Wiederanfang und Ernüchterung in der Nachkriegszeit: Dem Althistoriker Hermann Strasburger in memoriam 3835311263, 9783835311268

In Leben und Oeuvre des Althistorikers Hermann Strasburger (1909-1985) spiegeln sich Deutsche Geschichte und Wissenschaf

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German Pages [56] Year 2013

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Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Hartmut Leppin: Hermann Strasburger und die Frankfurter Universität. Gedenkrede
Frank Bernstein: Zu Christian Meier
Christian Meier: Gedenkrede auf Hermann Strasburger anläßlich der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstags
Michael Maaser: Dokumente zu Hermann Strasburger im Universitätsarchiv Frankfurt
Verzeichnis der Nachrufe auf Hermann Strasburger
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Wiederanfang und Ernüchterung in der Nachkriegszeit: Dem Althistoriker Hermann Strasburger in memoriam
 3835311263, 9783835311268

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Wiederanfang und Ernüchterung in der Nachkriegszeit Dem Althistoriker Hermann Strasburger in memoriam

Schriftenreihe des Frankfurter Universitätsarchivs Herausgegeben von Notker Hammerstein und Michael Maaser Band 4



Wiederanfang und Ernüchterung in der Nachkriegszeit Dem Althistoriker Hermann Strasburger in memoriam Herausgegeben von Frank Bernstein und Hartmut Leppin

WALLST EIN V ER LAG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © Wallstein Verlag, Göttingen 2013 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf unter Verwendung einer Fotografie von Hermann Strasburger Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen ISBN (Print) 978-3-8353-1126-8 ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-2299-8

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Hartmut Leppin Hermann Strasburger und die Frankfurter Universität Gedenkrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Frank Bernstein Zu Christian Meier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Christian Meier Gedenkrede auf Hermann Strasburger anläßlich der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Michael Maaser Dokumente zu Hermann Strasburger im Universitätsarchiv Frankfurt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Verzeichnis der Nachrufe auf Hermann Strasburger . . . . . . . . 55

Vorwort In Leben und Œuvre des Althistorikers Hermann Strasburger (19091985) spiegeln sich Deutsche Geschichte und Wissenschaftsgeschichte in eindringlicher Weise. 1931 in Frankfurt a. M. promoviert, wurde Strasburger 1936 als sogenanntem Vierteljuden oder auch Mischling zweiten Grades die Habilitation versagt. Gleichwohl in die Wehrmacht eingezogen, kehrte er schwerverwundet aus dem Krieg zurück. 1946 konnte er sich in Heidelberg habilitieren, seine alte Alma mater bot ihm bald darauf eine Diätendozentur, 1955 erhielt er dort den Lehrstuhl für Alte Geschichte. Als Opfer der Geschichte war sein Blick für die Perspektive des leidenden Zeitgenossen geschärft. Sogenannte Große Männer konnte er – im Unterschied zu manchem Kollegen der Nachkriegszeit – nicht mehr erkennen. Caesar etwa war ihm kein Staatsmann. Anläßlich des 100. Geburtstages von Hermann Strasburger veranstaltete das Historische Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. eine vielbeachtete Gedenkfeier, deren Beiträge hier mit Anmerkungen versehen vorgelegt werden. Im Zentrum steht die bewegende Rede seines Frankfurter Schülers Christian Meier. Beigelegt sind Aktenstücke aus dem Universitätsarchiv, die Schlaglichter auf das akademische Leben in der Nachkriegszeit werfen, ein Verzeichnis der Nachrufe auf Hermann Strasburger beschließt diesen kleinen Band. Unser Dank gilt zunächst und vor allem Christian Meier für seine fachliche und menschliche Würdigung, die uns Hermann Strasburger nähergebracht hat. Gisela Strasburger begleitete unser Vorhaben wohlwollend herzlich und unterstützte es darüber hinaus mit Auskünften und der freundlichen Überlassung einer bislang unveröffentlichten Photographie ihres Mannes. Die Mitarbeiter der Abteilung für Alte Geschichte waren uns eine große Hilfe, insbesondere Alexandra Hasse-Ungeheuer, Milena Klumbies und – traurigerweise viel zu früh verstorben – Irmgard Staub. In unseren Dank schließen wir auch die Musiker ein, die die Feier klangvoll rhythmisierten. Notker Hammerstein und Michael Maaser ­boten freundlicherweise eine Veröffentlichung in der von ihnen herausgegebenen Schriftenreihe des Frankfurter Universitätsarchivs an, darüber hinaus danken wir Herrn Maaser und seinen Archivmitarbeitern für die diplomatischen Abschriften aus der Personal- und der Berufungsakte Strasburgers. Auch die Archive der Badischen Zeitung, des Kölner StadtAnzeigers und der Neuen Zürcher Zeitung sowie die nordamerikanische Association of Ancient Historians förderten durch freundliche Auskünfte 7

vorwort

vorliegendes Büchlein. Zu Dank verpflichtet sind wir schließlich dem Präsidium der Goethe-Universität Frankfurt a. M., der Vereinigung von Freunden und Förderern wie auch historiae faveo, dem Förder- und Alumniverein der Geschichtswissenschaften, deren Großzügigkeit die Gedenkfeier überhaupt ermöglichte. Frankfurt a. M., im März 2012 Frank Bernstein und Hartmut Leppin

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Hartmut Leppin

Hermann Strasburger und die Frankfurter Universität Gedenkrede

Liebe Frau Strasburger, lieber Herr Meier, hochverehrter Herr Vizepräsident, spectabiles, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, liebe Gäste und Freunde, wir gedenken heute Hermann Strasburgers als eines herausragenden Althistorikers, aber auch als eines Angehörigen der Frankfurter Universität, der in besonderer, doppelter Weise Opfer der Deutschen Geschichte war. Bevor wir zur wissenschaftlichen Würdigung Hermann Strasburgers kommen, gestatten Sie mir daher einige Worte zu seiner Biographie in der Frankfurter Zeit. Dabei schöpfe ich hauptsächlich aus dem Material des Universitätsarchivs, das sein Leiter Dr. Michael Maaser großzügig zur Verfügung gestellt hat, aus den Erinnerungen Strasburgers und aus einigen wenigen Gesprächen, die ich mit seinen Weggefährten führen durfte, ferner aus den Nachrufen.1 Der Jahrgang 1909 brachte drei Althistoriker hervor, die das Profil des Faches in der frühen Bundesrepublik auf ganz unterschiedliche Weise prägen sollten. Hermann Bengtson, der den Stil einer nüchternen Quellen1 Bei den Archivalien handelt es sich hauptsächlich um folgende Bestände: Universitätsarchiv Frankfurt a. M. (UAF): Studentenakte Hermann Strasburger; Abt. 436, Nr. 423 (Promotionsakte); UAF, Abt. 13, Nr. 214 (Kuratorakten: Berufung 1954); Personalakte Hermann Strasburger. Für die Lebensdaten besonders wichtig ist W. Schmitthenner, Biographische Vorbemerkung, in: Hermann Strasburger, Studien zur Alten Geschichte I, Hildesheim 1982, XVII-XXXIV; zur Würdigung seines Werks Christian Meier, Gedächtnisrede auf Hermann Strasburger, Chiron 16 (1986), 171-197 = Studien zur Alten Geschichte III, Wiesbaden 1990, 503-529; aufschlussreich ist Hermann Strasburgers Antrittsrede bei der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 21. November 1964, in: Ders., Studien zur Alten Geschichte 2, Hildesheim/New York 1982, Nr. 25, 959-962. Zu den Nachrufen s. den Anhang.  – Diese Bemerkungen können nur einen vorläufigen Charakter haben; eine Auswertung des Nachlasses und des Briefwechsels lässt noch erheb­liche Ergebnisse erwarten.

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Hartmut Leppin

aufarbeitung und fußnotenstarker Handbücher verkörperte,2 Alfred Heuß, der auch literarisch brillante, urteilsstarke Historiograph mit einem Blick, der weit über die Antike hinausging,3 schließlich Hermann Strasburger, über dessen Werk Christian Meier gleich Näheres sagen wird. Alle drei hatten einen bildungsbürgerlichen Hintergrund. Sie wurden in einem geringen zeitlichen Abstand promoviert, Strasburger 1931 in Frankfurt, Heuß 1933 in Leipzig, Bengtson 1935 in München, alle drei verfolgten die wissenschaftliche Lauf bahn weiter. Keiner der drei Gelehrten, die ihren bildungsbürgerlichen Habitus weiter pflegten und biologistischen Denkmustern fernstanden, entsprach dem im Nationalsozialismus gewünschten Typus des Professors, und alle drei sahen sich während ihrer weiteren Lauf bahn politischen Schwierigkeiten gegenüber. Alfred Heuß habilitierte sich dennoch 1936 in Leipzig, 1941 erhielt er eine Professur in Breslau. Hermann Bengtsons Habilitation schien in München nicht möglich; sie gelang 1940 in Heidelberg, und bereits 1942 wurde der Privatdozent nach Jena berufen. Beide hatten unweigerlich manche politische Zugeständnisse machen müssen, um ihre Karrieren verfolgen zu können, da das gesamte Hochschulwesen einer dichten politischen Kontrolle unterlag. 2 Zu ihm Hatto H. Schmitt, Hermann Bengtson 2. 7. 1909-2. 11. 1989. Gedenkrede am 15. Juni 1990, in: Jakob Seibert (Hg.), Hellenistische Studien. Gedenkschrift für Hermann Bengtson (Münchener Arbeiten zur Alten Geschichte 5), München 1991, 9-16; Jakob Seibert, Hermann Bengtson. Professor in München 1. 3. 196630. 9. 1977, in: Ders. (Hg.), 100 Jahre Alte Geschichte an der Ludwig-Maximi­liansUniversität München (1901-2001), Berlin 2002, 160-173; Stefan Rebenich, Hermann Bengtson und Alfred Heuß. Zur Entwicklung der Alten Geschichte in Zwischen- und Nachkriegszeit, in: Volker Losemann (Hg.), Alte Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik. Gedenkschrift Karl Christ (Philippika 29), Wiesbaden 2009, 181-208. Zu den weiteren Zusammenhängen Karl Christ, Römische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft, München 1982; Ders., Hellas. Griechische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft, München 1999. 3 Zu ihm Hans-Joachim Gehrke (Hg.), Alfred Heuß. Ansichten seines Lebenswerkes. Beiträge des Symposions »Alte Geschichte und Universalgeschichte, Wissenschaftsgeschichtliche Aspekte und Historisch-Kritische Anmerkungen zum Lebenswerk von Alfred Heuß«, Göttingen, 16. und 17. Mai 1996, Stuttgart 1998; S. Rebenich, Alfred Heuß: Ansichten seines Lebenswerkes. Mit einem Anhang: Alfred Heuß im Dritten Reich, in: Historische Zeitschrift 271 (2000), 661-673; ­Rebenich 2009; s. auch sein Selbstzeugnis De se ipse, in: Jochen Bleicken (Hg.), Colloquium aus Anlass des 80. Geburtstages von Alfred Heuß, Kallmünz 1993, 171221; auch in Ders., Gesammelte Schriften Bd. 1, Stuttgart 1995, 777-827. Weniger einflußreich in Hinblick auf die disziplinäre Entwicklung als die Genannten war Herbert Nesselhauf, der ebenfalls 1909 geboren wurde.

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Hermann Strasburger und die Frankfurter Universität

Hermann Strasburger stellte an der Frankfurter Universität ein Habilitationsgesuch, doch zwang ihn das Berliner Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, das weite Teile des Hochschulwesens an sich gezogen hatte, dieses zurückzuziehen.4 Derartige Eingriffe waren, auch unabhängig von rassistischen Motiven, keineswegs untypisch für die Zeit. Der politische Druck lastete, wie es scheint, in einem besonderen Maße auf der Frankfurter Universität, gerade weil sie ungewöhnlich war in ihrer Zeit.5 Erst kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs war sie gegründet worden, nicht von einem Monarchen, sondern vom Frankfurter Bürgertum und der Stadt. Ihre rechtliche Grundlage bildete eine Stiftung, die 1912 erfolgt war. Man knüpfte dabei an ältere Einrichtungen an, die aber eher praxisorientiert waren wie eine medizinische Hochschule. Die Universität blieb bis 1967 in der Kuratel der Stadt, danach ging sie auf das Land über, seit 2008 ist sie wieder eine Stiftungsuniversität und bestrebt, an die vormalige Tradition anzuschließen, soweit dies angesichts der vollkommen gewandelten Umstände möglich ist. Zurück zur Geschichte: Der Krieg verhinderte, daß die frisch gegründete Universität sofort ihre Arbeit aufnehmen konnte, erst 1919 begann das eigentliche Universitätsleben. Es gelang nicht zuletzt dank dem großzügigen Stiftungskapital, das auch die Inflation zum Teil überlebte, hochrangige Berufungen durchzuführen. Unter den Berufenen waren viele, denen anderswo aus politischen, auch aus rassistischen Gründen die Berufung verweigert worden war; gerade jüdische Gelehrte wurden akzeptiert. Oft zeigte sich bei den Stellenbesetzungen ein bemerkenswerter Mut, auch Außenseiter zu berücksichtigen. Lassen Sie mich einige Namen aus zwei besonders erfolgreichen Fachgebieten nennen: Der Althistoriker Matthias Gelzer (1886-1974), der Klassische Philologe Karl Reinhardt (1886-1958) und der Klassische Archäologe Ernst Langlotz (1895-1978) etwa wirkten hier für den Bereich der Altertumswissenschaften, Friedrich Dessauer (1881-1963) sowie die späteren Nobelpreisträger Max von Laue (1879-1960) und Max Born 4 UAF, Abt. 13, Nr. 214, Bl. 3. 5 Grundlegend zu ihrer Geschichte Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. Bd. 1. Von der Stiftungsuniversität zur staat­ lichen Hochschule 1914-1950. Neuwied 1989. (Bd. 2 und 3 im Erscheinen); s. ferner Paul Kluke, Die Stiftungsuniversität Frankfurt a. M. 1914-1932, Frankfurt a. M. 1972; Jörn Kobes / Jan-Otmar Hesse (Hgg.), Frankfurter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945 (Schriftenreihe des Frankfurter Universitätsarchivs, Bd. 1), Göttingen 2008. Dort auch im Einzelnen zu den unten erwähnten Gelehrten.

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Hartmut Leppin

(1882-1970) waren als Physiker tätig. Auch neue Fächer wurden eingerichtet, wie die Soziologie, die mit Franz Oppenheimer (1864-1943) herausragend besetzt wurde. Julius Ziehen (1864-1925) bekleidete den ersten Lehrstuhl für Pädagogik an einer preußischen Universität. Mit dem Institut für Sozialforschung entstand in Frankfurt 1924 eine Einrichtung, die einzigartig war im Deutschen Reich, geleitet zunächst von Carl Grünberg (1861-1940), später von Max Horkheimer (1895-1973). Eine theologische Fakultät gab es nach dem Willen der Stifter ausdrücklich nicht, wohl aber lehrten hier der christliche Theologe Paul Tillich (1886-1965) und der jüdische Theologe Martin Buber (1878-1965). Es war ohne Zweifel eine gelungene, für das deutsche Universitätssystem wichtige Neugründung, eine herausragende Universität der zwanziger Jahre, die das Frankfurter Bürgertum sich geschenkt hatte, und dieses Bürgertum war bereit, auch sozialistische Positionen gelten zu lassen. Eine für damalige Verhältnisse ungezwungene Kommunikation zwischen den Angehörigen der Universität scheint ebenso für weite Bereiche charakteristisch gewesen zu sein. An der Medizinischen Fakultät vertrat Julius Strasburger (1871-1934) die Innere Medizin und wirkte zugleich für die Verbesserung der Gesundheitspolitik in der Stadt.6 Die Strasburgers waren eine Familie der »akademischen Nobilität«, wie es Walter Schmitthenner in seinem Nachruf auf Hermann Strasburger ausgedrückt hat.7 Der Vater von Julius Strasburger, Eduard Strasburger (1844-1912), der in Warschau geboren war, machte in Deutschland als Botaniker Karriere, schließlich als Ordinarius in Bonn, wo er auch des Rektorats gewürdigt wurde. Er verfaßte gemeinsam mit Kollegen ein Lehrbuch, das bis heute, vielfach überarbeitet, in dem Fach als »der« Strasburger (36. Aufl. 2008) bekannt war und noch heute als Lehrbuch der Botanik. Begründet von E. Strasburger weitergeführt wird.8 Hermann Strasburger setzte sich von der Tradition der Familie ab, nicht so sehr durch die Berufs-, wohl aber durch die Fächerwahl. Am 21. Juni 1909 in Bonn geboren, begann er seine Gymnasialzeit am Frankfurter Lessing-Gymnasium, dem traditionsbewußten humanistischen Gymnasium des städtischen Bürgertums, wechselte später aber an eine Reformschule, die Musterschule. Schließlich entschied er sich für das 6 Zu ihm wie überhaupt zum familiären Hintergrund Gabriele Möbus-Weigt, Der Frankfurter Internist und physikalische Therapeut Julius Strasburger (1871-1934), Diss. Frankfurt a. M. 1996. 7 Schmitthenner 1982, XXII. Er greift damit eine von Matthias Gelzer geprägte Wendung auf. 8 Zur Bedeutung dieses Werks und seines Inaugurators: Hildegard Finke, 100 Jahre Strasburgers Lehrbuch der Botanik für Hochschulen 1894-1994, Heidelberg 1994.

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Hermann Strasburger und die Frankfurter Universität

Studium der Geschichte und alten Sprachen, obwohl er dafür, wie er in einem Lebenslauf ausdrücklich erwähnt, noch eine Ergänzungsprüfung im Griechischen abzulegen hatte; die beiden Brüder dagegen blieben der naturwissenschaftlich-medizinischen Familientradition treu. Zunächst hörte Strasburger bei den Kollegen seines Vaters, namentlich dem Schweizer Matthias Gelzer, bezog aber auch die Universitäten von München und Innsbruck; der Universitätswechsel gehörte damals zu den Selbstverständlichkeiten und war offenbar dank geringster Regulierung auch unschwer möglich. 1931 legte Strasburger seine Dissertation in Frankfurt vor; als Erstgutachter fungierte Gelzer, als Zweitgutachter der Klassische Philologe Walter F. Otto (1874-1958). Das Thema der stark von seinem Lehrer geprägten Arbeit lautete Concordia ordinum. Eine ­Untersuchung der Politik Ciceros. In einer genauen begriffs- und ideen­ geschichtlichen Studie zeichnet Strasburger Cicero, dem Althistoriker in der Tradition Theodor Mommsens (1817-1903) oft mit Häme begegneten, als eine Gestalt, die sich zunehmend von Standes- wie von persönlichen Interessen löst und im Sinne des Staates handelt. Gelzer, der die Arbeit mit »sehr gut« bewertete, faßt sein Urteil in seinem Gutachten folgendermaßen zusammen: »Ich halte die Arbeit für ein erfreuliches specimen eruditionis. Der verfasser [sic] hat sich durch eindringende Cicerolektüre lebendige Anschauungen von den damaligen politischen Zuständen gewonnen und sich so in die Lage versetzt, förderlich davon zu handeln. Auch die neuere wissenschaftliche Literatur ist kritisch verwendet.«9 Nach der Promotion setzte Strasburger seine Studien fort, unter anderem in Freiburg bei Walter Kolbe (1876-1943). Dann kam 1933. So stark das liberale Element war, als ein Hort des Widerstands erwies sich die Frankfurter Universität nicht. Gerade wegen des Rufes der Liberalität war diese Universität anscheinend besonders aggressiven Attacken ausgesetzt, auch die Schließung der Anstalt, die als jüdisch-marxistische Hochburg geschmäht wurde, stand im Raum. Eine beträchtliche Zahl von Studenten hatten schon lange und auch mit Gewaltakten ihr Bekenntnis zum Nationalsozialismus demonstriert, auf dem Römerberg brannten am 10. Mai 1933 wie in vielen Universitäts­ städten in Deutschland Bücher. Der Aderlaß unter den Professoren, Mitarbeitern und Studenten war in Frankfurt noch größer als an anderen Universitäten. 109 von 355 Dozenten wurden aus rassischen und politischen Gründen entlassen, zahlreiche Studenten wegen ihrer politischen 9 UAF, Abt. 136, Nr. 423, Bl. 5. Beim Rigorosum scheint es Schwierigkeiten gegeben zu haben; jedenfalls wurde es nur mit »genügend« bewertet (UAF, Abt. 136, Nr. 423, Bl. 10V).

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Hartmut Leppin

Orientierung oder aus rassischen Gründen von der Universität verwiesen. Große Gelehrte wie Theodor W. Adorno (1903-1969), Friedrich Dessauer, Max Horkheimer, Ernst Kantorowicz (1895-1963), Paul Tillich oder Max Wertheimer (1880-1943), um nur einige Namen zu nennen, mußten emigrieren. Der überzeugte Nationalsozialist Ernst Krieck (1882-1947) wurde Rektor, ging aber nach Heidelberg; 1934 übernahm der ehrgeizige Historiker Walter Platzhoff (1881-1969) das Amt, damals zwar kein Partei­ mitglied und wohl bereit, direkte Eingriffe der Partei in die Stellen­ besetzungspolitik abzuwehren, aber am Ende doch ein Vollstrecker der nationalsozialistischen Politik an seiner Hochschule. Manch einer sah gerade in dieser Zeit die Chance, durch die Denunziation eines anderen das eigene Fortkommen zu befördern. Auch gegen Hermann Strasburgers Vater, dessen Nachname Verdacht erregte, wurde eine Intrige gesponnen, insbesondere durch frühere Schüler, unter denen Heinrich Lampert sich besonders unrühmlich hervortat. Am 28. September 1934 wurde Julius Strasburger aus dem Amt entfernt, da er nicht Arier im Sinne des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 sei. Dieser »rassische Status« war der Familie offenbar zunächst nicht bewußt gewesen. Julius Strasburger erlag wenige Wochen später, von Depressionen heimgesucht, einer Angina pectoris.10 Hermann Strasburger, der seit 1931 Übungen an der Freiburger Universität abhielt, wurde 1934 wegen seiner jüdischen Großmutter der Lehrauftrag entzogen. Als ›Mischling 2. Grades‹, wie es in der damaligen pseudowissenschaftlichen Terminologie hieß, verlor er jegliche Möglichkeit, in ein Dienstverhältnis zu einer deutschen Universität zu treten. In Frankfurt scheint Matthias Gelzer, der auch an der nationalsozialistischen Universität lange als Dekan fungierte und sich damit durchaus in den Dienst des Systems nehmen ließ, versucht zu haben, seine schützende Hand über Strasburger zu halten, doch nur mit begrenztem Erfolg.11 Ein Gesuch zur Habilitation wurde zunächst sogar im Ministerium angenommen, mußte aber, wie erwähnt, wieder zurückgezogen werden, nachdem Strasburger schon seine Unterlagen eingereicht hatte. Unter bedrückenden Umständen, zurückgezogen lebend, setzte Strasburger die Forschungen fort und veröffentlichte eine Reihe bedeutender Arbeiten. In seinem nach dem 10 Ich folge hier Hammerstein 1989, 230 f., 317 f., 341 f.; vgl. auch Möbus-Weigt 1996, 71-82, wo vor allem die Auszüge von Briefen von Bedeutung sind. 11 Die Rolle Gelzers an der nationalsozialistischen Universität bedürfte einer näheren Untersuchung. Von vielen (aber durchaus nicht allen) Seiten wird ihm persönliche Honorigkeit attestiert, auf der anderen Seite hat er sich bemerkenswert lange in einer exponierten Position halten können.

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Hermann Strasburger und die Frankfurter Universität

Krieg geschriebenen Lebenslauf sagt er zu dieser schwierigen Phase seines Lebens nur weniges: »Seitdem (sc. der Unterbindung der Habilitation) habe ich alle Versuche, im Dritten Reich wieder in Tätigkeit zu kommen, eingestellt. Da ich mich andererseits nicht entschliessen konnte, meinen Beruf oder mein Vaterland preiszugeben, verbrachte ich die Jahre bis Kriegsbeginn in privater wissenschaftlicher Arbeit auf dem Gebiet der ­Alten Geschichte, teils in Frankfurt, teils in München.«12 Hinter diesen nüchternen Worten verbirgt sich ein hartes Schicksal. Die Situation von Menschen, die sich als Deutsche fühlten, denen aber die Zugehörigkeit zur deutschen Kultur abgesprochen wurde, ist heute schwer nachzuempfinden. Die Tagebücher Victor Klemperers, der als mit einer Nichtjüdin verheirateter Jude und entlassener Universitäts­ professor in Dresden überlebte, vermögen vielleicht einen Eindruck von dem Leben zu geben, von den fortwährenden Demütigungen, von dem Grübeln über die Zukunft, von dem Stolz, sich in dieser Welt als Träger einer kulturellen Tradition zu behaupten. Strasburger machte sich mit seinen im Privatgelehrtentum entstandenen vielseitigen Arbeiten auch international einen Namen. Aus England kamen Angebote, unter anderem das von Oxford University Press, eine Caesarbiographie zu schreiben. Ronald Syme suchte den wenig jüngeren Kollegen in Frankfurt auf. Aber Strasburger wollte, wie er es formulierte, sein geistiges Bürgerrecht in Deutschland nicht aufgeben.13 Sein sogenannter rassischer Status im Dritten Reich verhinderte nicht, daß Strasburger im Mai 1940 als Funker zur Wehrmacht eingezogen wurde, doch durfte er andererseits nicht über den Rang eines Obergefreiten hinausgelangen. Er diente in Frankreich, wurde dann an die gefährlichere Ostfront versetzt, wo ihn eine schwere Verwundung traf. Im Mai 1945 wurde er aus dem Lazarett und zugleich aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Geistig ungebrochen, kehrte er zu seinen Forschungen zurück und habilitierte sich 1946 auf Anraten seines Mentors Gelzer in Heidelberg bei Hans Schaefer, wo er eine Assistentenstelle hatte übernehmen können, was ihm zunächst eine materielle Lebensgrundlage bot. 12 Personalakte Strasburger (UAF Abt. 4, 204, 1), Lebenslauf 1947; vgl. auch Dokument 2; ähnlich Dokument 3 im Anhang. 13 Zitat nach Schmitthenner, 1982, XXX. – Zur Geschichte der Geisteswissenschaften während des Nationalsozialismus s. F.-R. Hausmann, »Deutsche Geisteswissenschaft« im Zweiten Weltkrieg. Die »Aktion Ritterbusch« (1940-1945) (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 12), Heidelberg 20073, für die Altertumswissenschaften insbes. 116-129; Ders., Die Geisteswissenschaften im »Dritten Reich«, Frankfurt a. M. 2011, 116-129 zum »Kriegseinsatz« der Altertumswissenschaften.

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Hartmut Leppin

Auch in seiner Heimatstadt erinnerte man sich an ihn. Das Groß­ hessische Staatsministerium für Kultus und Unterricht wies in einem Schreiben vom 26. März 1946 an den Dekan der Philosophischen Fakultät ausdrücklich darauf hin, daß Hermann Strasburger von der Frankfurter Universität zu unterstützen sei.14 Dennoch dauerte es einige Zeit, bis ihm konkrete Hilfe zuteil wurde. Ob dies den schwierigen Verhältnissen oder Widerständen zuzuschreiben ist, verraten die Akten nicht. Strasburger vertrat 1947 in München einen Lehrstuhl, im Wintersemester 47 /48 erfolgte seine Umhabilitierung nach Frankfurt, wo man ihm nach einem langwierigen Verfahren zum 1. Oktober 1948 eine Diätendozentur verlieh, so daß er nun ein festes Auskommen gewann. Die Begründung für die Verleihung des Amtes formulierte man vor allem unter fachwissenschaftlichen Gesichtspunkten, doch folgte eine aufschlußreiche Schlußbemerkung: »Es darf mir grosser Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass er (Strasburger), wenn er sich 1936 hätte habilitieren können, bereits eine Professur erlangt hätte. Die Fakultät hält es daher für ein Gebot der Gerechtigkeit, dass seinem Wunsch, an der Universität Frankfurt zu lehren, die nachgesuchte wirtschaftliche Grundlage geschaffen wird.«15 Am 14. Oktober 1949 wurde Strasburger zum apl. Professor ernannt. Die Zusammenarbeit mit seinem alten Lehrer entwickelte sich offenbar harmonisch. In seinem Nachruf auf Matthias Gelzer blickt Hermann Strasburger auf diese Jahre in elegischer Stimmung zurück: »Vom Kriegsende bis zu seiner Emeritierung (1955) war Gelzer nun noch ein Jahrzehnt der vollen Berufstätigkeit in energischer Mitarbeit am Wiederauf bau ­vergönnt – gerade jenes rühmliche, unvergeßliche Jahrzehnt des geistigen Neubeginnens!«16 Beide Historiker waren äußerst produktiv und scheinen gut zusammengearbeitet zu haben, obwohl es durchaus fachlichen Dissens gab, zumal über die Frage, ob Caesar ein Staatsmann gewesen sei; sie trugen ihn öffentlich aus, mit Takt und Stil.17 Es gibt auch andere Ansichten vom damaligen Zustand der Frankfurter Universität. 1948 hielt Max Horkheimer sich zu Sondierungen in Frankfurt auf und erweckte in einem Brief an seine Frau vom 5. Juni den 14 Fakultätsakte 64: 26. 3. 1946. S. Dokument 1 im Anhang. 15 Personalakte Strasburger 5. 16 Hermann Strasburger, Nachruf auf Matthias Gelzer, in: Gnomon 47 (1975), 817824, hier: 821 = Ders., Studien zur Alten Geschichte III, Hildesheim 1982, 1-8, hier: 5. 17 S. dazu Hartmut Leppin, Hermann Strasburger – Die Vindizierung des Zeit­ genossen, in: Volker Losemann (Hg.), Alte Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik. Gedenkschrift Karl Christ (Philippika. Marburger altertumskund­ liche Abhandlungen 29), Wiesbaden 2009, 149-162.

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Hermann Strasburger und die Frankfurter Universität

Eindruck, als habe Gelzer mit einigen andern nicht mehr als eine ab­ stoßende Kontinuität zum Dritten Reich verkörpert.18 Zwei Jahre später kehrte Horkheimer indes nach Frankfurt zurück und wurde Dekan dieser Fakultät, deren weitere Entwicklung er wesentlich mitgestaltete. Aufs Ganze gesehen, gelang es Frankfurt trotz aller personeller Kontinuitäten vermutlich stärker als anderen deutschen Universitäten, Emi­ granten zurückzugewinnen und zu integrieren. Auch Strasburger, mit seinem exzeptionellen Lebenslauf, wurde redintegriert, und dies betrachtete man zumindest in den offiziellen Eingaben als einen Akt der Wiedergut­ machung. Verschiedentlich wurden Begünstigungen mit dem Hinweis dar­ auf, daß er ein »rassisch Geschädigter« und zugleich deutscher Schwerkriegsbeschädigter sei, beantragt und verliehen, allerdings in den fünfziger Jahren teils wieder in Frage gestellt. Sein Ansehen manifestiert sich darin, daß er in den Senat gewählt wurde und dem Wiederauf bauausschuß angehörte. Blicken wir auf seine Alterskollegen: Auch deren Karriere verlief nicht bruchlos, aber aus ganz anderen Gründen. Heuß verlor seine Heimat und seine Professur in Breslau, gelangte aber nach Kiel, wo er seit 1948 eine ­sichere Position einnahm; seine wissenschaftliche Lauf bahn beendete er in Göttingen. Bengtson konnte in Jena aus politischen Gründen nicht bleiben und wurde nach verschiedenen anderen Tätigkeiten 1952 nach Würzburg berufen, später kam er nach München. Beide gelangten früher auf ein Ordinariat als Strasburger. Hermann Strasburger wurde am 11. Januar 1955 zum Nachfolger Gelzers berufen, 20 Tage später nahm er den Ruf an. Sieben Gutachten waren für die Hausberufung angefordert worden; nach ihm wurden Herbert Nesselhauf (1909-1995) und Friedrich Vittinghoff (1910-1999) auf der Liste genannt. In dem Fakultätsgutachten wurde auch erwähnt, dass Strasburger in der Zeit des Nationalsozialismus »empfindlich geschädigt wurde« und dadurch Nachteile gegenüber seinen Altersgenossen hatte.19 Für Strasburger folgten sehr fruchtbare Jahre des Wirkens in Frankfurt. Er war ein angesehenes Mitglied der Fakultät, in der Selbstverwaltung weiter aktiv, 1956 /57 etwa als Dekan, gewann eine Reihe eindrucksvoller Schüler; seine wissenschaftliche Produktion belegte in dichten Studien seinen Rang. Am 2. Februar 1963 ereilte Strasburger der Ruf nach Freiburg, wohin er zum 1. Oktober wechselte. Dort waren ihm noch reiche Jahre eines vielfältigen Wirkens vergönnt. Er galt auch international 18 Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Bd. 17: Briefwechsel 1941-1948, Frankfurt a. M. 1996, Nr. 808, S. 979-981, hier: 980. 19 UAF Abt. 13, Nr. 214, Bl. 3.

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Hartmut Leppin

als ein führender Althistoriker seiner Zeit, wie die Würdigungen in verschiedenen ausländischen Zeitschriften zeigen. Auch wenn Strasburger die Frankfurter Universität wieder verließ, ist es unsere besondere Pflicht, seiner zu gedenken, und das tun wir nicht nur als Historisches Seminar, sondern mit der großzügigen Unterstützung der Freunde und Förderer dieser Universität und des Präsidiums, wofür ich herzlich danke. Denn diese Universität war die Alma mater Strasburgers und die Wirkungsstätte seines Vaters, doch auch der Ort, an dem ihnen beiden schweres Unrecht widerfuhr. Julius Strasburger wurde in demütigender Weise aus seinem Amt entfernt, seinem Sohn, der erfolgreich promoviert war, verweigerte man über Jahre das wissenschaftliche Fortkommen. Manche einzelne scheinen versucht zu haben, dagegen etwas zu unternehmen, andere waren wohl froh, daß lästige Konkurrenten ausgeschaltet wurden. Die Frankfurter Universität als Institution war nicht die einzige deutsche Universität, die in der ersten Nachkriegszeit prononciert bemüht war, Kollegen zurückzugewinnen, denen unter dem Nationalsozialismus Unrecht widerfahren war. Wenn sie dabei vielleicht erfolgreicher war als andere, so könnte man leicht in einen verkehrten Stolz auf diese Leistung unserer Universität verfallen, doch der Ausdruck Wiedergutmachung, der dann oft fällt, verharmlost das Ausmaß des Unrechts und den Umfang an Bösartigkeit und Ignoranz, die zuvor sich zeigten. Man darf ja nicht übersehen, daß die Universität lange brauchte, bis sie einem Mann wie Strasburger eine angemessene Position verschafft hatte. Dennoch verdient die Bereitschaft einiger Zeitgenossen, im Nationalsozialismus Strasburger Arbeitsmöglichkeiten zu geben, Respekt, ebenso die Bereitschaft von Angehörigen der Nachkriegsgeneration, die Nachkriegsuniversität zu erneuern. Mehr noch aber beeindruckt das Verhalten Strasburgers selbst, der sich weiter mit der Kultur identifizierte, aus der man ihn auszugrenzen versucht hatte, und der bereit war, an der Universität zu arbeiten, an der so viele Kollegen tätig waren, die die Phase des Nationalsozialismus ohne Schwierigkeiten, sogar begünstigt überstanden hatten und die ihn nur in langsamen Schritten zu der Position gelangen ließen, deren er würdig war.

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Zu Christian Meier Sehr geehrte, liebe Frau Strasburger, sehr geehrter, lieber Herr Meier, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Kommilitonen! Christian Meier arbeitete fast vier Jahre als Assistent mit Hermann Strasburger eng zusammen. Gemeinsam gaben sie in jenen Jahren die »Klei­ ne[n] Schriften« von Matthias Gelzer heraus,1 die Arbeiten des akademischen Lehrers von Strasburger, die auch für Meier prägend sein sollten.2 Von Strasburger betreut, habilitierte sich Herr Meier 1963 an unserer Universität mit jener längst klassischen »Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik«, überschrieben mit einer Cicero entlehnten Wendung: »Res publica amissa«.3 Im Jahr darauf folgte er als Privatdozent Strasburger nach Freiburg. Dies war Anlaß genug, Herrn Meier zu bitten, im Rahmen unserer Gedenkfeier zum 100. Geburtstag von Hermann Strasburger eine Rede auf 1 Matthias Gelzer, Kleine Schriften I-III, hrsg. von Hermann Strasburger und Chri­ stian Meier. Wiesbaden 1962; 1963; 1964. 2 Vgl. Christian Meier im Gespräch mit Stefan Rebenich, in: Neue Politische Literatur 49, 2004, 185-215, hier: 186 f.; s. auch Chr. M., Matthias Gelzers Beitrag zur Erkenntnis der Struktur von Gesellschaft und Politik der späten römischen Republik, in: Jochen Bleicken /Christian Meier / Hermann Strasburger, Matthias Gelzer und die römische Geschichte. (Frankfurter Althistorische Studien, Bd. 9) Kallmünz 1977, 29-56. – Vgl. im übrigen die aufschlußreichen Selbstauskünfte: Ulrich Raulff, Anthropologie im Kulturvergleich: Programm eines wissenschaftlichen Grenzgängertums. Ein Gespräch mit Christian Meier, in: Ders. (Hrsg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse. (Wagenbachs Taschenbücherei, Bd. 152) Berlin 1987, 163-182; Chr. M., Lehrstuhl Christian Meier, 1. 3. 1981-31. 3. 1997, in: ­Jakob Seibert (Hrsg.), 100 Jahre Alte Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München (1901-2001). (Ludovico Maximilianea. Forschungen, Bd. 19) Berlin 2002, 183-195; Chr. M., Antworten, in: Monika Bernett / Wilfried Nippel /Aloys Winterling (Hrsg.), Christian Meier zur Diskussion. Autorenkolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Stuttgart 2008, 259-310. 3 Chr. M., Res publica amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik. Wiesbaden 1966, Ndr. (mit einer »Einführung zur Neuausgabe«) Frankfurt a. M. 1980 u. ö.

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ihn zu halten. Hermann Strasburger aber zugleich mit Hilfe einer Persönlichkeit wie Christian Meier ehren zu können, ist ein Glück, das über persönliche Verbindungen hinausweist und ihn besonders empfiehlt. Daß wir Herrn Kollegen Meier in der Tat gewinnen konnten, ist Herrn Leppin und mir eine große Freude. Ihn vorzustellen, einen der bekanntesten Historiker Deutschlands, ist allerdings eine Herausforderung. Denn die mir für eine Vorstellung zur Verfügung stehende Zeit könnte ich leicht mit einer Auflistung seiner äußeren Lebensdaten und mit bi­ bliographischen Hinweisen auf sein reiches Œuvre vergeuden – und die Zeit würde dazu nicht einmal reichen. Der Ruf auf einen Lehrstuhl führte ihn rasch nach der Frankfurter ­Habilitation nach Basel, weitere Rufe dann nach Köln, wiederum nach Basel, auch nach Bochum, schließlich nach München, wo er 1997 emeritiert wurde. Zahlreiche Monographien und Aufsätze wie auch Aufsatzsammlungen, nicht zu reden von den vielen Essays in Monatsschriften und Artikeln in Tageszeitungen, verraten weitgespannte Interessen. Mit Büchern über »Caesar« und »Athen« hat Christian Meier aber auch das wissenschaftlich informierte Narrativ wieder zu Ehren gebracht, die hochreflektierte Erzählung, die sich pointiert einem breiten Publikum zuwendet.4 Noch Anfang dieses Jahres erschien ein weiteres solches Werk, mit dem schönen Titel »Kultur, um der Freiheit willen«, das auf der Suche nach dem »Anfang Europas« »Griechische Anfänge« in den Blick nimmt und nur der Auftakt eines in Aussicht gestellten großen Buches über »Die Alte Welt« ist.5 Viele seiner Werke wurden in mehrere europäische Sprachen übersetzt, manches sogar ins Koreanische. Darüber hinaus hat sich Christian Meier auch immer wieder in größere, weit über die engeren Grenzen unseres Faches hinausgreifende Debatten publizistisch eingemischt und aus der langen Sicht des Althistorikers manch ungewöhnliche Perspektive eingenommen – und das nicht nur, weil es Ämter verlangten, wie etwa im »Historikerstreit« und im Kampf gegen die desaströse Rechtschreibreform; das Ringen um die Wiedervereinigung Deutschlands war ihm an sich wichtig.6

4 Chr. M., Caesar. Berlin 1982 u. ö.; Ders., Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte. Berlin 1993 u. ö. 5 Vgl. Chr. M., Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfang Europas? München 2009, 333. 6 Siehe nur Chr. M., Deutsche Einheit als Herausforderung. Welche Fundamente für welche Republik? München / Wien 1990; Ders., Die Nation, die keine sein will. München / Wien 1991.

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Die hohe Wertschätzung seiner Person drückt sich nicht nur in Mitgliedschaften mehrerer deutscher wie ausländischer Akademien aus, sondern auch in besonderen Aufgaben und Ämtern. Fungierte er doch als Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands, dann auch als Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Damit nicht genug: Christian Meiers hohes Ansehen im Fach und weit darüber hinaus dokumentieren schließlich auch Ehrungen wie etwa in Form des Bielefelder »Autorenkolloquiums«, dann vor allem die zahlreichen Auszeichnungen und Preise, die er erhielt. So ist er, um nur eine Ehrung herauszuheben, Träger des Österreichischen Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst. Schon dieser bloße Aufriß, ich betone: Aufriß, seiner vielfältigen Interessen, Unternehmungen und Verdienste läßt auch diejenigen, die unserem Fach ferner stehen, ahnen, daß wir mit Christian Meier eine Persönlichkeit gewinnen konnten, um Hermann Strasburgers zu gedenken. Lassen Sie mich aber darüber hinaus noch kurz einige, gewiß subjektive Beobachtungen zu Herrn Meiers unverwechselbarem Profil als Forscher anschließen. Forschungsschwerpunkte zu nennen, wie es bei einer Vorstellung des Redners üblich ist, die Publikationen des Vorzustellenden einzelnen Forschungsfeldern zuzuordnen und, wie wir neuerdings zu sagen genötigt werden, den jeweiligen impact zu bewerten, nein: zu raten, gleichsam mit dem Lineal vermeintliche Fortschritte der Forschung zu vermessen, alles das, sehr geehrte Damen und Herren, hätte doch nur wieder etwas Li­ stenhaftes, ja auch Starres, würde uns am Ende über Herrn Meier doch nur wenig sagen. Es ist vielleicht am ehesten das Sich-Wundern, ja das Staunen über historische Phänomene, ebenso der Mut zum Vergleich (auch mit der Gegenwart), kurz: eine seltene Intensität des Fragens, die sein Werk durchzieht. Vielleicht – bitte, lieber Herr Meier, verstehen Sie meine Worte nicht falsch –, vielleicht wie ein Grieche des 5. Jahrhunderts v. Chr., der Fragen mit Fragen beantwortete, damit aber keineswegs auswich, sondern sich den Rätseln, welche die Welt aufgab, neugierig und vorbehaltlos, aber auch schutzlos stellte, so stellt sich auch Christian Meier der Geschichte. So überrascht es nicht, daß er sich für »Die politische Kunst der griechischen Tragödie« interessierte.7 Denn es war ja auch und gerade das Theater, wo die Fragen in aller Schärfe gestellt und buchstäblich durchgespielt wurden. Vermutlich haben nicht alle die im Titel des gleichnamigen Buches sprachlich gefaßte Pointe verstanden. Dieses, hier auf die 7 Chr. M., Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988.

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Attische Tragödie konzentrierte Fragen nach dem »Politischen« der Griechen markiert nicht einfach nur ein Forschungsfeld von Herrn Meier, sondern verrät viel über seine aus der Quellensprache gewonnenen, durch seine begriffsgeschichtlichen Studien8 geschärften Kategorien zur Durchdringung der Probleme. In ungewöhnlichen, ja heilsam irritierenden heuristischen Konzepten, die (auch konstruktiven) Widerspruch provozierten, ist Meiers Fragen sprachlich verdichtet: »Krise ohne Alternative« heißt es in der Frankfurter Habilschrift, um den unausweichlichen Zusammenbruch der Römischen Republik auf den Nenner zu bringen; seine Untersuchungen des Übergangs von den ›nomistischen‹ zu den ›kratistischen‹ ›Verfassungs‹­ begriffen führten auf eine unvermutete »Vor- und Frühgeschichte des Begriffs Demokratie«; »Könnens-Bewußtsein« war ihm eine Kategorie, um der Frage nach dem Fortschritt im Denken der Griechen beizukommen; »Anmut« kein poetischer außerwissenschaftlicher Ausdruck, vielmehr selbstverständlicher Begriff, um die uns so fremde politische Haltung der Griechen buchstäblich zu begreifen.9 Viele solcher Wendungen und Ausdrücke, ich kann hier nur weniges nennen, sind in den Sprachgebrauch der jüngeren Kolleginnen und Kollegen eingegangen. Davon zeugt nicht zuletzt das Lemma »Könnensbewußt8 Vgl. vor allem seine Mitarbeit am klassischen Referenzwerk Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland I-VII, hrsg. von Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck, Stuttgart 1972-1992, s. v. Adel; Anarchie; Demokratie; Fortschritt; Freiheit; Geschichte; Macht, Gewalt; Revolution. Siehe aber auch Chr. M., Historisches Wörterbuch der Philosophie IV, 1976, 631-632 s. v. Isonomie; […] VII, 1989, 1034-1036 s. v. Politeia; 1038-1047 s. v. Politik I. 9 »Krise ohne Alternative«: Chr. M., Res publica amissa (wie Anm. 3), bes. 201205. – Untersuchungen des Übergangs von den ›nomistischen‹ zu den ›kratistischen‹ ›Verfassungs‹begriffen: Siehe vor allem Chr. M., Drei Bemerkungen zur Vor- und Frühgeschichte des Begriffs Demokratie, in: Marc Sieber (Hrsg.), Discordia concors. Festgabe für Edgar Bonjour zu seinem siebzigsten Geburtstag am 21. August 1968 I. Basel / Stuttgart 1968, 1-29; dann in überarbeiteter Fassung und mit einem Nachtrag in: Konrad H. Kinzl (Hrsg.), Demokratia. Der Weg zur Demokratie bei den Griechen, mit einer Einleitung von Kurt A. Raaflaub. (Wege der Forschung, Bd. 657) Darmstadt 1995, 125-159. – »Könnens-Bewußtsein«: Chr. M., Ein antikes Äquivalent des Fortschrittsgedankens: Das »Könnens-Bewußtsein« des 5. Jahrhunderts v. Chr., in: Historische Zeitschrift 226, 1978, 265-316; dann in überarbeiteter und erweiterter Fassung, in: Ders., Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt a. M. 1980 u. ö., 435-499. – »Anmut«: Chr. M., Politik und Anmut. Berlin 1985; dann auch in überarbeiteter Fassung als: Politik und Anmut. Eine wenig zeitgemäße Betrachtung. Stuttgart / Leipzig 2000.

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sein« im altertumswissenschaftlichen Lexikon »Der Neue Pauly«.10 Chri­ stian Meier hat sich oft als Außenseiter verstanden – und ist doch im Fach präsent. Wie viel von diesem sprachlich verdichteten Fragen im einzelnen auch von Hermann Strasburger angeregt wurde, darüber kann ich nur spekulieren. Aber mit Strasburger verbunden war Meier keineswegs nur über äußere Umstände wie Assistenz und Habilitation in jenen Frankfurter Jahren, von denen ich eingangs sprach. Daß er darüber hinaus, wie Christian Meier einmal selbst sagte, »durch viele seiner Interpretationen einen besseren Zugang zu den antiken Autoren, auch zur antiken Welt gefunden«11 habe, ist ganz und gar nicht wenig. Lieber Herr Meier, haben Sie herzlichen Dank, daß Sie unserer Bitte gefolgt sind, eine Gedenkrede auf Hermann Strasburger zu halten !

10 Christoph Höcker, DNP VI, 1999, 626-627 s. v. Könnensbewußtsein. 11 Chr. M., Gedächtnisrede auf Hermann Strasburger, in: Chiron 16, 1986, 171-197; Ndr. in: Hermann Strasburger, Studien zur Alten Geschichte III, hrsg. von Walter Schmitthenner und Renate Zoepffel. (Collectanea, Bd. 42,3) Hildesheim / New York 1990, 503-529, hier: 507.

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Gedenkrede auf Hermann Strasburger anläßlich der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstags Was wissen wir voneinander? Einer vom andern und übrigens auch alle, die wir da sind, von uns selbst? Wir erleben uns in unsern Tätigkeiten immer nur von bestimmten Seiten und unter bestimmten Gesichtspunkten. Wir müssen taxieren, was wir voneinander zu erwarten, zu halten haben. Wir reden übereinander, mit diesem und jenem. Bilden uns Meinungen oder glauben jedenfalls, uns Meinungen übereinander zu bilden; denn oft genug sind es ja allenfalls Klischees. Aber das Leben wird leichter, wenn man für dies und jenes einen Stempel hat, eine Rubrik, wo man Verschiedenes einsortieren kann. Und was schert einen schon viel, was der andere alles ist, was ihn umtreibt in – seiner Seele, oder sagen wir neutraler: in seinem Innern? An jenen Punkten, wo sich entscheidet, womit und wie er sich vor allem zu schaffen macht? Wir haben wenig und immer weniger Zeit; haben mit uns selbst mehr als genug zu tun. Schaffen uns also – etwa im Rahmen einer Zunft – gewisse, nicht unbedingt auch ausdrückliche Einverständigungen; grobe Einteilungen; Mißverständnisse vielleicht, aber sie bürgern sich dann ein; das reicht für den Umgang. Und wer will schon mehr? Wann je fragen wir den andern, was ihm wichtig ist? Gewiß, man hat Fragen, man stellt sie vielleicht auch; wenn etwa ein Gesprächszusammenhang es möglich macht (oder nahelegt). Indes ist das selten. Oft müßte man nämlich dies und das vom andern wissen, um daran anzuknüpfen; um ihm deutlich zu machen, daß man schon etwas von ihm weiß, nur eben diese oder jene Einzelheit nicht – von der aus man dann weiterfragen könnte. Und wie oft traut man sich – einiges Interesse vorausgesetzt – doch nicht, nach bestimmten Dingen zu fragen, weil man nicht weiß, ob man da irgendwo in ein Wespennest sticht; ob man lästig wird. Es ist schließlich sein gutes Recht, daß der Mensch sein Ich in einer gewissen Schutzzone hegen kann. Was alles also nimmt einer mit sich ins Grab, wovon selbst die, die lange und eng (und gut) mit ihm zusammengelebt und -gearbeitet haben, nichts wissen? Auch und vielleicht sogar gerade dann, wenn er einiges Geschriebene hinterläßt? 24

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Und wie rasch verliert sich dann das eine (was sie gewußt zu haben meinen und jetzt nicht mehr zusammenbekommen) und verschiebt sich das andere (so daß sie es auf die Dauer anders wissen, als sie es ursprünglich gewußt haben; weniger, schlechter – vielleicht aber auch etwas besser)? Der Tod läßt alles, was unfertig, was im Fluß war, als abgeschlossen erscheinen. Man merkt es am besten, wenn man einen Tag später einen Nachruf für eine Tageszeitung schreiben muß. Auf einmal ist alles anders, schnurrt alles zusammen, was sich zuvor über weite Felder erstreckt hatte. Schlagartig. Auf einmal merkt man, was man hätte fragen sollen – und können, aber eben nie gefragt hat. Man wollte den andern ja zu Lebzeiten auch nicht unbedingt festlegen – was man dann im Nachruf, zumindest in gewissem Ausmaß, zu tun sich gedrängt sieht. Schon dadurch, daß man allzu leicht dazu verführt wird, abkürzend auf Eigenschaften zurückzuführen, was der Lebende, solange er lebte, selbst ganz anders, nämlich von bestimmten Gründen seines Handelns und Denkens her verstanden hätte. Und vielleicht nicht nur er, sondern auch die, die es mit ihm zu tun hatten. Innen- und Außenperspektive klaffen stets auseinander. Und nach dem Tod fällt die eine aus. Aber auch: Kommen dann manche Fragen vielleicht gerade deshalb hoch, weil sie vom Verstorbenen nicht mehr beantwortet werden können? Oder – man darf mit solchem Verdacht wohl nicht zu sparsam sein – weil man über den Toten dann verfügen, weil er sich nicht mehr zur Wehr setzen kann. Manchmal kann man dann das Gefühl haben, man sollte sich eher schützend vor ihn stellen (da er sich eben nicht mehr wehren kann), statt ihm auf die Pelle zu rücken. *  * * »Es mag seltsam erscheinen, wenn ich hier in historischer Quellenforschung näheren Zugang zu der Gedankenwelt eines Mannes suche, den persönlich darum zu befragen ich mehr als vierzig Jahre lang Gelegenheit gehabt hätte.« Mit diesen Worten (III 129)1 hat H. Strasburger selbst die Rede beginnen lassen, die er nach Matthias Gelzers Tod hier in Frankfurt bei der akademischen Trauerfeier gehalten hat. Er kommt dann darauf zu sprechen, daß man wie bei Thukydides in einzelnen knappen Sätzen – sind es beabsichtigte Winke? – Schlüsse zur 1 Im folgenden werden die Stellen aus Strasburgers Studien zur Alten Geschichte (Hildesheim / New York I, II: 1982. III: 1990) mit Band und Seitenzahl zitiert. Herbert Nesselhaufs Nachruf erschien im Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 1985.

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Deutung dieses Lebenswerks finde. Aber zunächst und vor allem bespricht er das Werk selbst. Wenn ich heute – 24 Jahre nach seinem Tod – aus Anlaß der 100. Wiederkehr seines Geburtstags seiner mit Ihnen gedenken soll, geht es mir in manchem ähnlich. Nach was allem hätte ich ihn in den knapp 30 Jahren, die ich ihn kannte, fragen können ! Aber es geht mir auch anders, denn sein Werk selbst habe ich vor 24 Jahren in Freiburg zu seinem Gedenken besprochen; zweimal ist es gedruckt worden (III 503 ff., 530). Ich sollte mich nicht wiederholen. Was aber dann? Ich möchte versuchen, nach erneuter ausgiebiger Lektüre, nach neuerlicher Durchforschung meiner Erinnerungen, nun aber aus dem Abstand von 24 Jahren, auch aus veränderter Position, aus höherem Alter heraus, dem Rätsel noch einmal nachzuspüren, das er in irgendeiner tieferen Schicht stets für mich gewesen ist. Und eben diese tiefere Schicht soll mich hier vornehmlich beschäftigen. Beginnen möchte ich mit einigen Erinnerungen. Was mir an sich widerstrebt, scheint mir hier angebracht. Ich kann dafür H. Strasburger selbst zitieren. Denn er hat die »Anstandsregel der Gelehrtenwelt, daß die Person des Autors hinter der Sache zu verschwinden hat«, selbst in Frage gestellt. Man solle es den Lesern – in diesem Fall also den Hörern – nicht erschweren, »die Bedingtheit eines Produktes durch die Bedingtheit seines Erzeugers in ihre Urteilsbildung einzubeziehen« (I 520). Gut vier Jahre bin ich H. Strasburgers Assistent gewesen. Den größten Teil davon hier in Frankfurt. Gut drei Jahre war ich es davor in Heidelberg gewesen, bei meinem Doktorvater Hans Schaefer, einem fraglos bedeutenden, insbesondere durch seine Fragen, seine Vermutungen, seine innere Unruhe (vielleicht gar: sein Getriebensein) außerordentlich an­ regenden, einen seine Schüler stark beschäftigenden Historiker. Aber er war persönlich höchst unsicher, mißtrauisch, verschlossen. Immer wieder hat er – bei gemeinsamen Bekannten – nachgefragt, ob ich, aus der DDR kommend, nicht als Spitzel zu ihm gesandt worden sei. Abenteuerlich schien mir damals und scheint mir selbst nach dem, was man heute über die Stasi weiß, dieser Verdacht. Aber so war es eben. Er war überall auf der Hut, fand übrigens auch, am Telefon dürfe man nur so wenig wie irgend möglich von sich geben. Das ganze Heidelberger Seminar war aufgeladen wie mit Elektrizität – einfach durch all das, was da stets an »Seminarpolitik« geplant, erwogen, besprochen, vermutet und verdächtigt wurde. Und als Assistent hatte man nicht zuletzt für das Seminar dazusein. Strasburger kannte sich da aus, denn er war selbst nach dem Krieg Assistent in Heidelberg gewesen, hatte sich dort habilitiert. Und er hatte – bei allem schuldigen Respekt vor Schaefer – darunter gelitten. 26

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Dann kam ich nach Frankfurt. Ich konnte anders, konnte viel freier atmen. Das Seminar kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Man tat dafür, was nötig war, weiter nichts. Verwaltung wurde kleingeschrieben. Keine Spur auch nur eines Gedankens an die Möglichkeit einer Seminarpolitik, geschweige denn einer Intrige. Es bereitete H. Strasburger ja schon Mühe, sich Intrigen überhaupt vorzustellen. Er erzählte gern, wie während seines Dekanats sein so hochverehrter Lehrer Matthias Gelzer einmal irgendetwas ohne sein Wissen angestiftet hatte, was nicht ganz comme il faut war, und wie er Karl Reinhardt davon, vermutlich eher ratlos als empört, berichtete, worauf der sich zunächst nur kopfschüttelnd in ein Lachen verlor: Herr Strasburger, lieber Herr Strasburger […] er brauchte Zeit, sich zu fassen. Nicht, daß H. Strasburger nicht verstanden (oder doch mit der Zeit gelernt) hätte, was in der Welt so alles gespielt wird. Die Tatsache, daß und wie er es mir erzählte, spricht ja schon dagegen. Aber es war ihm ganz und gar zuwider. Er wollte es nicht, und er ließ dergleichen in seinem Umkreis nicht aufkommen. Gegen alles, was auch nur entfernt nach Machenschaft aussah, schirmte er nach Möglichkeit seine eigene Welt ab. Glücklicherweise ging das. Genoß er – überzeugend (und ganz unbedrohlich) in seiner Art, wie er war – genügend Ansehen und sehr wenig Ehrgeiz in akademischen Ränken, daß er sich aus sehr vielem heraushalten konnte. Ich vermute, daß Frankfurt (und speziell Frankfurts Hi­ storie mit Otto Vossler und andern) auch ein günstiges Pflaster dafür bot. Ein einziges Mal durfte ich mit seinem Einverständnis über die Stränge schlagen. Das war, als das Seminar in den Neubau, den sogenannten Philosophenturm an der Gräfstraße, umzog. Alles war dort vom Architekten Ferdinand Kramer funktional eingerichtet. Ganz neues Mobiliar. Die Reform der Universität sollte mit Hilfe der Architektur vorangetrieben werden. Das einzige Holz in dem Bau sollten die Köpfe seiner Nutzer sein. Da durfte ich sabotieren: Die gesamte Inneneinrichtung von Gelzers Zimmer wurde mitgenommen und aufgestellt. Daß ich dann, als das Haus eingeweiht wurde und alles beleuchtet sein sollte – wie ein Schiff sollte es aussehen! – bei uns im Seminar alle Lichter löschte, geschah ­allerdings auf eigene Faust – zum Ärger des Architekten. Offenheit also, Vertrauen, weithin auch Heiterkeit bestimmte die Atmosphäre im Frankfurter Seminar für Alte Geschichte. Da regieren gute Menschen, sagte mir einmal eine Dame von der Klassischen Philologie. Ich hatte es mit einem sehr verständnisvollen, viel Zeit mir widmenden, immer zum Gespräch aufgelegten Manne zu tun – der übliche Ausdruck Chef hätte ganz und gar nicht gepaßt –, mit viel Interesse, gerade auch für Privates, Familiäres. Als die Geburt meines zweiten Kindes bevorstand, hat er mich geradezu aus dem Seminar vertrieben. 27

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Er hat mich aus manchen Sackgassen, manchen Verkrampftheiten herausgeholt, meinen Blick geweitet und meiner Sprache aufgeholfen. Ich habe sehr viel dabei gelernt – obwohl ich im wissenschaftlichen Ansatz vor allem Schüler von Hans Schaefer blieb. Wie sich im Endeffekt alles miteinander und mit vielem andern, was hinzukam, mischte, ist eine andere Frage. Indes waren wir nicht immer einer Meinung. Und zwei Meinungsverschiedenheiten scheinen mir hier der Erwähnung wert. Die eine soll am Schluß zu Wort kommen. Die andere betraf das Politische, das für mich damals – von Schaefer, von Carl Schmitt, übrigens ja auch von Matthias Gelzer her – ganz selbstverständlich im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses stand (mich auch in der Gegenwart stark interessierte). Viele Handlungen (im Alten Rom wie in der Gegenwart) schienen mir zum Beispiel politisch motiviert zu sein – wohingegen er von Fall zu Fall immer wieder private, rein persönliche Motive ins Feld führte. Man findet ähnliche Vermutungen, zum Beispiel zu Handlungen Caesars, ja auch im schriftlichen Œuvre. Auch der von ihm stets hochverehrte Cicero, fand er, habe sich doch nur eher widerwillig mit Politik befaßt; sonst hätten wir in seiner Korrespondenz viel mehr Hinweise darauf; über das hinaus, was ihn unmittelbar betraf. Ich weiß noch, wie ich ihm erwiderte, daß mich der – damals gerade erfolgte – Bau der Berliner Mauer sehr getroffen habe, ohne daß ich ihn in meinen Briefen je erwähnt hätte. Es war ja nicht nur so, wie es in seiner Antrittsrede in der Heidelberger Akademie hieß, daß H. Strasburger sein »einst starker Glaube an die Feststellbarkeit von historischen Fakten und ihrer [sic !] pragmatischen Zusammenhänge […] weitgehend abhanden gekommen« war (II 961 f.). Vielmehr hegte er einen – mir nicht verständlichen, eher wunderlichen – Widerwillen gegen Politik. Schon gegen das Wort, das er ja in der Überschrift über den ersten Band von Gelzers Kleinen Schriften nicht haben wollte. Nicht Römische »Politik und Gesellschaft« sollte es heißen, sondern »Staat und Gesellschaft«. Als Gelzer sich für Politik statt Staat entschied, fand er sich damit ab, weil für Gelzer Politik etwas Gutes sei. Im Unterschied zu ihm. Im Unterschied übrigens auch zu seiner eigenen Dissertation. Denn dort hatte er ja, und zwar zum Lobe Ciceros, festgestellt, daß der Realpolitiker war; aber das lag eben zurück. Ein anderer Punkt, an dem sich unsere Meinungsverschiedenheit über das Politische artikulierte, waren die Gespräche über Thukydides und seine mehr oder weniger rein politische Geschichtsschreibung. Für mich war das eine große, staunenswerte Entdeckung. Für ihn vor allem etwas geradezu Verhängnisvolles. Auch wenn er zugab, daß er für Thukydides – trotz allem – einigen Respekt auf bringen könnte (so daß er ihm nicht nur 28

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verleidet sei; so daß es ihm nicht widerstrebte, sich näher mit ihm zu beschäftigen; anders als – zu dieser Zeit schon – mit Caesar). All diese Differenzen wurden in aller Freundschaft ausgetragen. Blicke ich auf sie – und meine weitere wissenschaftliche Tätigkeit – zurück, so will mir scheinen, daß ich mich von H. Strasburger in sehr vielem unterschieden habe: im Interesse am Politischen, an den Strukturen, übrigens auch an der Begriffsgeschichte, in der Faszination durch die Demokratie, in den Versuchen, größere Zusammenhänge zu durchdringen und dar­ zustellen, im Umgang mit den Quellen, welche mir – bei aller Anziehungskraft, die sie auch auf mich ausübten – doch primär Zugänge zu den Sachen vermitteln sollten. (Sofern sie mir als Gegenstand wichtig ­waren, ergab sich das zumeist im Rahmen bestimmter sachlicher Zu­ sammenhänge, nach denen ich forschte.) Außerdem habe ich im Unterschied zu ihm kaum wissenschaftliche Aufsätze, dafür dicke Bücher geschrieben. So muß ich mich fragen, ob ich hier nicht eine Fehlbesetzung bin. Zur Rechtfertigung der Einladenden kann ich nur anführen, daß ich mich wirklich in einem langen Gespräch mit H. Strasburger befunden habe; bis heute. Und gerade bei den Vorbereitungen auf diese Rede ist mir wieder deutlich geworden, wie sehr mich vieles von dem, was ich damals von ihm gelernt oder erfahren habe, bestimmt hat; weitergebracht, und sei es im Widerspruch. Meine Arbeit an der Römischen Republik, insbesondere über Caesar, war schon, bevor ich zu ihm kam, stark durch seine Ansätze befruchtet. *  * * Hermann Strasburger war (und ist) ohne Zweifel ein im In- wie im Ausland hoch angesehener Althistoriker. Sonst würden wir ja auch seinen 100. Geburtstag nicht feiern. Wenn er sich, mit Recht, darüber beklagte, daß seine Arbeiten im Fach nur unzulänglich rezipiert wurden, so steht das nicht im Widerspruch dazu. Daß sie beachtlich waren, wußte man. Man wußte von seinem Leiden während NS-Zeit und Krieg. Jeder, der ihm begegnete (und er wurde ja auch viel zu Vorträgen eingeladen), war von seiner Erscheinung, seiner Liebenswürdigkeit, seiner Bescheidenheit, auch von seiner Lauterkeit beeindruckt. Die mangelnde Rezeption hing vermutlich damit zusammen, daß er sich wissenschaftlich vielfach eher am Rande der üblicherweise bearbeiteten Bereiche bewegte. Wenn man es boshaft sagen will: Er hatte zwar etwas zu bieten, aber er störte nicht. Er kam einem nicht ins Gehege. Außer mit seinen Zweifeln an Caesar, die manch einer aber leichten Sinnes an sich abblitzen ließ (I 523). 29

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Sieht man genauer hin, so war es eigentlich ziemlich starker Tobak, den er reichte. Er erklärte – in aller Bescheidenheit – weite Teile der wissenschaftlichen Forschung für irrelevant. In der Heidelberger Antrittsrede spricht er nicht nur seine Zweifel an der Feststellbarkeit von historischen Fakten aus und bekennt er nicht nur, daß »kultur- und geisteswissenschaftliche Sachverhalte« ihm »jetzt« (! – Ch. M.) auch als die »wirklich wichtigeren« erschienen. Nein, er erwähnt Goethes »weithin berechtigten Spott: ›Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigener [sic!] Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln‹«, um dann fortzufahren, wenn dies »eine unumstößliche methodologische Feststellung«, wenn Geistesgeschichte also nicht möglich sei, »bliebe am Handwerk der Geschichtswissenschaft nichts der Mühe ferner Wertes übrig«. So, ohne alle Einschränkung, auch ohne ein »meiner Meinung nach« steht es da (II 962). Es folgt die Bemerkung, »die gelegentliche Ahnung einer Begegnung mit dem echten antiken Geist« sei »ein wirklich ›groß Ergetzen‹ […] für mich« – hier ist sein Ich im Spiel –, »jedenfalls das Größte an der Sache und der einzige nicht ganz versagende Trost« – beachten Sie den Begriff des Trostes, auf den ich noch zurückkommen muß! – »für die Masse von Ungeist und Unmenschlichkeit, die ex officio abzuhandeln der Historiker nun einmal verdammt ist«. Wenn man einen solchen Weg einschlägt und nicht zumindest eine Reihe von Kollegen mitnimmt, kann man zwar viel Respekt ernten (und unabhängig davon viele Freunde haben), doch ist man dann relativ allein auf seiner Fährte. Und das scheint H. Strasburger mir gewesen zu sein. Aber er ist diesen Weg unbeirrbar gegangen und hat eine Reihe bedeutender Stationen dabei passiert – wovon seine Arbeiten zeugen. *  * * Ich möchte zunächst versuchen, den Weg seiner Forschungen in wenigen Strichen nachzuzeichnen. Nach der Dissertation (die ein Sachthema behandelte) waren es vor allem quellenanalytisch und -kritisch orientierte Arbeiten, welche er vorlegte, zu Alexander dem Großen und zu Caesars Anfängen. Die Methode bewährte sich, und es lag nahe, sie auf weitere Gegenstände anzuwenden. Aber daneben standen andere Arbeiten, die zum Teil glänzenden Artikel in der Realencyclopädie, in denen es um die Darlegung – und zum Teil Erforschung – verschiedener Sachverhalte ging. Auch bei der geplanten Caesarbiographie hätte ihm das intensive Quellenstudium eher Mittel zum Zweck sein müssen. Aber dazu kam es ja nicht. Nach dem Krieg sodann trieb er die Quellenanalyse und -kritik weiter, jetzt freilich mit radikalen Konsequenzen für zentrale Forschungsgegen30

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stände. Allen Annahmen, wonach Caesars Wirken in vielem förderlich, zukunftsweisend, ja wahrhaft staatsmännisch gewesen sei, wurde der Boden entzogen. Bald darauf folgte die Untersuchung des Nearchos als Quelle für Alexanders Zug durch die gedrosische Wüste. Es ergab sich, daß der Zeuge gut und ernstzunehmen war: Alexander hatte diesen Zug, welcher unnötig war und für Mensch und Tier die fürchterlichsten Qualen und Verluste mit sich brachte, wider besseres Wissen und nur des eigenen Ruhmes wegen unternommen. Um »stets etwas Neues und Ungewöhnliches zu vollbringen«. »Nicht die in jedem Fall außerordentliche Leistung« – »die großartigste körperliche wie geistige Energie und die umsichtigste Besonnenheit« des großen Königs – »zu schmälern war der Sinn dieser Ausführungen, sondern das Gewicht ermessen zu lernen, welches in die andere Wagschale fällt.« So schließt der Aufsatz (I 486). Offensichtlich hat das Kriegserlebnis H. Strasburger den Sinn für Opfer geschärft, auch wenn ihm das – entsprechend seiner Bemerkung zu seinem Urteil über Caesar (I 523) – zunächst nicht bewußt gewesen sein soll. Stets hat er seine Arbeiten mit umsichtiger Sammlung und genauem Studium aller einschlägigen Quellen begonnen. Immer wieder hat er schon damit, daß und wie er sie ernstnahm, zahlreichen vorherrschenden Meinungen den Boden entzogen. Was seine Methode letztlich kennzeichnet, hat er später formuliert. Das war der Grundsatz, nur Beleg­bares gelten zu lassen (I 522). Damit waren vielerlei Argumente, die sich auf die Sache bezogen, von vornherein in schlechter Lage. Aber, worauf er mit den Aufsätzen der 30er sowie der ersten Jahre nach dem Krieg zielte, waren durchaus Probleme der politischen, militärischen und gesellschaftlichen Geschichte. Caesar, Alexander, wenig später Der Einzelne und die Gemeinschaft im Denken der Griechen, Der soziolo­ gische Aspekt der Homerischen Epen und – noch etwas später – der ­Scipionenkreis. Es geht dabei nicht nur um die Eliminierung unglaubwürdiger Quellen, sondern auch um die Sicherung der Glaubwürdigkeit anderer, etwa von Nearchos’ Aussagen über Alexanders ungeheure Verluste. Wenn Strasburger dabei mit zahlreichen zentralen liebgewordenen Auffasssungen aufräumte und zum großen Entmythisierer wurde, so lag das daran, daß eben in den Quellen vieles nicht stand, was konventionell angenommen zu werden pflegte (und anderes gerade stand, was man normalerweise nicht ernst genug nahm). Und es spielte eine große Rolle, daß er seit dem Krieg die Dinge sehr viel nüchterner und kritischer sah: die beiden großen Helden des Altertums also, aber auch die – gern in unwahrscheinlichem Glanz erscheinende – Welt der Homerischen Helden, die »Vaterlandsliebe« der Griechen und nicht zuletzt die Verbindung der 31

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Mächtigen mit den Philosophen, Dichtern, unter Umständen auch den Historikern ihrer Zeit. Denn nicht nur am Scipionenkreis zweifelte er, sondern auch am »Freundeskreis erlauchter Geister um Perikles«, der »zu dem verklärten Bilde vom Klassischen Griechentum« gehöre, »welches sich nicht nur Laien zu machen pflegen« (II 592). Später traf es auch den von ihm an sich hochgeschätzten Augustus, dessen Umgang mit Vergil Strasburgers herbe Kritik auf den Plan rief. Man mochte schon fragen: Herr Strasburger, wo bleibt das Positive? H. Strasburger hätte auf diesem Wege fortfahren können. Und er war wohl schon dabei, als er seine Studien zu Herodot und Thukydides begann, durch die er doch wohl den Zugang zur griechischen Geschichte nach Homer suchte. Allein, diese beiden großen Historiker, deren einen er dann ja seinerseits heftiger Kritik unterzog, hielten ihn nicht nur lange Zeit fest, sondern nahmen auf die Dauer (mitsamt anderen, späteren Historikern) das Zentrum seiner Aufmerksamkeit ein. Im Lauf der Arbeit an ihnen muß jene Wende erfolgt sein, die H. Strasburger in der Heidelberger Antrittsrede 1964 mit seinem Jetzt so auffällig markiert hat. Ich zitiere nochmal: Hier lagen zunächst einmal die »kultur- und geistesgeschichtlichen Sachverhalte«, die er »jetzt auch für die wirklich wichtigeren« hielt (II 962). »Jetzt« muß sich nicht auf eine plötzliche Wendung beziehen, es kann den Schlußpunkt eines Prozesses bezeichnen. In diesem Zusammenhang scheint mir jedenfalls eine deutliche Verschärfung von Interesse zu sein, die sich in Strasburgers Arbeiten zu Thukydides wahrnehmen läßt. Zu Anfang, 1954, 1957, 1958, ist schon völlig deutlich: Herodot wird als ­Geschichtsforscher gegenüber Thukydides stark aufgewertet. Thukydides hat nicht die Geschichtsforschung, aber er hat die politische Ge­ schichte erfunden. Damit ist viel gewonnen. Doch bedeutet das auch eine Verengung des historiographischen Horizonts. Obwohl Thukydides es gar nicht so gemeint haben muß. Denn er wollte ja nur eine Mono­ graphie über einen – freilich höchst bedeutenden – Krieg schreiben. Nichts spricht dafür, daß es eine »vollständige Zeitgeschichte« sein sollte (II 582). Wofür es dann aber genommen wurde. Im ganzen genießt der politische Historiker Thukydides damals hohen Respekt seitens seines ­Interpreten. Der Respekt bleibt, aber er wird zum Teil anders begründet. Und die ganze Geschichte des Thukydides rückt dann in dem von 1958 bis 1960 mehrfach gehaltenen und immer weiter verbesserten Vortragstext »Der Geschichtsbegriff des Thukydides« in ein völlig anderes Licht (II 785 ff.). Wenn vor 1958 manche wichtigen Eigenarten (und Begrenzungen) der 32

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politischen Geschichtsschreibung herausgearbeitet werden, begegnet in diesem Vortrag eine nahezu systematische Aufstellung all dessen, was ihr (so wie Thukydides sie konzipiert hat) fehlt. Es sind ganze Bereiche der Realität. Die Rolle der Persönlichkeit ist unterschätzt, die private Sphäre kommt nicht vor, die Frauen nur am Rande, die »Zufallseffekte menschlicher Verstrickungen« bleiben ausgespart. Affekte, den Einfluß des ­Alkohols sucht man vergebens. Strasburger vermerkt das alles als »Re­ striktionen«. Dazu gehört vor allem auch die Unterschätzung des Rechtsempfindens, des Götterglaubens (beides damals nachweislich von großem Einfluß). Tapferkeit wird fast nie erwähnt, Furcht, Mutlosigkeit um so eher – was, wie ausdrücklich gesagt wird, jeder Kriegserfahrung, speziell dem »dem Menschen natürlichen Kampfgeist« (792), widerspricht. Man hört von ebenso brillanten wie irreführenden Vereinseitigungen, von der Eliminierung des Menschlichen (795). In diesem Vortragstext ist die Rede von der Störung des von Herodot »geschaffenen Gleichgewichts […] zwischen der Würdigung der bauenden und der zerstörenden Kräfte«; von der »Gewaltherrschaft der Politik über das menschliche Leben«, die Thukydides »auch im Bereich des hi­ storischen Denkens hergestellt« habe (779). Gewaltherrschaft der Poli­ tik – das ist, wenn ich nichts übersehen habe, ein bei Strasburger damals ganz neuer Ausdruck. Wenig später spricht er von Thukydides’ »ge­ walttätig vereinseitigender Subjektivität« (784; nicht zu verwechseln mit »Nüchternheit« oder »Sachlichkeit«). Und zu allem Überfluß wird dann auch noch ein »Generalangriff« des Thukydides »gegen die nach seiner Auffassung illusionären Grundlagen der sittlichen Selbstwahrnehmung der Menschheit« konstatiert (792). Aber es kommt noch etwas anderes hinzu: Strasburger verweist auf­ ­Tacitus, der seinerseits in einem virtutum sterile saeculum gelebt habe, gleichwohl vermerkt, dieser Mangel an Tugenden sei doch nicht so weit gegangen, daß es nicht auch bona exempla gegeben habe (795). Er schließt eine fraglos richtige, in Betonung und Zeitbezug aber sehr auffällige Bemerkung an: »Wir Heutigen sollten besonders gut wissen, was es für das Gesicht einer Epoche ausmacht, wenn der vereinzelte Aufstand der Menschenwürde nicht auch noch gleich im Buche der Geschichte mitunterdrückt wird […]. Denn auch diese Kräfte machen Geschichte, nicht nur im Frieden, wo, wie Thukydides einräumt, ›die Menschen bessere Gesinnungen haben‹ (3,82,2), sondern gerade auch im Kriege.« (796) Auf die Stelle wird gleich noch zurückzukommen sein. Die Summe lautet: Bei Thukydides sollte »kein versöhnlicher Zug […] den Eindruck vollkommener Trostlosigkeit stören« (796). Es sei schlimmer als in einer Tragödie, denn dort konnte man wenigstens noch klagen. 33

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Freilich könne es sein, daß Thukydides gerade mit seiner »provokanten Einseitigkeit ein ethisches Ziel verfolgte« (797). (Was, nebenbei gesagt, ein höchst fruchtbarer Ansatz ist für die Erschließung des Erfahrungs-, des Triumph- und des Leidenshorizontes dieses uns bisher viel zu wenig bekannten ungeheuerlichen Jahrhunderts, speziell des noch im Wildwuchs zumindest intellektuell und künstlerisch sich zu beherrschen suchenden klassischen Athen.) In diesem Zusammenhang war es, daß Strasburger, nachdem er den »Eindruck vollkommener Trostlosigkeit« festgestellt hatte, schrieb: »Der Mut, in dieser Vision ohne Zugeständnisse zu leben, hat dem Autor und seinem Werk den hohen Adel verliehen, der stets von Lesern empfunden worden ist.« (796) Zuletzt also fällt auf Thukydides ein Lichtstrahl der Bewunderung für seinen Mut des Aushaltens in der Trostlosigkeit. Diese Bemerkung, diese Beobachtung ist, scheint mir, ein Schlüssel zum Werk wie zur Person H. Strasburgers. Es kann für den Historiker – einige Sensibilität vorausgesetzt – ein Problem des Aushaltens dessen geben, womit er es zu tun hat. Ja, einen Bedarf an Trost – »für die Masse von Ungeist und Unmenschlichkeit, die ex officio abzuhandeln [er] nun einmal verdammt ist«, um diesen Passus aus der Antrittsrede bei der Heidelberger Akademie (II 962) noch einmal zu zitieren. Man muß das ganz wörtlich, ganz ernst nehmen. Die Kategorie des Trosts war für Strasburger sehr wichtig (wie übrigens schon für Jacob Burckhardt). Ich vermute also, im Zusammenhang dieser Erkenntnisse sei Ende der 50er Jahre jene Wende erfolgt, infolge derer H. Strasburger sich künftig in seinen Forschungen ziemlich konsequent der Historiographie (allgemeiner den kultur- und geisteswissenschaftlichen Sachverhalten) widmete. Es war nicht nur – wie Herbert Nesselhauf in seinem Nachruf meint (117) – »der Grundsatz […] nur Belegbares gelten zu lassen«, aus dem sich für Strasburger letztlich die Konsequenz ergab, »auf weite Strecken die Beschäftigung mit den Quellen an die Stelle der Beschäftigung mit der Geschichte« treten zu lassen. Wodurch diese Wende bedingt ist, ist eine andere Frage. In der damaligen Politik wird man die Gründe wohl kaum zu suchen haben. Ich würde sie eher in der inneren Biographie suchen, in Akten der Bewußtwerdung, der Gewinnung von Abstand zu Krieg und NS-Zeit, vielleicht auch weil in der Arbeit an Thukydides eine Bresche sich auftat – aufgrund derer ihm Beruf und Aufgabe des Historikers in ganz neuem Licht erschienen. Wenn H. Strasburger mir sagte, mit Caesar (und ich glaube auch mit antiker Politik) wolle er sich nicht mehr beschäftigen, indes noch mit 34

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Thukydides (sosehr ihm dessen Thematik zuwider wäre), so wird das, scheint mir, zum einen mit dessen Bewältigung des Aushaltens zu tun haben, zum andern mit all dem, was Strasburger ihm entgegenzuhalten hatte und was ihm jetzt, nachdem ihm das ganze Ausmaß der »Gewaltherrschaft der Politik« klar wurde, stärker zu Bewußtsein kam – als der andere Teil dessen, was doch auch ins Buch der Geschichte gehört. Hier lag eine bedeutende Herausforderung, sein Eigenes zu entwickeln. Die Geschichte der Historiographie war auch eine Geschichte des Fertig­ werdens mit Geschichte. Jedenfalls wurde ihm nun die Historiographie (stellvertretend für andere Teile der Kulturgeschichte) das eigentlich »Wissens- und Erinnernswerte, Lehrens- und Lernenswerte an der Geschichte« (II 962). Wenn Politik – so wird man das doch deuten können – Gewaltherrschaft ausübt, muß man sich davon freihalten; und wenn das – wegen des officium des Historikers – nicht ganz geht, muß man es wenigstens soweit wie möglich tun, speziell in dem intensivsten Teil des Wissenschaftlerlebens, in der eigenen Forschung. Ich habe nicht die Zeit, um den ganzen reichen, indes auch nicht ganz unproblematischen Ertrag zu würdigen, der sich dabei für das Verständnis antiker Historiographie ergab. Einen einzigen Satz möchte ich zitieren, auf den vieles hinauslief und der zugleich zeigt, wie provozierend diese Arbeit war: »Wird der Mensch über Gang und Wesen der Geschichte sachgerechter belehrt durch den Verstand oder das Gefühl, durch das Sich-Erheben zu nüchterner Betrachtung der pragmatischen Zusammenhänge von hoher Warte aus oder durch den Versuch, die ­Realität, welche Geschichte für die von ihr handelnd und leidend Be­ troffenen hatte, in voller Intensität nachzuerleben.« So gesehen sei die Auseinandersetzung des Polybios mit Phylarch »keine Stil- und Geschmacksfrage, sondern ein Philosophicum, vielleicht die Kernfrage der Historiographie überhaupt« (II 1001). Strasburger hatte das Problem vorher am Beispiel der Stadteroberungen und -zerstörungen erörtert. Reicht es, einfach festzustellen: Die Männer wurden ermordet, Kinder und Frauen in die Sklaverei verkauft? Muß der Geschichtsschreiber nicht die Sache anschaulich machen, gegebenenfalls die »Faktentreue durch fiktive bzw. potentielle Wirklichkeit ersetzen«, vorausgesetzt freilich, daß er sich an »echte Lebenserfahrung« hält (II 998). Das Bild des Geschehenen kann dadurch nur um so erschütternder werden. Aber es wird dann eben das Leiden der Opfer (denn vornehmlich darum geht es Strasburger als dem Historiker gerade auch der Opfer) der Vergessenheit entzogen. Wie man auf diese Weise den Menschen nicht nur über einzelne Geschehnisse, und seien sie noch so 35

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typisch, sondern über Gang und Wesen der Geschichte sachgerechter ­belehren kann, ist eine andere Frage. *  * * Herbert Nesselhauf hat vermutet (117), der »Aufenthalt im philologischen Vorfeld der Geschichte« – so nennt er das, was für Strasburger das eigentlich »Wissens- und Erinnernswerte« war – hätte Strasburgers Neigungen entsprochen. Ich würde nicht von Neigungen, sondern von seiner Weise, seinem Bedürfnis, die antiken Texte zu erleben (oder auch: mit ihnen zu leben) sprechen. Der Begriff des Erlebnisses (und Erlebnisgehalts) spielt eine große Rolle bei ihm. In der Vorbemerkung seiner Studie Zum antiken Gesellschaftsideal heißt es: »Sollte es mir nicht gelingen, dieses Erlebnis« – es handelte sich um das der Anschauungsfülle der Quellen (Ch. M.) – »hier weiterzuvermitteln, so hoffentlich wenigstens die Anregung, das Fluidum dieser Quellen selbst aufzusuchen, in welchem vieles, was im Gewand unserer Begriffe befremdet, unversehens natürlich wird.« (III 11) Außer vom Fluidum hört man von der Atmosphäre, die es irgendwie einzufangen gilt. »Der einfältigste spätrömische Epitomator steht dem Lebensgefühl der griechischen Klassik näher als unsereiner mit aller seiner Wissenschaft« (II 1117), lautet ein Satz, der mir – angesichts dieser Epitomatoren – nie so recht eingeleuchtet hat; aber ich habe eben auch den Abstand zu den Quellen stets als viel größer empfunden und folglich immer wieder Begriffe für unvermeidbar gehalten, um ihn für Hörer oder Leser zu überbrücken. Aber vielleicht habe ich den Sinn für eine solche Nähe zu den Quellen, wie Strasburger sie empfand, nie recht ent­ wickelt; eine weithin gefühlsmäßige Nähe – um mit diesem Wort noch ein anderes zu zitieren, das einem für sich sowie in verschiedensten Zusammensetzungen immer wieder begegnet (z. B. I 315 f., II 795, 890, 1000 f., 1005. Gefühlswelt: I 319. Gefühlswerte: II 888, 988 f. Gefühlsmäßige Vorstellung: II 712. Gemeinschafts-, Griechisches Nationalgefühl: I 434. Gefühlswert des Vaterlandes: 440. Gefühlvolle Erwärmung des patriotischen Pathos: 446. Der dritte Band weist im Register Erlebnis und Gefühl als Stichwort aus. Dazu 182, 220, 316). Um es zu wiederholen: Er lebte nicht nur mit, sondern in diesen Quellen – so weit es überhaupt ging. Und so viel Arbeit es ihm bereitete, er muß es auch genossen haben. Übrigens hat er sie alle stets im Original gelesen und sehr schöne Übersetzungen geboten. *  * * 36

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Die Wirrnisse der Jahre 1968 ff. – nicht so sehr die der Studenten (obwohl die ihm natürlich auch sehr zugesetzt haben) wie die der Kultus­ bürokratie – haben Strasburger 1970 zur Erstattung eines einzigen wissenschaftspolitischen Gutachtens veranlaßt (III 499 ff.). Sie scheinen vor allem den Anstoß zur letzten größeren Abhandlung gegeben zu haben (obwohl auch andere Gründe dafür gesprochen haben könnten): Zum antiken Gesellschaftsideal. »Eine Zeit, in der die ›Veränderung der Gesellschaft‹ nicht nur von Schwärmern für ebenso dringlich wie ›machbar‹ gehalten wird« – so fängt sie an –, »sollte […] mindestens das Gegen­ gewicht nicht unabgeschätzt lassen, mit welchem sich die Geschichte an den Flug in die Zukunft hängen dürfte.« (III 17) Das ist natürlich richtig. Wobei nicht unbedingt »die Geschichte«, sondern eher die Vergangenheit gemeint sein muß. Strasburger nimmt hier einen Gedanken auf, den er ähnlich kurz zuvor, 1967, in seinem Nachwort zu Caesar im Urteil der Zeitgenossen geäußert hatte. Dort heißt es von der »Realpolitik« (deren Verfechter sich so aufgeklärt dünken), sie habe »noch immer sittliche Gegenkräfte geweckt oder mindestens ihre früher oder später wirksam werdende reale Behinderung an der Majorität der Rückständigen gefunden, die ihren Kinderglauben an ein gottgeschütztes Sittengesetz doch noch nicht gründlich genug eingebüßt hatten« (I 413). Auch das hat einiges für sich. In diesen Kräften, so scheint es, äußern sich für Strasburger bestimmte anthropologische Sachverhalte. Insoweit ist das klar. Merkwürdig ist jedoch, daß diese menschliche Eigenart vor allem in der Antike zutage getreten sein soll. Weil es sich dort nämlich um »die ­älteste, somit noch verhältnismäßig naturnächste, für solches Fragen ausreichend erhellte Phase der Menschheitsentwicklung« handelt, um »natürlich gewachsene Sozialstrukturen« (III 17). Wie wenn wir hier einen Grundbestand des Menschlichen faßten, der anderswo, wenn nicht unzureichend bezeugt, so doch verdeckt oder überformt worden wäre. Dafür und dagegen ließe sich manches sagen. Doch geht es hier nur um die Frage, was sich daraus für Strasburger in der Situation um 1970 ableiten läßt. Die Probleme beginnen beim Titel. Denn die Rede ist nicht eigentlich von Gesellschaft (was immer das in der Antike sein mag), sondern vom oikos, vom Haus, in dem patriarchalische Verhältnisse herrschen. Wäre es nämlich auch nur um die nächsthöhere Einheit gegangen, die Bürgerschaft, hätten eigentlich die Idealvorstellungen von der Polis – von Hippo­damos bis zu den hellenistischen Utopien – Thema sein müssen. Was sie jedoch nicht sind. Wenn man aber das Patriarchalische über das Haus ­hinausragen läßt, so landet man bei der Monarchie, die hinwiederum für die antiken »Gesellschaften« eher randständig war. 37

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Indes zieht die Darstellung den Leser rasch in ihren Bann. Mit viel Liebe wird die Welt im Haus des Odysseus gezeichnet, der Umgang mit dem königlichen Sklaven Eumaios vollzieht sich fast auf dem gleichen Fuße. Als »vornehm« wird der Sklave bezeichnet. Anschließend wird ein Bild des normalen Umgangs mit den Sklaven entworfen (wie er sich vor allem aus römischen Quellen ergibt). Allein die Betriebspsychologie hätte dafür gesprochen, sie einigermaßen anständig zu behandeln. Ausnahmen gab es immer, man dürfe sie aber nicht für die Regel nehmen. Insgesamt also ein tröstliches Bild. Für die »Zentralbereiche der griechischen Geschichte« dagegen, und das sind doch die des Zusammenlebens in der ­Polis wie in der Res Publica, bekennt der Autor, seien ihm die arcana des Gesellschaftslebens verschlossen geblieben (III 11). Da hätte dann doch wohl das Politische ins Zentrum gehört, speziell der Austrag von Gegensätzen. So scheint der aktuelle Bezug der Abhandlung zumal darin zu bestehen, daß die Antike von einem Gutteil des Odiums der Sklavenhaltergesellschaft befreit werden sollte. Übrigens sagt Strasburger von der Demokratie einmal, ein »klein wenig seltsam« sei es schon, daß sie »als der Alten Geschichte schönstes Geschenk an uns« gelte (III 124). *  * * Aus der Produktion der letzten Jahre, in denen Strasburger ein breites Spektrum von Themen – über die Alte Geschichte hinaus – entfaltete, kann ich hier nur eine Arbeit noch erwähnen, die für den Historiker Strasburger von großer Bedeutung ist: Seine Auseinandersetzung mit dem – stets als großes, ja doch wohl als größtes Vorbild verehrten – Jacob Burckhardt. »Der Größte der Sterblichen« ist sie überschrieben (III 353 ff.). Sie geht aus von dem Ärgernis, daß ausgerechnet Burckhardt ausgerechnet den fürchterlichen Caesar so benannt hat. Wie kommt er dazu? Wie überhaupt dazu, nach dem Superlativ des Größten zu fragen? Wie läßt sich da eine Rangfolge feststellen, da man »groß« ja in verschiedensten Hinsichten sein kann? Es stellt sich heraus, daß politische Größe als die höchste angesehen wird. Aber wie das? Hielt Burckhardt nicht Macht für böse – und dann sollen die, die damit besonders erfolgreich umgehen, die größten sein? Und fragt sich nicht, ob die Größe von Männern wie Caesar, Alexander, Napoleon nicht letztlich daran bemessen wird, daß sie Großes ­zustande gebracht, also im Sinne einer Teleologie gewirkt haben? Daß sie vielleicht gar etwas Notwendiges ins Werk gesetzt haben? An eine solche Teleologie hat aber Jacob Burckhardt nicht geglaubt. Also ein Widerspruch in seinen Aussagen? Es scheint so. Dann aber wird 38

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deutlich, daß sich für Burckhardt 1870 /71 alles geändert hat. Die Aussage von 1868, Caesar sei der Größte der Sterblichen, wird nicht dementiert, doch scheinen als Kriterien dafür die ästhetischen jetzt im Vordergrund zu stehen. Und es bieten sich einige – wenn auch nicht speziell auf Caesar bezügliche – sehr klare Aussagen darüber, daß das gewalttätige Eingreifen der Großen, der »Machtmenschen« durch nichts gerechtfertigt sei. Er zitiert: »Allein daraus, daß aus Bösem Gutes, aus Unglück relatives Glück geworden ist, folgt noch gar nicht, daß Böses und Unglück nicht anfänglich waren, was sie waren. Jede gelungene Gewalttat war böse und ein Unglück oder allermindestens ein gefährliches Beispiel […] wie überhaupt nichts Gutes Folgendes ein Böses Vorangehendes entschuldigt.« (III 389) Die »Ausreden«, was untergegangen sei, habe untergehen müssen (wie die Römische Republik) und auf den Untergang sei Verjüngung gefolgt, seien »a) nicht immer wahr b) die Leidenden verbitten sichs« (III 393) Wenige Zeilen vorher – von Strasburger nicht zitiert – hatte Burckhardt über das Sich-Verlieren ganzer Völker in der Völkerwanderungszeit gesprochen, wozu er kommentiert: »Würden solche Völker aber beim Weiterleben lauter Gutes geschaffen haben? Dies etwa unsere Trostfrage, wenn Dschingiskhan und Tamerlan ganze Völker zernichten.« Es wäre interessant, anknüpfend an diesen Aufsatz, aber zugleich das gesamte übrige Œuvre einbeziehend, Strasburgers Auffassung von Geschichte nachzugehen. Dem Bedenken gegen die Teleologie, gegen all die eher im Convenu als in Erkenntnis gegründeten Sinngebungen der Geschichte korrespondiert das Plädoyer für das Statische, Dauernde, Friedensmäßige; gegen das Kinetische, die Behauptung von der Zwangsläufigkeit, den Krieg und Thukydides (sowie Gelzer?) der Hinweis auf die Opfer. Auch die Zuwendung zum Privaten (die Abneigung, ja Abschirmung gegen die Politik) gehörten hierher. Doch würde das zu weit führen. *  * * Ich habe bisher einen Bogen um Strasburgers Schicksal unter dem NSRegime gemacht. Man weiß, daß ihm wegen der jüdischen Abstammung einer seiner Großmütter der Lehrauftrag genommen und die Möglichkeit einer akademischen Lauf bahn abgeschnitten wurde. Was alles er im trotzigen Kampf um »den alten Anspruch meiner Familie auf ein geistiges Bürgerrecht in Deutschland« (I xxx) auszuhalten hatte, bis er schließ39

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lich zur Wehrmacht eingezogen und so schwer verwundet wurde, daß die Ärzte düsterste Prognosen stellten, gegen die er sich auf bäumte, die sich glücklicherweise auch nicht bewahrheiteten – braucht man nicht auszumalen. Es genügt seine Feststellung aus der Heidelberger Antrittsrede von 1964, sein und seines einen Bruders »Versuch, unserem gefährten­ losen Schicksal, wie wir es verstanden, so wesensgemäß und geradlinig wie möglich zu folgen, führte uns in der Logik seiner äußerst persön­ lichen Entscheidungen und Erduldungen […] den Weg eines so unsinnigen Energieverschleißes, daß ich das Resultat auch dann als Pyrrhussieg empfände, wenn mein Bruder aus dem Krieg heimgekehrt wäre.« (II 961) Dieses Stück eigener Biographie hat ihn, wie er selbst bezeugt, auch die Geschichte anders sehen lassen. Vom Kriegserlebnis berichtet er, es habe »die Grundlage meines Geschichtsverständnisses – mir damals schwerlich klar bewußt – […] nachhaltig verändert« (I 523). 1967, inzwischen war es ihm klar bewußt, schreibt er: »Wer einmal bei den ›Spänen‹ war, als ›Männer, die Geschichte machen‹, ›hobelten‹«, sehe die Geschichte (und das hieß speziell, aber natürlich nicht nur, diejenige Caesars und Alexanders) anders. Er könne »auf ebensolche Erlebnisse im geschichtlichen Felde aufmerksam […] machen« (I 421). Ob er auch in den frühen 60er Jahren davon schon gesprochen hat, wüßte ich nicht zu sagen. Aber über eine Erfahrung dieser Jahre sollte ich, scheint mir, hier noch berichten. Sie betrifft unsere zweite Meinungsverschiedenheit. Man begann sich damals in Deutschland stärker für die NS-Vergangenheit zu interessieren. Zum einen im allgemeinen – 1958 war der Ulmer Einsatzgruppenprozeß gewesen, 1960 wurde Eichmann verhaftet, bald stand er vor Gericht, wenig später gelangte Hochhuths Stellvertreter auf die Bühne, die Anklagen gegen die Auschwitz-Wachleute wurden vorbereitet, vielerorts wurden erregte Debatten geführt. Zum andern wurden für verschiedene, zum Teil sehr angesehene Persönlichkeiten wenig schöne Zeugnisse bekannt, die ihre Tätigkeit zwischen 1933 und 1945 betrafen. Mich hat das sehr beschäftigt, und ich habe mehr als einmal die Rede darauf gebracht. Ich muß dazu sagen: Im Vergleich zu später wurde alles erst auf sehr kleiner Flamme gekocht. Als der 1938 aus Wien emigrierte Ernst Badian anfragte, ob man nicht die Kleinen Schriften von Friedrich Münzer gesammelt herausgeben sollte, waren sowohl Gelzer wie Strasburger (an ­deren einen sich die Anfrage gerichtet hatte) wie auch ich selbst der Meinung, daß dazu kein Anlaß bestehe. Ausschließlich sachliche Gründe wurden dabei erwogen. Kein Gedanke, daß Münzers jüdische Herkunft und sein Tod in Theresienstadt in diesem Zusammenhang irgendetwas bedeutet hätten (anders dann K. Christ 1982: A. Kneppe / J. Wiesehöfer, 40

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Friedrich Münzer. Ein Althistoriker zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Bonn 1983, v1). Ohnehin wollte ich mich nicht als Nazijäger betätigen. Ich hatte nur einige Fragen und Verdächte und wollte darüber sprechen. Ich wüßte nichts Genaueres mehr, habe nur in deutlicher Erinnerung, daß Strasburger sich darauf so recht nicht einlassen wollte. Als ich, auf das Wörterbuch des Unmenschen mich berufend, Einwände gegen den Satz, wir müßten die Studenten betreuen, machte, stieß ich auf Unverständnis. Strasburger hatte, wie man weiß, 1933 und in den gleich darauf folgenden Jahren eine Reihe von Fürsprechern gehabt, auch den mächtigen Helmut Berve in Leipzig, der ideologisch dem Nationalsozialismus sehr nahe kam, sich andererseits nach immer wieder von verschiedensten Seiten bestätigten Zeugnissen menschlich sehr anständig verhielt und, soweit er konnte, manch einem auch geholfen hat. Kann es sein, daß diese Art Erfahrung, daß ein dort, wo Hermann Strasburger damals lebte, ­einigermaßen fortbestehender bürgerlicher Anstand ihn zumindest bis Anfang der 60er Jahre daran hinderte, das ganze Ausmaß wahrzunehmen, in dem dieses Regime Mitarbeit, Zustimmung und Spießgesellenschaft zu beanspruchen vermochte (und oft bereitwillig erhielt)? Wenn er gegen Thukydides darauf besteht, daß der »vereinzelte Aufstand der Menschenwürde«, »gerade auch im Krieg« im »Buch der Geschichte« nicht unterdrückt werden dürfe (II 796) – stand da nicht eigene Erfahrung im Hintergrund? In anderm Zusammenhang überraschte mich H. Strasburgers Äußerung über einen an den Folgen der Kinderlähmung leidenden Kollegen, er habe nicht das Glück (!) gehabt, Soldat werden zu können. Das war vermutlich aus der Situation von 1940 heraus gedacht, aber inzwischen befanden wir uns doch in den 60er Jahren. Kann es sein, daß sein so starkes, so überaus anstrengendes, so sehr immer neu über unendliche Enttäuschungen und Frustrationen hinweg durchgehaltenes Bestreben, das geistige Bürgerrecht in Deutschland zu behaupten, ihn zunächst davor bewahrte, größere Distanz zum eigenen Land zu gewinnen? Ich weiß es nicht; es sei nur eine Frage. Es könnten sich jedenfalls damit biographische Zugänge zu seiner Wissenschaft ergeben. Motive nämlich, die private bürgerliche Welt abzuschirmen gegen das Politische, gegen die Konflikte, mit denen er in ­seiner Forschung so wenig zu tun haben wollte wie im Leben selbst. Vieles wollte er ja möglichst nicht an sich herankommen lassen. Seine Erfahrungen machten ihn in hohem Maße verletzlich, sie ließen ihn aber auch aufmerksam werden auf die Kosten von Geschichte, die Opfer. Sie drängten ihm schließlich die Frage auf, wofür diese Opfer stehen, anders: ob 41

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die Ziele, ob »die Geschichte« diese Opfer in irgendeiner Weise rechtfertigt und lohnt. Womit wiederum das Problem der Teleologie berührt wäre. Wie bedeutsam ihm der Freiraum war, den er für sich schaffen wollte, zeigt nach meinem Urteil der späte Aufsatz Vergil und Augustus, in dem er Augustus wohl als größten römischen Staatsmann würdigt, dann aber aufweist, wie er dem Dichter zusetzte, ihm nämlich »das Grundrecht, unpolitisch zu leben« (III 301), vorenthalten wollte (vgl. II 623). Man hat ihm diesen Aufsatz als pessimistisch ausgelegt, dabei hatte er nur auf ein Stück Realität aufmerksam gemacht. Und wie sehr er seine eigene Sache dabei verhandelt sah, ergibt sich aus dem – bei ihm sonst nicht begegnenden – ausdrücklichen Bekenntnis zu seinem »Unvermögen zu leidenschaftsloser Deutung«, das ihm »bei diesem Thema in besonders irritierendem Maße bewußt geworden« sei (III 315). Der relativ abgeschirmte Raum, in dem sich seine Forschung seit dem Ende der 50er Jahre bewegte und in dem er lebte, war ihm gemäß. Er hatte es unvermittelt mit dem Konkreten, dem Faßbaren, dem Einfühlbaren, fast möchte man (wenn dazu nicht so viel Unmenschliches zählte) sagen: dem Menschlichen zu tun – zumal in der Historiographie. Im Vorfeld standen die Vergewisserungen der letztlich doch nicht zu leugnenden Geschichtsmächtigkeit des Sittlichen und der »sittlichen Selbstwahrnehmung der Menschheit« (II 792). »Auch die Gerechtigkeit ist ja ein realpolitischer Faktor, weil die Mehrzahl der Menschen doch ­irgendwie an sie glaubt.« (II 567) Ja, einmal macht er »die methodische Anmerkung […], daß die generelle Skepsis gegen die Güte der menschlichen Natur […] kein Bestandteil spezieller historischer Charakteristik werden sollte« (III 71). Andererseits kann man drei Seiten zuvor lesen, man könne »darüber sinnieren, ob Humanität wirklich eine charakteristische Eigenschaft des Menschengeschlechtes sei«, worauf dann freilich Einschränkungen folgen. Einen großen Schritt weiter geht Strasburgers letzte Arbeit, Ciceros philosophisches Spätwerk als Aufruf gegen die Herrschaft Caesars. Mit gewagtester Deutlichkeit habe Cicero versucht, »die gebildete römische Jugend durch den Wissensfundus und die wissenschaftlich reflektierte Ethik der griechischen Philosophie zu einer neuen, den Caesarismus überwindenden Staatsgesinnung zu erziehen«. Es sei der »potentiell weitesttragende mir aus der Antike bekannte Versuch, mit Wissenschaft ­reale Geschichte zu machen« (III 409). Cicero habe nicht das Attentat auf Caesar im Auge gehabt. Er habe vielmehr einen »längeren Genesungsprozeß« geplant, »damit die Menschheit sich nicht weiter im mörderischen Kreise der Gewalt drehe« (III 471 f.). Es ging um »die Wiedergeburt einer 42

Gedenkrede auf Hermann Strasburger

politischen Führungsschicht aus dem Geiste der Philosophie als Rettung Roms und des Reiches« (III 461). Strasburger bemerkt zu diesem Gedanken der Umerziehung: »Wissen wir eigentlich für unser ratloses Zeitalter schon etwas erwiesenermaßen Besseres?« (472) Nach meiner Erfahrung ist die Besinnung auf Pädagogik als Heilmittel für politisch verfahrene Situationen ein Indikator der Aussichtslosigkeit. Für Strasburger scheint hier einmal das Positive zu fassen zu sein (obwohl natürlich auch er wußte, daß der Erfolg für Ciceros Versuch selbst bei anderm Ablauf der Dinge keineswegs garantiert war). *  * * Es ist eigentümlich, wie sich der Kreis hier rundet. Am Anfang – in der Dissertation – stand die gegen Mommsen gerichtete Behauptung, Cicero sei Realpolitiker gewesen. Am Ende sehen wir Cicero versuchen, »mit Wissenschaft reale Politik zu machen«. Und mittendrin hören wir, nichts vermöge »mehr mit dem Römertum der Republik zu versöhnen, als die Humanität, die Ciceros rhetorische und philosophische Schriften […] ausstrahlen« (II 942). Eigenartig: Das Römertum der Republik (nicht erst der späten) empfindet Strasburger offenbar als feindlich – so daß es der Versöhnung bedarf, die von Cicero bewirkt werden kann; wie wenn er die Stelle der zehn Gerechten ein­ nehmen könnte, die Gott hätten veranlassen können, Sodom zu retten. Man weiß, daß Strasburger, zumal gegen Ende seines Lebens, ein gewisser, vielleicht gar starker Pessimismus eigen war. Waren seine tapferen Verweise auf Gerechtigkeit, Sitte, Güte, auf Ciceros Versuch der »Rückeroberung der Menschheit aus der Herrschaft der Gewalt in die Freiheit der gottgelenkten, natürlichen und sittlichen Weltordnung (III 460)« – Versuche des Ausbruchs? Oder wenigstens Entlastungsangriffe? *  * * Was wird bleiben? Sehr vieles an Beobachtungen und Argumenten. Viele neue Zugänge zur antiken Historiographie. Das Vorbild einer Betrachtung von den Kleinen, den Erduldenden, den Opfern aus. Der Stachel im Fleisch all derer, die immer noch nicht von der »irra­ tionalen Überzeugung von Caesars höherer Legitimation lassen können«, welche »zu den Grundbedürfnissen der geschichtlichen Phantasie des Abendlandes zu gehören scheint« (I 408). Überhaupt der radikale und – nicht zuletzt in der Freilegung der ganzen Perfidie gegenüber Cicero – wohlbegründete Zweifel an Caesar. 43

Christian Meier

Bleiben sollte aber auch die Erinnerung an einen Historiker, dem es das Leben wahrhaft nicht leichtgemacht hat, der die Geschichte, die jüngste wie die alte, derart sensibel erfahren, der an der Geschichte gelitten hat, so sehr, daß er der Historie aufgab, all das Schreckliche nicht bis zur Trostlosigkeit zu vereinseitigen; der also die Aufgabe des Historikers sehr neu, sehr schwierig und als Problem auch des Aushaltens empfand, dem er dann freilich auszuweichen suchte durch eine Art Ausstieg aus der Geschichte – womit er in gewissem Sinne einen archimedischen Punkt fand, von dem aus man zwar nicht die Welt aus den Angeln heben kann, aber immerhin vieles neu und, wer weiß, ob nicht auch sehr aktuell? zu sehen bekommt.

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Michael Maaser

Dokumente zu Hermann Strasburger im Universitätsarchiv Frankfurt

Das Frankfurter Universitätsarchiv (UAF) bewahrt mehrere Akten, anhand deren die akademische Lauf bahn Hermann Strasburgers erforscht werden kann. Die ältesten Dokumente befinden sich in der Studentenakte Strasburgers, der sich am 29. April 1927 an der Universität Frankfurt für das Fach Geschichte immatrikulierte. Aus seiner Frankfurter Studienzeit sind auch drei Studentenausweise mit Lichtbildern vorhanden (Abb. 1). Nach Besuchen der Universitäten München und Innsbruck kehrte Strasburger im Sommersemester 1931 nach Frankfurt zurück, um zum Dr. phil. zu promovieren. Am 16. Juni 1931 reichte er seine Dissertation »Concordia ordinum. Eine Untersuchung zur Politik Ciceros« ein (UAF Abt. 136, Nr. 423, Bl. 3). Die mündliche Prüfung (»Rigorosum«) folgte am 27. Juli 1931. Am 24. September 1931 verlieh ihm die Universität Frankfurt a. M. den höchsten akademischen Grad (Abb. 2). Neben der Studenten- und der Promotionsakte gibt es im UAF noch eine Personalakte der Verwaltung sowie die Personalakte der Philosophischen Fakultät. Ende September 1963 entließ der Kultusminister Ernst Schütte Strasburger aus dem hessischen Beamtenverhältnis, weil der Althistoriker in den Dienst des Landes Baden-Württemberg wechselte.

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Michael Maaser

Dokument 1 Schreiben von Otto Riesser im Auftrag des Ministers für Kultus und Unterricht aus dem Großhessischen Staatsministerium vom 26. März 1946 an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Matthias Gelzer; ­maschinenschriftliches Original aus der Personalakte der Philosophischen Fakultät mit eigenhändiger Unterschrift von Otto Riesser (Signatur: UAF Abt. 134, Nr. 576, Bl. 64).

Sehr verehrter Herr Kollege ! Bei meinen Bemühungen um die Besserung des Schicksals von Hochschulangehörigen, die politisch oder rassisch verfolgt waren, hat mich auch der Fall des Dr. H. Strasburger beschäftigt, des Sohnes des früheren Ordinarius der inneren Medizin, Professor Julius Strasburger, Frankfurt  a. M. Dr. H. Strasburger gehört in die Reihe derjenigen, deren Anrecht auf Wiedergutmachung ich entschieden zu fördern suche. Durch seine schwere Kriegsverletzung ist er noch besonders beeinträchtigt und ohne eigene materielle Existenz. Als Wissenschaftler (Alt-Historiker) erstrebt er die Habilitation. Ich vermute, dass Ihnen der Fall bekannt ist und wäre Ihnen jedenfalls sehr verbunden, wenn Sie mir baldigst nähere Auskunft über Herrn Dr. Strasburger geben könnten und Vorschläge machten, wie man ihm zu einer geeigneten Stellung, möglichst auch zu einer Verdienstquelle, verhelfen kann. In ausgezeichneter Hochachtung Im Auftrag: Ihr ergebener [gez.] Prof. Dr. Riesser.

Am 30. März 1946 antwortete Dekan Matthias Gelzer Otto Riesser: »In Beantwortung Ihrer Anfrage vom 26. 3. 46 kann ich Ihnen mitteilen, daß Dr. Hermann Stras b u r g e r mein persönlicher Schüler ist und daß er zur Zeit in Unterhandlungen steht wegen der Uebernahme einer planmäßigen Assistentenstelle an der Universität Heidelberg und daß er dort auch die Zusage erhalten hat, sich habilitieren zu können.« (UAF Abt. 134, Nr. 576, Bl. 65) Otto Ludwig Maximilian Riesser (1882-1949) hatte 1936 bis 1938 als ordentlicher Professor am Biologischen Institut der Universität Frankfurt gelehrt und mußte 1939

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Abb. 1 (oben): Studentenausweis von Hermann Strasburger vom 18. April 1931 (UAF Abt. 604, Nr. 482, Bl. 7). Abb. 2 (unten): Promotionsurkunde von Hermann Strasburger vom 24. September 1931 (UAF Abt. 136, Nr. 423, Bl. 11).

Michael Maaser in die Niederlande emigrieren. Nach dem Krieg arbeitete Riesser als Referent im Kultusministerium und nahm zugleich einen Lehrauftrag an der Goethe-Universität wahr. Zu Matthias Gelzer (1886-1974) vgl. den Nachruf von Strasburger in der Zeitschrift »Gnomon« 47, 1975, 817-824.

Dokument 2 Lebenslauf von Hermann Strasburger, um 1947; Abschrift, undatiert (UAF Abt. 134, Nr. 576, Bl. 59).

Lebenslauf. Geboren wurde ich, He r m a n n Julius St r a s b u r g e r zu Bonn am Rhein am 21. 6. 1909. Meine Eltern sind der 1934 verstorbene ordentl. Professor d. inn. Med. a. d. Univ. Frankfurt Dr. Julius Strasburger und Frau MarieEdith geb. Nothnagel. In Frankfurt a. M. besuchte ich die Liebig-Oberrealschule, das Lessing-Gymnasium und das Reform-Real-Gymnasium Musterschule, das ich Ostern 1927 mit dem Zeugnis der Reife verliess. An der Universität Frankfurt begann ich das Studium der Geschichte, insbesondere der Alten Geschichte und der klassischen Philologie und bestand im Frühjahr 1928 eine vorschriftsmässige Ergänzungsprüfung im Griechischen. Nach vorübergehendem Studium an den Universitäten Innsbruck (1 Semester) und München (3 Semester) kehrte ich nach Frankfurt zurück und promovierte im Juli 1931 mit Alter Geschichte im Hauptfach, Latein und Neuerer Geschichte als Nebenfächer zum Dr. phil. An der Universität Freiburg i. B., wo ich im Winter 1931 meine Studien fortsetzte, wurde ich alsbald mit der Abhaltung von althistorischen Uebungen für Anfänger beauftragt. Die Themen dieser Uebungen waren: Ciceros Rede De domo sua / Ammianus Marcellinus / Tacitus Annalen / Römische Agrargesetzgebung / Quellen zur Alexandergeschichte. Im Juli 1934 wurde mir vom badischen Unterrichtsministerium auf Grund der jüdischen Abstammung einer Grossmutter der Lehrauftrag entzogen. Bemühungen wohlwollender Fürsprecher, mir die Fortsetzung der akademischen Lauf bahn in Deutschland zu ermöglichen, blieben erfolglos. Im Jahre 1936 wurde mir endlich vom preussischen Kultusmini-­ sterium die Habilitation an der Universität Frankfurt zugesagt, zu der mir insbesondere Herr Prof. Gelzer die Wege ebnen wollte. Doch wurde 48

Dokumente zu Hermann Strasburger

b­ ereits nach Einreichung meiner Papiere beim Dekan der philos. Fakultät die Weiterführung des Habilitationsverfahrens vom Minister plötzlich wieder unterbunden. Seitdem habe ich alle Versuche, im Dritten Reich wieder in Tätigkeit zu kommen, eingestellt. Da ich mich andererseits nicht entschliessen konnte, meinen Beruf oder mein Vaterland ­preiszugeben, verbrachte ich die Jahre bis Kriegsbeginn in privater wissenschaftlicher Arbeit auf dem Gebiet der Alten Geschichte, teils in Frankfurt, teils in München. Wissenschaftliche Veröffentlichungen: Concordia Ordin u m , Eine Untersuchung zur Politik Ciceros, Diss. Frankfurt 1931 Ptolem aio s und A le x a n de r, Leipzig 1934 C a esars Eintritt in die Ge sc h i c h t e , München 1938. Artikel: No biles , Nov us homo, Oly m p i a s, One s ic r it e s , Opt i ma t es , Tri erarchi e , Tr i um v i r i , Soda le s Au g u s t al e s in Paulys Realencyklopädie der klass. Altertumswissenschaft. Zu Thukydides, 6,15 in Zeitschr. Philologus 1937. Ausserdem eine Reihe von Buchbesprechungen in der Zeitschr. Gnomon. Anfang 1939 wurde ich von der Oxford University Press mit der Abfassung eines Buches über Caesar beauftragt. Diese Arbeit wurde in ihren Anfängen durch den Krieg unterbrochen. Im Mai 1940 wurde ich zur Wehrmacht eingezogen (letzter Dienstgrad Obergefreiter), im April 1943 in Russland durch Oberschenkelschussbruch sehr schwer verwundet; im Mai 1945 aus Lazarett und amerikanischer Kriegsgefangenschaft gleichzeitig entlassen. Nunmehr bereitete ich mich mit dem Einverständnis Herrn Prof. Gelzers auf die Habilitation an der Universität Frankfurt vor. Im Frühjahr 1946 eröffnete sich mir jedoch durch das Angebot der Assistentenstelle am Seminar für Alte Geschichte der Universität Heidelberg eine schneller zu verwirklichende Aussicht auf eigene materielle Existenz, sodass mir Prof. Gelzer selbst den Rat gab, mich lieber in Heidelberg zu habilitieren. Meine Habilitation für das Fach der Alten Geschichte wurde im Juli 1946 von der Heidelberger Philos. Fakultät vollzogen. (Thema der Antrittsvorlesung: »Caesar im Urteil der Zeitgenossen«). Vorlesung in Heidelberg (Winter 1946 /7): Geschichte der Grachenzeit. Uebungen: Caesarprobleme. Herodot. Uebungen zur römischen Verfassungsgeschichte. 49

Michael Maaser

Im Frühjahr 1947 wurde ich an der Universität München mit der kommissarischen Vertretung des Lehrstuhls für Alte Geschichte beauftragt. Vorlesung im Sommer- und Winter-Semester 1947 in München: Geschichte der Römischen Republik; Uebungen: Thukydides, Quellen zur Spätzeit Caesars, Homer als Geschichtsquelle. Während des Wintersemesters 1947 wandte ich mich, im Hinblick auf den vorübergehenden Charakter der Münchener Vertretung Rat suchend, an Herrn Prof. Gelzer, auf dessen Vorschlag die philosophische Fakultät der Universität Frankfurt meiner Umhabilitierung auf eine ­Diätendozentur zustimmte.

Dokument 3 Lebenslauf von Hermann Strasburger, 12. Dezember 1954; Durchschlag des maschinenschriftlichen Originals mit eigenhändiger Unterschrift aus der Kuratorakte »Besetzung von Lehrstühlen« (UAF Abt. 13, Nr. 214, Bl. 7 r. und v.).

Prof. Dr. Hermann Strasburger Frankfurt  a. M. Brüder Grimm-Str. 55 Lebenslauf Geboren wurde ich in Bonn am Rhein am 21. 6. 1909. Meine Eltern sind der im Jahre 1934 verstorbene o. Professor der Inneren Medizin an der Universität Frankfurt Dr. Julius Strasburger und Frau Marie-Edith Str., geb. Nothnagel. Nach dem Besuch der höheren Schule in Frankfurt (Abitur 1927 am Reform-Real-Gymnasium ›Musterschule‹) studierte ich an den Universitäten Frankfurt, München und Innsbruck Geschichte und Klassische Philologie und legte 1931 in Frankfurt das Doktorexamen ab, mit Alter Geschichte im Hauptfach, Latein und Neuerer Geschichte als Neben­fächern. Vom Sommersemester 1932 bis Sommersemester 1934 war ich an der Universität Freiburg i. Br. mit der Abhaltung von »Althistorischen Übungen für Anfänger« beauftragt. Dieser Lehrauftrag wurde mir im Juli 1934 vom badischen Unterrichtsministerium wegen der jüdischen Abstammung einer Grossmutter ent­zogen. Bemühungen wohlwollender Fürsprecher, mir die Fortsetzung der 50

Dokumente zu Hermann Strasburger

akademischen Laufbahn in Deutschland zu ermöglichen, blieben erfolglos. Zwar wurde mir im Jahre 1936 vom preussischen Kultusministerium die Habilitation an der Universität Frankfurt freigegeben, doch wurde, kurz nachdem ich im November 1936 gerade meine Papiere beim Dekan der Philos. Fakultät eingereicht hatte, die Weiterführung des Habilita­ tionsverfahrens vom Ministerium plötzlich wieder unterbunden. Nach dieser Erfahrung habe ich alle Versuche, im Dritten Reich wieder in Tätigkeit zu kommen, eingestellt. Da ich mich weder zu | einem Berufswechsel noch zur Auswanderung entschliessen konnte, verbrachte ich die Jahre bis Kriegsbeginn wissenschaftlich arbeitend in völliger Zurückgezogenheit. Im Mai 1940 wurde ich zur deutschen Wehrmacht als Funker eingezogen (letzter Dienstgrad: Obergefreiter), im April 1943 in Russland durch Oberschenkelschussbruch sehr schwer verwundet, im Mai 1945 aus Lazarett und amerikanischer Kriegsgefangenschaft gleichzeitig entlassen. Meine Habilitation für Alte Geschichte wurde im Juli 1946 von der Philos. Fakultät der Universität Heidelberg vollzogen, an der ich kurz ­zuvor eine Assistentenstelle erhalten hatte. 1947 /48 war ich 2 Semester lang kommissarischer Vertreter des Lehrstuhls für Alte Geschichte an der Universität München. Danach wurde ich von der Frankfurter Fakultät umhabilitiert und im Sommer 1948 auf eine Diätendozentur übernommen. In Berücksichtigung meiner Vorgeschichte wurde meine Habilitation durch einen Senatsbeschluss vom 3. 3. 1949 auf den 1. Jan. 1937 vordatiert und meine Ernennung zum apl. Professor bereits am 29. 8. 49 ausgesprochen. Mit Ausnahme der halbjährigen Unterbrechung durch eine Austauschprofessur an der Universität Chicago (Sommer 1950) bin ich seit Sommer-Semester 1948 Dozent der Frankfurter Universität. Von Berufungsvoranfragen aus der Ostzone, die ich alle ablehnte, erwähne ich nur die, die offiziell von den Dekanen kamen: nämlich von den Universitäten Leipzig und Halle. Frankfurt  a. M. den 12. 12. 1954 [gez.] Hermann Strasburger

Nach der Emeritierung von Matthias Gelzer schlug die Frankfurter Philosophische Fakultät im Dezember 1954 dem Kultusministerium vor, den Lehrstuhl für Alte Geschichte mit Hermann Strasburger zu besetzen. Auf der Liste standen noch Herbert Nesselhauf (Freiburg) und Friedrich Vittinghoff (Marburg).

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Michael Maaser

Dokument 4 Wiederbesetzung des Lehrstuhls für Alte Geschichte, Dreierliste der Philosophischen Fakultät. Brief des Dekans Hellmut Ritter vom 20. Dezember 1954 an den Hessischen Minister für Erziehung und Volksbildung; maschinenschriftliche Durchschrift des Originals aus der Kuratorakte »Besetzung von Lehrstühlen« (UAF Abt. 13, Nr. 214, hier: Bll. 1-6).

Zur Wiederbesetzung des durch Emeritierung des ordentlichen Professors Dr. Matthias Ge l ze r freiwerdenden Lehrstuhls der Alten Geschichte schlägt die Fakultät vor: An I. Stelle den außerplanmäßigen Professor der Alten Geschichte an der Universität Frankfurt a. M. Dr. Hermann St r a s b u r g e r, Frankfurt a. M., Brüder Grimm-Str. 55, an II. Stelle den ordentlichen Professor der Alten Geschichte an der Universität Freiburg i. Br., Dr. Herbert Ne s s e l h a u f , Freiburg, Günters-­ talstr. 68, und den außerplanmäßigen Professor der Alten Geschichte an der Universität Marburg (Lahn) Dr. Friedrich Vi t t i n g h o f f , Marburg, Erlen­ graben 9, diese beiden pari passu. | Hermann Strasburger, geboren 1909, promovierte 1931 an der Universität Frankfurt mit der Dissertation »Concordia ordinum«, einer Untersuchung zur Politik Ciceros, die das Zentralproblem von Ciceros politischem Denken behandelt und sogleich im In- und Ausland als wichtiger Beitrag zur wissenschaftlichen Ciceroliteratur anerkannt wurde. Mit der 1934 erschienenen Schrift »Ptolemaios und Alexander« griff er erfolgreich in die Forschung über die Quellen der Alexandergeschichte ein. Seine scharfsinnigen Bemühungen, das Werk des Königs Ptolemaios genauer zu erfassen, fanden viel Zustimmung. Ebenso zeichnet sich die nächste Schrift »Caesars Eintritt in die Geschichte« (1937) durch Scharfsinn und Darstellungsgabe aus. Nach Analyse der Quellen zur Frühzeit Caesars wird nachgewiesen, wie manche Nachrichten auf retrospektive Vermutungen zurückgehen, vor allem die Behauptung, Caesar habe von Anfang an die Errichtung der Monarchie geplant, eine Überlieferung, die besonders in Mommsens Caesarbild fortlebt. Vor der Einziehung zum Kriegsdienst verfaßte er neben einigen gehaltvollen Rezensionen noch mehrere gründliche Artikel für die Real-Encyclopädie der Klassischen Altertums52

Dokumente zu Hermann Strasburger

wissenschaft, zur griechischen und römischen Geschichte. Darunter ragt hervor der über »Optimates« wegen seiner bedeutenden neuen soziologischen Einsichten. An die Ptolemaiosstudie knüpft an der große Aufsatz »Alexanders Zug durch die gedrosische Wüste« (Hermes 1952), worin Quellenanalyse mit eindringlicher sachkritischer Untersuchung der Geschehnisse verbunden ist. Schließlich bezeugen den weitgespannten Kreis seiner Studien drei gedruckte Vorträge, in denen allen vielerörterte Probleme geist- und geschmackvoll in neue Beleuchtung gerückt werden: »Der soziologische Aspekt der homerischen Epen« (Gymnasium 1953), »Caesar im Urteil der Zeitgenossen« (Hist. Zeitschrift 1953), »Der Einzelne und die Gemeinschaft im Denken der Griechen« (Hist. Ztschr. 1954). Besonders der Caesarvortrag er|regte über die Fachkriese [sic !] hinaus Aufsehen, weil darin Caesar die Eigenschaft eines wahren Staatsmanns abgesprochen wird. Es muß bemerkt werden, daß Strasburger durch den Nationalsozialismus in seiner Lauf bahn empfindlich geschädigt wurde. Nach seiner Promotion erhielt er die Stelle eines Assistenten am Althistorischen Seminar der Universität Freiburg i. Br. mit der Aussicht auf Habilitation. Aus dieser Stellung wurde er 1934 entlassen, weil eine seiner Großmütter jüdischer Abstammung war. Ebenso mußte er 1936 das an der Universität Frankfurt eingereichte Habilitationsgesuch auf Weisung des Reichs­ ministers für Erziehung und Unterricht zurückziehen. So konnte er sich nach Genesung von schwerer Kriegsverwundung erst 1946 in Heidelberg habilitieren, während seine Altersgenossen die in diesem Jahrzehnt freigewordenen Ordinariate besetzt hatten. Seit 1948 lehrt er an der Universität Frankfurt, seit 1949 als außerplanmäßiger Professor. Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Prüfungsamts und hat sich als akademischer Lehrer bestens bewährt. Das Urteil der Fakultät über Strasburgers wissenschaftlichen Rang wird durch die sieben von auswärts eingeholten Gutachten einstimmig bestätigt. Wie verlautet, soll er auch in Kiel für den freigewordenen Lehrstuhl vorgeschlagen werden. […]

In einem Brief vom 31. Januar 1955 teilte Hermann Strasburger dem Rektor der Universität Frankfurt, Fritz Neumark, mit, daß er den Ruf auf die Nachfolge Gelzers angenommen habe (UAF, Abt. 4, Nr. 204, Bl. 49). Nach Abschluß der Berufungsverhandlungen berief der Hessische Ministerpräsident durch Urkunde vom 2. Juli 1955 Hermann Strasburger zum ordentlichen Professor für Alte Geschichte in der Philosophischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt (ibid., Bl. 63).

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Verzeichnis der Nachrufe auf Hermann Strasburger 1. In Tageszeitungen1 Hermann Strasburger ist gestorben, in: Badische Zeitung, 11. April 1985, Nr. 84. I. Meixner, Historiker Strasburger gestorben, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 13. April 1985, Nr. 86. Jochen Bleicken, Glanz und Abglanz. Zum Tod von Hermann Strasburger, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. April 1985, Nr. 88, S. 25. Heinz Haffter, Alte Geschichte heute. Zum Tod von Hermann Strasburger, in: Neue Zürcher Zeitung, 16. April 1985, Nr. 87, S. 39.

2. In wissenschaftlichen Publikationsorganen Chester G. Starr, Obituary, in: Association of Ancient Historians, Newsletter 37, September 1985, S. 2. Renate Zoepffel, Hermann Strasburger zum Gedenken, in: Freiburger Universitätsblätter, Heft 89, November 1985, 24. Jahrgang, 9-10. Herbert Nesselhauf, Hermann Strasburger, 21. Juni 1909 – 4. April 1985, in: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1985, 115-118. Walter Schmitthenner, Hermann Strasburger †, in: Gnomon 58, 1986, 187-189. Christian Meier, Gedächtnisrede auf Hermann Strasburger, in: Chiron 16, 1986, 171-197; Ndr. in: Hermann Strasburger, Studien zur Alten Geschichte III, hrsg. von Walter Schmitthenner und Renate Zoepffel. (Collectanea, Bd. 42,3) Hildesheim / New York 1990, 503-529. Jochen Bleicken, Nekrolog: Hermann Strasburger, 21. 6. 1909 – 4. 4. 1985, in: Historische Zeitschrift 242, 1986, 486-489; Ndr. in: Ders., Gesammelte Schriften II, hrsg. von Frank Goldmann, Markus Merl, Markus Sehlmeyer und Uwe Walter. Stuttgart 1998, 1080-1083. Jochen Bleicken, Nachruf auf Hermann Strasburger, in: Nachrufe. (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M., Bd. 23,2) Stuttgart 1987, 45-52; Ndr. in: Ders., Gesammelte Schriften II […], 1084-1091. 1 Nicht in allen Fällen konnten Autor und Seite verifiziert werden.

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