabei geraten unterschiedliche Phasen der Entdeckung, Neubelebung oder auch Renaissancen der Tätowierung in den Blick. Beginnend bei den Südseeexpeditionen des 18. Jahrhunderts, wird der Blick auf die Jahrmärkte des 19. Jahrhunderts ebenso wie die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verdichtenden Kriminalitätsdiskurse gerichtet, um mit einem Seitenblick auf die Modern Primitives der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorerst zu enden.
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Reisen in die Südsee Das vorherrschende Diskursmuster zur Geschichte der Tätowierung lautet bis heute, dass die Tätowierung im Rahmen der Südseeexpeditionen des 18. Jahrhunderts »entdeckt« und dann in Europa verbreitet wurde – auch wenn dies keineswegs den Tatsachen entspricht. Es konnte sich auch deshalb durchsetzen, weil die europäischen Traditionen des Hautstichs zwischen dem 12. und 18. Jahrhundert weitgehend in Vergessenheit geraten waren (Oettermann 1979: 18). Heute weiß man jedoch von tätowierten Mumien und steinzeitlichem Tätowierwerkzeug, von der Tradition der Kennzeichnung von Kriminellen und Sklaven bei Griechen, Römern und Kelten ebenso wie von den frühneuzeitlichen Pilgertätowierungen, die die Reisen nach Palästina oder Loreto bestätigen (Caplan 2000; Frank 2009: 170; Oettermann 1979). Allerdings lassen sich kaum Zeugnisse des Fortbestehens des Hautstichs in Europa finden. Als Gründe dafür werden die negativ konnotierte Praxis der Brandmarkung vermutet, die die »Guten« von den »Bösen« unterscheiden sollte, ebenso wie die Ablehnung durch die Kirche (Oettermann 1979: 14, 18). Deshalb konnte der Kontakt mit den Tattoos der Südsee zu einer »(Wieder-) Begegnung sowohl mit einer fremdkulturellen Praktik als auch mit einer vielschichtigen abendländischen Tätowiertradition« führen (Frank 2009: 165). Entscheidend für die Entstehung des Diskurses war dabei die Etablierung eines Begriffs für dauerhafte Bilder unter der Haut. Während in Europa verschiedene Wörter wie etwa »punktieren«, »bemalen« »einstechen« oder »prikschilderen« kursierten (Oettermann 1979: 9), wird in den zwischen 1771 und 1773 publizierten Berichten über Cooks Weltumseglung erstmals das Wort tattow beziehungsweise tatau verwendet (Frank 2009: 168). Neben Cooks Reiseberichten sorgte die zeitgleich publizierte Schrift Voyage autour du monde von Jean Pierre de Bougainville, der die erste Weltumseglung unter französischer Flagge leitete, für eine Diskussion der Tätowierpraxis. Bougainville vergleicht dabei das Färben von Schenkeln und Gesäß der tahitianischen Frauen mit dem Schminken der Europäerinnen. Ob rote Wangen oder dunkelblaue Schenkel – beides sei Schmuck und Zeichen der Distinktion und auf Tahiti bei Frauen ebenso wie auch bei Männern anzutreffen (Frank 2009: 166). Zugleich hat Bougainvilles Reisebeschreibung das Bild Tahitis als Südseeparadies geprägt. Er skizziert eine paradiesische Gartenlandschaft, in der Menschen in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Natur leben und sich durch eine ungehemmte Sexualität und Polygamie auszeichnen – New Cytherea nennt Bougainville dementsprechend die Insel, in Anspielung auf Kythera, den Geburtsort der Göttin Aphrodite aus der griechischen Mythologie (Kohl 1981: 211; Frank 2006: 105-109).
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Nicht nur im Rekurs auf Kythera und den locus amoenus rekurriert Bougainville dabei auf die Antike, sondern auch in der Beschreibung der Sitten und des Aussehens der Menschen, die ihm wie griechische Götter- und Heroen gestalten erscheinen (Kohl 1981: 211). Ähnlich antikisierende Beschreibungen sind in einem etwa 40 Jahre später erscheinenden Reisebericht von Georg Heinrich von Langsdorff zu lesen, der an der russischen Weltumseglung unter Adam Johann von Krusenstern von 1803 bis 1807 teilgenommen hatte: »Die Einwohner (von Nukaiva), besonders die Männer, sind von ganz vorzüglicher Schönheit, größtenteils von athletischem Wuchs mit männlichem Anstand und Stärke. Über alles hat mich ihre Tätowierung überrascht. Die Regelmäßigkeit, und ich möchte sagen, der Geschmack der Figuren, welche im Ganzen eine auffallende Ähnlichkeit mit unseren à la Grecque haben, sollte einem guten Zeichner Mühe machen, sie getreu darzustellen. Ihr ganzer Körper vom Kopf bis zu den Füßen ist über und über mit diesen Figuren bedeckt, wodurch die ohnehin schöne Bildung dieser Menschen weit mehr als durch Anzug oder Schmuck erhöht wird.« (zit. n. Oettermann 1979: 31) Bei Langsdorff wird die Figur des griechischen Heros mit derjenigen des guten Wilden überblendet – ein Amalgam, in dem auch die Tätowierung ihren Platz findet. Die Bewohner der Marquesasinsel Nuku Hiva werden als von großer äußerlicher wie auch innerlicher Schönheit beschrieben – ein harmonisches Erscheinungsbild, das durch die den ganzen Körper überziehenden Tätowierungen sogar noch erhöht werde. Dabei rekurriert Langsdorff auf jene »Legende vom Guten Wilden«, die sich vermittelt über die fiktive Reiseliteratur des 17. Jahrhunderts in Frankreich herausgebildet hatte, welche wiederum auf dem ethnographischen Beobachtungsmaterial der Entdeckungsreisenden und Missionare seit dem 16. Jahrhundert basiert (Kohl 1981: 33). Auch die Aufklärungsphilosophie, allen voran Jean Jacques Rousseau, trägt dazu bei, jenes positive Gegenbild der Wilden zu entwerfen, deren Leben sich vermeintlich im beziehungsweise nahe am gesellschaftlichen Naturzustand abspiele (Kohl 1981: 173-174). Harmonie, Glück und Unschuld sind die Schlagwörter, mit denen das Leben in den Südseeparadiesen – mit Foucault als Heterotopien zu verstehen – beschrieben wird (Kohl 1981: 33; Frank 2006: 100-101). Und die Tätowierung wiederum wird als körperlich visuelles Indiz der Nähe zum Naturzustand gedeutet, »als ein universelles Kennzeichen ›primitiver Kultur‹« – bei den wilden Vorfahren der Europäer wie den Pikten ebenso anzutreffen, wie noch im 18. Jahrhundert bei den Südseeinsulanern (Frank 2009: 166-167).
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… »echte« Wilde Neben der begrifflichen Fixierung und Diskursivierung der Körperpraktik der Tätowierung fand die Verbreitung von Tätowierungen über den globalen Transfer tätowierter Körper ebenso wie von Bildern von Tattoos statt. Seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts wurden mit dem Aufkommen der Menagerien nicht nur exotische Tiere, sondern auch Menschen nach Europa importiert und ausgestellt. Auch Tätowierte gehörten dazu, die an den Fürstenhöfen als Kuriositäten bestaunt, von Sprach- und Naturforschern untersucht und schließlich gegen Eintrittsgeld weiteren Kreisen Neugieriger präsentiert wurden (Oettermann 1979: 29). Oettermann vermutet in dem sogenannten Prinzen Jeoly (auch Giolo) den ersten tätowierten Südseeinsulaner in Europa, der bereits 1691 von dem Abenteurer William Dampier nach London verschleppt und dort ausgestellt wurde (Oettermann 1979: 22-24). Als lebende Exemplare »Guter Wilder« galten der Junge Aoturu, den Bougainville 1769 von seiner Weltumseglung mit nach Paris brachte und schließlich der 1774 mit der Expedition Cooks nach London reisende Tahitianer Omai (Oettermann 1979: 21-22). Omai galt »als leibhaftige Verkörperung der Diskursfigur des Edlen Wilden« und machte als »natural gentleman und Salonlöwe Furore«, so Viktoria Schmidt-Linsenhoff. Sein Erscheinungsbild fand über zahlreiche Reproduktionen Verbreitung und er wurde von so berühmten Künstlern wie Joshua Reynolds porträtiert (Schmidt-Linsenhoff 2010: 273). Reynolds stellt Omai in seinem lebensgroßen Porträt in würdevoller Haltung im klassischen Kontrapost barfüßig vor einer Landschaft dar. (Abb. 1) Er ist in ein weißes, vielfach drapiertes Phantasiekostüm mit Turban gehüllt, und lediglich Hände und Arme sind mit dezenten, aus Punkten und kurzen Strichen zusammengesetzten Mustern tätowiert. Im Vergleich zu anderen nach Europa verschleppten vermeintlichen Wilden fallen die Tätowierungen eher spärlich aus, werden durch den Zeigegestus der rechten und den weißen Hintergrund der linken Hand jedoch wirkungsvoll in Szene gesetzt. Das Bildnis stellt weniger das Porträt der historischen Person Omai dar, sondern setzt die Vorstellung eines noble savage in Szene. Dabei sind es die dargestellten Tattoos, an denen sich die Diskussion über Würde oder Abwertung des Dargestellten entzündet. Harriet Guest, die die unterschiedlichen Zuschreibungen an Tattoos in der britischen Rezeption des Südpazifiks im 18. Jahrhundert untersucht hat, betont den den Tattoos eingeschriebenen Exotismus. Im Bildnis Reynolds sei Omai als ein exotisches, feminisiertes Objekt der Neugierde dargestellt, was Guest mit dem Diskursmuster eines Zusammenhangs von Ornament und Feminisierung begründet (Guest 2000: 87, 90). In der Tat findet sich in einer Rede Reynolds’ der Vergleich zwischen dem unvernünftigen Schmucktrieb der Südseeinsulaner mit demjenigen der
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englischen Ladies – ein Motiv, das auch bei Bougainville auftaucht und das für den Diskurs um Tätowierung, Ornament und Verbrechen des 19. Jahrhunderts noch eine große Rolle spielen wird (Schmidt-Linsenhoff 2010: 285).
… beachcomber Neben diesen vermeintlich »echten« Wilden spielen für die Neubelebung des Hautstichs in Europa die so genannten runaways oder beachcomber eine wichtige Rolle. Dabei handelt es sich um Schiffbrüchige, Deserteure oder Meuterer von Forschungs-, aber auch Kriegs-, Handelsund Walfangschiffen, die, um ihr Überleben zu sichern, eine einzigartige Bindung an die indigene Gesellschaft eingegangen sind und von den SüdAbb. 2: Alexander Orlowski, Jean Baptiste Cabri in der Pose eines seeinsulanern tätowiert wurden (Frank 2009: Schleuderers, um 1812, Kupferstich 88, 176). Als Lotsen, Informanten und Übersetzer übernahmen sie wichtige Vermittlungsfunktionen, wurden von den Expeditionszeichnern verbildlicht und kehrten teils mit nach Europa zurück (Oettermann 1979: 38-39). Einer dieser beachcomber war der um 1780 in Frankreich geborene Jean Baptiste Cabri, der mit einem Walfänger vor Nuku Hiva Schiffbruch erlitten hatte und von den Inselbewohnern aufgenommen wurde. Seinem eigenen 1817 verfassten Bericht zufolge, heiratete er die Tochter eines Häuptlings, wurde tätowiert und lebte insgesamt neun Jahre auf der Insel, bis er 1804 mit der Krusensternschen Expedition zurück nach Europa segelte (Oettermann 1979: 41-42). Cabris tätowierter Körper wurde von dem die Expedition begleitenden Naturforscher Wilhelm Gottlieb Tilesius von Tilenau gezeichnet, eine Zeichnung auf der wiederum der Kupferstich von Alexander Orlowski basiert. (Abb. 2) Dem antikisierenden Modus gemäß, mit dem Fremdes für die eigene Kultur und Erfahrung anschlussfähig gemacht wurde, ist Cabri in der Pose eines Schleuderers dargestellt. Sein athletischer, aber nicht idealer Körper, der nur mit einem Lendenschurz bekleidet ist, posiert vor einer Insellandschaft und gibt zahlreiche Tätowierungen zu sehen. Arme und Beine sind von Spiralornamenten überzogen, Bauch und vor allem Brust und Schultern von auffälligen parallelen Streifen und die hinter dem Rücken gespannte Schleuder scheint dieses Streifenornament fortzusetzen. Am auffälligsten
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ist jedoch seine Gesichtstätowierung, die die Augen maskenartig umrahmt und den ernsten Blick unheimlich wirken lässt. Das zerzauste Haupthaar über der hohen Stirn scheint dabei das »Wilde« des Mannes bekräftigen zu wollen, denn wie die Bildunterschrift in Langsdorffs Bemerkungen auf einer Reise um die Welt besagt, handelt es sich hier um das »Bildniß des auf der Insel Nukahiwa gefundenen und verwilderten [Hervorh. SK] Franzosen, Jean Baptiste Cabri, als Schleuderer vorgestellt« (zit. n. Frank 2009: 177). Die beachcomber als Grenzgänger zwischen den Kulturen sind auch deshalb besonders interessant, weil sie, einmal tätowiert, auch nach ihrer Rückkehr nach Europa Außenseiterfiguren blieben. Cabri ist hierfür das beste Beispiel. In Russland angekommen, trat er zunächst vor Wissenschaftlern und Adeligen als Kuriosität auf und zeigte auf den Bühnen in Moskau und St. Petersburg Tänze der Polynesier. Auf seinem Rückweg nach Frankreich wurde Cabri schließlich zur Kirmes-Attraktion auf Jahrmärkten – er kann als der erste tätowierte Freak der Jahrmärkte gelten (Frank, 2009: 92, 180-181). Eine um 1818 entstandene Zeichnung zeigt ihn in einem Phantasiekostüm mit riesigem Federbusch auf dem Kopf und mit zusätzlichen, offenbar in Europa entstandenen Tätowierungen an den Beinen. (Abb. 3)
… Seeleute
Abb. 3: Anonym, Josef Kabris, Nativ de Bourdeaux, vice-Roi et Grand Juge des Iles de Mendoça, um 1818/19
Die letzte Personengruppe, die am globalen Transfer tätowierter Körper im späten 18. Jahrhundert wesentlichen Anteil hatte, sind die Seeleute. Bereits von den ersten Südseeexpeditionen ist bekannt, dass sich einige Matrosen von den Insulanern tätowieren ließen. Es mag tatsächlich am chronischen Mangel der Seeleute an Privatsphäre und Besitz gelegen haben, dass sie sich mit dem Tätowieren eine besondere Form des Selbstausdrucks und des Sammelns aneigneten (Thomas 2005: 19-20). Und es klingt einleuchtend, dass »die ersten modernen Seemannstätowierungen […] aus einer Säkularisierung der christlichen Pilgertätowierungen entstanden« sind, so Schüttpelz, der hier den Thesen Oettermanns und Caplans folgt (Schüttpelz 2006:
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20-21). Durch den Mythos der Südsee als irdischem Paradies und die Gefähr lichkeit der Reise konnte eine Analogie zur christlichen Pilgerreise hergestellt und das Stechen von Südseetätowierungen gerechtfertigt werden. Die Tattoomotive, die sich die Seeleute stechen ließen, sind visuell kaum überliefert. Man kann jedoch davon ausgehen, dass es von Anfang an zu einer »Interferenz von Südseetechnik und europäischer Bildvorstellung« kam (Oettermann 1979: 46). Anstatt die komplizierten Ornamente tahitianischer Tätowierungen eins zu eins zu übernehmen, verlangten die Matrosen Bilder, die ihren Vorstellungen typischer Südseemotive entsprachen. Durch die Analogie zum Paradies wurden etwa Palme, Eva und die Schlange aus der christlichen Paradiesszene zu beliebten Tattoomotiven, die auch in der sich entwickelnden europäischen Tattooikonographie im 19. Jahrhundert ihren Platz fanden und bis heute verbreitet sind (Oettermann 1979: 52-55). Mit den Reisen in die Südsee setzte also im späten 18. Jahrhundert ein diskursiver ebenso wie ein visueller globaler Verbreitungsprozess der Tätowierung ein (Schüttpelz 2006: 14-15). Der globale Transfer betraf Technik ebenso wie Motivik des Hautstichs und vollzog sich über Begriffe, Bilder und menschliche Körper. Die Träger der Tätowierungen waren in der Regel männlich. Und auch die Visualisierungen vermeintlich edler Wilder orientierten sich durch das Ideal der Antike am männlichen Geschlecht. Während verschleppte Südseeinsulaner wie Omai als »edle Wilde« in Szene gesetzt wurden, galten beachcomber wie Cabri als »verwilderte Europäer«. Und die Seeleute trugen die Beweise ihrer Abenteuer, des interkulturellen Kontakts mit den »Wilden«, unter der Haut in die Welt. Dies führte zu einer rasanten Verbreitung der Tätowierung in Europa und zur ersten Tätowierungsmode – schätzungsweise 20% der europäischen Gesamtbevölkerung waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts tätowiert (Schüttpelz 2006: 58-59). Die Tattoomode fand jedoch nicht öffentlich statt, sondern ging mit der Etablierung einer Gegenwelt einher (Oettermann 1979: 77). Diese Gegenwelt war der Jahrmarkt.
Jahrmarktattraktionen Der Jahrmarkt war im 19. Jahrhundert ein Ort des Vergnügens, an dem unter anderem Zirkuskunststücke, exotische Tiere und Menschen sowie Abnormitäten für die Unterhaltung einer verstädterten Arbeiterbevölkerung sorgten. Nachdem sich Cabri bereits in den 1810er Jahren als Schausteller seiner selbst verdingt hatte, wurde in den 1830er Jahren der Engländer John Ruther ford mit seinem »travelling caravan of wonders« zur Kirmesattraktion (Oettermann 1979: 75). Auch Rutherford war vermutlich ein beachcomber, dessen
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Körper Tattoos im tahitianischen Stil aufwies und dessen Gesicht mit den Moko der Maori verziert war. Rutherford steuerte seine Vermarktung, indem er seine fiktive Biographie über Reklamezettel, Zeitungen und sogar ein eigenes Buch mit dem Titel The great white Chief John Rutherford verbreitete (Oettermann 1979: 78). Er hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Geschichte von Gefangenschaft und Tätowierung unter Zwang zum unabdingbaren biographischen Muster der tätowierten Schausteller des 19. Jahrhunderts in Europa und Amerika wurde. Während die Tätowiergeschichten zunächst auf den Inseln der Südsee spielten, verlagerten sie sich mit den berühmten amerikanischen Ganzkörpertätowierten Georgius Constantin und John Hayes in den Wilden Westen. Nun sind angeblich nordamerikanische Indianer für die Zwangstätowierungen verantwortlich (Oettermann 1979: 80). Diese Geschichten von Kidnapping und Zwangstätowierung waren auch für die seit den 1880er Jahren auf den Jahrmärkten auftretenden Abb. 4: Irene Woodward, 1880er Jahre, weiblichen Tätowierten kompatibel. Wurden Fotografie in den 1860er und 1870er Jahren lediglich Daguerreotypien tätowierter Frauen gezeigt, betraten sie nun mit Nora Hildebrandt oder Irene Woodward leibhaftig die Bühnen (Braunberger 2000: 9). (Abb. 4) Woodwards biographische Legende, die vor den Vorführungen erzählt und auf Flugblätter gedruckt wurde, lautete wie folgt: Ihr eigener Vater habe sie tätowiert, um sie so vor den Siouxindianern zu retten, von denen bei-
2 | Die biographischen Legenden rund um
Indianern entführt und nach einem Jahr an
Kidnapping und unfreiwillige Tätowierung
den Stamm der Mohave verkauft worden. Von
knüpfen einerseits an die mit Mary Row-
diesen wurde sie offenbar in die Familie aufge-
landson etablierte Gattung der captivity
nommen und an Kinn und Armen tätowiert.
narratives an, anderseits liegt ihnen mit der
Nach ihrer Befreiung nach insgesamt fünf
Lebensgeschichte Olive Oatmans auch ein
Jahren tingelte sie zusammen mit einem Me-
reales Vorbild zu Grunde. Oatman war 1851 als
thodistenpfarrer durch Schulen und Kirchen,
14jähriges Mädchen während einer Reise mit
in denen sie ihre Geschichte erzählte und sich
ihrer Familie Richtung Kalifornien von Yavapai
selbst zur Schau stellte (Mifflin 2013: 16-17).
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de entführt worden waren. In Wirklichkeit jedoch war sie von jenem berühmten Tätowierer Samuel O’Reilly tätowiert worden, der 1891 die elektrische Tätowiermaschine erfand (Mifflin 2013: 15-16).² Auf der Fotografie für einen Werbezettel posiert Woodward als selbsternannte »Original Tattooed Lady« in einem ornamental überbordenden Interieur. Ihr von etwa 400 Einzelmotiven überzogener Körper ist mit einem reichhaltig verzierten Korsett bekleidet und mit Schmuck behängt – von Ketten über Armbänder und Ringe bis zu einem auffälligen Diadem auf der kunstvollen Lockenfrisur. Durch den über ihren Stuhl drapierten Teppich und die Wandgestaltung im Hintergrund scheinen die Muster und Ornamente auf ihrer Haut mit denen des Umraums beinahe zu verschmelzen. Die Fotografie zeigt für damalige Verhältnisse unerhört viel nackte Haut und kündigt an, was die Besucher der amerikanischen Dime Museums, in denen Woodward auftrat, erwartete: Ein Spektakel aus Exotik und Erotik entlang des tätowierten weiblichen Körpers, eine »peep show within a freak show« (Mifflin 2013: 14). Irene Woodward alias »La Belle Irene« war zu ihrer Zeit eine Berühmtheit. Sie trat in den verschiedenen Vergnügungsetablissements New Yorks auf, von Bunnell’s Museum über das Globe Dime Museum bis zum Harlem Museum und ging in den 1890er Jahren auf Europatournee. Ihr Auftritt und die Motive ihrer Tattoos wurden in der New York Times beschrieben, sie wurde von Wissenschaftlern und Anthropologen begutachtet und bis zu ihrem Tod 1915 durch 38 Wachsfiguren in verschiedenen europäischen Museen verewigt (Mifflin 2013: 12-13). Ihren Erfolg verdankt Woodward dabei auch der sich um die Jahrhundertwende vollziehenden Professionalisierung des Schaustellergewerbes, wie an den Sideshows eines Phineas Taylor Barnum zu sehen. Woodwards Gage von 100 Dollar pro Woche war dabei deutlich höher als diejenige von Artisten oder Schauspielern (Mifflin 2013: 14). Außerdem war sie in der Lage, ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen und durch die Welt zu Reisen. Dadurch, dass Gesicht und Hände stets untätowiert blieben, konnten die tattooed ladies in bekleidetem Zustand unerkannt bleiben und am »normalen« gesellschaftlichen Leben teilnehmen (Braunberger 2000: 11-12). Die am ganzen Körper tätowierte Frau stellte um die Wende zum 20. Jahrhundert also bereits ein etabliertes Geschäftsmodell dar. Braunberger und Mifflin beschreiben dementsprechend die tattooed ladies als autonome und selbstbestimmte Vertreterinnen einer radikalen Körperpolitik avant la lettre. Doch die beschriebenen Körpermodifikationen fanden in einem historischen Umfeld statt, in dem die Negativkodierung von Tattoos als Stigma stetig zunahm. Besonders Randgruppen wie Seeleute, Schausteller oder Prostituierte ließen sich tätowieren und grenzten sich so von jenem bürgerlichen Leben ab, von dem sie sozial ohnehin ausgeschlossen waren.
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Somit wurde die Tätowierung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch mit dem spezifischen Milieu der unteren sozialen Schichten konnotiert. Ergebnis war ein Mix aus Exotik, Erotik und Working Class-Flair, dem sich das nicht- tätowierte Bürgertum in Form gelegentlicher Besuche auf dem Rummel gerne aussetzte und sich so der eigenen Position in Abgrenzung von solchen Gegenwelten versicherte (Schüttpelz 2006: 27).
Kriminalitätsdiskurse Die Assoziation der Tätowierung mit Alterität im 19. Jahrhundert speist sich überdies aus der engen Verknüpfung mit Kriminalitätsdiskursen. Das in zahlreichen Auflagen und Übersetzungen erschienene Buch L’Uomo delinquente von Cesare Lombroso, erstmals 1876 veröffentlicht, hat dabei entscheidenden Anteil an der Diffamierung und Kriminalisierung tätowierter Menschen (Oettermann 1979: 63). In seiner kriminalanthropologischen Studie geht Lombroso davon aus, dass man zum Verbrecher geboren wird und dass Verbrecher an einer Art Krankheit leiden, die man an bestimmten körperlichen Merkmalen erkennen kann, insbesondere der Tätowierung. Dem liegt die Vorstellung eines Atavismus zugrunde, eines Zurückfallens des verbrecherischen Menschen auf eine primitive Entwicklungsstufe: Ebenso wie die »Wilden«‚ befänden sich auch die »Kriminellen« in einem rohen Urzustand (Oettermann 1979: 63). Damit wird jene Vorstellung der »Wilden« als dämonischer, halbtierischer Lebewesen aktualisiert, wie sie neben der Figur des »Guten Wilden« laut Karl Heinz Kohl schon immer existierte (Kohl 1981: 19). Zugleich wird auch die europäische Tradition der Kennzeichnung von Sklaven, Outlaws oder Straftätern virulent, die sich, von der antiken Praxis der Brandmarkung, vermittelt über das römische Recht bis ins 19. Jahrhundert tradierte (Schüttpelz 2006: 26; Oettermann 1979: 104). Lombrosos Thesen werden stellenweise wörtlich von dem Architekten und Kulturtheoretiker Adolf Loos in seinem seit 1908 gehaltenen Vortrag Ornament und Verbrechen aufgenommen: »Der papua tätowiert seine haut, sein boot, sein ruder, kurz alles, was ihm erreichbar ist. Er ist kein verbrecher. Der moderne mensch, der sich tätowiert, ist ein verbrecher oder ein degenerierter. […] Die tätowierten die nicht in haft sind, sind latente verbrecher oder degenerierte aristokraten.« (Loos 1962: 276)
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Bei Loos steht der »Papua«, andernorts auch als »Neger«, »Indianer« oder »Kaffer« beschrieben, für den primitiven Menschen schlechthin, der mit einem »unersättlichen Verzierungstrieb« ausgestattet sei (Leeb 2015: 139). Der Drang zum Ornamentalen ebenso wie zur Tätowierung wird dabei von Loos eng an eine unbeherrschte und »triebhafte Sexualität« gebunden, wie sie bei so genannten Naturvölkern, die sich in einem »kulturellen Frühsta dium« befinden würden, ebenso anzutreffen sei, wie bei Verbrechern, die auf eine primitive Kulturstufe zurückgefallen seien (Leeb 2015: 133). Bei Loos verdichtet sich die Analogie zwischen dem Schmucktrieb tätowierter »Naturvölker« und europäischer Frauen – wie bereits in Bougainvilles und Reynolds Schriften formuliert – überdies zu einer expliziten Verbindung zwischen Ornament und Prostitution. Auch hier folgt Loos Lombrosos Annahme, dass sich die Kriminalität der tätowierten Frauen häufig in Form von Prostitution zeigen würde (Braunberger 2000: 10). Die tätowierte Frau der Jahrmärkte um 1900 kann vom bürgerlichen Publikum also als eine Art »verwilderte« Frau rezipiert werden. Ihrer Figur wird nicht nur eine exotische Erotik zugeschrieben, sondern auch ein »primitives« Verhältnis zur Sexualität, weshalb die Zurschaustellung ihrer Tattoos immer auch mit Prostitution assoziiert wurde.
Gegenkultur und Modern Primitives Die Wirkungsmacht des Kriminalitätsdiskurses für die weitere Geschichte der Tätowierung ist nicht zu unterschätzen. Ihren Höhepunkt erlebte sie mit dem Verbot von Tattoos in den 1950er Jahren. In diesen Krisenzeiten der Tätowierung wurden Hautbilder vor allem durch subkulturelle Szenen wie die der Rock’n Roller oder auch von homosexuellen Gruppen tradiert (Schüttpelz 2006: 28-30). Als dann das Tattoo, zusammen mit anderen Praktiken der Bodymodification wie Piercing, Branding und Skarifizierung, seit den 1980er Jahren zu seinem Comeback in Europa ansetzte, stand es noch stärker als zuvor im Ruf einer alternativen, gegenkulturellen und subversiven Praktik. Allerdings handelte es sich nun um eine eher symbolische Gegenkultur, die auch die bürgerliche Mittelschicht erreichte, die damit ein Zeichen ihrer »countercultural identification« setzen konnte (Braunberger 2000: 15). Diese Umkodierung des Tattoos als Symbol der Identifikation mit alternativen Lebensformen und Körperästhetiken ist ganz entscheidend für die Entwicklung des Tattoos in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine Tätowierung kann nun, durch Abgrenzung von der herrschenden Kultur der Untätowierten, der Steigerung der eigenen Individualität dienen. Es handelt sich um eine Art Selbststigmatisierung mit der Botschaft, anders als die anderen
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zu sein, die schließlich zu einem gut funktionierenden Mittel im Kampf um knappe Aufmerksamkeitsressourcen wird. In Bezug auf die zahlreichen Tattoostile im 20. Jahrhundert lässt sich dabei meines Erachtens durchaus von Moden sprechen. Eine dieser Moden, die besonders in den 1990er Jahren boomenden Tribaltattoos, führt uns dabei wieder an den Anfang der Geschichte der Tätowierung zurück. Denn nun entsteht ein Interesse an polynesischen, ozeanischen oder auch keltischen Motiven, die möglichst ursprünglich und authentisch die Stammestätowierungen der indigenen Bevölkerung wiedergeben sollen. Die Tätowierten und Tätowierer der Tribalmode interessieren sich dabei Nicholas Thomas zufolge meist für eine diffuse Spiritualität, die sie mit den Tattoos indigener Kulturen verbinden – eine Spiritualität, die jedoch in den Dienst des Kultes der Individualisierung gestellt wird. Maßgebend für die Verbreitung der Tribaltattoos war dabei das 1989 erschienene Buch Modern Primitives, das eine Sammlung alter und zeitgenössischer polynesischer Tattoopraktiken präsentiert (Thomas 2005: 29). Die Möglichkeiten der zunehmenden globalen Vernetzung – ob über Tourismus, internationale Tattoo-Conventions oder Kontakte der Szene via Internet – haben ihr Übriges zu einer flächendeckenden Tätowierung europäischer Körper mit tribalen Mustern in den 1990er Jahren beigetragen. Haben wir es hier also mit einem neuen Primitivismus in der Tattookultur zu tun, der möglicherweise Ähnlichkeiten zur Entdeckung »tätowierter Wilder« im 18. Jahrhundert aufweist? Susanne Leeb beschreibt das Prinzip der Primitivierung als ein in zwei Richtungen operierendes: Zum einen könne die als vormodern klassifizierte, in der Regel nichteuropäische Kunst tätowierter Wilder »als Residuum für unverstellte Kreativität, als Sehnsuchtstopos oder als Anfang der Kunst« verklärt werden (Leeb 2015: 18). Zum anderen ist Primitivierung aber auch eine gegenkulturelle Strategie, mit deren Hilfe man sich antithetisch zur Gesellschaft positionieren kann (Leeb 2015: 22-23). Beide Phänomene treffen auf die Mode der Tribaltattoos zu. Mit den vermeintlich authentischen tribalen Mustern weht noch ein Hauch von jenem Naturzustand herüber, den auch die Zeitgenossen Rousseaus in den Südseeparadiesen zu finden hofften und sie weisen ihre Träger als anders als der Rest der Gesellschaft aus.
Bodies of Subversion? Der historische Blick auf die Interferenzen zwischen Tattoo, Wildheit und Geschlecht hat gezeigt, dass die kulturhistorischen Einschreibungen der Tätowierung beziehungsweise ihrer Träger als »wild« dezidiert geschlechterspe-
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zifisch erfolgte. Neben dem männlichen Tätowierten der Entdeckungsreisen des 18. Jahrhunderts als Verkörperung des noble savage stand etwa im 19. Jahrhundert die proletarische tattooed lady der Jahrmärkte als eine Mischung aus Exotik und Erotik. Durch die Dominanz des Kriminalitätsdiskurses rückte der Gedanke der »Verwilderung«, eines atavistischen Zurückfallens auf eine primitive Entwicklungsstufe, in den Fokus – eine Primitivierung, die sich geschlechtsspezifisch in unterschiedlichen Verbrechen und Verfehlungen äußere. Mit Etablierung des Tattoos als gegenkultureller Habitus, der sich vor dem Hintergrund eines allgemeinen Individualisierungsstrebens vollzieht, verschieben sich die Rahmenbedingungen: Sich tätowieren lassen wird zum Teil einer individuellen Sinnsuche, dient der biographischen Selbstversicherung oder ist schlicht Element eines modernen Lifestyles. Vor diesem Hintergrund des Wandels der Tätowierung zu einem Medium symbolischer Selbststigmatisierung ist Braunbergers und Mifflins Verklärung der tattooed lady zu einem selbstbestimmten Freak und somit zu einer Vorläuferin der zeitgenössischen tätowierten monster beauty zu verstehen. Doch angesichts der massenhaften Verbreitung von Tätowierungen wird aktuell der weibliche tätowierte Körper in der Regel nicht mehr als monströs oder unheimlich rezipiert. Tattoos werden in identitätspolitischer Hinsicht als ein lediglich symbolisches gegenkulturelles Phänomen verstanden, so dass das Prinzip der Subversion mittels eines tätowierten, hypersexualisierten Körpers nicht mehr greift. Die Coverfotografien heutiger Tattoomagazine sprechen Bände. An ihnen zeigt sich die zeitgenössische erotisierte tätowierte Frau als Mainstreamphänomen. Eine gesellschaftlich subversive Kraft, ein alternatives, gegenkulturelles Potenzial kann man dem Tattoo zu Beginn des 21. Jahrhunderts sicher nicht mehr zuschreiben. Und dennoch erleben sich Millionen Menschen, die sich tätowieren lassen, als anders als die anderen. Sie zeigen sich von den Verschiebungen im Tattoodiskurs der letzten 40 Jahre unbeeindruckt, vielleicht, weil die eingangs beschriebene Körpererfahrung des Tätowiervorgangs das individuelle Erleben dominiert. Erfahrungen des Befremdens und Assoziationen als wild oder roh stellen sich durch die alltägliche visuelle Gewöhnung nur noch angesichts extremer Bodymodifications ein. In Hinblick auf zeitgenössische Mainstreamtattoos hin gegen ist eher von einer zivilisierten Wildheit der Tätowierung zu sprechen.
Bodies of Subversion? | Sabine Kampmann
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Wilde Dinge in Kunst und Design | Aspekte der Alterität Oettermann, Stephan (1979): Zeichen auf der Haut. Die Geschichte der Tätowierung in Europa, Frankfurt a.M.: Syndikat. Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (2010): Ästhetik der Differenz. Postkoloniale Perspektiven vom 16. bis 21. Jahrhundert, Bd. 1, Marburg: Jonas. Schüttpelz, Erhard (2006): »Unter die Haut der Globalisierung. Die Veränderung der Körpertechnik ›Tätowieren‹ seit 1769«, in: Nanz, Tobias/Siegert, Bernhard (Hrsg.): Ex machina. Beiträge zur Geschichte der Kulturtechniken, Weimar: VDG Weimar, S. 13–57. Thomas, Nicholas (2005): »Introduction«, in: Thomas, Nicholas/ Cole, Anna/ Douglas, Bronwen (Hrsg.): Tattoo. Bodies, Art, and Exchange in the Pacific and the West, Durham: Duke University Press, S. 7–29.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Joshua Reynolds, Omai, 1776, 236 × 145,5 cm, Öl auf Leinwand, National Gallery of Ireland, Edinburgh, aus: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Joshua_Reynolds_-_Portrait_of_Omai.jpg Abb. 2: Jean Baptiste Cabri in der Pose eines Schleuderers, aus: Oettermann, Stephan (1979): Zeichen auf der Haut. Die Geschichte der Tätowierung in Europa, Frankfurt a. M.: Syndikat, S. 39. Abb. 3: Josef Kabris, Nativ de Bourdeaux, vice-Roi et Grand Juge des Iles de Mendoça, um 1818/19, aus: Ebd. Abb. 4: Irene Woodward, 1880er Jahre, aus: Mifflin, Margot (2013): Bodies of Subversion: A Secret History of Women and Tattoo, 3. Aufl. New York: powerHouse Books, S. 13.
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Abb. 1: H & M, Urbane Tropen, 2015, Screenshot
Wilde Mode | Alexandra Karent zos
Wilde Mode Exotismus und Tropikalismus Alexandra Karentzos Tropische Blumen und Früchte, bunte Vögel und Palmen sind textile Grundmuster seit der Sommermode 2015 und überall zu sehen. Die Mode imaginiert die Tropen als farbenprächtige, wilde und üppige Natur und bedient auf diese Weise exotistische Klischees. Nicht nur H&M ruft die »Urbanen Tropen« aus, sie haben längst auch die Straßen deutscher Städte erreicht. (Abb. 1) Die Kollektion des Modelabels Max Mara für den Frühling/ Sommer 2017 wird ebenso von den Tropen inspiriert: Es finden sich exotische Pflanzen und Tiere auf den Kleiderstoffen und es sind Trommeln und Tierlaute bei der Fashion Show zu hören.¹ Auch die Innenräume werden tropisch, etwa durch die Tapete L’Arbre du Voyageur von Casamance, auf der der »Baum der Reisenden« zu sehen ist.² Mit den Tropen werden Bilder des Urlaubs und der Reise verbunden. Der exotische Sehnsuchtsraum des Urlaubsparadieses wird mit der Tropenmode nach Hause geholt.
1 | Ausgangspunkt der Frühling-/Sommer-
wachsende Natur freigibt und die Grenze von
kollektion soll die in Italien geborene und
Innen und Außen durchlässig macht, kann als
1946 nach Brasilien migrierte Architektin und
Hauptreferenz gelten. Das Museo de Arte São
Designerin Lina Bo Bardi sein (siehe auch
Paulo (MASP) mit der Sichtbetonfassade
unten in diesem Text), deren avantgardisti-
oder das Freizeitzentrum SESC Pompeia
sche Entwürfe mit Glas und Beton eher an
werden in der Farbigkeit und in der archi-
brutalistische Architektur erinnern als an die
tektonischen Inszenierung der Show zitiert.
verspielten Formen der Max Mara-Kollektion.
Vgl. http://brand.maxmara.com/ww/runway
Ihr 1951 gebautes Wohnhaus, die Casa de Vid-
(zuletzt abgerufen am 03.01.2017).
ro, deren Glasfassade den Blick auf die wild
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Tropicality – Formen des E xotismus Die Tropen können als Imaginationsraum verstanden werden. Analog zu Edward Saids Konzept des Orientalismus bezeichnet der Begriff der tropicality nach David Arnold eine Konzeptualisierung und Repräsentation der Tropen in der europäischen Imagination und Erfahrung (Arnold 2005: 111, vgl. auch Büdenbender o.J.). Wie der Orientalismus sei tropicality Teil eines Machtdiskurses, der eng mit der Geschichte kolonialer Expansion verbunden ist. »Der Begriff der Tropen war von Beginn an ein kulturelles Konstrukt«, so Alfons Hug (Hug 2008: 14). Charakterisiert werden die Tropen vor allem über die Natur, ihre Vegetation und ihre Tiere. Bereits Alexander von Humboldt, der den Begriff der Tropen in Deutschland etabliert hat, beschreibt ausführlich »die Üppigkeit und Mannigfaltigkeit der Vegetation« der Tropen und stellt ihre »Naturschönheit« heraus (Humboldt 2004: 231, vgl. Kapitel »Anregungsmittel zum Naturstudium«). Er fordert, dass sich die Landschaftsmalerei dieser Region widmen soll (ebd., vgl. auch Badenberg 1995). Er ordnet die Naturphänomene somit nach ästhetischen Gesichtspunkten. Es liegt auf dieser Linie, wenn er sein fünfbändiges wissenschaftliches Werk, den Kosmos, als »Naturgemälde« bezeichnet (Humboldt 2004: 38ff). Eduard Enders Gemälde aus dem Jahr 1856, das Alexander von Humboldt mit seinem Mitarbeiter Aimé Bonpland porträtiert, zeigt die beiden als Naturforscher in einem Urwaldlaboratorium inmitten der Tropen. Durch die offene Tür fällt der Blick auf eine ungezähmte, scheinbar unberührte Natur. Deutlich wird in diesem Bild, dass Amerika vor allem als Naturschauplatz inszeniert wird, der von den europäischen Wissenschaftlern erkundet und taxonomisch geordnet werden muss. In Humboldts Kosmos erhalten die »Farben der Tropen« zudem viel Beachtung. In einem seiner Briefe wird die Wahrnehmung der Natur als ästhetischer Genuss eindrücklich beschrieben: »Und welche Farben der Vögel, der Fische, selbst der Krebse (himmelblau und gelb)! Wie die Narren laufen wir bis itzt umher; in den ersten drei Tagen können wir nichts bestimmen, da man immer einen Gegenstand wegwirft, um
2 | Vgl. »DESIGN-EXOTEN. Möbel und
larbre-du-voyageur-von-casamance und
Accessoires mit Dschungel-Feeling«,
http://www.casamance.com/Collections/
in: http://www.schoener-wohnen.de/
Detail-produit.aspx?id=39053, (zuletzt
einrichten/34859-bstr-moebel-und-
abgerufen am 03.01.2017); vgl. allgemein zur
accessoires-mit-dschungel-
Bildtapete mit exotischen Motiven Eck/Schön-
feeling/122627-img-fantastisch-tapete-
hagen 2014.
Wilde Mode | Alexandra Karent zos
einen andern zu ergreifen. Bonpland versichert, daß er von Sinnen kommen werde, wenn die Wunder nicht bald aufhören. Aber schöner noch als diese Wunder im Einzelnen, ist der Eindruck, den das Ganze dieser kraftvollen, üppigen und doch dabei so leichten, erheiternden, milden Pflanzennatur macht. Ich fühle es, daß ich hier sehr glücklich sein werde und daß diese Eindrücke mich auch künftig noch oft erheitern werden.« (Humboldt 1993: 42)³ Es ist ein Topos, dass die Tropen mit einer intensiven, klaren Farbgebung verbunden werden, die eng verwoben ist mit der Tier- und Pflanzenwelt: von bunten Vögeln, wie Papageien und Kolibris, bis hin zu intensiv farbigen Blumen und Früchten. Bereits 1753 zeigte Tiepolo in der Würzburger Residenz eine Allegorie der Amerika mit buntem Federschmuck auf dem Kopf und einem Füllhorn mit Früchten zu ihren Füßen. Solche visuellen Bildzeichen werden auch heute aufgegriffen, wenn etwa Gisele Bündchen 2014 in einer Werbung für Flip-Flops von Grendene Ipanema als bunt gefiederter Vogel erscheint. Brasilien wird als das Andere, Fremde, Exotische im wörtlichen Sinne inszeniert. In dem Essay zum Exotismus Ästhetik des Diversen von Victor Segalen (1994 [1904-1918]) kann man vier Hauptmerkmale des Exotismus ausmachen: 1. einen geographischen Exotismus, in welchem die geographische Ver ortung als »außerhalb« markiert wird, wie die Vorsilbe »exo« verdeutlicht; 2. einen zeitlichen Exotismus, der sich vor allem aus einer idealisierten Vergangenheit speist und sich auf die Zukunft richtet; 3. einen Exotismus der »Menschenrassen«, wie es Segalen nennt, und 4. einen sexuellen Exotismus, der grundlegende Differenzen der Geschlechter deutlich mache. Das verbreitete Brasilienbild spielt auf diesen Registern. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde der Blick auf die Tropen von Europa her konstruiert. Wie Maria Claudia Bonadio (2014) für Brasilien gezeigt hat, ist dieses Bild der Tropen so wirkungsmächtig, dass es in Brasilien selbst aufgegriffen und etwa in einem kritisch-ironischen Sinne in der Kunst der 1920er Jahre reflektiert wurde, aber auch im Zuge der nationalistischen Politik des Estado Novo während der Diktatur der 1930er Jahre enthusiastisch angepriesen wurde. Die Vorstellungen der Tropen werden auf diese Weise zum Teil der eigenen nationalen Identität (ebd.: 60). In meinem Beitrag möchte ich auf solche Konstruktionen des Tropikalismus und Exotismus genauer eingehen und dafür nicht nur einige Schlaglichter auf die Mode in Brasilien werfen, sondern auch die Kunst in den Blick nehmen, die eng mit der Mode verwoben ist.
3 | Vgl. dazu auch die Beiträge Hug 2009: 52–53 und König 2009: 54–59. Weiterführend zu Humboldts Tropenrezeption vgl. auch Ette 2011.
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Victor Segalens Ziel, das er in seiner Ästhetik des Diversen formuliert, soll hier als Ausgangspunkt dienen: »Alles was das Wort Exotismus an Mißbrauchtem und Abgestandenem enthält, über Bord [zu] werfen. Es von seinen fadenscheinigen Kleidern befreien: von den Palmen und Kamelen, dem Tropenhelm, der schwarzen Haut und der gelben Sonne [...]« (Segalen 1994 [1904-1918]: 41).
Kulturanthropophagie Gerade der in Brasilien aufgekommene Begriff der »Kulturanthropophagie« bietet ein besonderes Potential zur Reflexion kolonialistischer Machtverhältnisse. Vorstellungen von Kannibalismus waren ein wirkungsmächtiges Instrumentarium des Kolonialismus, mit dem die Unmenschlichkeit anderer, so genannter »primitiver« Kulturen exemplifiziert wurde. Man denke nur an Theodor de Brys weitverbreitete und sehr wirkungsmächtige Bilder zu den Reisebeschreibungen Hans von Stadens, die Warhaftig Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden/Nacketen/Grimmigen Menschfresser Leuthen/in der Newenwelt America gelegen […] (Staden 1984 [1548– 1550]). Die Nacktheit der Indigenen, die nur durch Federn und Schmuck akzentuiert ist, funktioniert hier als Trope des Barbarentums und der Wildheit (Meléndez 2005: 18). Diese Bilder sind verwendet worden, um den Eindruck einer Augenzeugenschaft und Authentizität zu vermitteln. Brasilianische Künstlerinnen und Künstler eignen sich dieses Thema an, das dazu diente, koloniale Machtstrategien zu legitimieren, und wenden den Begriff »Anthropophagie« metaphorisch. So forderte der Schriftsteller Oswald de Andrade in seinem 1928 erschienenen Manifesto Antropófago (Anthropophagisches Manifest), die europäischen Einflüsse regelrecht zu verschlingen und sie so in eine eigenständige brasilianische Identität zu verwandeln. Im Zentrum des Erstabdrucks von de Andrades Manifesto Antropófago steht das Bild eines monströsen, unförmigen Wesens: Tarsila do Amarals Zeichnung eines Menschenfressers, »Abaporú«, so der Titel (aus der Tupi-Guaraní-Sprache »der Mann, der Menschen frisst«). Do Amaral beschreibt das Sujet des Bildes, das den Beginn der anthropophagischen Bewegung darstellt, als »a solitary, monstrous figure, with immense feet sitting on a green plain, one bent arm resting on its knee, the hand supporting the tiny featherweight head. In the foreground, a cactus bursting into an absurd flower« (Amaral 2002: 594). Die Klischees, die mit dem Tropischen verbunden sind, werden hier zitiert, aber gleichzeitig durch die monströse Gestalt ad absurdum geführt. Diese Form des »Kannibalismus« wird durch die so genannte TropicáliaBewegung in den 1960er Jahren ironisch und antiessentialistisch gewendet
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(vgl. Santos 2006). Aufschlussreich ist es, gerade dieses deontologisierende Konzept in Verhältnis zu setzen zur heutigen kulturwissenschaftlichen und konstruktivistischen Theoriebildung.
»Brazilian Look« – Selbstexotisierung Mode orientiert sich in Brasilien bis in die 1950er hinein an europäischer Mode, für Frauen war die Pariser Mode ein zentraler Orientierungspunkt und für Männer die englische. In den Magazinen der Zeit ist diese Ausrichtung nachvollziehbar (Bodadio 2014: 61). Auf der Bühne aber beginnt die Sängerin Carmen Miranda bereits in den 1940er Jahren einen »Brasilianischen Stil« zu entwickeln, der – mit seinen tropischen Motiven und bunten, leuchtenden Farben – auf den exotistischen Klischees aufbaut und damit einen »tourist gaze« bestätigt. Wie John Urry festgehalten hat, entspricht der »tourist gaze« einer Ökonomisierung kultureller Zeichen (Urry 1990: 3, 38ff.). Nationale »Eigenschaften« werden auf diese Weise vermarktet. In der Kunstfigur Miranda verschränken sich insofern Mode, Musik und populäre nationale Vorstellungen von Kultur. Maria Claudia Bonadio (2014), die die Geschichte der brasilianischen Mode zwischen 1930 und 1980 aufgearbeitet hat, betont, dass sich in den 1950er Jahren der Blick auf die Mode in Brasilien geändert hat. Mode war eng verbunden mit der Kunst: Mit der Gründung des Museu de Arte de São Paulo (Museum of Art São Paulo), kurz MASP, im Jahr 1947 veränderte sich der Blick auf die Mode. Die Architektin und Designerin Lina Bo Bardi, die 1946 von Italien nach Brasilien ausgewandert ist und international vernetzt war, organisierte 1951 und 1953 in Kooperation mit dem Institut für zeitgenössische Kunst, das auch eine Design-Schule implizierte, verschiedene Modenschauen. Das Museum wurde zu einer Institution »that regards the arena of fashion as a truly artistic domain« (ebd.: 63). Sehr avanciert wurden hier Grenzen zwischen Kunst und Alltagskultur aufgelöst. Das Thema der ersten Modenschau hieß »Modenschau traditioneller und moderner Kostüme«, in der zweiten 1953 standen die Kleider Christian Diors im Mittelpunkt, wobei ein Outfit Salvador Dalis – das »Kostüm des Jahres 2045« – den Schlusspunkt der Schau bildete. Heute befindet sich dieses auch in der Sammlung des Museums. Bonadio zeigt auf, dass sich in der Folge die Frage einer brasilianischen Mode stellte, die sowohl in der Präsentation der Coleção Moda Brasileira, die 1952 im Instituto de Arte Contemporânea (IAC) stattfand, als auch in der Zeitschrift Habitat, die von Lina Bo Bardi und ihrem Ehemann Pietro Maria Bardi mitbegründet wurde (Bonadio 2014: 62, vgl. auch Scarpa/Kanamaru
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2016). In einem Themenheft zur Mode (Habitat 1952: 76) wird die Originalität brasilianischer Mode charakterisiert durch die Aneignung von Handarbeiten, die auch ein wichtiges Merkmal von Bo Bardis eigener architektonischer und textiler Arbeit ist. Auch die europäische Firma Rhodia, die vor allem durch Polyesterstoffe bekannt war, eignet sich die Bildwelt der Tropen an und entwirft in Zusammenarbeit mit brasilianischen Künstlerinnen und Künstlern eine »Brasilianische Mode«. Die Kollektionen haben Titel wie Coleção Café (Kaffee-Kollektion), Brazilian Primitive, Brazilian Style und Brazilian Look (ebd.: 66). In dieser Kampagne werden zugleich auch Topoi der touristischen Flugreisen der 1960er Jahre-Moderne aufgegriffen, wie sie etwa Emilio Pucci in seiner legendären Braniff-Kollektion entwirft: Er kleidete Stewardessen in bunt schillernde Uniformen mit kugelrunden Plexiglashelmen (Black 2013).⁴ So beginnt die Bildstrecke des Brazilian-Look in der Zeitschrift Manchete (1963) konsequenterweise auch mit der Inszenierung der Models als Stewardessen von Panair auf dem Flugplatz und landet dann gleich auf der zweiten Seite der touristischen Reise auf einer Gondel in Venedig. Die Semantik der Brazilian-Look-Werbung ist verschiebbar und vermittelt das Bild einer »brasilianischen« Moderne. Zugleich werden die Stoffe in dem Text immer wieder als authentisch brasilianisch bezeichnet (so wird etwa betont, dass durch die Farben und Formen Brasilien authentischer erscheine, oder dass das Fell des Rockes von einem echten Jaguar aus Bahia stamme, wodurch der Fokus auf das »Wilde« der Natur gelenkt wird) (Manchete 1963: 44). Allgemein soll die Konstruktion von »Authenticity« nach westlichen Maßstäben die Wertigkeit von Objekten steigern, wie etwa Arjun Appadurai (1986: 56f.) oder auch James Clifford (1988: 215, 228) hervorheben. Gerade im brasilianischen Kontext verkomplizieren sich jedoch Konstruktionen von Authentizität: So dienen die Kleider als Beleg für ethnisch kodierte Kleidung, spiegeln aber zugleich die Versprechen der Moderne der 1960er Jahre in der internationalen Mode.⁵ Diese Ambivalenz zwischen »ethnic dress« – mit der Konnotation der unveränderlichen Ursprünglichkeit und Tradition – und Mode, die für eine stetige Veränderung und damit für Moderne steht, (vgl. dazu Rabine 2002: 13) manifestiert sich auch in dem Reiseziel der BrazilianLook-Kampagne in Italien, das sich seit den 1950er Jahren als Modeland etabliert hat. Die Figuren und Objekte sind auf diese Weise in ein komplexes Feld historischer, kultureller und ökonomischer Bezüge eingelassen. Der Rekurs auf Authentizität und Natürlichkeit kulminiert in der Rhodia-Kollektion
4 | Den Hinweis verdanke ich Elke Gaugele.
das sich mit der Kunst in Mexiko seit den
5 | Vgl. zum modernistischen Rückgriff auf das
1920er Jahren befasst: »Die anachronistische
textile Handwerk und indigenistischer Mode
Moderne – Zu internationalen Verflechtungen
Miriam Oesterreichs Habilitationsprojekt,
mexikanischer Avantgarden (1920-50)«.
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Brazilian Primitive von 1965, von der ich zwei Modelle näher betrachten möchte, in denen klischeehaft exotische Vögel, Federn und Elemente der afrobrasilianischen Religion Candomblé aufgegriffen werden. (Abb. 2) Das Kleid auf der linken Seite ist mit Vogelmotiven der Künstlerin Izabel Pons bedruckt und auf der rechten Seite mit religiösen Motiven der Candomblé von Aldemir Martins. Besonders ins Auge springt das die Models umgebende Szenario, das mit Federobjekten dekoriert ist, die an indigene Kultobjekte denken lassen. Im Titel der Kollektion wird die brasilianische Mode mit Primitivität in Zusammenhang gebracht und so auch ein weiteres exotistisches Klischee zitiert. Die bunten Federn der tropischen Vögel weiten das Exotische auf die urbanen Frauen aus, die deren Federn tragen. Ein solcher Rekurs auf Primitivität kann im Kontext der Moderne programmatisch Abb. 2: Kollektion Brazilian Primitive von gedeutet werden, denn er spielt auf einen Rhodia, 1965. Links: Mit Vögeln bedrucktes »Urzustand« der Menschheit an, der einen Kleid von Izabel Pons; rechts: Kleid bedruckt Neuanfang repräsentiert, ebenso wie die mit Symbolen der afrobrasilianischen Religion Candomblé von Aldemir Martins moderne Kunst einen Neubeginn einläuten soll. Primitivismus wird als unkonventionell empfunden, stellt er doch eine vorrhetorische, »logosfremde« Kulturstufe dar. Sie wird mit dem modernen Starting point gleichgesetzt, ein Motiv, das bereits im 18. Jahrhundert gängig ist (vgl. Karentzos 2005: 23).
Tropicália: Anthropophagische Konzepte zwischen Kunst und Mode Die Tropicália-Bewegung, die sich in den 1960er und 70er Jahren in Brasilien formiert hat, machte sich solche Imaginationen und Stereotypisierungen zunutze und durchbrach sie, indem sie sich diese buchstäblich einverleibte (vgl. dazu Karentzos 2014). Diese künstlerische Bewegung, die Kunst, Musik, Theater, Film, Mode umfasst, arbeitet mit Konzepten brasilianischer Iden-
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tität entlang der Differenz von Klischee und »Authentizität«. Sie rekurriert dabei auf de Andrades provokatives Anthropophagisches Manifest aus den 1920er Jahren, in dem er eine kannibalistische Aneignung von kulturellen Einflüssen propagiert. Insofern versteht die Bewegung das Brasilianische als hybrid. Zugleich aber steht sie im weiteren Kontext einer industriellen Mode, die das Brasilianische stereotypisiert und festschreibt. Dieses Spannungsverhältnis möchte ich im Folgenden näher beleuchten. Einige der Künstler, die für Rhodia Stoffe entwarfen, wie Hermelindo Fiamighi, waren auch Teil der brasilianischen Concretista-Bewegung, die mit anderen konstruktivistischen Künstlern, wie etwa auch Max Bill, international vernetzt war. Ende der 1950er Jahre spalteten sich die Neo-Concretistas ab und begründeten eine neue Bewegung, zu der etwa Hélio Oiticica und Lygia Clark gehörten, die auch Mitbegründer der TropicáliaBewegung waren. Rhodia inkorporierte die Bewegung direkt 1968, indem sie in der Zeitschrift Jóia einen Beitrag mit dem Titel O Tropicalismo é nosso ou Yes, nós temos banana in dem Stil der Tropicália-Bewegung veröffentlichte (Bonadio 2005: 214ff.) und eine Modenschau mit dem Titel Desfiles Rhodia Tropicália inszenierte. (Abb. 3) Oiticica arbeitete viel mit Textilien und deutete die Mode als mobile Skulptur. Entsprechend möchte ich diese Position näher in den Fokus rücken. Oiticicas Installation Tropicália aus dem Jahr 1968 gab der Bewegung ihren Namen.⁶ (Abb. 4) Die linkspolitische und populärkulturelle Gruppe formierte sich im Widerstand gegen das 1964 an die Macht gekommene Militärregime Brasiliens sowie gegen die ökonomische und kulturelle Hegemonie der USA und Westeuropas (vgl. Buchmann 2007: 229). In Oiticicas komplexer Installation Tropicália werden exotische Versatzstücke, wie einfache Holzhütten als Reminiszenz an die Favelas Brasiliens, bunte Stoffe, Palmen, feiner Sand und Papageien, kombiniert. Ein Bruch ergibt sich dadurch, dass die Palmen und Gummibäume in Plastikkübeln sind, die Vögel in Käfigen, die bunten Blumen nur auf den Stoffen und ein lauter Fernseher, der sich in der Hütte befindet, die Idylle stört. Das Exotische wird als Domestiziertes, Konsumierbares vorgeführt. Dabei fungieren sowohl der Fernseher als auch die Papageien in Tropicália »als Spiegel projizierter Wünsche und Bedürfnisse [...], ist doch der Papagei ein exotisiertes Sinnbild des Nachplapperers, während der Fernseher eine normierte One-way-Kommunikation repräsentiert«, so Sabeth Buchmann (Buchmann 2007: 263f).
6 | Ausgestellt etwa auf der documenta X und in der Generali Foundation Wien 2000.
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Abb. 3: Kleider aus der Rhodia-Kollektion, Modedesign: Tomoshigue Kusuno, Muster: José Carlos Marques, Design: Alceu Penna, Foto: Divulgação
Die Verbindung von Brasilienklischees, Vorstellungen des »ewig Exotischen« und »Wilden« einerseits und Zeichen der Modernität, wie die Plastikkübel und die Fernseher andererseits, folgt dem kannibalistischen Aufruf de Andrades zur Einverleibung kolonialistischer Elemente, so dass hier ironisch der Herrschaftsraum umdefiniert wird. Durch die betonte Künstlichkeit wird die Suggestion des Natürlichen, Ursprünglichen, Autochthonen ironisch desavouiert. Tropicália ist damit nicht nur Ausdruck einer »brasilianischen Kultur«, sondern zugleich auch Reflexion der europäischen Moderne, des Minimalismus, Konzeptualismus etc. Die aus stoffbespannten Holzrahmen errichteten und an brasilianischer Favela-Bauweise orientierten Hütten sind so genannte »Penetrávels«, was soviel heißt wie »Durchdringung«. Dieser Begriff gibt sich als »Zitat auf Oswald de Andrades Programmatik einer Vermischung heterogener Substanzen zu erkennen« (Buchmann 2007: 252). Die »Penetrávels« werden auch zum Signum für die Durchdringung der Kulturen. Oiticica erklärt dazu: »Mit diesem Penetrável wollte ich eine Übung zum Thema »Bild«in all seinen Erscheinungsweisen anstellen (sie erinnert an japanische, mondrianartige Häuser), den taktilen Bildern […] und dem Fernsehbild« (Oiticica 2000: 252). In einer dieser Hütten in der Installation Oiticicas steht »Reinheit ist ein Mythos« – »A pureza é um mito«, was durchaus programmatisch gemeint ist: Das Phantasmatische des »Reinen« kann sich auf Mehrfaches beziehen: Erstens richtet es sich gegen das kunstimmanente Diktum des »reinen Sehens« etwa im Minimalismus, zweitens gegen die Entkontex-
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tualisierung der Werke im Galerieund Museumsraum und drittens gegen die Annahme des kulturell »Authentischen«. Auch postkoloniale Theorien haben sich mit der Fiktion kultureller Reinheit auseinandergesetzt. Prominentestes Beispiel ist Homi Bhabhas Theorie der Hybridität (Bhabha 1994). Seine grundlegende These ist, dass die wechselseitige Beziehung der Kulturen es keiner von ihnen ermögliche, sich ihrer Authentizität ein für alle Male zu versichern. Bhabha bezeichnet dies als »Hybridität« Abb. 4: Hélio Oiticica, Tropicália, 1968, der Kultur, die jeden Gedanken an Installationsansicht Generali Foundation Authentizität obsolet macht. Im AnWien 2000, Fotograf: Werner Kaligofsky schluss an Bhabha ließe sich somit sagen, dass Kultur immer bereits hybrid ist. Damit wird der Konstruktionscharakter von Kultur deutlich. Strategien der Mimikry ermöglichen nach Bhabha den Kolonisierten, sich die herrschenden Ordnungen anzueignen und diese zugleich zu unterlaufen und als Konstruktionen vorzuführen. Er beschreibt Mimikry als Widerstandsstrategie, mit der rassistische Stereotype verspottet, umgeschrieben und transformiert werden können (Bhabha 1994: 86, 89). Ein solches theoretisches Konzept ist vergleichbar mit dem anthropophagischen Andrades. Gerade die brasilianische Szenerie, die Oiticica vorführt, kann einerseits durch die Orientierung an den Favelas mit Brasilien verbunden werden, andererseits aber kann diese Szenerie nicht mit »Ursprünglichkeit« assoziiert werden, sondern zeigt eine Vielheit unterschiedlicher Einflüsse. Oiticica bezieht sich ausdrücklich auf das Anthropophagische Manifest von Andrade. In dem Konzept des Einverleibens als Aufessen ist auch die Gefahr mitgedacht, dass die verzehrte Speise eventuell unverdaulich sein könnte. Oiticica wendet diesen Gedanken gegen die Möglichkeit, dass das Bürgertum, die privilegierten Schichten, sich brasilianische Attribute wie die Papageien und die Favelas einverleiben könnte: »Die Bourgeoisie, falsche Intellektuelle, Kretins jeglicher Art predigen den ›Tropicalismus‹, die Tropicália (die jetzt in Mode gekommen ist!) und wandeln etwas in ein Konsumgut um, von dem sie nicht recht wissen, was es wirklich ist. Zumindest eines ist sicher: Diejenigen, die auf Stars and Strips machten, sind auf Papageien, Bananenstauden usw. umgestiegen oder interessieren sich für Favelas, Sambaschulen, marginalisierte Antihelden […]
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usw. Gut so, aber man soll nicht vergessen, dass es hier Elemente gibt, die diese bürgerliche Gefräßigkeit niemals verdauen kann: das Element unmittelbarer Lebenserfahrung (vivência), das über die Bildproblematik hinausweist. Denn jene, die vom ›Tropicalismus‹ sprechen, greifen bloß das Bild auf und befriedigen sich durch einen ultra-oberflächlichen Konsum, doch die existenzielle Erfahrung entgeht ihnen, da sie sie nicht besitzen können – ihre Kultur ist noch universalistisch, verzweifelt auf der Suche nach einer Folklore, oder in den meisten Fällen nicht einmal das.« (Oiticica 2000: 264) Oiticicas Kritik gegen die Bourgeoisie wird in der Installation deutlich, indem er die Domestizierung der Palmen in Plastikkübeln, der Blumen auf Stoffen und die der Papageien in Käfigen vorführt. Die »Kultur« wird auf diese Weise handhabbar gemacht und verweist zugleich auf ihre »Unverdaulichkeit«: Die »Natur« der Tropen ist nicht »natürlich«. Die Durchdringung des Heterogenen, die Oiticica in seiner Arbeit thematisiert, führt zu solchen Paradoxien. Die Installation kann vom Publikum nicht einfach konsumiert werden, eher inkorporiert die Installation das Publikum. Thomas Mießgang zufolge kann Tropicália als Inversion von Andrades Antropophagischem Projekt interpretiert werden: Das Publikum wird von der multidimensionalen Struktur aufgenommen, verdaut und zum Schluss transformiert durch den Künstler wieder ausgespuckt, so Mießgang (2010: 24). In anderer Weise als die begehbare Skulptur Tropicália, die das Publikum in sich aufnimmt, verleiben sich Oiticicas mobile Skulpturen, die er Parangolé⁷ nennt, die Körper ein. Die Parangolés, die er von 1965 an entworfen hat, sind capeartige Sambakostüme, die aus vielfarbigen Stoffen, Plastik und Müll bestehen. Sie werden etwa von Tänzerinnen und Tänzern der Mangueira Samba School getragen, bei der auch Oiticica Mitglied war. Mangueira ist ein Elendsviertel in Rio de Janeiro. Bereits durch den Bezug auf das Armenviertel manifestiert sich eine politische Dimension von Oiticicas Arbeit. Überdies sind die Textilien zum Teil auch mit Parolen wie »incorporo a revolta« [Ich inkorporiere die Revolte], »Estou Possuido« [Ich bin besessen] oder »Sexo e violência, é isso que me agrada« [Sex und Gewalt, das ist es, was ich mag] beschriftet und werden auf diese Weise quasi zu politischen Bannern. Durch die Tänzer werden die Parangolés gleichsam zu mobilen Skulpturen. Der Betrachter wird zum Partizipierenden an diesen »Situationen« und das Kunstwerk zur »environment-structure« – nach Oiticica entsteht eine doppelte Erfahrung, die er »wearing-watching cycle« (»ciclo vestir-assistir«)⁸
7 | »Parangolé« ist »a slang term from Rio
an unexpected situation, or a dance party«
de Janeiro that refers to a range of events or
(Dezeuze 2004: 59).
states including idleness, a sudden agitation,
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nennt (Oiticica 1992: 93, vgl. auch allgemein Schober 1994). Bei Oiticica geht es um die Auflösung der Trennung in Akteure und Zuschauer, mithin um Partizipation. Dabei erhält nach Oiticica der Körper eine besondere Rolle: »The Parangolé wasn’t something to put on a body just to be shown, the experience of wearing it to the person who is watching the other putting it on, or those who put things on at the same time are simultaneous experiences, multi-experiences; the body is not a support for the work, on the contrary, it is the total incorporation. It is the incorporation of the body in the work, and the work in the body. I call it in.«⁹ (Oiticica in Cardoso 1979: 4:11 Min.) Wenn diese gleichsam karnevalesken Körper das Museum entern, dann wurde es zumindest im Jahr 1965 problematisch: Als Oiticica bei der Eröffnung der Ausstellung Opinão 65 im Museum für Moderne Kunst in Rio de Janeiro die Parangolés zum ersten Mal ausstellte, indem er Tänzer aus dem Armenviertel Mangueira einlud sie zu tragen, sorgte das Hereinbrechen der »Armen« in die bourgeoise Atmosphäre des Museums für solch einen Skandal, dass der Direktor zur Räumung zwang (Dezeuze 2004: 65). Wie Anna Dezeuze herausstellt, provozierten die Mangueira-Tänzer, indem sie den »Karneval« ins Museum brachten (ebd.). Die Grenze zwischen Alltagskultur und Kunst, die Oiticica hier auch auf sozialer Ebene verschieben wollte und nicht nur zitierte, scheiterte in diesem Fall. Die Kleider von Rhodia hingegen fanden Einlass ins Museum, etwa wenn populäre Musiker der Tropicália-Bewegung, wie Caetano Veloso, Gilberto Gil oder Os Motantos, bei den Modenschauen im MASP auftraten (Bonadio 2014: 68)¹⁰, zudem sammelte das Museum zahlreiche Kleider von Rhodia.¹¹ Die Zielgruppe der Kleider von Rhodia blieb hier homogen. Soziale Abgrenzung, Populärkultur, Konsum und Kunst gehen in diesem Verständnis von Mode Hand in Hand. Der Tropikalismus, den die Kleider von Rhodia vermitteln, erscheint in diesen
8 | In der der deutschen Übersetzung von Max
zeigt und wie diese getragen und ausge-
Jorge Hinderer Cruz wird etwas missverständ-
stellt werden sollen, siehe: https://www.
lich vom »Beiwohnen-Tragen« gesprochen.
youtube.com/watch?v=yGYHJaGXHOU, vgl.
Meines Erachtens fehlt dem Begriff des
auch http://www.museoreinasofia.es/en/
Beiwohnens das Moment des Sehens, des Zu-
collection/artwork/ho (zuletzt abgerufen am
schauens, das im Begriff »assistir« impliziert
27.12.2016).
ist. Vgl. Oiticica 2013: 158.
10 | Im Juni 1968 förderten Rhodia S.A., Shell,
9 | So Hélio Oiticica in dem Film HO (1979, 15
Ford und Willy das Kulturfestival Momento 68
Min.) von Ivan Cardoso. Der Film präsentiert
mit Performances von Caetano Veloso, Eliana
originales Material, das Oiticica und seine
Pitman, Gilberto Gil. Die Parade tourte durch
Mitarbeiter bei der Arbeit mit den Parangolés
verschiedene Städte in Brasilien.
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Beispielen als Aneignung von als brasilianisch kodierten Mustern und Farben. Dagegen stellt das anthropophagische Konzept der Tropicália-Bewegung das »Brasilianische« in Frage und zeigt es als Produkt von Austauschprozessen.
Traveling Fashion: Austauschprozesse der Mode Mit dem Begriff Traveling Fashion möchte ich ein theoretisches Modell ansprechen, mit dem ich solche Phänomene beschreiben möchte und das auch das oben beschriebene Spannungsverhältnis umfassen könnte: Der Begriff soll im Anschluss an James Cliffords Konzept der »Traveling Cultures« die Unabgeschlossenheit, Transkulturalität und Prozesshaftigkeit von Modeströmungen herausstellen (vgl. Clifford 1997, Karentzos 2013, Rabine 2002). Fixierungen von Kultur, die etwa mit ethnischen Zuschreibungen und mit Konstruktionen des »Ursprünglichen« operieren, erweisen sich als instabil, sie geraten in Bewegung beziehungsweise verschwimmen. Clifford nutzt gezielt den Begriff des Reisens: »The notion of ›travel‹ [...] cannot possibly cover all the different displacements and interactions [...]. Yet it has brought me into these borderlands. I hang on to ›travel‹ as a term of cultural comparison precisely because of its historical taintedness, its associations with gendered, racial bodies, class privilege, specific means of conveyance, beaten paths, agents, frontiers, documents, and the like.« (Clifford 1997: 39)¹² »Travel« impliziert also immer diese Problematiken und eignet sich gerade deshalb sehr gut für den Modekontext. Insbesondere markiert der Begriff, dass die räumlichen Aspekte der Mode eng mit gesellschaftlichen Unterscheidungen von Geschlecht, Ethnizität, Schicht usw. verschränkt sind und dass die Abgrenzungslinien letztlich als offene und verschiebbare gedacht werden müssen. Zu fragen ist somit nach den Ent- und Neukontextualisierungen, die aus der transkulturellen Zirkulation von Moden entstehen. Es ist, trotz einiger grundlegender Forschungen dazu im englischsprachigen Raum (Niessen et al.
11 | Diese wurden 2015/16 in der großen Aus-
12 | Vgl. darin auch das Kapitel: »Traveling
stellung Arte na Moda: Coleção MASP Rhodia
Cultures«, S. 17–46.
im MASP präsentiert.collection/artwork/ho (zuletzt abgerufen am 27.12.2016).
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2003; Rabine 2002; Paulicelli et al. 2009; Miller et al. 2011), immer noch ein Desiderat, die Semantiken solcher Austauschprozesse zu untersuchen. Wendet man den Begriff Traveling Fashion nun auf den Tropikalismus an, so lässt sich besonders darauf fokussieren, dass der Tropikalismus sich nicht auf etwas »authentisch Brasilianisches«, »Ur-Brasilianisches« reduzieren lässt, sondern ein Produkt von Austauschprozessen darstellt. Angesichts der Fluktuationen – auch zwischen europäischen und südamerikanischen Einflüssen – und der transnationalen Netzwerke aber erweisen sich gewohnte Dichotomien wie die zwischen der Europa zugeordneten Modernität auf der einen Seite und dem mit Brasilien oft assoziierten Primitivismus auf der anderen Seite als fraglich. Was Leslie W. Rabine bezogen auf Moden des afrikanischen »ethnic dress« feststellt, lässt sich somit gerade auch im Hinblick auf den brasilianischen Tropikalismus in der Mode bemerken: »In this charged fusion of people and things, self and object, the meaning of the term [the authentic, AK] becomes slippery indeed, especially when it travels across cultures, political structures and economic domains« (Rabine 2002: 13).
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Wilde Dinge in Kunst und Design | Aspekte der Alterität
Abb. 1: Yinka Shonibare, The Victorian Philantropist’s Parlour, 1996-97, Rauminstallation
Wilde Muster | Änne Söll
Wilde Muster Yinka Shonibare und der period room Änne Söll Zeitgenössische Künstler haben die mittlerweile in die Jahre gekommene Museumspräsentation der period rooms für sich entdeckt: Sie nutzen diese artifiziell zusammengestellten Räume, die mit historischen Gegenständen wohnlich eingerichtet werden, um den Eindruck einer bestimmten Epoche, eines Stils oder einer Region zu vermitteln, als Plattformen für ihre Arbeiten und intervenieren damit in kunsthistorische und kulturhistorische Erzählungen. Am Beispiel von Yinka Shonibares Installationen bzw. seiner Evokationen von period rooms möchte ich Shonibares interventionistische Strategien in diesen sonst so wohl geordneten Museums-Displays verdeutlichen. Shonibare stellt durch seine Arbeiten nicht nur die teilweise einseitigen Geschichtskonstruktionen der period rooms in Frage, indem er das Verhältnis von Kolonialherrschaft und Kolonien sichtbar macht. Durch seine Verwendung von Stoffen, Mustern und Puppen öffnet er den period room hin zu einem multiperspektivischen und affektiven Ort, der Aspekte des Wilden kritisch reflektiert. Als immersive und integrative Form der musealen Präsentation hatte der period room in den 1910 bis 1930er Jahren besonders in den Vereinigten Staaten seine Hochzeit. Auch danach gingen und gehen Inneneinrichtungen als modern period rooms in die Sammlungen von Museen ein. Neben dem Victoria and Albert Museum in London, dem Musée Carnevalet in Paris oder dem Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt und einigen anderen europäischen Museen für angewandte Kunst, sind es bis heute vor allem USamerikanische Museen wie das Metropolitan Museum of Art, das Fine Arts Museum in Boston oder das Brooklyn Museum, die period rooms ausstellen. Als Idee im Historismus entstanden, wurden period rooms einerseits von Wilhelm von Bodes Konzept des Stilraums geprägt, in dem unterschiedliche Objektklassen wie z.B. Gemälde, Möbel und Teppiche einer Epoche zu einem zimmerartigen Ensemble zusammengeführt wurden, ohne dass
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Wilde Dinge in Kunst und Design | Aspekte der Alterität
jedoch ein spezifischer Raum gemeint war.¹ Andererseits waren auch die teilweise mit Puppen ausstaffierten Tableaus und Dioramen von Völkerkunde- und Nationalmuseen in Skandinavien wie das Nordiska Museet in Stockholm oder die historischen Zimmer im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg oder dem Schweizer Nationalmuseum in Zürich entscheidend für die Entwicklung von period rooms (Harries 2012).² Hier lag das Interesse hauptsächlich auf einer Präsentation von Objekten aus dem Bereich der angewandten Kunst und der Raumausstattung, die – basierend auf lokalem Brauchtum – eine Narration nationaler Geschichte vermitteln sollte. Die teilweise mit Trachten oder historischer Kleidung ausgestatteten Puppen hatten die Funktion, die Besucherinnen und Besucher in das Geschehen hineinzuziehen, es vorstellbar zu machen und die Räume damit zu »beleben«. Auch im Falle US-amerikanischer Freilichtmuseen und »Historic Houses« wie zum Beispiel in Colonial Williamsburg, dem Essex Institut in Salem oder dem Winterthur Museum in den USA wird entweder durch Spuren menschlicher Benutzung (z.B. liegengelassene Zeitungen oder Brillen), durch Puppen oder durch in historischen Kostümen gekleidete Schauspieler der museale Raum zur Bühne alltäglichen Lebens. Ob mit oder ohne Puppen: im Falle von period rooms haben wir es stets mit »nachträglichen Rekonstruktionen, einer Form der Sichtbarmachung [...] zu tun, die aus der jeweiligen Sicht einer Gegenwart heraus Vergangenes nachstellt, simuliert, faksimiliert oder vorstellbar macht« (Geimer/Hagner 2012: 9). Period rooms waren von Beginn an Kritik ausgesetzt, und wurden wegen fragwürdiger Provenienzen teilweise ab- und umgebaut. Die Betonung von Stimmung und die Idee eines Gesamteindrucks, erzielt auf Kosten von Authentizität und Qualität: Dies war mit einer systematischen Sammlungspräsentation und der Konzentration auf einzelne herausragende Objekte nicht zu vereinbaren. Die Nähe zu Film- und Bühnensets wurde in den 1920er Jahren als gefährliche Annäherung an die visuellen Strategien der Alltagskultur empfunden und als eine Anbiederung an den Geschmack der Massen kritisiert.³ Die Kritik machte deutlich, dass die Methodik der period rooms, den »Stil« einer Epoche umfassend vermitteln zu wollen, ebenso von der Ästhetik und den ideologischen Prämissen zur Zeit ihrer Installation beseelt ist. Wir haben es also mit Visualisierungen und Imaginationen des Wissens über die Objekte des period rooms und deren Herkunft und Geschichte zu tun (Pilgrim 1978). All diese Kritik konnte jedoch nicht verhindern, dass der period room sich insbesondere in den USA als museale Strategie und kontextuelles
1 | Einführend dazu Gaehtgens 1992. Zu den
2 | Einleitend zur Situation in den deutschspra-
»Epochenräumen« der Kunstgewerbemuseen
chigen Ländern siehe Schubiger 2014.
siehe Rückert/Segelken 1995.
Wilde Muster | Änne Söll
Display in den Zwischenkriegsjahren etablieren konnte. Obwohl das period room display besonders in den 1970er und 1980er Jahren aus genannten Gründen keinen guten Ruf genoss, kann man mittlerweile sogar ein erneutes Interesse am period room verzeichnen, eröffnet er doch die Möglichkeit, unterschiedliche Objektklassen aus bildender Kunst und angewandter Kunst miteinander in Verbindung zu bringen. Paradoxerweise sind es nun gerade die als veraltet angesehenen immersiven Strategien des period rooms, die durch ihre Betonung von Sinnlichkeit, Materialität und Narration besonders gut geeignet sind, die soziale Rolle von Museen und ihren Anteil an der Vermittlung kunsthistorischer Inhalte durch eine »Regulierung des Sehens« sichtbar zu machen (Hantelmann/Meister 2010: 12). Die Interventionen in period rooms zeitgenössischer Künstler wie Yinka Shonibare, Mary Lucier oder Adam Chodzko nutzen die Eigenschaften der period rooms und können als spielerische, destruktive oder subtile Eingriffe in die visuelle Ordnung der displays verstanden werden. Ziel der meisten zeitgenössischen Arbeiten in period rooms ist es, die »Ordnung« des Museums zu stören, das Sehen und Verstehen im Museum zu deregulieren und dabei erstens die Historisierung von Objekten durch museale, kunsthistorisch abgesicherte Kanonbildung zu unterminieren und alternative »Narrative« anzubieten. Zweitens wird die viel kritisierte, ja diskreditierte räumliche Dramatisierung der period rooms durch die zeitgenössischen »Interventionen« jedoch noch gesteigert. Sie wird dafür genutzt, die Betrachterinnen und Betrachter emotional zu affizieren und zu engagieren, ja die Besucher/innen zu zentralen Agent/innen im period room und damit in den Räumen der Kunstgeschichte zu machen. So wandelt sich der period room nicht zu einem Areal, das Authentizität und Kohärenz simuliert, sondern zu einem Brennpunkt von Authentischem und Imaginiertem, von inkohärenten, gegenläufigen Perspektiven. Und genau das haben Yinka Shonibares Arbeiten zum Ziel: Sie nutzen den period room als Ausstellungsort sowie als Bühne, um die sonst getrennten Perspektiven auf die Kolonialgesellschaft des 19. Jahrhunderts aufeinander prallen zu lassen. Es wird zu zeigen sein, wie Shonibare die Präsentationsform des period rooms dazu nutzt, Vorstellungen von Geschichtlichkeit, Authentizität und Ethnizität zu sprengen, um damit etablierte Ordnungen zu stören. Anders gesagt, haben wir es in Shonibares Arbeiten mit einem »Akt der Verwilderung« zu tun.⁴
3 | Die Evokation von Häuslichkeit und das
4 | Die schon ausführlich diskutierte Kritik
Ausstaffieren von weiblich konnotierten Innen-
Shonibares an einer vermeintlichen »afrikani-
räumen machen den Kurator zum Dekorateur,
schen« Identität wird deshalb nicht im Vorder-
so die Kritik (Duncan 2005).
grund stehen. Siehe dazu Picton 2001.
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Wilde Dinge in Kunst und Design | Aspekte der Alterität
Yinka Shonibare und der period room Schon 1996 bis 1997 produzierte Shonibare die Arbeit Victorian Philantro pist’s Parlour (Abb. 1), für die er ein viktorianisches Wohnzimmer samt Sessel, Chaiselongue, Tischen, Teppichen und Kamin nachbaute.⁵ Das Wohnzimmer war mit Hilfe von dünnen, als solchen erkennbaren Theaterwänden aufgebaut, was den Effekt eines Bühnenaufbaus oder einer Kulisse evozierte. Schon durch diesen Trick wurde deutlich, dass die vermeintliche historische Kohärenz eines viktorianischen period rooms durchkreuzt werden sollte. Noch effektiver trugen dazu die verwendeten Textilien bei. Bis auf den Teppich waren alle Oberflächen inklusive der Tapete mit Stoffen bezogen, deren Muster Shonibare selbst entworfen hatte und die sich an »afrikanischen« wax cloth orientierten. Die Stoffe waren zudem mit Bildern afrikanischer Fußballer dekoriert, was der viktorianischen Einrichtung einen direkten Bezug zur Gegenwart verlieh und signalisierte, dass wir es mit einem nachträglichen Konstrukt zu tun haben, welches auf eine Sichtbarmachung der Verbindung von England mit seinen Kolonien in Afrika und den Folgen der englischen Kolonialherrschaft besteht. Die Verwendung dieser sogenannten wax cloth oder auch dutch wax cloth ist mittlerweile zu einem Markenzeichen von Shonibares Arbeiten geworden. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Holland und Manchester entworfen und teilweise auch dort hergestellt, jedoch für den westafrikanischen Modemarkt bestimmt, sind diese african wax cloth⁶ mittlerweile ein fester Bestandteil der westafrikanischen Kultur. Die Muster und Drucktechniken sind von indonesischen Batiken sowie von afrikanischen und europäischen Motiven inspiriert, was sie zusammen mit ihrer Popularität in westafrikanischen Staaten wie Nigeria zu einem hybriden, multiethnischen Produkt macht, in dessen Mustern sich unter anderem die Kolonial- und die Befreiungsgeschichte spiegeln (vgl. Rabine 2002).⁷ Wie Leslie Rabine feststellt, besteht das »Afrikanische« für die Konsumenten dieser Stoffe nicht in einem bestimmten Bild von Authentizität, das auf den Stoff gedruckt und damit festgehalten wird, es sind vielmehr eine »mobile soziale Geschichte und eine offene Geographie, durch die der Stoff entsteht« (Rabine 2002: 138) und die diese Stoffe für den afrikanischen Markt
5 | In seinem Puppenhaus, das Shonibare
zimmer ausgestattete Puppenhaus war in den
für das Peter Norton Family Christmas Art
Dimensionen von 33 x 20 x 24 cm angefertigt
Project entwarf, fokussierte er im Jahr 2002
und erlaubte durch die nicht existierende Rück-
ein weiteres Mal die Idee eines durch wax cloth
wand einen Blick in das verkleinerte Interieur
verwandelten period rooms des 19. Jahrhun-
(Nouveau Musée National de Monaco 2011: 90).
derts. Das mit einem Wohnzimmer und Schlaf-
Wilde Muster | Änne Söll
interessant und wertvoll machen. Zudem sind diese Stoffe trotz ihrer hy briden Entstehungsweise Teil eines konsumorientierten »Afrizentrismus« afrikanischstämmiger Auswanderer im Westen. Durch das Tragen der wax cloth wird nicht nur ein »authentisch afrikanisches« Produkt beschworen, sondern ebenso Solidarität mit Afrika zum Ausdruck gebracht (Hobbs 2008: 31). Rabine fasst die Historie der Stoffproduktion zusammen und verdeutlicht dadurch ihre interkulturelle Genese, angetrieben durch kolonialen Handel und Beziehungen: »[…] it was the Dutch who first brought Javanese batik to Europe in the late sixteenth century, and later sold it to the English who destined it for their African market in the 1820s. Dutch manufacturers began manufacturing wax stamped cloth in the 1880s, and British fabric manufacturers in Manchester then developed their own print designs, equipment, dyes and techniques for an industrialized version of Indonesian way stamping to be sold in Englishruled West Africa.« (Rabine 2002: 139) Mit Ausnahme der teuersten und am aufwendigsten produzierten Stoffe, die in Holland hergestellten werden, wird mittlerweile ein Großteil der Stoffe in Afrika selbst produziert. Die Motive werden durch die afrikanische Produktion teilweise kopiert und umgewandelt, sodass sich lokale Interessen, Mythen, Traditionen, aber auch politische Befreiung oder Modernisierungsschübe darin wiederfinden lassen. John Picton bringt die Aneignung dieser Stoffe dementsprechend auf den Punkt, wenn er sagt, dass »es alles mit einem (gescheiterten) kolonialen Versuch begann, lokale Produktion zu unterwandern. Die kolonialen Bemühungen wurden jedoch durch afrikanisch kulturellen Widerstand untertrieben« (Picton 2001: 162). In seiner Arbeit Untitled (Dollhouse) aus dem Jahr 2002 für den Sammler Peter Norton verwendete Shonibare diese »afrikanischen« Textilien erneut, diesmal aufgespannt auf Miniaturmöbeln, mit denen er das viktorianische Puppenhaus einrichtete.⁸ In beiden Arbeiten, dem Dollhouse und Victorian Philantropist’s Parlour dient der Stoff dazu, den Raum zu verfremden. Die
6 | Diese Stoffe werden zwar wax cloth also
hergestellten und nach Nigeria importierten
»Wachstuch-Stoffe« genannt, die Muster
Stoffe, die besonders reich, beidseitig deko-
werden jedoch mittlerweile nicht mit Wachs,
riert und damit auch am kostspieligsten sind
sondern mit Harzen hergestellt und sind
(Picton 2001: 69).
dadurch auch maschinell und massenhaft
7 | Siehe dazu auch Nielsen 1979. Für eine
fabrizierbar. Shonibare verwendet laut John
Analyse der Stoffmuster im kolonialen und
Picton ausschließlich die in den Niederlanden
postkolonialen Kontext siehe Picton 2001.
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Stoffe mit ihrer starken Farbigkeit und intensiven Leuchtkraft lassen das Gegenteil eines für europäische Augen »geschmackvollen« Interieurs erstehen; die Muster wirken somit »wild« und haben die gedeckten Farben und dezenten Muster europäischer Provenienz verdrängt: »For Shonibare the cloth is an apt metaphor for the entangled relationship between Africa and Europe and how the two continents have invented each other, in ways currently overlooked or deeply buried«. (Hynes 2001: 60) Shonibare konfrontiert die Betrachterinnen und Betrachter dadurch mit dem kolonialen Machtgefüge des 19. Jahrhunderts und transportiert mit Hilfe des Stoffes den verdrängten und ausgebeuteten afrikanischen Kontinent in die Erzählung vom viktorianischen Heim. Zudem stellt Shonibare dadurch die Frage nach der Entstehung von Identitäten und Ethnizität mit Hilfe von Innen architektur, Möbeln, d.h. materieller Kultur ganz allgemein: Was ist überhaupt europäisch? Was ist afrikanisch? Wer kreiert europäische bzw. afrikanische Identität? Wie wird sie produziert und konsumiert? Und vielleicht noch präziser: Wer soll in diesen Interieurs wohnen oder gewohnt haben? Welcher Film wird hier gedreht? Welches Theaterstück aufgeführt? Und welche stereot ypen Vorstellungen, zu denen auch das Klischee vom »wilden Afrika« gehört, werden dabei aktiviert? Es verwundert also kaum, dass Shonibares Arbeiten als Parodie eines period rooms beschrieben worden sind (Hynes 2001: 62). Sie führen das System des period rooms mit all seinen Fallstricken der Authentizität und Geschichtskonstruktion eindrucksvoll vor Augen und fordern uns heraus, uns nicht einfach in der Vergangenheit »einzurichten«, sondern über die verfestigten Vorstellungen etablierter Geschichtskonstruktionen in Form von Interieurs nachzudenken. Anders gesagt, werden durch Shonibares interventionistische Strategie »verbindliche Erzählungen (der Kunstgeschichte, Ä.S.) unterminiert [...], ideologische Gewissheiten der Gegenwart über die Vergangenheit dekonstruiert« (Leeb 2009: 29) und Alternativen angedeutet. Es geht mithin nicht nur um eine Intervention in die Erzählungen der Geschichte und Kunstgeschichte, der sogenannten Zivilisation, sondern um eine »Öffnung von Geschichte auf eine alternative Gegenwart« (Leeb 2009: 35). Der period room wird durch Shonibare in einen politischen Übergangsraum verwandelt, in dem historische Objekte und Räume, »immer wieder im gleichen Zuge geschaffen und entdeckt werden« (Leeb 2009: 40) müssen. Der Museumsraum wird, mit den
8 | Period rooms existieren auch en miniature,
Art Institute of Chicago (The Art Institute of
siehe hier zum Beispiel die amerikanischen
Chicago 1941).
period rooms der Mrs. James Ward Thorne im
Wilde Muster | Änne Söll
Worten Felipe Hernandez »not a space of resolution, but one of continuous negotiation« (Hernandez 2010: 95). Insbesondere Shonibares folgende Interventionen in die amerikanischen period rooms des Brooklyn Museums, darunter auch ein orientalistisches Interieur, verdeutlichen, dass der Rückgriff auf eine vermeintlich authentische Welt der nationalen Vergangenheit oder des Orients als hybrides Konstrukt angesehen werden muss. In diesem Sinne kann man Shonibares Räume auch als den von Homi Bhabha beschriebenen third space betrachten, der es durch seine Hybridität ermöglicht, dass alternative Positionen artikuliert werden können: »the third space displaces the histories that constitute it« (Rutherford 1990: 211).
Mother and Father worked hard so I can play In Yinka Shonibares Installationen im Brooklyn Museum of Art in New York von 2009 mit dem Titel Mother and Father worked hard so I can play platzierte der britisch-nigerianische Künstler in sieben period rooms seine für ihn typischen kopflosen Figurinen,⁹ die mit den schon erwähnten bunt gemusterten Stoffen bekleidet waren. Im Falle der Arbeit im Brooklyn Museum haben wir es mit spielenden Kinderpuppen zu tun, die durch ihre farbigen Kleider einen Kontrast zu den sonst unbevölkerten und mit Bedacht eingerichteten period rooms bilden. Es sind insbesondere die leuchtenden Stoffe und ihre sich überlagernden Muster, die die Aufmerksamkeit der Betrachterinnen und Betrachter auf sich ziehen und die im Gegensatz zu den einfach gemusterten Stoffen und den gedeckten Farben der Inneneinrichtung stehen. Die hochwertigsten der »afrikanischen« Stoffe werden wie erwähnt weiterhin in Europa entworfen und hergestellt. Besonders bekannt sind die der Marke Vlisco, deren europäische Designer, so der Direktor, sich zwar bei afrikanischen Vorbildern und Traditionen bedienen und »inspirieren lassen«, diese jedoch mit eigenen Ideen amalgamieren.¹⁰ Besonders typisch für die Muster von wax cloth sind kleine Fehler und Ungenauigkeiten in der Platzierung der Motive und Linien, die ursprünglich durch die handgefertigte Wachsdrucktechnik entstanden, und die – nun, da diese Technik mit effizienteren und genaueren Druckmethoden ersetzt ist – weiterhin nachgeahmt werden und die ästhetische »Qualität« der Stoffe ausmachen. Laut des Direktors perfek-
9 | Zur Deutung der Puppen im Kontext von Georges Batailles Theorien des Exzesses siehe Hobbs 2008: 37-38.
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Wilde Dinge in Kunst und Design | Aspekte der Alterität
tionieren die Designer von Vlisco paradoxerweise genau diesen »unperfekten« Look: »If we use lines or a raster of lines, instead of putting them at exact geometrical angles, we give the lines a slightly odd angle, sometimes hardly visible with the bare eye. The effect is that the screen, instead of being stable, is unstable and much more lively. It dances in front of your eyes.« (Hobbs 2008: 33) Es ist eben dieses »tanzende« Muster, das in Kontrast zu den wohl angeordneten, meistens zurückhaltenden textilen Ornamenten und Möbelarrangements Abb. 2: Yinka Shonibare, Party Time, der period rooms steht und das zusamRe-Imagine America, 2009, Rauminstallation, men mit den spielenden Kindern die Newark Museum, New Jersey »Ordnung« der Innenräume buchstäblich in Bewegung bringt und dadurch in gewisser Weise »verwildert«. Ähnlich wie in den beiden Arbeiten Dollhouse und Victorian Philantropist’s Parlour tragen die mit den hybriden »afrikanischen« Stoffen ausstaffierten Kinderpuppen einen Hinweis auf komplexe Kolonialgeschichten in die historischen, repräsentativen Interieurs der weißen US-amerikanischen Oberschicht hinein. In den period rooms des Brooklyn Museums, die Einrichtungen aus der Zeit der Besiedlungs- und Kolonialgeschichte sowie der Zeit der Föderation und danach zeigen,¹¹ verweisen die Stoffe als Produkt der Kolonialgeschichte Afrikas wiederum auf Amerikas paradoxen Status einerseits als Kolonie und andererseits als Profiteur des Kolonialismus. Sie fungieren somit auch als Hinweis auf den Handel und die Ausbeutung afrikanischer Sklaven und damit auf eine ökonomische Basis der amerikanischen Oberschicht im 19. Jahrhundert (Lewis 2009: 226-227). Ähnliche Ziele verfolg-
10 | »We interpret what we see in the African
11 | Zur Entstehung der period rooms im Brook-
streets, and we see what our imagination
lyn Museum und dem Status von period rooms
comes up with. We mix the two, and that
in der Museumslandschaft siehe Pilgrim 1978
provides for a constant process of creation and
und Harries 2012.
innovation that wouldn’t happen otherwise.« (Hobbs 2008: 33)
Wilde Muster | Änne Söll
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te Shonibare in seiner Arbeit mit dem Titel Party Time, Re-Imagine America (Abb. 2) von 2009. Im mit Mahagoni getäfelten Raum des Ballantine House des Newark Museums in New Jersey bespielte Shonibare auf seine bewährte Weise das Esszimmer.¹² An einer reich gedeckten Tafel sitzt eine Gruppe von acht wiederum kopflosen Figurinen, die – angezeigt durch ihre ausgelassene Haltung – viktorianisches Dekorum hinter sich lassen und gerade ein mehrgängiges Menu verspeisen. Zu sehen ist der Moment, Abb. 3: Yinka Shonibare, Mother and Father worked in dem das Hauptgericht, ein Pfau, hard so I can play (»Schenk House«), 2009, Raum durch einen Bediensteten hereingeinstallation, Brooklyn Museum of Art, New York tragen wird. Shonibare rekonstruiert in diesem Fall kein Interieur wie in den beiden vorangegangen Beispielen, sondern er interveniert in ein historisches Interieur und nutzt die Aura des gut erhaltenen historischen Raums, um unserer Vorstellung von strikter viktorianischer Moral und strengem Verhaltenskodex ein Bild des Exzesses entgegenzustellen.¹³ Auch hier kommen die erwähnten »afrikanischen« Stoffe zum Einsatz, mit dem Ziel, die kolonialen Verflechtungen mit der Entstehung von Reichtum zu verdeutlichen. In all diesen Beispielen verweist Shonibares Verwendung dieser vermeintlich afrikanischen Stoffe auf die ungelöste Problematik eines Begriffs wie »Authentizität« im Kontext von Identitäts- und Emanzipationsprozessen, denn die Stoffe firmieren trotz ihrer Herkunft aus Europa und Asien als authentisch »afrikanisch« und sind im Zuge der Dekolonialisierung Afrikas in den 1960er Jahren zum Symbol für panafrikanische Identität auch außerhalb Afrikas geworden. Eine einfach gedachte Identitätspolitik mittels »authentischer« Objekte, die auch Teil der ideologischen Prämissen spezifisch amerikanischer period rooms und ihrer Erzählung von der »Zivilisierung« Amerikas sind, wird dadurch hinterfragt und erschwert. John Picton bringt es auf den Punkt, wenn er sagt, dass gerade »die Geschichte dieser Textilien die westafrikanische Fähigkeit hervorhebt, die europäische Intention [den westafrikanischen Markt für Textilien zu beherrschen und auszubeu-
12 | Gebaut 1885, gehörte das historische Haus
13 | Zur Funktion des Exzesses bei Shonibare
ehemals einer reichen Brauereifamilie und
siehe Hobbs 2008: 38-39.
ging 1937 in den Besitz des Museums über.
128
Wilde Dinge in Kunst und Design | Aspekte der Alterität
ten, Ä.S.] zu untergraben« (Picton 2001: 69). Diese Stoffe sind als hy brides und ambivalentes Material zu verstehen, als eine Form der »con structed Africanness« (Hobbs 2009: 33), die durch ihre Zirkulation auf koloniale und post-koloniale geopolitische Verstrickungen voneinander abhängiger Ökonomien und Staaten verweist.¹⁴ Für den Status des period rooms bedeutet Shonibares Einsatz der Stoffe, dass auch die Raum installation in ihrer »Authentizität« in Frage gestellt wird und als Hybrid, Abb. 4: Yinka Shonibare, Mother and Father worked ja als prekäres Konstrukt innerhalb hard so I can play (»Moorish Smoking Room«), 2009, einer großen Erzählung amerikaniRauminstallation, Brooklyn Museum of Art, New York scher Kulturgeschichte wahrgenommen werden kann.¹⁵ Werfen wir nun einen detaillierteren Blick auf die sieben der insgesamt 23 period rooms des Brooklyn Museum, in die Shonibare seine Puppen platzierte. Angefangen mit dem »Schenk House« aus dem Jahr 1675 (Abb. 3), das einen Purzelbaum schlagenden Jungen beherbergte, bis hin zum »Moorish Smoking Room« von ca. 1880, in dem ein Mädchen Seil hüpft (Abb. 4), fiel Shonibares Wahl auf diejenigen period rooms, die die Zeit bis Ende des 19. Jahrhundert abdecken und damit die Geschichte der Besiedlung durch die europäischen Einwanderer, die Kolonialzeit sowie die Zeit der Revolution und der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten erzählen. So lässt zum Beispiel im erst kürzlich rekonstruierten »Trippe House« von ca. 1730 ein Kind seine Beine trotzig in einem Alkoven baumeln (Abb. 5), im grandiosen Südstaaten-Speisezimmer, dem »Cane Acres Plantation Room« von ca. 1806 sitzt ein Mädchen mit einer Puppe unterm Tisch und im »Civil War dressing Cove« von ca. 1860 spielt ein Junge mit einer Marionette. Der »Milligan Parlour« aus dem Jahr 1845 wird mit Murmeln und mit Tierfiguren bespielt, und in der »Cupola House Bed chamber« von 1726 aus North Carolina fährt das kopflose Mädchen uns mit einem Roller entgegen (Abb. 6).¹⁶ In jedem Raum stören die Kinderpuppen durch ihre Spiele die Ruhe der historischen Interieurs, machen sie zu Auf-
14 | Zur genauen Geschichte der Entwicklung der Muster und Stoffe und der Differenzierung der Stoffqualitäten siehe Picton 2004. Vgl. dazu auch Hynes 2001, Picton 2001a und 2001b.
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führungsorten von kleinen »Dramen« des Alltags.¹⁷ Die period rooms werden so zu Orten, an denen kritische Fragen nach der Herkunft der Interieurs und ihrer »sozialen und geschlechterpolitischen Werte« (Bryant 2009: 81) gestellt werden können. Die amerikanischen period rooms des Brooklyn Museum erzählen damit nicht mehr zwingend eine Geschichte der zunehmenden »Zivilisierung Amerikas« und der Familie als deren Zentrum. Ohne sich direkt auf ein bestimmtes Narrativ festzuAbb. 5: Yinka Shonibare, Mother and Father worked legen, spielen Shonibares »Kinder« hard so I can play (»Trippe House«), 2009, Raum hier im wahrsten Sinne des Wortes auf installation, Brooklyn Museum of Art, New York die lange verdrängten Geschichten an, die sich außerhalb dieser bürgerlichen oder großbürgerlichen Interieurs abgespielt haben. Kurzum: es geht, wie der Titel es andeutet, um den Reichtum sowie um die Ausbeutung, die die Kinderspiele darin erst möglich gemacht haben. Vergleicht man Shonibares Inszenierung der period rooms im Brooklyn Mu seum mit denen der Ausstellung Dangerous Liaisons im Metropolitan Museum of Art in New York von 2003, in der kostümierte Figurinen in den period rooms platziert wurden, wird die provokative Rolle der Kleidung von Shonibares spielenden Kinderfiguren noch offensichtlicher (Metropolitan Museum of Art 2006). Während man in der Kombination von bekleideter Figurine und period room in den Settings des Metropolitan darauf achtete, dass sie sich kongenial ergänzten und ein möglichst authentisches, wenn auch deutlich fiktives »Bild« des französischen Adels im 18. Jahrhundert ergaben, setzt Shonibare in seiner Installation im Brooklyn Museum auf einen Bruch, einen Störfaktor, den die spielenden Kinder in den period room hineintragen. Shonibares kopflose Kinder sind dabei die Agenten der Unordnung, die ihre wilden Bewegungen in den period rooms ausleben.
15 | Dadurch, dass Shonibare ausschließlich
Ausbeutungsprozesse thematisiert, sondern
die hochwertigsten und kostspieligsten Stoffe
auch Fragen nach der Verbindung der Kolonisa-
dieser Art verwendet, die wiederum nur der
toren zu den Eliten des Koloniallandes gestellt
Elite in Westafrika zugänglich sind, werden
(Hobbs 2009: 34).
jedoch nicht nur koloniale und post-koloniale
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Zugleich deutet der erwachsene Schnitt der Kinderkleidung darauf hin, dass die Kindheit hier nicht als ein Naturzustand angesehen wird. Wir haben es nicht mit sogenannten »Wilden Kindern« zu tun, die isoliert in der Wildnis aufgewachsen sind, sondern mit Kindern einer sogenannten zivilisierten Welt. Die »Wildheit«, d.h. der angebliche natürliche und unverdorbene Zustand der Kindheit mit seinen Spielen, der dann durch das Erwachsenwerden, durch eine »Zivilisierung« abgelöst wird, ist hier Abb. 6: Yinka Shonibare, Mother and Father worked nichts, nach dem man sich zurückhard so I can play (»Cupola House Bedchamber«), 2009, sehnen kann. Vielmehr wird durch Rauminstallation, Brooklyn Museum of Art, New York die fremden Stoffe und das künstliche Interieur nur zu deutlich, dass »Kindheit« eben kein Naturzustand sein kann. Shonibares Kinder sind ganz deutlich Ausgeburten der erwachsenen Welt, die uns nicht vor der Entfremdung von einer »ursprünglichen«, »unvermittelten« gar »authentischeren« Welt retten werden. Es ist nicht nur der Gegensatz zwischen gesetzten, repräsentativen bürgerlichen Interieurs und ausgelassenen kindlichen Spielen, der die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Im Falle des »Cupola House Bedchamber« von 1726 (Abb. 6) ist es, wie schon erwähnt, auch die Gegenüberstellung von gemusterten Stoffen des Interieurs, wie den Vorhängen am Bett und am Fenster und der farbenfrohen Kleidung der kopflosen Kinderpuppen mit ihren historischen Kleiderschnitten, die Widerspruch und Dynamik in Gang setzt. Während das florale, gleichmäßig ausgebreitete Muster des hellen Aus stattungsstoffes auf gedämpfte Farben zurückgreift und dadurch dem Raum einen zugleich belebten, ruhigen und gediegenen Eindruck verleiht, erstrahlen die vermeintlich afrikanischen Stoffe mit intensiv farbigen »wilden« Tiermustern. In diesem Fall sind es die in unterschiedliche Richtungen fliegenden rot-schwarzen Schmetterlinge, eine dekorative Borte mit eingerollten
16 | Das Ausbrechen aus dem Schlafzimmer
17 | Shonibare arbeitet auch in weiteren Ar-
kann auch als Andeutung darauf gelesen wer-
beiten mit Kinderpuppen. Siehe zum Beispiel:
den, dass das Mädchen aus den geschlechter-
Dad, Dad and the kids, 2000; Pedagogy Boy/
politischen Konventionen des 19. Jahrhunderts
Boy, 2003; Pedagogy Girl/Girl, 2003; Boy with
entkommen will.
Bow and Arrow on stilts, 2006.
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Schlangen und ein Netz gewellter Linien auf gelbem Grund, die die Blicke der Betrachterinnen und Betrachter auf sich ziehen. Das durch die Überlagerung von ornamentalen und grafischen Mustern fast vibrierende Kleid der Kinderpuppe, das noch von einem weiteren schwarz-weißen Muster am Kragen und Rocksaum kontrastiert wird, entwickelt sich durch seine Komplexität und Dynamik zum visuellen Anziehungspunkt im Raum. Dieser Mustermix, der wiederum mit den weiteren Mustern des Raums konkurriert, trägt dazu bei, die angedeutete Bewegung des Kindes zu beleben und die Konzentration auf seine Spiele zu lenken. Zugleich wird es durch den Kontrast der Muster überhaupt erst ermöglicht, die textile Ausstattung des Raumes als solche wahrzunehmen und Fragen hinsichtlich ihres Status zu stellen: Handelt es sich um alte Textilien, oder haben wir es mit Reproduktionen zu tun? Welche Beziehung unterhalten die Textilien zum Rest der Einrichtung? Was tragen sie zur Stimmung des Raums bei?
Seilhüpfen im »Moorish Smoking Room« Blickt man auf das hüpfende Kind im sogenannten »Worsham-Rockefeller Room«, einem ehemaligen, in seiner späteren Nutzung wahrscheinlich meist Männern vorbehaltenen »Raucherzimmer« von ca. 1864-5 (umgebaut 1881, auch »Moorish Smoking Room« genannt), dann persifliert die pseudoafrikanische Kinderkleidung die Aneignung und Absorption nicht-euro päischer Kulturen durch den Westen im Kontext des Kolonialismus. Für Arabella Yarrington Worsham von der New Yorker Einrichtungsfirma Pottier und Stymus entworfen und angeblich auch als sitting room genutzt, zeugt der Raum durch seine Mischung aus Teppich, ornamentreichem Wandschmuck und nord-afrikanischen Einrichtungsstücken mit wertvollen Intarsienarbeiten von einer Faszination von islamischer Kunst und ihren Einrichtungsstilen. Mit seinen Anspielungen auf die angewandte Kunst des Maghreb und der von Nord-Afrika beeinflussten Architektur Südspaniens, besonders der Alhambra, ist der Raum ein wichtiges Beispiel orientalistischer Einrichtungsstile des 19. Jahrhunderts (Sweetman 1988: 229). Worshams Haus wurde an John D. Rockefeller verkauft und gelangte in den Besitz des Brooklyn Museum, wo es zu den wenigen noch erhaltenen »Moorish«-Interieurs Amerikas gehört. Das Interesse an islamischer Architektur und angewandter Kunst wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den Staaten besonders durch die Großausstellungen wie die Centennial Exhibition in Philadelphia im Jahr 1876, durch einzelne Sammler, deren Sammlungen in öffentliche Museen übergingen, und durch den aufkommenden Art Nouveau und dessen Vertrieb durch
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Firmen wie Tiffanys geweckt (Sweetman 1988: 229-231). Der Stil des Maghreb und des islamischen Süd-Spaniens wurde jedoch ausschließlich für Interieurs genutzt, die zur Unterhaltung und Entspannung dienten und perpetuierte damit bekannte Stereotype des Orients: »The choice of an Alhambraesque style for recreational spaces, whether directly derived from the real thing or mediated [...], is not of course, ideologically innocent. It would never have occured to any architect to create an Alhambraesque library or office. The application of the style for recreational spaces responds to preconceived associations of oriental culture with grandeur, luxury, idleness, sensuality, irrationality and so forth.« (Heide 2010: 217)¹⁸ Der »Moorish Smoking Room« ist damit eindeutig Teil eines westlichen Orientalismus, der sich jedoch im Vergleich mit Europa meistens nicht aus einem direkten Kontakt mit islamischen Kulturen sowie deren Architektur speist, jedoch in den USA auf einen fruchtbaren, offeneren Boden fällt (Sweetman 1988: 241). Wie in Europa, ist auch in diesem amerikanischen Falle die islamische Kunst Süd-Spaniens eine Folie: »ein Alter-Ego, sogar das ›Es‹, attraktiv genau aus dem Grund, weil es ermöglicht, die Ketten akzeptierter Konventionen zu sprengen« (MacKenzie 1995: 76). Wir haben es also im Falle des »Moorish Smoking Room« mit einem Interieur zu tun, das schon an sich mehrere Schichten kultureller Aneignung und Amalgamierung repräsentiert und deren fiktive, imaginäre Grundlage durch Shonibares Intervention noch klarer zu Tage tritt. Orientalistische Interieurs sind, in den Worten John Potvins immer schon hybride Produkte, »offering alternative spaces betwixt and between polarities associated with East and West. Each interior weds Oriental decorative idioms to a Western design syntax to create a unique and novel language for the modern interior« (Potvin 2015: 5). Shonibares Stoffe fügen dieser orientalistischen Mischung nicht nur eine weitere Dimension hinzu, sondern stellen damit auch die Zuordnung einzelner Ornamente und Stile zu einer Kultur in Frage. Er zeigt, dass keine »reinen« europäischen oder amerikanischen Stile oder Formen existieren, dass jegliche kulturelle Produktion schon per se das Produkt von Mischung, Migration und Dialog, Übersetzung und Austausch ist.
18 | Grundlegend zum Orientalismus in der
personal fantasies were invariably expressed
Architektur und im Design siehe MacKenzie
in Orientalist form.« (MacKenzie 1995: 89).
1995: »By the 20th Century, Orientalism had
MacKenzie bestreitet jedoch, dass das Moorish
certainly become the language of leisure and
design ausschließlich in der Architektur für
relaxation. [...] by the end of [the 19th Century,
Erholungs- und Freizeitbauten und Innneinrich-
Ä.S.], leisure and recreation ›escapism‹ and
tungen eingesetzt wurde (MacKenzie 1995: 101).
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: http://www.title-magazine.com/wp-content/uploads/2014/03/SHONIBARE_TheVictorian-Philanthropists-Parlour_1996-97_JCG5658_02.jpg Abb. 2: http://www.newarkmuseum.org/sites/default/files/Exhibition-PartyTime-1.jpg Abb. 3: http://stefanhepner.com/b-fragile/wp-content/uploads/sites/4/2015/03/dig_ e2009_yinka_shonibare_28_schenck_house_ps2.jpg Abb. 4: https://www.brooklynmuseum.org/community/blogosphere/wp-content/uploads/ JudyK/Shonibare_The_Moorish_Room.jpg Abb. 5: https://www.brooklynmuseum.org/community/blogosphere/wp-content/uploads/ JudyK/Shonibare_Trippe_House.jpg Abb. 6: http://stefanhepner.com/b-fragile/wp-content/uploads/sites/4/2015/03/dig_ e2009_yinka_shonibare_29_cupola_house_bed_chamber_ps2-150x150.jpg
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Abb. 1: Isa Genzken, Hula Hoop, 2006, Rauminstallation, Galerie Neugerriemschneider, Berlin, © VG Bild-Kunst, Bonn 2017
Wilde Assemblagen | Gerald Schröder
Wilde Assemblagen Reflexionen der Differenz im Werk von Isa Genzken Gerald Schröder
Hula Hoop nennt Isa Genzken ihre Installation, die sie 2006 in der Berliner Galerie Neugerriemschneider gezeigt hat. (Abb. 1) Im nüchternen white cube des Galerieraumes mit seinem schwarz gestrichenen Boden platzierte die Künstlerin zwei Sitzmöbel, die sie so einander gegenüber stellte, dass ihre Ausrichtung und ihr Abstand einen sozialen Raum entstehen ließen: zwei Sessel für zwei Menschen, die hier ins Gespräch kommen können. Und dies auf eine sehr entspannte Art und Weise. Denn als weiteres Angebot für ein potentielles Gespräch in einer gastfreundlichen Atmosphäre hat Isa Genzken zwischen die beiden Sitzmöbel eine Wasserpfeife auf den Boden gestellt und spielt damit auf das gemeinsame Rauchen an, wie es seit einigen Jahren gerade unter jungen Menschen auch in der westlichen Welt zur Mode geworden ist, wovon die zahlreichen Shisha-Bars in den Großstädten Zeugnis ablegen. Konterkariert wird die inszenierte potentielle Gesprächssituation allerdings dadurch, dass nur ein Platz frei und der andere Sessel bereits besetzt ist. Auf dem schweren Clubsessel, dessen helle Bespannung fleckenartig mit schwarzer Farbe besprüht wurde, hat jedoch kein Mensch Platz genommen. Stattdessen sind es alle möglichen Dinge, die hier abgelegt wurden und den Sessel somit zweckentfremden. Vor allem versperren mehrere Hula Hoop-Reifen aus silbernem Plastik die Sitzfläche. Die Reifen sind zusätzlich mit silbernen Fäden umwickelt, so dass ihr Glanz noch gesteigert wird. Hinzu kommen ein Fahrradreifen, der über die rechte Armlehne geworfen ist, sowie ein aufgeschlagenes Buch, das die farbige Reproduktion eines Gemäldes von Meister Francke aus dem 15. Jahrhundert zeigt. Es handelt sich um eine Tafel des sogenannten Thomas-Altars, der in der Hamburger Kunsthalle aufbewahrt wird. Dargestellt ist die Anbetung der Heiligen Drei Könige.1 (Abb. 2) Künstliches Laub in rötlichen Herbsttönen und viele breite Schleifen bzw. Bordüren, teils mit Arabesken-Ornament und teils mit kräftigen Farben in rot,
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blau und gelb vervollständigen das formal wie materiell sehr heterogene Arrangement zu einer bunt gescheckten künstlerischen Assemblage, wie sie für das skulpturale Werk von Isa Genzken seit den 1990er Jahren typisch ist.2 Der Kontrast zum gegenüber stehenden freien Sitzplatz könnte nicht größer sein. Denn der Assemblage aus durchweg billigen Dingen und Materialien gegenüber steht die Luxusvariante eines zum Klassiker gewordenen Designmöbels, den die Künstlerin hier quasi als ready-made, d.h. ohne weitere Eingriffe zum Bestandteil ihrer Rauminstallation gemacht hat. Es handelt sich um den sogenannten Barcelona-Sessel, den Ludwig Mies van der Rohe für den ebenfalls von ihm gestalteten Ausstellungspavillon der Weimarer Republik Abb. 2: Meister Francke, Anbetung der Heiligen auf der Weltausstellung 1929 in BarDrei Könige, 1424-1436, Öl auf Holz, celona ent worfen hat (Dunas 1996). 99 x 89 cm, Kunsthalle Hamburg Vor allem im Vergleich der Gegenüber stellung gewinnen, entfalten und betonen die beiden Möbel ihren eigentümlichen Charakter. Im Unterschied zur überbordenden Fülle des zur Assemblage überformten Clubsessels erscheint der Barcelona-Sessel reduziert und schlicht in der Form. Gegenüber der klaren Form des Barcelona-Sessels mit der streng geometrischen Rasterung der beiden gesteppten Lederkissen und den eleganten Schwüngen des verchromten Stahlgestells e scheint wiederum der Assemblage-Sessel besonders chaotisch und kitschig. Dies hängt auch mit der Farbgebung zusammen, die im einen Fall bunt gescheckt und im anderen Fall auf den Kontrast von schwarz und silberfarben beschränkt ist, so dass sich der Barcelona-Sessel harmonisch in den Galerieraum einfügt, während Isa Genzkens überarbeitete Fassung eines Sitzmöbels optisch aus dem Ambiente hervorsticht. Dies ist freilich dadurch bedingt, dass der white cube
1 | Bei dem Buch handelt es sich um die Pub-
den Martertod des hl. Thomas zeigt.
likation von Leppien 1992. Auf einer weiteren
Siehe Partilager 2009: o.S.
Aufnahme der Installation ist eine andere
2 | Einen Überblick zur Assemblagekunst
Seite aus diesem Buch aufgeschlagen, die
von Isa Genzken liefert Hoptman 2013.
Wilde Assemblagen | Gerald Schröder
des Galerieraumes derselben modernistischen Tradition entstammt wie der Barcelona-Sessel, dessen Designer Mies van der Rohe 1930, mithin ein Jahr nach der Weltausstellung in Barcelona, als Direktor an das Bauhaus in Dessau berufen wurde. Mit der kontrastreichen Gegenüberstellung der beiden Sitzmöbel, die stell vertretend für zwei unterschiedliche Subjektpositionen stehen können, schafft Isa Genzken buchstäblich eine Differenzsituation, die als anschauliche Verräumlichung einer seit den 1970er Jahren breit diskutierten theoretischen Debatte in den Kultur-, Kunst- und Designwissenschaften um die Differenzierung unserer Wahrnehmung durch die Kategorien von gender, class und race verstanden werden kann. Das Interesse an den genannten Differenzkategorien ist durchaus typisch für eine Generation von Künstlerinnen und Künstlern, die – wie Isa Genzken – parallel und im Austausch mit der genannten Theoriedebatte bestimmte Fragestellungen der Minimal Art der 1960er Jahre kritisch aufgegriffen und weiterentwickelt hat (Foster 1996: 59). So wurde in der postminimalistischen Objektkunst der 1970er Jahre zwar zunächst der Bezug zum architektonischen Raum von der Minimal Art übernommen, jedoch vom phänomenologischen Konzept der Raumwahrnehmung mit seiner Fundierung in einem universell gedachten Subjekt Abstand genommen. Anstatt eines allgemeingültigen Subjekts der Wahrnehmung, wie es noch die Minimal Art vorausgesetzt hatte, wurde zunehmend die geschlechts-, klassen- und kulturspezifische sowie ethnische Prägung unserer Wahrnehmung zum künstlerischen Thema gemacht. Dies führte schließlich auch dazu, dass in der zeitgenössischen Installationskunst der letzten Jahrzehnte der Raum, der in der Minimal Art nur als architektonischer Raum in den Blick geraten war, nun viel stärker im Hinblick auf seine soziale und diskursive Verfasstheit untersucht wurde (Kwon 2000; Möntmann 2002). Wie im Folgenden ausführlicher gezeigt werden soll, wird in Isa Genzkens Rauminstallation Hula Hoop modellhaft ein sozialer Raum in Szene gesetzt, der zentrale Differenzkategorien unserer Wahrnehmung kritisch reflektiert. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass das binäre Schema dieser Differenzen einem Machtgefälle unterworfen ist, so dass jeweils eine Seite der beiden Subjektpositionen verdinglicht und abgewertet wird. Zum Prozess der Abwertung gehört wesentlich mit dazu, dass diese Subjektposition mit dem Wilden assoziiert wird. Neben den bereits genannten Differenzen von gender, class und race thematisiert Isa Genzken auch die Gegenüberstellung von zwei zentralen kunsthistorischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts, deren Impulse bis in die zeitgenössische Kunst reichen. Gemeint sind einerseits die maßgeblich vom Bauhaus entwickelte funktionalistische Gestaltung mit ihrer Orientierung an der konstruktivistischen Kunst und andererseits der Surrealismus mit seinem Interesse für die kreativen Ressourcen des Unbewussten. Doch in der Rauminstallation
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von Isa Genzken werden diese Differenzen nicht nur geschärft und in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit vor Augen geführt, sondern auch kritisch infrage gestellt. Wie bei einem Hula Hoop-Reifen, der der künstlerischen Arbeit den Titel gibt, wird die zunächst gerade erscheinende Grenzlinie spielerisch in Bewegung versetzt, so dass die vermeintlich streng voneinander getrennten Gegensätze schließlich kreisförmig ineinander greifen. Dabei wird deutlich, dass das Wilde nicht im Anderen verortet ist, sondern immer schon eine Projektion des Eigenen war. Die Projektion spiegelt sozusagen die eigene Wildheit wider und lässt in der Reflexion das vermeintlich vertraute Eigene plötzlich fremdartig erscheinen.
Wilde Aspekte von gender, class und race Die Installation Hola Hoop ermöglicht grundsätzlich zwei verschiedene Blicke: Zum einen kann die Betrachterin oder der Betrachter das gesamte Setting der beiden Sessel wahrnehmen und räumlich umschreiten. Und zum anderen können wir zumindest in unserer Fantasie den Sitzplatz des BarcelonaSessels einnehmen, so dass sich von dort aus sozusagen ein imaginärer Blick auf den künstlerisch überformten Clubsessel gegenüber eröffnet. Dass dieser imaginäre Blick mit Macht ausgestattet ist, wird nicht zuletzt durch den ursprünglichen Entwurf von Mies van der Rohe unterstrichen. Dieser hatte sich nämlich bei den kreuzförmigen Stützen des tragenden Gestells am antiken Scherenstuhl orientiert, der bis ins Mittelalter den Feldherren und Herrschern als Sitzmöbel vorbehalten war (Dunas 1996). Aus der Warte dieses Blickregimes, das uns der Barcelona-Sessel vorgibt, verschwindet einerseits die Konstruktion des eigenen Standpunkts aus dem Blickfeld (wenn wir auf dem Sessel sitzen, sehen wir ihn nicht mehr) und erscheint andererseits der Sessel gegenüber als merkwürdig und fremdartig gestaltetes Anderes. Der eigene Sitzplatz wird zum transparenten Medium, durch das das Gegenüber nicht als gleichberechtigter Gesprächspartner wahrgenommen wird, sondern als ein Bild, das aus vielen unterschiedlichen Dingen wild zusammengestellt wurde und dabei auf den ersten Blick keinen erkennbaren Sinn sowie vernünftigen Zweck in seiner Gestaltung erkennen lässt. Und doch fangen die Dinge auf dem Sitzplatz gegenüber plötzlich an zu erzählen. Vielleicht am Anfang durchaus wirres Zeug. Dabei ist nicht ganz klar, ob die Dinge zu uns sprechen oder ob wir die Dinge durch die Assoziationskraft unserer Fantasie zum Sprechen bringen. Auf alle Fälle erscheinen die Dinge auch als Bildzeichen mit Bedeutung aufgeladen und können zu narrativen Zusammenhängen verknüpft werden, wenngleich die dabei entstandenen
Wilde Assemblagen | Gerald Schröder
Erzählstränge ähnlich lose Enden besitzen mögen wie die vielen bunten Bänder, die vom Sessel herabhängen. Durch die Verschränkung der beiden Blicke ist gegenüber der imaginären Sichtweise auf den wild gestalteten Clubsessel jedoch immer schon Distanz gewahrt. In der Wahrnehmung und der räumlichen Erfahrung der Installation haben wir immer schon das gesamte Setting im Blick und können somit die imaginäre Sichtweise auch mit ihren impliziten Voraussetzungen als eine Projektion reflektieren. Der Clubsessel wird damit letztlich zum Spiegelbild, das den Barcelona-Sessel zur Kenntlichkeit entstellt, d.h. in den Dingen gegenüber erkennen wir auf eine verzerrte Art und Weise unsere eigenen stereotypen Ängste und Wünsche. Aufgrund der semantischen Aufladung der versammelten Dinge kann die gesamte Installation zunächst als visuelle Verräumlichung der Geschlechterdifferenz betrachtet werden. So erscheint der Barcelona-Sessel mit seinen Materialien Stahl und Leder sowie der rationalen Form des Rasters seiner Polster männlich konnotiert. Aus der Perspektive dieses männlich konnotierten Blickfeldes, das uns der Barcelona-Sessel zumindest imaginär einräumt, wird der Assemblage-Sessel zur Projektionsfläche diverser Klischees bzw. Stereotypen von Weiblichkeit. In diesem Zusammenhang mögen der Bezug, der an ein Kuhfell erinnert, und das Blattwerk auf die traditionell mit der Frau in Verbindung gebrachte Nähe zur Natur aber auch zum Animalischen verweisen. Damit wird dem Weiblichen implizit eine gewisse Wildheit zugeschrieben, die vom Mann erst gezähmt werden muss. Zugleich sind der mit Farbe besprühte Bezug und das aus Kunststoff hergestellte Blattwerk hochgradig künstliche Bilder der Natur, die eben auch auf die oft künstlich hergestellte Maskerade der Weiblichkeit verweisen mögen (Riviere 1994 [1929]). Bunte Schminke und Kleidung gehören jedoch letztlich ebenso zum Klischeebild der Frau wie ihre vermeintliche Natürlichkeit. In diesem Kontext mögen die schmückenden Bänder und Bordüren der Assemblage an die traditionelle Rolle der Frau als schmückendes Beiwerk des Mannes erinnern. Und die bunten Geschenkbänder können auf das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern hindeuten, das im oft noch bis heute gepflegten Hochzeitsritual fortlebt, wenn die Braut wie ein Geschenk in weißen Tüll verpackt vom Vater an den Bräutigam übergeben gibt. Zum männlichen Idealbild der Frau gehört selbstverständlich auch ihre Verklärung als Madonna. Dieses Bild findet sich prominent platziert im Zentrum der Buchillustration, die aufgeschlagen im Schoß des Clubsessels zu sehen ist. Geschenkbänder sowie klischeeartige und triviale Bilder von Tieren und Blumen gehören zum festen ikonografischen Programm der Dingwelt, die Isa Genzken seit den 1990er Jahren in ihren Assemblagen versammelt. Auch das Motiv der thronenden Madonna taucht im Zusammenhang anderer Installationen auf, wie beispielsweise ein ähnlich gestalteter Sessel als Teil der Ausstellung in
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der Wiener Sezession von 2006 beweist, auf dem die billige Gipsreproduktion eines Renaissancebildes zu sehen ist.³ Neben der Differenz von männlich und weiblich ist in die Geschlechterperspektive, die sich vom Sitzplatz des Barcelona-Sessels imaginär eröffnet, latent auch die geschlechtliche Orientierung eingeschrieben. So mag aus dem Blickwinkel heterosexueller Männlichkeit das buchstäblich kreuz und quer gelagerte Arrangement des Clubsessels auch als effeminiert und queer im Sinne von schwul erscheinen. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Freundschaft mit dem Fotokünstler Wolfgang Tillmans hat sich Isa Genzken seit Mitte der 1990er Jahre auch künstlerisch für schwule Subkultur interessiert, wovon beispielsweise die Reihe ihrer Arbeiten mit dem Titel Schwules Baby von 1997 Zeugnis ablegen, die den Auftakt ihrer Assemblagekunst bilden.⁴ Sind es bei dieser früheren Arbeit verbeulte Küchenutensilien und Handwerksgeräte aus silbernem Stahl und Aluminium, die mit bunter Farbe scheckig besprüht wurden und damit auf den durcheinander geratenen gendered space des Haushalts anspielen, so sind es beim künstlerisch überformten Club sessel der Arbeit Hula Hoop Aspekte der Camp-Ästhetik, die auf schwule Subkultur verweisen mögen. Gemeint ist damit der extrovertierte theatralische Auftritt der wild kombinierten Dinge, die den vom Typus her männlich konnotierten Clubsessel wie eine drag-queen mit viel künstlich und effeminiert wirkendem Schmuck in Szene setzen. Erneut wird damit der Clubsessel mit seiner Staffage zur Projektionsfläche stereotyper Klischeebilder vom Anderen, auch wenn die Inszenierung als drag-queen den stereotypen Blick von außen immer schon pariert hat, indem sie selbstironisch mit dem Klischeebild vom effeminierten Schwulen spielt.⁵ Wie bereits angedeutet, ist der Barcelona-Sessel nicht nur geschlechtlich, sondern auch klassenspezifisch konnotiert. Schon sein ursprünglicher Bestimmungsort, der Pavillon auf der Weltausstellung von 1929, war nicht zuletzt wegen der verwendeten hochwertigen Materialien eine Luxusvariante des modernen Bauens. Mit seiner Orientierung am antiken Scherenstuhl wird der Repräsentationscharakter des Barcelona-Sessels noch einmal unterstrichen. Seit den 1950er Jahren wird dieses Möbel von der Firma Knoll-International hergestellt und kostet heute – auch aufgrund seiner aufwendigen handwerklichen Produktion – mehrere tausend Euro. Der Barcelona-Sessel galt immer schon als soziales Statussymbol und repräsentiert heute den Geschmack eines arrivierten und wohlhabenden Bildungsbürgertums.⁶ Schaut man von diesem Blickpunkt aus auf das chaotisch anmutende Arrangement des Clubsessels, so erscheint dies als Ausdruck von schlechtem Geschmack.
3 | Vgl. die Abbildung in Eiblmayr 2006: 51.
5 | Zum kritischen Potential der Travestie
4 | Vgl. die Abbildung in Breitwieser 2013: 143.
siehe v.a. Butler 1991: 198–208.
Wilde Assemblagen | Gerald Schröder
Es widerspricht allen gängigen Regeln der Gestaltung, die in der Folge des Bauhauses aufgestellt wurden und in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg zum Ideal der guten Form führten. Im Unterschied zum hochwertigen Design-Klassiker müssen vor allem die billigen Materialien, die Isa Genzken verwendet hat, negativ zu Buche schlagen. Der Clubsessel könnte ein Fundstück vom Sperrmüll sein und die billigen Plastikreifen sowie das falsche Laub und die bunten Geschenkbänder könnten aus einem Ein-Euro-Laden stammen. Legt man hier den ästhetischen Wertmaßstab an, den der imaginär eingeräumte Standpunkt des BarcelonaSessels vorgibt, so erscheint die Assemblage als Trash und Kitsch.⁷ Damit wird der Assemblage ein weiterer Aspekt des Wilden verliehen, das hier als ungebildet und unkultiviert spezifiziert wird. Auch diese Wildheit sollte traditionell gezähmt werden, wovon beispielsweise die pädagogischen Bemühungen des Deutschen Werkbundes Zeugnis ablegen, zu dessen führenden Mitgliedern Mies van der Rohe seit den 1920er Jahren gehörte. Die kritische Auseinandersetzung mit der klassenspezifischen Wertung von high and low spielt bei vielen Installationen von Isa Genzken eine wichtige Rolle. Dabei kann es zu einer regelrechten Nivellierung zwischen billigem Nippes und hochwertigem Markendesign kommen, wie beispielsweise die Assemblagen von Ground Zero (2008) belegen, bei denen die Künstlerin vor allem sehr hochwertige und teure Plastikmöbel der Firma Kartell von Designern wie Ronan und Erwan Bouroullec, Antonio Citterio und Patrick Jouin verwendet hat. Kombiniert wurden diese Stücke mit den uns schon bekannten billigen Requisiten wie künstliche Blumen, bunte Geschenkbänder, aber auch Plastikfolien sowie Matchboxautos und einem kitschigen Kissen, bedruckt mit dem Foto eines Wildtieres.⁸ Ähnlich wie bei der geschlechtsspezifischen Perspektive schreibt sich auch in die klassenspezifische Perspektive eine weitere Differenzierung ein, die neben dem Unterschied zwischen wohlhabendem Bildungsbürgertum und armen bildungsfernen Schichten auch den Unterschied zwischen den Generationen betrifft. Betrachtet man das Raumensemble der Installation als Ganzes, so lässt der kreativ gestaltete Clubsessel sein Gegenüber ganz schön alt aussehen. Aus der Perspektive einer klassisch gewordenen Moderne erscheint die Assemblage hingegen als jugendlich und frech, gerade weil sie die Gestaltungsideale eines in die Jahre gekommenen Bildungsbürgertums provokativ infrage stellt. Damit rückt das rebellische Potential
6 | Zur Klassenspezifik der Geschmacks
8 | Vgl. die Abbildungen in Muir/
bildung siehe v.a. Bourdieu 1982.
Unterhöfer 2008.
7 | Zum Aspekt des Trash in den Assemblagen von Isa Genzken siehe Bois 2009.
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des Wilden in den Fokus, das von den westlichen Jugendbewegungen seit den 1950er Jahren immer wieder in Anspruch genommen wurde. Dass Möbel aus dem Sperrmüll kreativ umgestaltet und neu genutzt werden können, gehört zum experimentellen Lebensalltag der Jugendkultur. Hula Hoop- und Fahrradreifen mögen in diesem Zusammenhang auf die körperliche Beweglichkeit der Jugend verweisen und der schwarz besprühte Sesselbezug kann als Hinweis auf die jugendliche Subkultur des Sprayens und Graffitis verstanden werden. Nicht zuletzt deutet die Wasserpfeife an, dass Drogenkonsum und Jugendkultur von jeher zusammengingen. Auch hier wird der Clubsessel letztlich wieder zur Projektionsfläche einer ganzen Reihe von Stereotypen und Klischeebildern der Jugend, wobei sich hier Vorstellungen von den bunt gekleideten Hippies, den anarchischen Punks und der ekstatischen Techno szene überlagern. Gerade letztere spielte für Isa Genzken seit ihrem Umzug von Köln nach Berlin Mitte der 1990er Jahre eine wichtige Rolle (Hoptman 2013: 141–142). So erinnern ihre Assemblagen, die seit dieser Zeit entstanden sind, nicht von ungefähr auch an das bunte und schrille Outfit, wie es von den Ravern bei einer Loveparade getragen wurde. Ebenso besteht strukturell eine Analogie zwischen dem Mischen der Dinge bei den Assemblagen von Isa Genzken und dem Sampeln des DJs bei der Technomusik.⁹ Wie sieht es nun mit der dritten zentralen Differenzkategorie aus? Wie werden mittels der Rauminstallation von Isa Genzken Aspekte von race, d.h. von ethnischer aber auch kultureller Differenz thematisiert und künstlerisch reflektiert? Wie wird das Wilde von diesem Standpunkt aus perspektiviert? Unter dieser Betrachtungsweise ist der Barcelona-Sessel dezidiert westlich konnotiert und formuliert zugleich den kolonialistischen Anspruch, dass der westliche Blick auf die Welt universelle Gültigkeit habe. Steht doch gerade Mies van der Rohe für eine vom Deutschen Werkbund und Bauhaus mit beförderte modernistische Architektursprache, die seit der epochemachenden Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art im Jahr 1932 als International Style bezeichnet wird und sich mit diesem Anspruch auf internationale Gültigkeit in der Tat bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit durchsetzen konnte. Dass der Barcelona-Sessel diesen Standpunkt aufgrund seiner historischen Herleitung vom Scherenstuhl symbolisch mit imperialer Macht ausstattet, wurde bereits in anderem Zusammenhang erwähnt, lohnt jedoch an dieser Stelle wiederholt zu werden. Aus der Warte dieses westlich, modernistisch und kolonialistisch geprägten Blickwinkels erscheint der zur Assemblage erweiterte Clubsessel als fremdartig und exotisch. Verstärkt wird dieser Eindruck wiederum durch die semantische Aufladung der
9 | Zum verbreiteten Phänomen des remix in der zeitgenössischen Kunst siehe Bourriaud 2002.
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hier versammelten Objekte. So verweisen Shisha-Pfeife und das Ornament der Arabeske auf die arabische bzw. morgenländische Kultur. Vor diesem Hintergrund rücken auf der Illustration des Gemäldes von Meister Francke plötzlich die drei Weisen aus dem Morgenland in den Fokus der Betrachtung. Die Hula Hoop-Reifen greifen den Namen hawaiianischer Ritualtänze auf. Die sportliche Technik selbst hat ihre Ursprünge hingegen im Hoop Dance der nordamerikanischen Ureinwohner, der ebenso wie der polynesische Hula-Tanz rituelle Funktionen besitzt und als körperliche Symbolsprache bestimmte Mythen dieser indigenen Volksgruppen erzählt (Holmes 2015). In diesem Zusammenhang mag das bunt gefärbte Laub, das Isa Genzken zwischen die Hula Hoop-Reifen gesteckt hat, als Hinweis auf den Indian Summer verstanden werden. Und die exzessive Anhäufung der Dinge, die so typisch für viele Arbeiten von Isa Genz ken ist, mag an den Potlach der Indianerstämme an der nördlichen Pazifik küste Nordamerikas erinnern. Bei diesem rituellen Fest haben sich die Häuptlinge unterschiedlicher Stämme mit Geschenken wie bei einem Wettstreit regelrecht überboten, um damit ihren sozialen Rang zu behaupten (Mauss 1989 [1925]). Manchmal nahmen die beim Potlach übereinandergestapelten Dinge regelrecht die Form monumentaler Totempfähle an. Auch daran erinnern viele der stelenartigen Assemblagen von Isa Genzken. Der Blick auf das ethnisch und kulturell Andere, den Isa Genzken mit ihrer Rauminstallation kritisch reflektiert, macht deutlich, dass dieses vermeintlich Andere immer schon durch die westlich geprägte Sichtweise angeeignet und sogar regelrecht kommerziell vermarktet wurde. Wir haben es also erneut mit fixen Stereotypen und in diesem Fall mit westlichen, stark vom Tourismus geprägten Klischeebildern zu tun. So gehört der Indian Summer seit langem zu den Werbeslogans der Tourismusbranche und der Hula Hoop-Reifen wurde 1958 von einer US-amerikanischen Spielzeugfirma unter diesem Markennamen sehr erfolgreich lanciert (Holmes 2015). Die fantasievoll gestaltete Wasserpfeife bedient westliche Klischeebilder vom märchenhaften Orient und auch das Ornament der Arabeske wurde gerade zu Beginn der westlichen kulturellen Moderne, in der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts, zur Projektionsfläche für eigene künstlerische Experimente (Busch 2013). Und letztlich wird mit dem Bild der aufgehäuften Dinge nicht nur an den Potlatch der Native Americans erinnert, sondern ebenso an die trophäenartig zusammengewür felten Sammlungen indigener Objekte in den europäischen Kolonialmuseen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
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Wilde Fetische Zu den hier aufscheinenden Klischeebildern des ethnisch und kulturell Anderen gehört nun wiederum ganz zentral der Aspekt des Wilden, der aus der Warte des Barcelona-Sessels auf die gegenüberliegende Assemblage projiziert werden kann. Wild erscheint der künstlerisch überformte Clubsessel zunächst aufgrund seiner Form, die eben nicht wie sein funktional gestaltetes Gegenüber das Produkt einer logisch durchdachten Zweckrationalität zu sein scheint, sondern vielmehr das Resultat einer zufälligen und dilettantischen Zusammenstellung billiger Materialien. Unter diesem Blickwinkel ähnelt die Assemblage dem »wilden Ding« schlechthin, wenn man die lange Zeit als Fetisch titulierten Objekte aus Zentralafrika so nennen darf (Böhme 2006: 178–225; Kohl 2003: 69–115, 191–203; Genge 2014). Die von der heutigen Ethnologie als Nkisi – einem Begriff der Bantusprache – bezeichneten Objekte können figurativ gestaltet sein, sind aber oftmals bündelartige Zusammenstellungen unterschiedlicher Materialien und Dinge, die in keine übergeordnete Form zusammengeschlossen sind. Wenn man so möchte, handelt es sich um Assemblagen.10 Im Unterschied zu den artifiziell hergestellten Massenwaren, die Isa Genzken in ihren künstlerischen Assemblagen verwendet, wurden bei den afrikanischen Nkisi jedoch meistens natürliche Dinge und Materialien zusammengestellt, denen bestimmte Kräfte zugeschrieben wurden. Diese konnten ganz real sein, indem giftige Substanzen eingesetzt wurden, waren meistens jedoch magischer Natur und eingebettet in bestimmte kosmologische Weltbilder. Aufgrund ihrer magischen Wirkung erlangten die Nkisi einen gewissen Subjektstatus, d.h. sie wurden quasi zu Personen, die verehrt aber auch bestraft werden konnten, wenn die erhoffte Wirkung nicht eingetroffen war. Wie gesehen, bekommen auch die Dinge in den Assemblagen von Isa Genzken in gewisser Weise einen Subjektstatus zugewiesen: Sie nehmen wie menschliche Personen auf Sitzmöbeln Platz oder werden wie aufrecht stehende Figuren in Szene gesetzt, so dass es in der Werkentwicklung von Isa Genzken durchaus konsequent ist, wenn sie in ihren jüngsten Arbeiten direkt Kinder- und Schaufensterpuppen verwendet. Gerade durch die Puppen erhalten die Installationen einen unheimlichen Charakter, weil sie als Assemblage von eigentlich toten und passiven Dingen zugleich animiert und als aktiv handelnde Subjekte erscheinen.
10 | »Wir würden, in der Perspektive moderner Kunst, solche Complex-Fetische heute als Assemblagen bezeichnen« (Böhme 2006: 189).
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Es waren gerade diese Objektassemblagen der Nkisi, die seit den ersten Entdeckungsreisen und christlichen Missionen in Afrika auf das Unverständnis der Europäer stießen und bei ihnen sogar große Empörung hervorriefen. Ausdruck dieser Empörung war schließlich auch ihre Bezeichnung als Fetisch, die sich seit dem 16. Jahrhundert durchgesetzt hat. Der Name leitet sich aus dem Portugiesischen ab und zielt mit seiner lateinischen Wurzel factitius auf die künstliche Herstellung dieser Objekte, um damit die magische Wirkung dieser vermeintlichen Zaubermittel als Aberglauben zu entlarven. Die afrikanischen Fetische wurden für die Europäer sogar zum Inbegriff des Aberglaubens schlechthin und bekräftigten das europäische Klischee von Afrika als »dunklem Kontinent«. Wie Hartmut Böhme in seiner breit angelegten kulturwissenschaftlichen Studie zum Fetischismus zusammenfasst, die übrigens im Jahr der Ausstellung der Installation Hula Hoop 2006 erschienen ist, fühlten sich die Europäer durch die afrikanischen Fetische gleich in mehrfacher Hinsicht provoziert (Böhme 2006: 196–198). Neben den religiösen Werten des Christentums waren es die ökonomischen und ästhetischen Wertvorstellungen, die durch die afrikanischen Fetische infrage gestellt wurden. So war es den Europäern völlig unverständlich, warum den billigen Materialien der Fetische ein so großer Wert beigemessen wurde, und Gold oder Elfenbein, das die Europäer als wertvolle Materialien begehrten, durch Glitter und Tand eingetauscht werden konnten. Das Skandalon, das die Fetische auf ästhetischer Ebene bereiteten, bringt Hartmut Böhme treffend auf den Punkt: »Insbesondere die Komposit-Fetische und die chaotisch erscheinenden Fetischsammlungen zeigen ein scheußliches Maß an Chaos und Unordnung, an sinnloser und grotesker Zusammenstellung, an wüster Materialität und Profanität. Die Europäer vermögen zwischen Müll und Wegwurf sowie integraler Dingordnung keine Unterscheidung mehr zu erkennen; in ihrem Blick verschwimmen die Objektfragmente, auch wenn sie figural zu einem einheitlichen Fetisch montiert erscheinen, zu einem differenzlosen Mischmasch, der ästhetische Abwehrreaktionen auslöst.« (Böhme 2006: 197) Mit ihrer Installation reflektiert Isa Genzken, wie dieser abwertende Blick auf das kulturell Andere aus der Perspektive einer sich als aufgeklärt verstehenden westlichen Moderne zustande kommt. Der BarcelonaSessel schafft erst die ästhetische Differenz, in welcher die künstlerische
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Assemblage als wild erscheint. Und zugleich rückt der Barcelona-Sessel erst durch sein vermeintlich wildes Gegenüber in ein aufgeklärtes Licht, das seine Form als elegant, kultiviert und funktional durchdacht erscheinen lässt. Mit dem Bild vom afrikanischen Fetisch entsteht aus der Warte des Barcelona-Sessels erneut eine hochgradig stereotype Vorstellung vom kulturell Anderen. Verstärkt wird das Klischee noch dadurch, dass in der Assemblage ja nicht nur das Bild vom afrikanischen Fetisch als imaginäres Bild aufscheint, sondern diese Vorstellung auch noch mit westlichen Bildern vom Orient, der Südsee und den Indianern Nordamerikas überblendet wird. Dabei wird deutlich, dass aus der Perspektive des Westens die anderen Kulturen oftmals »wie ein bunter Haufen« erscheinen und alle kulturellen Differenzen zwischen den Anderen über einen Kamm geschoren werden. Dies zeigt sich auch in der Geschichte des Fetischbegriffs, der in den religions wissenschaftlichen und ethnologischen Studien des 18. und 19. Jahrhunderts zu einem Konzept entwickelt wurde, das nun die Dingkultur aller als primitiv deklassierten nicht-westlichen Kulturen erklären sollte. Genau diese »Ver-Kennung der Differenz« hat der Kulturwissenschaftler Stuart Hall in seinem einflussreichen Text »The West and the Rest: Discourse and Power« von 1992 aus postkolonialer Perspektive als zentrale westliche Vorurteilsstruktur scharf kritisiert (Hall 1994; Winter 2012). Dass die stereotype Betrachtung des kulturell Anderen letztlich eine Pro jektion darstellt, die mehr über die westliche Kultur als über die nicht-west lichen Kulturen aussagt, ist bereits deutlich geworden. Die Wasserpfeife, die in den Raum zwischen die beiden Sessel gerückt ist, mag als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass die Grenze zwischen Eigenem und Anderen immer schon verwischt ist. Dies zeigt sich auch im Hinblick auf das Fetischkonzept. Denn bereits in den Schriften der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert wird darauf hingewiesen, dass die Dingmagie der »wilden« und »primitiven« Völker durchaus Ähnlichkeiten mit der christlichen Volksf römmigkeit des Katholizismus aufweise (Böhme 2006: 184). Auch hier wird an die geradezu magische Kraft bestimmter Dinge – wie der Reliquien – geglaubt. Ebenso werden Ikonen und Skulpturen nicht nur als Repräsentation der Heiligen betrachtet, sondern oftmals wie eigenständig handelnde Personen verehrt, von denen sich Gläubige Hilfe und Schutz erhoffen.11
11 | Ob und wie sehr christliche Formen der
diesen Einfluss gab, auch wenn dieser vielleicht
Frömmigkeit über die Missionare sogar Einfluss
nicht so weit reicht, dass die besondere Form
genommen haben auf die Gestaltung und den
figurativer Nagel- oder Spiegelfetische direkt
Umgang mit den afrikanischen Nkisi, wurde in
von christlichen Kreuzigungs- und Heiligenfigu-
der Ethnologie des 20. Jahrhunderts kontrovers
ren sowie Monstranzen und Reliquiengefäßen
diskutiert. Unbestritten scheint heute, dass es
abgeleitet werden kann (Kohl 2003: 18–25).
Wilde Assemblagen | Gerald Schröder
In diesem Zusammenhang ist interessant, dass bei der Installation von Isa Genzken mitten im wilden Gewühle des zur Assemblage erweiterten Clubsessels auch die Reproduktion eines Gemäldes der Anbetung der Heiligen Drei Könige zu sehen ist. Wenn man so möchte, wird damit der christlichkatholische Kult als integraler Bestandteil des Fetischismus anschaulich gemacht, der auf den ersten Blick nur den anderen nicht-westlichen Kulturen zugeschrieben wurde. Vielleicht ist es vor diesem Hintergrund auch mehr als nur eine humorvolle und ironische Geste, wenn Isa Genzken 1993 den Kölner Dom, in dem die Reliquien der Heiligen Drei Könige seit dem 13. Jahrhundert verehrt werden, zu ihrem Atelier erklärt hat.12 Auch in anderen Arbeiten setzt sich Isa Genzken mit der eigentümlichen Dingwelt des Katholizismus auseinander. So schuf sie beispielsweise in ihrer Installation Wasserspeier and Angels von 2004 nicht nur eine aktuelle Version von den als grotesk rezipierten Bildwerken der gotischen Kathedrale. Mit ihren formalen Anspielungen auf Reliquienschrein und Heiligenfigur evoziert sie die magische Aura sakraler Gegenstände und bricht diese sofort wieder mit einer Portion Ironie, indem sie der Installation zugleich die Anmutung eines inszenierten Filmsettings verleiht. (Abb. 3) In der Folge religionswissenschaftlicher Studien zum Fetischismus hat Karl Marx in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Konzept des Fetischs ganz aus dem Bereich des kulturell und ethnisch Anderen gelöst und im Zentrum der vom Kapitalismus geprägten westlichen Kultur verortet (Böhme 2006: 307–327). Der Fetisch kennzeichnet nicht mehr das Fremde der anderen Kultur, sondern führt innerhalb der eigenen Kultur zur Entfremdung. Das Wirtschaftssystem des Kapitalismus weise gerade seit dem Zeitalter industrieller Massenproduktion quasi religiöse Strukturen auf. Im Zentrum der Marx‘schen Kritik steht dabei das Kapital, das sich durch Zinsertrag sozusagen magisch wie von selbst zu vermehren scheint. Doch auch die Ware ist für Marx ein Ding »voller metaphysischer Spitzfindigkeiten und theologischer Mucken«, das demensprechend als Warenfetisch bezeichnet wird (Marx 1986 [1890]: 85). Denn ähnlich wie die afrikanischen Fetische täuschen die Waren über ihre künstliche Herstellung hinweg. Obwohl es sich eigentlich um Produkte der Arbeit handelt, weisen die Waren aufgrund ihrer technisch-maschinell perfektionierten Form oftmals keine Spuren der Arbeit mehr auf und treten selbst den Menschen, die an der Herstellung dieser Produkte mitgearbeitet haben, schließlich als fremde Dinge gegenüber.13 Gefördert wird dieser Eindruck dadurch, dass die Waren den Konsumenten nur noch selten am Ort ihrer Herstellung begegnen. Dies gilt wiederum vor allem
12 | Vgl. die Abbildung in König/ Krajewski 2001: 12.
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Abb. 3: Isa Genzken, Wasserspeier and Angels, 2004, Rauminstallation, Atelier der Künstlerin, © VG Bild-Kunst, Bonn 2017
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für industriell hergestellte Waren, die nun fernab von den Fabriken in Kaufhäusern präsentiert werden. Die massenhafte Produktion der Waren und die Konkurrenz unterschiedlicher Anbieter haben dazu geführt, dass die Waren durch ihr visuelles Erscheinungsbild um die Aufmerksamkeit der Käufer buhlen. Sie sollen sozusagen ausstrahlen und die Menschen in ihren Bann schlagen, ähnlich wie dies die reich geschmückten sakralen Dinge in der katholischen Kirche tun. Dabei setzt der Glanz der Warenästhetik vorrangig den monetären Tauschwert der Ware in Szene und überblendet oftmals ihren Gebrauchswert.14 Es ist gerade dieser Aspekt des spezifisch westlich geprägten Warenfetischismus‘, der in der gesamten Assemblagekunst von Isa Genzken eine zentrale Rolle spielt. Denn schließlich sind es ja – anders als beim afrikanischen Fetisch – keine natürlichen Materialien und Dinge, die die Künstlerin kombiniert, sondern stets Massenwaren sowohl aus dem Billigsortiment als auch aus dem hochpreisigen Angebot. Weder der ursprüngliche Gebrauchswert, noch der monetäre Tauschwert spielen für die Auswahl der Waren die entscheidende Rolle. Es scheint vielmehr der besondere Glanz der Waren ästhetik zu sein, den Isa Genzken bei ihrer Auswahl im Blick hat, um dadurch den Fetischcharakter der westlich geprägten Konsumkultur künstlerisch zu reflektieren. Typisch für die von ihr zusammengestellten Assemblagen sind nämlich Dinge und Materialien mit glänzenden Oberflächen, seien es Spiegel oder silberfarbene Folien und Flächen, die mit silberner Farbe besprüht worden sind. Gerne verwendet sie bei ihren künstlerischen Arbeiten auch bunt schillerndes Glas oder Plexiglas. Der Glanz der Warenästhetik findet sich ebenso auf den Dingen, die Isa Genzken in der Installation Hula Hoop zusammengestellt hat. Nicht von ungefähr sind die silberfarbenen Hula Hoop-Reifen noch einmal mit glänzenden Silberfäden umwickelt worden. Und bezeichnenderweise korrespondieren gerade die Hula HoopReifen durch ihre Form und ihren silbernen Glanz auf der ästhetischen Ebene mit den geschwungenen und glänzenden Stützen aus verchromtem Stahl, die das Gestell des Barcelona-Sessels formen. Der Fetischcharakter, der zunächst vom westlich konnotierten Blickwinkel aus auf das Andere projiziert wurde, findet sich eben im Zentrum der eigenen Kultur. Und gerade der Barcelona-Sessel ist eine hochgradig fetischisierte Ware, deren perfekt anmutende Gestaltung den handwerklichen Prozess ihrer Herstellung regelrecht verleugnet. Darüber hinaus wird vom Produkt eine quasi magische
13 | Zur quasi mystischen Erscheinung des
14 | Zum Begriff der Warenästhetik siehe v.a.
Industriedesigns siehe auch den Essay von
Haug 2009. Zur kritischen Auseinandersetzung
Roland Barthes über die Karosserie des Citroen
mit dem neomarxistischen Konzept der Waren
DS (Barthes 1964: 76–78).
ästhetik siehe Böhme 1995: 45–47.
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Wirkung erhofft, indem es seinem Konsumenten – wie bereits in anderem Zusammenhang erwähnt – soziales Prestige verleihen soll. Dass der Warenfetisch nun auf beiden Seiten der von Isa Genzken vor Augen geführten Differenzsituation zu finden ist, mag auch als Ausdruck dafür verstanden werden, dass sich die ursprünglich auf den kapitalistischen Westen beschränkte Konsumkultur seit 1989 zunehmend global durchgesetzt hat. Isa Genzken reflektiert aber nicht nur den buchstäblich schönen Schein des Warenfetischs, den schon Karl Marx im 19. Jahrhundert im Blick hatte und der später in den 1970er Jahren ausführlich von Soziologen wie Wolfgang Max Haug unter dem Begriff Warenästhetik analysiert worden ist (Haug 1971). Denn darüber hinaus setzt sie sich implizit auch mit aktuelleren Formen des Produktdesigns und des Marketings auseinander, die dem Warenfetischismus sein heutiges Gesicht verleihen. Demnach spielt seit der Kritik am streng funktionalistischen Gestalten in den 1960er Jahren die semantische Aufladung der Waren eine viel größere Rolle. Ironischerweise wurde die theoretische Reflexion der Produktsprache ausgerechnet an der Ulmer Hochschule, der Hochburg funktionalistischen Gestaltens, in den 1950er und 1960er Jahren vorbereitet und dann mit dem sogenannten Offenbacher Ansatz weiterentwickelt. Klaus Krippendorff hat mit seiner ausführlichen Studie von 2006 die »semantische Wende« sogar zur neuen Grundlage für das Design erklärt (Krippendorff 2013 [2006]). Demnach reagieren die Konsumenten weniger auf die physikalischen Eigenschaften der Dinge, wie Form, Farbe und Funktion, als vielmehr auf die mit diesen Eigenschaften verbundenen individuellen und kulturellen Bedeutungen. Wie gesehen, legt Isa Genzken mit der Gestaltung ihrer Assemblagen gerade die Bedeutungsebene der Waren frei. In der Installation Hula Hoop setzt sie die Waren regelrecht als Erzähler in Szene und steigert ihr assoziatives Potential noch zusätzlich, indem sie sie auf ungewöhnliche Art und Weise kombiniert. Die Inszenierung der Waren auf dem Clubsessel reflektiert die forcierte Personalisierung der Waren im zeitgenössischen Marketing. Gerade die Markenbildung prägt den heutigen Warenfetischismus, indem sie über die Anonymität des kapitalistischen Tauschverkehrs hinwegtäuscht und dem Käufer suggeriert, dass es sich bei der Ware um eine Gabe von Person zu Person handele, die wie ein Geschenk soziale Bindungen zwischen Menschen schaffen und verstärken könne. Die Geschenkbänder sowie die vielen künstlichen Blumenbouquets, die Isa Genzken immer wieder in ihren Assemblagen verwendet, mögen als Hinweise auf dieses falsche Versprechen des Marketings verstanden werden. Die Assemblagen von Isa Genzken reflektieren den täuschenden Charakter des Warenfetischs und lassen hinter dem oberflächlichen schönen Schein auch die Aggressivität und das zerstörerische Potential des global agierenden Kapitalismus spürbar werden.¹⁵ Oft sind die Waren bewusst verbeult worden, wie beispielsweise bei den Schwulen Babys geschehen, oder sie
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wurden eingerissen und wirken regelrecht zerfetzt wie die Sonnenschirme mit der Werbung für diverse Marken, die die Künstlerin in anderen Installationen verwendet hat. Auch die aufgesprühte schwarze Farbe, die am Clubsessel der Installation Hula Hoop zu sehen ist, sowie die Farbspritzer auf der Wasserpfeife können in diesem Zusammenhang als Manifestationen der Beschmutzung betrachtet werden, die die hässliche und zerstörerische Seite des Kapitalismus hervorkehren. Doch darf die kritische Auseinander setzung mit dem Warenfetischismus keineswegs so verstanden werden als stünde Isa Genzken in einer direkten Tradition marxistischer Kritik. Denn die Assemblagen bringen ebenso die lustbetonte Seite des Waren fetischismus zur Erfahrung. Gerade die kreative und spielerische Aneignung der Waren, die durch die Hula Hoop-Reifen und die vielen Spielzeugfiguren in anderen Installationen noch einmal motivisch herausgestellt wird, verweist auf das kreative Potential und den Spielcharakter des Konsums in der heutigen westlichen Wohlstandsgesellschaft (Böhme 2006: 341– 352; Ehn 2013 [2008]). So können die erwähnten Farbspritzer, die auf der Wasserpfeife und auf vielen anderen Dingen zu finden sind, nicht nur als Zeichen der Beschmutzung, sondern ebenso als Zeichen der kreativen Aneignung verstanden werden. Die affektive Wirkung, die von den Waren in den Assemblagen von Isa Genzken ausgeht, ist somit hochgradig ambivalent: Sie wirken einerseits bunt, verspielt und fröhlich und andererseits unheimlich, verrückt und bedrohlich. Genau diese affektive Ambivalenz steht im Zentrum des psychoanalytischen Fetischkonzeptes, das von Sigmund Freud im Anschluss an Alfred Binet zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde (Böhme 2006: 375–455). Ebenso wie Marx sieht auch Freud den Fetischismus nicht mehr als Kennzeichen außereuropäischer und speziell afrikanischer Kulturen, sondern verortet ihn gleichfalls im Zentrum der westlichen Kultur; anders als Marx jedoch nicht in der äußeren Welt des kapitalistischen Wirtschaftsystems, sondern im Unbewussten des Subjekts und speziell in der Triebstruktur seiner Sexualität. Bereits für den romantischen Schriftsteller Jean Paul befand sich »das wahre innere Afrika« im Subjekt und auch Sigmund Freud tituliert den dunklen Kontinent des Unbewussten als »inneres Ausland« (Freud 2000 [1939]: 496). In diesem »inneren Ausland« geschehen aus der Sicht des Psychoanalytikers
15 | Diesen Aspekt hat besonders Benjamin H.
position. However, since total submission to
D. Buchloh im Hinblick auf die Assemblagen
the terror of consumption is indeed the go-
von Isa Genzken herausgestellt: »To have the
verning stratum of collective object-relations,
self succumb to the totalitarian order of objects
that psychotic state may well become the only
brings the sculptor to the brink of psychosis,
position and practice the sculptor of the future
and Genzken’s new work seems to inhabit that
can articulate« (Buchloh 2015 [2005]: 97).
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durchaus wilde Dinge, die nun als Perversionen in den Blick geraten, weil sie von der vermeintlichen Norm des heterosexuellen Geschlechtsaktes abweichen. Zu diesen sexuellen Perversionen gehört für Freud ganz zentral der Fetischismus, weil dabei der sexuelle Trieb nicht an ein Subjekt gebunden, sondern auf ein Objekt fixiert wird. Fast jedes beliebige Ding kann zum sexuellen Fetisch werden und somit sexuelle Lust spenden. Als Ersatz für einen menschlichen Sexualpartner erlangt der sexuelle Fetisch einen gewissen Subjektstatus. Er erscheint animiert und mit besonderen quasi magischen Kräften ausgestattet, was ihn mit dem Konzept des religiösen Fetischismus vergleichbar macht. Außerdem ist der sexuelle Fetisch in Analogie zum Marx’schen Konzept des Warenfetischs ein Instrument der Täuschung und der Verblendung. Die hässliche Wirklichkeit, über die der lustvolle Reiz des Fetischs hinwegtäuscht, ist für Freud sogar traumatischer Natur. So erklärt er sich die Genese des sexuellen Fetischs nämlich dadurch, dass der Junge während der ödipalen Phase im Kleinkindalter noch davon ausgehe, dass jeder Mensch und somit auch Frauen und speziell seine Mutter einen Penis besäßen. Deshalb könne der Anblick einer nackten Frau vom Jungen als Bedrohung für den eigenen Körper erlebt werden. Der vermeintlich fehlende Penis der Frau könne beim Jungen eine Kastrationsangst auslösen. Im Erwachsenenalter könne diese als Kind mit dem weiblichen Geschlecht verbundene Angst wiederkehren. Der sexuelle Fetisch biete dem erwachsenen Mann jedoch die Möglichkeit, diese Angst abzuwehren. Laut Freud fungieren dabei besonders häufig die Objekte als Fetisch, an die sich der Blick des Jungen vor seiner erschreckenden Erkenntnis geheftet hat, wie der »Pelz« des Schamhaars, die Strümpfe oder Schuhe der Frau. Die Erinnerung an diese Objekte verdeckt das eigentliche Trauma, das sich der Erinnerung letztlich entzieht (Freud 2000 [1927]). Freuds Erklärungsmodell des sexuellen Fetischismus wurde in der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt, aber auch kritisiert und infrage gestellt. Vor allem durch feministisch ausgerichtete Theoretikerinnen wurde kritisiert, dass der Fetischismus von Freud auf die männliche Sexualität beschränkt worden sei (Böhme 2006: 456–466). Wie auch immer die unterschiedlichen Ätiologien des Fetischismus in der modernen Psychologie aussehen, die von Freud beobachtete affektive Ambivalenz des Fetischs wurde letztlich in allen neueren Theorien beibehalten. Demnach fungiere der sexuelle Fetisch sozusagen als Apotropaion, das die Angst vor körperlicher und psychischer Impotenz und Desintegration abwehren soll. Die vordergründige Lust, die der Fetisch bereite, bleibe dabei latent mit der Angst vor der abgewehrten Bedrohung verbunden. Wie bereits festgestellt, wird in den Assemblagen von Isa Genzken genau diese ambivalente affektive Wirkung des Fetischs emotional spürbar. Die psychische Ambivalenz von lustvollem Begehren und ängstlicher Abwehr, die für das Konzept des sexuellen Feti-
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schismus symptomatisch ist, wird in den künstlerischen Installationen von Isa Genzken mit dem Konzept des Warenfetischismus in Verbindung gebracht und schließlich auch noch mit der Fetischisierung des kulturell Anderen kurzgeschlossen, wobei letzteres neben der ethnischen auch Aspekte von geschlechtlicher Differenz sowie von Klassenunterschieden aufweist. Die extreme Verdichtung unterschiedlicher imaginärer Blicke, Projektionen und Spiegelungen führt zur Überdeterminierung der Assemblagen, wie dies am Beispiel der Installation Hula Hoop in der bislang erfolgten Analyse bereits deutlich geworden ist. Vor diesem Hintergrund ist die Gesprächssituation, die in der Installation Hula Hoop aufgerufen wird, auch als ein therapeutisches Setting konnotiert. Dabei scheint die Sitzverteilung von Therapeut und Patient auf den ersten Blick wieder klar voneinander geschieden und zuzuordnen zu sein. Der Barcelona-Sessel mag für die Subjektposition des Therapeuten stehen, der mit rationalem Verstand auf den Patienten oder die Patientin gegenüber schaut. Aus dieser Perspektive erscheint der Clubsessel mit seinen chaotisch arrangierten Dingen wie das sichtbar gemachte Bild einer wirren oder sogar verrückten Psyche, die von perversen Fetischen regelrecht besessen und in der Folge ihre psychische Integrität zu verlieren scheint. Diesen Ein druck vermitteln viele Assemblagen von Isa Genzken, die nur mit Mühe durch Flickwerk zusammengehalten werden.16 In diesem Zusammenhang erscheinen gerade die vielen fragilen und stelenartigen Assemblagen als Anspielung auf die psychische Funktion des Fetischs, der die Angst vor dem fehlenden Phallus und somit vor dem Bewusstsein des eigenen Mangels abwehren soll. Wenn man so möchte, wird mit den lustvoll zum Phallus montierten Assemblagen zugleich auch der drohende Schrecken des möglichen psychischen Zusammenbruchs spürbar, für den die Kastration metaphorisch steht.17 Doch was in der Installation Hula Hoop zunächst als distanzierter Blick des Therapeuten imaginiert wird, entpuppt sich in der Wahrnehmung von außen erneut als Projektion. Denn schließlich wird der Blick ja von der Warte des Barcelona-Sessels aus auf die bunten Dinge gegenüber geheftet. Erst durch diesen fixierenden Blick werden die Dinge zum Fetisch. Und erst aus
16 | Neben Benjamin H. D. Buchloh hat vor
Welt der Betroffenheit, in der alle Beziehungen
allem Liam Gillick auf den traumatischen
zusammengebrochen sind und in der die ehed-
Hintergrund der Assemblagen von Isa Genzken
em klaren Machtstrukturen so weit geschichtet
aufmerksam gemacht: »Was wir in ihrem
und verwirrt, kompliziert und gedreht worden
Werk sehen, ist der Gedanke, dass schon den
sind, dass sie allmählich die stumme Gewalt
Materialien selbst etwas vom ideologischen
einer aufgelösten Form annehmen […]« (Gillick
Zusammenbruch innewohnt, ob es uns nun
2007: 159–160). Siehe auch Müller 2007;
gefällt oder nicht. […] Es handelt sich um eine
Foster 2015.
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der Distanz vom Barcelona-Sessel aus können die zum Fetisch gemachten Dinge ihre Assoziationskraft entfalten und die besondere Geschichte ihrer Genese freigeben. Damit scheint nun plötzlich der Barcelona-Sessel zum Platz für den Patienten geworden zu sein. Und in der Tat wurde bereits im Hinblick auf den Warenfetisch deutlich, dass gerade der Designklassiker ein hochgradig fetischisiertes Objekt ist, das einerseits lustvoll begehrt wird und andererseits als Statussymbol vielleicht auch manche Unsicherheiten oder gar Ängste abwehren soll, was die soziale Anerkennung des Besitzers anbelangt. Dass die Grenze zwischen den beiden Sitzmöbeln und den mit ihnen verbundenen Subjektpositionen auch in dieser Hinsicht verwischt wird, hat Isa Genzken in einer nachfolgenden Installation mit dem Titel Mies aus dem Jahr 2008 noch einmal deutlich vor Augen geführt. (Abb. 4) Hier wurde nämlich der Barcelona-Sessel von Mies van der Rohe in seine Bestandteile zerlegt und als Mobile an die Decke gehängt. Die dabei entstandene Assemblage wirkt ähnlich fragil und wild zusammenmontiert wie der Clubsessel in der Installation Hula Hoop. Und bezeichnenderweise hängen bei Mies nun auch die Hula Hoop-Reifen direkt am Gestell des Barcelona-Sessels. Die besondere affektive Wirkung und psychische Funktion des Fetischs, die mit dem Konzept des sexuellen Fetischismus‘ in den Blick geraten sind, liefern somit ein tieferes Verständnis für das Konzept des Warenfetischismus‘ in der heutigen Konsumkultur. Isa Genzkens Assemblagen reflektieren diesen Zusammenhang auf eine ästhetische Art und Weise und bringen damit in gewisser Weise die »Wildheit« der westlichen Konsumkultur kritisch zur Erfahrung. So wird in den Assemblagen einerseits der lustvolle, spielerische und kreative Umgang mit dem Fetisch Ware spürbar und andererseits aber auch die Ängste, die mit diesem Fetisch latent verbunden sind. Anschaulich wird einerseits die kreative Funktion, der der Konsum von Waren für heutige Identitätskonstruktionen spielt. Andererseits wird aber auch die bedrohliche Fragilität dieser Identitätskonstruktionen sichtbar.18 Denn letztlich bleibt bei allem Wohlstand ein latentes Gefühl der Angst bestehen. Dabei handelt es sich letztlich um die Angst vor dem eigenen grundsätzlichen psychischen Mangel, der durch den Konsum von Waren nie kompensiert werden kann und gerade deshalb das Begehren nach den schönen Dingen ständig in Gang hält.
17 | Dass es Isa Genzken letztlich um die
18 | Zur kritischen Reflexion solch prekärer
Visualisierung innerer Zustände geht, hat sie in
Identitätskonstruktionen in den soziologi-
einem Interview mit Wolfgang Tillmans selbst
schen Schriften von Zygmunt Bauman und
betont: »I see my work at the moment – as
anderen siehe zusammenfassend
opposed to in the past – as having something
Eickelpasch/Rademacher 2004: 15–54.
to do with the innermost more than something to do with the exterior« (Genzken 2005: 226).
Wilde Assemblagen | Gerald Schröder
Abb. 4: Isa Genzken, Mies, 2008,
Raumi nstallation,Galerie Hauser & Wirth, London, © VG Bild-Kunst, Bonn 2017
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In der Analyse der Installation Hula Hoop wurde deutlich, wie der Fetisch Ware auch unseren Blick auf den Anderen prägt, sei diese Differenz nun geschlechtlich, sozial oder kulturell bedingt. Wie der Fetisch Ware erscheint der oder die Andere immer schon verdinglicht und konsumierbar, begehrenswert und doch bedrohlich. Auch wenn dem Anderen scheinbar ein Sitzplatz zum Gespräch eingeräumt wird, so wird diesem doch keine Möglichkeit zum Sprechen gegeben. Es entsteht letztlich kein Dialog, sondern nur ein Bild vom Anderen, das zum Sprechen über den Anderen verleitet. In gewisser Weise führt uns Isa Genzken damit eine Situation vor Augen, die Gayatri Spivak in ihrem sehr einflussreich gewordenen Text »Can the Subaltern speak?« Ende der 1980er Jahre beschrieben und aus postkolonialer Perspektive stark kritisiert hat (Spivak 1988; Nandi 2012). In ihrem Text hat die Kulturwissenschaftlerin darauf hingewiesen, dass die gesellschaftlich Unterdrückten oft keine eigene Stimme besäßen und stattdessen andere – beispielsweise westliche Intellektuelle – als Sprachrohr für diese Gruppen auftreten. Auch wenn dieses Engagement durchaus gut gemeint sei, kritisiert Spivak es doch als Sprachgewalt und als Ausdruck kolonialer Unterdrückung. Dass das Sprechen über die Anderen oftmals mit einem Blickregime einhergeht, das auf die Fixierung von Stereotypen abzielt, wurde bei der Analyse der Installation Hula Hoop ebenfalls deutlich. Homi Bhabha hat in den 1980er Jahren einen theoretischen Zusammenhang zwischen rassistischen Stereotypen und psychoanalytischen Fetischkonzepten gesehen. Ein Zusammenhang, den der Kulturwissenschaftler in seinem breit rezipierten Buch The Location of Culture (1994) noch einmal aufgegriffen hat und der in den mehr oder weniger zeitgleich entstandenen Assemblagen von Isa Genzken mit ästhetischen Mitteln reflektiert wird (Bhabha 2000 [1994]: 97-124; Kossek 2012). Am Beispiel der Installation Hula Hoop wurde deutlich, dass letztlich die stereotypen Projektionen auf das Weibliche, das Schwule, das ungebildete Prekariat, die Jugend, das ethnisch und kulturell Fremde als Fetisch fungieren. Der wilde Fetisch ist nicht beim Anderen, sondern in den eigenen Stereotypen zu finden. Wie ein Fetisch besitzt das klischeehafte Bild bzw. Stereotyp vom Anderen – laut Homi Bhabha – eine apotropäische Funktion, die vor der eigenen Unsicherheit schützen und die Angst vor der eigenen Machtlosigkeit abwehren soll. Denn schließlich ist auch die Machtposition, die dem männlichen, heterosexuellen, weißen Subjekt aus dem europäisch geprägten Kulturraum in unserer global vernetzten Welt immer noch eingeräumt wird, keineswegs von Natur aus gegeben. Auch diese Macht basiert auf einer Identität, die letztlich genauso brüchig ist und sich aus einer hybriden Assemblage von Wünschen und Ängsten zusammensetzt wie alle anderen Identitäten auch (Schröder/Söll 2015). Dass viele der großen Installationen, die Isa Genzken in den letzten Jahren geschaffen hat, um diesen Zusammenhang von religiösem, kapitalistischem
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und sexuellem Fetischismus kreisen, und dabei eine postkoloniale Reflexion der Fetischisierung des ethnisch und kulturell Anderen mit einbeziehen, kann an dieser Stelle nur angedeutet werden. So setzt sich die Künstlerin beispielsweise gleich mit zwei Werken – Empire/Vampire (2003/2004) und Ground Zero (2008) – mit dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001 auseinander. Gerade in dieser historischen Szene scheinen sich die unterschiedlichen Aspekte heutiger Fetischisierung zu verdichten. Besaß das Ziel des Anschlages von Al-Qaida doch eine hohe Symbolkraft, so dass der Einsturz der Hochhaustürme wie eine Kastrationsszene des westlichen Kapitalismus erschien. Der Fetisch Hochhaus spielt im Werk von Isa Genzken generell eine wichtige Rolle (Lee 2013). Und die Twin Towers des World Trade Centers heben noch einmal auf eine besonders markante Art und Weise den Machtanspruch hervor, den diese »phallische« Architektur gerade in den vom Kapitalismus geprägten Großstädten der westlichen Welt spielt. In den Assemblagen von Empire/Vampire wird sowohl der traumatische Schrecken des Terroranschlags spürbar wie auch seine politische Instrumentalisierung durch die Bush-Administration für die Rechtfertigung ihres Krieges gegen das Regime von Saddam Hussein im Irak im Jahr 2003. In den kleinteiligen Assemblagen von Empire/Vampire demonstriert Isa Genzken nämlich sehr eindrücklich, wie gleichsam auf den Ruinen des World Trade Centers ein neuer Kriegsschauplatz entstanden ist. Die Angst vor der eigenen Verletzbarkeit führte im Kontext des sogenannten »War on Terror« bekanntlich zu einer ganzen Fülle stereotyper Bilder von der arabisch-islamischen Welt. Diese werden in den Assemblagen von Empire/ Vampire zwar nicht motivisch aufgerufen, jedoch unterschwellig durch die chaotische Form mitverhandelt, die den Assemblagen die ästhetische Anmutung fremdartiger Fetische verleiht. Mit der Installation Ground Zero thematisiert Isa Genzken zum einen die Leerstelle im städtischen Gefüge von New York, die der westlichen Welt schmerzhaft vor Augen führte, dass ihre Macht – psychoanalytisch gesprochen – letztlich auf einem Mangel beruht. Und zum anderen setzt sich die Künstlerin kritisch mit dem Wiederaufbau auseinander, d.h. mit dem Bau des One World Trade Centers, der 2006 begonnen wurde. Genzkens ironische Alternativvorschläge zum Wiederaufbau machen deutlich, dass der Blick auf den Ort des Mangels traumatisch ist und sofort wieder durch neue Fetische abgewehrt werden muss.
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Fetisch Minimal Art, Fetisch Bauhaus Abschließend ist auf die kunsthistorische Differenz hinzuweisen, die in der Installation Hula Hoop ebenfalls thematisiert wird und darüber hinaus für die gesamte Assemblagekunst von Isa Genzken eine wichtige Rolle spielt. Gemeint ist die Gegenüberstellung von Surrealismus und Konstruktivismus bzw. Surrealismus und Bauhaus. In dieser kunsthistorischen Perspektive gerät der spezifisch surreale Aspekt der Wildheit in den Blick, der den Assemblagen von Isa Genzken innewohnt. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass Isa Genzken auch Fetische der Kunstgeschichte infrage stellt und sich letztlich mit dem Status der Kunst als Fetisch in unserer Gesellschaft auseinandersetzt. In gewisser Weise entspricht die Installation mit ihrer Gegenüberstellung der beiden Sitzmöbel, die zunächst als Kontrast erfahren werden, der Definition des surrealistischen Bildes, wie sie André Breton im ersten Manifest des Surrealismus von 1924 in mehreren Varianten formuliert hat (Breton 1996 [1924]). Demnach entstehe das surrealistische Bild gerade durch die scheinbar zufällige und somit überraschende Gegenüberstellung zweier konträrer Welten. Wie bei der Entladung einer elektrischen Spannung können durch die kontrastreiche Kombination plötzlich Geistesblitze entstehen, die dem surrealistischen Bild sein besonderes Licht verleihen. Mit anderen Worten: Das surrealistische Bild soll beim Betrachter Assoziationen hervorrufen, die an seine Imagination, sein Begehren aber auch seine Ängste rühren und somit für einen Moment Licht ins Dunkel seines Unbewussten bringen. Letztlich zielt das surrealistische Bild auf die dialektische Überwindung der Gegensätze von Traum und Wirklichkeit bzw. Unbewusstem und Bewusstem. In der Überwindung dieser Gegensätze soll eine höhere Form der Realität entstehen: eine »surréalité«. Auch wenn Isa Genzken nicht explizit auf die surrealistische Programmatik zurückgreift, so nimmt sie doch diesen für den Surrealismus grundlegenden Zusammenhang von Kombinatorik und Assoziation für ihre eigene Kunst in Anspruch: »Bei mir soll man immer assoziieren. Das finde ich wichtig. […] Ich bin nicht an Readymades interessiert. Die Bedeutung liegt in der Kombination der Sachen« (Genzken 2007: 155–156). Dass durch die Kombination heterogener Dinge und Materialien ein Bedeutungsreichtum entsteht, der die Werke überdeterminiert, ist bei der exemplarischen Analyse von Hula Hoop deutlich geworden. In diesem Zusammenhang könnte man den Bezug des Clubsessels fast als humorvolle und ironische Anspielung auf die deutsche Redewendung verstehen: Das geht auf keine Kuhhaut. Durch Aufhäufung und Verdichtung scheint letztlich aber doch alles seinen Platz zu finden. Die für Genzkens Assemblagen so typische Dichte von Dingen besitzt ihr Äquivalent in einer semantischen Dichte. Diese entspricht wiederum dem surrealistischen Bild, das die Künst-
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lergruppe um André Breton in Analogie zum Traumbild modelliert hat, wie es von Sigmund Freud in seiner Traumdeutung konzipiert worden ist (Freud 2000 [1900]). Für Freud war der Traum der Königsweg zum Unbewussten. Das Traumbild entstehe seiner Meinung nach durch einen zensierenden Eingriff des Über-Ichs, der den im Traum geäußerten Wunsch nur auf eine entstellte Art und Weise zur Darstellung kommen lässt. Erst durch die Mechanismen der Traum arbeit – Verschiebung und Verdichtung – entstehen die manifesten Bilder des Traumes, die deswegen für unser Bewusstsein so fremdartig erscheinen. Vor allem die Verdichtung führe zur Überdeterminierung der Traumbilder, die dementsprechend mehrere und sogar einander widersprechende Bedeutungen besitzen können. Als Therapeut ging Freud davon aus, dass seine Patienten durch freie Assoziation über ihre manifest gewordenen Träume einen Zugang zu dem darin verborgenen unbewussten Begehren gewinnen können. Die Surrealisten ließen sich bei ihren Bildern von der Freud’schen Traumlogik inspirieren und gestalteten ihre Werke gleichsam im Modus der Verschiebung und Verdichtung, um dadurch einen starken Anreiz für die Assoziationskraft der Betrachter zu schaffen. Wie bei der Analyse von Hula Hoop deutlich wurde, spielt Isa Genzken mit der Gegenüberstellung der beiden Sitzmöbel auf ein therapeutisches Setting an und reflektiert damit implizit die psychoanalytischen Prämissen surrealistischer Programmatik. So gleicht der Blick auf den Clubsessel mit seiner buchstäblichen Verdichtung und Verschiebung aller möglichen Dinge in gewisser Weise der psychoanalytischen Betrachtung eines überdeterminierten Traumbildes, das eine ganze Kette von Assoziationen freisetzen kann. Ebenso erinnert die Installation an das Behandlungszimmer von Sigmund Freud, in dem auch eine ganze Fülle von Dingen versammelt war, die den Patienten sozusagen als erstes Sprungbrett beim Assoziieren über ihre Träume dienen sollte (Barker 1996). In einem programmatischen Text über die surrealistische Malerei von 1928 vergleicht André Breton den spezifisch surrealistischen Blick auf die Welt mit einem Zustand der Wildheit: »L’oeil existe à l’état sauvage« (Breton 1925: 26). Bereits in diesem Text deutet Breton an, dass dieser besondere Zustand, den die surrealistische Kunst erst wieder herstellen müsse, letztlich zu einer magischen Auffassung vom Kunstwerk führe. So sei das Kunstwerk kein bloß passives Objekt, das sich dem Blick des Betrachters anbiete, sondern verfüge selbst wie ein Subjekt über einen eigenen Blick, den es aktiv auf den Betrachter richte (Breton 1925: 27). In seiner umfangreichen Studie von 1957 L’Art magique führt André Breton diesen Gedanken weiter aus und macht ihn zum roten Faden für eine neue Sicht auf die Kunstgeschichte, angefangen bei der steinzeitlichen Höhlenmalerei bis hin zur surrealistischen Kunst im 20. Jahrhundert: »C’est l’art surréaliste en particulier, mais l’art moderne même, alors qu’il se place sous le signe de la poésie, est une Profanation de la magie, correspondant à une prise de conscience nouvelle des destinées magiques de l’art« (Breton 1991: 93–94).
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Vor allem von den plastischen Künsten könne eine Wirkung ausgehen, die einer Profanierung magischer Objekte gleichkomme (Breton 1991 [1957]: 52). So endet Bretons Abriss einer Geschichte magischer Kunst auch nicht von ungefähr mit der Erwähnung surrealistischer Objekte und der ihnen zugeschriebenen prophetischen Kraft (Breton 1991 [1957]: 254). Entwickelt hatten die Surrealisten ihre Auffassung einer spezifisch surrealistischen Objektkunst in den 1930er Jahren. Neben André Bretons Konzept des objet trouvé war es vor allem Salvador Dalis Verständnis vom objet à fonctionnement symbolique, das der surrealistischen Bewegung in diesen Jahren neuen Schwung verleihen sollte.19 Wie bei der Analyse der Assemblagekunst von Isa Genzken deutlich wurde, evoziert auch sie gleichsam einen »Zustand der Wildheit«, indem sie die von ihr zusammengestellten Dinge wie Subjekte auftreten lässt. Mit ihren vielfältigen Anspielungen auf die fetischistische Kraft der Dinge erscheinen die Kunstwerke Isa Genzkens ebenfalls als Profanierung magischer Vorstellungen. Wie Isa Genzken in ihren aktuellen Arbeiten griffen schon die Surrealisten bei ihrer Gruppenausstellung im Jahr 1938 auf Schaufensterpuppen als wichtigem Ausdrucksmittel ihrer Kunst zurück, um die fetischistische Verschränkung von Subjekt und Objekt in ihrer unheimlichen Wirkung spürbar zu machen (Kachur 2001: 20–103). Der Bezug zum Fetisch, der für die Werke von Genzken eine so wichtige Rolle spielt, ist neben den Schaufensterpuppen auch in vielen anderen Objekten der Surrealisten zu finden. Und dies gilt auch für die als postkolonial zu bezeichnende kritische Sicht auf das Konzept des Fetischismus, das bereits die Surrealisten – in einer programmatischen Verbindung von Marxismus und Freud’scher Psycho analyse – mit der eigenen europäischen Kultur in Verbindung gebracht haben. So fand die surrealistische Auseinandersetzung mit Objekten ihr Vorspiel in einer Ausstellung, die 1931 von der französischen kommunistischen Partei unter dem Titel Exposition Anti-Impérialiste: La Vérité sur les Colonies ausgerichtet worden war (Mileaf 2001). Eine Sektion dieser Ausstellung war von den Surrealisten Paul Éluard, Louis Aragon und Yves Tanguy eingerichtet und in der von André Breton herausgegeben Zeitschrift Le Surréalisme au Service de la Révolution zusammen mit zwei Schwarzweißfotografien dokumentiert worden (Breton 1931: 40). (Abb. 5) Konzipiert war die gesamte Ausstellung als Kritik an der großen internationalen Kolonialausstellung, die das herausragende kulturelle Ereignis in diesem Jahr in Paris gewesen war. Auf einem der beiden Fotos sind drei figurative Objekte zu erkennen, die durch ein Etikett als »fétiches européens« ausgewiesen werden. In der Mitte steht pro-
19 | Zur surrealistischen Objektkunst siehe v.a. Wood 2007; Pfeiffer/Hollein 2011.
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minent die Figur eines afrikanischen Jungen, wie sie zu dieser Zeit in Europa verbreitet waren, um damit Gelder für christliche Missionare in den Kolonien zu sammeln. Durch einen geheimen Mechanismus beugt die Figur ihren Kopf, sobald man ein Geldstück in sie wirft. In Deutschland wurde eine solche Figur als »Nickneger« bezeichnet. Flankiert wird die Figur durch zwei kleinere Statuetten: eine Madonna mit Kind – beide in schwarzer Hautfarbe dargestellt – und eine halbnackte afrikanische Tänzerin. In der Zusammenstellung der drei Figuren auf dem Foto scheint ganz gezielt ein Zusammenhang auf zwischen dem religiösen Konzept des Fetischs und seinen ökonomischen wie auch sexuellen Lesarten. So spielt die schwarze Madonna auf die magischen Vorstellungen im Katholizismus an. Abb. 5: Detailaufnahme der Ausstellung Gerade die dunkle Variante des MariExposition Anti-Impérialiste: La Vérité sur les Colonies, 1931, Schwarzweißfotografie, in: enbildes wird in der Volksfrömmigkeit André Breton (Hrsg.) (1931): Le Surréalisme bis heute oft als Gnadenbild verehrt au Service de la Révolution 4, S. 40 im Glauben daran, dass von der Figur eine besondere Kraft ausgehe (Grewe 2013: 129–134). Die Figur der Tänzerin stellt hingegen die erotische Magie zur Schau, die den europäischen Mann mit ihrer vermeintlichen Wildheit in Bann schlägt, obwohl es sich letztlich um die eigenen latenten sexuellen Wünsche handelt, die von den Europäern auf das Objekt projiziert wurden. Neben der aufreizenden Tänzerin wirkt die jungfräuliche Madonna wie ein Zeichen des Verbots und der Angst, die im psychoanalytischen Konzept des Fetischs mit der sexuellen Lust verbunden sind. Und schließlich erscheint die Missionarsspardose nicht nur animistisch bewegt, sondern verweist auf den Fetisch der Ware, der den Konsumenten magisch anziehen und zur Geldspende verführen soll. Dabei eignet sich die figürlich gestaltete hohle Form der Spardose in besonderer Weise, um das Konzept des Warenfetischs sinnbildhaft vor Augen zu führen. Täuscht die industriell hergestellte Massenware in der ökonomischen Lesart des Fetischs doch gerade darüber hinweg, dass sie Produkt entfremdeter Arbeit und Ausbeutung ist, indem sie den alles nivellierenden Tauschwert des Geldes verbirgt und
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stattdessen ein individuelles, scheinbar einzigartiges Gesicht zeigt, das aber eigentlich nur eine hohle Form maskiert. In der surrealistischen Objektkunst der 1930er Jahre werden die unterschiedlichen Aspekte des Fetischismus auf vielfältige Art und Weise thematisiert. So erinnern beispielsweise manche Assemblagen von Pablo Picasso aus diesem Jahrzehnt an afrikanische Fetische, während einige Objektkästen von André Breton zwischen Warenauslage und Reliquienbild changieren. Im Hinblick auf die Assemblagekunst von Isa Genzken sind vor allem die Objekte von Salvador Dali interessant, weil sie einen engen Zusammenhang zwischen den Konzepten des Warenfetischs und des sexuellen Fetischs herstellen.20 Und ähnlich wie Isa Genzken zeigt auch Salvador Dali, dass der Fetisch immer nur einen dünnen Schutzschild bietet, hinter dem der traumatische Schrecken der Kastration bzw. des drohenden psychischen Zusammenbruchs spürbar bleibt. Auch nutzt Dali ähnlich wie Genzken den Kitsch, um damit den bürgerlichen Kunstgeschmack infrage zu stellen. Wenn Isa Genzken Mitte der 1990er Jahre implizit auf wesentliche Aspekte surrealistischer Kunst zurückgreift, dann besitzt dieser Rekurs eine besondere Stoßrichtung, die gegen die Kunstauffassung der Minimal Art zielt. Damit gehört Isa Genzken zu einer ganzen Reihe von Künstlerinnen und Künstlern, die sich in dieser Zeit kritisch mit der Minimal Art der 1960er J ahre auseinandersetzen wie beispielsweise Liam Gillick, Felix Gonzalez-Torres, Rodney Graham, Mona Hatoum und Rachel Whiteread (Schröder 2011; Schröder 2012). Auch die ambivalente Haltung, die Genzken gegenüber der Minimal Art einnimmt, ist durchaus typisch für diese Zeit. Denn einerseits bot die Minimal Art eine positive Anschlussmöglichkeit für raumbezogene Installationskunst und körperbezogene Rezeptionsweisen, nachdem in den 1980er Jahren Malerei und Fotografie dominiert und die künstlerische Reflexion des Bild- und Repräsentationsbegriffs im Zentrum gestanden hatten. Andererseits war die Minimal Art aber gerade durch die US-amerikanische Kunstgeschichtsschreibung in den 1990er Jahren zu einer historischen Größe stilisiert worden, die auch eine negative Kritik zeitgenössischer Künstler innen und Künstler provozierte.21 So wendet sich auch Isa Genzken mit dem Bedeutungsreichtum ihrer Assemblagen gegen das programmatische Ideal der Minimal Art, das lediglich eine buchstäbliche Bedeutung ihrer Objekte zuließ, um damit gegen den Illusionismus traditioneller Malerei und Skulptur anzutreten.22 In gewisser Weise enttarnt die Künstlerin damit die Pro-
20 | Siehe z.B. das Objet scatologique à
21 | Zur Positionierung der Minimal Art im
fonctionnement symbolique von 1930 und die
kunstgeschichtlichen Diskurs siehe v.a. die
Schaufenstergestaltung für das New Yorker
Schriften von Rosalind E. Krauss, insbe
Kaufhaus Bonwit Teller von 1936.
sondere Krauss 1977.
Wilde Assemblagen | Gerald Schröder
grammatik der Minimal Art als Fetisch, der über die latente Assoziationskraft minimalistischer Objektkunst hinwegtäuschen sollte. Dass diese nämlich trotzdem vorhanden war, obwohl sich die Minimal-Künstler intentional dagegen ausgesprochen hatten, war vor allem von Anna Chave 1990 in einem breit rezipierten und kontrovers diskutierten Aufsatz deutlich gemacht worden (Chave 1995 [1990]). Ihrer Meinung nach folgen die Arbeiten der Minimal Art einer »Rhetorik der Macht«, weil sie durch ihre klaren und geschlossenen Formen sowie ihre harten und schweren Materialien die männlich dominierte Welt von Industrie und Technik affirmativ bestätigen. Vor dieser Folie erscheinen die Assemblagen von Isa Genzken mit ihren chaotisch und offen anmutenden Formen sowie ihren leichten und bunt gescheckten Materialien wie Gegenmodelle zur phallisch konnotierten Objekt kunst der Minimal Art. Wenn man so möchte, wird die Minimal Art durch die Künstlerin ästhetisch kastriert. Auf spielerische Art und Weise demonstriert Isa Genzken den Fetischcharakter der Minimal Art und verweist zugleich auf die Fragilität und Brüchigkeit des damit verbundenen Machtanspruchs. Zwar scheinen auch Genzkens Assemblagen – wie manche Objekte der Minimal Art – Aspekte von Skulptur und Malerei zu vermischen und erfordern einen Wahrnehmungsprozess, der die Bewegung des Körpers im Raum mit einschließt. Doch letztlich erweitern sie das phänomenologische Wahrnehmungsmodell der Minimal Art, indem sie – wie gesehen – die geschlechtliche, soziale und ethnisch-kulturelle Differenziertheit unserer Wahrnehmung reflektieren. Die Theatralität, die den Objekten der Minimal Art von der Kunstkritik der späten 1960er Jahre vorgeworfen wurde, erscheint in den Assemblagen von Isa Genzken letztlich zur Kenntlichkeit entstellt, indem sie in ihren aktuellen Arbeiten Schaufensterpuppen sogar explizit als Schauspieler auf treten lässt.23 Diese begegnen den Betrachtern jedoch nicht mehr in einem bloß architektonisch definierten Raum, sondern verorten sie in komplexen imaginären Räumen, deren Machtgefüge wiederum durch die Differenzkategorien von gender, class und race geprägt sind. Im Rahmen ihrer kritischen Revision der Minimal Art setzt sich Isa Genzken schließlich auch mit der Tradition konstruktivistischer Kunst und speziell mit dem Bauhaus auseinander. Denn gerade diese Kunstrichtungen waren für die
22 | Isa Genzken weist selber in einem Inter-
Bodenplatte ist, muss man ja auch mal an
view auf diese besondere Stoßrichtung ihrer
etwas anderes denken dürfen als nur an eine
Kunst hin: »Ich war regelrecht von Konrad
Bodenplatte« (Genzken 2007: 156).
Fischer mit Minimal-Kunst gefüttert worden.
23 | Zur Theatralität der Minimal Art siehe
Da war ich die Erste, die dachte: ›Da stimmt
Fried 1995 [1967]. Zum Anthropomorphismus
was nicht.‹ Also noch mal…bei mir muss
der Assemblagen von Isa Genzken siehe
und soll man assoziieren. Das strikte der
Graw 2013; Rebentisch 2007.
Minimal-Kunst hat mich gestört. Wenn da eine
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Minimal Art die zentrale historische Referenz (Tuchman 1995 [1980]). Mit ihrer Installation Fuck the Bauhaus aus dem Jahr 2000 hat die Künstlerin ihrer Kritik an der männlich konnotierten Ingenieurskunst des Konstruktivismus bereits provokativ Ausdruck verliehen (Lee 2013). Erwecken diese Assemblagen doch den Eindruck als handele es sich um surrealistisch anmutende Persiflagen von Hochhausmodellen im International Style. Gerade die Aspekte, gegen die sich Konstruktivismus, Deutscher Werkbund und Bauhaus gewendet haben – wie das Ornament, die Figuration, der Kitsch –, werden in den Assemblagen von Fuck the Bauhaus zu wichtigen Gestaltungsmitteln. Und auch in der Installation Hula Hoop scheint es zunächst so, als sei der surrealistisch gestaltete Clubsessel als Kritik am Rationalismus und Formalismus konstruktiver und funktionaler Gestaltung zu verstehen. Auf den ersten Blick scheinen sich die beiden künstlerischen Bewegungen, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger zeitgleich und parallel zueinander entwickelt haben, als unversöhnliche Gegensätze gegenüber zu stehen. Doch wie bei einem surrealistischen Bild kann es auch zu einer plötzlichen Verbindung der beiden gegensätzlichen Posi tionen kommen. So besitzt der Barcelona-Sessel von Mies van der Rohe auch Momente des Irrationalen: Sein Gestell ist kompliziert gebogen und folgt dabei keinen geometrischen Grundformen. Außerdem steht – wie gesehen – hinter der industriell anmutenden Gestaltung eine aufwendige handwerkliche Produktionsweise. Und der zur Assemblage überformte Clubsessel besitzt viele Anspielungen auf die rationalen Prinzipien der Gestaltung, wie sie am Bauhaus gelehrt wurden: Die Reifen erinnern an die elementaren Formen und die blauen, gelben und roten Bänder verweisen auf die Grundfarben als elementare Gestaltungsmittel. Selbst die Reproduktion des Gemäldes von Meister Francke, die sich auf dem Clubsessel befindet, spielte in der Pädagogik am Bauhaus eine wichtige Rolle. Denn gerade an diesem Gemälde demonstrierte Johannes Itten in seinem Vorkurs, dass selbst bei den Werken alter Meister die elementaren Gestaltungsmittel zu finden seien (Itten 1980 [1921]). Indem Isa Genzken mit ihren Assemblagen implizit auf die »wilden« surrealistisch anmutenden Aspekte der experimentellen Gestaltung am Bauhaus hinweist, richtet sich ihre Kritik eher gegen ein bestimmtes stereotypes Bild konstruktiver und funktionaler Gestaltung, das nach dem 2. Weltkrieg sowohl durch die Befürworter wie auch durch die Gegner des Bauhauses nachträglich zur Fetischisierung dieser Institution geführt hat. Auch in der zeitgenössischen Architektur und Kunst kommt es seit den 1990er Jahren zu einer nostalgischen Verklärung der Gestaltung am Bauhaus, die gerade die experimentellen, irrationalen und esoterischen Aspekte außer Acht lässt.24 Ähnlich wie beim Fetisch Minimal Art legt Isa Genzken somit auch beim Fetisch Bauhaus die Schwäche und Brüchigkeit dieser eindimensionalen kunsthistorischen Kon struktion offen. So nutzt die Künstlerin also den »wilden Zustand« surrea-
Wilde Assemblagen | Gerald Schröder
listischer Kunst, um sich mit den unterschiedlichen Aspekten der Fetischisierung in unserer zeitgenössischen Kultur kritisch auseinanderzusetzen. Letztlich schafft sie mit ihren wilden Assemblagen jedoch auch neue Fetische, nämlich Kunstwerke, die die banalen Dinge des Alltags verklären, aufwerten und zu Speichern – sogenannten Semiophoren – kultureller Bedeutung machen.25 Deswegen brauchen die Assemblagen von Isa Genzken den white cube des Ausstellungsraumes nicht nur aus ästhetischen Gründen, sondern auch deshalb, weil sie von der auratischen Aufladung dieses Raumes profitieren.
24 | »Der Mythos vom rationalen Bauhaus war
25 | Zur Fetischisierung der Kunst in unserer
so stark, dass sich gerade auf diesen Punkt
gegenwärtigen Kultur siehe Böhme 2006:
auch ein Großteil der ideologiekritischen
352–372. Nicht von ungefähr verwendet
Auseinandersetzung mit der ›Moderne am
Isa Genzken in ihren Assemblagen immer
Bauhaus‹ fokussierte. Dabei trat in den Hin-
wieder Gefäße wie Körbe, Kisten, Vasen und
tergrund, dass das Bauhaus in sich noch ganz
Gläser, die mit dem Konzept der Semiophore
andere Seiten birgt« (Wagner 2009: 17).
in Verbindung gebracht werden können. Zum Konzept der Semiophore siehe Pomian 1993.
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Abb. 1: Samuel Fosso, La Bourgeoise aus der Serie Tati, 1997, Fotografie
Samuel Fosso | Heidi Helmhold
Samuel Fosso Das Wilde in der fotografischen Autobiografie Heidi Helmhold Der Begriff des Wilden verweist auf Ordnung, System und Normativität. Das Sprechen über das Wilde beklagt fehlende Systematik und fehlende Normativität. Hier wirkt das eurozentrische Postulat nach Kultur als einer sich selbst optimierenden Zivilisation. Innerhalb dieser eurozentrischen Ordnungsper spektiven wird das Wilde einem Dekodierungssystem unterzogen und solange durchsiebt, bis es – geordnet – verstanden werden kann. So hat die frühe koloniale Ethnologie »fremde« Kulturen u.a. als Mangelsysteme beschrieben, die in der Zivilisation noch nicht angekommen seien, weil sie im »wilden« Naturzustand verhaftet geblieben wären – und hierin Dokumentationsmaterial ethnologischer Fotografie wurden.¹ Bei der Kolonialisierung von Afrika wurde die Technik der Fotografie mit all ihren Geräten und Möglichkeiten eingesetzt, um das Wilde zu »imaginieren, zu klassifizieren, typisieren und zu beherrschen« (Behrend 1998: 24), gleichzeitig aber auch, um mittels der technischen Möglichkeiten Erstaunen und Erschrecken in den jeweiligen Stammeskulturen auszulösen (Behrend 1998: 25) und damit gewissermaßen eine westliche Spielart des Wilden zu installieren.
Fosso und der autoporträtistische Pakt In den Arbeiten des nigerianisch-kamerunischen Fotografen Samuel Fosso erscheint das Wilde mindestens zweifach. Zum einen als Signaturen von
1 | Siehe zur Rezeptionsgeschichte Hölzl 2008: 173-182.
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Gewalt, Verbrechen an der Menschlichkeit, autoritärem System und Machtpotentat, die selbst Teil der nigerianisch-kamerunischen politischen Geschichte sind. Hier arbeitet Fosso in der Tradition der kolonialkritischen Fotografie, wenn auch mit eigenen abweichenden Stilmitteln. Zum anderen führt Fosso in einem späteren Werkzyklus – Le rêve de mon grand-père (2003) – das aus westlicher Sicht vermeintlich Wilde als anderskulturelle Kategorie von Kraft und Überleben wieder ein – eine spezifische Mischung von afrikakulturellem Heilerwissen und Schamanismus, die aus Sicht eines westlich-aufgeklärten Medizinbewusstseins als kulturell überwunden betrachtet werden. Auf den ersten Blick erscheint das Wilde in den Arbeiten von Samuel Fosso nicht. Das Studio agiert räumlich als der geordnete Ort der Bilderproduktion, in dem Fosso als Model in unterschiedlichen vestimentären Rollen posiert. Er bewegt sich im Formenrepertoire der west- und zentralafrikanischen Studio fotografie der 1970er Jahre, bricht jedoch mit der üblichen Rollenverteilung von Model und Fotograf, indem er beide Rollen in seiner Person vereinigt. »I am both character and director. I don't put myself in the photographs [...]. I borrowed identity« (Schlinkert 2004: 25). In den späteren Arbeiten verschneidet Fosso mit diesem Darstellungsverfahren die Themenbereiche Exotismus, Primitivismus, Kolonialismus, Rassismus und hinterblendet auf diese Weise die Kategorie des Wilden. Hierbei bedient sich Fosso unterschiedlicher Selbst- und Fremdbeschreibungen und kultureller Identitäten, die er mit den Mitteln von textilen Oberflächen, Körperbildern und Raumdispositiven sampelt und in der Methode des »autoporträtistischen Paktes« diskutiert (Hölzl 2008: 183). Ausgehend von Philippe Lejeunes’ Pacte autobiographique (1975) macht Ingrid Hölzl diese Autobiografietheorie für das Werk von Fosso nutzbar, hier insbesondere in dem Aspekt eines zwischen Autor (Fotograf) und Leser (Betrachter) geschlos senen Lektürevertrages, der die personale Einheit von Autor, Erzähler und Protagonist überhaupt erst herstellt (Hölzl 2008: 49-74). Samuel Fosso wurde 1962 in Kumba, Kamerun, als Igbo geboren. Er lebt und arbeitet heute in Bangui, Zentralafrikanische Republik. Die ersten drei Jahre war Fosso an Beinen und Armen gelähmt und konnte mit westlicher Schulmedizin nicht geheilt werden. Seine Mutter brachte ihn zu ihrer Familie nach Edda in Biafra, wo ihn der Großvater nach altem Heilerwissen von seiner Lähmung heilte. Bis zu seinem zehnten Lebensjahr lebte Fosso mit seinen Eltern weiterhin in Nigeria. Anschließend zog er zu seinem Bruder nach Bangui, Zentralafrikanische Republik, und erlernte dort das Schuhmacherhandwerk. Mit 13 Jahren eröffnete er sein erstes Fotostudio, das Studio Photo Nationale. Zwei Jahre später benannte er sein Studio um zu Studio Confiance – eine Umbenennung, die nicht ohne Ironie ist. Fosso begann in diesem Studio, eigene Selbstportraits anzufertigen, zunächst mit dem unbelichteten Filmmaterial seiner Kunden (Boudon 2004: 297). Dabei nahm er übertriebene witzige
Samuel Fosso | Heidi Helmhold
Posen ein und es entstanden Fotos, die er seiner Familie schickte. Später wechselte er zur Farbfotografie und erweiterte sein Rollenrepertoire, indem er als »Matrose, Pirat, Golfspieler, Leibwächter« (Boudon 2004: 297) posierte – allesamt klischierte westliche Rollenbilder, die er ebenso verspottete wie in späteren Arbeiten die Repräsentationsgesten afrikanischer Herrscher. In seinem Werkzyklus Tati von 1997, den er für die gleichnamige französische Billig-Kaufhauskette anlässlich ihres 50. Geburtstages machte – eine Kaufhauskette, die stark von Migrantinnen und Migranten frequentiert wird – wird Fosso zu eben dem Protagonisten der Rollenklischees, deren Charaktertypen sich nicht in der afrikanischen Rollentypologie bewegen. Das sind der Rocker, der Seemann und die befreite bzw. emanzipierte US-amerikanische Frau der 1970er Jahre. Es geht Fosso nicht » um die konkrete Person, die auf dem Bild dargestellt ist, nicht um ihr Porträt, sondern um ein Moment der Figuration: Der Dargestellte ist nicht als er selbst gemeint, sondern als ein Anderer« (Hölzl 2008: 203). Hier scheint die postkoloniale Diskussion des Anderen durch, ohne jedoch in Metaphern von Hierarchisierung zu argumentieren. Am Beispiel der La Bourgeoise aus der Serie Tati – Fosso sitzend in einem langen schwarzen Kleid, weißen Sandalen mit hohen Absätzen, weißer Boa über dem Schoß vor einem roten Hintergrund mit symmetrisch gebundenen roten Gardinen – fallen die geglätteten schwarzen Haare als Metapher der ästhetischen Hierarchisierung auf. (Abb. 1) Hier wird der Indikator für das »Wilde« – nicht geglättete krause Haare – in Vermeidung inszeniert. Die Haare sind geglättet, ein wichtiges und entscheidendes Merkmal, die native afrikanische Herkunft zu verbergen. Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adiche schreibt dazu in ihrem Roman Americanah, der die Critical Race Theory am Beispiel des Blogs »Applaus für Michelle Obama und Haare als Metapher für Rasse« skizziert und damit eine gesellschaftlich erfolgreiche schwarze Frau im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in den Blick nimmt: »[…] [I]st das die perfekte Metapher für Rasse in Amerika? Haare. Schon mal eine Stylingsendung im Fernsehen gesehen? Auf dem hässlichen ›Vorher‹- Bild hat die schwarze Frau natürliches Haar (wüst, spiralig, kraus oder lockig), und auf dem hübschen ›Nachher‹-Bild ist es glatt, nachdem es jemand mit einem heißen Stück Eisen versengt hat. Manche schwarze Frauen, AS und NAS, würden lieber nackt auf die Straße rennen, als sich mit ihrem natürlichen Haar in der Öffentlichkeit zu zeigen. Weil es nicht professionell, intellektuell, was immer ist, weil es nicht normal ist.« (Adichie 2014: Pos. 4963-Pos. 4969) Ausgehend von Michelle Obamas geglättetem Haar verweist Adiche in ihrem Roman auf das Ungebändigte, das von selbst Wachsende eines Afros, den es zu eliminieren gilt mit chemischen Haarglättungsmitteln und Glätteisen,
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weil es das »Wilde« zu eliminieren gilt in der US-amerikanischen Zivilisation. Simon Njami und Jean-Loup Pivin kategorisieren die afrikanische Studio fotografie in strikter Trennung von künstlerischer, kommerzieller und journalistischer Fotografie in ihrer kulturgeschichtlichen Publikation Anthropology of African und Indian Ocean Photography, worin sich ein Kapitel findet »In Search of an Aesthetic«. Samuel Fosso wird darin als Studiofotograf geführt ohne Nähe zu einer künstlerischen ästhetischen Fotografie (Hölzl 2008: 182). Die Hauptaufgaben der afrikanischen Studiofotografie werden von Simon Njami als Dienstleister am Kunden dahingehend definiert, dass den Kundinnen und Kunden zufriedenstellend ein Bild in Ähnlichkeit oder in repräsentativer Überhöhung geliefert werden sollte. Dem widerspricht allerdings schon 1975 ein ironisch anmutender Satz am Tresen im Eingangs bereich von Fossos Studio: »Avec Studio Photo Nationale vous serez beau, chic, délicat et facile à reconnaitre.« (Hölzl 2008: 186) Mit den Mitteln der Pose, der Kleidung sowie einem situativen Hintergrund werden hier Status, Selbstähnlichkeit als Repräsentation konstruiert und der gestalterische Erscheinungswille der Fotografierten gleichzeitig ironisch gebrochen. Der visuell konstruierte räumliche Eskapismus hat in der afrikanischen Studiofotografie Tradition, ist aber auch ein ambivalentes Instrument zwischen Adaption einer technischen Moderne bei gleichzeitiger Anwendung traditioneller Geist- und Beschwörungstechniken. »Geister, Phantome, Feen, Gedankenströme und die Aura von Personen« wurden abgebildet und als das eigentlich Unsichtbare »sichtbar« gemacht (Behrend 1998: 24). Damit wurde der dominant technische Diskurs mit Phänomenen des vermeintlich Wilden unterlaufen – wobei offen bleiben muss, ob das »Wilde« der fotografischen Technik von den Ethnologen des Kolonialismus und/oder von den involvierten Afrikanern selbst installiert wurde (Behrend 1998: 24).
Repräsentationstechniken Die Bildkulissen in der afrikanischen Studiofotografie orientierten sich in den Anfängen im 19. und 20. Jahrhundert an der europäischen Kulissenmalerei des 19. Jahrhunderts – ein Fundus historistisch verklärter Landschaftsoder Parkmalerei. Dem »wilden« Afrika wurden Tableaus des westlich geordneten Naturschönen hinterblendet. In den 1940er Jahren hat sich jedoch das politische Klima kolonialkritisch entwickelt und eine afrikanische Unabhängigkeitsbewegung hat auch die fotografischen Repräsentationsmodi neu definiert. Das koloniale Kulissensetting wird z.B. in Ghana durch urbane technisierte Utopien ersetzt – Flughäfen, Straßen, Tankstellen, Autos, La-
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ternen. Die Kulissen öffnen Fenster in eine technische Moderne, die auch für eine technisierte Zukunft Afrikas stehen (Wendl/Prussat 1998: 29) und die Wellblechhütten, Armut und Zuschreibung des Wilden überwinden helfen – zumindest im Modus der fotografischen Selbstrepräsentation. Diese fungieren als Einladung auf ein anderes und besseres Selbst, auf eine bessere Zukunft im Stile von Traumfabriken und sind auch Möglichkeiten eines visuellen Eskapismus – mit dem Foto im eigenen Besitz dann auf Dauer gestellt. In den 1970er Jahren sind die reduzierten Requisiten und die wenigen Gegenstände auffallend, mit denen die Kundinnen und Kunden fotografiert wurden und worin sie ihre Anschlussfähigkeit an moderne gesellschaftliche Werte dokumentierten: »Just a few plain accessories (T-shirts, shirts, eyeglasses, neckties, handbags) updated to the fashion of the day are all there is to express one’s own readiness to change and play the appropriate role in modern society« (Bonetti 2004: 69). Westliche Sammlungen afrikanischer Kunst bewegten sich lange in Konzeptionen kolonialer Kategorien. Ritualgegenstände wie Masken und Skulpturen waren Ausdruck des Fremden, des Anderen, geprägt von Animismus und einem indifferenten »Wilden«. Museale westliche Präsentationsformen fokussierten den Objektcharakter der Sammlungsstücke, zumeist ohne Zusammenhänge mit der performativen Funktion – wie beispielsweise Ritualtänze – zu berücksichtigen. Diese Art der zeit- und prozessberaubten Statik ist bis heute ein wichtiges Thema in den Repräsentationspraktiken ethno logischer Museen. Hätte man in den historischen Ausstellungskonzeptionen den Aspekt des Wilden präsentieren wollen, wäre dieser nur in der Unübersetzbarkeit der Objektästhetik zu finden gewesen, die faszinierte, die aber auch ängstigte in ihrer Nähe zur Waffe, Bannung sowie zum Fluch und zu vermeintlicher Hässlichkeit. Im Zusammenhang mit den afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen und dem Aushandeln neuer kolonialer Beziehungsfelder wurden in den 1980er Jahren in einigen afrikanischen Ländern eigene kulturelle Diskurse formuliert. Diese waren anfänglich antiwestlich, antikolonial und wurden als postkolonialer Diskurs in den identity politics der 1990er Jahre grundsätzlich als Identitätsprozess ausformuliert. In diesem Prozess stellt die von Hubert Martin 1989 im Centre Pompidou organisierte Ausstellung Magiciens de la Terre ein Schlüsselereignis dar: Hier wurden Positionen zeitgenössischer Künstler abseits der exotischen und fremdhaften Ästhetik afrikanischer Masken und Skulpturen präsentiert (Martin 2004a: 33-43). 2002 wurde die Kasseler documenta XI von dem nigerianischen Kurator Okwui Enwezor mit einer überdurchschnittlich hohen Anzahl afrikanischer Positionen bespielt und damit auch eine kulturelle Ethik diskutiert (Enwezor 2001: 463). 2004/2005 folgte die in Düsseldorf, Paris, London, Japan und Johannesburg gezeigte Ausstellung Afrika Remix, die, kuratiert von Simon Njami, postkolonial argumentierte und
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präsentierte. Diese Position ist bis heute umstritten und wird zum Beispiel aus Sicht afrikanischer Denker bezweifelt. So weist der ghanaische Philosoph Kwame Appiah darauf hin, dass zeitgenössische afrikanische Kultur nicht an der Überwindung von Kolonialismus interessiert sei, sondern vielmehr an Internationalisierung und Kommerzialisierung in Verbindung mit populärer Ästhetik und lokaler Tradition, ohne jedoch auf das sogenannte »Andere« abzuheben. Es geht um Lokalisierungen innerhalb der eigenen Tradition (Hölzl 2008: 192-193). Samuel Fosso beschreibt in diesem Sinne die Intention seiner fotografischen Arbeit: »When I look at myself in the mirror, I am not looking to find out if what I see is an Igbo, a Central African or even, a black American. The only thing I can see is Samuel Fosso, who is trying to make himself as handsome as possible before taking a self-portrait« (Hölzl 2008: 194).
I pose – Fossos Arbeit am Selbst Fossos Selbstportraits arbeiten am Selbst. Dieses Selbst speist sich aus seiner eigenen Biographie und ist konstitutiver Bestandteil seiner Kompositionen. Ausgangspunkt ist dabei nicht eine Identität im Kontext afrikanischer Identitätspolitik oder kultureller Positionierungsstrategien, sondern ein »Recht auf Selbstrepräsentation« (Hölzl 2008: 194), dem jedoch politische Grausamkeit und Kampf ums Überleben hinterblendet sind. Fosso erlebte als Kind nicht nur Ächtung wegen seiner Lähmung – »[p]eople called me a fool, an oaf, because I was ill and paralysed in the hands and feet« (Schlinkert 2004: 25) –, sondern erlebte nach seiner Heilung auch den Unabhängigkeitskrieg für Biafra von Nigeria. In dieser Zeit wurde er bedroht, erlebte Gewalt und Hunger und lebte für drei Jahre mit seiner Familie versteckt in den Wäldern: »We stayed hidden in the forest for three years, eating whatever we could find: leaves, roots […]. We were continuously on the move. There were five millions refugees« (Schlinkert 2004: 27). Das Wilde konstruiert sich in seiner Biografie und in seiner künstlerischen Arbeit auch aus Erfahrungen von Krieg, Entbehrung und Flucht. Fosso stieß in seiner Jugend auf Fotografien in Magazinen, Fotos von Schauspielern, Celebrities, Sängern und Musikern und insbesondere von Prince Nico Mbarga, der wie Fosso ein Igbo war. »That was when I decided to be like them, to copy their behaviour, their mannerisms, their tight-fitting shirts unbuttoned in front« (Schlinkert 2004: 35). In seinen frühen Selbstportraits inszenierte Fosso ikonische Zitate westlicher und afrikanischer Schauspieler, spielte mit dem wenig bekleideten männli-
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chen Körper und mit dem doppelten Blick. Fosso selbst postierte, aus dem Bild herausschauend, an den Rändern die Scheinwerfer, die die Studiosituation markieren und zusammen mit der Kamera auch als zurück blickende Akteure fungieren – Fosso selbst ist Fotograf und Model in einem: »I adjust the camera. I focus the lens on the background, on the curtain, measuring the distance from the place where I will be. I close up the device and set the automatic timer. I have ten seconds. Silence. I’m alone. Am I nervous? No, I’m happy. I’m calm. An excited calm. I’m concentrated. Abb. 2: Samuel Fosso, Selbstportrait SM30, I pose. The camera snaps the picture. 1976/1977, Fotografie And that’s the beauty: the calm, the concentration, being able to do all this, having enough to eat every day and a little extra money […].« (Schlinkert 2004: 37) Das »Wilde« ist nicht zu sehen in den ruhigen, konzentrierten Bildern und dennoch ist es existent in seiner Abwesenheit: Es erscheint als Bestandteil von Fossos soziokultureller Biografie, als Gewalt und politische Übergriffigkeit. So beispielsweise durch das Terrorregime von Jean-Bédel Bokassa von 1966 bis 1979 in Zentralafrika. Fosso schreibt dazu: »However, I leave death and the dead out of the picture, away from home. And there is plenty of death. Even today« (Schlinkert 2004: 39). Fosso lebt mit und gegen die Machtverhältnisse seiner Zeit – in Zentralafrika wie in seinen Jugendjahren in Nigeria – und er beschreibt diese künstlerisch in einer Art popkultureller Gegenwelt. Erinnerungen an Folterungen von Bokassa, an die Toten von Gewalt und Hunger und an das Elend aus dem Biafrakrieg sind für einen Moment der Schönheit, der Ruhe und Konzentration ausgelöscht. Das Studio ist dabei der ausgesparte Raum, in dem, wie Fosso sagt, das »Snap« des Apparates Glücksmomente für ihn auslöst.
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A kind of revenge – Gewaltherrschaft und Trauma In dem Selbstportrait SM30 (1976/ 1977) trägt Fosso Stiefel im Stil von Yé-Yé! Fashion aus der Popmusik-Ära Ende der 1960er Jahre (Abb. 2). Er verweist damit auch auf Prince Nico M’barga, der Igbo war wie Fosso und einen eigenen Musikstil kreierte mit dem Lied Sweet Mother, worin die pflegende und nährende Rolle seiner/einer Mutter besungen und popkulturell überhöht wird. Fosso kleidet sich in diese popkulturellen Zeichen und deren Körperbilder ein Abb. 3: Samuel Fosso, Mémoire d’un ami, und nimmt damit Bezug auf das Wil2000, Fotografie de als Protestkultur mit westlichen vestimentären Stilelementen. Rezipierte westliche Körperbilder und Ironie werden zum Instrument gegen Krieg und Tradition in Afrika, respektive gegen den Herrscher Bokassa. »It was the period of Yé-Yé! Fashion […] the beauty of the body and of African music. A kind of revenge. One had to be provocative. Provoke the system with a brazen lifestyle, with brazen behaviour, like the provocations of young Westerners in those years« (Schlinkert 2004: 35). Fosso setzt westliche Körperbilder und Musikkulturen mit den eigenen Emotionen und Hoffnungen in Beziehung und bindet sie damit im autoporträtistischen Pakt an sich selbst. In Fossos fotografischen Arbeiten gehen Verletzungen und Traumatisierungen in kollektiver wie individueller Überkreuzung ein. So schildert Fosso ein Erlebnis von Ende der 1960er Jahre, als er bei seinen Großeltern in Nigeria lebte und als Teil der Ethnie Igbo in den Biafra krieg hineingeriet. Er sah Tote und verhungernde Menschen – zwischen einer und zwei Millionen Menschen wurden in diesem Krieg durch Gewalt und Hunger getötet. Während des Aufenthaltes in einem Unterschlupf hatte Fossos Großmutter ein Foto seiner verstorbenen Mutter dabei. Als seine Schwester dieses entdeckte, zerriss sie das Foto vor lauter Schmerz. Es war das einzige Fotos gewesen, was es von der Mutter gab (Schlinkert 2004: 27-28). Im autoporträtistischen Pakt sind diese Verletzungen und Traumatisierungen enthalten, die Fosso mit den Mitteln des Studiobildes zu tilgen und gleichzeitig wachzuhalten scheint. In der Methode des autobiografischen Paktes ist das Wilde als Projektionsfläche psychoanalytischer, erinnernder, eliminierter, kodifizierter Alterität enthalten.
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In der Fotoserie Mémoire d’ un ami (2000) wiederholt Fosso fotografisch eine Gewaltszene aus der Zeit des zentralafrikanischen Bürgerkriegs. Im Jahre 1997 bedrohten marodierende Soldaten in Bangui seinen Wohnungsnachbarn, einen engen Freund. Fosso erwachte von lauten Geräuschen, wollte hinauslaufen, merkte, dass er nackt war, zog sich an und hörte einen Schuss. Als er nach draußen kam, war der Freund bereits tot. Fosso rekonstruiert diese Situation: Zu sehen ist das Bett, das Aufstehen, das Rausschauen und die Schutzsuche. Auch hier sind Schrecken, Gewalt und Terror zunächst ab wesend. Und dennoch indiziert Abb. 4: Samuel Fosso, Le Chef – (qui a vendu l’Afrique die Nacktheit von Fosso den kolonia aux colons) aus der Serie Tati, 1997, Fotografie len Bezug –die Darstellung des Wilden als Nackten (Abb. 3). Zusätzlich bringt sie die persönliche wie allgemeine Ungeschütztheit zum Ausdruck. Darstellungen von afrikanischer Nacktheit implizieren auch historische Assoziationen von Initiation, Hexerei und Wahnsinn – oder koloniale Projekte, die den Körper von Afrikanern zum Schauplatz des Kampfes zwischen Wildheit und Zivilisation machten (Hölzl 2008: 216). So kann die Tür hier auch als Projektionsfläche dieses Kampfes gelesen werden: Da ist kein Hineinkommen in gesellschaftliche Partizipation und kein Herauskommen aus Zuschreibungen und Gettoisierungen. Da ist Ohnmacht gegenüber der Gewalt und kollektive – nackte – Ungeschütztheit. Innerhalb der Serie Tati findet sich die Arbeit Le Chef – (qui a vendu l’Afrique aux colons) von 1997. (Abb. 4) Fosso sitzt auf einem Holzsitz in einer textilen All-Over-Kulisse aus Wax-Print-Stoffen. Seine nackten Füße stehen auf einem dünnen Kissen aus Bogalanstoff, wie er traditionell in Mali einen hohen Stellenwert für die kulturelle Identität besitzt. Rote modische westliche Schuhe stehen neben diesem Kissen. Der Schmuck ist aus vergoldetem Plastik und auf dem Kopf trägt er eine Toquemütze, wie sie Mobuto Sese Seko trug, der Diktator von Zaire von 1965-1997. Fossos Mütze ist aus Kunstpelz wie auch der Bezug des Stuhles und die Kleidung seines Körpers aus Leopardenkunstpelz gefertigt sind. In verschiedenen afrikanischen Traditionen wird das Leopardenfell als Zeichen und Legitimation politischer Macht verstanden (Hölzl 2008: 157). Statt eines Zepters hält Fosso Sonnenblumen in
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der Hand und trägt eine Brille mit engen Sichtschlitzen. In die Wax-PrintStoffe im Hintergrund sind Spielgelmotive eingearbeitet; als Spiegel fungiert auch der Ring an seinem Finger (Hölzl 2008:65). Diese Selbstinszenierung kann als Persiflage auf die Repräsentationstechniken afrikanischer Herrscher gelesen werden – in dieser Arbeit nicht unwahrscheinlich in Anspielung auf Jean-Bédel Bokassa, der sich 1977 mit Zustimmung Frankreichs napoleonisch als Bokassa I. zum Kaiser von Zentralafrika krönen ließ. Er krönte sich selbst in einer Zeremonie, die mehr als 20 Millionen US-Dollar gekostet haben soll, zum Kaiser, nachdem Papst Paul VI. es auf Anfrage abgelehnt hatte, diese Krönung vorzunehmen; darüber hinaus hielt er sich für den 13. Apostel Jesu – eine autokratische Selbstinszenierung, die auch der lybische Machthaber Gaddafi beherrschte. Die Fensterlosigkeit der Studiosituation, die Spiegelmotive an den Wänden und die schlitzartige Brille verweisen auf Selbstbespiegelung und Selbstverfangenheit. Das auch hier wieder nicht sichtbare, aber alludierte politisch »reale« Wilde liegt u.a. in der Grausamkeit begründet, die Bokassa als Alleinherrscher an den Tag legte: Er unterdrückte oppositionelle Kräfte brutal, ließ zügellos foltern und ordnete Prügelstrafen an, an denen er mitunter selbst beteiligt gewesen sein soll. Fosso beschreibt diese Brutalität und Machtbesessenheit aus eigener Sicht im Interview mit Guido Schlinkert (Schlinkert 2004: 39-41).
Wax-Prints und kulturelle Mehrfachkodierung Die Textilintensität der Inszenierung von Le Chef gilt auch dem Hinweis auf Stoff als begehrtes Zahlungsmittel im Handel mit den Europäern (Pinther 1998: 37); damit ist es ein Material von Potenz und Status. Neben der auratischen Wirkung, die zum Beispiel für Nigerianer von getragener Kleidung ausgeht, indizieren insbesondere die Wax-Prints einen engen Bezug zur kolonialen Geschichte Afrikas. Ausgehend von traditionellen indonesischen Batikdesigns kamen die Wax-Imitate Anfang der 1960er Jahre auf den afrikanischen Kontinent und wurden zum Symbol des afrikanischen Selbstwertgefühls (Martin 2004b: 237). Die Stoffdesigns enthalten zum Teil auch Gegenstände wie beispielsweise Taschenlampen, Zündkerzen oder Computer. Die Stoffe wurden zwar in den Niederlanden entworfen, treffen aber popkulturell auch das Lebensgefühl der Afrikaner (Martin 2004b: 237). Im Werk des nigerianischen Künstlers Yinka Shonibare, ein Yoruba, werden die Wax-Prints zum wichtigsten Stilmittel seiner Rauminstallationen (siehe auch den Beitrag von Änne Söll in diesem Buch). Shonibare, der am Gold
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smiths College in London Kunst studierte, setzt diese populären, beliebten und begehrten Wax-Prints in mehrfacher Kodierung ein. Er verweist auf das vermeintlich Authentische dieser afrikanischen Stoffe. Die ankara, wie die westafrikanischen Prints auch heißen, sind von Designern in Indonesien entworfen, in Manchester oder Holland gedruckt und werden nach Afrika exportiert. Shonibare entlarvt künstlerisch das Hybride, Gesampelte dieser Stoffe, die am allerwenigsten westafrikanisch sind. Allein das Begehren nach sprechenden, bunten Stoffen mag ein markant westafrikanisches sein, das jedoch von den Kolonialmächten – vermarktet, überfremdet und kulturell überformt – wieder nach Afrika eingespeist wurde (Mustafa 2004: 263). Diese Komponenten greift Shonibare in seinen Arbeiten auf, die allesamt auf westlich galante Szenen und koloniale Machtpositionen anspielen. Hudita Nura Mustafa fragt im Ausstellungskatalog Afrika Remix: »Sind Shonibares verschwenderisch gekleidete kopflose braune Figuren als postkoloniale Racheakte zu verstehen, als Erinnerung an die Fragmentierung des schwarzen Körpers in der europäischen Darstellungspraxis oder Manifest der Qualen der Selbstdarstellung auf unmöglichem postkolonialen Terrain?« (Mustafa 2004: 264-265) Shonibare selbst hebt – nach dem Aspekt von Authentizität und kultureller Identität in seinem Werk befragt – auf Rassismus ab: »The reasons that I’m interested in these grey areas is also political. Racism and exploration are always based on the notion that it is clear who the enemy is […]. Four hundred years ago one of the arguments for racism was that black people were not Christians, and if a person is not a Christian then you can treat him like an animal.« (Guldemond/Mackert 2004: 37) Wenn nun bei Fosso in Le Chef Wax-Prints erscheinen, dann wird der kolonial kritische Text der Wax-Prints um die Gewaltherrschaft afrikanischer Herrscher erweitert, die – ebenso wie die früheren Kolonialherren – Gewalt und Erniedrigung im Subtext ihrer Repräsentationstechniken mit sich führen.
Wissensformen des Wilden und Civilizé Eine der neueren Arbeiten von Samuel Fosso, Le rêve de mon grand-père (2003), thematisiert die Akzeptanz traditioneller Wissensformen und Praktiken – auch ein kolonialer Machtdiskurs. Traditionelles rituelles Heilerwis-
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sen galt in der kolonialen Rahmenerzählung als überwunden und gefährlich. Für Fosso aber stellt die Spontanheilung durch seinen Großvater das große und einschneidende Erlebnis in seinem Leben dar. Dies erzählt er in Le rêve de mon grand-père als »theatrale Darstellung« nach (Hölzl 2008: 219). Das versteckte »Wilde« dieses Ereignisses liegt zum einen im erwähnten Spott begründet, den Fosso selbst vor seiner Heilung durch den Großvater erfuhr – »[p]eople called me a fool, an oaf, because I was ill and paralysed in the hands and feet« (Schlinkert 2004: 25) – und zum anderen in dem Spott, den sein Großvater erfuhr z.B. durch Journalisten, denen Fosso in seinem späteren Leben die Geschichte der Heilung erzählte. »An English journalist classified my grandfather as a ›witch doctor‹« (Schlinkert 2004: 23). Fosso wurde als ein Kind mit Behinderung als nicht menschenwürdig, tierisch beschimpft wie gleichzeitig der Großvater als undurchschaubarer Hexer diffamiert wurde. Ferner liegt auch eine gewisse biografische »Wildheit« in der Verweigerung des Wunsches, den sein Großvater an Fosso richtete: selbst zum Heiler im Dorf seines Großvaters zu werden. Fosso verweigert sich diesem Wunsch und verlässt Nigeria, um in Bangui ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Mit dieser fotografischen Arbeit kreuzt er das traditionelle Heilerwissen seines Großvaters mit dem Ort seines Studios, in dem er seine Karriere als Fotograf begründete. Fosso beschreibt die Intention dieses Werkes anlässlich dieses künstlerischen Projektes in Nigeria im Jahre 2003: »Through my photography I interpreted that which my grandfather wanted me to become: a healer and village leader. I did it to homage to my grandfather and to honour him. [...] In order to succeed I immerse myself in the neccessary physical and mental state. It’s a way of freeing me from myself.« (Schlinkert 2004: 25) Vielleicht lässt sich das Wilde im Werk von Samuel Fosso mit dem Wolof-Wort der Civilizé beschreiben. Es bezeichnet im frankophonen Afrika Anzüge, Kleider, Nähmaschinen oder Stethoskope – und steht für alles, was mit »moderner« Zivilisation assoziiert werden kann. Es meint heute den sicher auftretenden Bürokraten im Maßanzug wie die traditionellen Bekleidungsformen im Sinne von Sicherheit und Erfolg (Mustafa 2004: 260). »Es erinnert uns gleichwohl immer noch daran, dass koloniale Projekte – von moderner Hygiene bis zu ethnologischer Fotografie, Zwangsarbeit und militärischer Eroberung – den afrikanischen Körper zum Schauplatz eines Kampfes zwischen Wildheit und Zivilisation machten.« (Mustafa 2004: 260) Die Nähe dieses Civilizé zu Gewalt, Rasse, Körper, Kleidung und Kolonialisierung ist abgewandert in die künstlerischen Positionen und wird dort dis-
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kutiert (Mustafa 2004: 260). Samuel Fosso ist einer dieser Künstler, der in der vordergründig affirmativen Geste von Civilizé den kulturalistischen und politischen Abraum mittransportiert. Dabei sind die Grenzen von afrikanischer Identität und westlicher Erzählung von Kultur keineswegs klar und eindeutig zu definieren. Aspekte des Wilden als körperliche Verwundung seines Umfeldes und seelische Verwundung seines Selbst, die Fosso dem Civilizé gewissermaßen als Rückseite hinzuaddiert, bleiben unsichtbar, sind aber dennoch anwesend und eloquent. Das Wilde erscheint dabei multipel als Protestkultur, als Heilerwissen, als biografische Erinnerung oder traumatische Kriegserfahrung von Hunger und Flucht in unterschiedlichen autobiographischen Portraits.
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Samuel Fosso | Heidi Helmhold
Njami, Simon/Pivin, Jean-Loup (Hrsg.) (1998): Anthropology of African und Indian Ocean Photography, Paris: Revue Noire. Pinther, Kerstin (1998): »›Wenn die Ehe eine Erdnuß wäre ...‹ Über Textilien und Fotografie in Afrika«, in: Wendl, Tobias/Behrend, Heike (Hrsg.), Snap me one, Studiofoto grafen in Afrika, München/London/New York: Prestel Verlag, S. 36–41. Schlinkert, Guido (2004): »Transformer«, in: Bonetti, Maria Francesca/Schlinkert, Guido (Hrsg.), Samuel Fosso, Ausst.-Kat. Calcografia, Rom 2004, Mailand: 5 Continents Editions, S. 21–55. Wendl, Tobias/Prussat, Margrit (1998): »›Observers are Worried‹. Fotokulissen in Ghana«, in: Wendl, Tobias/Behrend, Heike (Hrsg.), Snap me one, Studiofotografen in Afrika, München/London/New York: Prestel Verlag, S. 29–35.
Abbildungsverzeichnis Alle Abbildungen mit Genehmigung der Griffin Editions, 390 Broadway 5th FI NY NY 10013.
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Abb. 1: Irving Penn, Chanel Feather Headdress, 1994
Federköpfe | Christina Threuter
Federköpfe Wilde Dinge der Mode Christina Threuter Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht eine Modefotografie Irving Penns aus dem Jahr 1994. Darauf ist ein weibliches Model mit einem Federhut des Hauses Chanel zu sehen. Das Foto trägt den Titel Chanel Feather Headdress.¹ (Abb. 1) In der westlichen Mode kennen wir Federn als Aufputz an Hüten bzw. als Kopfschmuck schon seit der Antike. Federfächer als unabdingbare Accessoires waren an den europäischen Höfen bis ins 18. Jahrhundert hinein üblich und im ausgehenden 19. Jahrhundert boomte Federschmuck in der Mode. Federn in der westlichen Mode stehen vor allem für Wohlstand und Luxus und seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auch für Weiblichkeit und Erotik: So verwies Roland Barthes in seiner Schrift Mythen des Alltags darauf, dass sie Zeichen der exotisch konnotierten Weiblichkeit und umgekehrt des weiblich konnotierten Exotismus sind (Barthes 1964: 69f). In meinen Ausführungen werde ich mich zum einen auf die westeuropäische Tradition des Federschmucks in der Mode beziehen. Zum anderen werde ich den Feather Headdress der Fotografie von Irving Penn dahingehend befragen, welche Vorstellungen über Mode im Bild von Weiblichkeit, Exotismus und Primitivismus im Modell des Wilden hier visuell repräsentiert und im Medium der Fotografie erinnerungswürdig werden.
1 | Die hier erörterte Fotografie ist ein Gelati-
ten der Körperhaltung des Models. Zuletzt
ne-Silberdruck und 49 x 48,3 cm groß. Sie ist
wurde sie 2011 in der Ausstellung Irving Penn:
Teil einer Serie von Fotografien Irving Penns
Radical Beauty 1946 – 2007 in der Fraenkel
mit gleichem Motiv in verschiedenen Varian-
Gallery, New York, gezeigt.
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Feather Headdress: Ding des Gebrauchs Die Modefotografie Penns aus dem Jahr 1994 zeigt das Model Nadja Auermann mit einem Hut des Londoner Designers Philip Treacy für das Haus Chanel.² Treacy ist zurzeit einer der bekanntesten Hutdesigner. Er entwirft ausgefallene Hüte für Adelige, u.a. für Queen Elizabeth II. und Prominente, wie Lady Gaga oder auch Madonna. Seine Hutkreationen werden von namhaften Modefotografen in Szene gesetzt und sind auf dem Titel prominenter Modezeitschriften und Modestrecken zu sehen. Auch wenn ich die Kreation hier als Hut bezeichnet habe, handelt es sich bei diesem fedrigen Bekleidungsgegenstand weder um einen Hut, noch um einen wirklich tragbaren Kopfschmuck. Eher handelt es sich vielmehr um ein widerständiges Ding, denn es wird nicht nur auf dem Kopf getragen, sondern bedeckt wie eine Maske das Gesicht des Models. Weder erkennen wir durch das Federnetz die Physiognomie, noch wird die Trägerin selbst durch diese Art Maske hindurch gut sehen können. Im Grunde ist es also ein absurdes Ding: Als Hut ist es nicht zweckdienlich und als Kopfschmuck im allgemeinen Verständnis auch nicht wirklich schmückend. Nun sind wir von der Mode einiges an Dysfunktionalität gewohnt. Und mit Georg Simmel könnte man sagen, dass dies der »Natur« ihrer flüchtigen »Laune« entspricht, die sich gegenüber den »sachlichen Normen des Lebens« völlig gleichgültig verhält (Simmel 1986: 182f). Darüber hinaus könnte man die entblößte Brust des Models, ihren seitlich gerichteten und durch den Federvorhang undurchschaubaren Blick im Sinne Simmels als die Mode charakterisierendes Zeichen der Erotik oder auch der Frivolität lesen (Simmel 1986: 184). Die unhintergehbare Weiblichkeit des Models im Bild des modischen Federschmucks könnte somit als Zeichen der modernen Ineinssetzung von Mode und Weiblichkeit gelesen werden. Mit diesen Deutungen könnte ich hier bereits am Ende meiner Erörterung angelangt sein, wäre da nicht die Frage nach der Relevanz dieses Gegenstandes bzw. seiner Bildwürdigkeit im Medium der Modefotografie eines als Künstler anerkannten Fotografen, nämlich Irving Penn. Und wären nicht auch Fragen zu stellen nach den möglichen Wahrnehmungen des Dargestellten bzw. den Bedeutungen, die dieses Foto produziert, beispielsweise in Bezug auf seinen sozialen und kulturellen Stellenwert? So ist Mode bzw. Bekleidung alltägliche Praxis und damit zentraler Bestandteil unserer Kultur: Wie kaum ein anderer materieller Gegenstand ist sie an den Körper gebunden. Sie wird als
2 | Die Kopfbedeckung war wohl Teil der Chanel Haute Couture Kollektion Falconry, Frühjahr/ Sommer 1994.
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Verweis auf soziale und geschlechtliche Identitätskonstruktionen sowie individualisierte Selbstentwürfe angesehen, wie beispielsweise die geläufige Wendung von der Kleidung als der zweiten Haut des Menschen deutlich macht. Doch ist der Körper dabei nicht nur ein passiver, dem Menschen bei Handlungen dienender Gegenstand, sondern wie der Soziologe Pierre Bourdieu herausstellt, ein aktives Element von gesellschaftlichen Wissens- und Verstehensprozessen. Bourdieu zufolge trägt der Habitus als inkorporierte Kultur, d.h. Natur gewordene Kultur, zur Herstellung eines Klassenkörpers bei, oder anders gesagt, ist der Habitus als Ausdruck der sozialisierten Subjektivität eines Menschen an den Körper gebunden (Bourdieu 1987). Der bekleidete Körper ist somit ein subjektiviertes kulturelles Konstrukt und wesentliches Element unseres sozialen Zeichensystems. Mit dem Verweis auf den Körper als aktives Element von Wissens- und Verstehensprozessen, in Form der Verkörperlichung bzw. Internalisierung von gesellschaftlichen Sozialisationsprozessen (beispielsweise von Geschmack oder auch Geschlecht), ist Bourdieu einem Modell des impliziten Moments von Wissen verbunden. Er stellt fest: »In der Mehrzahl unserer alltäglichen Verhaltensweisen sind wir durch praktische Schemata geleitet. Diese Urteils-, Analyse-, Wahrnehmungs-, Verstehensprinzipien bleiben fast immer implizit.« (Bourdieu 1992: 102) Seit der Neuzeit wurde das Modell des impliziten Wissens stetig gegenüber dem naturwissenschaftlich-rationalistischen expliziten Wissen abgewertet. Dieses Paradigma des theoretischen Wissens³ stigmatisiert körperliches Wissen als irrational (Schilcher 2006: 86f). Als neuerer grundlegender Zugang zu einer Theorie der impliziten Verfasstheit von Wissen gilt das Modell des tacit knowledge Michael Polanyis (Polanyi 1985). Es beinhaltet, dass sich die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt durch den »unbewussten Hang der menschlichen Erkenntnis zur Bildung von kohärenten Strukturen und einheitlichen Gestalten« (Schilcher 2006: 118, 122) auflösen. Für Polanyi ist die Wahrnehmung von Gestalt das »Ergebnis einer aktiven Formung der Erfahrung während des Erkenntnisvorgangs«. Die Integration von Einzelheiten in ein Gesamtbild erfolgt dabei durch Einfühlung in das Objekt. Einfühlung, so hebt Polanyi hervor, ist ein unbewusster körperlicher Prozess, der die Dinge zu einem Teil des Körpers werden lässt: Die Gegensätze zwischen Körper und Geist werden dabei aufgelöst. Polanyi
3 | Diesen Begriff verwendet der Soziologe
a.M., New York: Campus, hier zitiert nach
Daniel Bell in seinem 1985 erschienenen Buch
Schilcher 2006: 86, 87.
Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt
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stellt heraus, dass dieser einfühlende Prozess aus Handlungen resultiert, d.h. er ist praxisbezogen (Polanyi 1985: 24).⁴ In Bezug auf die vorliegende Fotografie, so die Grundlage meiner Analyse, lässt sich dieser handlungsbezogene körperliche Prozess des Erkenntnisgewinns durch Einfühlung nicht nur auf den modischen Kopfschmuck als ein Ding des Gebrauchs sondern auch auf die Rezeption der Darstellung übertragen: So haben sich in der vorliegenden Fotografie das Model und der Fotograf ganz auf das Objekt eingelassen. Der Federhut ist mit dem Kopf des Models in eins gesetzt: visuell werden die Kopfbedeckung und der Kopf der Frau zu einer Gestalt, einem Federkopf. In unserer (einfühlenden) Wahrnehmung entsteht ein physisches Amalgam zwischen Mensch und Vogel. Mit Theodor Adornos Begriff der Mimesis lässt sich dieses Phänomen gut fassen: Er definiert Mimesis als ein sich auf das Objekt einlassen, ein Anschmiegen an das Objekt und weitergehend als ein in den Dingen aufgehen bzw. selbst zu dem Ding werden (Schilcher 2006: 114). Dadurch entstehen Erfahrungen mit dem Objekt und es erscheint nicht mehr als ein Äußerliches. In der Repräsentation des Federkopfs visualisiert sich eben dieser Prozess: Die Grenzen zwischen dem Subjekt des Models und dem Ding, dem Federschmuck, lösen sich im Federkopf auf! Ähnlich hebt Walter Benjamin die affektive Kraft der Dinge hervor, die ihrer sprachlichen Verfügbarkeit vorausgehe. Er betont, dass zuerst die Erfahrung mit den Dingen stehe, sich auf die Dinge einzulassen bis hin zur imaginären Übertragung ihrer Eigenschaften auf das eigene selbst. Dieser mimetische Prozess, so Benjamin, stehe noch vor der sprachlichen Mitteilung über die Dinge, die lediglich als Medium der Korrespondenz mit anderen diene: Der Mensch lebe berührt von der Dingwelt wie das »Weichtier in der Muschel« ganz »in die Stoffwelt eingeschlossen« (Busch 2006: 59ff). Die Affizierbarkeit durch das Umgebende sei ein Relikt der Notwendigkeit, sich anzupassen. Der mimetische Prozess ist hier aber nicht nur Nachahmung im Verständnis von Angleichung oder Anpassung, sondern ein produktives Vermögen im Sinne der Freiheit des Handelns, welches den Verlust der Rollendistanz intendiert, indem es ermöglicht, selbst zum Ding zu werden, wie beispielsweise Kinder es beim Spielen tun. Mimesis als Form des Wissens durch Erfahrung ist ein Vorgang, um Dinge zu verstehen oder Handlungen zu erlernen:
4 | Polanyi entwickelt diesen einfühlenden Prozess am Beispiel des Fahrradfahrens.
Federköpfe | Christina Threuter
»Mimesis ermöglicht es dem Menschen, aus sich herauszutreten, die Außenwelt in die Innenwelt hinein zu holen und die Innenwelt auszudrücken. Sie stellt eine sonst nicht erreichbare Nähe zu den Objekten her und ist daher auch eine notwendige Bedingung von Verstehen.« (Schilcher 2006: 114) Ich möchte daher die Modefotografie Irving Penns mit diesem Modell des Verstehens durch einfühlende Erfahrung, ähnlich der Definition des impliziten Wissens bei Polanyi, als eine handlungsbezogene Repräsentation von Mode betrachten und analysieren. Meine Erörterung fußt darauf, dass Mode fotografie, d.h. die visuelle Repräsentation von Mode, dazu dient, nicht nur gestalterisch-stilistische Vorstellungen oder soziokulturelle Bedeutungen, sondern auch den Gebrauch der Dinge der Mode zu visualisieren. Der visualisierte Gedanke des Gebrauchs diskursiviert dabei die Handlungsfähigkeit der Dinge. Was wir in der einfühlenden Betrachtung wahrnehmen, ist ein zwischen Ding und Mensch changierendes Ensemble, indem das Ding (wie das Subjekt) eine aktive Fähigkeit bzw. Teil der Handlungspraxis ist. Der Soziologe Bruno Latour fasst dies in dem theoretischen Modell der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) mit der Wendung vom Ding als sozialer Akteur (Latour 1996: 49). Hartmut Böhme beschreibt dies mit Bezug auf die ANT so: »Man kann bei Handlungen von einer zirkulierenden Personalität von Menschen und Dingen sprechen. Das ist der phänomenologische Hintergrund für das, was Latour das Kollektiv oder die Assoziation von Menschlichem und Nicht-Menschliches nennt.« (Böhme 2006: 81) Der Federschmuck im Medium der Fotografie repräsentiert in diesem Sinne die Fähigkeit des Dings, etwas selbst zu tun. Mit Latour gesprochen, liegt dem Kopfschmuck die Handlungsanweisung, das Prä-Skript zugrunde, ihn auf dem Kopf zu tragen, auch wenn er widerspenstig oder dysfunktional ist. Dieser Gebrauch eines Kopfschmucks ist kulturell verinnerlicht bzw. inkorporiert. Böhme formuliert diesbezüglich: »Sicher ist: Wir wollen etwas von und mit den Dingen, die Dinge wollen nichts mit uns. Diese ontologische Gleichgültigkeit der Dinge den Menschen gegenüber heißt aber nicht, dass sie reaktionslos wären. Sie zeigen eigentümliche Widerständigkeiten, die zu immer neuen Versuchen, Revisionen, Darstellungen zwingen.« (Böhme 2006: 85) Das Ding als Agens, das das Subjekt herausfordert, bleibt dabei es selbst. Böhme verweist in diesem Zusammenhang auf Heidegger, der auf diese Weise Kunst definiert, sie »ist bei ihm das Werk, das das Ding Ding sein lässt.« (Böhme 2006: 86)
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In dieser Leseweise wäre der Federschmuck hier Kunst und kein Gebrauchsgegenstand: Die Fotografie repräsentiert im Bild des Federkopfes Mode als Freiheit des Handelns durch das mimetische Spiel und behauptet ihren Stellenwert als autonome Kunst, indem sie sich vom zweckgerichteten Gebrauch distanziert. Dass es sich bei dem Fotografen Irving Penn um einen anerkannten Künstlerfotografen handelt, würde diese These unterstützen. Dies ist eine erste These, der ich jedoch noch eine zweite zur Seite stellen möchte: Denn, selbst wenn wir dem Ding den Status eines eigenwilligen Akteurs zusprechen, was ja nicht von der Hand zu weisen ist, bleibt die enge Zirkulation zwischen den beiden Protagonisten der Darstellung bestehen: Im Federkopf bilden Frau und Ding eine einheitliche Gestalt. Durch den mimetischen Prozess sind sie nicht mehr voneinander zu trennen. Ich meine, dass man in diesem Zusammenhang daher auch von einer Anthropomorphisierung des Dings bzw. Federschmucks sprechen kann.⁵
Feather Headdress: Modefetisch und indigenes Zeichen Dieses Denkmodell der Anthropomorphisierung des Federhuts legt weitere Leseweisen der Fotografie nahe, die kulturgeschichtlich auf die kolonialkulturell verankerten Vorstellungen der Federhaube indianischer Kulturen Nord-, Mittel- und Südamerikas verweisen. Es handelt sich dabei um eine westliche, stereotype Assoziation des Feder kopfschmucks, die die unterschiedlichen Kulturen der indigenen Völker Amerikas undifferenziert im Bild des antirational Wilden rezipiert. Der Gedanke korreliert mit den kulturell-religiösen Traditionen dieser indigenen Völker, in deren unterschiedlichen Kulturen die übernatürliche Beseeltheit von Gegenständen und Tieren eine wichtige Rolle spielt. In die Rezeption der indianischen Federhaube fließt daher auch die Vorstellung von schamanistischen Kräften ein, wie magisches Wissen und die enge Verbindung mit den übernatürlichen Fähigkeiten von Tieren, die beispielsweise als Schutzgeister bzw. mythisch allmächtige Tiergeistwesen betrachtet werden. Auf diese Animiertheit von Gegenständen rekurriert auch der Begriff des Fetischs. In seiner umfassenden Studie zum Fetischismus macht Hartmut Böhme darauf
5 | Umgekehrt kann man aber nicht von einer
sprechen; dies soll an anderer Stelle
Verdinglichung des Subjektes – im Sinne
begründet werden.
eines »Opfers« der eigenwilligen Mode –
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aufmerksam, dass durch den erotischen Wert von Modefetischen als Versprechen von »Präsenz, Fülle und Verlockung« die Repräsentation des auf diese Weise kreierten Weiblichen reproduziert werde (Böhme 2006: 437). In der Gestalt des vorliegenden Federkopfes könnte somit auch das Federding in der Überblendung mit entblößt-erotischer Weiblichkeit im Modefetisch aufgehen. Böhme charakterisiert die postmoderne Kondition des Modefetischs wie folgt: »Er kreiert nicht mehr, wie in der Moderne, einen integralen Zeitstil, sondern ein flottierendes Gewebe aus Selbstreferenzen und Zitaten. Modefetischismus zehrt heute aus Reinszenierungen vergangener oder verbrauchter Attitüden sowie aus Bricolagen von Elementen verschiedenster ethnischer, subkultureller, sozialer, historischer, stilistischer, erotischer Provenienzen.« (Böhme 2006: 474) Böhme argumentiert ähnlich wie Simmel, wenn er Mode als selbstbezüglich charakterisiert: »[...] so artifiziell [ist die Mode], dass sie mit dem organischen Leben derer, die sie tragen, nichts mehr zu tun hat. Sie ist die fetischistische Beschwörung eines gelungenen Lebens, aber gelingen tut stets nur die Mode selbst, nicht das Leben.« (Böhme 2006: 474f) Die Moderne habe den Fetischismus als unaufgeklärten Glauben angesehen, der »die Freiheit des Subjekts vernichtet und es zum Sklaven der Dinge macht«, so Böhme (Böhme 2006: 92). In dieser Leseweise wäre die Frau, die den Kopfschmuck trägt, zum Objekt des selbstbezüglichen Modedings degradiert, dem aber widerspricht meines Erachtens die selbstbewusste Pose des Models, auf die an anderer Stelle eingegangen wird. Denn zunächst soll an dieser Stelle der Analyse kurz auch auf die Rezeption indigener Objekte eingegangen werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass sie zeitlich und kulturell bedingt ist, wie die Rezeption eines altmexikanischen Federschmucks, der sich im Museum für Völkerkunde in Wien befindet, eindringlich anschaulich macht. So herrschten in der Fachwelt lange Zeit Unklarheiten über den ursprünglichen Gebrauch dieses Federschmucks: Er wurde zum einen als Standarte und zum anderen auch als indianische Schürze gehandelt. Mittlerweile konnte er als Kopfschmuck des Aztekenherrschers Moctezuma identifiziert werden. Der Dissens in der Zuordnung dieses Artefakts macht deutlich, dass je nach vorherrschender zeitlicher bzw. kultureller Ordnung, aber stets im eurozentrischen Zugriff auf das wilde Federding, wohl alle Deutungen zu seinem Gebrauch gleich gut zur Stabilisierung der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung beigetragen haben.⁶
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Außereuropäische indigene Artefakte wurden vor allem für das Projekt der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts als notwendige Ressourcen natürlicher, durch den Zivilisationsprozess unterdrückter bzw. verschütteter Kreativität erachtet. Die gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommenden Exotismen und Primitivismen der künstlerischen Avantgardebewegungen gelten als Wegbereiter westlich autonomer Kunst.⁷ Zahlreiche moderne Künstlerinnen und Künstler bereicherten sich formal an außereuropäischen Artefakten, um ihren Arbeiten einen »ursprünglich-natürlichen« Ausdruck zu verschaffen. Ungeachtet ihrer historischen, kulturellen und religiösen Voraussetzungen legten viele dieser Künstlerinnen und Künstler wunderkammerähnliche Sammlungen außereuropäischer Artefakte an. Künstler wie Pablo Picasso und auch Max Ernst entwarfen sich selbst mit Federkrone oder Hopimaske bzw. im collagierten Bild des sogenannten Wilden oder Primitiven indigener Völker und inszenierten so ihren kreativen nicht normierbaren Künstlerstatus.⁸ (Abb. 2) Die Assoziation von Federschmuck mit viriler Männlichkeit und hohem gesellschaftlichem Status wird besonders deutlich bei den sogenannten warbonnets, dem Federkopfschmuck der Helden der Native Americans: Jede Adlerfeder des Kopfschmucks repräsentiert eine bestimmte Tapferkeitshandlung. Dass der Zugriff auf dieses (und auch andere) soziokulturell bedeutende Zeichen fremder Kulturen gerade den westlichen Industriekulturen als frei verfügbar galt und immer noch gilt, zeigen nicht nur die Indianermaskeraden in der südwestdeutschen Volkskultur der Fastnacht, sondern es zeigt sich auch an einem aktuellen Beispiel aus unserer Popkultur. So ließ sich der Hip-Hop-Sänger Pharrell Williams – übrigens ein bekannter Hutträger – für die britische
6 | Vgl. beispielsweise zur unterschiedlichen
chen 1984 (Orig. Primitivism in the 20th Cen-
Rezeption und den Streit um Restitution
tury, 1984) und die kritischen Positionen zum
dieses altmexikanischen Federkopfschmucks,
Eurozentrismus in dieser Rezeption des Primi-
der sich im Museum für Weltkunde in Wien
tivismus, v.a.: James Clifford, The Predicament
befindet: http://www.culturalatina.at/de/
of Culture: Twentieth-Century, Ethnography,
chronik/item/423-der-helmschmuck-pe-
Literature, and Art, Cambridge/MA, London
nacho-des-moctezuma-kann-nicht-nach-me-
1988 oder auch Viktoria Schmidt-Linsenhoff,
xiko-reisen-er-bleibt-im-wiener-weltmuseum
»Kunst und kulturelle Differenz oder: Warum
(zuletzt aufgerufen am 24.6.2016)
hat die kritische Kunstgeschichte in Deutsch-
7 | Vgl. zum Primitivismus in der modernen
Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Ge-
Kunst vor allem die grundlegende Publikation
sellschaft, Bd. 4, Schwerpunkt: Postkolonia-
von William Rubin zur gleichnamigen Ausstel-
lismus, hrsg. von Viktoria Schmidt-Linsenhoff,
lung Der Primitivismus in der Kunst des 20.
Osnabrück 2002, S. 7–16.
land den postcolonial turn ausgelassen?«, in:
Jahrhunderts, hrsg. von William Rubin, Mün-
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Abb. 2: Eddy Navarro, Pablo Picasso, 1964
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ELLE 2014 mit Federhaube ablichten. Native Americans stießen sich daran und twitterten unter dem Hashtag NotHappy, in Anspielung auf Williams Erfolgshit Happy, dass der indianische Federkopfschmuck nichts auf dem Cover eines Modemagazins zu suchen habe. Sie verwiesen mit Nachdruck auf seine kulturelle Bedeutung als Würdezeichen der Ehre und des Respekts der indigenen Kulturen Nordamerikas.
Federschmuck in der europäischen Mode
Abb. 3: Jean Michel Moreau le Jeune, La Dame du Palais de la Reine, 1776
Daneben aber gibt es auch in der Mode eine lange Tradition des Federschmucks. Bereits die altägyptische Kultur kannte vor allem Straußenfedern als kostbare Schmuckmittel, die als Zeichen der Vornehmheit und für kultische Zwecke dienten. Die Griechen schmückten ihre Militärhelme damit (Weissenborn 1937: 1ff.), und seit dem Mittelalter wurden Straußenfedern in Europa vermehrt zum Aufputz von Hüten verwendet, beispielsweise bei dem Barett oder auch bei dem sogenannten Spanischen Hut, den im 16. Jahrhundert sowohl Männer als auch Frauen trugen (Loschek 2005: 320). Federn wurden in der Mode als Zeichen sexueller und ökonomischer Vormachtstellung eingesetzt: Im Mittelalter waren sie Ausweis ritterlicher Tugenden bzw. viriler militärischer Tapferkeit, wie beispielsweise bei den Hüten mit Straußenfedern des 1348 gegründeten English Order of Chivalry (Bolton 2005: 81). Seit dem 16. Jahrhundert sind Fächer aus Fe-
8 | Das bekannte Fotoporträt von Pablo Picas-
titätsentwürfen: Barbara Lange, »Indianer
so mit Federkopfschmuck stammt von Eddy
sein: Von der Sehnsucht nach dynamischer
Navarro aus dem Jahr 1964; Max Ernst insze-
Existenz bei Aby Warburg und Marsden Hart-
nierte sich in zahlreichen Fotografien mit sei-
ley«, in: Söll, Änne/Schröder, Gerald (Hrsg.):
nen Hopimasken. Ein aktuelleres Beispiel für
Der Mann in der Krise? Visualisierungen von
den Selbstentwurf als Indianer in Form eines
Männlichkeit im 20. und 21. Jahrhundert, Köln
Selbstporträts ist ein Ölgemälde von Rainer
u.a.: Böhlau, S. 19-36.
Fetting aus dem Jahr 1999. Vgl. zur Referenz auf indianische Kulturen in männlichen Iden-
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dern, wie sie in zahlreichen Frauenporträts gezeigt werden, Statussymbol des Wohlstands und des Luxus, denn Federn exotischer Vögel waren teure Produkte aus dem nahen und fernen Osten sowie aus Afrika. Bis ins 18. Jahrhundert hinein waren Federn als Accessoires oder Aufputz an den europäischen Höfen üblich. Doch erst seit dem 18. Jahrhundert sind sie auch Zeichen von Weiblichkeit und Sexualität (Bolton 2005: 81). Marie Antoinette, Königin und Gemahlin Ludwigs XVI., setzte kurz vor der französischen Revolution im Ancien Régime eine modische Welle von Federn in Gang: Die Hutkreationen und Frisuren Marie Antoinettes sind bis heute an Originalität unerreicht und adlige Frauen am Hof in Versailles folgten ihrem Beispiel. (Abb. 3) Sie trugen üppigen Kopfschmuck aus oder mit Federn. Darüber hinaus trugen Frauen im 18. Jahrhundert am Abend Abb. 4: George Hoyningen-Huene, Die Dodge auch exotistische Turbane mit stehender Sisters in einem Kostüm für die Show A Night Straußenfeder. Ebenso wurden im 19. in Venice, um 1920 Jahrhundert besonders in Frankreich die Frisuren mit Straußenfedern aufgeputzt und noch Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zählten Straußenfedern zum bevorzugten Hutschmuck (Loschek 2005: 323): als »geknüpfte oder gekräuselte Straußenfeder« (Loschek 2005: 400), d.h. als Pleureuses beispielsweise an den breitkrempigen Wagenradhüten. Auch in den 1950er Jahren, als Hüte noch unabdingbarer Teil der in der Öffentlichkeit getragenen Kleidung waren und zumeist auch in Gesellschaft oder im Theater aufbehalten wurden, waren Federn ein beliebter Hutschmuck (Loschek 2005: 325f.). Exotische Federn hatten besonders um 1900 bis kurz vor dem ersten Weltkrieg in der Mode Konjunktur, insbesondere bei Abendkleidern. Vor allem in der Revue- und Varietékultur, die in Frankreich bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in England, den USA und Deutschland in den 1920er Jahren ihren Höhepunkt hatte, dienten Federn bei den Kostümen oder den Accessoires, wie den Federboas und den Federfächern, der Inszenierung erotisierender Weiblichkeit. (Abb. 4) Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts boomte die französische Federindustrie, die namhafte Pariser Federmanufaktur Jean-Pierre Duvelleroy, die ca. 2000 Angestellte beschäftigte und auch ein Geschäft in
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London hatte, schuf sehr teure bis günstige Produkte für den nationalen und internationalen Markt (Mertens 2014: 20). Das Maison Lemarié, das 1880 in Paris gegründet wurde, ist bis heute als plumassière, d.h. als Federschmuckmacher, spezialisiert auf die Aufbereitung und Verarbeitung von Federn und beliefert seitdem die führenden Couture-Häuser Frankreichs (Bolton 2005: 81f.). Dass exotische Federn, wie Straußenfedern auf einen nicht zu unterschätzenden kolonialkulturellen Aspekt verweisen, macht ihre Herkunft und ihr Handel deutlich. So gehörten Federn, Thor Hanson zufolge, vor dem 1. Weltkrieg zu den teuersten Handelswaren auf dem Weltmarkt (Hanson 2016: 177ff). Straußenfedern beispielsweise kamen vorwiegend von Farmen aus Südafrika, das neben Australien, wohin der Vogel zur Zucht importiert worden war, führend im Geschäft mit den Straußenfedern war. In den 1870er Jahren wurden an der südafrikanischen Kapküste und in der Halbwüste Karoo die ersten Straußenfarmen in Südafrika von europäischen Siedlern gegründet. Das Gebiet der Karoo wurde daraufhin zum Zentrum der südafrikanischen Straußenindustrie. Die europäischen Einwanderer, die sich auf die Straußenzucht und den Federhandel spezialisiert hatten, avancierten in Südafrika aufgrund ihres Reichtums zu den sogenannten »Federbaronen«, die in »Federpalästen«, pompösen Jugendstilvillen, residierten (Nixon 2000: 5f.). ⁹ Federschmuck als Zeichen weiblicher Erotik und Sexualität, wie es sich im 18. Jahrhundert etablierte und im späten 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts im Bild der exotisch konnotierten Weiblichkeit kulminierte, ist also auch kolonialkulturell durch die europäisch dominierte Vogelzucht in den Kolonien und durch den imperialen weltweiten Handel geprägt. Gerade Straußenfedern, die – wie geschildert – in der Mode ein bevorzugtes Schmuckaccessoire waren, sind nicht von ihrer kolonialgeschichtlichen Herkunft und Distribution zu trennen. Als Material der Mode und als Accessoire ist ihnen diese europäisch imperialistische Geschichte implizit einbeschrieben.
9 | Zur Geschichte der Straußenfarmen in
britischen Empires diente. Vgl. zur aktuellen
Südafrika, v.a. in Oudtshoorn als historisches
Selbstdarstellung europäischer Einwanderer
Zentrum der Straußenzucht in Südafrika
als Straußenfarmer: Urbanski: http://www.
vgl. Nixon 2000. Vgl. O’Neill 2014: 51ff zur
straussennest.net/oudtshoorn_ostrich_his-
wichtigen nationalen Rolle des Federhandels,
tory.html (zuletzt aufgerufen am 20.6.2016)
die der ökonomischen Selbstdarstellung des
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Feather Headdress: visuelle Repräsentation der Mode Die vorliegende Modefotografie des Federkopfes aus dem Jahr 1996 rekurriert auf die europäisch tradierten modernen Projektionen des exotisiert und sexualisiert Weiblichen und des als anthropomorph, natürlich-ursprünglich »primitiv« konnotierten Federschmucks. Überdies steht dabei die Nacktheit des weiblichen Models als kulturevolutionistisch interpretiertes Zeichen paradiesischer Natürlichkeit und Ursprünglichkeit in Polarität zur rational männlich projektierten modernen Zivilisation. Schaut man sich das Foto noch einmal genau an, so ist die Darstellung des Models durch seinen entblößten Oberkörper zwar erotisch aufgeladen, aber durch die aufrechte Pose mit dem offensiv und zur Seite gerichteten Blick und Gestus negiert sie die Betrachter und stellt eine Distanz zu ihnen her. Wir nehmen sie als sehr selbstbewusst und selbstbestimmt wahr. Der Federkopf ist in einem eigenen Raum situiert, der weder räumlich, kulturell noch zeitlich einzuordnen ist, dennoch ist er nicht neutral, eher exponiert er den Federkopf in seiner Exklusivität; der ästhetisierende schwarz-weiß Kontrast des Fotos unterstützt diesen Eindruck. Der Fotograf Irving Penn hatte sich im Übrigen schon öfter auf diese Repräsentationen in seinen zahlreichen seit 1948 entstandenen ethnographischen Fotografien bezogen. Ich meine, dass hier Weiblichkeit, die über den sexualisierten Körper und den Kopfschmuck exotisierend erotisch konnotiert ist, und Primitivismus, der über das organische Material der Federn und Fetisch-Vorstellungen assoziiert wird, eine symbiotisch selbstbewusste Beziehung eingehen. Es gibt in dieser engen Wechselbeziehung keinen Objektstatus, sondern nur einen subjektivierten Akteur: Das Amalgam, der Federkopf, ist der Signifikant, in dem Mode über exotisierte Weiblichkeit und Primitivismus bezeichnet wird: Die selbstbewusste Pose des Federkopfes, der sich vom Betrachter distanziert, bezeichnet die positive Konnotation von Mode als gewissermaßen natürlich selbstbestimmte Kraft. Die Fotografie repräsentiert Mode als eine inkorporierte gesellschaftliche Ordnung, die sich über die ontologische Vorstellung von »wilder Natur« durch ihre unnormierbare Handlungskraft auszeichnet: Moderne weibliche und kolonialkulturelle Stereotype prägen diese visuelle Repräsentation, die im Bild der Modefotografie erinnerungswürdig scheint, um zu diesem Verständnis von Mode beizutragen.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Irving Penn (2004), A Notebook at Random, New York: Bulfinch Press, S. 96. Abb. 2: Kunstmuseum Pablo Picasso Münster (Hrsg.) (2011): Who is Who – Eddy Navarro und die Avantgarde der 50er bis 70er Jahre. Abb. 3: Thiel, Erika (2010): Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart, Leipzig: Henschel Verlag, S. 269. Abb. 4: Wild: Fashion untamed, Ausst.-Kat. The Metropolitan Museum of Art, New York 2004-2005, New Haven/London: Yale University Press, S.98.
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Abb. 1: Rick Owens, Vicious, S/S 2014, Fotocredits Clément Louis
Vicious | Elke Gaugele
Vicious Rick Owens Re-birthing des Cool Elke Gaugele Vicious – zu deutsch: wild, barbarisch, grimmig, grausam, gemein, übel und schlimm – spielt als Titel von Rick Owens 2014er Ready to wear Frühjahrs- und Sommerkollektion mit einem ganzen Register des »Wilden« und nicht zuletzt mit dessen kolonialen Zuschreibungen.¹ Gerade wenn es darum geht, Thrills zu erzeugen und mit der Etikette zu brechen, schreibt die Modetheoretikerin Jennifer Craik (Craik 2005: 19), werden gerne kalkulierte kulturelle Transgressionen visuell zur Schau gestellt. Wilde Looks, die exotische Motive jeglicher Kulturen »kannibalisieren«, seien die effektivsten Darstellungstechniken des westlichen Modesystems, wenn es darum geht Aufmerksamkeit zu erzeugen (ebd.). Doch um welche »kannibalisierenden« Effekte, kulturellen Transgressionen und Appropriationen handelt es sich in Owens Kollektion Vicious genau? Lassen sich hier aus kostümhistorischer Perspektive kolonialgeschichtliche Bezüge aufspüren? Und über welche Facetten des »Wilden« hat Owens die Aufmerksamkeit für seine Show, Kollektion und sein Image als Designer von Coolness kalkuliert gestaltet? Diese aus postkolonialen Perspektiven heterogen verflochtenen Fragen nimmt der folgende Beitrag in den Blick. Anhand von vier Bildern aus der Show vom September 2013 beleuchtet er die Kollektion und die Performance Vicious hin auf deren Auseinandersetzungen mit Raceism und Sizeism in der Mode, ihre primitivistische Performance »wilder«, »grimmiger« Posen und (jugend) kulturelle Appropriationen des Black Cool.
1 | Dieser Beitrag basiert auf einer über
ru: »Rick Owens«, in: Pop. Kultur und Kritik 4,
arbeiteten und erweiterten Version von:
Frühjahr 2014, S. 42-51.
Gaugele, Elke (2014): Blacklisted Glunge-Gu-
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Enragierte Antiposen – Spiegel von Raceism und Sizeism in der Mode Für Vicious hat Owens, der aus Kalifornien stammende, seit 2003 in Paris ansässige »Glamour plus Grunge«, sprich »Glunge« Guru vier Stepping-Gruppen afroamerikanischer Studentinnen engagiert: die Washington Divas, die Soul Steppers, Momentum und Zetas. Im Pariser Palais Omnisports de ParisBercy stampften diese im Duktus des Kollektionstitels die Ready to wear Kollektion für Frühjahr/Sommer 2014 Vicious enragiert, wild und grimmig auf die Bühne. (Abb. 1) Als kräftige Gestalten – und keineswegs mit normierten Modelmaßen – boten sie eine Stepping Performance und eine Choreographie dar, die Bewegungen aus Tap Dance, Gymnastik, Cheerleading und militärischem Drill mixte. Mit seiner Inkorporierung jugendkultureller weiblicher Antiposen des Black Cool dreht Owens – zunächst zumindest for show – auf dem Catwalk die Repräsentationsverhältnisse um: durch vierzig afroamerikanische Stepperinnen, unter denen sich drei »Ausnahme-Weiße« befinden, zum einen. Zum anderen ruft deren gewichtige Laufsteg-Performance dazu auf, sich über den Begriff der Ethnizität hinaus mit Schönheitsnormen zu befassen. »Ein starker Kommentar zu Wettbewerb und Körperdiktat in der Mode«, schreibt Zeit Online (Khayyer 2013) über Owens Show und weniger als eine Stunde nach Beginn der Show postet Bloggerin Susie Bubble: »The most powerful and provocative statement in this season« (https://twitter.com/susiebubble 26. 09.2013). Doch gibt es noch eine weitere Lesart der »schwarzen Grimassen«, die Owens Show Vicious inszeniert. Denn zwei Wochen vor der Show fand sich Owens auf einer am 4. September 2013 veröffentlichten »schwarzen Liste« der antirassistischen Diversity Coalition gelandet, die die Dominanz von Whiteness auf den Laufstegen kritisiert. Einen Rassismusvorwurf hatte sich Owens für seine Pariser Männerschau im Frühjahr 2013 eingehandelt. Als anti-rassistische Diversity Coalition protestieren Supermodel Naomi Campbell, Iman Mohamed Abdulmajid und die Agentin Bethann Hardison harsch gegen den Mangel an schwarzen Models. Auf den New Yorker Catwalks – so ihre Statistik – waren im Frühjahr 2013 gerade einmal 6% der Models schwarz und 9,1% asiatisch – was zeitgleich im Vorfeld der Fashion Weeks zu massiven Protestschreiben an die Organisatoren in New York, London, Paris und Mailand geführt hatte (www.balancediverstiy.com). In der Modeindustrie sind es weiterhin die weißen westlichen Designerinnen und Designer, die das Geschäft dominieren und das so massiv, dass jüngst selbst Hip-Hop Entrepreneur und Modedesigner Kanye West laut wurde. Unüberhörbar sprach er in einem Radiointerview im September 2013 mit der BBC (Loewe 2013) von
Vicious | Elke Gaugele
einer gläsernen Decke für Schwarze in der Modeindustrie. Auch das Celebrity-Trio Campbell, Abdulmajid und Hardison fordert entschieden mit diesen rassistischen Akten in der Modeindustrie aufzuräumen: »Unabhängig davon, was die Intention sei und ob es die Entscheidung des Designers, Stylisten oder Casting Direktor ist, das Resultat ist Rassismus!« (www.balancediverstiy.com) Bethnan Hardison, die 1967 für Designer Willi Smith modelte und in den 1970ern für weiße Magazine wie Harper’s Bazaar oder Vogue, kritisiert sogar, dass im Vergleich zu damals, heute gar noch weniger schwarze Models präsent sind (ebd.). Die in vielen Zeitungen sowie auf ihrem Blog balancediversity.com veröffentlichten Schreiben aus dem Jahr 2013 enthalten eine Liste von insgesamt fünfzig Modelabels, die die Diversitäts-Koalition zu den Hauptschuldigen erklärt. Nicht nur das deutsche Modelabel Jil Sander, sondern auch das Umfeld der Antwerp Six von Maison Martin Margiela, Dries van Noten, Haider Ackermann, Kris van Assche bis hin zu Raf Simons, sowie die bekanntesten französischen, italienischen, US-amerikanischen, britischen und japanischen Designerlabels werden hier für ihre rassistischen Akte verurteilt: Comme des Garçons, Yohij Yamamoto, Alexander McQueen, Chanel, Prada, Versace, Calvin Klein, Donna Karan, Marc Jacobs u.a (ebd.). Ein Jahr später, 2014, veröffentlichte die Diversitäts-Koalition einen weiteren offenen Brief an die italienische Camera Nationale della Moda, und bilanzierte erneut, dass auf der Mailänder Fashion Week aufgrund des öffentlichen Drucks Labels wie Prada, Moschino, Roberto Cavalli und Giorgio Armani nun auf vier bis fünf »Models of Color« in ihren Shows erhöht hatten, während andere wie z.B. Jil Sander oder Versace wiederum nur ein farbiges Model auf dem Catwalk hatten (ebd.). Liest man wiederum Owens Show als entsprechende Reaktion auf die Rassismusvorwürfe der Diversitäts-Koalition an seinem Label, so könnte man Vicious auch als einen Seitenhieb gegen die Political Correctness der Lobby der Models of Color deuten, durch den er diese nun dafür als Vertreterinnen normierter schlanker Körper(diskriminierungen) spiegelt. Denn Owens Inszenierungen überschreiten Schlankheitsvorstellungen bewusst und bewegen sich damit im Fahrwasser aktueller Debatten um Seizeism und im Diskurs um die Diskriminierung von Frauen durch industriell-normierte Kleider- und Körpergrößen. Begriffe wie full figured (dt. vollschlank) oder auch Plus-Size (dt. Übergrößen) sind hoch problematische kulturelle Konstruktionen, die zudem als körperliche Exklusionsmechanismen so eng mit Mode verbundenen sind, dass sie durch diese immer wieder neu hergestellt werden (Dowing Peters 2014: 48). Mode hat eine hochgradig normierende
2 | »Outsize« wird im Englischen zur Bezeichnung großer Übergrößen benutzt, die viel
größer als »gewöhnliche Kleidung« seien.
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körperliche Wirkmacht, indem sie Othering und Existenzen out of size produziert, die als Outsizer² normativ vom Modekörper ausgeschlossen werden. Damit richten sich die Grimassen der Stepperinnen auch als Ausdruck gegen einen ebenso vom »Modelbusiness of Color« affirmierten »Lookism« und bezichtigen die Diversity Coalition, die Stereotypisierung von Frauen durch gängige Köper- und Attraktivitätsvorstellungen weiter zu treiben. Zum Widerstand gegenüber kulturellen Konstruktionen wie »Übergewicht« oder »Plus-Size« rufen seit Mitte der 2000er Jahre nicht nur Feministinnen aus der wachsenden Fat-Positive Bewegung, sondern auch eine immer größer werdende Fatshionista-Bloggerinnnen-Szene auf. Dennoch ist deren Skeptizismus gegenüber Körpergewichtsindizes bislang immer noch weitgehend ein Tabuthema: »This scepticism is currently rare, even taboo. Questioning the received knowledge on weight is socially risky« (Wann 2009: xii). Doch auch im sich neu formierenden interdisziplinären akademischen Feld der queer-feministischen Fat Studies verschränken sich intersektionale Perspektiven auf Race, Gender, Body, Size und Age neu mit aktivistischen Praktiken. Historisch berufen sich die US-amerikanischen Vertreterinnen und Vertreter der Fat Studies auf die Anfänge der Fat Pride Communities und der Size Acceptance-Bewegung im Jahr 1969 sowie darüber hinaus auf den Fat Civil Right Activism und die Szene des Fat Underground, beides Szenen der 1970er. Für Owens Inszenierung des »Wilden« in Vicious ist das Spiel mit den körperlichen Transgressionen normierter Schlankheits- und Attraktivitätsvorstellungen zentral. Als Empowerment und neuer Modeltyp wurden die Stepperinnen mit ihrem Percussion-Sound, den sie unmittelbar mit ihrem Körper durch Stampfen, Klatschen und einzelne Laute produzierten, von der Fashion-Crowd in allen Medien gefeiert. Vom Sonic Fabric, den Klängen der schwarzen Lederjacken, begleitet, performen schon allein die Augen und Münder der Tänzerinnen auf dem Catwalk den Anti-Fashion Aufstand: herausfordernd, grimmig, sportlich, enragiert, wild, undiszipliniert, aufgebracht, trainiert, cool. Geschickt inszeniert Owens an den Füßen des street-stylishen Rebellionsspektakels seine erste Co-Branding Kooperation mit adidas: Sneakers mit Sohlen in zwei kantige Hufen unterteilt. Im Kontext einer neoliberalen cool economy (Holert 2004: 44) setzt er dabei auf die Rückkoppelungseffekte zwischen coolen Produkten, coolen jugendlichen Produzentinnen und Produzenten sowie Konsumentinnen und Konsumenten.
Vicious | Elke Gaugele
»Grimmige Mimiken« – (Post-)Koloniale Rückblenden Um gängige Bilder der Mode zu überschreiten, ein westliches Kostümbild zum Wanken zu bringen und dadurch Aufmerksamkeit zu erzeugen, arbeitet die Inszenierung von Vicious mit großen Ambivalenzen zwischen dem Ausdruck der Modekollektion und den Mimiken und Körperbewegungen der primitivistisch anmutenden Showchoreographie. Obgleich sich diese im Zusammenspiel mit den Kostümbildern zu einer Geschichte des Black Cool verbindet, ist die Performance durchaus durch kolonialrassistische »grim mige« Mimiken und Posen des »Wilden« geprägt. Eine kostümhistorische Rück blende macht die Verbindungen zwischen der Pose der »grimmigen« Mimik aus der Show (Abb. 2) und kolonialrassistischen Bildern von sogenannten »Eingeborenen« deutlich. Tiefenhistorisch kann dies exemplarisch anhand der deutschen Kostüm illustration des Künstlers Doms aus dem Jahr 1845 (Abb. 3) nachverfolgt werden. Als Abbildung in Heinrich von Berghaus Abb. 2: Rick Owens, Vicious, S/S 2014 Die Völker des Erdballs nach ihrer AbPressefoto Rick Owens, Fotocredits stammung und Verwandtschaft, und ihValerio Mezanotti ren Eigenthümlichkeiten in Regierungsform, Religion, Sitte und Tracht (1845) publiziert, stellt Doms Illustration einen sogenannten »Eingeborenen von NeuIrland«, dem heutigen Papua-Neuguinea, dar. Durch die nach unten gezogenen Mundwinkel zeichnet Doms ihn »grimmig«, in einer Decke sitzend, die – einer Erdnuss gleichend – Behausung wie Bekleidung assoziiert. Kleidung gilt als anschaulichste Form der Verkörperung kolonialer Beziehungen, zumal die epistemische Trennung zwischen »Mode« und »traditioneller Kleidung« ein zentrales Element des Kolonialismus war (Rovine 2009: 44f.). Dass westliche Kulturen noch bis heute geradezu davon besessen seien, über ihren Modebegriff ihre »zivilisierte Art« und ihre Dominanz zu demonstrieren, konstatiert auch Craik: »Western cultures are obsessed with demonstrating their civilised
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Abb. 3: Kostümtafel tituliert als Eingeborener von Neu-Irland, 1845
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ways – to show that they are different from, and superior to, other cultures, hence the emphasis on newness and nowness« (Craik 2005: 36). Sowohl Doms’ Illustration als auch Berghaus’ ethnografische Beschreibungen können rückblickend als Teil deutscher »Entdeckungsgeschichten« von Neu-Guinea eingestuft werden, die im Zeitraum 1828–1885 situiert werden und der späteren Übernahme der Inseln durch die deutsche Kolonialherrschaft 1885–1914 vorangingen (Haberberger 2007: 67). Bemerkenswerterweise verwendet Berghaus denn hier auch den Begriff der »Rasse« (Berghaus 1845: 6) und arbeitet in seinen Beschreibungen, eine der ersten deutschsprachigen Ethnografien, mit Kostümbildern. Doms Kostümillus tration des »Eingeborenen von Neu-Irland« entstand parallel zu einer Welle kolonialer Begeisterung in Deutschland in den 1840er Jahren, als es im Umfeld des Vormärz und der 1848er Revolutionsbewegung bereits Sympathien zur Gründung deutscher Kolonien in Asien, Amerika und Afrika gab (Gründer 2007: 27f.). Die Südsee wiederum diente seinerzeit eher als Vorlage für Romane und Fluchtutopien (ebd.). Im Stil der Romantik entwirft Doms denn auch hier das Bild einer tropikalistischen Robinsonade: einen Mann mit Pagenschnitt und Schifferbart, der in einer überdimensionalen Erdnussschale am Rand einer kleinen Insel mit Palme sitzt. Als »Eingeborenen« zeichnet Doms den Mann durch seine »grimmige« Mimik, die nach unten gezogenen Mundwinkel sowie die Gesichtsbemalung und den Körperschmuck: eine Halskette mit Muschelanhänger, zwei breite Schmuckreifen um die Waden und einen weiteren am Oberarm. Erst später in den 1870er Jahren begannen mit zunehmender Kolonialagitation Missionare in »Neuirland« den kolonialen Wahrnehmungstypus des »Eingeborenen« als »Kannibalen« zu formen (Haberberger 2007: 68f.). Die deutsche Kolonialmacht, die Neuirland 1885 auf Vorschlag des Vizekonsuls von Oertzen in »Neu-Mecklenburg« (Hiery 2007: 21) umbenannt hatte, führte dies fort. Sie setzte Menschen, die sie zu »Kannibalen« verurteilt hatte als Zwangsarbeiter ein und diskreditierte, wie etwa Admiral Gühler, die »Eingeborenen des Bismarck-Archipels [als] häßlichste[n] Menschenschlag [...] [mit] fast tierischen Physionomien [...] [aufgrund des] lange nicht überwundenen Kannibalismus« (Gühler 1910 BA: RKolA 2654/Hiery 2007: 11). Aus postkolonialer Perspektive rekurriert Owens Showchoreographie somit einerseits auf kolonial geformte »grimmige« Mimiken und deren kolonialrassistische Zuschreibungen des »häßlichen Wilden«. Andererseits entfalten die Kostümbilder von Vicious gerade über diese primitivistischen Transgressionen und ihre laute aggressive Performance auf der Bühne eine widerständige Wirkung.
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Rebirthing the Cool – Der Trend zu historischen Genealogien Dass Owens mit Vicious Modegeschichte geschrieben habe, äußerten nach der Show mehrere Stimmen aus der Modebranche (Socha 2013). Indem die minimalistische Kollektion von Vicious teilweise so wirkt als ob es sich um Roh- oder Studienmodelle aus einem Schnittlehrbuch für Kostümgeschichte handele, bringt Owens gerade über die Performance ansatzweise ein westliches Kostümbild zum Wanken. Abb. 4: Aufstellung aus der Performance Vicious, Die mono chromen Farben der 09/2013, Fotocredits Clément Louis, Kleider in Schwarz, Grau, Weiß Rick Owens Shows 2010/14 und Beige unterstreichen diesen Ausdruck. Owens gilt in der Branche als Schnitttechniker und zitiert mit den simplen Schnitten der Kollektion nicht nur die basalen und so genannten Grundformen der Kleidung wie Rechtecke, Rundungen und Drapagen, sondern ein gesamtes kostümhistorisches Repertoire: von Kopfbedeckungen wie Nonnen- oder Ritterhauben, über Stirnbänder und Ghutras bis hin zu Grundversionen von Tuniken. Ein frühes kostümgeschichtliches Beispiel um 1800 sind hierfür die Schautafeln in Johann Christian Mannlichs Versuch über Gebräuche, Kleidung und Waffen der ältesten Völker, nebst einiger Anmerkungen über die Schaubühne (1802), die nicht nur Kleiderschnitte demonstrierten, sondern auch Körperhaltungen für die Vorführungen von Geschichte auf der Bühne und Gesten für die leiblichen Aneignungen historischer Posen (Gaugele 2015: 52). Owens historische Schnittformen, die in der Kostümgeschichte als Zeichen für bestimmte Völker, Stämme und Stände klassifiziert worden sind, laufen nun in Gestalt der Afroamerikanerinnen mit geballten Fäusten, angewinkelten Armen zu aggressiven Posen auf. Die Hände auf die Hüften gestellt, blickt sie – die andere Geschichte der Mode als historische Genealogie des Black Cool – angriffslustig, queer und kämpferisch ins Publikum zurück. Assoziationen an eine kostümgeschichtliche Bildertafel aus dem 19. Jahrhundert evoziert dabei diese Aufstellung (Abb. 4) in der Performance, die Owens rechteckige Grundschnitte zum Ausdruck bringt, kombiniert mit Kopfbedeckungen, die historischen Ritterhauben, aber auch Stirnbändern und Ghutras gleichen.
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Dies kann durchaus als Rekurs auf eine historische Genealogie von Coolness gedeutet werden, die in der westlichen Kulturgeschichte bis zurück in Stammeskulturen, tribalistische Kriegerposen, lässige Höflinge der Renaissance oder Dandies geführt wird (Holert 2004: 42; Mentges 2010: 32). Dass »cool« in Nigeria oder Benin mit dem Gleichmut und der Gelassenheit im Ausdruck der Könige in Verbindung gebracht wurde, hat Robert Farris Thompson in »An Aesthetic of the Cool« beschrieben (Thompson 1973: 41ff.), wo er die historische Tradition von »cool« als zentrale afrikanische und afroamerikanische Metapher erforschte. Thompson hat hier vier Bedeutungsebenen herausgearbeitet, die afrikanische Definitionen von »cool« sowohl in meta phorischer als auch in mystischer Hinsicht komplizierter und vielfältiger darstellen als westliche: 1. Diskretion, 2. Heilung, 3. Wiedergeburt sowie 4. Neuheit/Newness und Reinheit (ebd.: 41). Als Pose wurde die »Maske« der Coolness nicht nur in Zeiten von Stress aufgesetzt, sondern auch in vergnügten Situationen, bei expressiven Performances und beim Tanz (ebd.). Kontrolle, Stabilität, Fassung und Selbstbeherrschung, sagt Thompson, sind im afrikanischen »cool« konstituierende Elemente einer allumfassenden ästhetischen Einstellung. Diese bezieht sich in vielerlei Hinsicht auf Selbstkontrolle und Fassung sowie auf das soziale Gleichgewicht (ebd.). Aus dieser grundlegenden, über Afrika und die Black Americas hinaus wiederkehrenden Auffassung leitet Thomson den Begriff einer »aesthetic of the cool« ab, welche er als tiefgründige, komplex motivierte künstlerische Gesinnung definiert, die in ihrem bewussten Gestus sowohl Ernstes und Vergnügliches, als auch Verantwortung und Spiel miteinander verknüpft (Thompson 1973: 41). Kleidung, Haare und Accessoires sind Teil dieser »coolen« Gesamtkomposition: Ausdruck einer körperlich strahlenden Erscheinung und Statement, sich der Kraft der Vernunft bewusst zu sein zugleich (ebd.: 29). Thomsons Beschreibungen der »coolness« werden fortan in Studien, die sich auf ihn berufen des Öfteren mystifiziert und auf eine Jahrtausende umfassende afrikanische Geschichte projiziert (Mentges 2010: 31). Auch Carol Tullochs Untersuchungen zu den Styles der afrikanischen Dia spora, in denen sie Gruppen, die außerhalb Afrikas leben und vom atlantischen Sklavenhandel, Kolonialismus und Imperialismus geformt wurden, untersucht hat, verweisen auf Thomson (Tulloch 2016: 5). Tulloch geht es in The Birth of Cool darum, eine Historiographie des Black Cool zu schreiben: von den afrikanisch-jamaikanischen Händlerinnen und Händlern des 19. Jahrhunderts, über die Harlem Renaissance und Alain Lockes Schrift Enter the New Negro (1925), den Cool Jazz, Miles Davis’ paradigmatisches Album und Billie Holiday, bis hin zu Malcolom X und den Bürgerrechtsbewegungen der 1960/70er Jahre. Doch ganz im Unterschied zu Owens lauter popkulturellprimitivistischer Vicious-Performance hat Tulloch dabei die Geschichte eines stillen Aktivismus (Tulloch 2016: 199 ff.) aufgedeckt und hervorgeho-
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ben, dass die Style Narratives der afrikanischen Diaspora eine stille Revolution waren: »the style narratives of the African diaspora have been a quiet revolution [...] not agressive evocations of what it means to be black in specific geographical spaces and time (ebd: 20).« Diese ganz eigene Haltung, tagtäglich rassistischen Diskriminierungen zu begegnen, bezeichnet sie als »Cool response« (ebd.: 199ff.). Owens Performance ist Teil eines neuen Hype um Black Cool und des Trends, dessen Genealogien medial neu aufzubereiten. Ausgelöst wurde dieser 2008 durch den Versuch des Black American Lifestyle-Magazins Ebony, eine Genealogie der »Twenty Five Coolest Brothers of all time« zu zeigen und dessen Titelbild mit dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama, der im schwarzen Anzug mit weißem Hemd, Sonnenbrille und rosa Krawatte aus dem Auto stieg (Tulloch 2016: 4). Paradigmatisch für eine zeitgenössische Verkörperung von Black Cool als politische, moralische und ästhetische Handlung (Thompson 1973: 41) ist dieses Bild Obamas auch für die Schriftstellerin Rebecca Walker (2012), die sie in ihrer Anthologie Black Cool: One Thousand Streams of Blackness wie folgt beschreibt: »Black cool is being youself, fighting for what’s right and looking crazy good – or at least, solidly righteous – while you’re doing it.« (Walker 2012: xii) Doch nichtsdestotrotz spiegelt der Versuch einer Genealogie der »Twenty Five Coolest Brothers of all time«, wie sie Ebony vom Boxer Mohamed Ali über den Soul- und R&B-Sänger Marvin Gaye bis hin zum Rapper und Musikproduzenten Jay Z proklamiert, den Ausdruck einer Celebrity Culture wider, in der es in Anlehnung an Bell Hooks um Bühnen für kapitale männliche Stars geht: »[...] it’s all about the patriarchal vision of being on top, of being the ruler, of being Mr. Big, The Man (Hooks 2004: 141).« Der Protest des Black Power Movement gegen das Patriarchat sei für die Männer der Hip-Hop-Generation tot, sagt Hooks, reartikuliert werde er nur noch als »fake cool pose of ›keeping it real‹« (Hooks 2004: 141) in Formen des Entertainments, die weder die transformative Macht noch die Absicht haben in Dominanzpolitiken zu intervenieren, um dadurch das Leben von schwarzen Männern wirklich zu verändern. Auch Hip-Hop-Posen und deren »coole« Outfits, die sich in den 1980er und 90er Jahren im Terrainkampf zwischen schwarzen und weißen Jugendkulturen, Unter- und Mittelschichten geformt haben, dominieren inzwischen die Fast Fashion und als »kapitalisierbares Rollenmodell« die ästhetische Orientierung pubertierender Mittelschichtsjugendlicher (Holert 2004: 44). Doch an welche Trends knüpft Owens Re-birthing des Coolen angesichts dessen an? Die letzte große Coolness-Konjunktur fand in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre statt (Mentges 2010: 27). So sind denn auch die »coolen Posen«, Mimiken, Gesten und Laute zu den Tanz- und Exerzierschritten der
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Stepperinnen, welche die Inszenierung von Vicious 2013 aus dem akademischen Umfeld schwarzer Studierenderverbindungen von US-amerikanischen Colleges auf die Bühne bringt, sind ein Rekurs auf die Street-Styles der 1990er Jahre. Seinerzeit wurden beispielsweise die Stepperinnen und Stepper der Gruppe Alpha Phi Alpha in einer Anzeigenkampagne für Foot Locker (1992) gefeaturet und erlangten durch ihren Auftritt bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Sommerspiele in Atlanta (1996) die Stellung nationaler Repräsentantinnen und Repräsentanten (https://en.wikipedia.org/wiki/Stepping _%28African-American%29#History). Diese Linie nimmt Owens Performance als »Inspirationsquell des Differenzkonsums« (Holert 2004: 44) für ihre Genealogien der Coolness auf und greift damit nicht zuletzt doch wieder auf die »(Il-)Legitimität einer jugendlich-minoritären Disktinktion« (ebd.) zurück.
Coolness – Kopien und Modellwechsel
Abb. 5: Model als Rick Owens Double, Vicious, S/S 2014, Pressefoto Rick Owens, Fotocredits Valerio Mezanotti
»Am coolsten ist es, wenn man sich nicht mehr darum kümmert, ob man cool ist. Gleichgültigkeit ist für mich das großartigste Aphrodisiakum – das macht für mich Stil«, so lautet ein A3-formatiges Zitat von Owens in seiner Monographie (Jones 2013). Für Owens, der für seine Männer-Stilettos mit HighHeels bekannt ist und als Luxury-Goth-Version von Iggy Pop, ist Coolness eine Technologie seines unternehmerischen Selbst und nicht zuletzt auch sein Trademark. »Man muss in allen Bereichen die Regeln kennen«, sagt er, »um überhaupt zu wissen, wie man sie brechen kann« (Jones 2013). Der Designer, dessen Modeschauen bislang für den Rick-Style – d.h. Bewegungen die zwischen einem gemächlichem Schlendern und Schreiten lagen – bekannt sind, hat mit dieser Show einen neuen Gang eingelegt. Dabei knüpfen die in Vicious gekonnt eingesetzten aggressiv-expressiven Mimiken der Stepperinnen an Owens langjährige Performanzen von Anti-Posen an: »Als ich anfing Kleider zu machen, waren meine Kleider eine Art Antistatus, Antilaufsteg, eine Antihaltung gegen alles.« (Jones 2013)
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Sein eigenes Modelabel gründete Owens 1994 in Los Angeles, zog 2003 nach Paris und erweiterte sein Unternehmen 2010 um eine Möbelkollektion. Als einem der wenigen Designer gelingt es ihm und seiner Partnerin Michèle Lamy, sich selbstständig ohne die Fusion mit einem der drei großen Konsortien der Mode- und Luxusgüterindustrie zu behaupten: gegenüber dem französischen Konglomerat LVHM (LVMH 2015) und dessen Marken wie Louis Vuitton, Givenchy, Céline, Loewe, Marc Jacobs, Dona Karan, u.a., genauso wie gegenüber der Kering-Gruppe (Kering 2015) mit Brands wie Gucci, Yves Saint Laurent, Balenciaga, Bottega Veneta, Alexander McQueen, Stella McCartney, Puma u.a. und auch der Prada-Gruppe. Als unternehmerischer Multiplikand seiner selbst bringt Owens nicht nur Wachsfiguren von sich in Umlauf – als »Rickzillas«, oder in Form von Tisch- oder Stuhlgestellen etwa, die Allen Jones’ weibliche Pop Art Figuren aus Hatstand, Table & Chair (1969) appropriieren – , sondern auch Männer dazu, wie Rick-Kopien zu wirken, wenn sie für ihn im Atelier und auf dem Laufsteg arbeiten, oder in der ersten Reihe seiner Show sitzen (Abb.5). Angesichts dessen, dass Owens’ minimalistischer Stil und seine Goth-Inszenierung auf dem Catwalk mittlerweile auch von jüngeren Kollegen wie Gareth Pugh oder teilweise sogar Alexander Wang kopiert wurden, hatte die Performance der Stepperinnen für ihn die Funktion, einen Mode- und Modellwandel in Sachen Coolness zu vollziehen, um seine Position als Anti-Fashion Star im Gefüge der etablierten Designer neu zu behaupten. In Zeiten von Instagram, Twitter, live-streaming und Street-Style-Paparazzi-Tumult vor und nach den Shows sind auch in Paris die Modenschauen neu belebt worden und in ihrer Bedeutung als Rituale der Selbstbehauptung von Designern gestiegen. Sich hier beim wichtigsten theatralischen Branding-Event in Paris strategisch erfolgreich ab- und medial durchzusetzen und dabei ein Re-birthing seines Labels durch einen Wandel in Sachen Coolness zu lancieren, ist Rick Owens mit dieser Show definitiv gelungen. In 2014 steigerten die »wilden Grimassen« der afroameri kanischen Studentinnen Rick Owens’ Kapital als Provokateur und seinen Status als Anti-Fashion Stardesigner in Paris, der im Spektakel die Regeln des Systems der Mode mit Erfolg zum Bersten bringt. Owens Anspruch als Modedesigner, eine »primitive und zugleich disziplinierte Eleganz« (Titton 2010: 81) zu schaffen, setzt Vicious in doppeltem Maße um: durch die Appropriationen der Gymnastik- und Exerzierschritte und präzise kalkulierte primivistische Transgressionen, welche die Stepperinnen auf dem Laufsteg als enragierte »Outsizer« und »Outsider« inszenieren. Im Hinblick auf die Kritik vieler farbiger Frauen, die sich durch Owens Show zu Recht als »Freaks« und Stereotype wütender schwarzer Frauen repräsentiert sahen, wurden nach Vicious Forderungen (Pham 2013) laut, dass die Modeindustrie grundsätzlich damit aufhören solle, Diversität zu inszenieren, um ihre Dynamiken von Ethnizität, Macht und Profit von Grund auf neu zu überdenken.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Rick Owens Vicious S/S 2014, Fotocredits Clément Louis Abb. 2: Rick Owens Vicious S/S 2014 Pressefoto Rick Owens, Fotocredits Valerio Mezanotti, url: https://www.rickowens.eu/ en/DE/collections/women-vicious-ss14#gallery-27 Abb. 3: Kostümtafel tituliert als »Eingeborener von Neu-Irland« (1845 ) Aus: Heinrich von Berghaus (1945): Die Völker des Erdballs nach ihrer Abstammung und Verwandtschaft, und ihren Eigenthümlichkeiten in Regierungsform, Religion, Sitte und Tracht, Bd. 1., Brüssel/Berlin: Carl Muquart Abb. 4: Aufstellung aus der Performance Vicious 09/2013 Fotocredits Clément Louis, Rick Owens Shows 2010/14, url: http://www.clementlouis.com/3184266-rick-owens-2010-2014-shows#3 Abb. 5: Model als Rick Owens Double Vicious S/S 2014 Pressefoto Rick Owens, Fotocredits Valerio Mezanotti, url: https://www.rickowens.eu/en/DE/collections/women-vicious-ss14
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Abb. 1: Gestalter unbekannt, Logo der RAF, 1970
Kreativität und Terrorismus | Friedrich Welt zien
Kreativität und Terrorismus Anmerkungen zum Design in Zeiten der Gewalt Friedrich Weltzien
Momentan scheinen wir in wilden Zeiten zu leben. Begriffe wie Angst, Misstrauen und Gewalt prägen die Diskussionen um das öffentliche Leben in Deutschland so stark, wie schon lange nicht mehr. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass eine internationale Form des Terrors, die politische Intentionen mit religiösen Legitimationen kombiniert (und äußerlich oft von unpolitischen Amokläufen kaum zu unterscheiden ist), auch auf deutschem Boden stattfindet. Im Folgenden soll jedoch nicht verhandelt werden, inwiefern im aktuellen Geschehen Terror und Gestaltung zusammenhängen.¹ Zunächst ist vielmehr festzustellen, dass Terrorismus in Deutschland keineswegs ein neues Phänomen ist, sondern gesellschaftsverändernde, organisierte Gewaltakte eine Tradition haben, die sich über Faschismus und Weimarer Republik hinaus zum Vormärz von 1848 oder gar bis in die Reformationszeit verlängern ließe. Diesen historischen Faden will ich aufgreifen und einen Knoten machen in den späten 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. In diesen Jahren fanden sich in Deutschland mehrere Gruppen zusammen, etwa die »Bewegung 2. Juni« oder die »Rote Armee Fraktion«, die als terroristische Vereinigungen eingestuft werden, denn sie haben aus politischen Gründen Menschen getötet. Der vielzitierte Islamwissenschaftler Olivier Roy hat einen Zusammenhang formuliert, den er zwischen der Anziehungskraft erkennt, die heute vom sogenannten Islamischen Staat ausgeht und die seinerzeit von linksradikalen bewaffneten Gruppen auf vor allem junge Menschen gewirkt hat.² Es kann insofern durchaus eine gewisse Aktualität der
1 | Vgl. hierzu auch Scholz/Weltzien 2015,
natürlich bei den Radikalen, die darin das
Mareis/Windgätter 2016, von Borries 2013.
gefunden haben, was ihre ultralinken Vor-
Grundlegender auch Baudrillard 2002,
läufer (Baader-Meinhof, Roten Brigaden) im
Theweleit 2002.
internationalen Proletariat entdeckt hatten«
2 | »Hoch im Kurs steht eine derartige Umma
(Roy 2006: 10).
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Fragestellung beansprucht werden, wenn untersucht wird, wie sich vor 40 Jahren Terrorismus und Design zueinander verhalten haben. Im Kern der Analyse soll dabei eine kreativitätstheoretische Position stehen. Das bedeutet, mich interessiert vornehmlich, wie Kreativität definiert und von wem sie in Anspruch genommen wurde. Die Ausgangshypothese besagt, dass der Griff zur Waffe auch mit einer bestimmten Auffassung von Kreativität einhergeht. Als wilde Dinge begreife ich Dinge, die in einem bestimmten Verhältnis zu Gewalt stehen. Mit dem Soziologen Bruno Latour sollen Dinge dabei weniger als Tatsachen im Sinne von »matters of fact« definiert sein, sondern vielmehr als »matters of concern«. Ein Ding ist ein Objekt, das uns angeht, das uns betrifft und eine Bedeutung für uns hat (Latour 2008). Man kann das – auf den Vorgang des Gestaltens bezogen – als ein Herstellen von Entwürfen oder Produkten bezeichnen, die sich in welcher Weise auch immer gegen einen Mainstream, eine herrschende Machtkonstellation wenden. Das heißt, wilde Dinge sind nicht notwendigerweise wild, weil sie ungebürstet oder schmuddelig sind. Sondern sie sind wild, indem sie eine Bedeutung tragen, die Machtansprüche in Frage stellt. Terroristen stellen sozusagen von Berufs wegen Machtansprüche in Frage (und machen damit gleichzeitig auch wiederum eigene Machtansprüche geltend). Objekte, so könnte man das weiterdenken, die von Terroristen oder für Terroristen entworfen worden sind oder von Terroristen oder für terroristische Zwecke genutzt wurden, wären dann wilde Dinge. Die Dinge, von denen im Folgenden die Rede sein wird, sind Objekte, die insbesondere eine Beziehung zu Mode und Grafik haben, aber nicht darauf beschränkt sind. Der Begriff Design wird insofern nicht disziplinär gebunden verwendet.³
Boutiquen angreifen In der europäischen Geschichte der 1960er und 1970er Jahre kam es in vielen Ländern zu einer Welle der Gewalt, die von linken Gruppierungen ausging. Es war ihnen gemeinsam, dass sie versuchten, mit rabiaten Mitteln eine von der Mehrheit der Bevölkerung zu tragende Revolution herbeizuführen. Es bildeten sich separatistische Organisationen in Irland (IRA) und im Baskenland (ETA), marxistische Gruppen in England (Angry Brigade), Frankreich (Action Directe), Italien (Brigate Rosse) oder Belgien (Cellules Communistes Com-
3 | Im Hinblick auf Mode vgl. Weltzien 2015: 279–296.
Kreativität und Terrorismus | Friedrich Welt zien
battantes) sowie auch in Westdeutschland und sogar in den USA (Weathermen). In Deutschland hatten sich die Studentenunruhen der 1960er Jahre an politischen Themen entzündet: Die unaufgearbeitete faschistische Vergangenheit und die Weiterbeschäftigung von Altnazis in Politik und Justiz, das Verhältnis Deutschlands zu autokratischen Regimen,⁴ die atomare Rüstung sowie der Protest gegen den US-amerikanischen Krieg in Vietnam.⁵ Insbesondere aus den Reihen dieser Protestbewegung rekrutierten sich auch die Mitglieder der RAF, indem sie den bewaffneten Kampf als probates Mittel sahen, dem Ziel einer Revolution näherzukommen. Die genannten terroristischen Gruppierungen bauten zumeist auf kommunistischen, sozialistischen oder anarchistischen politischen Überzeugungen auf. In der Argumentationslogik einer antikapitalistischen Ideologie war der Krieg in Vietnam Ausdruck imperialistischen Machtstrebens. Das gleiche Machtstreben sah man auch in den Mechanismen der Marktwirtschaft am Werke. Repräsentanten dieser kapitalistischen Überwältigung sind alle Bereiche des Konsums, der nach der Lehre von Karl Marx insbesondere dazu dient, den Mehrwert der menschlichen Arbeit, die in den Produktionsstätten der Industrie geleistet wird, abzuschöpfen – und sich in den Taschen der Entrepreneurs zu akkumulieren. Der Effekt, der aus einer linken Perspektive unausweichlich ist: Wenige reiche Menschen, die immer reicher und mächtiger werden, beuten sehr viele arme Menschen aus, die immer ärmer, immer zahlreicher und immer machtloser werden. So lautete denn auch einer der Slogans, die die RAF 1970 in ihrer ersten schriftlichen Stellungnahme unter dem Titel Das Prinzip Stadtguerilla äußerte: »Kampf dem Konsumterror!« (Rote Armee Fraktion 1977: 347) Rückendeckung holte sich Ulrike Meinhof, die Autorin dieses Manifests, unter anderem bei der kritischen Theorie der Frankfurter Soziologen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. In ihrem wichtigen Buch Dialektik der Aufklärung waren diese zu der Erkenntnis gelangt, dass etwa Werbung nach den gleichen Prinzipien wir politische Propaganda funktioniert: Sie verleitet Menschen dazu, etwas zu tun (zum Beispiel etwas zu kaufen), was ihnen im Grunde genommen nichts nützt, also Geld auszugeben für Sachen, die sie eigentlich weder brauchen noch haben möchten (und gelegentlich sogar den
4 | So spielte der Schah von Persien eine
Revolution gestürzt, die noch heute die Macht
Rolle, insofern im Zuge einer Demonstration
im Iran besitzt. Im Iran war die Revolution,
gegen dessen Besuch in Berlin am 2. Juni 1967
die zunächst auch von linken Guerillagrup-
der Student Benno Ohnesorg von der Polizei
pen gestützt wurde, im Gegensatz zur BRD
erschossen wurde, was eine Radikalisierung
erfolgreich.
der Unruhen zur Folge hatte. Der Schah wie
5 | Vgl. etwa die Argumentation von Thorwald/
derum wurde 1979 von einer islamistischen
Söhnlein/Baader/Ensslin 1968.
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226
Wilde Dinge in Kunst und Design | Aspekte der Alterität
eigenen Interessen zuwiderlaufen) (vgl. Heller 2008). Werbung und Marketing sind mächtige Waffen in der Hand der Ausbeuter. Ein geradezu idealtypisches Beispiel für die Funktionsweise der Gängelung von Volksmassen durch die menschenverachtenden Praktiken des Kapitals bot die Modeindustrie. Wenn Kleidung eigentlich dazu dient, Menschen davor zu bewahren, zu frieren, nass zu werden oder ihre Scham zu entblößen, dann bräuchte niemand allzu viele Anziehsachen. Kleidungsstücke lassen sich durchaus so herstellen, dass sie viele Jahre lang verlässlich ihren Dienst tun können. Mode hingegen verkauft Kleidung, die man eigentlich nicht benötigt. Dazu konstruiert sie künstliche Bedürfnisse, indem Kleidung etwa als Mittel der sozialen Distinktion benutzt wird, welches in regelmäßigen Abständen veraltet. Wer also im kompetitiven System des Kapitalismus bestehen will, kann sich nicht ein für allemal mit dem notwendigen Gewand versehen. Vielmehr muss saisonal neu eingekauft werden. Was letztes Jahr noch hip war, ist heute schon wieder uncool. Auf diese Weise wird der Motor des Konsums stets auf Touren gehalten und jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft in Atem, um die Ansprüche bedienen zu können, in der sozialen Werteskala nicht abzurutschen. Es muss Geld verdient werden, um den jeweiligen dernier cri bezahlen zu können, es müssen Zeitschriften, TV-Sendungen und andere Medien konsumiert werden, um zu wissen, was denn überhaupt angesagt ist, und es müssen schließlich auch entsprechende soziale Räume aufgesucht werden, um sich als auf der Höhe der Zeit zu präsentieren. Die Kulturindustrie, so beschreiben dies Adorno und Horkheimer in einem eindrücklichen Vergleich zwischen dem nationalsozialistischen Propagandaapparat und der Unterhaltungsmaschinerie Hollywoods, hält so den größten Teil der Menschheit beschäftigt, damit niemand auf die Idee käme, Herrschaft in Frage zu stellen und die Unternehmungen der Mächtigen zu stören. In einer solchen Sicht auf die Welt erscheint es insofern konsequent, an dieser Stelle anzusetzen, um die Selbstverständlichkeit der Macht zu erschüttern: Um das Töten von eigenen und gegnerischen Soldaten in den Kriegsgebieten, die Ausbeutung der Dritten Welt, die Unterdrückung des Proletariats und die Zerstörung der Natur zu beenden. Ist der Konsum erst einmal als das Mittel der alten und neuen Faschisten (denn Macht funktioniert in dieser Argumentation notwendig faschistisch) enttarnt, welches es jenen erlaubt, ungestört ihr ausbeuterisches Joch zu installieren, ist schnell klar, wo der Kampf beginnen muss. Man muss die Tempel des Konsums angreifen. Man muss die Boutiquen und Kaufhäuser angreifen, jene Orte, an denen die Mode zum Volk kommt und insofern Macht ausgeübt wird. Nicht nur die offensichtlichen Organe staatlicher Gewalt (wie Sozialämter, Gerichte und Gefängnisse, Polizeistationen oder Armeekasernen) sind lohnenswerte Angriffsziele, sondern auch die Einkaufszentren, in denen die Volksmassen sich in blinder Gier sedieren lassen.⁶
Kreativität und Terrorismus | Friedrich Welt zien
Am 2. April 1968 deponierte eine Gruppe um die beiden späteren RAF-Gründer Gudrun Ensslin und Andreas Baader zwei Brandsätze, die mit Zeitzündern versehen waren, im Kaufhof und im Kaufhaus Schneider, zwei Kaufhäusern in der Frankfurter Innenstadt. Nachts, als keine Besucher mehr im Haus waren, detonierten sie und ließen die Warenhäuser in Flammen aufgehen. Schon am nächsten Tag wurden die Brandstifter verhaftet (Hakemi/Hecken 2006: 316-331). Die prominente Journalistin Ulrike Meinhof schrieb in der Zeitschrift Konkret über den Prozess gegen die vier Stadtguerilleros: »Immerhin, die Vernichtung gesellschaftlich produzierten Reichtums durch Warenhausbrand unterscheidet sich qualitativ nicht von der systematischen Vernichtung gesellschaftlichen Reichtums durch Mode, Verpackung, Werbung, eingebauten Verschleiß. So gesehen, ist Warenhausbrandstiftung keine antikapitalistische Aktion, eher systemerhaltend, konterrevolutionär. Das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung liegt nicht in der Vernichtung der Waren, es liegt in der Kriminalität der Tat, im Gesetzesbruch. Das Gesetz, das da gebrochen wird, schützt ja die Menschen nicht davor, daß ihre Arbeitszeit und -kraft, der von ihnen geschaffene Mehrwert vernichtet, verdorben, vergeudet wird, daß sie durch Werbung über ihre eigenen Produkte belogen, durch Arbeitsorganisation und Verheimlichung von allen Informationen über ihre Produkte getrennt werden, als Produzenten wie als Verbraucher denen unterworfen und ausgeliefert sind, die sich den Profit aneignen und nach eigenem Gusto investieren. Nach eigenem Gusto heißt nach der Logik des Profits also da, wo neuer, mehr Mehrwert angeeignet werden kann, nicht da, wo das Geld effektiv und von allen gebraucht wird: also z.B. im Erziehungswesen, im Gesundheitswesen, für öffentliche Verkehrsmittel, für Ruhe und reine Luft und Sexualaufklärung etc.« (Meinhof 2004: 175) Zwei Jahre später beteiligt sich Meinhof an der blutigen Befreiung von Andreas Baader aus dem Gefängnis und gehört auf diese Weise zu den Gründungsmitgliedern der RAF. Sie übernimmt die Funktion einer Vordenkerin und ist Autorin der wichtigsten theoretischen Formulierungen der RAF dieser Jahre. Mit ihrer klar durchdachten Kritik an dem Brandanschlag hat sie sich für diesen Posten interessant gemacht, auch wenn ihr einer der Beteiligten, Thorwald Proll, in ihrer Lesart durchaus widerspricht. Proll sieht die Kaufhausbrände eher als Happenings mit politischem Anspruch, als symbolische Aktionen in einem künst-
6 | Der Zombiefilm Night of the Living Dead von
die Shopping Mall als Ort der lebenden Toten
George Romero aus dem Jahr 1968 visualisiert
zeigt, an dem der Kampf gegen Rassismus
dieses Bild auf anschauliche Weise, indem er
und Vietnamkrieg geführt wird.
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Wilde Dinge in Kunst und Design | Aspekte der Alterität
lerischen Kontext, wobei er als Beispiel auf die anarchischen Filme der Marx Brothers verweist (Proll/Dubbe 2003: 33).
Gegenkulturelle Kreativitätskonzepte Den Anschlägen in Frankfurt waren Flugblätter der Kommune I (jener berühmt-berüchtigten anarchistischen Lebens- und Wohngemeinschaft in Westberlin) unmittelbar vorausgegangen. Sie hatten einen verheerenden Brand mit über 300 Toten in einem Brüsseler Kaufhaus zum Anlass genommen, darüber zu spekulieren, ob dieser Brand nicht ein neuer »gag in der vielseitigen Geschichte amerikanischer Werbemethoden« (Flugblatt 1967) sei, mit dem »eine amerikanische Woche eröffnet« wurde: »Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelte zum erstenmal in einer europäischen Grossstadt jenes knisternde Vietnamgefühl (dabeizusein und mitzubrennen), das wir in Berlin bislang noch missen müssen.« (Flugblatt 1967) Die Mitglieder der Kommune I wurden daraufhin wegen »Aufforderung zur Brandstiftung« vor Gericht gebracht. Der Prozess endete jedoch mit einem Freispruch, nicht zuletzt deshalb, weil die vom Richter hinzugezogenen Gutachter aus geisteswissenschaftlichen Disziplinen (darunter etwa Peter Szondi, seinerzeit Direktor des Seminars für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin) den künstlerischen Charakter der Texte deutlich machten und auf vergleichbare Formulierungen in avantgardistischen Manifesten etwa des Futurismus oder Surrealismus hingewiesen hatten. Proll sah sich also in dieser Tradition, die in der Person Guy Debords und seiner Künstlergruppe der Situationistischen Internationalen derartige ästhetische Konzepte, die eine Verschmelzung von Kunst und Leben forderten, eine aktuelle Parallele aufwies.⁷
7 | Der Brandstifter-Prozess gegen Mitglieder
nimmt bereits in ihrer Namensgebung Bezug
der Kommune I wurde von den Angeklagten
auf Debords »Theorie des Umherschweifens«.
ausdrücklich als Möglichkeit verstanden, in
Vgl. zur Verbindung zwischen Situationismus,
Debords Sinne öffentlichkeitswirksame Situa-
der Kommune I und der RAF: Hakemi 2008,
tionen herzustellen. Auch die Berliner Gruppe
Ohrt 1990.
der »Umherschweifenden Haschrebellen«
Kreativität und Terrorismus | Friedrich Welt zien
Ulrike Meinhof nahm diesen ästhetischen Zugang offenbar nicht wahr. Überhaupt schien in der RAF – im Gegensatz etwa zur Kommune I – keine Vorstellung von Kreativität zu existieren, die sich vom politischen (respektive paramilitärischen) Vorgehen abstrahieren ließe. Sie verorteten ihr Tun nicht im Kontext kreativer Praktiken, Kreativität kann bestenfalls eine dienende Funktion übernehmen. In einem Brief vom 23.11.1972 hat Gudrun Ensslin (neben Baader und Meinhof das dritte Gründungsmitglied der RAF) als Vorschlag für eine hilfreiche Tätigkeit von Seiten der Kunst den Vorschlag parat, »einen guten aufklärenden Film zu machen« (Hecken 2006: 131).⁸ Der Künstler Hans-Peter Zimmer bekam aus dem Berliner Untergrund nahegelegt, sich bei der Gründung eines »befreiten Territoriums« auf diese Weise einzubringen: »Fahne entwerfen, Flugblätter gestalten, Wandparolen erfinden« (Hecken 2006: 105). Meinhof sah in »Mode, Verpackung, Werbung« die Vernichtung von gesellschaftlichem Wohlstand, den sie lieber »im Erziehungswesen, im Gesundheitswesen, für öffentliche Verkehrsmittel, für Ruhe und reine Luft und Sexualaufklärung« investiert gesehen hätte. Jene Bereiche, die man heute als kreative Disziplinen beschreiben würde, werden im Feld des Gegners verortet. Dabei bietet Adorno, der immer wieder zur theoretischen Fundierung herangezogen wird, in seiner Kritik an der Unterhaltungsindustrie durchaus Vorschläge, wie sich der konsumorientierten Warenlogik der Kreativbereiche zum Trotz schöpferisch an der Freiheit arbeiten lässt. Diese kreativitätstheoretischen Implikationen der kritischen Theorie, die Proll und den Verfassern der Flugblätter der Kommune I nicht entgangen sind, liegen der RAF hingegen fern (Weltzien 2006, Weltzien 2014).⁹ Die Gegenkultur, der sich die erste Generation der RAF durchaus verwandt fühlte und aus der sie sich selbst hervorgegangen sah (Baader 1977),¹⁰ hatte Wege gesucht, das Problem der Bevormundung und der Entfremdung durch den Kapitalismus auf andere Weise zu lösen als durch terroristische Gewaltakte.
8 | Der dokumentarische Fernsehfilm Bambule
9 | Die kreativitätstheoretischen Aspekte der
von Ulrike Meinhof sollte eigentlich 1970 im
Stadtguerilla sind bislang nicht kulturwissen-
deutschen Fernsehen ausgestrahlt werden,
schaftlich aufgearbeitet worden.
wurde aber wegen ihrer Beteiligung an der
10 | »die studentenbewegung, […] konnte diesen
Baader-Befreiung aus dem Programm genom-
sprung nicht machen, weil sie aus sich selbst –
men. Auch das RAF-Mitglied Holger Meins
ohne den motor der bewaffneten aktion – weder
hatte vor dem Abtauchen in den Untergrund
die kraft dazu entwickeln noch überhaupt die
Dokumentarfilme (etwa über die Herstellung
notwendigkeit und möglichkeit begreifen konnte.
von Molotowcocktails) gedreht.
dass aus ihr diese aktion, die antiimperialistische guerilla: raf hervorgegangen ist, widerspricht dem nicht.« (Baader 1977: 188).
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Wilde Dinge in Kunst und Design | Aspekte der Alterität
Kreativität war hier als ein Begriff geprägt worden, der den Unterschied zwischen einem selbstbestimmten Leben und dem »versklavten Konsumenten« (Provokatie 1968) ausmacht. So heißt es etwa 1967 in einem Kreuzberger »Aufruf an das Provotariat«: »Das Proletariat hat sich seinen politischen Führern unterworfen. Es ist mit seinem alten Rivalen, der Bourgeoisie, zu einem großen grauen Scheißvolk zusammengeschmolzen. […] Wir leben in einer geschmacklosen Einheitsgesellschaft. Das kreative Individuum ist eine Ausnahme.« (Provokatie 1968)¹¹ Das kreative Individuum ist der Gegenentwurf zur entfremdeten Existenz, »dem Verhalten und Konsum […] vorgeschrieben oder aufgezwungen« (Provokatie 1968) werden. Ein künstlerischer Ansatz, wie ihn etwa die Situationisten anboten, kann insofern als Alternative zum bewaffneten Kampf genutzt werden. Wenn Ulrike Meinhof und ihre Kombattanten die Alternative »Kreativität statt Gewalt« hätten sehen können, wären ihnen womöglich auch andere Widersprüche ins Auge gefallen, die mit ihrer Strategie einhergingen. Zwar liegt sie mit der Bestimmung des Guerilla-Prinzips als der Übernahme und der Nutzung der Mittel des Feindes gegen diesen ganz auf der Linie der reinen Lehre, wie sie das große Vorbild der linken Guerilleros, Che Guevara, formuliert hat (Guevara/Davies: 1997 [1960], Lanham 1997). Die Mittel des Gegners, die gegen ihn selbst gewendet werden sollen, meinen aber insbesondere die militärische Gewalt von Schusswaffen und Bomben. Die Tatsache, dass die RAF auch die kapitalistischen Mittel des Marketings kopiert, indem sie sich etwa ein Logo zulegt (Abb. 1), bei unterschiedlichen Aktionen auf Telepräsenz im Fernsehen nachdrücklichen Wert legt und eine Corporate Identity entwickelt, zu der beispielsweise die Vorliebe für schwarze BMW als Dienstfahrzeuge zählen,¹² diese Tatsache dürfte zu den nicht bewusst gewählten (oder zumindest nicht explizit thematisierten) Kampfmitteln zählen. Das Logo gehört zu den zentralen Elementen der Erstellung einer Marke und ist so etwas wie das grundlegende Kennzeichen des Kapitalismus selbst. Im Falle der RAF erinnert der rote fünfzackige Stern mit der Maschinenpistole und den drei Großbuchstaben an militärische Abzeichen der »Roten Arbeiterund Bauern-Armee« der Sowjetunion. Gerade im Vergleich zu anderen links terroristischen Vereinigungen wie den »Roten Brigaden« oder der »Action Directe« zeigt sich, dass es um schnelle und einfache Wiedererkennung und
11 | Das Provotariat war eine niederländische
12 | »Im Volksmund hieß BMW bereits Baa-
Gruppe, die hier von den Berliner Gruppen
der-Meinhof-Wagen« (Aust 1989: 171). Vgl. zu
zitiert wird.
den ästhetischen Implikationen der RAF auch Stephan/Tacke 2008: 287ff., Galli/Preusser 2006.
Kreativität und Terrorismus | Friedrich Welt zien
Zuordnung geht: Eine Marketingstrategie.¹³ Bemerkenswert und viel diskutiert ist auch die Wahl der Waffe für das Logo. Sie stellt eine deutsche Heckler und Koch MP5 dar, die seinerzeit vor allem von Polizei und Militär eingesetzt wurde und im Waffenarsenal der RAF nicht vorkam. Anders als etwa die Kalaschnikow AK 47, die auf dem Schwarzmarkt leicht zu bekommen ist und seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute von Terroristen und anderen illegalen Schützen bevorzugt wird, steht die HK MP5 eher für staatstragende Gewalt und nicht für individuelle Selbstbestimmtheit. Ein professionelleres Logo-Design hätte gewiss mit vorhergehendem Briefing, Zielgruppenanalyse und Markttests einen solchen Patzer vermieden. Die Terroristen befreien sich insofern nicht von den Zwängen des Kapitalismus (wie es die Situationisten in dadaistischer und surrealistischer Tradition versuchten), sondern kopieren auf etwas dilettantische Weise seine Mittel.
Mode Auch wenn Meinhof in ihrer Besprechung der Kaufhausanschläge in der Zeitschrift Konkret (die in Tonfall und Intention ein wenig an eine Theaterkritik erinnert) zu dem Schluss kam, dass die Strategie eigentlich unwirksam, ja letztlich sogar konterrevolutionär sei, so fanden sich doch Nachahmer. Eine linke Gruppe aus London, die sich Angry Brigade nannte und als Teil ihrer sozialrevolutionären Agenda auch dezidiert feministisch argumentierte, ließ am 1. Mai 1971, dem Tag der Arbeit, in der hippen Biba Boutique auf der Lon-
13 | Der Entwerfer des Logos ist unbekannt,
Ursprungscharakter behalten. Das sag ich
womöglich war es Holger Meins, der an der
dir als Markenartikler.‹ (lacht) Weil er diesen
Hochschule für Bildende Künste Hamburg
Beruf ja als kapitalistischen Beruf verachtete.
Kunst studiert und als Filmemacher gearbeitet
Lässt sich aber von einem beraten.« (Czettritz
hatte. Der Werbegrafiker Holm von Czettritz
2003). Bei Aust 1989: 160 wird berichtet,
gibt 2003 in einem Interview an, dass sein
»die Titelseite von Das Konzept Stadtguerilla
Freund Andreas Baader ihn um 1970 bat, das
zierte eine ›Kalaschnikow‹-Maschinenpistole,
Logo zu überarbeiten. »Holm von Czettritz
darauf die Abkürzung ›RAF‹. Name und Signet
(lachend): Richtig. Heute würde man Relaunch
setzten sich bald als Markenzeichen durch.«
dazu sagen. Weil ich dazu aber keine Lust
Hier wird als Entstehungsdatum 1971 (nicht
hatte und ich das irgendwie so naiv fand, hab
1970) genannt und der Titel lautet korrekt
ich ihm damals gesagt: ›In seiner Rustikali-
Prinzip Stadtguerilla, nicht »Konzept«. Inso-
tät hat das eine Originalität, die würde ich
fern mag auch der Typ der dargestellten Waffe
nicht verändern. Das muss diesen rauen
ein anderer gewesen sein.
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Wilde Dinge in Kunst und Design | Aspekte der Alterität
doner Kensington Street eine Bombe hochgehen. Dies war nicht der erste Anschlag, mit dem die Angry Brigade auf sich aufmerksam machte. Schon im Jahr zuvor hatte die gleiche Gruppe nachts ein Loch in den Boden eines Sendewagens der BBC gesprengt, der vor der Royal Albert Hall stand. Der Wagen sollte am nächsten Tag die ebendort stattfindenden Wahlen zur Miss World 1970 übertragen, der wohl beliebtesten Fernsehshow mit den höchsten Einschaltquoten dieser Tage. Die Übertragung wurde von der kleinen selbstgebauten Bombe nicht behindert, sehr wohl allerdings durch Demonstrationen vor der Royal Albert Hall und auf der Bühne, wo Stinkbomben und Mehltüten flogen. Auf Schildern protestierten die Demonstranten gegen den »disgraceful cattle market«, den »schäbigen Vieh Markt«, den eine solche Fleischbeschau darstelle und die antretenden Teilnehmerinnen zu Objekten degradiere (Various Authors 1985). Auch im Fall der Explosion in der Biba Boutique lässt sich das feministische Argument nicht übersehen. Die Attentäter hinterließen ein Communiqué, auf dem Folgendes zu lesen war: »If you are not busy being born you are busy buying. All the sales girls in the flash boutiques are made to dress the same and have the same make-up, representing the 1940‘s. In fashion as in everything else, capitalism can only go backwards ’they‘ve nowhere to go‘ they‘re dead. The future is ours. Life is so boring there is nothing to do except spend all our wages on the latest skirt or shirt. Brothers and sisters, what are your real desires? Sit in the drugstore, look distant, empty, bored, drinking some tasteless coffee? Or perhaps BLOW IT UP OR BURN IT DOWN. The only thing you can do with modern slave-houses – called boutiques – IS WRECK THEM. You can‘t reform profit capitalism and inhumanity. Just kick it till it breaks. Revolution.« (The Angry Brigade 2006 [1971])¹⁴ Shoppengehen und unschmackhaften Kaffee zu trinken, gilt in dieser Werteskala als verachtenswert. Wie schon 1967 das Provotariat argumentiert auch die Angry Brigade mit Kriterien des guten Geschmacks, also einer dezidiert ästhetischen Kategorie. Die ohnehin trostlose Situation der Konsumenten wird noch unerträglicher dadurch, dass die Verkäuferinnen gezwungen würden, sich im Stil der 1940er Jahre zu kleiden und zu schminken. Die 40er Jahre, jene dunkle und grau-
14 | Vgl. auch das Standardwerk Carr 2005 [1975].
Kreativität und Terrorismus | Friedrich Welt zien
envolle Ära des Faschismus in Europa, die den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg mit sich gebracht hatte, bilden das wahre Gesicht des inhumanen Kapitalismus ab. Die Stadtguerilla in der Nachfolge von Fidel Castro und Che Guevara, zu der sich sowohl die RAF als auch die Angry Brigade zählten, musste also – wenn man dieses Communiqué ernstnehmen möchte – zu Modeexperten werden. Wenn es ausreichte, sich im Stil der 40er Jahre zu schminken, um als Angriffsziel ausgewählt zu werden, dann musste die Guerilla ziemlich genau Bescheid darüber wissen, welche Silhouetten und welche Stoffe in den 40er Jahren verwendet wurden, welche Lippenstiftfarben und welche Frisuren seinerzeit in Mode gewesen sind. Die Argumentation erscheint wenig sinnvoll, denn immerhin waren ja auch die Kämpfer/innen der Resistance, die Widerstand gegen die Diktatur leisteten, wie auch die Opfer des Faschismus damals nach dem Stil der 1940er gekleidet. Gleichwohl ist es bemerkenswert, dass mit modehistorischen Argumenten Gewalt gerechtfertigt wurde. Im Kontext einer kreativitätstheoretischen Perspektive ist dabei ein weiterer Punkt bedeutsam: Es wird ausdrücklich die Rückwärtsgewandtheit des kapitalistischen Systems angeprangert. Die modischen Wellen sich ablösender Revivals von bereits Dagewesenem zeigen, dass der Kapitalismus keine Zukunft habe und sich zwangsläufig an der Vergangenheit orientieren müsse. Damit wird unterstellt, was gleichzeitig auch in West-Berlin in Anspruch genommen wird: Wahrhaft kreativ und zukunftsoffen sei die progressive Gegenkultur. Denn für die Autoren des Communiqués gilt der Vorwurf der Rückwärtsgewandtheit ja offensichtlich nicht. Im und über den ikonoklastischen Akt (»kick it till it breaks«) müsste sich folgerichtig ein Weg zu einer Gestaltung eröffnen, die ohne Rückgriffe oder Traditionen auskommt.
Punk Der Sprung zum Punk als einer ästhetischen Vergleichsgröße ist nicht ohne weiteres statthaft. Punk und Stadtguerilla sind weder miteinander identisch, noch lassen sie sich in eine widerspruchsfreie Genealogie oder Karte von Subkulturen einsortieren.¹⁵ Vielmehr besteht eine gemeinsame Schnittmenge, die in Bezug auf soziale Gesellschaftsmodelle, politische Ideale und auch auf die Kontinuität des aktiven Personals zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweist (Wetherington 2010, Groos 2002). Es ist möglich, sich dem Vergleich von kreativen Konzepten über eine Aufzählung anzunähern, die 1968 in West-Berlin die Teilnehmer/innen der Gegenkultur versammelt. Diese Aufzählung nennt zwar expressis verbis noch keine Punks, weil der Terminus
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seine Bezeichnungskraft noch nicht gewonnen hat, aber umreißt ziemlich genau das Spektrum, das ein paar Jahre später auch Punk umfassen wird: »Alle Provos, beatniks, Penner, Halbstarken, teddy-boys, blouson noirs, Gam mler, raggare, stiljagi, mangupi, Studenten, Künstler, Kriminellen, A-Sozialen, Anarchisten und ban de bommers. Die keine Karriere machen wollen, die kein geregeltes Leben leiden […].« (Provokatie 1968) Diese Sammlung passt auch auf jene Selbstpositionierung in den gesellschaftlich randständigen Gruppen, die die Situationisten im Auge hatten. Die kulturhistorische Linie, die Autoren wie Greil Marcus in die Ansätze einer Punktheorie integrieren und den Zusammenhang zwischen Surrealismus, Situationismus, Counterculture und Punk stark machen, soll meinen Einsatz des Vergleiches den möglichen Widersprüchen zum Trotz stützen (Marcus 1992, Hecken 2006). Zu Bedenken sei auch gegeben, dass der Begriff Punk einen kulturtheoretischen Schirm über einem alles andere als homogenen Bereich von politischen Interessen, Lebensentwürfen und Kreativitätskonzepten spannt. Bei aller Vielsprachigkeit, die innerhalb dieses Raums existiert, gehört zu den unverlierbaren Kennzeichen von Punk der anarchistische Kontext, ein offensiv inszeniertes Aussteigen aus bürgerlichen Zusammenhängen sowie eine Konsumkritik, die auffällig über eine Do-it-yourself-Ästhetik kommuniziert wird. Kreativität spielt in diesem Zusammenhang eine herausgehobene Rolle, da das Selbermachen von Frisuren, Kleidung, Musik, grafischen Formen und anderes mehr die Unabhängigkeit vom industriell gesteuerten Mainstream gleichzeitig herstellt und zum Ausdruck bringt. In diesem Sinne ließe sich sagen, dass bereits der Sammelbegriff Punk die Vereinnahmung, Zusammenfassung und damit Verkürzung einer Vielfalt darstellt, die auch schon vor seinem Beginn zu beobachten ist. Er nutzt eine bereits vorhandene Struktur und formt sie weiter. Punk reflektiert allerdings die unentrinnbare Verwicklung: Er vertritt weder eine Ideologie der Rettung oder eines historischen Fluchtpunkts, noch verfällt er in lähmende Resignation. Trotz »no future« wird ein Stilwille kultiviert. Julian Temples 1978 entstandener Film The Great Rock’n Roll Swindle (1980 veröffentlicht) führt die Londoner Punkband »Sex Pistols« als Werbemaßnahme des Boutiquenbetreibers Malcom McLaren vor¹⁶: Hier zeigt sich, dass Punk offensiv mit den Widersprüchen spielt, die in der Gegenkultur auftauchen – etwa dem Umstand, dass der antikapitalistische Kampf nicht ohne Marketing und Medienpräsenz auskommt. In der Punkattitüde wird offenbar, dass die ikonoklastische Ästhetik selbst eine
15 | Eine sehr gute Kontextualisierung nimmt Simon 1996 vor.
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Ikonografie besitzt, die sie gleichzeitig ermöglicht und limitiert. Die »Sex Pistols« um den Frontmann Johnny Rotten und den notorischen Querkopf Sid Vicious können als Role Models für diese Punkästhetik herhalten (Savage 1991). Bei aller Provokation und Verweigerungsinszenierung kann der Umstand nicht vom Tisch gewischt werden, dass sie als Instrument der Erzeugung von Aufmerksamkeit für die von Vivienne Westwood und Malcom McLaren betriebene Boutique »Sex« gecastet worden sind. Im Vergleich mit der Gruppe der Situationisten um Guy Debord, die zuvor den rebellischen Geist der Bohème-Avantgarde in die Abb. 2: Gee Vaucher, Covergestaltung Nachkriegszeit retteten, zeigt sich, für CRASS: The Feeding of The 5000, 1978 dass hier durchaus Parallelen und Vorbilder zu finden sind. Die von Greil Marcus vertretene These der Kontinuität von Vorkriegsavantgarde zum Punk kann sowohl durch formale als auch durch produktionsästhetische Beobachtungen unterfüttert werden.¹⁷ Die Frisuren und betont verwahrloste Kleidung der von Vivienne Westwood eingekleideten »Pistols« lassen sich gut mit der Erscheinungsweise der Situationisten vergleichen. Auch die Angewohnheit, Slogans oder politische und poetische Äußerungen direkt auf Jacken oder Hosen zu schreiben, finden hier ein Vorbild. Insbesondere aber ähnelt sich der Habitus: provokantes und rüpelhaftes Verhalten im öffentlichen Raum, offensiver Alkohol- und Drogenkonsum, Ablehnung von bürgerlichen Arbeits- und Besitzverhältnissen. Solidarität mit randständigen Sozialgruppen wie Prostituierten, Kleinkriminellen oder Bettlern findet sich als Statement und Entscheidung für eine Lebensform bei beiden. Kreativität – so formuliert das Debord ausdrücklich –
16 | Im Jahr 2000 hat Julian Temple mit dem
Boutique »Let it Rock« in Londons Kings Road.
Film The Filth and the Fury gewissermaßen
Die Subkultur der Teddy Boys orientierte sich
eine Gegendarstellung aufgelegt, nach der es
in Frisuren und Kleidung am dandyesken Stil
eher die Musiker waren, die den Geschäfts-
von König Edward im ersten Jahrzehnt des 20.
mann für ihre Zwecke auszunutzen wussten.
Jahrhundets. Die dafür notwendigen Schuhe,
17 | Die als Teil des Provotariats genannten
Mäntel und Krawatten konnte man bei »Let it
Teddy Boys waren die Zielgruppe des Vorgän-
Rock« kaufen. Vgl. z.B. Blake 2006.
gerprojektes von Westwood/MacLaren, der
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kann nicht innerhalb einer in Konventionen erstarrten Gesellschaft entstehen. Nur im Ausbruch aus einer festgefahrenen, vorgegebenen, durch Gesetze und Vorschriften stabilisierten Struktur kann Freiheit entstehen, die wiederum Voraussetzung für eigenständige Gedanken ist. Nur diese sind innovativ, weil sie mehr bieten als lediglich Variationen von bereits Existierendem. Paradoxerweise hat diese Ästhetik der Vorbild- und Regellosigkeit und des Nonkonformismus nun ihre eigene Tradition. Als Beispiel einer solchen anarchistischen Gegentradition kann auch die Londoner Band »Crass« dienen. Sie war Teil eines alternativen Kollektivs, das in mancher Hinsicht mit den sozialen Utopien der Kommune I vergleichbar ist. Allerdings fehlt »Crass« die dialektische und ironische Leichtigkeit der »Sex Pistols«; Abb. 3: Hannah Höch, Dada-Rundschau, ihre Haltung steht dem moralischen Ri1919, VG Bild-Kunst, Bonn 2017 gorismus von Ulrike Meinhof sehr viel näher. Lee Vaucher war verantwortlich für die Gestaltung der Plattencover von »Crass«. (Abb. 2) Diese bestanden zumeist aus gefalteten Papierbögen, die nicht verleimt waren. So konnten sie beidseitig bedruckt und außerdem wie Poster oder Plakate aufgehängt werden. Die auf Schwarzweiß beschränkte Farbigkeit ist der möglichst unaufwändigen Reproduktionstechnik geschuldet. Die Typografie besteht aus ausgeschnittenen Schablonenbuchstaben, mit deren Hilfe im Alltagsgebrauch etwa Transportkisten beschriftet, aber auch graphologisch anonyme Graffiti angebracht werden können. Die Informationen auf der Frontseite der Cover umfassen stets die Aussage »pay no more than £2.00«, um zu verhindern, dass die Produkte in die ausbeuterische Maschinerie kapitalistischer Profitmaximierung geraten. Die Bildsprache wiederum zeigt postapokalyptische Szenarien in ruinösen Großstädten voller suizidgefährdeter, entfremdeter Bewohner. Inhaltlich wird politischer Machtmissbrauch, tierquälerische Fleischproduktion, Naturzerstörung, zynische Atomlobby, Sexismus, Rassismus und Militarismus angeklagt – all jene lebensfeindlichen Effekte, die nach linker Diktion vom faschistischen Konsumterror angetrieben werden.
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Im Hinblick auf die produktionstechnischen Strategien der Bildherstellung wählt Vaucher neben den Stencils für die Typografie die Technik der Collage für die Bildanteile, typisch beispielsweise beim Cover von Feeding of the 5000 aus dem Jahr 1978 zu sehen. Dabei ist der Bezug zur politischen Grafik der Zwischenkriegszeit und der 1940er Jahre auffällig. Weniger die englischen Pop-Art-Collagen eines Eduardo Paolozzi oder Richard Hamilton, als vielmehr die deutschen Dadaisten wie John Heartfield oder Hannah Höch stehen hierfür Pate und bieten sowohl den ästhetischen als auch den politischen Referenzrahmen. (Abb. 3) Abb. 4: Fotografie von William Robertson, Grafiker Unbekannt, Cover des Debutalbums Ein anderes Beispiel aus demselben von Elvis Presley, 1956 Jahr, 1978, dieses Mal aber in der Punkszene der USA entstanden, findet sich in der grafischen Arbeit des jungen Raymond Pettibon, der zeitweise auch Mitglied in der Punkrock-band »Black Flag« seines Bruders Greg Ginn gewesen ist. Er hat nicht nur eine Reihe von Plattencovern für »Black Flag« (und andere Bands) gestaltet, sondern auch das außergewöhnlich erfolgreiche Logo der Band: vier parallel aufrecht stehende schwarze Balken, deren Höhe variiert. Ikonografisch kann man diese vier Balken als die reduzierte Form einer flatternden schwarzen Fahne sehen. Designhistorisch wird dazu gerne auf eine seinerzeit populäre amerikanische Marke von Schädlingsvernichtern mit dem gleichen Namen (Insektenspray, Rattengift, Mäusefallen und dergleichen gehören zum Sortiment) hingewiesen. Es ließe sich aber auch eine andere Fährte verfolgen: Vermutlich in Reaktion auf die Bombardierung der baskischen Stadt Guernica durch die deutsche Bomberstaffel Condor im Jahr 1937, die Adolf Hitler seinem Verbündeten Francisco Franco zur Unterstützung geschickt hatte, malte der Surrealist René Magritte eine Leinwand, auf der eigenartige Fluggeräte über einer tristen Landschaft kreisend zu sehen sind. Heute wird das Bild in der Scottish National Gallery of Art in Edinburgh aufbewahrt. Dieses Gemälde nannte Magritte Le Drapeau Noire – auf Englisch: »The Black Flag«. Spanische Anarchisten, die im Kampf gegen den Faschisten Franco auf Seiten der Republikaner standen, nutzten die schwarze Fahne schon seit ihrem Aufstand von 1933 (den Franco blutig niedergeschlagen hatte) als Erkennungsmal (Stowasser 2007: 397f). Unter den von Magritte gemalten Flugzeugen befindet sich auch ein
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Dreidecker in der rechten oberen Bildhälfte, dessen Flügelunterseiten drei parallelen schwarzen Balken ähneln. Später, 1946, entstanden noch zwei Gouachen Magrittes mit diesem Motiv, auf denen jeweils auch ein Vierdecker zu sehen ist. Es lässt sich die Behauptung aufstellen, dass Pettibon, der nach seiner Zeit als Punkmusiker eine Karriere als bildender Künstler machte, sich bei der Gestaltung des Bandlogos womöglich an antifaschistischen Bildkonzepten des Surrealismus orientiert hatte, indem er aus den Tragflächen der surrealistischen Flugzeuge das Balken-Logo formte. Ein Jahr nach Pettibons Logodesign, 1979, machte der Grafiker Ray Lowry bei dem Entwurf für das Album London Calling der Abb. 5: Ray Lowry, Covergestaltung für Punkband »The Clash« keinen Hehl aus der The Clash: London Calling, 1979, Übernahme von Vorbildern. In Typografie, Fotografie von Pennie Smith Farbgebung und Komposition nimmt er das damals gut 20 Jahre alte Debut des King of Rock ’n Roll als Vorlage, um eine eindrucksvolle Aufnahme der Fotografin Pennie Smith in Szene zu setzen. (Abb. 4 und 5) Der Megaseller Elvis Presley wird als Inbegriff einer perfekt durchorganisierten Konsummaschine mit einer radikalen dekonstruktivistischen Geste konfrontiert. Wenige Jahre später wird diese kreative Strategie der offenkundig imitierenden Übernahme – an Stelle einer ikonografisch variierenden Bildtradition – in der Kunstwelt mit dem Begriff der Appropriation beschrieben. Die Bombenleger der Angry Brigade hätten sich also auch mit den Punks anlegen müssen, denn auch sie referierten auf die 1940er Jahre, den Faschismus und den Konsumterror.¹⁸ Oder umgekehrt: Die Punkästhetik findet einen Ausweg aus den Aporien, die die Angry Brigade mit Hilfe von Brandsätzen aufzulösen suchte, indem sie die Unmöglichkeit, aus den Zusammenhängen auszusteigen, erkennt, kreativ mit der Ausstellung ebenjener Zwänge reagiert und damit spielt. Noch einmal: Punk bezeichnet keine homogene Form, sondern ist ein Sammelbegriff. Von der militärischen Kampfansage von »die Knarre löst die Starre«¹⁹ bis zur Resignation von »no future«, von
18 | Die Verwendung von Hakenkreuzen als Motiv durch Vivienne Westwood lässt sich durch ihre gesamte Karriere verfolgen. 19 | Andreas Baader zit. n. Aust 1985: 269.
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der Erfüllung situationistischer Programme bis zur subkulturell-modischen Quasiuniformierung lässt sich der Begriff dehnen. In einem antibourgeoisen Ikonoklasmus geht er jedenfalls nicht auf.²⁰ Vielleicht ist das der Punkt, an dem sich die Strategie der Stadtguerilla dann doch als kreative Technik greifen lässt: Guerilla als Übernahme der Mittel des Gegners kann appropriativ aussehen. Es führt nicht zu einer vorbildlosen Innovation, es führt nicht zu einem Austritt aus der ikonografischen Tradition, zu keinem Verlassen der sozialen Gemeinschaft. Die »matters of fact« der angegriffenen herrschenden Ordnung erweisen sich sozusagen als »matters of concern«, nicht als unveränderliche Tatsachen, sondern als Dinge, die uns angehen und von denen wir uns daher nicht befreien können. Aber sie zu verändern: das geht durchaus. Terrorismus – selbst wenn er insofern erfolgreich wäre, dass er eine Revolution auslöste – ist kein Weg, der aus der Zeit herausführt. Gewalt garantiert keine Kreativität, die notwendig Neues hervorbringt. Vielmehr kann Kreativität als dynamischere (und sympathischere) Alternative zur Gewalt eingesetzt werden, um die Verhältnisse zu ändern. Terroristen, auch wenn sie noch so wütend sind, bleiben eingewoben in Kommunikationsstrukturen. Man kann sich nicht gewaltsam aus ihnen befreien. Im Gegenteil scheint es vielmehr so zu sein, dass Gewalt als Mittel den Blick auf diese Zusammenhänge verdunkelt und erschwert. Die heutigen Terroristen des IS kämpfen wie die europäischen Anarchisten unter der schwarzen Flagge und wollen so gerne den großen Teufel konsumistischer Lebensführung zerschlagen. Dabei kommen sie doch nur zu einer Reinszenierung revolutionärer Attitüde. Gewalt, so scheint es, führt notwendig zu einer Imitation des Gegners und ist damit immer reaktionär. Letzten Endes, so scheint es mir, ist Kreativität das beste Mittel gegen Gewalt.
20 | Vgl. auch Mitchell 2005: 22, hier heisst
daher: »Iconoclasm in this instance was
es: »Like cloning, terrorism is an invisible
rendered as an icon in its own right« (Mitchell
idol, a shapeshifting fantasy that may be
2005: 14).
instantiated in almost any form […].« Es gilt
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Kreativität und Terrorismus | Friedrich Welt zien
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Gestalter unbekannt, Logo der RAF, 1970. Abb. 2: Gee Vaucher, Covergestaltung für CRASS: The Feeding of The 5000, 1978, © Gee Vaucher. Abb. 3: Hannah Höch, Dada-Rundschau, 1919, © VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Abb. 4: Fotografie von William Robertson, Grafiker Unbekannt, Cover des Debutalbums von Elvis Presley, 1956, © RCA Victor. Abb. 5: Ray Lowry, Covergestaltung für The Clash: London Calling, 1979, Fotografie von Pennie Smith, © Ray Lowry.
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Abb. 1: Cover der Bildbände Not a Toy und Doppelganger, 2011
Schönhässlich | Annette Geiger
Schönhässlich Über das Wilde in der Mode Annette Geiger Die Mode arbeitet am Schönen, denkt man gemeinhin. Denn wer möchte nicht in seinen Kleidern möglichst vorteilhaft, stilsicher und geschmacksbewusst aussehen? Und doch spricht bei näherem Hinsehen vieles gegen die Annahme, dass uns die Mode zu verschönern sucht. Allerorts finden sich Modephänomene, die man eher als hässlich oder allenfalls als »schönhässlich« bezeichnen sollte: Ob zerrupft oder zerlumpt, übertrieben knallig und bunt, allzu wild gemustert, zu eng, zu weit, zu kurz oder zu lang geschnitten, um gut am Körper zu sitzen, hier ausgebeult, dort ausgewaschen – an Störungen der guten Form hat die Mode viel zu bieten. Das Schöne wäre viel zu dauerhaft, um jenem Bedürfnis nach Abwechslung zu entsprechen, das die Mode nun einmal ausmacht. Denn Schönheit ist kanonisch gefasst: Auch wenn sie sich epochenbedingt ändern mag, erhebt sie stets Anspruch auf Absolutheit und Ewigkeit, das macht sie so doktrinär. Sprunghafte, wilde Trends, wie wir sie aus der Mode kennen, sind im Idealschönen nicht vorgesehen. Wir müssen also unterscheiden zwischen den gesellschaftlichen Schönheitspraktiken, die auf Beständigkeit abzielen, und jenem Modehandeln, das sich auch dem Schnelllebigen hingeben darf. Selbst wenn uns dieser Unterschied in der täglichen Kleiderpraxis oft nicht bewusst wird, ist er für die Ästhetik der Mode von zentraler Bedeutung. Diese gewollte Hässlichkeit findet sich in der Modetheorie jedoch selten reflektiert, sie wird meist als strategische Provokation abgetan, die nur nach Aufmerksamkeit giert. Doch bilden gerade die Grenzüberschreitungen zwischen dem Schönen und dem Hässlichen den ästhetischen Code der Mode. Für die notwendige Abkehr vom Schönen schöpft das heutige Modedesign insbesondere aus einer Ikonographie des Wilden. Man bezieht sich auf jenes Modell ursprünglicher Natur, das gerade nicht die ideale Naturschönheit referiert: Als Gegenpol zu aller Harmonieromantik oder zur tradierten Idee, man könne aus der Natur moralische Lehren ziehen, werden ihre unzivilisierten Seiten ausgelotet. Nicht dem Ideal des unverdorbenen, guten Wilden im Sinne von Rousseaus Zivilisationskritik wird
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hier gehuldigt, sondern dem Wilden als einem Fremden und Anderen zur eigenen Kultur. Die zeitgenössische Avantgarde-Mode beschäftigt sich mit diesem Topos besonders intensiv: Haariges und Animalisches, Fratzen und Masken, Ethno-Muster in wilden Mixturen, Gefieder und Fell, clownesk oder grotesk, schwulstig und wulstig, tätowiert oder drapiert, bestialisch oder gezähmt, phallisch oder kindlich, hier in Strick, dort in Plastik – all dies beschäftigte die renommierten Modemacher in den letzten Jahrzehnten. Wie oft dabei auch die Grenzen zur Kunst überschritten werden, zeigen z.B. Bildbände wie Not a Toy (2011) oder Doppelganger (2011), die in einer gelungenen Zusammenstellung von jener Arbeit am nicht mehr Schönen zeugen (Zidianakis 2011; Klanten 2011). (Abb. 1) Doch gehört das Thema nicht den Avantgarden allein; es hat längst im Mainstream Einzug gehalten: Als »Ugg Boots«, also buchstäblich hässliche Schuhe, bezeichnet man z.B. populäre Winterstiefel für die Dame, deren Eleganz eher an Elefantenfüße erinnert. Den Entwurf könnten aber auch handgemachte Fellstiefel aus den Polarregionen inspiriert haben, z.B. die folkloristischen Mukluks aus der Inuittracht. Die Grenzüberschreitungen zum Hässlichen fallen der Avantgarde zwar leichter, da sie auf dem Laufsteg vieles zeigen kann, was im Alltag nie zum Einsatz kommen muss. Doch färbt ihr Stil heute unmittelbar auf die Massenkultur ab. Dass Mode immer auch »unmöglich« oder regelrecht »untragbar« sein muss, um als Mode zu funktionieren, hat die Kulturkritik meist als eine ihrer Sünden dargestellt. Alles Unpraktische wird dieser Rhetorik nach als unsachlich und irrational degradiert. Doch schöpfen die Motive des Wilden sehr wohl aus einer komplexen ästhetischen Tradition, allein der Theorie fällt es schwer sie wahrzunehmen: Unser Modehandeln wird oft nur unter dem Aspekt betrachtet, wie es in der Gesellschaft funktioniert. Natürlich bildet Kleidung ein hervorragendes Mittel, um die eigene Persönlichkeit bzw. die ersehnte Identitätskonstruktion im Hinblick auf Geschlecht, Generation und Gesellschaftsposition klar codiert zu inszenieren. Doch müssen diese sozialen Modepraktiken von der Ästhetik der Mode unterschieden werden. Denn Ersteres folgt in der Regel den Normen des Schönen, Angemessenen und Attraktiven – und ist somit nicht frei im Sinne der ästhetischen Autonomie. Betrachtet man vor diesem Hintergrund das Schaffen heutiger Modemacher, so tun sie für das gesellschaftliche Schönsein herzlich wenig: Ihre Mode bricht allerorts mit den ehernen Geschmacksregeln, die man in Stilratgebern findet; sie will offenkundig nicht mehr sozial funktionieren, sondern abweichen von allem, was wir gemeinhin als schicklich und passend empfinden. Diese Suche nach dem Bizarren und Kuriosen, dem Wilden und Fremden, dem Abartigen und Abnormen begründet also die ästhetische Freiheit, die
Schönhässlich | Annette Geiger
wir in der Mode haben. Sie sucht darin das Diverse, das Nichtbestimmbare und Heterogene, das jedem Stildiktat von Grund auf widerspricht. Das Konstrukt des Wilden auf die Populärkultur zu übertragen, kann sich aber auch als problematisch erweisen: Ob kolonialhistorisch-rassistisch oder geschlechterpolitisch-sexistisch diskriminierend – kaum ein Thema bietet mehr Fallstricke für mangelnde Korrektheit. Alles Exotische macht sich leicht verdächtig, schaulustige Safarisehnsüchte zu bedienen – von vermeintlich harmloser Leopardenfell- und Lendenschurzromantik bis hin zur erniedrigenden Zurschaustellung fremder Kulturen in der Tradition vom Jahrmarkt bis zum Menschenzoo. Wie zieht man also die Grenze zwischen einer Ästhetik, die sich für Alterität zu öffnen weiß, und jener rassistischen Erotik im Bananenröckchen, der sich auch ein Star wie Josephine Baker einst fügen musste? Ihr wilder Tanz galt den Künstlern ihrer Zeit als Avantgarde, aber aus heutiger Sicht ist die groteske Selbsterniedrigung, die man ihr aufbürdete, kaum noch zu ertragen. Um das ästhetische vom diskriminierenden Blickregime unterscheiden zu können, gilt es das Schöne und das Schönhässliche zu differenzieren. Um dies zu erläutern, lohnt ein kurzer Blick auf die Naturmodelle in der Gestaltung.
Vom Ende des Schönen in der Mode der Moderne Das Vorbild der Natur gilt im Design meist als schön und nicht als hässlich: In der Tradition des Funktionalismus steht ihre Gesetzmäßigkeit für die Einheit von Funktion und Schönheit: Harmonie und Proportion, Ruhe und Ordnung werden mit Zweckmäßigkeit und Zeitlosigkeit verbunden.¹ Aus den Gesetzen der Natur, so der Diskurs seit der Antike, werde ersichtlich, wie man gut zu gestalten habe – dies demonstriert z.B. auch die traditionsreiche Rezeption von Vitruvs sogenannter »Urhütte«: Man idealisiert den Akt des ersten Menschen, aus der Not des nackten Daseins heraus ein allein von den Gesetzen der Natur diktiertes Haus entworfen zu haben – als Meisterwerk der puren Funktion, noch gänzlich frei von dekadenter Symbolik und Dekoration. Die Natur fungiert hier als ordnendes Korrektiv, sie soll die potenzielle Willkür des Formens eingrenzen. Es ist unschwer zu erkennen, dass diese ehernen Prinzipien des Funktionalen auf die Mode nicht anwendbar sind. Ewiges Ideal und flüchtige Trends schließen sich nun einmal aus. Und daraus sollte man der Mode keinen Vor-
1 | Siehe dazu Geiger/Hennecke/Kempf 2005.
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wurf machen, denn sie bewahrt uns in ihrer Vergänglichkeit vor einem deutlich schlimmeren Terror, den uns die vermeintlich gute Natur eingeschrieben hat: Wie die psychologische Attraktivitätsforschung vielfach nachgewiesen hat, ist unsere Spezies im Hinblick auf ihr Schönheitsempfinden eindeutig konditioniert. Diese Erkenntnis mag man als Beleidigung des Menschen empfinden, aber über den wissenschaftlichen Befund sollte man nicht hinwegsehen: Uns ist offenbar ein zeitlich und kulturell übergreifendes, d.h. anthropologisch konstantes Schönheitsideal eingeschrieben, dem wir partout zu folgen suchen.² Man benötigt schon sehr viel Kultur, um sich über diese Natur des Menschen hinwegzusetzten. Im Normalfall gelingt uns dies eher nicht – sodass ganze Wirtschaftszweige entstanden sind, damit man nach Diät, Botox-Behandlung und Schönheits-OP aussehe wie von Natur aus schön. Weil unsere Instinkte laut dieser Lehrmeinung so eindeutig programmiert sind, lassen sich heute sogar Formeln und Algorithmen der perfekten Schönheit berechnen: Kein Chirurg muss mehr bangen, ob er das Kindchenschema-Gesicht der Frau oder das markante Kinn des Mannes auch richtig getroffen hat, er muss die digital ermittelten Daten nur noch auf die Körper übertragen.³ Unsere Bekleidung als willigen Helfer dieser Diktatur der Maße und Regeln zu definieren, ist durchaus möglich: Hier betont sie das körperlich Attraktive und dort kaschiert sie alles Unvorteilhafte. Als Mode im ästhetischen Sinne kann man diesen Umgang mit der Kleidung jedoch nicht beschreiben. Es wäre schlicht zu einfach, solchen Regeln zu folgen. Daher verlangt die Mode den steten Wandel: Sie sucht die Freiheit der Kultur gegenüber der Biologie unserer Instinkte zu bezeugen. Nicht die Rückkehr zur Natur sondern das klare Bekenntnis zur Künstlichkeit muss die Mode leiten, wenn sie uns vor der Diktatur des Schönen retten will. Erst die Hinwendung zum Skurrilen und Bizarren erlaubt es ihr, vom naturgegebenen Bild des schönen Körpers Abstand zu nehmen. Daher versucht die Mode das Schöne immer wieder am Hässlichen zu brechen – das belegt auch die Logik ihrer Geschichte: Als Begründer der modernen Haute Couture zu Beginn des 20. Jahrhunderts gilt Paul Poiret. Er prägte ein neues Modeverständnis, indem er sich am kulturell Fremden abarbeitete: Der Orient inspirierte ihn maßgeblich, aber auch Japan und ein wilder Exotismus, der sicher nicht das Ziel hatte, fremde Kulturen ethnografisch korrekt zu zitieren. Über diese Ausbrüche aus der eigenen Kultur konnte Poiret die überkommenen Konventionen unterlaufen und erstmals ästhetisch frei
2 | Siehe dazu Gründl 2007.
3 | Siehe dazu die Forschungsergebnisse der Universität Regensburg auf www.beautycheck.de.
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mit den Formen und Schnitten der Mode experimentieren. Er wagte es als Erster, auf das Korsett zu verzichten und entwarf Haremshosen und Hosenröcke, wie man sie zuvor nur von Fahrrad fahrenden Frauenrechtlerinnen kannte. Dem ließ Poiret allerdings auch einen »Humpelrock« folgen, in dem die Damenwelt kaum laufen konnte. Mit Poiret kam eine neue Exotikinterpretation in die Mode: Sie erAbb. 2: Elsa Schiaparelli, laubte ihm auch Abstraktion und Damenstiefel mit Affenfell, 1938. Deformation, so wie man es von den modernen Avantgarden erwartet. Auch Poirets Erben, allen voran Coco Chanel und Elsa Schiaparelli, arbeiteten sich am Fremden und Anderen ab, um bestehende Konventionen zu sprengen: Chanel eroberte erstmals das andere Geschlecht für die Damenmode: die Herrenhose passte nun auch ihr; so wie sich Elemente der Männer-Sportkleidung (z.B. die Cardigans) in ihren femininen Jumperkleidern wiederfanden. Elsa Schiaparellis Mode beschäftigte sich mit dem Anderen in uns, dem Unbewussten, Irrationalen oder Surrealen. Sie arbeitete z.B. mit Künstlern wie Salvador Dalí zusammen, um Mode nicht einfach nur schön, sondern »schockierend« zu gestalten. Wir finden bei ihr Hüte in Schuhform oder Schuhe mit Haaren (Abb. 2), Kleider mit integrierten Knochen oder auch das Motiv eines Hummers als Zierde eines Abendkleides. Im buchstäblichen Sinne wild wurde die Mode allerdings erst mit Yves Saint Laurent, der den Safari- und Ethnolook gleichermaßen erfand. Saint Laurent, der in Algerien aufgewachsen war, sorgte mit seinen westafrikanisch inspirierten Bambara-Kleidern in der Kollektion Africaine von 1967 für Aufsehen (Abb. 3). So wie er 1968 erstmals nicht Männer, sondern Frauen in die Saharienne, die traditionelle Jacke des Großwildjägers, steckte. Doch stellt sich angesichts dieser Bilder umgehend die Frage nach ihrem Diskriminierungspotential: Das berühmte Model Veruschka wird in der Safari-Jacke zwar nicht als das gejagte Tier dargestellt, sie trägt vielmehr die Waffe amazonengleich über der eigenen Schulter. Doch wird sie durch die erotische Einschnürung ihres Körpers wieder auf ein Objekt der Schaulust reduziert. Zumindest referiert die Reduktion des Motivs auf die körperliche Attraktivität wieder das biologische Diktat unseres Schönheitsempfindens. Erst wenn das Schöne durch das Fremde und Wilde tatsächlich gebrochen wird, vermag dieser Verdacht der Diskriminierung zu entfallen. Dann erst müssen wir uns öffnen für ein »anderes Sehen« bzw. ein »Sehen des Anderen«, das mit unseren gewohnten Schönheitserwartungen bricht.
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Abb. 3: Yves Saint Laurent, Kollektion Africaine, 1968
Für diese Argumentation findet man historisch schon im 19. Jahrhundert Rückhalt bei Charles Baudelaire, der es erstmals unternahm, eine Theorie der Mode auch als Theorie der Moderne zu formulieren. Die spezifische Zeitlichkeit der Avantgarde, so Baudelaire, verbinde »mode« und »modernité«, beide erweisen sich als flüchtig und vergänglich. Sie arbeiten auf das Transitorische und Heterogene hin, um den Ballast von Tradition und Ordnung, von Ideal und Kanon zu überwinden. Die Suche nach einem Idealschönen sei daher der falsche Weg, so schreibt Baudelaire zur Salonausstellung von 1846, das »absolute Ideal« sei eine Dummheit: »Die Dichter, die Künstler und ganze menschliche Rasse wären sehr unglücklich, wenn das Ideal, diese Absurdität, diese Unmöglichkeit, gefunden wäre (Baudelaire 1990 [1846]: 60).« Die moderne Schönheit soll unbestimmbar bleiben, sich als wandelbar und unfassbar erweisen. Sie muss uns daher immer auch befremden, so Baudelaire in einer Kritik von 1855:
»Das Schöne ist immer bizarr. Ich will damit nicht sagen, es sei vorsätzlich, aus kühler Berechnung bizarr [...]. Ich meine, dass es immer ein wenig Bizarrerie enthält, eine naive, absichtslose, unbewusste Seltsamkeit, und dass eben diese Seltsamkeit es recht eigentlich zu dem Schönen macht. [...] Man [...] versuche, sich ein banales Schönes vorzustellen!« (Baudelaire 1990 [1855], 142) Diese Kritik am Ideal- bzw. Naturschönen spitzt Baudelaire in seinem »Lob der Schminke« von 1863 noch zu: Die eigentliche Natur der Natur lehre uns nichts, erst recht nichts Moralisches, denn sie ist genau genommen roh und hässlich, so Baudelaire gleich zu Beginn des Textes. Die wahre Natur des Menschen unterscheide sich kaum von der tierischen, auch wir sind von Natur aus instinktgeleitet. Alle Zivilisation, folgert er, sei daher künstlichen Ursprungs. Erst wenn sich der Mensch um Künstlichkeit bemüht, gebe es Hoffnung auf Kultur – und dies gelte gerade auch für die Verschönerung des Menschen selbst, so Baudelaire:
»Die Rassen, die unsere Zivilisation, verwirrt und verderbt, mit völlig lächerlichem Stolz und Schwachsinn, gerne als wilde behandelt, begreifen ebenso gut wie das Kind die hohe geistige Bedeutung der Toilette. Der Wilde und das Baby bezeugen durch ihre naive Sucht nach dem Glänzenden – nach buntscheckigen Federwerk, nach schillernden Stoffen, nach der übertriebenen Erhabenheit der künstlichen Formen – ihr Missfallen an der Wirklichkeit [...].« (Baudelaire 1990 [1863]: 313) Der Wilde lebe gerade nicht bescheiden, schmucklos und »natürlich«, wie es ihm die Aufklärung andichtete, sondern habe noch verstanden, sich und seine Welt zu dekorieren – unvoreingenommen und naiv, geschmacklos und schrill, gänzlich subjektiv und regellos. Daran soll sich nach Baudelaire auch das moderne Ornamentieren der Körper und Dinge orientieren, gerade auch die Schminke: Es gelte nicht der Natur bzw. dem Ideal natürlicher Schönheit nachzueifern. Im Gegenteil: mit der Schminke sollte sich gerade die notwendige Künstlichkeit aller Maskerade manifestieren. Dann erst entstehe jene wilde, bizarre und freie Schönheit, die sich auch dem Kind oder dem Naiven eröffnet, weil man ihm nicht vorschreibt, was das Schöne zu sein hat. Für seine Ausführungen griff Baudelaire auch auf eigene Erfahrungen zurück: 1841 bereiste er die Inseln Mauritius und La Réunion und nach seiner Rückkehr lebte er ein »wildes« Bohème-Leben an der Seite der kreolischen Schauspielerin Jeanne Duval. Als schwarze Venus, als Prostituierte oder auch als Bestie, göttlich wie animalisch, wurde sie von den Zeitgenossen beschrieben. Baudelaires »wilder« Schönheitsbegriff nimmt jedoch aus historischer Sicht eine Außenseiterposition ein. Der gängige Diskurs der westlichen Moderne steht in einer anderen Tradition, denn seit der Aufklärung hat sie dazu beitragen, alles Fremde und Exotische entweder zu zähmen oder zu verdrängen.
King Kongs Rache: Wider die Verdrängung des Anderen Der Umgang der Moderne mit dem Exotischen und Fremden zeigt sich z.B. in der Geschichte unserer Museen: Der wissenschaftliche Blick des aufgeklärten Museums sammelt, um die Welt wissend zu durchdringen und nicht um zu bestaunen, was man an ihr nicht versteht. Das Klassifizieren und Sortieren verdrängte folglich die alte Logik der Wunderkammern und Kuriositätenkabinette, die mit ihrem scheinbaren Durcheinander von Natur und Kultur, von Kunst und Technik uns alles hatten bewundern lassen, was bizarr und rar
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war. Für den vormodernen Blick gab es noch nichts tatsächlich Fremdes, denn alles Gegebene war letztlich im göttlichen Makrokosmos vereint, den es im Mikrokosmos der Sammlung zu spiegeln galt. Erst die Aufklärung beendete dieses Staunen über die Vielfalt des Möglichen: Das tatsächlich Wilde und Unzivilisierte grenzte man aus als das Andere der Vernunft, die klassizistische Ästhetik verurteilte es als das Gegenteil des Schönen. Nur im Konstrukt des »guten Abb. 4: Emmanuel Frémiet, Wilden« behielt man das Bild der Gorille enlèvant une Négresse, 1859 unschuldigen Natur bei, um es auf sich selbst zu beziehen und nicht etwa um sich mit dem tatsächlich Anderen auseinanderzusetzen. Fremde Kulturen fanden sich nach 1800 entweder zivilisiert und missioniert oder gänzlich gezähmt und romantisiert in einer Exotik-Begeisterung wieder, die vor allem das 19. Jahrhundert prägte mit seinen Orientalismen, Ägyptomanien und Japonismen, die nur wenig mit der jeweiligen Kultur zu tun hatten. Jene Vorstellungen der Fremde waren viel zu schön, um überhaupt noch am Anderen interessiert zu sein. Das Exotische bildet hier kein Korrektiv der eigenen Wahrnehmung, es affirmiert nur den eigenen Blick. Das hässliche Wilde konnte also nur als Schrecken aus der Verdrängung zurückkehren, nicht als schöner Traum, sondern als Trauma. Dieser Rezeption des Barbarischen und Monströsen widmete sich insbesondere die Populärkultur in ihren Schauermärchen und Horrorgeschichten. Wie ich zeigen möchte, entstand daraus eine bis heute gültige Ikonografie des Wilden, die durchaus ethische Absichten verfolgt, sich aber dem Zivilisierungs- und Bildungsdiktat der Aufklärung nicht beugen will. Um dieses Motiv herauszuarbeiten, beschränke ich mich zunächst auf die Geschichte von menschenähnlichen Untieren und Affen, die sich anschicken eine schöne Frau zu rauben. In diesem altbekannten Plot findet sich meist eine stark stilisierte Gegenüberstellung von schön und hässlich, deren Polarisierung jedoch im Lauf der Geschichte überwunden werden soll. Skizzieren wir zunächst den historischen Kontext des Topos: Über die Verwandtschaft von Mensch und Affe hatte man schon zu Shakespeares Zeiten allerlei Vermutungen angestellt. Aber erst mit Darwin war der wissenschaftliche Beweis unserer Abstammung erbracht.⁴ Nun waren wir Menschen keine höheren Geschöpfe Gottes mehr. Wir hatten mit der Evolution erst lernen
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müssen, das Tier in uns zu verdrängen. Doch was geschieht, wenn sich diese Verdrängung nun rächt? Der einst für seine Tierdarstellungen berühmte französische Bildhauer Emmanuel Frémiet wagte 1859, also just im Erscheinungsjahr von Darwins Hauptwerk Über die Entstehung der Arten, erstmals eine Darstellung des erwähnten Motivs mit dem Titel Gorille enlèvant une Negresse (Gorilla, eine Negerin entführend) (Abb. 4).⁵ Die Jury der Pariser Salonausstellung zeigte sich schockiert, der Realismus der dargestellten Tat in Kombination mit der Hässlichkeit des Tieres gefährde die öffentliche Moral, so das einhellige Urteil. Das Werk wurde aus dem Salon verbannt, aber außerhalb des Wettbewerbs dennoch gezeigt. Der Skandal war erheblich und führte 1861 zur Zerstörung des Werkes. Auch Baudelaire hatte die Skulptur gesehen und umgehend verurteilt: Ein Krokodil oder einen Tiger, der aus Hunger einen Menschen reißt, hätte man wohl ertragen. Aber hier blicke man doch auf eine Vergewaltigung – und das sei zu viel des Grauens (Baudelaire 1992 [1859]: 314).⁶ Hier fehle das Gute im Bösen, das Schöne im Hässlichen. Die ablehnende Haltung Baudelaires mag verwundern, denn das Thema vom Menschenaffen, der gegenüber Frauen handgreiflich wird, kannte er von seinem großen Dichtervorbild Edgar Allen Poe. Dessen berühmte Kriminalgeschichte Der Doppelmord in der Rue Morgue von 1841 hatte Baudelaire selbst ins Französische übersetzt. Poes Detektiv Dupin hat die bestialische Ermordung zweier Frauen aufzuklären, die an Grausamkeit alles bisher Gesehene übertraf. Als Täter identifiziert Dupin schließlich einen entflohenen OrangUtan, den ein Matrose eingeschleppt hatte, um ihn zu Geld zu machen. Und darin liegt wohl der Unterschied zu Frémiets Darstellung: Das wilde Tier wurde zunächst von Menschen entführt. Es wurde nicht artgerecht gehalten, flüchtete und beging die Tat nur, weil es in Panik geraten war. Seine weiblichen Opfer hatten ihn durch ihr Geschrei derart verstört, dass das arme Untier zu toben und zu morden begann. Der Affe reagierte nur »natürlich« auf eine Zivilisation, die er nicht verstand. Poe schreibt dem Orang-Utan sogar die Fähigkeit zu, Schuld und Scham für sein Handeln zu empfinden. Das Tier versuchte nämlich das Geschehene unsichtbar bzw. rückgängig zu machen. Die Bestie hatte das Böse nicht gewollt, sie konnte nicht anders, weil sie noch wild und ursprünglich war – so zumindest der Plot der Geschichte. Diese begnadigende Sicht auf das Monster, das aufgrund seiner Taten sicher
4 | Siehe dazu Schmutz 2007.
6 | Baudelaire hatte offenbar übersehen, dass
5 | Für das Folgende beziehe ich mich auf Gott
Frémiets Gorilla ein weibliches Tier abbilden
2005. Sowie, allerdings mit abweichender
sollte, wie die Inschrift auf dem Sockel an-
Interpretation, auf Weissberg1991.
deutet. Aber die Bestie wurde vom damaligen Betrachter vermutlich als männlich gedeutet.
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nicht als »guter Wilder« gelten kann, finden wir auch in Merian C. Coopers Film King Kong von 1933. So erinnere man sich an die berühmte Schlussszene: Der Affe klettert auf das Empire State Building, die geraubte schöne Frau in der Hand. Er setzt sie liebevoll ab, um eine angreifende Staffel Doppeldecker abzuwehren, zerquetscht dabei einige Flugzeuge mit der Faust – wird jedoch tödlich getroffen und stürzt ab. Wir, die zivilisierten Zuschauer, dürfen uns dennoch nicht als moralische Sieger sehen: Der Affe Kong wurde auf seiner Heimatinsel einst als Gott verehrt. Die Eingeborenen hatten einen Weg gefunden, mit der Kreatur auszukommen, selbst wenn sie dem Vieh regelmäßig Menschenopfer bringen mussten. Der Naturzustand wird also keineswegs romantisiert, aber Mensch und Wildnis hatten darin ihren festen Platz. Erst das Eindringen der angeblich zivilisierten Weißen bringt alles aus dem Lot. King Kong fordert nämlich Ann, die archetypische schöne blonde Frau, als die nächste Menschenlieferung. Nach dem Raub wird ihre Schönheit jedoch sein Verhängnis, der Affe verliebt sich in sie. Ab diesem Moment kehren sich die Seiten von schön und hässlich, von gut und böse um: Wir vermeintlichen Helden der Zivilisation betäuben das Tier mit Gasbomben, um Ann zu befreien, überführen es anschließend nach New York, um es als achtes Weltwunder im Zoo auszustellen. Das verliebte Monster wird wütend und bricht aus, um seine Ann zu suchen. Rasend vor Zorn zerstört die Bestie dabei die ganze Stadt, Leichen pflastern ihren Weg, so wie es sich für einen guten Horrorfilm gehört. Die Gewalt der Kreatur scheint unkontrollierbar – und doch zeigt sie menschliche Züge. Täter und Opfer zugleich, fordert uns das wilde Wesen auf, unsere Werturteile zu relativieren: Der Affe ist ja unser Vorfahre. Ein Urahne, der gerade erst lernt zu lieben. Und dafür sollten wir auch ihn lieben lernen, so die offensichtliche Moral der Geschichte. Das alte Volksmärchen von der Schönen und dem Biest erzählt nichts anderes: Auch hier wird eine Schöne geraubt, weil sie lernen soll, ihre Liebe gegenüber dem hässlichen Untier offen zu zeigen. Erst als sie ihren Entführer trotz seines animalischen Aussehens annimmt, erlöst sie ihn von dem Fluch, und das Biest kann sich in einen wunderschönen Prinzen zurückverwandeln. Man soll nicht vom Äußeren auf das Innere schließen, so die moralische Lektion. Doch zeigt die Tatsache, dass wir nicht aufhören können, den Stoff des Märchens auf die Bühnen von Kino, Comic und Musical zu bringen, wie sehr die visuelle Umsetzung des Themas ästhetisch reizt: Wie kann man das, was uns abstößt und als hässlich empfunden wird, so schön bzw. »schönhässlich« darstellen, dass die Zuschauer das Monster mögen? Jean Cocteaus gefühlvolle Verfilmung von La Belle et la Bête aus dem Jahr 1946 gilt bis heute als prägend für das Genre. Der schöne Jean Marais wird, als Darsteller von Untier und Prinz gleichermaßen, in eine menschenähnliche Kreatur mit starker Gesichtsbehaarung verwandelt. Der Horror entsteht, weil er so mensch-
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lich aussieht und doch ein Tier zu sein scheint. Als Vorbild für die Gestaltung der Bestie könnte Cocteau den Schausteller Fjodor Jeftichew gekannt haben, der an Hypertrichose bzw. menschlicher Überbehaarung litt. Bekannt als »Jo-jo, the dog faced boy« tourte der gebürtige Russe seit seinem fünften Lebensjahr auf europäischen Jahrmärkten und in US-amerikanischen Sideshows. Zeitlebens verdiente er seinen Unterhalt als begaffte Attraktion im Menschenzoo. In der Frühen Neuzeit hingegen lebten die sogenannten »Haarmenschen« noch als Kuriosität an den Höfen.⁷ In der Tradition der Wunderkammer blickte man noch nicht geringschätzig auf Wesen und Dinge, die aus der Reihe fielen, sie galten vielmehr als Wunder der Natur. Das Abnorme am Menschen wurde geachtet und geehrt, es vermochte die Vielfalt des Kosmos zu spiegeln, bis die Moderne alles Anormale in die Freak-Show verbannte. Diese Ausgrenzung des Anderen, so meine TheAbb. 5: Vivienne Westwood se, sucht der Topos vom Schönhässlichen wieder und Andreas Kronthaler, fotografiert rückgängig zu machen – im Märchen, im Horrorvon Jürgen Teller, 2010 film und in der Mode. Gerade heute stößt man immer wieder auf Inszenierungen, die unmittelbar aus dem Topos des guten Untiers zu schöpfen scheinen wie z.B. in der Werbekampagne für Vivienne Westwood aus dem Herbst 2010, die Jürgen Teller fotografiert hat (Abb. 5). Das Bizarre und Abnorme soll unsere Werturteile relativieren, damit wir so vorurteilsfrei und naiv wahrnehmen können wie bei Baudelaires Wilden beschrieben – offen für alles Schrille und Schräge, auch für das Monströse an Mensch und Tier.
7 | Die Familie der Tognina Gonsalvus (geb.
von Fontainebleau, der ihnen eine »natürliche
um 1580) gilt als der früheste in Europa be-
Umgebung« sein sollte. Von einer gleichbe-
schriebene Fall von menschlicher Überbehaa-
rechtigten Integration anders aussehender
rung. Tognina wuchs am Hofe König Heinrichs
Menschen kann also nicht die Rede sein, sie
II. in Fontainebleau auf, wo die Familie am
genossen als lebende Kuriosität lediglich den
höfischen Leben teilnahm. Die sogenannten
Schutz der Herrschenden.
»Affenmenschen« lebten allerdings im Park
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Pop als E xotismus: Zur Erfahrung des Diversen Wenn ich an dieser Stelle, als Übergang zwischen Monsteraffe und Mode, auf den australischen Performancekünstler, Clubbetreiber und Modemacher Leigh Bowery (1961–1994) zu sprechen komme, sei dies kein weiterer Exkurs. Ich möchte vielmehr die Vielseitigkeit dieser ikonografischen Tradition aufzeigen: An den Höfen der frühen Neuzeit geschätzt, in der bürgerlichen Aufklärung verbannt und verdrängt, im Horrormärchen der Populärkultur wieder hervorgeholt und schließlich in den Rang der Avantgarde von Pop und Punk erhoben – so könnte man die erstaunliche Karriere des Wilden und Monströsen beschreiben. Die Londoner Underground-Partys der Abb. 6: Leigh Bowery, 1980/90er Jahre, jener wichtigsten Bühfotografiert von Fergus Greer, 1988 ne Bowerys, waren keine distinguierten Kunstveranstaltungen in wohlklimatisierten Museen. Die post-aufklärerische Rezeption des Grotesken bevorzugte das exzessive Nachtleben: Tanz, Rausch und Drogen bei ohrenbetäubendem Sound, ungezähmte Kultur also, wie man sie nur von vermeintlich Wilden erwarten würde. Gaffende Zoobesucher waren hier nicht erwünscht; die Enthemmung galt es mitzumachen. Daran sucht die Mode bis heute anzuknüpfen: Im Pop und Punk kann das Diverse und Bizarre, das Groteske und Banale leiblich wie sinnlich erlebt werden – alle Kategorien der Vernunft niederreißend. In seinen Selbstinszenierungen hob Bowery jede Grenze auf, ob high & low, Du und Ich, Mann und Frau, Mensch und Tier, Kultur und Natur, Mode und Skulptur usw. (Abb. 6). Er setzte jede Ordnung außer Kraft, die unser Denken gemeinhin bestimmt. Die Saturnalienfeste im antiken Rom, die Bacchanalien im alten Griechenland oder die Tradition des Karnevals könnte man als alteuropäische Vorgriffe auf diese Erlebnisweise deuten: An besonderen Festtagen und streng definierten Orten durfte in der wilden Feier jedes Gesetz, jede Standesgrenze, jede Moral ausgesetzt und gebrochen werden. Heute bieten Clubs ganzjährig eine vergleichbare Plattform. Der schrill kostümierte Bowery inszenierte Animalisches und Künstliches, Kindliches wie Gewalttätiges immer skurril und bizarr. Dabei setzte er allem voran seinen schwergewichtigen Körper als Ausdrucksmedium des Schön-
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hässlichen ein. Er verformte, deformierte und malträtierte ihn, so dass schon das Hinschauen zur Tortur werden konnte. Jede Sichtweise, die hier Wert legt, schön und hässlich zu unterscheiden, ist angesichts dieser Grotesken verloren, sie muss kapitulieren. Jenen Pop oder Punk versteht nur, wer seine Vorurteile außen vor zu lassen weiß, wer zulassen kann, dass das Wilde nun einmal alles erlaubt, was die Vernunft verbietet. Dass Bowerys Inszenierungen die Modemacher bis heute inspirieren, ist unschwer zu erkennen: vielfältige Referenzen und Zitate verschaffen seinen Kostümierungen ein reges Nachleben. Unter den Modemachern ist Alexander McQueen sicher der populärste Erbe Bowerys, aber auch Rei Kawakubo, JeanPaul Gaultier, Gareth Pugh, John Galliano, Martin Margiela u.v.a. haben sich unmittelbar auf ihn bezogen.⁸ Aber auch der Mainstream weiß aus Bowerys Universum zu schöpfen: Über die Popmusik, z.B. von Boy George bis Lady Gaga, erreichte der Bowery-Stil die Massenkultur. Allerdings wurde er dort gender-romantisch weichgespült, damit der Anblick nicht mehr ganz so schmerzt. Diese Verbundenheit des Grotesken mit der Volkskultur – von der bäuerlichen Tradition bis zur heutigen Konsumgesellschaft – reicht historisch weit zurück. Die Art wie Bowery den Körper exponiert und deformiert, besonders das Entstellen des Kopfes in hybriden Mensch-Tier-Mischwesen, erinnert z.B. an François Rabelais’ Illustrationen in seinem satirischen Roman Gargantua und Pantagruel (1532–1564), die Bowery offenbar kannte. Michail Bachtin erkannte in Rabelais’ Parodien und Possen das Potential der »Volkskultur als Gegenkultur« (Bachtin 1987 [1965]). Die verkehrte Welt soll ein nihilistisches Gelächter über die Welt auslösen, alles relativierend und von jeder Obrigkeit befreiend. Kirche, Staat, Gesellschaft, alles durfte zum Narren gehalten werden, bis die Feste des Spottens wieder enden mussten. Aus dieser Tradition speist sich auch das Wilde in der heutigen Mode: es zielt auf eine Erlebnisweise, die uns zu öffnen sucht für das Andere und Fremde. An dieser Stelle mag man an das Konzept des Tiers bzw. der Tierwerdung bei Jacques Derrida bzw. bei Gilles Deleuze und Felix Guattari denken.⁹ Doch versteht sich dieser Diskurs der Postmoderne als posthuman, er lädt ausdrücklich zur Dekonstruktion des Subjekts ein. Diese Konzeption von Alterität scheint mir daher nicht zur hier gezeigten Auffassung von Mode zu passen. Die Dandys, Flaneure, Exzentriker und Pop-Künstler von Baudelaire bis Leigh Bowery und ihre heutigen Erben kultivieren keineswegs die Zerstörung des
8 | Ausgewähltes Bildmaterial zu direkten
9 | Siehe dazu Derrida 2010 [2006], Deleuze/
Bowery-Zitaten bzw. -Kopien in der heutigen
Guattari 2002 [1980]. Darin insbesondere die
Mode findet sich z.B. auf dem Blog A. G. Nauta
Kapitel »Rhizom« und »Wie schafft man sich
Couture. Siehe https://agnautacouture.
einen organlosen Köper« (Deleuze/Guattari
com/?s=Bowery&submit=Search
2002 [1980]: 11–43, 205–229).
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Subjekts, sie radikalisieren es vielmehr. Sie scheinen einem regelrechten Willen zum Ich zu huldigen. Ich möchte daher abschließend auf eine ältere Tradition der Exotismus- und Alteritätserfahrung verweisen, die mir für die hier gezeigten Phänomene die passendere Theorie zu sein scheint. Die Idee einer vorurteilsfreien Wahrnehmung des Wilden, wie wir sie z.B. vom Karneval bis zum Pop kennen, findet sich auch in Victor Segalens »Versuch über den Exotismus«. Seine Aufzeichnungen zu einer Ästhetik des Diversen, festgehalten zwischen 1904 und 1918, blieben allerdings ein Fragment. Der französische Schriftsteller und Marinearzt hatte die meiste Zeit im Ausland gelebt, vor allem in Polynesien, wo er die letzten Zeichnungen Gauguins rettete, und später in China. Auf »abgedroschene Exotik« mit Kamelen, Palmen und Tropenhelmen wollte er natürlich nicht hinaus (Segalen 1994: 36f.). Er grenzte diese banale Auffassung ab von einem »universellen Exotismus«, den er als die Fähigkeit verstand, »anders aufzufassen« (Segalen 1994: 37). Die Begegnung mit dem Fremden und Anderen sei in der Ästhetik des Diversen nicht durch ein rationales Verstehen- oder gar Erklärenwollen geleitet, sondern durch »hemmungsloses Genießen«, so Segalen. Das angestrebte »Exotismusgefühl« gründet sich in einem regelrechten »Rausch des Subjekts, sein Objekt zu begreifen; sich als anders-seiend zu erkennen; das Diverse zu fühlen« (Segalen 1994: 43). Das Fremde muss somit immer fremd und unverständlich bleiben. Segalen ging es keinesfalls um Anpassung oder Assimilation, sondern um einen positiven, ästhetischen »Schock des Diversen«, den das Subjekt erfährt, sofern es sich dafür zu öffnen vermag. Doch muss sich das Individuum nicht aufgeben bis hin zum Selbstverlust, es wird vielmehr in seiner Eigenwilligkeit gestärkt. Es erfährt seine Empfindungen als derart subjektiv, dass es alles kulturell Gelernte und Gewusste überwinden kann. Das Individuum, so Segalen, »begreift, dass es sich nur anders begreifen kann als es ist. Und es erfreut sich seines Anders-Seins« (Segalen 1994: 4). Demnach ist die zentrale Subjekterfahrung eine Alteritätserfahrung, da sie alle Prägung durch Herkunft und Sozialisation aufzuheben weiß. Segalens Exotismus wirft den Einzelnen auf sich zurück, er verleiht ihm Willen und Macht, mit dem ureigenen, wilden Blick wahrzunehmen. Durch die Begegnung mit dem Fremden spürt der Wahrnehmende, wie er ursprünglich war, vor der Kultivierung und Zivilisierung zu dem, was er ist. In der ästhetischen Wahrnehmung des Fremden erfährt man sich selbst wieder als wild, so das Ziel dieser Erlebnisweise. Die wilde Subjektivität dieser Erfahrung pflegte einst die Wunderkammer, die nur das Staunen, aber nicht die wissenschaftliche Objektivität der Kategorien kannte. Sie kam daher noch ohne Werturteile und somit ohne Diskriminierung aus. Es dominierte noch nicht die Überlegenheit des Wissens, sondern die interesselose Freude am Anderen. Heutige Mode bringt von dieser Qualität etwas zurück, auf den Laufstegen oder auch im Alltag – sofern wir uns dafür öffnen.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Cover der Bildbände Not a Toy und Doppelganger, 2011, in: http://shop. pictoplasma.com/product/not-a-toy, http://shop.gestalten.com/doppelganger.html Abb. 2: Elsa Schiaparelli, Damenstiefel mit Affenfell, 1938, in: http://www.philamuseum.org/collections/permanent/65450.html Abb. 3: Yves Saint Laurent, Kollektion Africaine, 1968, in: http://www.puretrend.com/ media/premieres-photos-de-la-collection_m378222 Abb. 4: Emmanuel Frémiet, Gorilla, eine Negerin entführend, 1859, in: http://www.ngv. vic.gov.au/essay/stowed-away-emmanuel-fremiets-gorilla-carrying-off-a-woman-2-2 Abb. 5: Vivienne Westwood und Andreas Kronthaler, fotografiert von Jürgen Teller, 2010, in: http://www.thefashionisto.com/vivienne-westwood-man-fall-2010campaign-andreas-kronthaler-vivienne-westwood-by-juergen-teller Abb. 6: Leigh Bowery, fotografiert von Fergus Greer, 1988, in: http://www.photography-now.com/institution/artist/loftgalerie/fergus-greer
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Abb. 1: links: Anonym, Ein scheußliches Gesicht, um 1480, Illustration aus dem Reisebericht von Jean de Mandeville; rechts: Anonym, Das furchtbare Haupt in dem Tal bei Milcorath, um 1480, Illustration aus dem Reisebericht von Jean de Mandeville
Vergesichtung des Grauens | Florian Kornrumpf
Vergesichtung des Grauens Wie das Monster seinen Körper bekommt Florian Kornrumpf Wenn der Philosoph, Kultur- und Sozialwissenschaftler Alexander Wiehart behauptet, dass unsere heutige Zeit der Hässlichkeit frönt, tut er dies nicht als Negativwertung, sondern als Akzeptanz des Hässlichen und Abstoßenden als etwas, das sich lange schon vom Diktat der Schönheit befreit habe. Diese Akzeptanz sei nicht nur in der Lage, uns extreme Gefühle empfinden zu lassen, uns zu erschrecken und in den Wahnsinn zu treiben (Wiehart 2014: 3:00–4:00, 14:00–15:00), sondern sie strebe auch eine Authentizität an (Wiehart 2014: 9:00–11:00).¹ Als Beispiel führt er u.a. den Italowestern der 1960er Jahre an. Dessen Helden seien vom Schicksal geschlagene und heruntergekommene Menschen, die nicht aus Edelmut, sondern aus Rache heraus agierten, unrasiert seien, sich beim Todeskampf in den Dreck würfen und somit einen harten Kontrast zu den gepflegten, anmutigen Helden des US-amerikanischen Westerns bildeten (Wiehart 2014: 6:00–11:00). Damit werden Leid und Tod nicht beschönigt. Es wird bewusst gegen eine pietätvolle Darstellung und moralische Werte verstoßen und durch den Einsatz von extremen Gebärden, Brutalität, Staub und Blut wird dem Schrecklichen und Grässlichen ein vermeintlich authentisches Bild verliehen. Diese rücksichtslose Unmaskiertheit der Darstellung scheint auf uns gleichsam abstoßend wie anziehend zu wirken. Hier wird das Gefühl erzeugt, den Blick auf etwas »Verbotenes«, »Falsches« oder »Unmoralisches« zu werfen, etwas, das vor uns verborgen bleiben sollte, nicht mit der »Normalität« vereinbar ist und uns gerade durch seine Extremität, den bewussten Bruch mit unseren Werten, aufzurütteln vermag.
1 | Wiehart beschreibt die Entwicklung der
die Hässlichkeit der 1950er Jahre als Zeichen
Hässlichkeit in der Kunst, angefangen von der
der Authentizität bis hin zur postmodernen
Romantik im frühen 19. Jahrhundert, die nach
Hässlichkeit als Teil eines pluralistischen Kunst-
der Erzeugung extremer Gefühle strebe, über
verständnisses (Wiehart 2014: 14:00–16:00).
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Wir begegnen an dieser Grenze zur Normalität dem Wilden, das sich den uns bekannten Strukturen widersetzt, sie in Frage stellt oder sogar zu zerstören versucht. Es nimmt in sich das vermeintlich Verbotene, Unmoralische und Falsche auf und lässt uns durch Konfrontation Extremes erleben. Das Gezeigte wird hierdurch zu etwas scheinbar Rohem, Ungekünsteltem und damit vermeintlich »Ursprünglichem« oder gar »Wahrem«. Es versucht, unsere Neugier und die Lust am Erleben und Erfahren zu befriedigen. Das Wilde wird hier zum Bestandteil des Erschreckenden und Grausigen – oder wird sogar mit ihm gleichgesetzt. Und soll dem Wilden ein Gesicht verliehen werden, so verwandelt es sich in ein Monstrum – die Fleischwerdung von Extremität, Rohheit und Fremdheit. Wie geht diese Verwandlung jedoch vonstatten? Wir fragen uns, wie die Vorstellung des Wilden und des Grausigen ihren physischen Körper bekommen kann und wie aus einer abstrakten Idee das konkrete Monster geschaffen wird.
Der mediale Schrecken und das Monster Es erweckt den Anschein, dass sich das Erschreckende gerade in der Welt der modernen Medien tummelt: Krieg, Katastrophen, Verbrechen, Krankheit. Das Grauen, das Abstoßende, das Brutale und damit auch das Wilde werden uns in Filmen, Reportagen, Videospielen, Büchern oder Theaterproduk tionen vor Augen geführt. Wir können das Leid der ganzen Welt betrachten, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen – und mehr noch: Wir fügen dem realen Grauen sogar erfundene Scheußlichkeiten hinzu: bluthungrige Aliens, rachsüchtige Geister oder herumstreifende Tote. Als besäße es ein Eigenleben, erschafft sich das Monster in diesen irrealen Gestalten wie von selbst und hebt sich vermeintlich autonom, mit finsteren Intentionen und archaischen Trieben ausgestattet von den realen Schrecken ab, in denen es seine Inspiration fand. Sind nun Rohheit und Extremität der Schüssel zur Darstellung des Monsters? Wird das Monster aus potenziell Zerstörerischem geschaffen, dem wir uns bewusst oder unterbewusst entziehen wollen, was sich in Angst und Abscheu ausdrückt? Reduzierten wir jedoch das Monster auf seine bloße Extremität und sein zerstörerisches Potenzial, sprächen wir einer Reihe von Kreaturen ihren Schrecken ab: Man denke an einen Geisterfilm, der seine Wirkung nicht dadurch entfaltet, dass ein gespenstisches Wesen Protagonisten meuchelt. Im Gegenteil: die bösartige Macht hält sich allzu oft verborgen, peinigt uns mit nicht mehr als Geräuschen, Schatten und Andeutungen – und bedient sich dabei eben nicht der Direktheit und Unmaskiertheit, die uns an anderer Stelle zu erschrecken vermag. Hier begegnen wir
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einer ganz anderen Art des Schreckens: dem Unheimlichen. Und im selben Zuge offenbart sich damit auch eine andere Facette der Wildheit. Während wir das Wilde zunächst als etwas Rohes erkannten, das seine Brutalität nicht vor uns verbirgt und unsere Werte niederzureißen versucht, differenziert sich hier das Wilde als etwas Befremdliches und Unbegreifliches heraus. Es existiert in seiner eigenen, oft obskuren Welt, in welche wir nur gelegentlich einen kurzen Blick werfen können, deren Mechanik und Wahrheiten sich jedoch unserem Verständnis und einer eindeutigen Identifikation entziehen. Die Lust am Schrecklichen, die zuvor gespeist wurde vom Verlangen, Ungekünsteltes und Wahres zu erfahren, wird hier nun vom Verlangen geprägt, Obskures und Irreales zu erleben. Was beides jedoch gemeinsam hat, ist der bewusste Bruch mit allem, was wir als »normal« betrachten und die damit einhergehende Aufrüttlung und Aufschreckung unserer Vorstellungen über die Welt – und diese Aufrüttlung könnte man in jeder Hinsicht als »wild« bezeichnen. Der Psychiater Ernst Jentsch versuchte die Wirkung des Unheimlichen zu ergründen, welches er mit den Vorstellungen des Neuen, Fremden und Feindseligen verband (Jentsch 2008 [1906]: 4f). Er suchte nach einer Antwort auf die Frage, warum wir uns bereitwillig mit ihm konfrontieren. Dabei stellte er die Vermutung auf, dass wir emotional Erschütterndes in der Realität meiden, uns ihm in Geschichten jedoch gerne aussetzen. Durch die Beschäftigung mit dem Unheimlichen im Fiktiven seien wir in der Lage, reichhaltige Gefühle erleben zu können, die uns einen starken Lebensimpuls gäben, ohne dafür die Konsequenzen tragen zu müssen: Wir könnten also Furcht empfinden, ohne tatsächlich in Gefahr zu schweben (Jentsch 2008 [1906]: 11). Der Philosoph Josef Früchtl überträgt diese Freude am Unheimlichen und Grausigen auf das Kino und behauptet, dass das Interesse der Kinobesucher von der Lust herrührt, »[…] in einen Sog hineingezogen, das heißt, von einer anonymen, selber unsichtbaren Macht im Sehen geführt und beherrscht zu werden« (Früchtl 2003). Es scheint, dass die Medien es uns nicht nur ermöglichen, der Gefahr des Schrecklichen unbeschadet gegenüberzutreten, sondern sie halten auch seine Zügel in den Händen; führen uns an es heran.² In der medialen Komposition spielt Beliebigkeit keine Rolle. Das Schreckliche ist nicht dem Zwang der Realität unterworfen, welche wir passiv ertragen müssen. Vielmehr ist jeder »abscheuliche« Film und jedes »grausige« Buch erdacht, gefertigt und geprüft durch den Autor und seinen Willen, uns Grausiges zu offenbaren. Wir erleben eben genau das, was er uns zeigen will – so erschreckend und pietätlos es auch sein mag. Es wurde behutsam geschaffen
2 | Dasselbe gilt natürlich im Allgemeinen für jede Form der Kunst.
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und auf uns zugeschnitten, auf fast schmeichelhafte Weise für uns komponiert, um uns anzugreifen und zu erschüttern – und am Ende doch nicht zu verletzen. Das Schreckliche existiert für uns im Reich der Fiktion, statt in der Realität gegen uns zu wirken und uns zu überrennen. Da werden Welten geschaffen, in denen Unaussprechliches haust und uns das fleischgewordene Böse nach dem Leben trachtet. In der realen Welt bekämpfen wir das Schreckliche, in der Fiktion wird ihm jedoch ein Körper verliehen und eine Bühne geboten. Dort kann das nun fleischliche Grauen – das Monster – wüten und reißen, uns ängstigen und unterhalten mit all seinem Wahnsinn. Dort wird es dressiert, geführt und zu eben jener Wildheit erzogen, mit welcher es unsere Welt ins Wanken bringen will. Und je lauter es brüllt desto faszinierender wird es für uns. Das Geschrei des Monsters, seine Wut und seine Taten sind bereits Inkarnationen des Abscheulichen, ohne dass das Untier sein Gesicht zeigen muss. Wir erleben das archetypische Filmmonster als ein Etwas, das sich in dunklen Gewölben versteckt, des Nachts durch den Wald streift oder uns am Ende eines langen finsteren Tunnels auflauert. Meist sehen wir von ihm nicht mehr als einen Schatten und zwei Augen im Dunkeln. Es entzieht sich unserem direkten Blick und könnte sich überall verbergen. Und gerade diese heimliche Schlüpfrigkeit scheint dem Monster seine unheimliche Präsenz zu geben. Was wir nicht mit den Augen sehen, konstruieren wir in unseren Köpfen. So fügen wir dem unbekannten Grauen genau jene Eigenschaften hinzu, die uns selbst am meisten ängstigen. Gibt der Film vom Monster nicht mehr preis als eine Pranke, so muss diese zum hässlichsten Untier gehören und stürmt der maskierte Untäter uns entgegen, so muss er der grausamste Unhold sein, den wir uns vorstellen können. Unser Verstand gibt sich nicht mit dem »fast Hässlichsten« oder dem »fast Grausamsten« zufrieden. Diese Eigenart des Grausigen wird anschaulich in einem Bericht des mysteriösen englischen Ritters John Mandeville illustriert. Mandeville – der mutmaßlich den eigentlichen Namen Jean de Bourgogne dit à la Barbe trug – ist der Verfasser mehrerer mittelalterlicher Reiseberichte über das Heilige Land und Asien. Es wird jedoch angenommen, dass er Europa nie verlassen hat, die Orte in seinen Schilderungen nie persönlich besuchte und seine Ideen von anderen Autoren übernahm. Neben seinem Interesse an heiligen Stätten galt sein Augenmerk auch seltsamen, unbekannten Ländern, bewohnt von Fabelwesen (Buggisch 2014). In einem seiner Berichte ist die Rede von einem Tal mit einem großen Felsen, auf dem das Gesicht des Teufels zu sehen sei: »[Es ist] das schrecklichste und scheußlichste Gesicht, das man sich vorstellen kann. Sicher gibt es keinen Menschen, der angesichts dieser wunderlichen Figur nicht erschrickt und dessen Seele vor Schrecken und Abscheu nicht erbebt. Der Teufel sieht so furchtbar aus, dass man meinen könnte, er
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wolle einen fressen. Aus seinem Maul entströmt Rauch und ein schrecklicher Gestank.« (Buggisch [2] 2014: 261) Diese Beschreibung beschwört die Vorstellung von etwas absolut Grässlichem herauf. Die Schilderung beschäftigt sich nicht mit rein Visuellem, sondern konzentriert sich darauf, was wir beim Anblick des Teufels empfinden und was er mit uns anstellen würde. Betrachtet man nun die Illustrationen in Mandevilles Reisebericht, werden wir aber eher enttäuscht als erschüttert. Das ungesehene Grauen wirkte auf uns weitaus dramatischer als dessen Abbildung (Abb. 1). Der Versuch, dem Teufel ein Gesicht zu geben, scheint ihm einen Teil seines Schreckens geraubt zu haben. Beispiele derartig gezähmter Monster gibt es viele. Sie lehren uns das Fürchten, solange sie im Schatten verborgen sind, entpuppen sich jedoch als Enttäuschung, sobald das Tageslicht auf sie fällt. Daher kann man sich die Frage stellen: Ist der fleischliche Schrecken, das Grauen, das Wilde, das Monster überhaupt abbildbar oder verliert es beim Versuch der konkreten Darstellung seine Wirkung? Führt die Direktheit seiner Darstellung, die uns an anderer Stelle erschüttert, im Fall des Monsters zur Ernüchterung? Heißt es nicht, man solle das Böse nicht benennen, um es nicht heraufzubeschwören, und den Namen des Teufels nicht aussprechen, um ihn nicht anzulocken? Ist das Monster also dazu verdammt, im Dunkeln zu leben und sind die visuellen Medien bei ihrem Versuch, dem Grauen eine körperliche Gestalt zu geben, letztendlich zum Scheitern verurteilt?
Das Design des Monsters – Von Grenzgängern, unheimlichen Tälern und der Wildnis Es haben sich eigene Felder der Gestaltung und des Designs herausgebildet, die sich genau diesem Problem annehmen. Sie haben es sich zum Ziel gesetzt, das Monströse und Wilde besonders wirkungsvoll zu visualisieren und zu inszenieren. Eine dieser Gestaltungsdisziplinen ist das Creature Design, dessen Künstler jene Zombies, Geister und Untiere entwerfen, denen wir später auf der Leinwand oder im Videospiel begegnen. Als ein Beispiel möchte ich hier den Schweizer Künstler HR Giger (eigentlich Hansruedi Giger) nennen, welcher das Design des »Aliens« im gleichnamigen Film von 1979 entwickelte. Seine markanten, düster-surrealistischen Bildwelten erweckten das Aufsehen des US-amerikanischen Regisseurs Ridley Scott. Scott war sowohl fasziniert wie geängstigt von Gigers Werken,
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die seiner Meinung nach tief in unsere Psyche eindringen und unsere Ur ängste berühren (Scott 1996). Für Scott war Giger damit die perfekte Wahl, der unheimlichen Kreatur seines Films ihre Gestalt zu verleihen: einem gesichtslosen Wesen, das einer modernen Schauergeschichte über die Dunkelheit und Fremdheit des Weltalls entspringt. Er wurde mit der Aufgabe betraut, dem Befremdlichen, Bedrohlichen und Abstoßenden – dem wortwörtlichen »alien« also – eine adäquate Gestalt zu geben (Abb. 2). Waren es gerade Gigers surrealistischer Stil und seine düsteren Bildwelten, welche dem Alien so gekonnt zum Leben und damit zur weltweiten Bekanntheit verhalfen? War es das Resultat einer glücklichen Mischung des Absonderlichen? Oder stecken dahinter gezielte Techniken und Tricks, die dem Grässlichen seine Form geben, auf dass es sich nicht länger vor uns im Dunkeln verstecken muss und uns selbst dann ängstigen kann, wenn wir ihm im Licht begegnen? Jentsch und Freud erkannten, dass menschenähnliche Automaten einen besonders beunruhigenden Effekt auf den Betrachter haben können und theoretisierten zwischen 1906 und 1919 über die Herkunft eben jenes Effektes (Jentsch 2008 [1906]: 10f; Freud 1919: 5). Der Mensch habe die Tendenz, in unbelebte Objekte eine geisterhafte Autonomie und Lebendigkeit hineinzuinterpretieren, die von einem, auch beim Erwachsenen noch immer latent existierenden, kindlichen Aberglauben an das geheime Leben der Dinge herrühre. Und wann immer wir mit einem Etwas konfrontiert werden, von dem wir nicht wissen, ob es nur eine dem Automatismus unterworfene Maschine ist oder doch ein lebendiges Wesen, würde uns ein Gefühl des Unbehagens beschleichen; würde uns unheimlich zumute werden (Jentsch 2008 [1906]: 12f; Freud 1919: 17). Der Robotiker Masahiro Mori bestätigte ca. 50 Jahre später diese unheimliche Wirkung. Er verglich Roboter, die keine oder kaum Ähnlichkeit mit einem Menschen haben mit jenen, die dem menschlichen Aussehen nachempfunden sind. Dabei stieß er auf einen Effekt, den er Uncanny Valley – »Unheimliches Tal« – nannte. Mori zufolge würde der Mensch abstrakte Geräte eher als etwas »Vertrautes« akzeptieren, wenn sie menschenähnliches Aussehen zeigten. Er nennt als Beispiel einen Industrieroboter, der keine Ähnlichkeit mit einem Menschen aufweist und daher auch nicht als etwas Vertrautes angesehen würde. Diesem gegenüber stellt er einen Spielzeugroboter, der über Arme, Beine, einen Torso und ein Gesicht verfügt und damit Kindern etwas Vertrautes böte, das sie liebhaben können (Mori 1970: 1). Ab einem bestimmten Grad der Ähnlichkeit – er nennt das Beispiel einer realistisch gearbeiteten Armprothese mit Gummiüberzug, der an menschliche Haut erinnert und sogar aufgemalte Äderchen und Flecken zeigt – schlüge dieses Gefühl der Vertrautheit jedoch plötzlich in Befremdlichkeit um, wenn wir
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Abb. 2: HR Giger, Werk-Nr. 372, Alien III, Seitenansicht III, 1978, Acryl auf Papier, 140 x 100 cm
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beim Berühren der Prothese das Fehlen von Wärme und Elastizität erkennen und sie sich damit als Imitat entpuppt. Mori behauptet, dass dieser Effekt sogar noch verstärkt würde, wenn die Prothese sich zusätzlich aus eigener Kraft bewegen kann. Bewegung gäbe uns den Eindruck von Lebendigkeit, obwohl wir wissen, dass die Prothese nicht lebendig ist; und dies erzeuge ein Gefühl des Unbehagens. Als Illustration führt er das Szenario einer Person an, die mit Schaufensterpuppen arbeitet. Würde plötzlich eine von ihnen anfangen sich zu bewegen, wäre dies für den Arbeiter eine Art von Horror (Mori 1970: 2). Die von Mori genannte Vertrautheit des menschenähnlichen Apparates, welcher plötzlich etwas vermeintlich Fremdes offenbart, erinnert uns hier an Freuds Überlegungen, in denen er vermutet, dass sich das vergessene oder verdrängte Heimliche (Heimische; zum Bekannten gehörende) beim späteren Auftauchen zum Unheimlichen und damit zum scheinbar Fremden verkehrt (Freud 1919: 2, 13). Während Mori den Effekt des Uncanny Valley auf die Robotik bezog und Richtlinien aufstellte, seiner negativen Wirkung beim Entwerfen von Robotern zu entgehen, handelt es sich somit beim »Unheimlichen Tal« letztendlich um die Konkretisierung der von Jentsch und Freud diskutierten Unheimlichkeit von leblosen Objekten. Der Effekt ist also nicht auf den Bereich der Robotik beschränkt, sondern kann überall dort auftreten, wo leblose Objekte vermeintliche Lebendigkeit und oftmals menschliche Eigenschaften zeigen. Und im Umkehrschluss scheint dies auch der Fall zu sein, wenn lebendige Wesen oder eben Menschen scheinbar mechanische und objekthafte Eigenschaften annehmen. Dies wird illustriert in Jentschs Beispiel einer unter Epilepsie leidenden Person, deren unkontrollierte und irrationale Bewegungen auf die hinter dem Verstand verborgene Mechanik des Körpers verweisen und gerade dadurch eine unheimliche Wirkung auf den Betrachter entfalten (Jentsch 2008 [1906]: 14). Einen ähnlichen Effekt schreibt er einem Leichnam zu, der uns noch immer an die einstige Lebendigkeit erinnere und in den wir allzu leicht ein gespenstisches Leben hineinin terpretieren könnten, als wäre es möglich, dass er doch noch einmal seine Augen aufschlägt (Jentsch 2008 [1906]: 15). Dies ist in der Realität nicht möglich und mit unserem rationalen Verständnis der Welt nicht vereinbar, aber im Film und Spiel scheint es wie selbstverständlich zu sein, dass die Toten durch die Straßen wandern (Day of the Dead, 2008; Resident Evil,1996). Das Uncanny Valley wird als Instrument des Schreckens in Gruselfilmen gern genutzt, ob es sich nun in Robotern ausdrückt, die unseren Platz einzunehmen versuchen (I, Robot, 2004; Screamers, 1995); in Zombies, die nach unserem Blut gieren oder in Puppen, die aus eigener Kraft handeln, um Unheil über uns zu bringen (Magic, 1978; Annabelle, 2014). Im Film The Grudge aus dem Jahr 2004 wird dieser Effekt gezielt umgekehrt, um die Antagonistin in etwas Angsteinflößendes zu verwandeln. Die Schauspielerin Takako Fuji mimt den rachsüchtigen Geist einer Ermordeten. Um ihr eine unheimliche Er-
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scheinung zu geben, bedeckte man ihr Gesicht mit weißer Schminke, wodurch Hautfältchen verschwinden und Gesichtsregungen verschleiert werden, ähnlich einer Maske für das traditionelle japanische Theater. Ihren Blick starr, Augen und Mund aufgerissen, keinen Muskel im Gesicht bewegend, blickt sie der Kamera entgegen, kriecht am Boden entlang und verwandelt sich damit von einem Menschen in ein befremdliches Geisterwesen. Die Diskrepanz zwischen menschlichem Aussehen und unmenschlichen Bewegungen scheint sie in eine zum Leben erweckte, fleischliche Puppe oder gar einen kriechenden Leichnam zu verwandeln. Für einen leblosen Gegenstand sind Takakos Bewegungen zu realistisch und ihr Aussehen zu menschlich – für einen Menschen ist sie jedoch zu starr und ihr Antlitz zu befremdlich. Sie verwandelt sich in ein Zwischenwesen, ein Objekt, das uns Menschlichkeit vorgaukelt, oder einen fehlerhaften Menschen, der uns etwas Objekthaftes vorspielt. An dieser Stelle kann man zur Schlussfolgerung kommen, dass das Unheimliche und Monströse des Uncanny Valley aus einer Ambivalenz von Menschlichkeit und Unmenschlichkeit – oder Lebendigkeit und Leblosigkeit – entsteht. Der Archäologe Lorenz Winkler-Horaček greift diesen Gedanken im Kontext von Fabelwesen auf und behauptet, dass die Kombination aller ursprünglich getrennten und konträren Elemente (Mensch – Tier, männlich – weiblich, real – fiktiv, Leben – Tod) Monster erzeugten. Für ihn entstünden auf diese Weise Wesen, die als Grenzgänger die Norm durchbrächen (WinklerHoraček 2013: 82). Auch für die Kunsthistorikerin Tiffany Townsend sind alle Monster die unmögliche und unlogische Verbindung von Einzelteilen, die für sich selbst stehend natürlich sein könnten, in Kombination jedoch etwas Unnatürliches erzeugten. Diese Verbindung bezeichnet sie als »Hybridisierung« (Townsend 2009: 195f, 197). In diesem Sinne wird stets ein Zwischenwesen erzeugt, dessen Bestandteile sich widersprechen, das weder das eine noch das andere ist und das somit nicht existieren kann. Und doch existiert es scheinbar selbstverständlich auf den medialen Leinwänden. Es trotzt den Konventionen der uns vertrauten Realität und stellt das Bekannte in Frage, hebt es sogar auf. Auch das Wilde ist oft ein wichtiger Bestandteil bei der Konstruktion unheimlicher Ambivalenz, wie sie in der Kurzgeschichte »The Purple Terror« (1898) von Fred M. White thematisiert wird. Die Geschichte handelt von einem US-amerikanischen Leutnant, der im kubanischen Dschungel auf eine menschenfressende Orchidee stößt. Die großen violetten Blüten der Pflanze sind betörend schön, duften jedoch nach Verwesung – ein Geruch, der von den mörderischen Trieben der Pflanze herrührt, die des Nachts unbedarfte Wanderer verschlingt. Die Orchidee könnte man dabei als eine Metapher für den Reichtum sehen, welche die Amerikaner zur Zeit des Spanisch-Amerikanischen Krieges in der Kubanischen Natur vermuteten, und gleichzeitig als
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die Bedrohung durch eben jene wilde Natur, mit der man sich konfrontiert sah, wenn man diesen Reichtum an sich nehmen wollte. Die Orchidee wird durch diese Ambivalenz zu einem Monster, welches uns am Übergang der westlichen Kultur zur indigenen Wildnis auflauert. Winkler-Horaček hebt diese Ambivalenz von Kultur und Natur besonders hervor und schreibt ihr eine große Bedeutung zu. Er beschreibt die Zivilisation als »Gegenpol zur imaginativen Welt des Draussen« (Winkler-Horaček 2013: 87). Der Gegensatz der Kultur zur Natur bzw. der Wildnis zur Zivilisation wirke identitätsstiftend. In der vom Unbekannten und Unfassbaren durchwachsenen, gesetz- und normlosen Wildnis bildet sich die Zivilisation und hebt sich mit ihren Regeln, Traditionen und ihrer Kultur vom chaotischen Urgrund ab – bildet das Bekannte, das Drinnen im befremdlichen Draußen. Und wann immer sich Drinnen und Draußen treffen, scheint in der Konfrontation das eigentliche Wilde und das Unheimliche zu entstehen; wird das Monster als Wanderer zwischen den Welten geboren. Gerade Schauplätze fremder Länder, exotischer Kulturen und wilder Natur sind eine Quelle für faszinierende wie beängstigende Geschichten. Das Wilde macht Lust auf Abenteuer – und auf Schauergeschichten. Dort, wo wir die Zivilisation mit ihren Regeln und Strukturen verlassen, nehmen Wildheit und Fremdheit ihren Platz ein und bereiten dem Irrationalen und Unfassbaren eine Bühne, welches andernorts durch Rationalität verbannt wird. Auch der Film The Ruins (2008) greift diese Konfrontation der westlichen Kultur mit der exotisch-wilden Natur des mexikanischen Dschungels auf. Eine Gruppe US-amerikanischer Studierender entdeckt im Dickicht eine Maya-Ruine. Faszination, Abenteuerlust und mangelnder Respekt veranlasst sie dazu, auf der Spitze des Bauwerks ihre Zelte aufzuschlagen; direkt neben einer unbekannten, rot blühenden Schlingpflanze. Das Resultat dieser unbedarften Handlung und der Unwissenheit gegenüber der mexikanischen Natur ist der Tod der Studierenden, herbeigeführt durch eben jene Ranke, die sich als blutgierig und fleischfressend entpuppt. Besonders intensiv wird diese Konfrontation durch die Triebhaftigkeit der Pflanze, welche auf der Suche nach Blut in die Körper der Studierenden hineinwächst und sie aufzehrt. Die einzige Möglichkeit der Entfernung der Pflanze besteht in der Amputation des befallenen Körperteils. Man kann darin leicht nicht nur die Angst vor dem Wilden und Unbekannten entdecken, sondern auch die Angst vor dem Eindringen des Wilden in die Zivilisation, die Schäden, die es anrichten kann, oder gar die allmähliche Verfremdung und Zerstörung der Normen und Strukturen, gar der Verlust des Intimen, das einst Sicherheit und Geborgenheit spendete. Dabei scheint nicht das Endresultat das wahrlich Erschreckende zu sein – also nicht der Gedanke daran, die Mahlzeit der hungrigen Pflanze zu werden – sondern der Übergang, wenn die Pflanze das Opfer ergreift,
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umschlingt, in es hineinwächst und langsam aufzehrt; und damit ihre Beute in ein gequältes Mischwesen zwischen lebendig und tot, Mensch und Pflanze verwandelt. Und mit diesem Gedanken entpuppt sich das Alien (1979) aus der modernen Schauergeschichte als kaum etwas anderes als eine Spielart dieser Konfrontation mit dem Unbekannten – und wir sind auch nicht verwundert, wenn es Säure auf seine Opfer speit, welche gleich der gefräßigen Ranke in sie eindringt und das Vertraute, das Menschliche, zerstört. Im Zuge der Entstehung von The Ruins erdachten die »Ranken-Designer« verschiedene Gestaltungen für das Aussehen der bluthungrigen Pflanze. Ein zunächst entwickeltes wurzelähnliches Design wurde verworfen, da es als »zu extrem« empfunden wurde. Die Designer wollten die Ranke nicht un mittelbar als etwas völlig Befremdliches oder gar Gefährliches darstellen, sondern vielmehr als etwas Unscheinbares; etwas, das tatsächlich im dichten Dschungel existieren könnte und von dem man nicht vermutet, dass es den Tod bringt. Dadurch sollte das Grauen beim Erkennen der Gefahr umso größer sein. Aus diesem Grund entschieden sich die Designer im finalen Entwurf für eine Pflanze, die vage an Kürbisranken erinnert – etwas allzu Bekanntes und scheinbar Gewöhnliches, das durch seine blutroten Blüten und seine alles bedeckende Gegenwart im Film die lauernde Bedrohung nur subtil andeutet (Cornfelo 2008: 2:00–4:00). Im Film The Relic (1997) wird das unbekannte Wilde des Amazonaswaldes als blinder Passagier in die westliche Kultur eingeschifft. Das Naturkundemuseum in Boston erhält Artefakte aus dem Dschungel, welche von einem fremden Pilz befallen sind. Als ein Mitarbeiter unbemerkt Teile des Pilzes zu sich nimmt, mutiert er zu einer menschenfressenden Bestie, welche der modernen Welt unbekannt ist, von den Eingeborenen jedoch als der »Kothoga« bezeichnet wird. Im zugrundeliegenden Roman wird der Kothoga als eine Mischung aus Mensch, Affe und Reptil bezeichnet. Die Kreaturendesigner Mark McCreery und Stan Winston setzten sich die Regel, den Kothoga nicht zu unnatürlich erscheinen zu lassen. Dem Zuschauer sollte auch hier das Gefühl gegeben werden, diesem Wesen in den Tiefen des Amazonas waldes begegnen zu können. Daher stand als Ausgangspunkt für das Design der Kreatur der Körper eines Tigers Pate. Der Regisseur Peter Hyams hatte jedoch Einwände. Er meinte, der Kothoga sei dadurch »zu schön«. Er sei anmutig wie ein Tiger: Tiger würden zwar als bedrohlich wahrgenommen werden, da sie Menschen töten können, seien jedoch trotzdem wunderschöne Tiere. Der Kothoga jedoch sollte so abscheulich sein, dass man sich wünschte endlich von ihm getötet zu werden, um ihn nicht länger anblicken zu müssen (Hyams 2013). Für den überarbeiteten Entwurf entschieden sich die Designer daher, dem Katzenkörper befremdliche Details zu verleihen; etwa die Mundwerkzeuge einer Spinne und die Klauen eines Dinosauriers – Details, die in der Natur existieren und gewöhnlich sind, durch ihre unwirkliche Kombination
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jedoch genau den abstoßenden Eindruck erzeugen, den Hyams verlangte (Hyams 2013).
Das Monster und die Ambiguität Ambivalenz geht fast immer auch mit Ambiguität einher. Ähnlich der Rubinschen Vase, die zugleich ein Gefäß und zwei Gesichter zeigt, vermittelt uns das Monster mehrere Eindrücke, von denen keiner der dominante oder »richtige« ist. Das führt zu unserem Unvermögen, das entstandene Zwischenwesen einschätzen zu können. Wir wissen nicht, wie wir damit umgehen oder wie wir es bewerten sollen, da uns Informationen und Erfahrungen zur Einordnung fehlen. Ein Beispiel für unheimliche Ambiguität sind Mrs. McGettrick‘s »Fuggler«: Plüschtiere mit sonderbaren Details, wie etwa Abb. 3: Mrs. McGettrick, Teal Staring realistischen Zähnen und hervorsteFuggler, Handgefertigte Sammlerstücke chenden Augen (Abb. 3). Wir sehen einen Teddybär, aber auch Details anderer Dinge aus vermeintlich fremden Kontexten. Es fällt schwer zu sagen, was die Gestalt verkörpern soll. Ist sie »niedlich« oder »abstoßend«, »richtig« oder »falsch«, »gut« oder »böse«? Sie scheint in keine vorgefertigte Kategorie zu passen. Sie entfaltet eine Wirkung auf uns, die wir nicht sofort deuten können und somit wissen wir nicht, ob wir uns potenzieller Gefahr aussetzen oder zu Unrecht sorgen. Und gerade dieser Schwebezustand scheint nicht nur Unbehagen auszulösen, sondern auch die Faszination an etwas Fremdem, Neuem, Exotischem oder Normlosem. Die Existenz einer solchen Lust wird belegt durch die Vielzahl an Käufern und Interessenten, die einen der unzähligen handgefertigten Fuggler ihr Eigen nennen.³
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Absonderlichkeit: shop.fuggler.com
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Ambivalenz und Ambiguität liegen hiermit inhaltlich dicht beieinander, da sie sich auf eine Mehrdeutigkeit berufen, und haben auf uns einen ähnlichen Effekt. Wenn wir uns nach der Entstehung der Gestalt des Monsters fragen, möchte ich jedoch einen Unterschied zwischen beiden formulieren, da Ambivalenz und Ambiguität als zwei Methoden verwendet werden können, um das Monströse zu erzeugen. Während die Ambivalenz das Monströse durch die Verbindung sich gegenseitig ausschließender Elemente hervorruft und dadurch ein Etwas generiert wird, das nicht existieren kann, da es sich selbst negiert, bedient sich die Ambiguität unscharfer Fragmente, die nicht zwingend im Widerspruch stehen und sich nicht gegenseitig infrage stellen müssen. Stattdessen wird ein Wesen erschaffen, das nicht eindeutig definiert oder zugeordnet werden kann. Als Beispiel für Ambivalenz möchte ich den Zombie anführen. Er entsteht durch die Verbindung eindeutiger Widersprüche. Der starre Blick, der von Verwesung gezeichneter Körper, das Fehlen von Emotionen – in Kombination alles Hinweise auf den Tod. Und doch erhebt er sich auf fast mechanische Weise, um sich an Fleisch und Blut zu nähren, und macht uns damit glauben, dass er seinem Verfall trotzt und letztendlich doch lebendig sein muss. Er sendet konträre Signale, und diese tragen zu seiner Monstrosität bei. Betrachten wir als Gegenbeispiel den Geist, haben wir weitaus weniger Probleme, ihn als ein Etwas zu identifizieren, das tot ist. Sein Erscheinen steht nicht im Widerspruch zu seinem Ableben, sondern verweist auf eine mystische, unergründliche, gar magische Welt. Er ist nicht den Gesetzen der Realität unterworfen und für ihn sind Leben und Tod keine Widersprüche. Seine Monstrosität entsteht vielmehr durch seine Wechselhaftigkeit und seine unbekannten, unbegreiflichen Fähigkeiten. Ihm wird angedichtet, aus dem Nichts auftauchen oder darin verschwinden zu können, als körperlose Stimme aus dem Dunkeln zu flüstern, seine Gestalt zu ändern, mit Gedankenkraft Gegenstände zu bewegen oder gar Menschen in Besitz zu nehmen. Wir wissen nicht genau, zu was er in der Lage ist, sondern spüren eine finstere Macht, die eine unbekannte und unvorhersehbare Bedrohung darstellt. Während der Zombie sich fast bereitwillig zwischen Leben und Tod einordnet und sich damit den Regeln der Realität unterwirft, welche er sogleich bricht, entzieht sich der Geist einer solchen Kategorisierung und bleibt ein Mysterium, welches seinen eigenen obskuren Regeln untersteht. Das macht ihn ambig und dadurch furchteinflößend. Da Ambiguität und Ambivalenz miteinander verwandt sind, trägt wohl jedes ambivalente Wesen auch einen Teil Ambiguität in sich; und umgekehrt. Zwischen den die Ambivalenz prägenden Widersprüchen eröffnet sich stets ein Spektrum, das ambig ist. Der Zombie, als lebender Toter, ist daher nicht nur monströs durch den ihn definierenden Widerspruch, sondern auch durch die Unschärfe, Wechselhaftigkeit und Obskurität seiner Bestandteile, die zwischen Bestand und Verfall schweben und mal in das eine, mal in das an-
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dere Extrem tendieren, ohne uns zu verraten, wie die mysteriöse Mechanik seines Körpers funktioniert. Ein anderes Beispiel für Ambiguität ist Das Ding aus einer anderen Welt, eine außerirdische Kreatur aus dem gleichnamigen Science-Fiction Horrorfilm von John Carpenter (1982). »Das Ding« kombiniert in seinem Körper Fragmente diverser Lebewesen, die im Film zu grotesken Formen verzerrt werden und partiell sogar eine pflanzenartige Anmutung annehmen. Ganz in der Tradition des »Body Horror« verdrehen sich Körperteile, zertrennen sich, fügen sich zu Absurditäten neu zusammen, quellen Blut und Gedärme wie Tentakeln aus Brustkörben, die sich zu Mäulern umbilden – und entziehen sich damit jeglicher Logik und jedem Verständnis. Man könnte sagen, dass sich Ambiguität auf Anspielungen beruft und beim Betrachter ein Assoziationsspektrum eröffnet, ohne ihm zu verraten, mit was er sich tatsächlich konfrontiert sieht. An den Enden dieses Spektrums könnten nun Widersprüche stehen, welche die Ambiguität wieder ambivalent machen, aber dadurch auch verraten können, wie die Kreatur einzuordnen ist. Die Videospielreihe Silent Hill (1999–2012) bedient sich gezielt der Ambiguität, um beängstigende Kreaturen zu erschaffen. Der Spieler sieht sich mit Wesen konfrontiert, die vage etwas Menschliches zeigen und sich zumeist auch menschlich bewegen. Auf den zweiten Blick offenbaren sich jedoch die obskur verschlungenen, verzerrten Details, die an weitaus mehr erinnern als bloß Menschen. Dem Kreaturen-Designer Masahiro Ito war es wichtig, auf stereotype Monsterdarstellungen zu verzichten. Seine Kreaturen sollten keine Klauen und Zähne, keine Tentakeln und Stacheln haben. Stattdessen bediente er sich undefinierbarer Artefakte von teils morbide und gequält anmutenden, teils geradezu sexuell ineinander verschlungenen mensch lichen Körpern (Ito 2013: 16:00). Haut spannt sich wie Tuch über die entstellten Körper, Pestbeulen werden zu Köpfen und aus den Leibern ragende Stangen erinnern an Bettkästen: ein Bankett der Irrationalität und Mehrdeutigkeit, um etwas regellos Bedrohliches zu erschaffen. Das Zufügen von Intimität und preisgegebener Sexualität scheint dem Unheimlichen in diesem Beispiel noch eine zusätzliche Dimension der Abstoßung zu geben. Die Psychologin Susan Weinschenk geht davon aus, dass das menschliche Gehirn jedes neue Objekt stets auf drei Eigenschaften untersucht: Kann das Objekt als Nahrung dienen? Kann das Objekt der Fortpflanzung dienen? Kann das Objekt töten? (Weinschenk 2011: 108f) Erkennen wir nun unterbewusst, dass ein und dasselbe Wesen uns sexuelle Signale sendet und gleichzeitig nach unserem Leben trachtet, könnten wir in den Schwebezustand der Ambiguität zwischen beiden geworfen werden. Abermals wird uns die Fähigkeit geraubt, das Wesen zu deuten. Gefahr wird plötzlich zur Sexualität und Sexualität wird gefährlich. Ohne uns überhaupt zu berühren, scheint uns das Wesen durch sein bloßes Aussehen in unserer Intimität zu verletzen.
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Einer der wohl ältesten und einfach sten Tricks zur Erzeugung von Ambiguität ist der Gebrauch einer Maske. Ist das Gesicht versteckt oder nicht existent, wird unsere Fähigkeit zur zwischenmenschlichen Kommunikation beschränkt. Zwar kann eine Botschaft übermittelt werden, aber was sie zu bedeuten hat oder wie sie gemeint ist, bleibt ohne weitere Hilfsmittel verschleiert. Eine Maske hat zwei wesentliche Eigenschaften: Sie kann das Gesicht verbergen und sie kann ein neues Gesicht verleihen – und im selben Zug kann sie Abb. 4: Alessandra, We all wear a mask... dabei die Persönlichkeit und Inten tionen des Trägers verschleiern oder ihn mit einer scheinbar neuen Persönlichkeit und anderen Intentionen ausstatten. Eine Diskrepanz wird dann erzeugt, wenn das alternative Gesicht der Maske im Konflikt mit dem Verhalten oder übrigen Aussehen des Trägers steht. Eine vermeintlich »lustige« Maske wird in der Regel nicht als »lustig« wahrgenommen, wenn derjenige, der sie trägt, sich nicht entsprechend ver hält. Man stelle sich eine Person vor, die uns entgegenkommt und mit dem Finger auf uns deutet. Wir sind sofort in der Lage beim Betrachten des Gesichts zu interpretieren, welche Intentionen die Person verfolgt: Warum sie sich uns nähert und warum sie auf uns zeigt. Wir können Freundlichkeit, Hilfesuche oder Aggression recht genau zuordnen. Stellen wir uns nun dieselbe Person mit einer Maske bekleidet vor, während sie auf uns zukommt und auf uns zeigt. Wir können die Absicht des Trägers nicht länger erahnen und seine Geste nicht genau zuordnen. Dieser Zustand kann unbehaglich sein und in bestimmten Situationen sogar beängstigend (Abb. 4). Im Film Onibaba (1964) spielt eine Maske eine zentrale Rolle. Die Protago nistin tötet heimkehrende Soldaten, um sie ausrauben zu können. Von einem Samurai stiehlt sie eine Dämonenmaske, mit welcher sie sich als Rachegeist verkleidet, um ihre Schwiegertochter und deren Geliebten auseinander zu treiben. Jedoch ist die Protagonistin nicht in der Lage, die Maske abzulegen, da sie sich mit ihrem Gesicht verklebt hat. Dadurch erweckt es den Anschein, als ob die Maske ein Eigenleben bekommen hat und tatsächlich zu einem bösen Geist geworden ist, welcher sich der Frau aufzwingt. Die Maske im Film ist starr. Um ihr ein geisterhaftes Eigenleben zu verleihen, wird ihr Ausdruck mittels Beleuchtung und Schattenwurf verändert. So kann der leblose Gegenstand in manchen Szenen wütend und in anderen traurig oder verzwei-
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felt wirken. Diese Wechselhaftigkeit eines in der Realität unbeweglichen und leblosen Gegenstandes trägt zur Ambiguität des Rachegeistes bei, der mal im Einklang mit der Protagonistin arbeitet und mal wie ein eigenständiges Wesen gegen sie wirkt.
Das Monster als Spiegelbild des Menschen Es wurde deutlich, dass die Gestalt des Monsters mit Vorgängen verbunden ist, die uns nicht immer offenliegen, im Unterbewussten walten und dem Kreatürlichen vielleicht gerade dadurch eine gespenstische, tatsächlich »obskure« Facette geben. Als eine Spielart des Monsters haben wir das Unheimliche betrachtet, welches Jentsch, Freud u.a. mit dem Irrationalen begründen, das noch immer hinter der mit dem Verstand begreifbaren Welt verborgen liegt, das uns mit Schauergeschichten in den Medien offenbart wird und dadurch an Glaubwürdigkeit gewinnt. Wesen, die sich bewusst der Ambivalenz bedienen und sich einer eindeutigen Interpretation verweigern, werden zu Monstern. Das vermeintlich Bekannte – der Mensch selbst – wird in Kombination mit etwas Unmenschlichem und Objekthaftem oder vice versa zu etwas Beängstigendem, einem Monstrum, welches im Uncanny Valley haust: dem Übergang zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit – zwischen Leben und Tod. Monster scheinen daher auch auf Ambivalenz zurückzugreifen, um etwas zu erschaffen, das mit der Realität bricht und unser Verständnis der Welt in Frage stellt bzw. unseren verborgenen Aberglauben schürt. Für Winkler-Horaček erzeugt Ambivalenz stets Monster, deren ursprüngliche Einzelteile Townsend zufolge natürlich sein können, in Kombination jedoch Unnatürliches hervorbringen. Diese Hybride wandern als Grenzgänger zwischen zwei Welten, gehören jedoch keiner von ihnen an. Derartige, sich selbst widersprechende und irrationale Kreaturen können in der Realität nicht existieren, bewohnen aber wie selbstverständlich schaurige mediale Welten und ermöglichen uns damit einen Blick auf das Unbekannte, Wilde, Falsche und Irrationale. Früchtl erkennt eine Lust der Zuschauer am Geführt-Sein durch das Kino, das uns erlaubt, jenes Schauerliche und Grausige zu erleben, ohne uns einer realen Gefahr auszusetzen und Jentsch merkt an, dass die dadurch erlaubten reichhaltigen Gefühle zu einer Lust am Schauerlichen werden, wenn sie unseren Lebensimpuls wecken. Dieser bewussten und unterbewussten Ambiguität und Ambivalenz folgend, kehren wir jedoch stets wieder zum selben Punkt zurück. Er hält die Gestalt des Monsters nicht nur zusammen, sondern weist ihr auch den Weg
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auf dem schmalen Grad zwischen konträren Welten: der Menschen selbst. Ein jedes Monster scheint uns auf offensichtliche oder verborgene Weise stets mit etwas Menschlichem zu konfrontieren, das es verzerrt, verfälscht oder in virtuoser Unlogik neu interpretiert und damit infrage stellt. Vielleicht können wir nicht anders, als in allem Kreatürlichen einen Spiegel von uns selbst zu sehen. Wenn wir unser eigenes Gesicht als selbstgeschaffenes Konstrukt von Rationalität und Normhaftigkeit auf das Wilde und Strukturlose projizieren, entsteht in der Überlagerung stets ein Mischwesen, das uns nun scheinbar autonom, mit seinen Widersprüchen existierend entgegenblickt und dadurch zum Monstrum wird. Der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme behauptet sogar, dass »[…] unsere Kultur bis heute mit großartigem medialen Aufwand ein fantastisches Reich geschaffen [hat,] um zu verbergen, dass aus allen Figurationen des Dämonischen immer nur der Mensch selbst uns anblickt« (Böhme 2012: 59). Damit endet das Rezept zur Schöpfung von Monstern dort, wo es begonnen hat. Wir blicken als Menschen vom Vertrauten in das Fremde, nur um in den dort lauernden Geschöpfen uns selbst wieder zu finden.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: links: Anonym, Ein scheußliches Gesicht, um 1480, Illustration aus dem Reisebericht von Jean de Mandeville, in: http://buggisch.wordpress.com/wer-war-john-mandeville/illustrationen. rechts: Anonym, Das furchtbare Haupt in dem Tal bei Milcorath, um 1480, Illustration aus dem Reisebericht von Jean de Mandeville, in: http://www.e-codices.unifr.ch/de/ ssg/0016/92r. Abb. 2: HR Giger, Werk-Nr. 372, Alien III, Seitenansicht III, 1978, Acryl auf Papier, 140 x 100 cm, in: http://www.hrgigermuseum.com. Abb. 3: Mrs. McGettrick, Teal Staring Fuggler, Handgefertigte Sammlerstücke, in: http://www.fuggler.com/gallery.html. Abb. 4: Alessandra, We all wear a mask..., in: http://www.flickr.com/photos/ alescicchitano/6062558408, CC BY 2.0 Lizenz (creativecommons.org/licenses/by/2.0).
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Abb. 1: Walton Ford, The Island, 2009, Wasserfarbe, Gouache, Bleistift und Tinte auf Papier, 98 x 138 inches, Courtesy der Künstler und Paul Kasmin Gallery
Walk on the wild side | Jessica Ullrich
Walk on the wild side Begegnungen mit Tieren in der Gegenwartskunst Jessica Ullrich
Mit Wildem ist gut zu denken Das Wilde wird allgemein verstanden als das Ungezügelte, das Ungezähmte, Fremde und Sprachlose und weist sowohl zeitlich als auch geographisch in die Ferne. Wildheit gehört damit zu den grundlegenden Aspekten, die der Tierwelt kulturell zugeschrieben werden. Dabei ist das Wilde nicht leicht zu fassen und bleibt in seiner Bewertung uneindeutig. So können wilde Tiere gleichermaßen als Rebellen gegen eine gottgegebene Ordnung verstanden werden wie als Ausdruck göttlichen Willens. John Milton greift 1667 z.B. in Paradise Lost die alttestamentliche Lehre auf, dass alle Tiere solange in friedlicher Koexistenz lebten, bis sie durch die menschliche Sünde einander entfremdet, unkontrollierbar und wild wurden (Milton Buch 10, Zeile 707-714). Nach diesem Verständnis greifen wilde Tiere die ursprüngliche gottgegebene Harmonie der Natur an. Der britische Philosoph Edmund Burke aber identifizierte ein knappes Jahrhundert später die wilden Tiere als eine Quelle des Erhabenen, in der sich Gottes Macht manifestiere: »[...] the sublime; it comes upon us in the gloomy forest, and in the howling wilderness, in the form of the lion, the tiger, the panther, or rhinoceros« (Burke 1939 [1756]: 106). Und ganz aktuell kommt der Biologe und Philosoph Andreas Weber dieser Auffassung sehr nahe, wenn er das Wilde als »Überwältigung« bezeichnet: »Wild ist ungeordnet, gesetzlos, geil: das Chaos in seiner produktiven wie in seiner zerstörerischen Macht« (Weber 2010). Weber folgt in gewisser Weise aber auch dem Schriftsteller Henry David Thoreau, wenn er das Wilde schlicht als das Lebendige definiert. Während es bei Thoreau 1862 heißt: »Life consists with Wildness. The most alive is the wildest« (Thoreau 2011: 14), schreibt Weber 150 Jahre später: »Zunächst also ist das Wilde schlicht das Lebendige. Es ist das, was von selbst wird, ohne dass wir seine Gesetze beherrschen, ja, ohne dass wir sie kennen« (Weber 2010).
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Neben der Lebendigkeit ist das Unkontrollierbare eine wichtige Zuschreibung an das Wilde: »In ihrem tiefsten Kern ist Wildnis das, was man nicht kennen kann, weil man es ist, unterhalb allen Kennens. Wildnis ist der Kennensprozess selbst. Man kann sie nicht kontrollieren, kommandieren, durchschauen [...]« (Weber 2010). Auch viele Philosophen sind fasziniert vom Wilden und verweigern sich der im Alltagsverständnis verbreiteten Wertschätzung von gezähmten Tieren (und Menschen). Friedrich Nietzsche beispielsweise preist die Raubtiernatur des noch nicht »verhaustierten« Menschen und verachtet alles, was nicht das »wilde Tier« im Menschen repräsentiert (Nietzsche 1954 [1887]: 785-799). Auch Gilles Deleuze und Félix Guattari verabscheuen zahme Tiere und glorifizieren wilde Tiere, die in ihren Augen nicht in ihrer eigenen kleinen Biographie gefangen sind, sondern mächtige Meuten, Rotten oder Schwärme bilden (Deleuze/Guattari 1992 [1980]). Der Wolf ist ihnen dabei das Meutetier par excellence, das wilde Tier, das sich trotz äußerlicher Nähe kategorial vom domestizierten Hund unterscheidet. Der Hund hingegen steht für alles, was in ihren Augen verachtenswert erscheint: Familie, Gehorsamkeit, Autoritätshörigkeit. Diese Wertung basiert auf der tradierten Unterscheidung von Konventionalität und Originalität. Haustiere sind von menschlichen Erwartungen und durch menschliche Bedingungen gestaltet, wilde Tiere hingegen haben einen Outlaw-Status, sie werden als unabhängige Geister, als kreativ und risiko freudig konstruiert und damit implizit als ideale Künstlerpersönlichkeiten anthropomorphisiert. Denn zum modernen Künstlertum gehört es traditionell, das Sichere, Mittelmäßige und Gemäßigte abzulehnen. Domestizierung wird mit von außen oktroyierten Beschränkungen, Einschränkung von Freiheit und von Imagination assoziiert. Das Wilde hingegen erscheint dann als Inbegriff gesunder Kreativität. Das Wilde macht die »animalische« Intensität des Lebens erfahrbar und schlägt sich in Affekten nieder, die noch keine Gedanken sind, aber den Körper und Geist schon bewegen. Doch auch unbelebte Dinge können wild sein. Nicht nur die Wetterphänomene oder Naturkräfte, sondern auch Kunstwerke werden immer wieder als wild bezeichnet. So beispielsweise von Künstler/innen selbst, die die autopoetische und wilde Kraft ihrer Schöpfungen betonen: Barbara Bolt etwa beschreibt, wie ihre Bilder ihren eigenen Rhythmus und ihre eigene Intensität haben und immer wieder ihrer Kontrolle entgleiten: »In the performativity of imaging, life gets into the image« (Bolt 2004: 1).
1 | Ursula Brandstätter hat eine Liste von Begriffs-
Denken und Fühlen, Wahrheit und Schönheit,
paaren zusammengestellt, von denen immer ein
Logik und Intuition, Eindeutigkeit und Vieldeutig-
Begriff der Wissenschaft, der andere den Künsten
keit, Reduktion und Komplexität als unvereinbare
zugeordnet ist. So stehen sich hier plötzlich
Gegensätze gegenüber (Brandstätter 2008).
Walk on the wild side | Jessica Ullrich
Es kann also zuweilen durchaus legitim sein, die Kunst selbst in gewisser Weise mit dem Wilden in Zusammenhang zu bringen. Eine solche Lesart wird auch von der immer wieder behaupteten kategorialen Unterschiedenheit von Naturwissenschaft und Kunst gestützt: Wissenschaft wird landläufig als logisch und analytisch begriffen, Kunst als intuitiv und imaginär (z.B. Brandstätter 2008).¹ Dem entspricht eine Unterscheidung von kausalem, eher sprachbezogenem, diskursiven Denken und analogem, eher sinnenbezogenem Denken in Bildern und Metaphern. Für Claude Lévi-Strauss etwa ist die (hypothetisch) ganzheitliche, improvisierte und magische Weltanschauung sogenannter »Naturvölker« schlicht »wildes Denken« (Lévi-Strauss 1973).² Kunst hat jedenfalls nach einem traditionellen Verständnis als phantasievoller Ausdruck von Emotionen und Affekten vorrangig intrinsischen Wert, während die Wissenschaft mit ihrem Anspruch auf Logik, Verbindlichkeit und Genauigkeit universelle Bedeutung besitzt. Dass solche Befunde zu kurz greifen, mag heute bereits ein Gemeinplatz sein. Dennoch halten sich Vorurteile über die »objektiven« Methoden der Naturwissenschaft und die »subjektiven« Verfahren der Kunst. Von Lévi-Strauss stammt bekanntlich auch der Satz, mit Tieren sei »gut zu denken« (Lévi-Strauss 1965: 116). Das soll im Folgenden an künstlerischen Positionen vorgeführt werden, die in einem visuellen und performativen Kontext auf unterschiedliche Weise mit dem Konzept von Wildheit argumentieren.
Wild-Werden Menschen, denen Wildheit bescheinigt wird, wird automatisch Naturnähe und Animalität zugeschrieben, was meist pejorativ aus einer vermeintlich zivilisierteren, überlegenen Position formuliert wird. Zuweilen kann Wildheit aber, wie gezeigt wurde, auch als positive Qualität konstruiert werden. Wenn man Wildheit als Metapher für einen Raum kreativer Freiheit anerkennt, verwundert es nicht, dass Künstler/innen gar nicht so selten in ihrem Schaffensprozess bewusst eine gewisse Wildheit anstreben. Besonders plakative Bei-
2 | Lévi-Strauss sieht allerdings die Unterschiede
machen. Und sowohl wildes als auch modernes
zwischen wildem und modernem Denken bzw.
Denken beobachten Lévi-Strauss zufolge auf-
zwischen ihren Vertretern nur als graduelle an.
merksam die Umwelt und sind von »beharrli-
Sowohl Bastler, Zauberer und Priester als auch
che(r) Schulung aller Sinne« und »Scharfsinn«
Ingenieure und Wissenschaftler legen eine Struk-
gekennzeichnet. Vgl. Lévi-Strauss 1973:69.
tur über die Wirklichkeit, um sie handhabbar zu
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spiele findet man dort, wo Künstler/innen performativ wilde Tiere imitieren. Berühmt-berüchtigt sind die anarchischen Hunde-Imitationen des russischen Performancekünstlers Oleg Kulik, der sich nackt auf allen Vieren an der Leine führen oder anketten lässt und gelegentlich wie ein bissiger Hund aufführt. 1997 verbrachte er beispielsweise zwei Wochen nackt und ohne zu sprechen in einer Hundehütte in einer New Yorker Galerie. Als Anspielung auf Joseph Beuys’ berühmte Aktion mit einem Kojoten I like America and America likes me betitelt Kulik seine Aktion I bite America and America bites me. Besucher/ innen mussten Schutzanzüge tragen und durften sich erst dann Kulik nähern, der für seine früheren heftigen Beißangriffe auf das Publikum bekannt war. Mit seinem radikalen exhibitionistischen und teilweise brutalem Vorgehen will der Künstler allerdings weniger Einzelpersonen als das kapitalistische Kunstsystem attackieren, das, wie er sagt, »ein Künstlerleben in einen materiellen Wert, in eine Ware verwandelt« (Kulik 2001: 73). Kulik spielt in seiner Rechtfertigung »Why I have bitten a man?« auch auf Nietzsche an, wenn er in der Raubtiernatur des Menschen eine Form der »super-humanity« identifiziert. Kuliks Ansatz kann aber auch in der Tradition des Kynismus gelesen werden (Wagner 2001). Die antiken Kyniker, deren bekanntester Vertreter Diogenes war, stellten sich ebenfalls gegen kulturelle Traditionen und lebten vollkommene Bedürfnislosigkeit und Natürlichkeit vor, wobei sie aber auch gerne provozierten und sich in ihren Predigten aggressiv und spöttisch verhielten. Peter Sloterdijk beschreibt in seiner Kritik der zynischen Vernunft, in der er Kynismus und Zynismus in Bezug zueinander setzt, den modernen Kynismus als eine Philosophie des Körpers. Er sei, so Sloterdijk »ein subversiv heiteres Prinzip gegen alle zynische ›Vormacht‹: theorielos, aber klug; polemisch, aber als satirischer Widerstand von unten; gegen den Totentanz der Wissenssysteme auf dem ›lebendigen Körper als Weltfühler‹ beharrend« (Merkel 1983: 172). Diogenes lehnte ebenso wie heute Kulik staatstragende Tugenden wie Heiraten, Kinderzeugen oder Arbeiten ab. Er verachtete Besitz und kulturell begründete Scham, etwa in Zusammenhang mit Nacktheit. Auch Kulik sieht Schamgefühl als ein Instrument sozialer Unterdrückung. Er plädiert für eine Rückkehr zu tierlichen Verhaltensweisen und für die Akzeptanz der eigenen Kreatürlichkeit. Indem er durch Skandale Aufmerksamkeit erregt, protestiert er gegen bestehende politische und gesellschaftliche Verhältnisse. Das Wild-Werden Kuliks kann so zur Figur für sozialen Protest werden und menschliche Abgründe verdeutlichen. Ein weiteres prominentes Beispiel für Kulturschaffende, die sich wild und tierhaft gebärden, sind die New Yorker Guerrilla Girls. Hier handelt es sich um eine anonyme Gruppe von feministischen Künstlerinnen, die sich gegen den Sexismus und Rassismus in der Kunstwelt zur Wehr setzen. Die Mitglieder der Guerilla Girls tragen Pseudonyme von toten Künstlerinnen wie Frida Kahlo, Käthe Kollwitz oder auch von weniger bekannten Frauen, die aufgrund
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ihres Geschlechts zu Lebzeiten keinen Ruhm erlangt haben. Seit ihrer Gründung 1985 tragen Mitglieder der Gruppe Gorillamasken und mischen so verkleidet Kunstausstellungen und Museen auf. Ihre Interventionen waren von Anfang als Guerilla-Aktionen geplant, weswegen der Name schon bestand, bevor man sich auf die Masken als identitätsstiftende Verkleidung einigte. Aufgrund der Klanggleichheit im Englischen – Guerilla klingt wie Gorilla – entschied man sich dann für Affenkostüme. Geschützt durch die Masken organisieren die Künstlerinnen Proteste, kreieren Plakate, schalten Anzeigen und machen auf öffentlichen Kundgebungen auf die unterschiedliche Wertschätzung von männlichen und weiblichen Kunstschaffenden aufmerksam, indem sie simple Fakten liefern. Das sind z.B. Statistiken über den – meist verschwindend geringen – Prozentsatz von Künstlerinnen in Museumssammlungen. Dabei attackieren sie auf unhöfliche, wilde Weise auch konkrete Personen oder sprechen Besucher/innen direkt an und stiften so Verlegenheit im Publikum. Bei ihren Aktionen inszenieren sich die Guerrilla Girls als wild, stark, haarig. Doch die Identifikation mit dem Gorilla geht tiefer: In einem öffentlichen Statement von 2010 parallelisieren sie institutionelle Künstler/ innen mit gezähmten, gefangenen Affen. Dabei beziehen sie sich auf Franz Kafkas berühmte Kurzgeschichte von 1917 Bericht an die Akademie, in der der Affe Rotpeter, der von gelehrten Männern gewaltsam aus der Wildnis entführt und domestiziert wurde, von seinen Erlebnissen berichtet. Während diese Geschichte mit einem psychisch gebrochenen Affen endet, berufen sich die Guerilla Girls auf ein angeblich alternatives Ende aus einer früheren Skizze Kafkas (Wojak/Miller 2011: 21). Hier ruft Rotpeter dazu auf, dass man sich nicht zähmen lassen und sich stattdessen aus seinem Käfig befreien und fragen soll, was man selbst tun möchte. Die Definitionen von wild und Wildheit bleiben vorläufig und wandelbar und lassen sich offenbar auch nicht an der Spezieszugehörigkeit festmachen. Das Wilde entzieht sich konsequenterweise einer eindeutigen Definition und einer klaren Bewertung.
Unterwerfung und Widerstand des Wilden Gefährliche Tiere naturalistisch darzustellen, überlässt die Kunst heute vor allem dem Film. Wenn es in der Gegenwartskunst vorkommt, dann meist ironisch gebrochen oder mit merkwürdig anachronistischer Anmutung. Der US-Amerikaner Walton Ford etwa schöpft aus der Kulturgeschichte des Wilden in der menschlichen Imagination, um die Gewalt und das Wilde in Erzählungen der Naturgeschichte aufzudecken. Er malt Szenen von bisher
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unerzählten historischen Begebenheiten der Unterwerfung der Tiere, die Vorgeschichte von Umweltzerstörung und die Hintergründe von Kriegen. Dabei versieht er seine Gemälde jeweils mit historischen Texten aus Reiseberichten oder wissenschaftlichen und populären Schriftquellen. (Abb. 1) Bei einem Gemälde mit einem Berg toter Beutelwölfe bedient er sich eines Berichts aus der Tasmanian Mail von 1887, in der die »segensreiche« Tötung von Schaden bringenden tasmanischen Tigern durch Siedler beschrieben wird (Voss 2010). Heute ist längst bekannt, dass die Siedler die Aggressoren waren und die tasmanischen Tiger erbarmungslos ausgerottet wurden. Ford deckt mit seiner komplexen allegorischen Malerei die Gewalt und die Lügen in tradierten Geschichten der Naturerforschung auf und versieht sie mit satirischen politischen Kommentaren zur Geschichte des Kolonialismus und der Naturzerstörung. Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass das Sehen, Darstellen und Töten von Tieren eng miteinander verknüpft sind. So gut wie alle bekannten Tiermaler wie auch Naturforscher haben ihre Motive gejagt und getötet, bevor sie sie abbildeten. Offenbar waren sie der Ansicht, dass man wilde Tiere stillstellen muss, um sie genau studieren zu können – und sei es um den Preis ihres Lebens. Der Bildwissenschaftler W.J.T. Mitchell hat sogar vorgeschlagen, dass die gesamte Malerei seit der frühen Neuzeit mit ihrem Fokus auf dem naturgetreuen Einfangen von Naturmotiven ein implizites Streben nach Beherrschung von Natur darstellt, das mit dem Streben des Jägers nach der Beherrschung des Wildes zu vergleichen sei (Mitchell 1994: 333). Das Streben nach Wissen und damit auch die realistische Kunst haben dann immer etwas Gewalttägiges. Die Kunst domestiziert im Darstellungsprozess das Wilde, indem sie es kontrollierbar macht. Das lässt sich plakativ etwa an Darstellungen des Hirsches, auch ein Tier der Kategorie »Wild«, ablesen. Hirschdarstellungen gibt es in der Kulturgeschichte schon seit Anbeginn der Kunst, also zu einer Zeit, in der wilde Tiere noch eine wirkliche Gefahr für »menschliche Tiere« darstellten, mit denen sie einen Lebensraum teilten. Man denke nur an Darstellungen in Lascaux, Altamira oder Chauvet, in der die Sphären und Körper von Wild und Menschen kaum voneinander getrennt sind. Das Konzept des Wilden, wie es noch heute verwendet wird, konnte erst entworfen werden, als die Menschen sich von den anderen Tieren als unterschieden begriffen. Erst mit der Konstruktion von Vorstellungen einer anthropologischen Differenz konnte das Wilde zu einer Qualität »nichtmenschlicher Tiere« werden (Weber 2010).³
3 | Andreas Weber nennt die Sesshaftwerdung
im gleichen Zug, wie er von ihm abhängige
des Menschen als Ursprung von der Idee
Lebensformen kultivierte« (Weber 2010).
des Wilden: »Der Mensch erfand die Wildnis
Walk on the wild side | Jessica Ullrich
Eine viel spätere Hochzeit der Wildmalerei war das 19. Jahrhundert, in dem deutlich realistischere Gemälde von Hirschen Triumphe feierten, etwa der berühmte und oft kopierte Monarch of the Glen von Edwin Landseer. Durch die große Beliebtheit und ständige Repetition ist die Darstellung solcher Motive mittlerweile längst zum Inbegriff von Kitsch geworden: Der röhrende Hirsch etwa versinnbildlicht heute vor allem gezähmte Mittelmäßigkeit und taugt nur noch zum ironischen Zitat. Das Phänomen der Zähmung von Wildheit durch das Einbringen in den Kunstraum betrifft im Übrigen auch aktuellere Kunst. So verliert beispielsweise Damien Hirsts berühmter Tigerhai⁴ in der Vitrinenpräsentation, die einen Detailblick auf sein durch Populärkultur dämonisiertes Maul erlaubt, seinen Schrecken. Abb. 2: Sebastian Meschenmoser, Eastern Lynch Party, 2012 Im Vergleich zur traditionellen Jagdmalerei wie auch zu Walton Fords Monumentalgemälden dreht der junge deutsche Maler Sebastian Meschenmoser den Spieß um (Abb. 2): Auf seinen Bildern setzen sich die anderen Tiere gegen die Menschen zu Wehr und behalten zuweilen sogar die Oberhand. Man kann die Bilder als Aktualisierungen der »Verkehrten Welt« lesen, einer Bild- und Texttradition, die seit der Antike besteht und im 17. Jahrhundert u.a. mit Paulus Potters Das Leben des Jägers Eingang in die Malerei gefunden hat.⁵ Es handelt sich um satirisch gemeinte Darstellungen von der Rache der Wildtiere, die ihre Jäger verfolgen, vor Gericht stellen, schießen oder braten. Die anderen Tiere tun also ihren menschlichen Peinigern genau das an, was diese ihnen jahrhundertelang angetan haben. Auf Meschenmosers Bildern ist die Sache weniger eindeutig und für den Betrachtenden ist es nicht einfach, Partei zu ergreifen. Einerseits müssten die Sympathien auf der Seite der geschundenen nichtmenschlichen Tiere liegen, andererseits wirken diese häufig selbst blutrünstig, während die menschlichen Gegner bedrängt und unterlegen erscheinen, so dass man auch mit ihnen Mitleid hat. Während der bewaff-
4 | Damien Hirst, The Physical Impossibility of
5 | Das Bild befindet sich in der Eremitage in
Death in the Mind of Someone Living, 1991, Me-
St. Petersburg.
tropolitan Museum of Modern Art, New York.
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nete Kampf zur Konfliktlösung in innermenschlichen Kontexten im Zuge der gesellschaftlichen Zivilisierung und Kultivierung allgemein abgelehnt wird, setzt Sebastian Meschenmoser durchaus auf die emanzipatorische Dimension der Vorstellung von tierlichen Guerillakämpfern. Der oft behauptete, aber kaum überzeugend legitimierte Überlegenheitsanspruch der Menschen ist nach diesem Aufstand der anderen Tiere nur noch ein Possenspiel. Doch malt sich Meschenmoser keine Utopie nach dem Ende der Herrschaft der Menschheit aus, sondern eine dystopische, apokalyptische Welt, in der nur der Stärkere überlebt. Dass gerade Hasen eine prominente Rolle einnehmen, ist bezeichnend. Sie gehören zu denjenigen Tieren, die in beinahe jeder Form von Menschen vernutzt werden: Als Versuchstier, Fleischlieferant und Kinderspielzeug ebenso wie als Vehikel für Bedeutung in religiösen und künstlerischen Zusammenhängen. Auch gehört der Hase der Kategorie von Tieren an, die man als »Wild« bezeichnet und damit als jagdbar markiert.
Wilde Ästhetik Es gibt eine Vielzahl von Künstler/innen, die den direkten Kontakt mit wilden Tieren suchen, um daraus Inspiration für ihre Arbeit zu schöpfen. Dabei missverstehen sie häufig die wilden Tiere oder romantisieren sie über die Maßen. Das kann produktiv sein für die jeweils entstehende Kunst, basiert aber häufig auf Ausbeutung der beteiligten wilden Tiere. Missverstanden hat z.B. Arnulf Rainer die vorgebliche Wildheit seiner tierlichen Partner/innen in den parallelen Malaktionen von 1979 (Rainer 1991). Der österreichische Künstler sucht das Wilde in sich selbst, um es für seine Kunstpraxis zu nutzen. Rainer versuchte 1979 jede einzelne Körperbewegung und jeden Pinselstrich der mit ihm gemeinsam malenden Schimpansen Jimmy und Lady nachzuahmen. Er hoffte dadurch zu ebenso klaren und intensiven Abstraktionen kommen zu können, wie er sie bei Affen bewunderte. Rainers Vorurteil über das äffische Verhalten war dabei allerdings hinderlich. Er ging davon aus, dass Affen keine Kontrolle über ihre Emotionen haben und versuchte, sich entsprechend unkontrolliert zu verhalten. Wie Filmaufnahmen zeigen, war es anfangs nicht der Schimpanse, der sich ungezähmt und ungezügelt verhielt, ganz im Gegenteil scheint es dem Affen in den simultanen Malsituationen mit Rainer oft zu wild geworden zu sein: Zunächst sieht man einen Schimpansen friedlich und selbstvergessen malen, bis er durch Rainers nervös-erregtes Gebaren irritiert damit aufhört. In der Folge lässt er sich von der aggressiven Hektik des Menschen anstecken und jagt ihn schließlich von der Leinwand weg. Rainer gab das Experiment dann letztlich auf, auch
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weil er nach eigenem Verständnis nie die Unmittelbarkeit, Unbefangenheit und Direktheit seiner äffischen Partner/innen erreichte. Die Tätigkeit von Affen wird von Rainer als wilde Vorstufe menschlicher Kreativität verstanden, zu der man durch eine bewusste Kehrtwendung zurückkehren kann. Damit stellt er sich in eine fragwürdige Denktradition, die Tiere mit Kindern oder »primitiven« Kulturen gleichsetzt. Es darf nicht vergessen werden, dass alle bekannten Zeichnungen und Gemälde von Affen stets in Zusammenarbeit mit Forscher/innen unter zutiefst artifiziellen Bedingungen entstanden sind. Das Setting produziert dabei Phänomene, die in anderen Kontexten so nicht beobachtbar wären. Der zeichnende Affe ist aber nicht nur ein Hybrid, der von verschiedenen diskursiven Praktiken und Orten hervorgebracht wird, sondern auch ein aktiver Agent in solchen Prozessen. Natürlich hat sich nicht nur die Kunst, sondern auch die Ethologie und Gestaltpsychologie mit Affenmalerei beschäftigt und damit eine Art »wilde Ästhetik« studiert. Die Forschung beschäftigte sich u.a. damit, ob malende Affen Bezug auf vorgefertigte Markierungen nehmen. Und tatsächlich tendieren sie dazu, auf bestehende Formen zu antworteten und beispielsweise Kompositionen auszubalancieren oder zu komplettieren. Allerdings wurde Affenmalerei meist als reiner Bewegungsausdruck interpretiert, der niemals in das von Menschenkindern erreichte überlegene Stadium der Repräsentation übergehen könne. Der Verhaltensforscher (und Maler) Desmond Morris beschreibt Schimpansen daher als »infra-human picture-makers« (Morris 1962: 43). Mit dieser Feststellung bestätigte er einmal mehr die Mensch-Tier-Grenze: Menschenkinder entwickeln Repräsentationen, Tiere nicht; menschliche Aktivität ist konzeptionell, tierliche mechanisch. Jeder subjektive Inhalt wurde den »Kritzeleien« lange abgesprochen. Dabei wurde übersehen, dass es eine sehr reduzierte Art der Bedeutungssuche ist, wenn das Hauptaugenmerk darauf liegt, ob ein Affe einen Kreis mit vier Strichen daran zeichnet, um einen Menschen zu repräsentieren. In jüngster Zeit wird zumindest darüber spekuliert, ob nichtmenschliche Malerei oder Zeichnung nicht ähnliche Motivationen und Funktionen haben könnte wie menschliche (MacDonald 2014). So ist für Menschen Zeichnen und Malen oft eine Methode, Gefühle auszudrücken, auf Gesehenes oder Erfahrenes in einem anderen Medium zu antworten und um Wissen über die Welt zu generieren. Primatolog/innen der Gorilla Foundation haben beispielsweise dokumentiert, dass der Gorilla Koko Gemälde anfertigt, die durchaus in Größe, Komposition und/oder Farbigkeit mit Dingen korrelieren, die Koko zuvor gesehen hat und dass sie den Bildern Namen in American Sign Language gibt.⁶
6 | Vgl. http://www.koko.org/gorilla-art-0.
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Der belgische Kunstphilosoph Thierry Lenain beschrieb 1990 Affenkunst noch als Form visueller Destruktion: Der malende Affe versuche die angebotene leere Fläche in einer Art Horror vacui zu zerstören und zu zerstückeln (Lenain 1997). Doch vielleicht malen Affen nicht einfach gegen die Leere des Blattes an, sondern auch gegen die unter Laborbedingungen konstruierte emotionale, mentale und geistige Verarmung ihrer Welt. Vielleicht kann man Affenmalerei sogar als Form des Widerstands lesen: Die Malereien sind womöglich ein Freiraum, der nicht kontrolliert werden kann. Aber egal wie man die Malereien interpretiert: Sie sind Beweise tierlicher Handlungsfähigkeit, Intentionalität und Subjektivität, die sich jeder menschlichen Interpretation verweigern – und damit bleiben sie wild. Durch Arnulf Rainers parallele Malaktion lernt man jedenfalls nichts über das wilde Denken der involvierten Schimpansen oder die kreativen Fähigkeiten von Affen, sondern mehr über Rainer und dessen Vorstellung von Kunst und Künstlertum. Sein Projekt hinterfragt die herrschende Idee von Kreativität und von Kunst als Ergebnis von individueller Inspiration, menschlichem Genius und menschlicher Erfindungsgabe. So kann Rainers Arbeit durchaus als produktiver Versuch der Enttarnung des illusionären Charakters der Vorstellung von künstlerischem Genius gelesen werden. Aber er bestätigt auch das mystifizierte Bild des Wilden als schöpferischer Selbstorganisation außerhalb menschlicher Kontrolle, wie es sich u.a. bei Gary Snyder findet: »Das Wilde ist ein Prozess, der außerhalb menschlicher Kontrolle liegt. Soweit die Wissenschaft auch vordringen mag, wird sie diesem doch niemals auf den Grund gehen können, denn Geist, Fantasie, Verdauung, Atmen, Träumen, Lieben und sowohl Geburt als auch Tod gehören dem Wilden an« (Synder 1990).
E xpeditionen in die Wildnis Vereinnahmend romantisiert und mystifiziert wird das Wilde auch in den Mal expeditionen von Olly und Suzi (Olly and Suzi 2003). Das britische Künstlerduo unternimmt Expeditionen in Weltenregionen, die von Menschen weitgehend unberührt sind und macht sich auf die Suche nach Tieren, die in ihrem Bestand bedroht sind. Sie möchten für die Gefährdung von Arten und Habi taten sensibilisieren. Sie nähern sich den aufgespürten Tieren so weit wie möglich und skizzieren sie mit raschen Strichen. So bereisen sie die Arktis, um Eisbären zu zeichnen, tauchen im Ozean, um Haie zu finden, legen sich in Afrika auf die Lauer, bis Wildhunde kommen oder suchen in der Wüste nach Taranteln und hoffen, dass die Tiere die Bilder auf ihre Art signieren. (Abb. 3) Die entstandenen Bilder beinhalten dann außer den Linien, die mit Zeichen-
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stift oder auch Naturmaterialien wie zerdrückten Beeren oder Blut angefertigt sind, Bissspuren, Pfotenabdrücke oder Urinmarkierungen der von ihnen porträtierten Tiere. Diese Spuren fungieren als indexikalische Zeichen, die von einer Anwesenheit und körperlichen Präsenz Zeugnis geben, die bald verloren sein wird. Olly und Suzi selbst bezeichnen ihre Arbeit als Kollaboration mit der Natur: »Our art-making process is concerned with our journey; a collaAbb. 3: Olly und Suzi, Wolf interaction, Ellesmere Island, Canadian Arctic, 1998 borative, mutual response to nature at its most primitive and wild.«⁷ Sie mystifizieren die Wildnis, die sie mit Entdeckergeist betreten, als unzugänglich, abgelegen und gefährlich. Dabei konzentrieren sie sich vor allem auf die »klassischen« Raubtiere wie etwa Eisbären oder Haie und betonen in Interviews immer wieder das Moment der Gefahr, das in der Begegnung mit diesen Tieren liegt. So inszenieren sich Olly und Suzi als Bewohner/innen einer halbwilden Zone am Rand der hierarchisch geordneten Zivilisation. An den Fotos der Aktionen ist dann auch nicht abzulesen, dass das Künstlerpaar in Wahrheit oft auf halbwilde Tiere in Gehegen trifft, um Bilder zu produzieren.⁸ Es wird deutlich, dass das Wilde auch als rhetorische Formel für Freiheit jenseits von menschlicher Kontrolle oder Restriktionen fungiert. Jeder Widerstand von wilden Tieren wird von Suzi und Olly als positive Qualität anerkannt, aber auch sofort für den Schaffensprozess instrumentalisiert. Mittlerweile verdienen Suzi und Olly ihr Geld vor allem mit der Organisation von Expeditionen für Kunsttouristen. Auch wenn sie sich immer noch als Mitglieder einer Gegenkultur verstehen, sind sie doch Komplizen in einer Art Katastrophenvoyeurismus, der die Welt als apokalyptischen Zoo vorführt. Dennoch ist es interessant, wie in diesem Projekt tatsächliche oder vorgebliche tierliche Wildheit als Widerstand gegen die Zähmung durch Repräsentationsdispositive gelesen wird. Die gelungensten Werke sind nämlich die, bei denen die von Suzi und Olly angefertigten Porträts von ihren Modellen unkenntlich gemacht, zerstört oder aufgefressen wurden.
7 | Das Statement findet sich auf der Projekt-
8 | In ihrem dokumentarischen Bildband
homepage der Künstler/innen:
(Olly and Suzi 2003) sieht man allerdings
http://www.ollysuzi.com/statement/
einige Malaktionen mit gefangenen oder
(Zugriff am 15.4.2016).
sogar betäubten Tieren.
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Roadmovies durch die Wildnis Auf eine technologisch vermittelte Begegnung mit wilden Tieren setzt der US-Amerikaner Sam Easterson. Er bediente sich der von Meeresbiologen entwickelten Technik der Crittercam und brachte von 1998 bis 2008 selbstgebaute Miniaturkameras am Kopf diverser Wildtiere an, um deren visuelle Eindrücke von der Wüste, der Prärie oder dem Sumpf einzufangen. Das waren u.a. ein Bison, ein Wolf, ein Maulwurf, ein Gürteltier, ein Frosch, eine Tarantel, ein Skorpion, eine Schildkröte, eine Grille und ein Falke. Eastersons erklärtes Ziel war es, die umfangreichste und kompletteste Bibliothek von »animal point of views« zu sammeln, ein Archiv, dass jedem Tier eine »video voice« gibt (Thompson 2005: 58). Dabei hat die Untersuchung der Wildnis aus der Perspektive des Artenschutzes für Easterson Priorität: Man soll durch seine Kunst etwas über das Leben von Tieren in entlegenen Landstrichen erfahren, ohne jede menschliche Einmischung. Unberührte Landschaft soll als schützenswerter Ort erfahrbar werden – und zwar, indem man sie quasi stellvertretend über das Tier und doch wie am eigenen Leib erfährt. Der Point-of-view-Shot wird eingesetzt, um eine Identifikation mit dem Blickenden zu evozieren. Man soll als Zuschauer/in in die Lage des Tieres versetzt werden und die Dinge aus dessen Perspektive miterleben. Tatsächlich kann man sich in den oft nur wenige Sekunden langen Videos durch die vorwärtsstrebende Bewegung und durch die Überlagerung der Gesichtsfelder ansatzweise in die tierlichen Filmproduzenten einfühlen. Es ist beinahe so, als stecke man in einem ferngesteuerten Videospiel-Avatar. Durch die ausgestellten physischen Begegnungen der Tiere mit ihrem Ökosystem wird man sich der Verletzlichkeit und der Abhängigkeit der Tiere von ihrem Lebensraum bewusst. Die extremen Nahaufnahmen von der Erde, über die sich gerade kleinere Tiere bewegen, machen das Verständnis für die Konsequenzen von Schädigungen oder Veränderungen ihres Habitats für die Tiere fast körperlich erfahrbar. Da sich Easterson nicht nur als Videokünstler, sondern auch als filmender Naturforscher versteht, wurden seine Animal Videos nicht nur in Kunstmuseen gezeigt, sondern auch auf Animal Planet oder im Discovery Channel und sind mit Disneys Eco-tainement Programmen aus den 1950er Jahren verglichen worden. Schon diese frühen Tierfilme wurden mit dem Hinweis auf Natur- und Artenschutz gedreht und verfolgten neben kommerziellen und propagandistischen Interessen auch pädagogische Zwecke. Die Wildnis wurde dabei als Platz der Freiheit konstruiert und mit therapeutischen Effekten ausgestattet. Vor allem haben Eastersons Arbeiten aber Gemeinsamkeiten mit den Crittercam-Programmen von National Geographic, die ebenso wie er damit werben, dass sie aus erster Hand aus der Wildnis berichten. In beiden Fällen wird die
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Präsentation des nie zuvor Gesehenen angekündigt sowie behauptet, Geheimnisse der Natur aufzudecken und gleichzeitig den Planeten zu retten. So decken sich Eastersons Intentionen mit den reißerischen Versprechungen der als politisch korrekte Reality TV-Shows inszenierten Crittercam-Formate: »Safely worn by wildlife, Crittercams [...] give us rare views of the private lives of animals. By allowing us this animal’s eye-view, Crittercams help to solve scientific mysteries. And what we learn from Crittercams helps us to protect the very animals that wear them.«⁹ Eastersons künstlerische Praxis vereint unterschiedliche Aspekte der Jagd: die Auswahl des Habitats, das Verfolgen und Aufspüren der Beute und die filmische Trophäe, die dann zur Schau gestellt wird. Das Gewehr wird zwar gegen die Kamera eingetauscht, aber das Verlangen, wilden Tieren immer noch näher zu kommen, zeugt von einem gewissen Voyeurismus. Auch wenn es emanzipatorische Aspekte hat, von einer eigenen Perspektive der wilden Tiere auf die Welt auszugehen, verdankt sich dem unbedingten Wunsch – verbunden mit Machtstreben und Herrschaftsansprüchen, selbst diese wilde Perspektive einnehmen zu können. Dass die Tiere nicht freiwillig kooperieren, sondern erst eingefangen werden müssen, bevor sie mit Kameras ausgestattet werden, zeugt von der Gewalt, der sie trotz guter Absichten ausgesetzt werden. Eastersons Filme können mit ihrer Betonung der apparativen Aspekte des Filmemachens und der Zurschaustellung des enormen technischen Aufwands für ein paar verwackelte Sekunden Videomaterial aber auch als Parodien auf den vermeintlich authentischen, doch immer medienvermittelten Zugang zur Wildnis gelesen werden.
Trauer um das Verschwinden des Wilden Neue Modi der Repräsentation des Wilden sucht auch Britta Jaschinski: Mit ihrer als Buch veröffentlichten fotografischen Werkgruppe Wild things von 2003 will sie ihre Wertschätzung für die unveräußerliche Wildheit von Tieren zum Ausdruck bringen (Jaschinski 2003). Jaschinski fotografiert dazu wilde Tiere in ihrem natürlichen Habitat und kombiniert Tierporträts mit Landschaftsfotografie und einem selbstgeschriebenen Prosatext, den sie über das gesamte Buch verteilt. Der Text richtet sich an die Tiere selbst und beginnt mit »verehrte tiere«. Mit einem beinahe biblischen Duktus (»vor vier millionen jahren
9 | http://animals.nationalgeographic.com/ animals/crittercam/ (Zugriff am 15.5.2016).
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war die erde wüst und leer«) spricht er vom Eingebundensein des Menschen in die Natur. Sowohl auf der Text- wie auf der Bildebene macht Jaschinski eine Trennung auf zwischen der Welt der Menschen, in der Tiere in Gefangenschaft geschützt werden – hier sind Fotos aus dem Zoo zwischengeschaltet – und der Wildnis, in der die Tiere nichts mehr zu fressen finden, weil das Streben der Menschen nach Wohlstand und Bequemlichkeit sie zerstört hat. GeAbb. 4: Britta Jaschinski, widmet ist das Buch »Ed und allem Ohne Titel (The Rebel) Wilden«. Dass jede Vorstellung einer unvermittelten Beziehung zu wilden Tieren illusorisch ist, machen dabei die Fotos überdeutlich. Die wilden Tiere blicken selten aus dem Bild zurück, oft sind sie von hinten, verschattet oder verschwommen aufgenommen. (Abb. 4) Damit scheinen sie sich aktiv einer Aneignung durch Bildwerdung zu verweigern. So behalten die Tiere ihre ursprüngliche Wildheit und entziehen sich jeder ästhetischen Kategorisierung. Der Künstlerin ist es egal, ob man erkennt, um welche Spezies es sich handelt. Diese Tiere sind keine Schauobjekte, sondern vielmehr Ahnungen einer nichtmenschlichen, wilden Präsenz, die sich von jeder Zuschreibung emanzipiert hat. Diese Tiere sind zu widerspenstig, zu lebendig, zu wild, um reine Projektionsfläche zu sein. Aber die fotografische Inszenierung der Tiere als bloße Schemen, entfliehende und sich dem Blick entziehende Wesen kündet auch vom vielfach beklagten Verschwinden des Wilden in der modernen Welt.¹⁰ Und tatsächlich gibt es zunehmend künstlerische Repräsentationen von Tieren, die vor allem als eine Art Trauerarbeit über diesen Verlust des Wilden zu lesen sind. In diesem Kontext muss beispielsweise Hayden Fowlers Projekt Call of the Wild interpretiert werden. Es wurde aus einem tiefen Gefühl des Verlusts und der Trauer angesichts von Artensterben und Naturzerstörung entwickelt. Der Künstler ließ sich ein Paar des ausgestorbenen australischen Huia oder Lappenhopf auf den Rücken tätowieren. (Abb. 5) Der Akt des Tätowierens, der etwa eine Woche dauerte, wurde 2007, 100 Jahre nach dem offi ziellen Aussterben der Spezies, beim Auckland Festival auf theatrale Weise live aufgeführt und fotografisch dokumentiert. Dazu wurden Tonaufnahmen von noch existierenden neuseeländischen Vögeln abgespielt. Vermutlich hat
10 | Vgl. einschlägig z.B. Berger 1980.
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vor allem der Flächenverlust der Wälder durch Landwirtschaft zum Aussterben der Vögel beigetragen. Beschleunigt wurde das Verschwinden der Spezies dadurch, dass die Federn des Huia Anfang des 20. Jahrhunderts als modische Accessoires begehrt waren. Dass dem Duke of York bei einem Besuch in Neuseeland 1901 Huia-Schwanzfedern präsentiert worden waren, führte zu einem Hype in der Londoner Modewelt. Nur sechs Jahre später wurde das letzte Exemplar der Spezies gesichtet. Ironischerweise ist Mode eine Art menschliche Version von tierlicher Ästhetik, wie sie u.a. von Darwin in seinen Theorien zur sexuellen Selektion beschrieben wurde: Die schön befederten Abb. 5: Hayden Fowler, männlichen Vögel schmücken ihre Bauten Call of the Wild 1, 2007 und führen kunstvolle Balztänze auf, um ihre Weibchen zu beeindrucken, welche dann den prächtigsten Vogelmann als Partner erwählen. Fowler macht nun seinen eigenen Körper zum Schauplatz einer vergangenen Schönheit. Genau wie die Huia nie zurückkehren können, ist auch Fowlers Performance unumkehrbar. Die Tätowierungen werden verblassen, wenn sein Körper altert, aber nie ganz verschwinden. In der Performance wird Fowlers Pein und seine Erschöpfung ästhetisiert, wenn er sich dem Schmerz und der Gewalt des öffentlichen Blicks in einer sterilen laborähnlichen Umgebung unterwirft. Der gewalttätige Akt des Tätowierens spiegelt die Aggression des menschengemachten Artensterbens. Das hygienische, hochtechnologisch wirkende Ambiente spielt auf die sich vergrößernde Kluft zwischen Menschen und wilden Tieren in der modernen Welt an, in der es immer schwerer wird, einen Ort für das Wilde zu finden. Die Huias werden zum Symbol für die schuldhafte Zerstörung einer exotischen Tierart im Zuge der imperialistischen Ausbreitung der europäischen Moderne. Das Schicksal einer einzelnen, charismatischen Art wird so in die kritische Reflexion über den Verlauf menschlicher Geschichte integriert, kann aber durchaus für das gefährdete Naturganze stehen.¹¹
11 | 2014 hat Fowler übrigens in der Berliner
rung eines weiteren ausgestorbenen Vogels,
Galerie Michael Reid die Arbeit mit der Tätowie-
des Whekau, fortgeführt.
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Wild/Bild? Wildheit ist nicht einfach eine negative Figur der Aus- und Abgrenzung des Anderen und des Unzivilisierten, sondern ganz im Gegenteil auch als positive, vitale und erhaltenswerte Qualität von ungezähmten Tieren (und Menschen) anzusehen. Wildheit wird in dieser und den anderen vorgestellten Arbeiten zu einem (bewusst gewählten) Aktionsmodell mit subversiver Kraft. Das Wilde steht für einen unverfügbaren Rest der in einem Kunstwerk dasjenige Element bezeichnet, das nicht vollständig gezähmt und eingehegt werden kann. Während der außerkünstlerische Umgang mit Wildheit oft nur zwei Alternativen kennt – man kann Wildheit als den Teil der Natur ansehen, der unter keinen Umständen gezähmt werden kann oder aber als den Teil, der unter allen Umständen unterworfen werden muss – schafft die Kunst einen dritten Weg. Der künstlerische Umgang mit dem Wilden lässt sich ebenso schwer fassen wie das Wilde selbst, weil er sich eindeutiger Repräsentationen entzieht. Das Wilde zeigt sich dabei auch in vorkognitiven und vorindividuellen Wahrnehmungsmodi und Verkörperungen. Nigel Thrifts »theories of non-representation« können hier hilfreich sein (Thrift 1996). Thrift und seine Schule stellen eine Gegenposition zum »Repräsentationalismus« dar, der stets danach strebt, zu erklären, wie die Dinge wirklich sind. Sein Entwurf der »NichtRepräsentation« kann als eine Art postmoderne Form eines »wilden Denkens« verstanden werden und lässt sich für ein Verständnis der vorgestellten Kunstwerke nutzbar machen. In Thrifts Sinne »repräsentationalistisch« sind naturwissenschaftliche Methoden genauso wie naturalistische Kunst. Aus ihnen folgt ein »neugieriger Vampirismus«, der die Dinge ihres Lebens (und damit ihrer Wildheit) beraubt (Dewsbury u.a. 2002). Der Repräsentationalismus gibt den Dingen eine eindeutige, einheitliche Identität, die keinen Raum mehr für Fragen oder Offenheit zulässt. Phänomene, die nicht repräsentiert werden können, werden ignoriert oder missachtet. Repräsentationen stellen ihre Objekte still und behandeln sie, als wären sie schon tot – also das Gegenteil von wild. Thrift beschreibt Strategien, die angewandt werden können, um Repräsentationalismus zu vermeiden (Thrift 2002). Dazu zählt, nicht alles erklären zu wollen, um es konsumierbar oder im Diskurs legitimierbar zu machen. Weiterhin sollte Achtsamkeit im Umgang mit der Welt kultiviert werden, um Möglichkeiten einer affektiven Begegnung zu schaffen und so eine pragmatische Ethik der Gegenwart zu ermöglichen. Weiterhin sollen neue Modi von Agency zugelassen werden. All dies tun die vorgestellten Künstler/innen in ihren Begegnungen mit dem Wilden: Sie repräsentieren weniger als dass sie präsentieren. Die künstlerische Annäherung an das Wilde ist relational, oft sogar dialogisch und performativ. Doch
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auch wenn die Agency der wilden Tiere dabei eine große Rolle spielt, darf nicht vergessen werden, dass immer vom Menschen aus (re-)präsentiert wird. Durch die vorgeführten ästhetischen und affektiven Praktiken verändern die vorgestellten Künstler/innen in der Begegnung mit den wilden Tieren vor allem sich selbst. Doch damit sind sie vielleicht im Umgang mit dem Wilden auf dem richtigen Weg: Eine Kunst, die die Alterität und Animalität, sprich das »Wilde« und Unveräußerliche von Tieren achtet, muss deren Teilhabe an der Welt anerkennen und darf sie nicht in Bilder und Konzepte zwängen.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Walton Ford, The Island, 2009, Wasserfarbe, Gouache, Bleistift und Tinte auf Papier, 98 x 138 inches, Courtesy der Künstler und Paul Kasmin Gallery, in: https://redflag.org/wp-content/uploads/2014/02/Walton-Ford-1.jpg Abb. 2: Sebastian Meschenmoser, Eastern Lynch Party, 2012, Öl auf Leinwand, 220x180 cm, in: Koch, Barbara / Wittkowski, Marco (2016): I wanna be your dog, Köln: Sprungtum Verlag, S. 50. Abb. 3: Olly und Suzi, Wolf interaction, Ellesmere Island, Canadian Arctic, 1998, Foto: Greg Williams, in: Olly & Suzi (2003): Arctic Ocean Desert Jungle, New York: Abrams, S. 66. Abb. 4: Britta Jaschinski, Ohne Titel (The Rebel), aus: Wild things, 2003, Gelatin Silver Print, 50.8 × 61 cm, in: Jaschinski, Britta (2003): Verehrte Tiere. Ein Plädoyer für die Schöpfung, München: Knesebeck, o.S. Abb. 5: Hayden Fowler, Call of the Wild 1, 2007, Performance-Dokumentation, Auckland Festival, März 2007, Foto: Sarah Smuts-Kennedy, in: http://haydenfowler.net/projects/ call-of-the-wild.html
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Die Autorinnen und Autoren Elke Gaugele ist Empirische Kulturwissenschaftlerin (Dr. phil.) und Professorin an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Am Institut für das künstlerische Lehramt leitet sie den Fachbereich »Moden und Styles«: ein künstlerisch-wissenschaftliches Studium, das gestalterische Praxis mit dem Studium kritischer Theorien und der Vermittlung von Moden und Styles verbindet. Als Projektleiterin des Austrian Centers for Fashion Research und Mitglied der AG »Kunstproduktion und Kunsttheorie im Zeichen globaler Migration« des Ulmer Vereins für Kunst- und Kulturwissenschaften forscht und publiziert sie zu den Epistemologien von Mode und Stil, zu postkolonialen und queer-feministischen Perspektiven für die Fashion Studies, zu Biopolitiken und ästhetischen Politiken der Mode. Aktuelle Publikationen: Gaugele, Elke/Kastner, Jens (Hrsg.) (2015): Critical Studies. Kultur- und Sozialtheorie im Kunstfeld, Wiesbaden: VS; Gaugele, Elke (Hrsg.) (2014): Aesthetic Politics in Fashion, New York/Berlin: Sternberg; Gaugele, Elke/ Eismann, Sonja/Kuni, Verena/Zobl, Elke (Hrsg.) (2011): Craftista! Handarbeit als Aktivismus, Mainz: Ventil.
Annette Geiger ist Professorin für Theorie und Geschichte der Gestaltung an der Hochschule für Künste Bremen. Sie studierte Kunst-, Kultur- und Kommunikationswissenschaften in Berlin, Grenoble und Paris. Ihre Promotion Urbild und fotografischer Blick zur Bildtheorie im 18. Jahrhundert schloss sie am kunsthistorischen Institut der Universität Stuttgart ab. Sie lehrte Designund Kulturgeschichte am Institut supérieur des arts appliqués in Paris, an der Universität der Künste Berlin und an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee sowie sie die Stiftungsprofessur für Mode und Ästhetik an der TU Darmstadt inne hatte. Jüngste Veröffentlichungen zum Thema: Geiger, Annette/Glasmeier, Michael (Hrsg.) (2012): Kunst und Design. Eine Affäre, Hamburg: Textem; Geiger, Annette/Schröder, Gerald/Söll, Änne (Hrsg.) (2010): Coolness. Zur Ästhetik einer kulturellen Strategie und Attitüde, Bielefeld: transcript; Geiger, Annette (Hrsg.) (2008): Der schöne Körper. Mode und Kosmetik in Kunst und Gesellschaft, Köln: Böhlau; sowie sie die Modemagazine der HfK Bremen mitherausgab: »Der schöne Mann« (2012), »Untragbar« (2013).
Die Autorinnen und Autoren
Heidi Helmhold (Prof. Dr.) lehrt Ästhetische Theorie am Institut für Kunst und Kunsttheorie der Universität zu Köln. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind nutzerbezogene Raumperformanzen. 2012 entwickelte sie in ihrer Publikation Affektpolitik von Raum den Aspekt einer Architektur des Textilen. Im Schnittfeld von Raumsoziologie, Raumtheorie und künstlerischer Raumintervention arbeitet sie an gesellschaftlichen Heterotopien wie Strafvollzugsanstalten und Flüchtlingsheimen.
Sabine Kampmann (Dr. phil.) ist Kunst- und Kulturwissenschaftlerin und aktuell wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstgeschichtlichen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Sie war Gastwissenschaftlerin der Forschungs initiative »Alter(n) als kulturelle Konzeption und Praxis« an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf, zuvor Vertretungsprofessorin an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel und lehrte als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Ihre Habilitationsschrift widmet sich dem Thema Die neue Sichtbarkeit des Alters. Greise Körper in Kunst und visueller Kultur (2016). In ihrer Dissertation (Künstler sein, Fink 2006) setzte sie sich Disziplinen übergreifend mit dem Thema Autorschaft in der Gegenwartskunst auseinander.
Alexandra Karentzos (Dr. phil.) ist Professorin für Mode und Ästhetik an der Technischen Universität Darmstadt. Zuvor war sie Juniorprofessorin für Kunstgeschichte an der Universität Trier und wissenschaftliche Assistentin bei den Staatlichen Museen zu Berlin. Sie war Fellow in der Forschungsgruppe »No Laughing Matter. Visual Humor in Ideas of Race, Nationality, and Ethnicity« am Dartmouth College, Hanover/USA und am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald sowie Gastwissenschaftlerin am Institut für Kunstgeschichte an der Universidade Federal de São Paulo/Brasilien. Sie ist Mitbegründerin und Mitherausgeberin der Zeitschrift Querformat. Zeit genössisches, Kunst, Populärkultur. Publikationen u.a.: »Anziehen! Transkulturelle Moden/Dressed up! Transcultural Fashion«, Themenheft der Zeitschrift Querformat, Heft 6/2013; Karentzos, Alexandra/Reuter, Julia (Hrsg.) (2012): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden: Springer.
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Christiane Keim (Dr. phil. habil.) ist Kunstwissenschaftlerin und arbeitet als Universitätslektorin am Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen sowie als assoziierte Wissenschaftlerin am Mariann Steegmann Institut Kunst & Gender, Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Architektur und Kunst des 20. Jahrhunderts, Wohnen und Ausstellen in der Moderne, theoretische und methodische Ansätze der Gender Studies und der Visual Studies. Neuere Publikationen: Keim, Christiane/Schrödl, Barbara (Hrsg.) (2015): Architektur im Film, Bielefeld: transcript; Keim, Christiane (2016): »›Betten und Matratzen an die Sonne‹. Die Neue Wohnung und der Normalisierungs- und Sexualisierungsdiskurs in der Weimarer Republik«, in: Nierhaus, Irene/Heinz, Kathrin (Hrsg.): Matratze/Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur, Bielefeld: transcript, S. 205–222.
Florian Kornrumpf studierte an der Hochschule Trier zunächst Kommunika tionsdesign (B.A.) mit dem Schwerpunkt auf interdisziplinäre Konzepte, basierend auf der Kombination von Typographie, Illustration und Interaktivität. Es folgte sein Studium des Designs (M.A.) mit besonderem Fokus auf angewandtes Character Design, auf physiognomische Zeichensysteme und die Formsprache und Ausdruckskraft des »Guten und Bösen« sowie des »Schönen und Hässlichen« im Kontext der modernen Medien. Er ist derzeit als frei beruflicher Kommunikationsdesigner tätig und besitzt einen Lehrauftrag im Fach Medienkonzepte und Medienprojekte an der Hochschule Trier.
Astrid Silvia Schönhagen (M.A.) ist freie Kunsthistorikerin und Lektorin (u.a. bei der Daimler Art Collection, Berlin/Stuttgart). Sie studierte Kunstgeschichte, Medienwissenschaft und Betriebswirtschaftslehre in Trier, Stockholm und Kopenhagen und promoviert im Forschungsfeld »wohnen +/− ausstellen« an der Universität Bremen zu exotischen Bildtapeten. Ihre Forschungsschwerpunkte sind postkoloniale Theorie, Konsum und materielle Kultur in der Moderne, Interferenzen von Architektur und Mode/Kleidung sowie Interieur- und Wohndiskurse um 1800. Sie ist Mitherausgeberin der Bände Interieur und Bildtapete. Narrative des Wohnens um 1800 (transcript 2014) sowie medeamorphosen. Mythos und ästhetische Transformation (Fink
Die Autorinnen und Autoren
2010). Kürzlich erschienen: »Azra Akšamijas Wearable Mosques. Kleidung als transkulturelle Camouflage«, in: kunst und kirche (2) 2016, S. 4–11; »A la mode: pittoreske Ansichten vom Rhein. Das Interieur als Medium der Inszenierung von Rheinromantik und Westfalen-Mythos um 1800«, in: General direktion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Wieder salonfähig. Handbemalte Tapeten des 18. Jahrhunderts, Petersberg: Michael Imhof 2016, S. 162–176.
Gerald Schröder ist seit 2014 Professor für Design- und Kunstwissenschaft im Fachbereich Gestaltung an der Hochschule Trier. Zuvor hat er Professuren für Kunstgeschichte an den Universitäten in Heidelberg und Bochum vertreten. Am Kunstgeschichtlichen Institut der Ruhr-Universität Bochum war Gerald Schröder zuvor auch als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Akademischer Oberrat tätig. Seine Habilitation im Fach Kunstgeschichte erfolgte 2008 mit einer Arbeit über Schmerzensmänner – Trauma und Therapie in der österreichischen und westdeutschen Kunst der 1960er Jahre. Promoviert hat er im Jahr 2000 über italienische Kunsttheorie im 16. Jahrhundert. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehören: Schröder, Gerald/Söll, Änne (Hrsg.) (2015): Der Mann in der Krise? Visualisierungen von Männlichkeit im 20. und 21. Jahrhundert, Köln: Böhlau; Schröder, Gerald (2015): »Design als Täuschungsmanöver: Alessandro Mendinis kritische Revision des Modernismus«, in: Scholz, Martin/Weltzien, Friedrich (Hrsg.): Design und Krieg, Berlin: Reimer, S. 141–160.
Änne Söll ist Professorin für Kunstgeschichte der Moderne mit einem Schwerpunkt in der Kultur- und Geschlechtergeschichte am Kunstgeschichtlichen Institut der Ruhr Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte sind die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts mit dem Fokus auf Geschlechterthemen, Affektforschung, Mode, Zeitschriften, Videokunst und Fotografie. Ihre Habilitation über Männlichkeit in den Porträts von Otto Dix, Christian Schad und Anton Räderscheidt ist 2016 bei Fink erschienen und sie arbeitet nun an einem Forschungsprojekt zum period-room.
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Christina Threuter ist Professorin für Kunst-, Design- und Kulturgeschichte an der Hochschule Trier im Fachbereich Gestaltung. Sie promovierte 1993 an der Johannes Gutenberg Universität Mainz und habilitierte sich 2006 an der Universität Trier. Sie lehrte und forschte an verschiedenen Hochschulen und war Kuratorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin zahlreicher kunst- und kulturgeschichtlicher Ausstellungen. Von 1994 bis 2006 war sie Mitherausgeberin der Fachzeitschrift FKW// Zeitschrift für Geschlechterforschung und Visuelle Kultur (Jonas Verlag, Marburg). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Visuellen und Materiellen Kultur sowie in der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts; zuletzt sind von ihr erschienen: »Raum, Affekt und Geschlecht: Eine Analyse des Architekturfilms ›Loos ornamental. Architektur als Autobiographie‹ von Heinz Emigholz«, in: Keim, Christiane/Schrödl, Barbara (Hrsg.) (2015): Architektur im Film. Korrespondenzen zwischen Film, Architekturgeschichte und Architekturtheorie, Bielefeld: transcript, S. 215– 229; »Eine Architektur der Einfühlung: Eileen Grays Wohnhaus E.1027«, in: Göbel, Hanna Katharina/Prinz, Sophia (Hrsg.) (2015): Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld: transcript, S. 177–193.
Jessica Ullrich (Dr. phil.) ist seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin für Human-Animal Studies an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg und Herausgeberin des akademischen Journals Tierstudien. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft und Ästhetik der Universität der Künste Berlin sowie Kuratorin für Bildung und Vermittlung am Kunstpalais Erlangen. Promoviert hat sie 2001 in Frankfurt zur zeitgenössischen Wachsplastik im kulturhistorischen Kontext. Sie ist Repräsentantin von Minding Animals Germany und hat zur Tier-MenschBeziehung in der Kunst international publiziert, Ausstellungen kuratiert und Konferenzen organisiert.
Friedrich Weltzien ist Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler, seit 2013 Professor für Kreativität und Wahrnehmungspsychologie an der Hochschule Hannover, Abteilung Design und Medien. Zuvor war er Gastprofessor für Kulturgeschichte an der Kunsthochschule Berlin Weißensee, Assistent am Lehrstuhl für Kunstgeschichte des Instituts für Künste und Medien der Uni-
Die Autorinnen und Autoren
versität Potsdam und Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte liegen in der Kunst- und Designtheorie vom 18. bis ins 21. Jahrhundert und der Vernetzung zwischen Kunst-, Medienund Wissenschaftsgeschichte. Er ist Spezialist für ästhetische Theorien des Flecks. Lehrinhalte werden u.a. zu Comicgeschichte, Medientheorie der Mode, Raumtheorien, experimentellen Bildpraktiken oder interkultureller Kommunikation angeboten. Ein methodischer Fokus ist in Forschung und Lehre auf die Produktionsästhetik gerichtet.
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Kunst- und Bildwissenschaft Marius Rimmele, Klaus Sachs-Hombach, Bernd Stiegler (Hg.) Bildwissenschaft und Visual Culture 2014, 352 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2274-4
Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.) Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3272-9 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich E-Book: ISBN 978-3-8394-3272-3
Michael Bockemühl Bildrezeption als Bildproduktion Ausgewählte Schriften zu Bildtheorie, Kunstwahrnehmung und Wirtschaftskultur (hg. von Karen van den Berg und Claus Volkenandt) Oktober 2016, 352 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3656-7 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3656-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kunst- und Bildwissenschaft Leonhard Emmerling, Ines Kleesattel (Hg.) Politik der Kunst Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken Oktober 2016, 218 S., kart., 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3452-5 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3452-9
Werner Fitzner (Hg.) Kunst und Fremderfahrung Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen September 2016, 260 S., kart., zahlr. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3598-0 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3598-4
Goda Plaum Bildnerisches Denken Eine Theorie der Bilderfahrung Juli 2016, 328 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3331-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3331-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Design bei transcript Claudia Banz
Social Design Gestalten für die Transformation der Gesellschaft
August 2016, 200 Seiten, kart. zahlr. Abb., 29,99 € ISBN 978-3-8376-3068-8 E-Book: 26,99 € Kann man Gesellschaft durch Gestaltung transformieren? Welche Optionen besitzen die Designer und welche Verantwortung tragen sie? Welche Diskurse werden um die Erweiterung des Designbegriffs geführt und wie sieht die Zukunft des Designs aus? Designer, Design- und Kulturwissenschaftler, Kuratoren und Hochschullehrer fokussieren und hinterfragen das aktuelle Phänomen des Social Design. Die Beiträge untersuchen aus transdisziplinärer Perspektive die soziokulturelle Relevanz sowie das transformative Potenzial von Social Design und formulieren eine Agenda für die Designer von morgen. »Das Buch bietet auch einer breiteren Leserschaft einen verständlichen Überblick, und, wichtiger noch, einen spielerischen Einblick in die Welt und das Selbstverständnis des Social Design.« (Dominik Zahrnt, Ökologisches Wirtschaften, 1/2017)
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